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German Pages 776 [777] Year 2017
JOHANNES HUS DEUTSCH
Abb. 1: Johannes Hus (Foto: Georgios Kollidas – Fotolia.com).
JOHANNES HUS DEUTSCH Herausgegeben von Armin Kohnle und Thomas Krzenck
unter Mitarbeit von Friedemann Richter und Christiane Domtera-Schleichardt
Die Drucklegung des Werkes wurde unterstützt durch – den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds Prag – die Historische Kommission für die böhmischen Länder, München – die SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH – die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands – die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens
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www.eva-leipzig.de
INHALT
Einleitung ......................................................................................................... IX Armin Kohnle und Thomas Krzenck *** 1 Predigt über 2Kor 9,6: „Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten“ (um 1403) ...................................................................... 1 übersetzt von Felix Heinz 2 Predigt über Röm 13,12–13: „Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen“ (1404) ................................................................. 9 übersetzt von Christiane Domtera-Schleichardt 3 Zwei an Frauen gerichtete Briefe (um 1405/1408) ............................. 29 übersetzt von Thomas Krzenck 4 Traktat von der Verherrlichung des Blutes Christi (1405) .............. 37 übersetzt von Felix Heinz 5 Synodalpredigt über Mt 22,37: „Du sollst Gott, den Herrn, lieben“ (1405) ....................................................................... 71 bearbeitet von Armin Kohnle 6 Quästion des Magisters Johannes Hus: „Zur Kritik am Klerus in der Predigt“ (1408) ........................................................... 97 übersetzt von Hannes Toense 7 Hus an den Prager Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg (1408) ..... 119 übersetzt von Jörg Siebert und Stefan Michel 8 Klageartikel der Prager Geistlichen gegen Johannes Hus (1408) 123 übersetzt von Stefan Michel 9 Antwort des Johannes Hus auf die Klageartikel der Prager Geistlichen (1408) ............................................................... 129 übersetzt von Stefan Michel
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Inhalt
10 Rektoratsrede über Jak 5,8: „Stärkt eure Herzen“ (1409) ................................................................. 143 übersetzt von Alexander Bartmuß 11 Exkommunikation des Johannes Hus durch den Prager Erzbischof (1410) ............................................................... 159 übersetzt von Armin Kohnle 12 Hus an die Bürger von Laun (um 1410) ............................................ 165 übersetzt von Christiane Domtera-Schleichardt 13 Hus an Richard Wyche (1411) .............................................................. 169 übersetzt von Beate Kusche 14 Predigt über Lk 14,23: „Und der Herr sprach zu dem Knecht: ,Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen‘“ (1411) ................................................ 175 übersetzt von Vasily Arslanov 15 Hus an Papst Johannes XXIII. (1411) .................................................. 185 übersetzt von Armin Kohnle 16 Gegen John Stokes (1411) ...................................................................... 191 übersetzt von Felix Heinz 17 Gegen einen anonymen Gegner (1411) ............................................. 205 übersetzt von Bianca Hausburg 18 Hus an die Pilsener (1411) .................................................................... 243 übersetzt von Thomas Krzenck 19 Appellation des Magisters Johannes Hus gegen die Urteilssprüche des römischen Bischofs an Jesus Christus, den höchsten Richter (1412) ................................................................ 249 übersetzt von Armin Kohnle 20 Verteidigung einiger Artikel des John Wyclif (1412) ...................... 255 bearbeitet von Armin Kohnle 21 Hus an das Prager Landesgericht (1412) ........................................... 287 übersetzt von Thomas Krzenck
Inhalt
22 Kleine Auslegung des Glaubensbekenntnisses (1412) ................... 291 übersetzt von Thomas Krzenck 23 Kleine Auslegung der göttlichen Zehn Gebote (1412) ................... 297 übersetzt von Thomas Krzenck 24 Hus an seine Prager Anhänger (1412) ................................................ 303 übersetzt von Thomas Krzenck 25 Über die sechs Verirrungen (1412/1413) ............................................ 311 übersetzt von Thomas Krzenck 26 Hus an seine Prager Anhänger (1413) ................................................ 345 übersetzt von Michael Beyer 27 Über die Kirche (1413) ........................................................................... 351 übersetzt und bearbeitet von Michael Beyer und Hans Schneider 28 Hussens Erklärung seines Glaubens für Konstanz (1414) ............ 573 übersetzt von Konstantin Enge 29 Hus fordert seine Prager Anhänger zur Standhaftigkeit auf (1414) .................................................................... 589 übersetzt von Thomas Krzenck 30 Hus an König Wenzel (1414) ................................................................ 593 übersetzt von Thomas Krzenck 31 Briefe an die Freunde vor und nach der Abreise nach Konstanz (1414) ............................................................................ 597 bearbeitet von Armin Kohnle 32 Geleitbrief König Sigismunds für Johannes Hus auf seiner Reise zum Konstanzer Konzil (1414) ...................................... 605 übersetzt von Armin Kohnle 33 Ausgewählte Briefe aus Konstanz (1414/1415) ................................. 609 bearbeitet von Armin Kohnle 34 Antwort auf die 42 Artikel, die von Stefan Pa´leč den Kommissaren vorgelegt wurden (1415) ............................................ 637 übersetzt von Klaus Grabenhorst und Johannes Träger
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Inhalt
35 Endgültige Verweigerung des Widerrufs (1415) ............................. 667 übersetzt von Armin Kohnle 36 Verurteilung des Johannes Hus auf dem Konstanzer Konzil (1415) ...................................................................... 675 bearbeitet von Armin Kohnle 37 Bericht des Peter von Mladoniowitz über die letzten Tage und den Feuertod des Johannes Hus (1415) ..................................... 685 bearbeitet von Armin Kohnle Zeittafel ........................................................................................................... 699 zusammengestellt von Martin Naumann Abkürzungen und mehrfach genannte Literaturtitel .......................... 707 Register der Orts- und Personennamen .................................................. 713
EINLEITUNG
Am 6. Juli 1415 wurde Johannes Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 600 Jahre nach seinem Tod soll der vorliegende Band an den Theologen und Kirchenreformer erinnern, der in der römischen Kirche des ausgehenden Mittelalters als Ketzer galt, den die Wittenberger Reformatoren des 16. Jahrhunderts aber als ihren Vorläufer wahrnahmen. 1. Zwischen Kanzel und Scheiterhaufen: Johannes Hus – Theologe, Kirchenreformer, Märtyrer Johannes (tschechisch Jan) Hus lebte von etwa 1370 bis 1415, wurde also ungefähr 45 Jahre alt, was in etwa der durchschnittlichen Lebenserwartung eines spätmittelalterlichen Menschen entsprach, sofern er nicht Hungersnöten, Seuchen und ähnlichen Naturkatastrophen oder Kriegen zum Opfer fiel.1 Das Leben des Theologen, Predigers und Kirchenreformers Johannes Hus zeichnete sich dabei durch zahlreiche Besonderheiten aus, die ein charakteristisches Licht auf die von vielen Widersprüchen geprägte Zeit um das Jahr 1400 werfen.2 Pavel Soukup hat jüngst auf den Umstand verwiesen, dass Hus zwei böhmische Könige, sechs Prager Erzbischöfe, fünf Könige des Heiligen Römischen ReiHussens Leben und Wirken haben in den zurückliegenden zweieinhalb Jahrzehnten – ausgehend von den beiden, vor einem Jahrhundert verfassten „klassischen“ Hus-Biographien von Jan Sedlák (M. Jan Hus. Praha 1915) und Václav Novotny´ (M. Jan Hus. Život a učení, 2 Bde., Praha 1919 und 1921) – mehrere neue Biographien mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zu zeichnen versucht. Vgl. diesbezüglich in chronologischer Reihenfolge Ernst Werner, Jan Hus. Welt und Umwelt eines Prager Frühreformators, Weimar 1991; Hilsch, Johannes Hus; Kejř, Jan Hus; Fudge, Jan Hus; Krzenck, Johannes Hus; Šmahel, Jan Hus sowie Soukup, Jan Hus. In allen genannten Werken finden sich Hinweise auf die ältere, wegweisende Literatur. Mittlerweile im Internet zugänglich ist unter https://www.vifaost.de/themenportale/jan-hus/ ein vom Collegium Carolinum München, der Bayerischen Staatsbibliothek, Ostdok und ViFaOst betreutes Themenportal, „Jan Hus † 6. Juli 1415. 600 Jahre Konstanzer Konzil“, das einführende Essays, eine ausführliche Bibliographie, digitalisierte Literatur sowie weitere Materialien enthält. 2 Grundlegend hierzu nicht allein aus böhmischer (tschechischer) Perspektive Šmahel, Die Hussitische Revolution.
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Einleitung
ches und neun Päpste erlebte. Schon allein diese Fakten sprechen für sich und bilden den äußeren Rahmen für die zeitgenössische Forderung nach einer Reform von Kirche und Gesellschaft „an Haupt und Gliedern“.3 In Hussens viereinhalb Dezennien währendem Leben, das sich hauptsächlich in der böhmischen Landesmetropole Prag – seit dem 10. Jahrhundert das natürliche und unangefochtene Zentrum und später die „Hauptstadt“ des Herzogtums bzw. endgültig seit 1212 des Königreichs Böhmen – abspielte, fielen 1. der Tod Kaiser Karls IV. im Jahre 1378, mit dem ein scheinbar „goldenes Zeitalter“ in der böhmischen Geschichte endete,4 2. der Ausbruch des sog. Abendländischen Schismas, ebenfalls im Jahre 1378, das zwei, 1409 sogar drei miteinander konkurrierende Päpste hervorbrachte,5 3. die Absetzung Wenzels IV., des Sohnes und Erben Karls IV. in Böhmen und im Reich, als römisch-deutscher König im Jahre 1400,6 4. innerböhmische machtpolitische Konflikte zwischen Hochadel und König, Landesherr und Prager Erzbischof, die bürgerkriegsähnliche Zustände im „allerchristlichsten Königreich“ auslösten,7 5. innerdynastische Streitigkeiten der Luxemburger, die einem „Bruderkrieg“ glichen und zur zweimaligen Gefangenschaft des böhmischen Königs Wenzel IV. führten,8 6. sowie das Pisaner (1409) und der Beginn des Konstanzer Konzils (1414–1418),9 um nur die wichtigsten Ereignisse und Prozesse zu nennen, die viele Menschen beschäftigten. Johannes Hus lebte also in einer wahrlich spannungsgeladenen Zeit, in der länderübergreifende und nationale Konflikte auf kirchenwie machtpolitischer Ebene miteinander verschmolzen und einer Soukup, Jan Hus, 18. Zum böhmischen Kontext vgl. jetzt auch Pavlína Cermanová/Robert Novotny´/Pavel Soukup (Hrsg.), Husitské století, Praha 2014. Aus europäischer und kirchengeschichtlicher Perspektive vgl. u. a. Herbers/Schuller (hier auch Hinweise auf weitere Literatur). 4 Vgl. hierzu grundlegend zuletzt Lucemburkové. 5 Heribert Müller, Kirche in der Krise. Das große abendländische Schisma, in: Herbers/Schuller, 10–21. 6 Vgl. hierzu aus deutscher Perspektive Martin Kintzinger, Wenzel. In: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters, München 2003, 433–445. 7 Problemorientiert und im Überblick vgl. vor allem Hoensch, Die Luxemburger, 193–233. Zuletzt hierzu Eva Doležalová, Spor krále Václava s arcibiskupem Janem z Jenštejna, in: Lucemburkové, 656–663, sowie Robert Novotny´ , Spor Václava IV. s panstvem, in: Ebd., 664–674. 8 Grundlegend noch immer Hoensch, Die Luxemburger. 9 Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Institutionen und Personen, hrsg. von Heribert Müller und Johannes Helmrath, Ostfildern 2007. 3
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Lösung harrten. Hinzu kamen damit in Zusammenhang stehende wirtschaftliche Probleme im Königreich Böhmen sowie innerkirchliche Reformbewegungen, die ein in den Quellen gut fassbares Bild von Missständen deutlich hervortreten lassen.10 Um 1370 vermutlich im südböhmischen Hussinetz in bescheidenen Verhältnissen geboren, entschied sich Hus rasch, eine geistliche Laufbahn einzuschlagen. Dies geschah anfänglich in der naiven Vorstellung, eine gute Wohnung und Kleidung zu haben und von den Menschen geschätzt zu werden, wie Hus Jahre später in seinem „Büchlein vom Ämterkauf“ selbstkritisch notierte.11 Für 1393 liegt das erste quellenmäßig gesicherte Zeugnis zu Hus vor. Im September dieses Jahres erreichte Joannes de Hussynecz seine erste Graduierung an der knapp ein halbes Jahrhundert zuvor von Karl IV. gegründeten Universität mit dem Erwerb des akademischen Titels eines Bakkalaureus der Freien Künste.12 Hus hatte also, wenngleich mittellos, zunächst wie allgemein üblich ein Basisstudium an der Artistenfakultät der Prager Universität aufgenommen. Wollte er weiter an dieser bleiben, um den nächsthöheren Titel eines Magisters zu erlangen oder sogar das Studium an einer der höheren Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) fortzusetzen, musste er fleißig weiter lernen und ein vorgeschriebenes Pensum an Lehrveranstaltungen abarbeiten. Zudem hatte ein Bakkalaureus die begrenzte Möglichkeit, selbst erste Vorlesungen zu ausgewählten Lehrstoffen aus Logik, Mathematik und naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles zu halten. Den höheren Grad eines Magisters der Freien Künste erwarb Johannes Hus 1396, was auf seinen Fleiß und sein Bemühen, sich möglichst rasch einen Unterhalt noch vor einer Priesterweihe (diese erfolgte im Jahre 1400) zu sichern, schließen lässt. 1398 nahm Hus das zwölfjährige (!) Studium der Theologie auf, erreichte hierin 1404 den Titel eines Bakkalaureus der biblischen Studien, fünf Jahre später denjenigen eines Sententiars, ohne nachfolgend das Magisterstudium in diesem Fach zu beenden. Im Wintersemester 1401/1402 bekleidete er das Amt des Dekans der Artistenfakultät – zweifellos ein Beleg für die Anerkennung, die Hus sich innerhalb der akademischen Gemeinde erworben hatte. Mit Beginn des Studiums an der Theologischen Fakultät hörte der Student Vorlesungen der Doktoren sowie älterer Bakkalare, deren Inhalt die Bibel und die Sentenzen des Petrus Lombardus (um 1095/1100– Hierzu wiederum ausführlich Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 1, Kap. II– IV, 85–716. 11 Zu dieser Aussage und zum Kontext vgl. Krzenck, Johannes Hus, 20 f. 12 Zu Hussens Universitätskarriere vgl. Hilsch, Johannes Hus, 28–44 sowie Soukup, Jan Hus, 81–92. 10
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1160) als Versuch der Systematisierung der Theologie und einer Konzentration auf die Kernfragen derselben bildeten. Zu den Vorlesungen kam die obligatorische Teilnahme an Disputationen, Feierlichkeiten sowie akademischen Exerzitien, und erst danach konnte der Studierende auf Vorschlag eines Magisters der Fakultät zur Promotion zum Bakkalaureus anempfohlen werden. In diese strengen Vorgaben eingeordnet vollzog sich auch Hussens Theologiestudium. Er war Student – und Lehrender zugleich. Die bis heute erhaltenen Manuskripte sind ein wichtiges Zeugnis für Hussens Tätigkeit als akademischer Lehrer und zeigen, wie tief der fleißige Bakkalaureus in den biblischen Stoff eindrang.13 Einen Einblick in Hussens geistige Vorstellungen und seinen Blick auf den Zustand der Gesellschaft, wie er ihn in seinem Wirkungsort Prag erlebte, bietet exemplarisch eine Predigt aus dem Jahre 1404 bei einer Universitätsfeier zu Ehren ihres Gründers Karl IV. Der Sermon Abiciamus opera tenebrarum (Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen) nimmt Bezug auf den Brief des Paulus an die Römer (Röm 13,12 f.), wo es heißt: Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen, so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes. Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid .14 Man ahnt bereits den Zeitbezug! Und in der Tat nutzte Hus die öffentliche Bühne, um mit der Argumentation der Bibel und anerkannter kirchlicher Autoritäten scharfe Kritik am zeitgenössischen sittlich-moralischen Zustand der Geistlichkeit zu üben, wenn er zum Beispiel Simonie und weltliche Macht der Kirche anprangerte und als Schlussfolgerung eine sittliche Reform der Kirche forderte. Die Hingabe, mit der Hus sich den Pflichten an der Universität widmete, erstaunt umso mehr, wenn wir bedenken, dass es sich dabei nicht um seine einzige Tätigkeit handelte. Als Hus die besagte Predigt 1404 auf dem Boden seiner akademischen Wirkungsstätte hielt, war er bereits seit zwei Jahren Rektor der 1391 von einem Hofmann König Wenzels IV. gestifteten Bethlehemskapelle zu Prag.15 Wie seine Amtsbrüder auch, bemühte er sich dabei um eine Pfründe zur Absicherung seines Lebensunterhalts. In den ersten beiden Jahren seines Priestertums hatte er gelegentliche Gastpredigten etwa in der Kirche St. Michael der Prager Altstadt gehalten und bereits Aufmerksamkeit erzielt. Hussens Predig13 Krzenck, Johannes Hus, 57–61. 14 Vgl. Nr. 2 in diesem Band. Zum Kontext Krzenck, Johannes Hus, 59. 15 Zur Gründung der Bethlehemskapelle und zum zeitgeschichtlichen Kontext vgl. Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 2, 752–787 sowie Soukup, Jan Hus, 24–42.
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ten erfreuten sich nicht nur eines regen Zustroms der Gläubigen, sondern wurden zahlreich kopiert und gelesen – ein deutlicher Beweis dafür, dass er als Prediger den Bedürfnissen seiner Zuhörer voll entsprach, nicht zuletzt durch seine Appelle an eine Reform des christlichen Lebens, womit sich Hus auch als Fortsetzer in die Riege der Prager Reformprediger seit den 1360er Jahren des 14. Jahrhunderts einreihte.16 Hus sah Predigertätigkeit und Priesterdasein nicht – wie zahlreiche seiner Amtsbrüder – als Mittel zum Zweck an, er fühlte eine innere Berufung und nahm die damit verbundene Lebensweise sehr ernst. Dies waren hervorragende Voraussetzungen für die Berufung als Rektor (erster Prediger) der Bethlehemskapelle. Die Ernennung erwies sich für den etwa 32-jährigen Hus in doppelter Hinsicht als bedeutsam. Sie bot durch ein Jahresgehalt materielle Absicherung und zugleich durch die an der Ostseite der Kapelle angebaute Dienstwohnung ein Dach über dem Kopf.17 Das schlichte Hallengebäude mit seinem gotischen Doppelgiebel war eine Dominante im damaligen Stadtbild, ein programmatischer Ort, der zugleich durch seine Gestaltung die Forderung nach Reform architektonisch und gestalterisch artikulierte – etwa wenn an der Stelle des hohen Gewölbes als Abbild des Himmels eine hölzerne Balkendecke den Raum schmückte. Der Innenraum mit seiner Fläche von fast 800 m2 bot immerhin etwa 3000 Besuchern Platz! Der Name war dabei zugleich Symbol: Wie der Stifter schrieb, fand er es angemessen, die Kapelle ,Bethlehem‘ zu nennen, was man ,Haus des Brotes‘ auslegt, mit der Absicht, dass sich das gemeine Volk und die Treuen Christi mit dem Brot der Die Wurzeln des Hussitismus generell reichen bis in die Regierungszeit Karls IV. zurück, als sich Kritik an den sichtbaren Missständen in der Kirche formierte. Die wachsende Zahl geistlicher, um Pfründen konkurrierender Personen geriet in einen größer werdenden Gegensatz zur abnehmenden wirtschaftlichen Leistungskraft der böhmischen Länder (desolate Staatsfinanzen, Einbruch der Silberproduktion seit 1350, Münzverfall und Steuerdruck, dazu die Folgen einer kostenintensiven Arrondierungs- und Erwerbspolitik Karls IV.). In Prag waren die Krisensymptome angesichts der enormen Zahl von Geistlichen und Klöstern besonders wahrnehmbar. Wegbereiter einer stetig sich erweiternden Kritik an den kirchlichen und letztlich in unterschiedlicher Weise auch gesellschaftlichen Verhältnissen waren seit den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts Prediger wie Konrad Waldhauser, Johann Mílicˇ von Kremsier und Matthias von Janov. Im Zentrum ihrer auch in der Volkssprache und vor einer wachsenden Zuhörerschaft vorgetragenen Predigten stand die Forderung nach einer wahren, auf weltlichen Besitz und Luxus verzichtenden Kirche in der Nachfolge Christi und seiner Armut. Zum zeitgeschichtlichen Kontext wiederum Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 2, 717–751. 17 Zum Kontext vgl. Krzenck, Johannes Hus, 56–79. 16
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heiligen Predigt erfrischen sollen .18 Und es ging nicht einfach um die Predigt, sondern um jene in tschechischer Sprache, was der Tendenz eines wachsenden pränationalen Gefühls der einheimischen Slawen entsprach, das sich in unterschiedlicher Gestalt artikulieren sollte.19 Bereits in der Gründungsurkunde der Bethlehemskapelle war zudem der Umfang der Predigttätigkeit festgelegt, der zufolge an Sonn- und Feiertagen eine Predigt am Morgen und eine zweite nach dem Mittagessen, im Advent und zur Fastenzeit an jedem Tag ein Sermon in der Frühe gehalten werden musste. In den zehn Jahren seiner Predigttätigkeit (1402–1412) dürfte Hus insgesamt etwa 3.000 Mal auf der Kanzel gestanden haben!20 Was aber predigte Hus? Wer waren die Zuhörer? Und wie erreichte der Prediger die versammelte Masse? Mehrere Predigtsammlungen – Hus hob zum Beispiel im Verlaufe des Kirchenjahres seine Unterlagen auf, bearbeitete sie zu einem Buch und stellte sie Studenten und Predigern zur Verfügung – sind überliefert, etwa aus den Jahren 1404/1405 und 1411/12; natürlich gab es hier, wenn auch mehrheitlich in den Anfangsjahren vom Verfasser getilgt, Anspielungen auf aktuelle Ereignisse, doch den Inhalt dieser homiletischen Texte prägten vor allem Heiligenpredigten, Sermones zur Fastenzeit, Auslegungen über die Passion Christi. Der Ablauf des liturgischen Jahres konfrontierte den Prediger dabei stets mit den gleichen auszulegenden Texten.21 Sofern Hus nicht gerade auf der Kanzel oder hinter dem Vorlesungspult an der Universität stand, saß er mit ziemlicher Sicherheit in seiner Stube im Predigerhaus an der Bethlehemskapelle, studierte die Bibel, arbeitete an seinen Traktaten und bereitete seine Vorlesungen an der Universität sowie seine Predigten vor, dabei stets die seelsorgerische Aufgabe als Hirte seiner Gemeinde vor Augen.22 Hus ging es dabei – den Erfahrungshorizont seines Publikums, das sich mehrheitlich aus tschechischen Handwerkern und Kaufleuten rekrutierte, vor Augen – vor allem um Anschaulichkeit, Gleichnisse, Zeitbezüge. Die Ansprüche an eine solche Predigertätigkeit formulierte Hus in einem Brief an einen jungen Priester, dem er unter anderem schrieb: Erst lebe fromm und heilig, dann lehre treu und recht. Sei anderen ein Vorbild in guten Taten, damit du nicht beim Wort genommen wirst, warne vor Sünden und empEbd., 69–70. Vgl. des Weiteren Soukup, Jan Hus, 27. 19 Vgl. zum Kontext die gründliche Analyse der sozialen und ethnisch-nationalen Verhältnisse bei Jaroslav Mezník, Praha před husitskou revolucí, Prag 1990. 20 Vgl. Soukup, Jan Hus, 16. 21 Ebd., 24–42, sowie Ders., Ne verbum Dei in nobis suffocetur [...]Kommunikationstechniken von Predigern des frühen Hussitismus, in: Bohemia, Bd. 48/1 (2008), 54–82. 22 Vgl. Pavel Soukup, Jan Hus, in: Husitské století (wie Anm. 3), 53–70 (hier 54–55). 18
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fehle die Tugenden. [...] Predige unermüdlich, jedoch kurz und effektiv und mit einem kundigen Verständnis der Heiligen Schriften. [...] Predige beharrlich gegen die Genusssucht, denn sie ist das wildeste Raubtier, das die Menschen verschlingt .23 Hus strebte aus innerer Überzeugung beharrlich danach, diesem Ideal nahezukommen. Und dies in einer Welt voller Widersprüche, in einer Stadt praller Gegensätze. Prag – das war dabei mit wohl mindestens 30.000 Einwohnern eine der größten Städte nördlich der Alpen, die Karl IV. aus dem Hause Luxemburg als prachtvolle Residenz hatte großzügig umbauen und erweitern lassen.24 Doch der äußere Schein trog. Mit Karls Tod 1378 und dem Ende eines scheinbar „goldenen Zeitalters“ brachen mühsam gekittete Konflikte offen aus. Diese zeigten sich auch und gerade in der omnipräsenten Kirche. Allein 44 Pfarreien, 24 Klöster und 1.200 Kleriker gab es in Prag, womit die Moldaustadt eines der größten geistlichen Zentren in Europa war.25 Die wachsende Zahl geistlicher, um Pfründen konkurrierender Personen geriet in einen größer werdenden Gegensatz zur abnehmenden wirtschaftlichen Leistungskraft der böhmischen Länder. In Prag waren die Krisensymptome angesichts der enormen Zahl von Geistlichen und Klöstern besonders wahrnehmbar, was bereits seit den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts ein breites Forum für Kirchen- und Gesellschaftskritik schuf. Im Zentrum der Kritik von Predigern wie Konrad Waldhauser, Johann Mílicˇ von Kremsier und Matthias von Janov stand dabei die Forderung nach einer wahren, auf weltlichen Besitz und Luxus verzichtenden Kirche in der Nachfolge Christi und seiner Armut.26 Allen Schichten der Gesellschaft war die Stellung der katholischen Kirche, insbesondere deren sittlich-moralischer Zustand (Simonie, Zölibat, Konkubinat, Geldgier usw.) sowie deren umfangreicher Grundbesitz im Lande, der bei 30 bis 40 Prozent des gesamten nutzbaren Bodens lag, ein Dorn im Auge.27 Hinzu kamen machtpolitische, mitunter mit bewaffneten Mitteln ausgetragene Konflikte zwischen Hochadel und So Hus in einem Anfang November 1414 verfassten Brief an einen unbekannten Priester. Vgl. hierzu Novotny´ , Korespondence, 215 (Nr. 95). Zum Kontext wiederum Soukup, Jan Hus, 40. 24 Ausführlich zu den Verhältnissen in der böhmischen Landeshauptstadt (auch im europäischen Kontext) wiederum Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 1, Kap. 2, 85–272. 25 Ebd., 168–219 (hier v. a. 182–184). 26 Vgl. hierzu zuletzt im Überblick Pavel Soukup, Kazatelství a propaganda, in: Husitské století (wie Anm. 3), 415–418. Übersichtlich hierzu auch Zdeněk Uhlíř, Středověké kazatelství v česky´ ch zemích: nástin problematiky, in: Almanach historyczny 7, 2005, 57–93 (hier bes. 70–85), sowie Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 2, 717–787. 27 Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 1, 147–167 (mit tabellarischen Übersichten sowie Quellen- und Literaturhinweisen). 23
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König, König und Prager Erzbischof, Wenzel IV. und anderen Familienangehörigen aus dem Hause Luxemburg. Und noch ein weiteres, „verbales Schlachtfeld“ offenbarte sich: Als geistiger Unruheherd rückte die 1348 gegründete Prager Universität in das Zentrum.28 Eine junge aufstrebende Generation böhmischer Universitätsmagister und Prediger, zu denen auch Hus gehörte, orientierte sich an den Vorstellungen und Forderungen des Oxforder Kirchenkritikers John Wyclif (um 1330–1384), der eine ganz an der Heiligen Schrift ausgerichtete Reform von Kirche und Klerus forderte. Dabei stieß man auf den erbitterten Widerstand der landfremden Universitäts-„Nationen“. Ein Streit um philosophische Grundpositionen, hinter denen sich freilich diametral entgegengesetzte – auch pfründenorientierte – politische Interessen verbargen, kulminierte im Kuttenberger Edikt 1409, das das Stimmenverhältnis an der Prager Universität zu Gunsten der einheimischen böhmischen „Nation“ veränderte und zur Sezession der deutschen Magister und Scholaren führte.29 Hus selbst wurde im Wintersemester 1409/10 Rektor der nunmehr geschrumpften Hochschule, an der die Wyclif-Anhänger an Bedeutung gewannen.30 Dessen Philosophie, seine Auffassung der Heiligen Schrift als ewig geltendem obersten Gesetz sowie die beißende Kritik an der Kirchenhierarchie der Zeit schienen Hus gleichsam aus der Seele zu sprechen. Das waren die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen Johannes Hus als aufmerksamer Beobachter des Geschehens um ihn herum zum charismatischen und wortgewaltigen Prediger an der Bethlehemskapelle reifte und dabei immer mehr zur Leitfigur seiner wachsenden Anhängerschaft im Prager „Volk“ und zum Hassobjekt seiner nicht minder zahlreichen Gegner aus den Reihen des von ihm heftig kritisierten Prager Klerus und der hohen Geistlichkeit aufstieg.31 Die anfängliche Zusammenarbeit mit bzw. eine gewisse Protektion durch den theologisch nicht sehr versierten Prager Erzbischof Zbyněk von Hasenburg fand spätestens 1408 ihr Ende, als Hus wegen seiner kritischen, angeblich aufrührerischen Predigten und wegen seiner Sympathie für die Lehren des John Wyclif in einen offenen Konflikt mit der KirchenoVgl. Dějiny univerzity Karlovy, Bd. 1: 1347/48–1622, hrsg. von Michal Svatoš u. a., Prag 1995. Zu den Folgen für Leipzig vgl. Enno Bünz, Gründung und Entfaltung. Die spätmittelalterliche Universität Leipzig 1409–1539, in: Enno Bünz/Manfred Rudersdorf/Detlef Döring (Hrsg.), Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, Leipzig 2009, 55–79. 29 Grundlegend hierzu jetzt Martin Nodl, Dekret kutnohorsky´ , Prag 2010 (eine deutsche Übersetzung befindet sich in Arbeit). 30 Zum Kontext vgl. wiederum Soukup, Jan Hus, 82 f. 31 Vgl. Hilsch, Johannes Hus, 58–75, Krzenck, Johannes Hus, 56–79 sowie Soukup, Jan Hus, 24–42. 28
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brigkeit geriet.32 Noch aber wusste Hus einen weiteren mächtigen – freilich aus egoistischen Gründen handelnden – weltlichen Schutzherrn hinter sich: König Wenzel IV.33 Kirchenkritik war als solche nicht zwangsläufig gefährlich bzw. rief den Verdacht der Häresie hervor. Viele gelehrte Zeitgenossen – auch unter den Konzilsvätern in Konstanz – haben Missstände innerhalb der sichtbaren Kirche ihrer Zeit angeprangert, freilich sprichwörtlich hinter den geschlossenen (oder besser: undurchdringlichen) Mauern geistiger und geistlicher Gelehrsamkeit und ohne in der Konsequenz die kirchliche Hierarchie in Frage zu stellen! Doch wehe, wenn diese Kritik nach außen drang und von den illiterati – den Laien, das heißt der großen Masse des einfachen, nicht selten unzufriedenen Volks – willig aufgegriffen wurde und durch nackte Gewalt der Einsturz der gottgewollten und scheinbar ewigen Ordnung drohte. Bereits 1405 hatte Hus als Synodalprediger heftige Kritik an kirchlichen Missständen geübt, doch eben auf einer Synode in Prag, also nur unter Geistlichen!34 Dabei hatte er sogar Wyclifs Kirchenbegriff der communio praedestinatorum (Gemeinschaft der Vorherbestimmten) propagiert. Doch die moralische Standpauke nahm die Synode scheinbar ungerührt und unbemerkt (?) zur Kenntnis.35 Bald sollte sich dies jedoch grundlegend ändern, wobei die Entwicklung in der Causa Hus in hohem Maße durch die Folgen des Großen Schismas bestimmt wurde. Nur in Grundzügen können die nachfolgenden Geschehnisse hier angedeutet werden, zumal es sich um eine hochkomplizierte kirchenrechtliche Materie handelt.36 Hatte Hussens Landesherr, König Wenzel IV., anfänglich die römische Obödienz präferiert, setzte er nach dem Pisaner Konzil 1409 auf Papst Alexander V., der freilich die Konfiskation aller Schriften Wyclifs befahl, was Erzbischof Zbyněk in Prag bereitwillig – eine Konfliktverschärfung in Kauf nehmend – umsetzte und darüber hinaus im Sommer 1410 die Schriften des englischen „Häretikers“ symbolträchtig in der Landeshauptstadt verbrennen ließ.37 Hus reagierte empört und legte bei Papst Johannes mahel, Jan Hus, 65 verweist auf die Tatsache, dass sich Hus 1408 an seiner „ersten Schicksalskreuzung“ befand. 33 Zu Wenzels Haltung grundlegend auch Petr Čornej, Velké dějiny zemí Koruny české, Bd. V: 1402–1437, Praha-Litomyšl 2000, 84–211. Zu Wenzels Verhältnis zur einheimischen Reformbewegung vgl. Pavel Soukup, Václav IV. a reformní hnutí, in: Lucemburkové, 688–701. 34 Vgl. dazu in diesem Bd. Hussens Synodalpredigt Diliges dominum Deum tuum (Nr. 5). Zum Kontext Soukup, Jan Hus, 62–80. 35 Zum Kontext der Tätigkeit Hussens als Synodalprediger vgl. besonders Šmahel, Jan Hus, 57–66 sowie Soukup, Jan Hus, 62–80. 36 Zur Causa Hus grundlegend Kejř, Husův proces (dt. Ausgabe: Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche) sowie Fudge, The Trial. 32 Š
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XXIII., dem Nachfolger Alexanders V., selbst Widerspruch gegen die Bücherverbrennung ein, was wiederum den Prozess gegen Hus an der päpstlichen Kurie in Gang setzte.38 Die nachfolgende Vorladung ignorierte Hus, den Regeln des kanonischen Rechts entsprechend hatte dies wiederum die Verhängung des Kirchenbanns zur Folge!39 In Reaktion auf das erlassene Predigtverbot in Kapellen, das auch und gerade auf Hussens Arbeitsplatz zielte, stieg der Betroffene Ende Juni 1410 auf die Kanzel, um die Wyclifschen „Wahrheiten“ zu verteidigen – dezidiert mit dem Hinweis auf das biblische Gebot Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen! 40 Der versammelten Menge stellte Hus die suggestive Frage, ob sie weiter zu ihm halten wolle, was diese mit einem eindeutigen Ja beantwortete. Hus fuhr fort: Wisset also, dass ich erklärt habe und erneut erkläre, dass es meine Bestimmung ist, entweder zu predigen oder aus dem Lande verbannt zu werden oder im Kerker zu sterben, weil Päpste lügen können und in der Tat lügen; Gott aber lügt nicht.41 Hus vertrat jetzt offen Wyclifs Überzeugung von der Kirche als Gemeinschaft der Erwählten, während er in den Verdammten (presciti) Glieder des Teufels erblickte, ohne dass er die Funktionen der bestehenden kirchlichen Institution völlig negierte.42 Für kurze Zeit durften Hus und seine Anhänger hoffen, der vielschichtige Konflikt zwischen Landesherr und Erzbischof, der im Frühjahr 1411 zur Beschlagnahme von Kirchengütern führte, sowie der überraschende Tod des Prager Metropoliten im September des gleichen Jahres würde ihre Positionen stärken, doch diese Annahme sollte sich als trügerisch erweisen.43 Denn durch den Ablassstreit 1412 verloren Hus und seine Anhänger schließlich den Schutz ihres weltlichen Protektors. Während Wenzel IV. den von Papst Johannes XXIII. ausgerufenen Kreuzzug gegen den König von Neapel unterstützte, weil er hiervon finanziell profitierte, geißelte Hus voller Empörung von der Kanzel der Bethlehemskapelle den Ablass und polemisierte gegen die päpstlichen Bullen. In der Prager Bevölkerung brachen parallel hierzu Unruhen aus.44 Die größte Enttäuschung in dieser ohnehin angespannten und verfahrenen Situation war für Hus der Übertritt ehemaliger Wyclif-Anhänger, seines Lehrers Stanislaus von Znaim und seines Freundes Stefan von Páleč, auf die Seite der „Verräter der Wahrheit“.45 37 Vgl. hierzu v. a. Hilsch, Johannes Hus, 103–146 sowie Krzenck, Johannes Hus, 80– 110. 38 Grundlegend jetzt Fudge, The Trial, 116–187. 39 Vgl. Soukup, Jan Hus, 104– 116. 40 Apg 5,29. 41 Soukup, Jan Hus, 105–106. Die Appellation in Novotny´ , Korespondence, 56–59 (Nr. 17). 42 Zu Hussens Kirchenbegriff vgl. Hilsch, Johannes Hus, 222–234. Zum Kontext wiederum Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 1, 577– 603. 43 Vgl. Soukup, Jan Hus, 117–130. 44 Ebd., 126 f.
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Und aus Rom traf eine weitere Bulle in Prag ein, die die Exkommunikation Hussens aufgrund seines Nichterscheinens vor dem päpstlichen Gericht verschärfte. Schloss nämlich die „kleine“ Exkommunikation den Betroffenen von den Sakramenten aus, beinhaltete die „große“ Exkommunikation auch das Verbot, mit dem Gebannten zu kommunizieren, ihm Speise, Trank und Unterkunft zu gewähren.46 In dieser Situation appellierte Hus erneut – freilich nicht an den Papst, sondern an Christus selbst als obersten Richter!47 Die Appellation, menschlichmoralisch in Hussens Situation verständlich, war von einem streng rechtlichen Gesichtspunkt aus freilich unzulässig. Prozessual machte sich Hus weiter angreifbar. Nachdem König Wenzel IV. Hus hatte fallen lassen, wurde die Situation für den Theologen und Prediger nach dem erneuten päpstlichen Bannstrahl derart gefährlich, dass der Geächtete Prag verließ und sich aufs Land unter den Schutz adeliger Gönner zurückzog, unter anderem in die waldumschlungene Einsamkeit der südböhmischen Burg Kozí Hrádek (Ziegenburg), die Hus – ähnlich wie Luther 100 Jahre später die Wartburg – als schützender Zufluchtsort diente.48 Gleich dem deutschen Reformator des 16. Jahrhunderts suchte Hus – neben Predigten unter der Landbevölkerung – die äußere Bedrängnis durch Arbeit zu kompensieren. So propagierte er die Bibelübersetzung ins Tschechische, verfasste Auslegungen der Zehn Gebote und vollendete sein theologisches Hauptwerk, den Tractatus De ecclesia (Über die Kirche).49 Anknüpfend an sein geistiges Vorbild Wyclif, den zu verteidigen ihm vor allem am Herzen lag, entwickelte Hus seine bereits in früheren Werken anzutreffende Ekklesiologie weiter und brachte sie in konzentrierter Form zu Papier. Die Idee der Prädestination bedeutete im theologischen Verständnis Wyclifs und an diesen anknüpfend Hussens, dass Gott von Anfang an das Los aller Menschen vorherbestimmt habe, wobei die Kirche sich aus der Zahl der Prädestinierten zusammensetze und deren Haupt Christus allein bilde: Christus ist Haupt der heiligen universalen Kirche und sie selbst sein Leib, jeder Erwählte sein Glied und damit Teil der Kirche, die Christus mystischer – das bedeutet geheimnisvoller – Leib ist, heißt es wörtlich!50 Innerhalb dieses Kirchenbegriffes ergaben sich in 45 Zu Stefan von Páleč vgl. zuletzt das Medaillon von Pavel Soukup, Štěpán z Pálče, in: Husitské století (wie Anm. 3), 61 (mit weiteren Literaturhinweisen). 46 Zum Kontext grundlegend Kejř, Husův proces, 97–136. 47 Zu Hussens Appellatio ad Christum vom Herbst 1412 grundlegend Jiří Kejř, Husovo odvolání od soudu papezˇ ova k soudu Kristovu, Ústí nad Labem 1999. Vgl. dazu auch den Text der Appellation in diesem Band Nr. 19. 48 Zu Hussens Exil vgl. Hilsch, Johannes Hus, 176–221 sowie Krzenck, Johannes Hus, 130–146. 49 Zu Hussens Tätigkeit im Exil Soukup, Jan Hus, 159–188.
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einer langen Kette von Deduktionen grundlegende Schlussfolgerungen für die kirchliche Hierarchie, was etwa bedeutet, dass bei Prälaten keineswegs von vornherein als Axiom gelten konnte, sie seien Glieder der Kirche Christi, was folgerichtig die gesamte Struktur der Amtskirche ins Wanken brachte.51 Die Kleriker konnten den Anspruch ihrer Mittlertätigkeit nur dann erheben, wenn sie das wirkliche Kirchenhaupt, also Christus, in ihrer Lebensweise nachahmten bzw. vorlebten. Die ganze hierarchische Verfassung der Kirche mit dem Primat des Papstes wurde somit angezweifelt! Fast folgerichtig musste in solcher Argumentation, dachte man weiter, auch bereits ein christliches Widerstandsrecht formuliert werden für den Fall, dass die päpstlichen Gebote dem Gebot Christi widersprachen und zum Schaden gereichten. Dann, so Hus, soll er (also der Gläubige – Th. K.) ihm kühn entgegentreten, auf dass er nicht durch Zustimmung Teilnehmer an einem Verbrechen wird.52 Man kann sich gut vorstellen, wie diese Gedanken, die noch dazu von einem als „Häretiker“ eingestuften Priester stammten, an der Kurie aufgenommen wurden. Es war wiederum die große Politik, die den weiteren Gang der Ereignisse richtungsweisend bestimmen sollte, zumal sich die Frage der endgültigen Überwindung des Schismas durch ein einzuberufendes, allgemeines Kirchenkonzil immer dringender stellte.53 Hus sah hierin auch (s)eine Chance – nämlich sich vom Vorwurf der Ketzerei zu befreien und die Möglichkeit, seine Auffassungen, wie er glaubte, verteidigen zu können. Das Risiko bestand darin, nicht in die böhmische Heimat zurückkehren zu können, sondern auf dem Scheiterhaufen zu enden. In Augenblicken des Schwankens und der Furcht rechnete Hus mit Letzterem, wovon auch sein Testament von Anfang Oktober 1414, adressiert an seinen Schüler Martin von Volyneˇ, eindrucksvoll Zeugnis ablegt, insbesondere durch die auf den versiegelten Brief geschriebene Bemerkung: Ich bitte Dich, diesen Brief erst zu öffnen, wenn Du dessen sicher bist, dass ich tot bin.54
50 Zu Hussens Traktat über die Kirche und zum Kontext vgl. Hilsch, Johannes Hus, 222–234, Krzenck, Johannes Hus, 135–139 sowie Soukup, Jan Hus, 159–174. Zum Text selbst vgl. die Übertragung ins Deutsche im vorliegenden Band Nr. 27. 51 Zum Kontext vgl. Šmahel, Die Hussitische Revolution, Bd. 1, 544–603. 52 Vgl. Nr. 27 in diesem Band. Zum Kontext Soukup, Jan Hus, 159–174. 53 Zum zeitgenössischen Kontext, der Vorbereitung des Konzils und dem Constantiense als Fortsetzer des Pisaner Konzils zuletzt vor allem Thomas Martin Buck/Herbert Kraume (Hrsg.), Das Konstanzer Konzil. Kirchenpolitik, Weltgeschehen, Alltagsleben, Ostfildern 2013, 39–72 (hier auch Hinweise auf die ältere Literatur). 54 Schamschula, Jan Hus, 105; diese Ausgabe Nr. 31.(I).
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Die Causa fidei (Glaubensfrage) war – neben der Frage der Überwindung des Schismas (causa unionis) und jener der notwendigen Kirchenreform (causa reformationis) – nur ein Punkt der Kirchenversammlung am Bodensee.55 Doch vor allem der Prozess gegen Hus ist in der Erinnerung geblieben, zumal es in Konstanz noch heute zahlreiche Erinnerungsorte an Hus gibt. Nicht zu vergessen die zeitgenössische Chronik des Ulrich Richental mit ihren farbigen Illustrationen.56 Der Prozess gegen Johannes Hus war, dies hat Thomas Fudge überzeugend herausgestellt, ein Ketzerprozess, der – wenngleich die Prozessakten nicht überliefert sind – nach genau definierten Regeln der Kirche durchgeführt wurde und der, sollte der Delinquent nicht widerrufen, nur ein Urteil kannte: Tod auf dem Scheiterhaufen!57 Hauptankläger Hussens war – Ironie der Geschichte – ein Landsmann, ein Böhme namens Michael de Causis, ein Kirchenrechtler, der an der Kurie wirkte, als Richter wiederum agierten Fachleute ersten Ranges, deren Namen sich wie das Who is Who damaliger theologischer, wissenschaftlicher Kompetenz lesen – unter ihnen Pierre d’Ailly, Jean Gerson und Francesco Zabarella.58 Dreimal wurde Hus auf Veranlassung König Sigismunds von Luxemburg vor dem Konzil „angehört“, 55 Zum Konstanzer Konzil grundlegend Walter Brandmüller, Das Konzil von Konstanz, 2 Bde., Paderborn 1998–1999. Des Weiteren sind in jüngster Zeit mit Blick auf das Jubiläum 600 Jahre Konstanzer Konzil mehrere Monographien und Sammelbände erschienen, die das Constantiense aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Vgl. hierzu Thomas Martin Buck/Herbert Kraume, Das Konstanzer Konzil (wie Anm. 53); Karl-Heinz Braun/Matthias Herweg/Hans W. Hubert/Joachim Schneider/Thomas Zotz (Hrsg.), Das Konstanzer Konzil. Essays, Darmstadt 2013; Jan Keupp/Jörg Schwarz, Konstanz 1414–1418. Eine Stadt und ihr Konzil, Darmstadt 2013; Gabriela Signori/Birgit Studt (Hrsg.), Das Konstanzer Konzil. Begegnungen, Medien, Rituale. Ostfildern 2014. Zuletzt hierzu auch problemorientiert und die bisherigen Forschungen kritisch resümierend Ansgar Frenken, Das Konstanzer Konzil, Stuttgart 2015. Alle Darstellungen berücksichtigen in unterschiedlicher Weise auch die Causa fidei und damit den Prozess gegen Johannes Hus. 56 Ulrich Richental, Chronik des Konzils zu Konstanz 1414–1418. Faksimile der Konstanzer Handschrift, Darmstadt 2013. Die Edition enthält als Beiheft von Jürgen Klöckler, Die Konstanzer Handschrift der Konzilschronik des Ulrich Richental. Eine kommentierte Überlieferungsgeschichte. 57 Vgl. Fudge, The Trial, 238–295. 58 Zu Hussens Gegnern aus Böhmen vgl. grundlegend Zdenˇka Hledíková, Hussens Gegner und Feinde, in: Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen, hrsg. von Ferdinand Seibt u. a., München 1997, 91–102. Zu Michael de Causis und zu Hussens böhmischen Gegnern in Konstanz zuletzt Petr Elbel, Die Delegation der Prager Kirchenprovinz und die böhmischen Gegner des Jan Hus in Konstanz, in: Karl-Heinz Braun u. a., Das Konstanzer Konzil (wie Anm. 55), 64–69 (hier v. a. 68). – Zu den führenden Köpfen des Konzils vgl. Thomas Martin Buck/Herbert Kraume, Das Konstanzer
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unter zum Teil tumultartigen Umständen. Mehrfach haben die Konzilsväter versucht, Hus Brücken zu bauen: Anklagepunkte wurden dahingehend zusammengestrichen.59 Der zentrale Kern der Anklage stand in Hussens Traktat „Über die Kirche“: Niemand ist Herr, niemand ist Prälat, wenn er sich im Zustand der Todsünde befindet! 60 Noch im Gefängnis führte Hus eine rege Korrespondenz mit seinen böhmischen Anhängern in der Heimat, immer wieder forderte er sie auf, auszuharren in Treue und Demut.61 Seine eigene Rolle sah Hus immer klarer, Gedanken an einen Märtyrertod, schon früher zeitweise präsent, ergriffen ihn, gaben seinem Leben einen (neuen) Sinn in der noch verbleibenden irdischen Zeit. Hus konnte, für heutige Menschen schwer nachvollziehbar, gar nicht mehr anders als sich zu opfern und dadurch seinen Anhängern in Böhmen ein Zeichen der Stärkung, des Glaubens und der Hoffnung zu geben – gemäß der späteren hussitischen Losung Veritas vincit! Am 6. Juli 1415 schließlich wurde das Urteil verkündet: Das Konzil warf Hus vor, hartnäckig Irrtümer und Häresien des Wyclif verteidigt und gepredigt zu haben, ebenso hartnäckig habe er den Kirchenbann ignoriert, an Christus appelliert, ohne die kirchliche Mittlerfunktion beachtet zu haben.62 Andere, wie wir heute wissen, wesentliche Gründe seiner Verurteilung, wurden offiziell so dezidiert nicht genannt: sein öffentlicher Angriff auf die Macht sowie den Prunk und den irdischen Reichtum der Kirche und ihrer Mitglieder in der kirchlichen Hierarchie. Wer war Johannes Hus? Nüchtern gesagt: weder ein Prophet noch ein Prager Savonarola oder gar ein Revolutionär! Hus wollte keine andere, sondern eine bessere Welt. Er war ein eifriger Theologe, ein sicherlich charismatischer Prediger, der die kirchlichen Missstände seiner Zeit unnachgiebig geißelte – und der seiner wachsenden Anhängerschaft an der Prager Bethlehemskapelle glaubhaft vorlebte, was er predigte. Dies machte ihn, der sich noch dazu öffentlich zu einem verurteilten Häretiker (John Wyclif) bekannte, gefährlich in einer Zeit, die widerspruchsvoll genug war und die die hierarchische Ordnung der scheinbar gottgewollten Welt bedrohte. Hussens menschliches Schicksal wurde zu einem Meilenstein in der nationalen wie europäischen Geschichte. Hus Konzil (wie Anm. 55), 98–102 (Francesco Zabarella), 165–167 (Jean Charlier Gerson) und 331–334 (Pierre d’Ailly). 59 Vgl. hierzu Kejř, Husův proces, 137–199, Hilsch, Johannes Hus, 264–283 sowie die Forschung und die mit dem Prozess verbundenen Probleme resümierend Frenken, Das Konstanzer Konzil (wie Anm. 55), 209–224. – Vgl. auch die in diesem Band Nr. 35. 60 Vgl. dazu die Übertragung ins Deutsche in diesem Band Nr. 25. 61 Vgl. dazu in diesem Band Nr. 32 sowie Schamschula, 111– 181. 62 Vgl. Nr. 32 in diesem Band. Zum Kontext knapp Krzenck, Johannes Hus, 180–183.
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war nicht allein nur ein passives Opfer: Durch seine Entscheidung für den Scheiterhaufen avancierte Hus, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, zu einem Mitschöpfer einer historischen Epoche. Hus war physisch tot, doch die nachfolgenden Ereignisse in seiner böhmischen Heimat zeigen mit aller Deutlichkeit, dass der Kampf um seine reformatorischen Vorstellungen und Ziele unter dem Banner „Die Wahrheit siegt“ erst richtig begonnen hatte. „Erst, da Hus tot war, wurden seine Gedanken eigentlich lebendig“, hat schon Leopold von Ranke 1888 richtig erkannt.63 Die Überlieferungsgeschichte – das zweite Leben des Johannes Hus – ist dabei ebenso ein eigenständiges Thema wie diejenige der bereits im 15. Jahrhundert einsetzenden Übersetzungen der Werke Hussens ins Deutsche.64 2. Hus-Texte im Druck und in deutscher Übersetzung Einer Beschäftigung mit Hus stellen sich zahlreiche Schwierigkeiten entgegen. Eine wissenschaftliche Gesamtausgabe seiner Werke existiert bisher nur in Bruchstücken.65 Noch immer ist die Forschung in vielen Fällen auf Teileditionen und Textsammlungen angewiesen, die 100 Jahre oder älter sind und modernen Ansprüchen in der Regel nicht mehr genügen.66 Hinzu kommen die sprachlichen Barrieren, die nur wenigen Interessierten die Wahrnehmung der Originaltexte erlauben. Etwa zwei Drittel des umfangreichen Husschen Oeuvres sind in einem spätmittelalterlichen Gelehrtenlatein verfasst, das heute nur noch von Wenigen flüssig gelesen werden kann. Noch schwieriger stellt sich die Aneignung der alttschechischen Texte dar, die etwa ein Drittel seines Werkes ausmachen. Da diese Sprache nicht zur Grundausstattung deutscher Historiker gehört, bleibt eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Prager Magister auf den kleinen Kreis der Spezialisten für die mittelalterliche Geschichte der böhmischen Länder beschränkt. Zu der schwierigen Zugänglichkeit vieler Texte und den sprachlichen Hürden kommt der Umstand erschwerend hinzu, dass Hus ein Leopold von Ranke, Weltgeschichte, Bd. 9, Leipzig 1888, 187. Zum Kontext vgl. u.a. Ferdinand Seibt, Das Konstanzer Gericht im Urteil der Geschichte, in: Ferdinand Seibt, Hussitenstudien, München 1987, 153–173. 64 Zur Frage des Nachlebens Hussens vgl. insbesondere Peter Hilsch/Jaroslav Šebek, Johannes Hus, in: Stefan Samerski (Hrsg.), Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart, Paderborn 2009, 275–296; Krzenck, Johannes Hus, 184–200 sowie Soukup, Jan Hus, 209–219. 65 Vgl. MIHO und MIHO/CC. 66 Eine Übersicht über die vorhandenen Hus-Editionen bis zum Jahr 2015 unter http://www.collegium-carolinum.de/cz/knihovna/bibliografie/hussitismus/werke-von-hus.html. 63
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überaus gelehrter und in der scholastischen Methode seiner Zeit geübter Theologe war. Dies macht es nicht leicht, seinen gelegentlich etwas schwerfällig argumentierenden, mit Belegen aus dem Kirchenrecht und von den Kirchenvätern, vor allem aber mit Zitaten aus der Bibel überladenen Texten zu folgen. Sein theologisches Werk ist zudem so umfangreich und vielfältig, dass es der Zusammenarbeit mehrerer historischer Disziplinen bedarf, um es vollständig zu erschließen und auszuwerten. Hus hat nicht nur eine erkleckliche Anzahl lateinischer und alttschechischer Predigten, sondern darüber hinaus zahlreiche theologische Traktate, Texte für den akademischen Unterricht, Streitschriften und Briefe sowie Kommentare zu einzelnen Bibelstellen oder biblischen Büchern hinterlassen. Die Theologie des Johannes Hus ist nicht zuletzt aus diesen Gründen bis heute nicht hinreichend erforscht. Die Tendenz, ihn nicht als originellen theologischen Denker, sondern als bloßen Epigonen John Wyclifs (ca. 1330–1384) oder als einen unter vielen Kirchenkritikern des Spätmittelalters wahrzunehmen, war insbesondere in der älteren deutschen Hus-Forschung verbreitet. Doch eine solche Sichtweise wird seiner Bedeutung als eines eigenständigen, im Wesentlichen biblisch argumentierenden Theologen nicht gerecht. Im Unterschied zu manchem abwertenden Urteil in der Forschungsliteratur wurden die Werke des Prager Magisters von Luther und seinen Anhängern in Ehren gehalten und während des 16. Jahrhunderts vermehrt zum Druck gebracht. Die Druckgeschichte der Husschen Werke begann um 1481, als eine niederdeutsche Übersetzung der Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses, der Zehn Gebote und des Vaterunser in Lübeck erschien.67 Verfasser war vermutlich Johann von Lübeck, der mit Hussens Schriften während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Prag bekannt geworden sein dürfte. 1495 folgte in Prag eine Druckausgabe von Texten zu Hus in Konstanz.68 Von dem Thema „Luther und Hus“, das immer wieder einmal Gegenstand von Untersuchungen war,69 abgesehen, bleibt die generelle Hus-Rezeption im deutschen Sprachraum während des Spätmittelalters und in der Reformationszeit aber Jan Hus, Dat bokeken van deme repe. De uthlegghinge ouer den louen (Der Spiegel der Sünder). Aus dem Tschechischen ins Niederdeutsche übertragen von Johann von Lübeck. Mit einer Einleitung von Amedeo Molnár, Hildesheim/New York 1971; die Datierung nach http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de Nr. 13672. 68 Nachweis: http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de Nr. 13673. 69 Für andere sei hier verwiesen auf Bernhard Lohse, Luther und Huß, in: Ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, Göttingen 1988, 65– 79. 70 Eine erste Sondierung dieses Feldes bietet Armin Kohnle, Martin Luther, Johannes Hus und die hussitische Tradition in Sachsen, in: Des Himmels Fund67
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ein weitgehend unbearbeitetes Feld.70 Soviel lässt sich aber jetzt schon sagen: Für die Druckverbreitung der Husschen Werke bedeutete die Reformation einen Meilenstein. 1520 erschien Hussens Hauptwerk „Über die Kirche“ (De Ecclesia ) (diese Ausgabe Nr. 27) in Hagenau – soweit bekannt die erste Druckausgabe dieser Schrift überhaupt.71 1524 veröffentlichte der Theologe und Botaniker Otto Brunfels (1488–1534) in Straßburg eine dreiteilige Sammlung von Hus-Texten unter dem Titel: „Über die Gestalt des Antichrist“ (De Anatomia Antichristi).72 Sie enthält neben klerus- und papstkritischen Texten eine Reihe von Hus-Predigten und war auch Martin Luther bekannt.73 Die Einberufung eines Konzils nach Mantua gab der Konzilsdebatte im evangelischen Lager in der Mitte der 1530er Jahre neuen Auftrieb und regte die Herausgabe solcher Hus-Texte an, die im Zusammenhang mit dem Konstanzer Konzil entstanden waren.74 In diesem Kontext erschienen mehrere lateinische Ausgaben von Hus-Briefen jeweils mit einem Vorwort Martin Luthers. Unter diesen Editionen ragt die 1537 in Wittenberg gedruckte, die neben Briefen auch einige Konstanzer Verhandlungsakten enthält, heraus.75 Die Sammel- und Editionstätigkeit der Evangelischen kulminiergrube. Chemnitz und das sächsisch-böhmische Gebirge im 15. Jahrhundert (Ausstellung 3. Oktober 2012 bis 20. Januar 2013), hrsg. von Uwe Fiedler, Hendrik Thoß und Enno Bünz, Chemnitz 2012, 175–187. Vgl. auch Hans-Gert Roloff, Die Funktion von Hus-Texten in der Reformations-Polemik, in: Ders., Kleine Schriften zur Literatur des 16. Jahrhunderts. Festgabe zum 70. Geburtstag, hrsg. und eingeleitet von Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr und Wolfgang Neuber, Amsterdam/New York 2003, 227–264. 71 Erschienen unter dem verschleiernden Titel: De Cavsa Boemica: Vulgo refragari quosdam celeberrimi Constantiensis Concilii sententiae, qua Hvssitae damnati sunt, constat […], Hagenau: Thomas Anshelm 1520 (VD 16 H 6174). Eine Basler Ausgabe unter dem Titel: LIBER EGREGI||VS DE VNITATE ECCLESIAE,|| Cuius autor periit in concilio |Constantiensi.|| [...] Basel: Adam Petri 1520 (VD 16 H 6173). 72 IOANNES |HVSS |De Anatomia ANTICHRISTI, Liber unus.|| [...] De abolendis Sectis, & traditionib hominũ. Lib. 1 |De unitate Ecclesiae, & scismate uitando. Liber 1 [||...] Cum indice summario contentorum.|| APPENDIX OTHO=||NIS BRVNNFELSII | Ratio editionis & condemnationis Ioannis HVSS.|| [...] [T.II:] De abhor=||renda Sacerdotum & Monachorum | Papisticorum, in |Ecclesia Christi | abominatio||ne [...] [T.III:] SERMONVM [||...] Ad Populum,|| TOMVS [...] |(PROCESSVS | CONSISTORIALIS |Martyrij IO. HVSS, cum corre=||spondentia Legis |Gratiae, ad ius |Papisticum), Straßburg: Johann Schott [1524] (VD 16 H 6162). 73 Von Luther erwähnt in WA 50, 37,26. 74 Zum Beispiel: DISPV=||tatio Ioannis Hus,|| quam absoluit dum ageret Con=||stantiae, prius[qua ...] in carcerem | conijceretur.|| Condemnatio utriusq; speciei |in Eucharistia à concilio Con=||stantiensi.|| Et protestatio quam in Epi=||stolis conseruatam cupit, Wittenberg: Nikolaus Schirlenz 1537 (VD 16 H 6164). 75 Epistolae quaedam piissimae & eruditissimae Iohannis Hus, quae solae satis declarant Papistarum pietates, esse Satanae furias …, Wittenberg 1537 (VD 16 H 6165).
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te in der ersten umfassenden Ausgabe der Hus-Werke, die 1558 in Nürnberg in zwei Bänden erschien.76 Diese Sammlung umfasst die damals bekannten oder zugänglichen lateinischen Schriften und Briefe des Johannes Hus und des Hieronymus von Prag neben ergänzenden Dokumenten auf knapp 2.000 engbedruckten Seiten. 1715 wurde diese Ausgabe, die trotz aller Mängel für jede Beschäftigung mit Hus auch heute noch unverzichtbar ist, neu aufgelegt.77 Über den damals erreichten Stand der Erschließung der Werke des Johannes Hus kam erst die Hus-Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hinaus. Ein Meilenstein war Konstantin Höflers dreibändiges Werk „Geschichtschreiber der hussitischen Bewegung in Böhmen“, das neben reichem Quellenmaterial zum Hussitismus auch Texte enthält, die Hussens Wirksamkeit in Prag und seinen Konflikt mit der Amtskirche betreffen.78 Auf einem ähnlichen Feld bewegen sich die 1869 von František Palacky´ (1798–1876) herausgegebenen Dokumente zum Leben und zur Lehre des Johannes Hus.79 Die bis heute beste Edition der HusBriefe publizierte Václav Novotny´ (1869–1932) im Jahr 1920.80 Für die Schriften des Prager Magisters ist noch immer auf die vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Ausgaben von Václav Flajšhans zurückzugreifen,81 die zwar in der Form der Textpräsentation ebenfalls veraltet, aber nicht ersetzt sind. 1958 veröffentlichte Anežka Schmidtová eine Reihe wichtiger Hus-Texte selbständig,82 und im selben Jahr erschien die vorläufig beste Edition des Traktats über die Kirche von S. Harrison Thomson.83 Einstweilen, so darf man resümieren, bleibt die Editions-lage zu Johannes Hus also ausgesprochen unübersichtlich. Bis eine kritische Gesamtausgabe aller Schriften und Briefe einmal vorliegen wird, werden voraussichtlich noch Jahrzehnte vergehen.84 76 Ioannis Hus, et Hieronymi Pragensis confessorvm Christi historia et monvmenta partim annis svperioribvs pvblicata, partim nvnc demum in lucem prolata & edita […], Bd. 1, Nürnberg 1558; Bd. 2 unter dem Titel: Monumentorvm Ioannis Hvs, altera pars. Additae svnt narrationes de condemnatione inivsta, et indigno svpplicio Ioannis Hvs, et Hieronymi Pragensis […], Nürnberg 1558 (VD 16 H 6154). 77 Historia Et Monumenta Joannis Hus Atque Hieronymi Pragensis, Confessorum Christi: sparsim bonam partem prius publicata, deinde vero duobus tomis conjunctim edita, cum plurimis aliis nondum tum in lucem prolatis …, 2 Bde., Nürnberg 1715. 78 Geschichtsschreiber der hussitischen Bewegung in Böhmen, hrsg. von Konstantin Höfler, 3 Bde., Wien 1856–1866. 79 Palacky´ , Documenta. 80 Novotny´ , Korespondence. 81 Spisy M. Jana Husi [Die Schriften des Magisters Johannes Hus]; Mag[istri] Io[annis] Hus Opera omnia, 3 Bde. in 6 Teilen, hrsg. von Václav Flajšhans, Prag 1903– 1908; M. Jana Husi Sebrané spisy cˇ eské [Gesammelte Schriften des Magisters Johannes Hus], hrsg. von Václav Flajšhans und Milan Svoboda. 6 Bde., Prag 1904–1908. 82 Schmidtová, Ioannes Hus. 83 Thomson De Ecclesia. 84 Zum Stand der Gesamtausgabe vgl. Anm. 65.
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Wie die Druckverbreitung der lateinischen Werke in der Reformationszeit begann, so hat auch die Übersetzung von Hus-Texten ins Deutsche ihre Wurzeln im Wirkungsbereich der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts. Eine deutsche Version der Schrift „Über die Kirche“, die im Straßburger Kapitelarchiv liegen soll, hat sich bisher allerdings nicht auffinden lassen.85 Die – gemessen an den zahlreichen Nachdrucken in deutscher Sprache – am weitesten verbreiteten HusTexte waren die Briefe aus Konstanz, die 1536 und 1537 in mehreren Varianten mit Vorreden Martin Luthers erschienen.86 In deutscher Übersetzung lag seit 1529 auch der wichtige Bericht des Hus-Vertrauten Peter von Mladoniowitz (ca. 1390–1451)87 vor, eine wichtige Quelle für die letzten Lebensmonate des Johannes Hus.88 Mit seiner Darstellung der Verurteilung und Hinrichtung des Prager Magisters wird die vorliegende Ausgabe beschlossen (vgl. Nr. 37).89 Ein Bedürfnis nach Hus-Texten in deutscher Übersetzung ist auch für die nachreformatorische Zeit festzustellen. Exemplarisch sei auf das umfangreiche, 1624 erschienene Werk des Leipziger Theologen Christoph Wilhelm Walpurger (1577–1631) verwiesen: „Hussus redivivus“, das neben einer Darstellung der Biographie des Johannes Hus auch Übersetzungen meist kürzerer Hus-Texte und Briefe enthält.90 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nahm die Zahl der Hus-Übersetzungen Für den Hinweis danken wir Frau Prof. Dr. Jana Nechutová, Brünn; VD 16 verzeichnet keine deutsche Ausgabe. 86 Die wichtigste lateinische Ausgabe vgl. in Anm. 75; deutsche Versionen: Vier Christliche briefe/|| so Johañ Hus der heylig marterer aus | dem gefengcknus zu Costentz im Conci=||lio/an die Behem geschriben hat/ver=||teutscht/ sampt einer vorrede D.|| Marth. Luthers …, Nürnberg: Johann Petreius 1536 (VD 16 H 6167); Etliche Briefe Johan||nis Hus des Heyligen Mer||terers/ auß dem gafängnuß zů Co||stentz/ an die Bohemen | geschriben.|| Mit eyner Vorrhede Doct.|| Mart. Luthers.|| Straßburg: Wendel Rihel 1537 (VD 16 H 6170); eine Wittenberger Ausgabe 1537 (VD 16 H 6171); eine Frankfurter Ausgabe (VD 16 H 6168); eine Magdeburger Ausgabe (VD 16 H 6169); eine niederdeutsche Ausgabe Lübeck 1536 (VD 16 ZV 8440). Luthers Vorrede in: WA 50, 34–39. 87 History vnd | warhafftige geschicht/ wie das hei||lig Euangelion mit Johañ Hussen | ym Concilio zu Costnitz durch den | Bapst vnd seinen anhang offent||lich verdampt ist/ ym Jare |[...] 1414.|| Mit angehenckter Protesta=||tion des Schreibers [...] | (durch [...]|| Nicolaum Krompach/ verdeutscht, Hagenau: Johann Setzer 1529 (VD 16 P 1879). 88 Die heute zu benutzende deutsche Ausgabe ist Bujnoch, Hus in Konstanz. 89 Die unter Hussens Namen kursierende Schrift „Von Schädlichkeit der Menschensatzungen“ wurde ihm zu Unrecht zugeschrieben. VD 16 H 6179 f. weist diese Schrift dem Prager Reformprediger Matthias von Janov (ca. 1355–1393) zu. 90 Hussus redivivus, Das ist: Gründtliche vnd eigentliche Beschreibung / aller Handlungen […] M. Johann Hussen […], Gera 1624; dieses Werk zirkulierte auch unter dem Titel: Hussus combustus, non convictus, ebenfalls Gera 1624.
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kontinuierlich zu. An erster Stelle zu nennen sind zwei Hus-Ausgaben des aufgeklärten böhmischen Weltpriesters und Schriftstellers Augustin Zitte (ca. 1750–1785). Zitte, der mit Hus gleichsam gegen den orthodoxen römisch-katholischen böhmischen Klerus seiner eigenen Tage kämpfte, veröffentlichte 1784 neun von ihm als Synodalreden bezeichnete Texte, die Einblicke in Hussens Wirksamkeit als Prediger zwischen 1405 und 1411 erlauben.91 Im selben Jahr erschienen außerdem „Vermischte Schriften“ des Johannes Hus mit einer programmatischen Vorrede Zittes, in der er begründete, warum er als katholischer Priester die Schriften eines Ketzers ins Deutsche übersetzte.92 Zittes Übersetzungsleistung ist nicht gering zu veranschlagen. Seine streckenweise eng am Wortlaut der lateinischen Vorlagen bleibende Übersetzungstechnik macht seine Ausgaben von 1784 auch heute noch zu einem wertvollen Hilfsmittel. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts standen weniger Hussens theologische Traktate, als vielmehr seine Briefe und Predigten im Mittelpunkt des Übersetzer-Interesses. 1846 erschienen ausgewählte Hus-Briefe in französischer Sprache.93 Der Herausgeber, Émile de Bonnechose (1801– 1875), knüpfte an die im 16. Jahrhundert begründete Tradition der populären Verbreitung der Konstanzer Hus-Briefe an und griff auf die lateinischen Textvorlagen aus den Opera omnia von 1715 zurück.94 Die englische Ausgabe dieses Werks aus demselben Jahr95 beruhte auf der französischen Übersetzung und zog die lateinischen Originale nicht heran. Im deutschen Sprachraum griff der Küstriner Oberprediger Gustav Adolph Lüders im Jahr 1854 für seine populäre Hus-Biographie stark auf die Hus-Briefe zurück, die er auszugsweise als deutsche Übersetzungen in den Text integrierte.96 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte das Genre der Übersetzung von Hus-Briefen in Deutschland und England neu auf. 1902 kam eine deutsche Ausgabe der „Gefangenschaftsbriefe“ auf den Markt, die aber lediglich die Edition von 1536 wiederholte.97 Zwei Jahre später erschien eine Sammlung von 82 HusBriefen in neuer englischer Übersetzung, die auf den inzwischen von Zitte, Sinodal-Reden. 92 Zitte, Vermischte Schriften. 93 Lettres de Jean Hus écrites durant son exil et dans sa prison avec une préface de Martin Luther, übersetzt von Émile de Bonnechose, Paris 1846. 94 Vgl. Anm. 77. 95 Letters of John Huss, Written During his Exile and Imprisonment, with Martin Luther’s Preface …, von Émile de Bonnechose, übersetzt von Campbell Macenzie, Edinburgh 1846. 96 Lüders, Johann Hus. Außer Hus-Briefen enthält diese Arbeit auch deutsche Auszüge aus anderen Hus-Schriften, allerdings jeweils ohne Angabe der Vorlage und bei längeren Stücken in gekürzten Auszügen. 97 Die Gefangenschaftsbriefe des Johann Hus. Nach dem Originaldruck von 1536 zum Wittenberger Universitätsjubiläum neu hrsg. von Constantin von Kügelgen, Leipzig 1902; zur Ausgabe, die als Vorlage diente, vgl. Anm. 86. 91
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Palacky´ bereitgestellten lateinischen Vorlagen beruhte.98 Wegen der Qualität von Übersetzung und Kommentar ist diese Briefausgabe auch heute noch von Wert. Neben den Briefen scheinen im 19. Jahrhundert besonders die Predigten des Johannes Hus in deutscher Übersetzung gefragt gewesen zu sein. Zu diesem Genre ist die Edition der Predigten über die Sonn- und Festtagsevangelien zu rechnen, die der sächsische Pfarrer Johannes Novotny´ im Jahr 1855 veröffentlichte.99 Ausgewählte Hus-Predigten in Übersetzung publizierte auch Wilhelm von Langsdorff 1894.100 Als Ausläufer dieses Strangs der Hus-Rezeption in deutscher Sprache kann der von Franz Strunz 1927 herausgegebene Band gewertet werden, in dem einige pastorale Schriften und Predigten präsentiert werden.101 Sind die vorgenannten Übersetzungsausgaben, die teilweise ihre Textvorlagen verschweigen, durchweg nur von beschränktem Wert, stellt die englische Übersetzung des Traktats über die Kirche, die David S. Schaff im Jahr 1915 vorlegte, noch immer eine respektable Leistung dar.102 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hus-Texte in deutscher Übersetzung publiziert. Zum 550. Todestag des Jan Hus veröffentlichte Joachim Dachsel eine Auswahl von Hus-Briefen, die vor allem die Konstanzer Zeit betrafen.103 Einige Schriften, darunter Auszüge aus dem Traktat über die Kirche, veröffentlichten Renate Riemeck 1966104 sowie Robert Kalivoda und Alexander Kolesnyk im Jahr 1969.105 Die letzte in Westdeutschland erschienene Ausgabe von deutschen Hus-Texten, die Walter Schamschula 1969 vorlegte,106 enthält Auszüge aus Traktaten und Predigten und vor allem Briefe, die aber lediglich wörtlich aus Dachsel übernommen wurden. Sieht man von den während des Konstanzer Konzils gegen Hus ergangenen Verurteilungen ab,107 sind seither nur noch wenige einzelne Hus-Texte ins Deutsche übertragen worden.108 Die Situation der Hus-Übersetzungen stellt sich insgesamt also nicht weniger kompliziert und unübersichtlich dar als der Editionsstand der lateinischen und tschechischen Originale. The Letters of John Hus. With Introductions and Explanatory Notes by Herbert B. Workman and R. Martin Pope, London 1904. 99 Johannes Hus, Predigten über die Sonn- und Festtags-Evangelien des Kirchenjahrs. Aus der böhmischen in die deutsche Sprache übersetzt von Johannes Novotny´ , Görlitz 1855. 100 Johannes Hus. Ausgewählte Predigten, hrsg. von Wilhelm von Langsdorff, Leipzig 1894. 101 Strunz, 102 Schaff, De Ecclesia. 103 Dachsel, Jan Hus. 104 Renate RieJohannes Hus. meck, Jan Hus. Reformation 100 Jahre vor Luther. Anhang: Die drei Reden, die Hus in Konstanz nicht halten durfte, Frankfurt am Main 1966. 105 Kalivoda/Kolesnyk. 106 Schamschula, jan Hus. 107 Jeweils zweisprachig in: Denzinger/Hünermann, insbes. §§ 1201–1230; Conciliorum oecumenicorum decreta, 403–451. 108 Einige Hus-Übersetzungen sind enthalten in: Wegbereiter der Reformation, hrsg. von 98
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3. Zu dieser Ausgabe Da eine deutsche Hus-Ausgabe seit über 40 Jahren nicht mehr auf dem Markt ist, füllt die vorliegende Edition eine Lücke. Sie richtet sich nicht an ein Fachpublikum, sondern will eine Leseausgabe für all diejenigen sein, die sich für Hus interessieren, ohne auf die originalsprachlichen Quellen zurückgreifen zu können. Mehr als eine Auswahl an Texten aus dem vielfältigen Werk des Johannes Hus kann die vorliegende Ausgabe nicht bieten. Für die Auswahl der zu übersetzenden Texte waren folgende Kriterien maßgeblich: Berücksichtigt wurden erstens solche Texte, die geeignet sind, die Entwicklung des theologischen Denkens des Johannes Hus seit etwa 1403 zu dokumentieren. Für die Übersetzung kamen zweitens solche Texte in Frage, die für Hussens Konflikt mit der Amtskirche und seinen Prozess vor und während des Konstanzer Konzils bedeutsam sind. Dies führt dazu, dass im Folgenden auch einige Texte präsentiert werden, die nicht auf Hus selbst zurückgehen, die aber für das Verständnis des Rechtsfalles Hus wichtig sind.109 Drittens wurde darauf geachtet, möglichst viele Textgattungen zu berücksichtigen, die das Hus'sche Oeuvre zu bieten hat. Neben theologischen Traktaten wurden deshalb auch Predigten und Briefe aufgenommen. Verzichtet wurde hingegen auf die im engeren Sinne gelehrten Arbeiten des Johannes Hus wie die Bibelkommentare oder die im scholastischen Universitätsbetrieb seiner Zeit anfallenden Textgattungen. Die Aufnahme dieser in der Regel sehr langen, sprachlich und inhaltlich komplizierten Texte hätte den Rahmen des Bandes gesprengt und wäre der Absicht einer Leseausgabe, die ein breiteres Publikum an Johannes Hus heranführen möchte, nicht dienlich gewesen. Die ausgewählten Texte werden – trotz aller Schwierigkeiten, die dies bereitet – chronologisch geordnet, in mäßigem Umfang eingeleitet und nur soweit kommentiert, wie es für das Verständnis unbedingt erforderlich ist. Damit ist die Erwartung verbunden, dass durch eine kontinuierliche Lektüre der Einleitungen und Übersetzungen nach und nach ein Bild der Biographie und Theologie des Johannes Hus entsteht. Zur leichteren Orientierung über das Leben Hussens und zur biographischen Einordnung der übersetzten Texte dienen ein orientierender Lebensabriss am Anfang und eine ausführliche Zeittafel am Ende des Bandes. Gustav Adolf Benrath (zuerst 1967), Wuppertal 1988; der Traktat über das Blut des Herrn von 1405 findet sich deutsch in: Tschechische Philosophen von Hus bis Masaryk, hrsg. von Ludger Hagedorn, Stuttgart/München 2002, 27–40. 109 Nummern 8, 11, 32, 36 und 37 der vorliegenden Ausgabe.
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Geboten wird im Folgenden eine Mischung aus Erstübersetzungen, Neuübersetzungen und Bearbeitungen vorhandener Übersetzungen. Wo brauchbare Übertragungen ins Deutsche oder in eine andere moderne Sprache bereits vorhanden waren,110 wurden diese herangezogen, doch wurde jeder Text an der originalsprachlichen Vorlage noch einmal geprüft.111 Hussens Hauptschrift „Über die Kirche“ (diese Ausgabe Nr. 27), von der bisher nur deutsche Teilübersetzungen vorlagen, wird hier erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung dargeboten. Es war das Bestreben der Herausgeber, keine Ausgabe von Übersetzungsfragmenten vorzulegen,112 sondern die ausgewählten Texte nach Möglichkeit vollständig und unter engem Anschluss an den Wortlaut der lateinischen oder tschechischen Vorlage ins Deutsche zu übertragen, um die Argumentationsweise des Johannes Hus nachvollziehbar zu machen. In wenigen Ausnahmefällen wurde von dem Prinzip der vollständigen Übersetzung aus Platzgründen jedoch abgewichen.113 Hinsichtlich der sehr zahlreichen in Hussens Text eingestreuten wörtlichen Zitate wurde nach Möglichkeit so verfahren, dass von Hus in seinen Satz eingeflochtene Beleghinweise nicht übersetzt, sondern um der besseren Lesbarkeit des Haupttextes willen als echter Beleg in eine Fußnote gesetzt wurden. Die wörtlichen Zitate sind in kursiver Schrift gesetzt. Alle Übersetzungen wurden redaktionell bearbeitet und formal vereinheitlicht. Einige für Hussens Theologie grundlegende Begriffe wurden in allen Übersetzungen vereinbarungsgemäß gleich übersetzt: „praedestinati“ (und die entsprechenden Ableitungen) wird mit „Vorherbestimmte“ wiedergegeben; „praesciti“ wird mit „Vorhergewusste“ wiedergegeben, wobei jeweils zu ergänzen ist: zum Verderben Vorhergewusste; „reprobi“ wird mit „Verworfene“ übersetzt.
Zu diesen brauchbaren Vorübersetzungen zählen insbes. die Arbeiten von Zitte, Schaff, Dachsel und Kalivoda/Kolesnyk. 111 Wo in dieser Ausgabe weitgehend dem Wortlaut der Vorübersetzung gefolgt wird, ist dies im Inhaltsverzeichnis mit der Formulierung „bearbeitet von“ angezeigt. Völlig neu übersetzte Texte werden durch „übersetzt von“ kenntlich gemacht. 112 Solche Ausgaben von kurzen übersetzten Bruchstücken aus Husschen Werken liegen zum Beispiel vor in: Benrath, Wegbereiter der Reformation (wie Anm. 108), insbes. 342–359; Heiko A. Oberman, Forerunners of the Reformation. The Shape of Late Medieval Thought, London 1967, Ndr. 2002, mit englischen Auszügen aus De Ecclesia, 202–237. 113 Von Hussens Widerrufsverweigerung (Nr. 35) wurde nur der wichtigere zweite Teil, von dem bekannten Mladoniowitz-Bericht (Nr. 37) nur der Schlussabschnitt berücksichtigt. 110
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4. Danksagungen Die Idee zu einem Band „Johannes Hus deutsch“ entstand vor mehreren Jahren am Lehrstuhl für Spätmittelalter und Reformation an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Die schwierige Beschaffung der für ein solches Projekt nötigen finanziellen Mittel hat den Beginn der konkreten Arbeiten lange verzögert. Erst die Kooperation der beiden Herausgeber, von denen der eine (Armin Kohnle) für die lateinischen, der andere (Thomas Krzenck) für die alttschechischen Texte speziell verantwortlich zeichnet, hat das Projekt Wirklichkeit werden lassen. Dankbar sind wir für Zuschüsse des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, Prag, der Historischen Kommission für die böhmischen Länder, München, den SKW Stickstoffwerken Piesteritz GmbH, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Als wissenschaftliche Berater haben sich Jana Nechutová (Brünn) und František Šmahel (Prag) freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Für ihre wohlwollende Begleitung ist gleichfalls herzlich zu danken. Die Institutssekretärinnen Sylvia Kolbe und Kerstin Backhaus sowie Herr Christian Swistek haben bei der Herstellung der Texte wertvolle Hilfe geleistet. Der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig und deren Redakteur der Texte Friedemann Richter ist für die gute Zusammenarbeit zu danken, für hilfreichen Rat auch Dr. Christoph Hartmann und Judith Blumenstein. Unser Dank gilt auch den Übersetzerinnen und Übersetzern, die sich auf das Abenteuer der Beschäftigung mit lateinischen Hus-Texten eingelassen haben. Besonders zu erwähnen sind die Schülerinnen und Schüler der Latein-AG des Klinger-Gymnasiums Leipzig, die sich über ein Halbjahr hinweg mit einem Hus-Text befasst haben. Der Name ihres Lehrers Hannes Toense als Übersetzer von Nr. 6 der vorliegenden Ausgabe steht für alle, die an der Übersetzung beteiligt waren. Möge dieser Band dazu dienen, die Erinnerung an Johannes Hus 600 Jahre nach seinem Tod wachzuhalten. Leipzig, im Januar 2017 Die Herausgeber
1 PREDIGT ÜBER 2KOR 9,6: „WER SPÄRLICH SÄT, WIRD AUCH SPÄRLICH ERNTEN“ [um 1403, am Laurentiustag, 10. August]
Übersetzungsgrundlage: Sermones de sanctis, 342–345 (Nr. 65).
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Einleitung Nr. 1
Diese Predigt, die als Beispiel für eine frühe in der Bethlehemskapelle gehaltene Predigt gelten kann, stammt wahrscheinlich aus den Jahren unmittelbar nach 1402 und wird hier auf etwa 1403 datiert. Hus war beauftragt, in seiner tschechischen Muttersprache zu predigen. Folglich handelt es sich bei den auf Latein erhaltenen und edierten Predigten in erster Linie um Predigtkonzepte, die Hus in der Bethlehemskapelle auf (Alt-)Tschechisch vortrug. Auch bei der vorliegenden Predigt könnte es sich um ein solches Predigtkonzept handeln. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass der Stil der Predigt zum Vortragen geeignet ist und die beiden lateinischen Hexameter (vgl. S. 4, Z. 5 f. und S. 4, Z. 14 f.) darauf hindeuten, dass die Predigt auch einer Gemeinde vorgetragen worden sein könnte, die des Lateinischen mächtig war. Denn das originale Metrum wäre bei einer Übersetzung ins Alttschechische verlorengegangen.
„Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten“
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1. Der Apostel ruft im vorliegenden Brief nach der Sitte seines Meisters zur Barmherzigkeit auf. Denn er besinnt sich im Geiste auf jene Regel Christi in Lk 6: Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist.1 Gebt, und es wird euch gegeben.2 Und auf jenes Wort in Mt 5: Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, besitzet das euch bereitete Reich vom Anbeginn der Welt; ich habe nämlich Hunger gehabt, und ihr habt mir zu essen gegeben.3 Deswegen verspricht er auf ähnliche Weise himmlischen Lohn. Denn der Lohn für das Werk der Barmherzigkeit und somit auch des Almosens ist ein zweifacher. Erstens Befreiung von der Sünde und so auch vom ewigen Tod: Das Almosen befreit von jeglicher Sünde und vom Tod und wird nicht zulassen, dass die Seelen in die Finsternis gehen.4 Zweitens das Finden des ewigen Lebens: Es selbst bewirkt, das ewige Leben zu finden.5 Außerdem bewirkt es schon jetzt recht oft – wie hier durch den Apostel erhellt –, dass derjenige, der Almosen gibt, in den zeitlichen Dingen reich ist und derjenige, der kein Almosen gibt, spärlich erntet, wie der Apostel sagt: Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten ,6 das heißt: Wer spärlich dem Armen Almosen gibt, wird spärlich (das heißt: wenig) Vergeltung empfangen. Trefflich aber setzt der Apostel das Adverb „spärlich“. Denn Spärlichkeit besteht nicht in einem geringen Almosen der Sache nach, sondern dem (mangelhaften) Umstand nach, das heißt: wie viel jemand gemäß seinem Vermögen geben kann. Daraus folgt, dass der Herr nicht auf das Geschenk schaut, sondern auf den Geist des Gebers. Dies ist deutlich in Lk 21, wo er aufblickte und sah, wie Reiche ihre Gaben in den Gotteskasten warfen. Er sah eine Witwe zwei Kupfermünzen einwerfen und sprach: „Wahrlich, ich sage euch, dass diese arme Witwe mehr eingeworfen hat als alle andern. Denn sie alle haben von ihrem Überfluss Gaben für Gott eingeworfen, diese aber von ihrem Mangel den ganzen Unterhalt, den sie hatte.“ 7 2. Daran wird sichtbar, dass nur jener spärlich Almosen gibt, der im Geben von der geschuldeten Menge im Sinne des rechten Maßes abweicht – und das entweder aus Angst, als Einziger Mangel zu leiden, oder aus Habgier, allein besitzen zu wollen, oder aus Unbarmherzigkeit, weshalb er sich nicht um seinen Nächsten kümmert. Daraus erhellt, dass es sehr unsicher ist, Reichtum zu haben, da es schwierig ist, auf gebührende Weise das Mittelmaß hinsichtlich des 1 Lk 6,36. 2 Lk 6,38. 3 Mt 25,34. 4 Tob 4,11; vgl. auch Tob 12,9. 5 Hus verweist zwar auf Tob 4, das Zitat ist aber in diesem Kapitel des Tobit-Buches nicht zu finden. Hus meint Tob 12,9. 6 2Kor 9,6. 7 Lk 21,1–3.
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Predigt über 2Kor 9,6
Almosengebens zu erreichen. Daher war es den Jüngern Jesu nicht erlaubt, sich mit weltlichen Almosen abzugeben, sondern nach dem Verzicht auf alle weltlichen Dinge Jesus Christus in Armut zu folgen und dann mit Christus durch geistliche Almosen die Armen im Geist aus ihrer Not zu befreien. Solch ein Almosen meint der folgende Vers: Gib Rat, züchtige, tröste, vergib, ertrage und bete! „Gib Rat“, das heißt: Belehre den Unwissenden und leite den Zweifelnden! Und so meint dies ein zweifaches Almosen im geistlichen Sinn, nämlich Lehre und Rat. „Züchtige“ den, der schuldig wird. „Tröste“ den Traurigen. „Vergib“ denen, die an dir schuldig werden. „Ertrage“, das heißt: trage oder ertrage geduldig das Unrecht oder das Fehlen der andern. „Bete“ für alle und somit auch für deine falschen Ankläger. Diese Almosen sind vorzüglicher als die leiblichen, die sich im folgenden Vers finden: Ich besuche, tränke, speise, befreie, schütze, sammle und stifte. Wenn also gerechte Männer bereits aufgrund dieser [Almosen] zu hören verdienen: Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget das Reich,8 erwerben sie (bei sonst gleichen Voraussetzungen) solchen Anspruch erst recht aufgrund geistlicher Almosen. Und wenn ein gerechter Mann, der leibliche Almosen den Armen reich verteilt hat, zu hören verdient, dass seine Gerechtigkeit immerdar bleibt, verdient es vollends wohl der, der geistliche Almosen den Armen geistlich ausgebreitet und verteilt hat. Jener, sage ich, hat reicher gesät, und so wird er ernten, da der Apostel sagt: Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten ,9 also auch umgekehrt: Wer reichlich sät, wird auch reichlich ernten. Und wer nicht sät, wird auch nicht ernten. 3. Dafür muss man hier wissen, dass eine besondere Ernte die Sammlung der Vorherbestimmten ist, die auf dem Acker dieser Welt vom Herrn gesät worden sind und dann durch die Apostel und Prediger wieder in den Speicher der Kirche eingesammelt werden. Dazu heißt es Mt 9: Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter zu seiner Ernte schickt; die Ernte ist freilich groß, der Arbeiter sind aber wenige.10 Und Joh 4: Erhebet eure Augen und sehet die Fluren, da sie ja fast schon weiß sind zur Ernte. Und wer erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, damit sowohl der sich freut, der da sät, als auch, der da erntet . 11 Die zweite Ernte ist die der Verdammten, und das ist die Sammlung der Sünder, die auf den Acker dieser Welt vom Teufel gesät und auf diesem mit Genüssen begünstigt, letztlich in der Hitze des 8
Mt 25,34.
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Mt 9,37 f.
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Joh 4,35.
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Jüngsten Tages mit der Sichel der himmlischen Gerechtigkeit geerntet, in den Ofen der Hölle geworfen und in Ketten gelegt werden. Und über eine solche Ernte und deren Schnitter wird Offb 14 gesagt: Ich schaute auf, und siehe, eine weiße Wolke, und auf der Wolke saß einer, der dem Menschensohn glich. Auf seinem Haupt hatte er eine goldene Krone und in der Hand eine scharfe Sichel. Der andere Engel ging aus dem Tempel heraus und rief mit lauter Stimme zu dem, der auf der Wolke saß : Lass deine scharfe Sichel sausen und ernte , denn die Stunde des Erntens ist gekommen, da ja die Ernte der Erde schon dürr ist .12 Und es folgt: Der Engel ließ seine Sichel auf die Erde sausen und hielt die Lese am Weinstock der Erde und erntete die Erde ab und warf in den Trog die große Kelter des Gotteszorns.13 Dieser Engel ist Gottes Sohn, der auf einer weißen Wolke sitzt, weil er in reinem Fleisch richten wird, und der eine scharfe Sichel hat, d. h. die Härte der Gerechtigkeit, und eine goldene Krone, weil er die richterliche Gewalt hat. Er wird auf der Erde eine dürre Ernte einholen, nämlich die an jeder Tugend verdorrten Sünder, und er wird sie in den Keltertrog der Hölle werfen und sie keltern in seinem Zorn, indem er sie ewig verdammt. Von ebendieser Ernte hat die Wahrheit Mt 13 gesagt: Lasset das Unkraut bis zur Ernte wachsen. Zu der Zeit der Ernte aber werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündeln zum Verbrennen zusammen.14 Denn es heißt dort so: Die Ernte ist das Ende der Welt; bis dahin wächst ständig das Unkraut, das heißt, die Bösen.15 Die dritte Ernte ist die ungeordnete Sammlung der irdischen Dinge. Infolgedessen ernten die Habgierigen die Vorräte der Welt und werden in Manasse verkörpert, auf dessen Haupt zur Zeit der Ernte die Hitze fiel, so dass er starb,16 womit angezeigt wird, dass jene, die bei einer solchen Ernte ergriffen werden, durch Hitze und Glut der Habgier vertilgt werden: Der Hungrige verspeist die Ernte, und ihn selbst [den Besitzer] wird der Bewaffnete verschleppen, und Durstige werden seinen Reichtum trinken.17 Ein solcher Schnitter war jener Reiche in Lk 12, dessen Acker reiche Früchte hervorbrachte, und er dachte bei sich und sagte: „Was soll ich 12 Offb 14,14 f. 13 Offb 14,19. Hus zitiert aus dem Gedächtnis und kontaminiert Offb 14,19 mit 19,15. Im griech. wie lat. Text fehlt 14,19 ein explizites Objekt (weshalb Übersetzungen hier „die Trauben“ o. ä. ergänzen), eine Lücke, die Hus wohl dunkel empfand und durch das Objekt aus 19,15 füllte. 14 Mt 13,30. 15 Vgl. Mt 13,39. 16 Vgl. Jud 8,2 f. Inwiefern die Stelle belegen soll, dass in Manasse die Habgierigen verkörpert werden, ist nicht ersichtlich. 17 Hi0b 5,5.
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Predigt über 2Kor 9,6
tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammeln kann“, und er sagte: „Das will ich tun: Ich will meine Speicher zerstören und größere machen und dorthin all meine Vorräte sammeln.“ 18 Doch dann folgt: Gott aber sprach zu ihm: „Du Narr, in dieser Nacht werden sie deine Seele von dir fordern. Wem aber wird es gehören, was du bereitet hast?“ 19 „Sie werden sie fordern“, sagt Gott, ergänze das Wort „Dämonen“, weil gemäß dem Psalmisten im Tod die Reichen andern ihren Reichtum zurücklassen und ihre Grabmäler auf ewig ihre Häuser sind. Zur Verdeutlichung der Habgier des Reichen (obgleich im Herrn Armen) hat daher die Wahrheit noch hinzugefügt: Du Narr, in dieser Nacht werden sie deine Seele von dir fordern. Wem aber wird es gehören, was du bereitet hast? 20 Und dann hat sie gesagt: So ist es bei dem, der sich Schätze sammelt und nicht reich ist vor Gott.21 Ein solches Schätzesammeln hat Jesus seinen Jüngern verboten, denn sogleich folgt: Und er sprach zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Sorget euch nicht um euer Leben! 22 Ebenso ernten die Unreinen Wollust. Diese werden in Samson verkörpert, über den es Ri 15 heißt: Als die Tage der Weizenernte nahten, kam Samson, um seine Frau mit Verlangen zu besuchen .23 Über diese Ernte heißt es Gal 6: Wer im Fleisch sät, wird von dem Fleisch das Verderben ernten.24 Der aber sät im Fleisch, der Werke des Fleisches schafft; und so erntet er nicht nur das Verderben des Fleisches, sondern auch das Verderben25 des Lebens aus der Gnade, weil er, wenn er eine Todsünde begeht, das Leben aus Gnade zerstört. Und wenn er endgültig im Fleisch gesät hat, wird er von dem Fleisch das Verderben ernten, weil er die ewige faule Pein seines Fleisches ernten wird. Und von diesem wird Hiob 4 gesagt: Schau auf jene, die da Schmerzen säen und sie ernten.26 Und Hos 10: Ihr habt Frevel gepflügt und Frevel geerntet.27 Die vierte Ernte ist der Empfang des würdigen Lohns, der das ewige Leben ist. Von dieser Ernte heißt es Gal 6: Wer im Geist sät, wird auch von dem Geist das ewige Leben ernten.28 Im Geist aber sät jener, der in Liebe und somit im Heiligen Geist Gutes wirkt. Denn wer Gutes ohne den innewohnenden Geist der Liebe wirkt, wird von dem Geist keine Vergeltung ernten, indem zum Beispiel eine Weizenernte in Dornen verwandelt wird. Daher wird Hos 8 gesagt: Sie haben Weizen gesät und Dornen geerntet.29 4. Der treue Knecht Christi möge also im Geist der Liebe Buße säen mit Schmerzen für seine Sünden gemäß jenem Psalmwort: Sie gingen Lk 12,17 f. 19 Lk 12,20. 20 Lk 12,20. 21 Lk 12,21. 22 Lk 12,22. 23 Ri 15,1. Hus meint hier wohl „Verlust“. 26 Vgl. Hiob 4,8. 27 Hos 10,13. 29 Hus weist zwar den Bibelvers Hosea zu, der Vers steht aber Jer 12,13. 18
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„Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten“
hin und weinten und streuten ihren Samen .30 Denn nach demselben Psalmisten werden mit Jauchzen ernten, die mit Tränen säen,31 weil sie mit Jauchzen kommen werden, wenn sie ihre Bündel bringen. Denn sie haben gesät mit dem Segen des allmächtigen Gottes, und so werden 5 sie von dem Segen ernten gemäß jenem Wort Mt 25: Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget die Ernte ,32 nämlich das Reich, welches das ewige Leben ist. Denn wer im Segen sät, wird auch von dem Segen ernten, und wer im Geist sät, wird auch von dem Geist das ewige Leben ernten. Zu diesem Leben möge uns führen, der uns zu seiner 10 Ernte bestimmt hat.
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Vgl. Mt 25,34.
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Abb. 2: Hus auf der Kanzel in der Bethlehemskapelle vor dem Auditorium. Darstellung im sog. Jenaer Codex, um 1500. Vorlage: KNM Praha, Sig. IV B 24, fol. 37v.
2 PREDIGT ÜBER RÖM 13,12–13: „LASST UNS DIE WERKE DER FINSTERNIS ABLEGEN“ [1404]
Übersetzungsgrundlage: Schmidtová, Iohannes Hus, 99–113; verglichene deutsche Übersetzung: Zitte, Sinodal-Reden, 143–181.
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Einleitung Nr. 2
Vermutlich hielt Hus die vorliegende Predigt in der Prager Kirche St. Gallus in einer Universitätsmesse anlässlich des Gedenktages für den Universitätsgründer Karl IV. († 29. November 1378). Wann genau diese Messe gefeiert wurde, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden: In den Textzeugen werden sowohl der 1. Adventssonntag 1404 (= 30. November 1404) als auch der 1. Dezember 1404 genannt. Bei dieser Feierlichkeit predigen zu dürfen, wäre gewiss eine große Ehre für Hus gewesen: Nach seinem Studium der Freien Künste an der Prager Universität hatte er ebendort ein Studium an der Theologischen Fakultät aufgenommen und in ebendiesem Jahr 1404 den Grad des Bakkalars der Theologie erlangt. Möglicherweise gehört die Predigt jedoch in einen anderen Kontext: Einige der überlieferten Codices weisen die Rede als „Synodalpredigt“ bzw. als „Sermon an den Klerus“ aus. Auch Hussens dezidierte Anrede „Verehrte Väter und Brüder in Christo“ und seine besonders die Geistlichen adressierenden Warnungen und Appelle sind Anhaltspunkte dafür, dass er die Predigt in einem Kreis von Klerikern vorgetragen haben könnte. In seiner Auslegung der Paulusworte in Röm 13,12–13 stellt Hus den Werken der Finsternis, den Sünden, die Waffen des Lichts, die Tugenden, gegenüber. Der Schlüssel zu einem tugendhaften Leben und damit zur Erlangung der Seligkeit liege darin, die für die Sünden ursächliche Unkenntnis, nämlich fehlende Selbsterkenntnis und fehlende Gotteserkenntnis, zu beseitigen. Vor diesem Hintergrund klagt Hus in leidenschaftlicher Weise anmaßendes Verhalten und moralische Verfehlungen des Klerus an – Hochmut, Habsucht, Heuchelei, Simonie und Ämterhäufung – und ruft zu einer tugendhaften Lebensführung in der Nachfolge Jesu Christi auf. Somit kann die Predigt als frühes Beispiel kirchenkritischer Äußerungen Hussens gelten. Seine Argumentation stärkt Hus mit reichem Gebrauch von Zitaten aus der Heiligen Schrift, zieht aber auch kirchliche Autoritäten wie Bernhard von Clairvaux, Origenes und simoniekritische päpstliche Lehrentscheidungen hinzu. Wie sich in der Predigt zeigt, war sich Hus der Brisanz seiner Aussagen durchaus bewusst.
„Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen“
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Drei Gründe drängen mich zu reden: meine Lehrautorität, brüderliche Wertschätzung und die Furcht vor dem allmächtigen Gott und dem Herrn Jesus Christus. Wenn ich schweige, wird mein Mund mich verurteilen, denn wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige ,1 spricht das erwählte Werkzeug,2 der Apostel Christi3 im 1. Korintherbrief Kapitel 9. Wenn ich nun aber rede, fürchte ich in der Tat dasselbe Urteil, dass mein Mund mich unaufhörlich verurteilt, mich, der redet, aber nicht handelt. Zum Sünder nämlich spricht Gott : „Weshalb redest du von meinen Geboten und nimmst meinen Bund in deinen Mund?“ 4 Helft mir durch eure Gebete, dass ich das Nötige auch immer mutig sagen und das, was ich sage, zum Nutzen mit Tatkraft erfüllen kann.5 Darum wollen wir einmütig den allmächtigen Herrn bitten, dass er meinen Mund und alle Herzen fruchtbringend öffne, um sein Wort zu verkündigen: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anlegen, wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln.6 Verehrte Väter und liebe Brüder in Christo! Die vorangestellten Worte schreibt der Apostel, Meister und Lehrer der Völker an die Römer im 13. Kapitel, weil er wollte, dass die Römer selbst und in der Folge alle Menschen so wie ihr Meister am Ende zur Herrlichkeit des seligen Lebens gelangen, dass sie nach Ablegen der Sündenfinsternis die Waffen des Lichts und damit die Tugenden anlegen und ehrbar wandeln am Tage des Herrn Jesu Christi, der sie barmherzig von der äußeren Finsternis7 befreien wird. Deshalb spricht der Apostel: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anlegen, wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln. Bezüglich des Folgenden setze ich voraus, dass Werke der Finsternis Werke der Sünden sind, und diese sind derart beschaffen, dass allein durch die Anwesenheit einer einzigen Sünde sehr viele sich noch dazugesellen.8 „Finster“ werden sie genannt, weil sie den Verstand verdunkeln und närrisch machen, und weil sie die Finsternis suchen, gemäß dem Wort der Wahrheit9 Joh 3: Die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; ihre Werke waren nämlich schlecht. Wer nämlich schlecht handelt, hasst das Licht und geht nicht ans Licht, damit seine Werke sich 1Kor 9,16. 2 Gemeint ist Paulus. Wörtlich: Gefäß der Erwählung (vas electionis); vgl. Apg 9,15. 3 Gemeint ist Paulus. 4 Ps 50,16. 5 Viele Bruchstücke seines Predigteinstiegs entnahm Hus einer Predigt Bernhards von Clairvaux. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 36,1 (künftig: Cant.). 6 Röm 13,12 f. 7 Vgl. Mt 8,12 und Mt 22,13. 8 Zu lesen ist comitentur (Opera omnia [1558] Bd. 2), nicht conmittentur (Schmidtová, Ioannes Hus). Es geht um das analoge Verhältnis zum comitatus virtutum (vgl. Anm. 13). 9 Vgl. Joh 14,6.
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Predigt über Röm 13,12–13
nicht deutlich zeigen.10 Weiter heißen sie „finster“, weil sie ihr Subjekt11 zu verschlagener, teuflischer Finsternis führen, die von Christus äußere Finsternis12 genannt wird, weil sie ja außerhalb des Menschen ist. Die Waffen des Lichts aber sind ohne Zweifel die Tugenden, die ja den Sünden entgegengesetzt sind. Denn allein durch die Anwesenheit einer einzigen Tugend gesellen sich13 sämtliche andern dazu, wie die Philosophen und Heiligen sagen, und sie erleuchten den Menschen gemäß dem Zeugnis des Erlösers in Lk 11: Wenn dein Auge, spricht der Erlöser, aufrichtig ist – das heißt in guter und rechter Absicht –, wird auch dein Leib voll Licht sein. Wenn es aber falsch ist, wird auch dein Leib finster sein. Sieh also zu, dass das Licht, das in dir ist, keine Finsternis ist. Wenn aber dein ganzer Leib hell ist und er keinen finsteren Anteil hat, wird er ganz hell sein und dich wie ein helles Licht erleuchten.14 Und sie führen den Menschen zum Licht der wahren Erkenntnis und am Ende zum zweifachen Licht der Seligkeit, also zum leiblichen Licht, zum himmlischen Licht und zum unerreichbaren Licht der Dreifaltigkeit. Jetzt aber bringen sie den Menschen dazu, dass er im Herrn erkennbar die Wahrheit tut, weil die Wahrheit15 in Joh 3 spricht: Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht, so dass sich offenbart, dass seine Werke in Gott getan sind .16 Aber selbst wenn Sünden und Tugenden geballt auftreten,17 so behalten die Tugenden dennoch die Oberhand, wie das Heer guter Engel über das Heer böser Engel die Oberhand behält. Und deshalb bezeichnet der Apostel die Werke der Sünde treffend als „Werke der Finsternis“, und geradezu meisterhaft bezeichnet er die Tugenden als abwehrende „Waffen des Lichts“. Die Sünden nämlich vernichten den Menschen, sie schützen ihn nicht, doch die Tugenden schützen ihn vor dem Verbrechen, vor Teufel und Mensch und folgerichtig vor dem schlimmsten Tod, dem Tod der Verdammten, denn unmöglich kann ein tugendhafter Mensch von einem dieser drei Dinge verdorben werden. Deswegen singt man in der Kirche: Kein Unglück wird ihm schaden, wenn keine Sünde herrscht.18 Deshalb, liebe Brüder in Christo: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anlegen, wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln.19 10 Joh 3,19 f. 11 Das logische Handlungssubjekt, nachfolgend übersetzt mit „Mensch“. 12 Vgl. Anm. 7. 13 Zu lesen ist comitantur – „begleiten/folgen, sich dazugesellen“ (Opera omnia [1558] Bd. 2), nicht conmittantur – „begehen“ (Schmidtová, Iohannes Hus). Es geht um jenen stoischen Topos des comitatus virtutum, die wechselseitige Begleitung sämtlicher Tugenden, auf den der Hinweis auf die „Philosophen“ offenbar anspielt. 14 Lk 11,34–36. 15 D.h. Christus, vgl. Joh 14,6. 16 Joh 3,21. 17 Auch hier ist comitentur zu lesen, nicht etwa conmittentur . 18 Gregor d. Gr., Liber sacramentorum 57,4. 19 Röm 13,12 f.
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Und weil nun für Gegensätze gegenteilige Ursachen bestehen,20 ist offensichtlich, dass die Unkenntnis Werke der Finsternis verursacht und die Kenntnis Waffen des Lichts. Wenn wir daher wirksam die Werke der Finsternis ablegen wollen, müssen wir die dafür ursächliche Unkenntnis von Grund auf ausrotten. Denn vergeblich reißt man den Stängel eines schädlichen Dornengewächses ab, wenn die Wurzel bleibt, aus der es noch schädlicher wieder emporwächst. Die Wurzel der bösen Werke ist also die Unkenntnis, aus der Hochmut erwächst. Aus der fehlenden Selbsterkenntnis erwächst Hochmut, aus der fehlenden Gotteserkenntnis erwächst Hoffnungslosigkeit. So aber bringt die fehlende Selbsterkenntnis Hochmut hervor, wenn dir deine betrogene und trügerische Einbildung vortäuscht, du seist besser, als du bist. Das aber ist Unkenntnis, das ist Hochmut, das ist der Anfang jeder Sünde, wenn du in deinen Augen größer bist als vor Gott und in Wahrheit. Wer also zuerst diese große Sünde beging – ich spreche vom Teufel –, von dem sagt man, dass er sich nicht an die Wahrheit hielt, sondern von Anfang an ein Lügner war , 21 dass er in seiner eigenen Vorstellung lebte und nicht in der Wahrheit.22 Wenn also jemand in diese Unkenntnis gerät, so gerät er zwangsläufig auch in Werke der Finsternis. Deshalb spricht der Apostel: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anlegen, wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln.23 Weil es nun zwei Formen der Unkenntnis gibt, wie es heißt,24 von denen die eine den Anfang einer jeden Sünde hervorbringt, die andere deren Vollendung25, mit welcher Achtsamkeit und Sorgfalt müssen wir diese Unkenntnis bekämpfen, damit sie in uns nicht Werke der Finsternis hervorruft? Diejenigen aber vertreiben schädliche Unkenntnis, die sich erniedrigen, denn so erkennen sie sich selbst, und die sich weg von den Sünden hin zum Herrn wenden, erkennen ihn. Daher sagt Bernhard in seiner 38. Predigt über das Hohelied: Aus fehlender Gotteserkenntnis kommt die Vollendung alles Bösen, das heißt die Verzweiflung. Der Apostel sagt, dass manche Menschen Gott nicht kennen,26 ich aber sage, dass alle Gott nicht kennen, die sich nicht zu ihm bekehren wollen .27 So weit Bernhard. Die Bestätigung dessen ist jenes Wort in 1Joh 3: Wer sündigt, hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.28 Daher lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica 1–2,82,3. Das heißt: Gegenteilige Ursachen haben gegenteilige Folgen. 21 Vgl. Joh 8,44. 22 Bernhard von Clairvaux, Cant. 37,6. 23 Röm 13,12 f. 24 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Cant. 37,6. 25 Die Lesart in Opera 1558 (consummationem) ist der bei Schmidtová (conservacionem) vorzuziehen. 26 Vgl. 1Kor 15,34. 27 Bernhard von Clairvaux, Cant. 38,1f. 28 1Joh 3,6. 20
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anlegen , auf dass wir Gott und uns selbst vor allen anderen Dingen erkennen, und nicht nach den Eitelkeiten der Rede oder der irdischen Weisheit trachten, sondern nach Art des Apostels Jesus Christus erkennen, wie er im 1. Korintherbrief in Kapitel 2 sagt: Ich entschied mich, nichts bei euch zu kennen außer Jesus Christus, und diesen gekreuzigt.29 Liebe Brüder, ich bitte euch, denkt an diesen Meister und Lehrer der Völker, der im 1. Korintherbrief in Kapitel 8 sagt: Wenn jemand etwas zu wissen glaubt, hat er noch nicht erkannt, wie er wissen muss. 30 Siehe, er 31ist nicht mit jemandem zufrieden, der vieles weiß, wenn der die Art des Wissens nicht kennt. Seht also, wie er die Frucht des Wissens auf die Art des Wissens gründet! Was aber bedeutet die „Art zu wissen“, wenn nicht, dass wir wissen, in welcher Ordnung, mit welchem Eifer, mit welchem Ziel man alles kennen muss. „In welcher Ordnung“ bedeutet, etwas desto eher zu wissen, je tauglicher es für das Heil ist. „Mit welchem Eifer“ heißt, etwas mit desto größerem Verlangen zu wissen, je wirksamer es ist für die Liebe. „Mit welchem Ziel“ meint, nicht für leeren Ruhm oder aus Neugierde oder ähnlichen Gründen zu wissen, sondern nur, um sich und den Nächsten zu erbauen, und zur Ehre Jesu Christi. Es gibt nämlich Leute, die nur zu dem Zweck wissen wollen, dass sie wissen, und das ist hässliche Neugierde. Und es gibt Leute, die wissen wollen, damit man von ihnen weiß, und das ist hässliche Eitelkeit. Der Spott des Satirikers ist ihnen sicher, der diesen Typ karikiert: „Dein Wissen ist nichts, wenn nicht ein anderer weiß, dass du weißt.“ 32 Auch gibt es Leute, die wissen wollen, um ihr Wissen zu verkaufen, beispielsweise für Geld oder Ehre, und das ist schändliche Gewinnsucht. Aber es gibt auch jene, die wissen wollen, um zu erbauen, und das ist Liebe. Ebenso wollen auch einige wissen, um erbaut zu werden, und das ist Klugheit. Nur die beiden letzteren von diesen allen missbrauchen das Wissen nicht: weil sie wissen wollen, um Gutes zu tun. Denn schließlich heißt es: „Eine gute Erkenntnis haben die, die nach ihr handeln.“ 33 Alle Übrigen sollen darauf hören: „Gutes zu wissen und nicht zu tun, ist Sünde“ 34. So weit Bernhard in Predigt 36 über das Hohelied.35 Lasst uns bitte die Worte dieses Heiligen bedenken und unser Bemühen vor dem inneren Auge betrachten und ermessen, wie viel es vermag. Und auf der ersten Stufe, die jener Heilige ansetzt,36 findet 1Kor 2,2. 30 1Kor 8,2. 31 Gemeint ist Paulus. 32 Persius, Satiren 1, 27. 33 Ps 111,10. Jak 4,17. 35 Bernhard von Clairvaux, Cant. 36,3 f. 36 Der lateinische Text enthält hier (sowohl in der Ed. von 1558 als auch in derjenigen Schmidtovás von 1958) eine offensichtliche Dittographie zum folgenden Satz ([prohdolor] sunt quasi singuli = „sind [leider] gewissermaßen alle“).
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man leider all die, etwa Mathematiker und Astrologen, die die Lüfte durchdringen ohne Ziel und Zweck. Auf der zweiten Stufe befinden sich leider all die, die von den Menschen gekannt werden wollen, es sei denn, jemand will vielleicht die Theologen oder Schriftgelehrten ausnehmen, über die der Erlöser Mt 23 sagt, dass sie die ersten Plätze bei den Gastmählern lieben und die ersten Sitze in den Synagogen und Begrüßungen auf dem Markt, und von den Leuten „Rabbi“ genannt zu werden .37 Auf der dritten Stufe sind die, die nur darum etwas wissen wollen, um ihr Wissen für Geld und Ehre zu verkaufen, etwa Juristen und Mediziner, aber auf unterschiedliche Weise: die Mediziner mehr für Geld als für Ehre, vielleicht im Gegensatz dazu die Juristen. Und ich will nicht die Prediger von dieser Stufe ausnehmen, weil der Herr in Micha 3 spricht: Ihre 38 Anführer sprechen für Geschenke Recht, und die Priester lehren für Lohn, ihre Propheten wahrsagen für Geld. Und sie ruhen sich auf dem Herrn aus, indem sie sagen: „Ist Gott etwa nicht in unserer Mitte? Über uns wird nichts Übles kommen.“39 Sieh nur, wie verdorben und abscheulich sie sind in ihrem Handeln . Keinen gibt es, der Gutes tut, keinen einzigen .40 Und hierzu sagt der selige Bernhard in Predigt 35 über das Hohelied: Welch schlimmer Wandel im Streben! Wenn einer zuvor bestrebt war, seine in Fremde und Verbannung wohnende Seele mit heiligen Betrachtungen wie mit himmlischen Gütern zu ergötzen, Gottes Wohlgefallen und die Geheimnisse seines Willens zu erforschen, mit seiner Gottergebenheit den Himmel zu durchdringen und im Geist in den himmlischen Wohnungen umherzuwandeln, die Väter und Apostel und die Chöre der Propheten zu grüßen und die Triumphe der Märtyrer zu bewundern und die herrlichen Engelschöre zu bestaunen, der hat jetzt all dies fahrengelassen und sich in die schändliche Knechtschaft des Leibes begeben, um dem Fleisch zu gehorchen, um Gaumen und Bauch zu befriedigen, um auf der ganzen Erde zu erbetteln, woraus die vergängliche Gestalt dieser Welt ihre hungrige Neugierde einigermaßen stillen könnte. Wasserströme sollen aus meinen Augen rinnen über eine solche Seele, die – obwohl in Safrankleidern aufgezogen – jetzt im Mist wühlt.41 So weit Bernhard. Ich frage: Wo ist ein Weiser, wo ein Schriftgelehrter, wo ein Erforscher dieses Zeitalters? 42 Wo ist ein Schriftkundiger, wo einer, der die Gesetzesworte abwägt? Wo ist ein Lehrer für die Kleinen? 43 Gewiss hat Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht,44 um durch die TorMt 23,6 f. 38 Das heißt: Jerusalems Anführer etc. 39 Mi 3,11. 40 Ps 14,1. 41 Bernhard von Clairvaux, Cant. 35,3. 42 1Kor 1,20. 43 Jes 33,18. Hus ergänzt 1Kor 1,20 durch diese Jesajastelle, auf die wohl auch Paulus anspielt. 44 Vgl. 1Kor 1,20.
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heit der Predigt die selig zu machen, die daran glauben (1Kor 1)45 – als würde der Apostel sagen: Wo ist ein weiser Metaphysiker, also Theologe? Wo ein Schriftgelehrter, also Gelehrter in den Gesetzen der Menschen? Wo ist ein Erforscher dieses Zeitalters, also Geschichtsschreiber? Wo ein Schriftkundiger, also Vertreter der freien Künste? Wo ein Lehrer für die Kleinen, also für die einfachen Menschen? Als würde er sagen: Keiner von diesen gereicht der Kirche zum Vorteil, da Gott ihre Weisheit zur Torheit gemacht hat, weil sie sich auf weltliche Weise mit der Weisheit dieser Welt beschäftigen, indem sie als Ziel etwas anderes an die erste Stelle setzen als die Seligkeit und die Ehre unseres Herrn Jesu Christi. Aber wir wollen nicht so handeln, ihr Weisen, Lehrer, Schriftgelehrten, Erforscher dieses Zeitalters und Schriftkundigen, sondern die Gesetzesworte Jesu Christi abwägen: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anlegen, wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln. Dies waren die anfangs erwähnten Worte. Mit diesen Worten lehrt uns der Apostel drei Dinge: erstens sich von den bösen Werken abzuwenden, indem er sagt: Lasst uns die Werke der Finsternis ablegen!; zweitens sich Tugenden anzueignen, indem er sagt: Lasst uns die Waffen des Lichts anlegen!; drittens in den Tugenden bis zum Ende weiterzukommen, indem er sagt: Wie am Tage wollen wir ehrbar wandeln . Das Erste kommt uns zu, damit wir nicht vom Teufel besiegt und verdammt werden. Das Zweite hilft uns, dass wir den Teufel besiegen und errettet werden. Das Dritte aber hilft, dass wir am Tag der Seligkeit vom Herrn gekrönt werden. Ich sagte zuerst, dass der Apostel uns lehrt, uns von den bösen Werken abzuwenden, damit wir nicht vom Teufel besiegt und verdammt werden, weil dies uns ja hilft. Er mahnt uns aber deshalb so eindringlich, uns von den bösen Werken abzuwenden, weil wir diejenigen sind, die das Ende der Zeiten erreicht hat, wie der Apostel 1Kor 1046 sagt; zweitens, weil die ganze Welt im Bösen liegt ; 47 und drittens, weil der Antichrist kommt und schon viele zu Antichristen geworden sind . 48 Diesen drei Gefahren kann der entrinnen, der vom Schild der Wahrheit umgeben ist, wie der Psalmist in Psalm 90 singt: Mit ihrem Schild wird dich seine Wahrheit umgeben. Du sollst dich nicht vor dem Schrecken der Nacht fürchten, vor dem Pfeil, der am Tag fliegt, vor dem Unwesen 49, 45 1Kor 1,21. 46 1Kor 10,11. 47 1Joh 5,19. 48 1Joh 2,18. 49 Die von Hus durchweg verwendete lat. Psalter-Übersetzung nach der griech. Septuaginta schreibt hier nicht (wie die nach dem hebr. Urtext) a peste, sondern a negotio, was so viel heißt wie „von der Sache/dem Ding“ – ein unheimliches, namenloses Unheil also, das hier mit „Unwesen“ andeutungsweise umschrieben ist.
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das in der Finsternis umgeht, vor dem Angriff des Dämons 50 am Mittag.51 Der Pfeil, der am Tag fliegt, ist die Sünde, die offenbar ist, über die der Apostel Gal 5 sagt: Offenbar aber sind die Werke des Fleisches, nämlich Hurerei, Ehebruch, Unreinheit, Ausschweifung, Unkeuschheit, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Wettstreit, Eifersucht, Zorn, Streit, Uneinigkeit, Spaltungen, Neid, Mord, Trunkenheit, Gelage und Ähnliches, wovon ich euch voraussage,52 dass die, die solches tun, das Reich Gottes nicht erlangen werden.53 Aus diesem Schluss des Apostels scheint klar zu folgen, dass nur wenige Geistliche gerettet werden. Es ist offensichtlich, da sie in Hurerei und in die übrigen erwähnten Vergehen, besonders in Uneinigkeit, Trunkenheit und ordinärste Gelage schuldhaft verstrickt sind. Sie kümmern sich nämlich nicht um jenes Wort des Herrn Jesu Christi: Hütet euch, dass eure Herzen nicht beschwert werden von Taumel, Trunkenheit und den Sorgen des Lebens und jener Tag nicht urplötzlich über euch hereinbricht.54 Das Unwesen, das in der Finsternis umgeht,55 ist nach dem seligen Bernhard in Predigt 33 über das Hohelied die Heuchelei. Diese rührt vom Ehrgeiz her, und in der Finsternis ist ihre Wohnung, kurzum, sie verbirgt, was sie ist, und was sie nicht ist, spiegelt sie vor. Sie treibt zu jeder Zeit ihr Geschäft und wahrt dabei zur Tarnung den Anschein der Frömmigkeit, deren Tugend und Ehre sie sich zu eigen macht.56 Wehe diesem Geschlecht vor dem Sauerteig der Pharisäer, der die Heuchelei ist – wenn man denn überhaupt Heuchelei nennen kann, was sich vor Übermaß nicht verstecken kann und es vor Unverschämtheit auch gar nicht versucht. Heute kriecht die üble Fäulnis durch den ganzen Leib der Kirche, je weiter, desto heilloser, je weiter hinein, desto gefährlicher. Denn wenn ein Häretiker sich unverhohlen zeigte, würde er nach draußen befördert und verschmachten; wenn es ein gewaltsamer Feind wäre, würde man sich vielleicht vor ihm verbergen. Wen aber wird man nun hinauswerfen oder vor wem wird man sich verbergen? Alle sind Freunde, und alle sind Feinde, alle sind engste Vertraute, alle sind Hausgenossen, und keiner ist friedfertig, alle sind sie die Nächsten und suchen doch nur ihren eigenen Vorteil. Alle sind sie Diener Christi und dienen dem Antichrist, sie schreiten einher mit den Ehren für Gaben des Herrn, dem sie keine Ehre erweisen. Daher kommt dieser dirnenhafte Glanz, den du 50 Auch diese Übersetzung (bedeutsam für die monastische Angst vor dem „Mittagsdämon“) geht auf eine verderbte hebr. Lesart zurück, der die Septuaginta folgt. 51 Ps 90,4–6 Vg. nach LXX (vgl. 91,4–6). 52 In Hussens Bibelzitat fehlen die Worte sicut praedixi (Vg.) „wie ich vorausgesagt habe“. 53 Gal 5,19–21. 54 Lk 21,34. 55 Ps 90,6 Vg. nach LXX. 56 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,12.
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täglich siehst, das gespielte Verhalten, der königliche Prunk. Daher kommt das Gold an den Zügeln, an den Sätteln, an den Sporen. Die Sporen funkeln mehr als die Altäre. Daher kommen die von Speisen und Bechern ansehnlichen Tische, daher die Fress- und Trinkgelage, daher Zitherspiel, Leier und Flöte, daher die überfließenden Weinkeller und vollen Vorratskammern, überquellend an allem und jedem.57 Daher die Salbenfässer und vollgestopften Geldbeutel. Ach, so wollen sie es und sind doch Kirchenvorsteher, Dekane, Erzdiakone, Bischöfe, Erzbischöfe! Und diese Dinge werden ihnen nicht durch Verdienst zuteil, sondern durch jenes Unwesen, das in der Finsternis umgeht. Einst ist es vorhergesagt worden, und nun ist die Zeit der Erfüllung gekommen. „Siehe, im Frieden ist meine Bitterkeit am bittersten.“ 58 Zuerst war sie bitter bei der Ermordung der Märtyrer, dann bitterer im Zusammenstoß 59 mit den Häretikern, am bittersten ist sie nun in den Sitten der Hausgenossen. Man kann sie nicht vertreiben, ihnen nicht entfliehen, so mächtig sind sie geworden, so zahlreich sind sie über uns gekommen. Tief im Innern und unheilbar ist die Wunde für die Kirche, und daher ist ihre Bitterkeit im Frieden am bittersten. Doch in welchem Frieden? Es ist Frieden und doch kein Frieden. Frieden vor den Heiden, Frieden vor den Häretikern, doch nicht vor den eigenen Kindern! Das Wort des Klagenden in dieser Zeit lautet: „Söhne habe ich ernährt und großgezogen, sie aber haben mich verstoßen.“ 60 Sie haben mich verstoßen und mich besudelt durch ihr schändliches Leben, durch Gewinnsucht, durch schändlichen Handel, kurzum durch das Unwesen, das in der Finsternis umgeht. 61 Es fehlt nur noch, dass sich aus unserer Mitte nun auch der Dämon des Mittags erhebt, 62 um die zu verführen, die etwa noch in Christus geblieben sind, sich bis jetzt standhaft zeigten in frommer Einfalt. Denn „er hat die Flüsse der Weisen aufgesaugt und die Wasser der Mächtigen, und er hofft, dass auch der Jordan in sein Maul fließt“ 63, das heißt die Demütigen und Einfältigen, die es in der Kirche noch gibt.64 So weit Bernhard. Seht, wie klar und deutlich dieser Heilige das Unwesen, das die Heuchelei ist, beim Klerus aufdeckt, wenn er sagt: Alle sind Freunde, und alle sind Feinde.65 Alle sind sie Freunde im Wort, aber alle Feinde Vgl. Ps 144,13. 58 Jes 38,17. 59 Die Editionen lesen fluctu, die Originalstelle bei Bernhard von Clairvaux lautet jedoch conflictu . Und so zitiert Hus diese Stelle in seiner Schrift Contra occultum adversarium (vgl. Nr. 17 dieser Ausgabe). Die Übersetzung folgt hier dem Original. 60 Jes 1,2. 61 Vgl. Ps 90,6 Vg. nach LXX. 62 2Thess 2,7 mit Augustinus, De civitate Dei XX3 (PL 41,686) gegen Wortsinn der Stelle. 63 Vgl. ähnlich Hiob 40,18. 64 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,15 f. 65 Bernhard
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im Handeln gemäß der Klage Jeremias in den Klageliedern Kapitel 1: Alle ihre Freunde haben sie verstoßen und sind ihr zu Feinden geworden.66 Alle sind sie engste Vertraute 67, sagt er, doch sie sind alle unnütz und entbehrlich gemäß dem Wort in Ps 13: Alle zugleich sind sie unnütz.68 Alle sind sie Hausgenossen 69, sagt er, nämlich im Genuss weltlicher Güter, doch alle sind sie Fremde in ihrer Arbeit,70 wie Ps 57 besagt: Die Sünder sind entfremdet vom Mutterschoß an, sie irren vom Mutterleib an, sie reden nur Falsches.71Alle sind sie Hausgenossen, doch alle Feinde 72, wozu der Erlöser Mt 10 sagt: Die Feinde des Menschen , nämlich Christi, werden seine Hausgenossen sein .73 Alle sind sie die Nächsten74, nur um zu nehmen, denn alle suchen das Ihre und nicht, was Jesu Christi ist.75 Und so sind sie dem Worte nach Diener Christi, aber durch ihr Handeln dienen sie dem Antichrist. Am bittersten also ist im Frieden die Bitterkeit der Kirche, die allseits mit schmerzhafter Bitterkeit erfüllt ist und flehentlich zum Herrn ruft: Siehe, Herr, wie ich mich plage, den Magen wühlt es mir auf, es dreht sich mir das Herz im Leibe um, weil ich voll Bitterkeit bin. Draußen tötet das Schwert, und im Haus herrscht auf ähnliche Weise der Tod.76 Siehe, es ist ein doppelter Schlag für die Kirche: draußen das weltliche Schwert – und zu Hause der Tod; d. h. unter den Hausgenossen wird durch Heuchelei auf ähnliche Weise der Tod vorbereitet, ein Tod sage ich, der schon alle Oberen und Söhne der Kirche dahingerafft hat. Und daher klagt und jammert die Kirche: Meine Klagen sind zahlreich, und mein Herz ist betrübt. 77 Hört also, alle Völker, und seht meinen Schmerz. […] Ich rief meine Freunde, aber sie hintergingen mich. Meine Priester und meine Ältesten sind in der Stadt umgekommen.78 Der Herr hat alle meine Oberen aus meiner Mitte genommen. […] Daher weine ich, und mein Auge führt Wasser, weil […] meine Söhne verlorengegangen sind, denn der Feind hat obsiegt .79 Der Erlöser hat Mitleid und spricht in Gestalt des Jeremia: Meine Augen habe ich fast ausgeweint, mein Innerstes dreht sich mir um, meine Leber 80 hat sich ergossen auf die Erde über dem Untergang der Tochter meines Volkes.81 Mit wem soll ich dich vergleichen und wem soll ich dich für ähnlich halten, Tochter Jerusalem? Wem soll ich dich gleichstellen, Jungfrau, und wie dich trösten, von Clairvaux, Cant. 33,15. 66 Klgl 1,2. Gemeint ist die Stadt Jerusalem. 67 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,15. 68 Ps 14,3. 69 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,15. 70 Das heißt: in den Aufgaben des geistlichen Amtes. 71 Ps 58,4. 72 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,15. 73 Mt 10,36. 74 Bernhard von Clairvaux, Cant. 33,15. 75 Phil 2,21. 76 Klgl 1,20. 77 Klgl 1,22. 78 Klgl 1,18 f. 79 Klgl 1,15f. 80 Nach antiker Vorstellung ist die Leber Sitz der Affekte. 81 Klgl 2,11.
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Tochter Zion? Dein Elend ist groß wie das Meer, wer wird dich heilen? 82 Als ob der Erlöser sagen würde: „Ich habe geweint“ – Lukas bezeugt es in Kapitel 19: Als Jesus die Stadt sah, weinte er über sie .83 „Ich war betrübt“, bekennt Johannes in Kapitel 13: Jesus war betrübt und sprach: „Einer von euch wird mich verraten.“ 84 „Ich habe beim Schwitzen mein Blut auf die Erde gegossen“, wie Lukas sagt im 22. Kapitel: Es geschah, dass sein Schweiß wie Blut auf die Erde tropfte.85 „Ich habe meine Leber auf die Erde gegossen“, wie Johannes in Kapitel 19 Zeugnis gibt: Einer der Soldaten durchbohrte seine Seite mit der Lanze, und sofort flossen Blut und Wasser heraus ,86 so dass meine ganze Kraft in mir versiegt. Wer also, Tochter Jerusalem, das heißt die streitbare Kirche, wird dich heilen? Gedenke meines Elends und meiner Übertretung,87 meiner wermutgetränkten Bitterkeit , 88 denn du bist abgefallen; deine Propheten haben dir nämlich falsche und törichte Dinge erschaut und dir deine Schuld nicht offenbart, so dass sie dich hätten zur Reue bringen können.89 Seht, liebe Brüder, die Ignoranz der Priester ist schuld daran, dass die Kirche trauert und in ihren Kindern zugrunde geht, die verlorengehen, da der Teufel, der Feind, stark geworden ist, gewiss wegen der Sünden ihrer Propheten und ihrer Priester .90 Die Kirche krankt an ihren Gliedern, und daher spricht Gott, der Herr: Wehe mir, ich bin geworden wie einer, der im Herbst nach der Weinlese nur noch Beeren erntet, es gibt keine Traube mehr zu essen.91 Als ob er sagen will: „Alle Trauben hat der Feind, der Teufel, geerntet, weil er die großen eingesammelt hat. Ich aber ernte die Beeren, das heißt die kleinen Trauben, die sich unter dem Blatt meiner Niedrigkeit verbergen, da meinen Weinberg alle abernten, die den Weg entlangkommen. Der Eber aus dem Wald hat ihn durchwühlt, und das Einzelwild hat ihn abgefressen.“92 Die den Weg entlangkommen, das sind die Gierigen, der Eber aus dem Wald der Heuchler, und das Einzelwild der Simonist.93 Denn diese drei ernten den WeinKlgl 2,13. 83 Lk 19,41. 84 Joh 13,21. Hussens Zitat entspricht nicht genau dem Vulgatatext. 85 Lk 22,44. 86 Joh 19,34. 87 Der hebr. Text hat hier wmerwdij („und meine Unruhe/Obdachlosigkeit“); die Vulgata bezieht dies nicht auf die Wurzel rwd („umherschweifen, unruhig sein“), sondern auf mrd („ungehorsam /widerspenstig sein“) und kommt so zu ihrer Übersetzung transgressionis („Übertretung“). Der hier nicht recht passende Imperativ recordare („gedenke“) erklärt sich aus falsch vokalisiertem hebr. Infinitiv (vgl. Zürcher Bibel). 88 Klgl 3,19. 89 Klgl 2,14. 90 Vgl. ähnlich Klgl 4,13. 91 Mi 7,1. 92 Ps 80,13 f. 93 Nach Simon, dem Zauberer; vgl. Apg 8,9–25: Simon wurde in Samaria als Zauberer verehrt. Nachdem er sich zu Christus bekehrt und taufen lassen hatte, wollte er missionarisch wirken. Petrus und Johannes bot er Geld an, um die Kraft zu erlangen, den Heiligen Geist zu spenden. Der Begriff „Simonie“ leitet sich aus diesem Zusammenhang her. 82
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berg Jesu Christi, so dass Christus kaum noch eine Beere finden kann. Deshalb sagt er: Wehe mir, ich bin geworden wie einer, der im Herbst nach der Weinlese Beeren erntet, es gibt keine Traube mehr. Und darauf folgt: Der Fromme auf Erden ist verschwunden, und nicht einen Aufrichtigen gibt es unter den Menschen, alle lauern aufs Blut , 94 das heißt auf die Sünde. Wehe, jetzt sind die Tage, von denen der Apostel vorausgesagt hat: Dies aber, so sagt er, sollt ihr wissen: In den letzten Tagen werden gefährliche Zeiten anbrechen, die Menschen werden nur sich selbst lieben, gierig sein, stolz, hochmütig, blasphemisch, den Eltern ungehorsam, undankbar, verbrecherisch, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, unenthaltsam, roh, gnadenlos, verräterisch, unverschämt, aufgeblasen, den Genüssen mehr als Gott ergeben, mit dem Anschein der Frömmigkeit, doch ohne deren Kraft. Geh diesen aus dem Weg! Unter ihnen sind nämlich jene, die sich in die Häuser schleichen und Dirnen erobern, die mit Sünden beladen sind, getrieben von mancherlei Gelüsten, die immerzu lernen und doch niemals zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. 95 Ich bitte euch, ihr Lieben, lasst uns die eben erwähnten Worte des Apostels bedenken und das Ende mit dem Anfang verknüpfen: Die, welche immerzu lernen und doch niemals zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, sind gierig, stolz, hochmütig, blasphemisch; und die andern betrifft dies nicht mehr als die Geistlichen, wenn diese vom Kleinsten bis zum Größten der Habgier anhängen, sich nicht nach der Regel des Apostels mit Speise und Kleidung begnügen,96 sondern nur gierig der Gier nachjagen, die die Wurzel aller Übel ist. In diesem Trachten sind sie vom Glauben abgekommen und so verdammungswürdigerweise in die Schlinge des Teufels geraten, in Untergang und Verderben, und insbesondere jene, die Habgier auf kirchliche Würden nicht meiden. Ach, wenn doch die Geistlichen, die der Habsucht verfallen sind, jenes Wort des heiligen Papstes Gregor bedächten: Da jede Gier , so sagt er, ein Götzendienst ist, verfällt jeder, der vor ihr, zumal beim Vergeben kirchlicher Ämter, nicht wachsam auf der Hut ist, dem Verderben des Unglaubens, auch wenn er am Glauben festzuhalten scheint, den er in Wahrheit missachtet.97 Wobei er im Sinne Gratians erklärt: dem Verderben des Unglaubens, d. h. der Häresie ,98 und so ist ein solcher als Häretiker zu beurteilen. Daraus ergibt sich, dass recht viele Geistliche von der Häresie der Simonie befallen sind. Wenn also einer von uns, ihr Lieben, von der Habgier verlockt wird oder verführt Mi 7,2. 95 2Tim 3,1–7. 96 Vgl. 1Tim 6,8. 97 Gregor d. Gr., Ep. 11,59 (PL 77,1179 B–C) = Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 20 (Friedberg 1,364). 98 Gregor d. Gr., Ep. 11,59 (PL 77, c. 1179B–C) = Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 20 (Friedberg 1,364). 94
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ist, und folglich auch von den Werken der Finsternis, so lasst uns einmütig die Werke der Finsternis ablegen, auf dass wir nicht vom Teufel besiegt und verdammt werden. So viel zum Ersten. Zweitens sagte ich, dass uns der Apostel lehrt, die Tugenden, die die Verteidigungswaffen des Lichts sind, anzulegen, auf dass wir den Teufel besiegen und gerettet werden, indem er sagt: Lasst uns die Waffen des Lichts anlegen. Da wir jedoch nicht Soldaten dieser irdischen Welt sind, sind die Waffen unseres Krieges keine fleischlichen 99. Deshalb müssen wir die Waffen Christi anlegen, wie der Apostelfürst 1Petr 4 sagt: Weil Christus im Fleisch gelitten hat, sollt auch ihr euch mit dieser Gesinnung bewaffnen.100 Und da man unmöglich irgendeine sittliche Tugend anlegen kann, wenn man nicht den Herrn Jesus Christus anlegt (denn er selbst ist, als Kraft und Weisheit Gottes, für jede zu pflanzende Tugend der nötige Boden) ,101 darum spricht der Apostel Röm 13: Zieht den Herrn Jesus Christus an! 102 Christus zieht nun der an, der seinen Lebenswandel nachahmt. Insofern aber Christus und der Teufel zwei Extreme sind, nach denen die Erdenreisenden beurteilt werden sollen, müssen wir sehen, ob wir Christus ähnlicher leben als dem Teufel. Christus war nämlich zutiefst demütig, der Teufel ist äußerst hochmütig. Welchem dieser Extreme ähneln wir mehr, wir, die Geistlichen der Kirche? Im Leben, in Worten und Taten zeigt sich ganz deutlich, dass wir mehr dem König des Hochmuts ähneln. Christus war zweitens überhaupt nicht interessiert an weltlichen Gütern und auch arm, wir dagegen sind äußerst gierig, aber lassen das Streben nach geistlichen Gütern völlig außer Acht. In welchem Heer also sind wir Anführer oder Soldaten? Anscheinend in dem des Fürsten der Finsternis. Christus war drittens äußerst sparsam im Genuss und im Gebrauch weltlicher Dinge, wir scheinen im Gebrauch solcher Dinge besonders verschwenderisch zu sein. Welches Herrn Knechte oder Diener sind wir also? Zweifellos scheinen wir Kinder des Vaters Teufel und seiner Familie zu sein gemäß dem Wort der Wahrheit103 in Joh 8: Euer Vater ist der Teufel ,104 und gemäß jenem Wort in 1Joh 3: Wer sündigt, ist vom Teufel, weil der Teufel von Anfang an sündigt. Dazu erschien der Sohn Gottes, um die Sünden des Teufels zunichte zu machen. Jeder, der aus Gott geboren ist, sündigt nicht. […] Daran werden die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels offenbar,105 das heißt an ihrem Werk werden sie erkannt. Wenn nämlich schon Judas Ischariot wegen der Ermor2Kor 10,4. 100 1Petr 4,1. Wyclifs (Wyclif, Sermo 53). 8,44. 105 1Joh 3,8–10. 99
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Diese Passage übernahm Hus aus einer Predigt John Röm 13,14. 103 D. h. Christus, vgl. Joh 14,6. 104 Joh
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dung zweier Naturen, seiner eigenen und der von andern, die er verkehrt hat, ein Teufel war gemäß Christi Zeugnis in Joh 6: Einer von euch ist ein Teufel ,106 um wie viel mehr sind wir es, die wir uns durch eigene Verbrechen in der Seele ermorden und wie Ischariot andere gegen Christus aufbringen? Nicht so, nicht so, liebe Brüder in Christo, sondern lasst uns die Waffen Gottes anlegen, dass wir den Anschlägen des Teufels standhalten, und das Schwert des Geistes zur Hand nehmen, das Wort Gottes, um das Haupt des grollenden Goliath107 abzuschlagen! Aber wehe, ich bin gezwungen zu sagen, dass wir, gleichsam jeder Einzelne, vom Teufel überwältigt sind, wenn wir nicht wagen, beim Predigen die Angriffswaffen gegen die Diener des Teufels aus der Scheide zu ziehen. Zweitens, dass etliche aus dem Heer des Teufels sind, die Märchen, Lügen, Verleumdungen und ähnliche vergiftete Worte verkünden, mit denen sie das Volk und sich selbst vergiften. Und diese hören nicht auf das Wort des Apostels, der spricht: Ich beschwöre dich vor Gott und Jesus Christus, der die Lebenden und die Toten richten wird durch seine Wiederkunft und sein Reich: Predige das Wort, stehe dafür zu gelegener und ungelegener Zeit ein, weise alle zurecht, mahne mit aller Geduld und Lehre. Es wird nämlich eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen, sondern sich nach ihrer Lust Lehrer sammeln werden, die ihnen die Ohren kitzeln, diese von der Wahrheit abbringen und sich Erdichtungen zuwenden werden .108 So steht es geschrieben 2Tim 4. Wer von euch, frage ich, wagt es, zu ungelegener Zeit Beschuldigungen zu äußern und alle Gottlosen mit aller Geduld und der wahren Lehre Jesu Christi zu mahnen? Sicher, wenn ich wie der Erlöser sagen würde: Wehe euch Schriftgelehrten, die ihr den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen habt; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und denen, die hineingehen wollten, habt ihr es verboten,109 dann würde ich vielleicht hören, wenn nicht gleich, so doch später: Meister, wenn du dies sagst, beschimpfst du auch uns! 110 So hatte nämlich ein Schriftgelehrter zum Erlöser geredet, wie Lk 11 deutlich wird. Sicher, wenn ich sagen würde: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Heuchler, wie ihr den weißgetünchten Gräbern gleicht, die den Menschen von außen schön erscheinen, doch innen voller Totengebeine und Schmutz sind! So erscheint auch ihr den Menschen zwar von außen gerecht, innen jedoch seid ihr voller Heuchelei und Unrecht 111, dann würde mich für derartige Reden – hof106 111
Joh 6,70. Mt 23,27 f.
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Vgl. 1Sam 17,51.
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2Tim 4,1–4.
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Lk 11,52.
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Lk 11,45.
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fentlich um des Herrn willen! – vielleicht die Jesus Christus zugefügte Pein ereilen. Denn Lk 11 steht geschrieben: Als er dies zu ihnen geredet hatte, begannen die Pharisäer und Schriftgelehrten ihn heftig zu bedrängen und ihn über viele Dinge auszufragen, indem sie ihm Fallen stellten und versuchten, irgendetwas aus seinem Mund zu erhaschen, um ihn zu beschuldigen.112 Oder wenn ich sagen würde: Warum übertretet ihr das Gebot Gottes um eurer Tradition 113 willen? Denn Gott hat gesagt: Ehre deinen Vater und deine Mutter! 114 Ihr aber ehrt euren Vater und Herrn Jesus Christus nicht, indem ihr jenes Gebot übertretet: Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt auch! 115, und indem ihr die heilige Mutter Kirche nicht minder verachtet in dem Gebot, durch das sie in allgemeiner Synode verordnet hat, und angeführt ist es in Causa 1, Quaestio 1: Man sagt , spricht die heilige Synode, dass an gewissen Orten für den Empfang des Chrisams116 üblicherweise Geld gezahlt wird, oder für Taufe und Kommunion. Die heilige Synode hat dies als simonistische 117 Häresie verflucht und mit dem Bann belegt, und sie hat verfügt, dass in Zukunft für Weihe, Chrisam, Taufe, Ölung, Beerdigung oder Kommunion nichts verlangt werden darf, sondern dass die Gaben Christi umsonst zu spenden sind .118 Siehe, dieses Gebot der Mutter Kirche habt ihr gebrochen um eurer Tradition willen. Wehe, jetzt wird der Zugang zum Tempel verkauft, und der Priester verbietet, die Hände ohne Gabe vor Jupiter zu bringen.119 Niemand gibt etwas umsonst, weil niemand etwas umsonst empfängt. Jeder verkauft das Seine, weil auch der andre es ihm verkauft. Die Gnade ist zur Hure geworden, da sie verkauft ist. Doch die wenigsten Geistlichen sind wegen der oben erwähnten Häresie durch Exkommunikation oder Bann der heiligen Synode ausgeschlossen worden. Ihr Priester, verlasst die Abwege des Simon120 und des Ischariot121, um nicht in deren Verdammung zu laufen, sondern lasst uns zusammen die Waffen des Lichts anlegen , auf dass wir den Teufel besiegen und gerettet werden. Ich sagte drittens, dass uns gelehrt wird, bis zum Ende in den Tugenden fortzuschreiten, auf dass wir am Tag der Glückseligkeit vom 112 Lk 11,53 f. 113 D. h. um der menschlichen Gesetze willen. 114 Mt 15,3 f.; vgl. Ex 20,12. 115 Mt 10,8. 116 Ein Salböl, das für die Salbung bei Taufe, Firmung, Priesterweihe, Kirchen- und Altarweihe und Kelchkonsekration verwendet wird. 117 Vgl. Anm. 93. 118 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 105 (Friedberg 1,399 f.). Das Dekret soll beim Konzil in Trebur (895) erlassen worden sein. 119 Wilhelm von Blois, Alda, 227 f. 120 Gemeint ist Simon, der Zauberer; vgl. Anm. 93. 121 D. h. Käuflichkeit und Verrat des Judas Ischariot.
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Herrn gekrönt werden, wenn es heißt: am Tage wollen wir ehrbar wandeln. Am Tage zu wandeln und so wie im Licht, mahnt uns das Wort Jesu Christi, der Joh 12 spricht: Wandelt, solange ihr Licht habt, auf dass die Finsternis euch nicht umfange. Und wer in der Finsternis geht, weiß nicht, wohin er geht.122 Im Licht also und wie am Tage wandelt derjenige, der seinen Wegbereiter Christus, der ja ein Tag von zwölf Stunden ist,123 im Lebenswandel nachahmt. Dagegen geht in der Finsternis, wer in seinen Sünden Christus zuwider lebt und sich mit dem Teufel gegen Christus verbündet. So hat sich Christus nicht selber die Ehre verliehen, Hoherpriester zu werden. Wer sich also nicht zu den Ämtern drängt, folgt hierdurch Christus in seiner Niedrigkeit nach. So waren die Apostel Christi und besonders der eine Apostel als erwähltes Werkzeug,124 der uns Geistlichen, die wir nach kirchlichen Würden lechzen, ein Beispiel in Christo liefert und Hebr 5 sagt: Und niemand soll sich selbst die Ehre nehmen, sondern wer von Gott dazu berufen wird, wie Aaron. So hat auch Christus sich nicht selber die Ehre verliehen, Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm gesagt hat: „Du bist mein Sohn.“ 125 Das heißt: Der Vater hat ihm die Ehre verliehen, Hoherpriester zu werden. Damit zeigt der Apostel, dass Jesus Christus sich nicht auf menschliche Weise selber die Ehre verliehen hat, Hoherpriester zu werden, sondern demütig die Verherrlichung durch den Vater abgewartet hat. So wartet denn also, ihr Lieben, im Geiste der Demut auf die Berufung zum Amt durch diesen Hohenpriester und vornehmsten Hirten der Seele! Denkt bitte daran, dass nun die Schlinge des Teufels ausliegt, auf dass ihr euch nicht unentrinnbar verfangt! Hört auf den Apostel, der spricht: Niemand soll sich selbst ein kirchliches Ehrenamt aneignen durch Gewalt, Bittgesuch, Bestechung, weltliche Dienstbarkeit, heuchlerische Täuschung oder aufgrund einer Regung des Fleisches, sondern er soll die Berufung durch den Herrn abwarten, der allein für das Ehrenamt zurüstet. Denn wer sich mit ungebührlichen Mitteln unverschämt aufdrängt wie ein Erbe Simons126, der ist gefangen in simonistischer Verirrung. Denn wie das Dekret Gregors in Causa 1, Quaestio 1, Kapitel Ordines sagt127: [Wenn] durch Kaufpreis, Bittgesuch, Gefälligkeit oder irgendeine irdische Zuwendung an irgendeine Person eine Person, die nach Lage der Dinge ungeeignet ist, eine kirch122 Joh 12,35. 123 Die Gepflogenheit, den Tag in zwölf Stunden Tag und zwölf Stunden Nacht einzuteilen, hielt sich bis ins Mittelalter. Die Zwölfzahl verweist hier möglicherweise auch auf die zwölf Jünger Jesu. 124 Gemeint ist Paulus, vgl. Anm. 2. 125 Hebr 5,4f. 126 Vgl. Anm. 93. 127 Gregor d. Gr. (ca. 540–604). Hus zitiert nicht nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 113 (Friedberg 1, 402), sondern nach Wyclif, De simonia II.
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liche Würde erlangt, liegt Simonie vor. Daher sagt der selige Gregor im Register128, und Causa 1, Quaestio 1 wird es angeführt: Wenn ein Presbyter eine Pfarrstelle durch Geld erhalten hat, soll ihm nicht nur die Stelle weggenommen werden, sondern er soll auch der Priesterwürde beraubt werden, weil kein Gläubiger verkennen kann, dass es simonistische 129 Häresie ist, Altar, Zehnt und den Heiligen Geist zu verkaufen oder zu kaufen. 130 Daher verwandelt sich Segen für den in Fluch, der unter Umständen befördert wird, die ihn zum Häretiker machen,131 und so wenig wie Simon, Ischariot132 oder Gehasi133 ist er von der Häresie freizusprechen. Ebendieser hochheilige Papst schrieb an den Bischof von Rouen und an alle französischen Bischöfe, was in Causa 1, Quaestio 3 angeführt ist: Wenn jemand als Spender oder Empfänger Pfarrstellen Gottes oder geistliche Ämter, die manche Leute „Präbenden“ 134 nennen, durch Vermittlung von Geld erlangt [oder vergeben] hat, sei es vom Spender durch Kauf oder vom Empfänger durch Verkauf, wird er vom simonistischen Verderben135 nicht losgesprochen. Doch wenn er damit fortfährt, wird er mit ewiger Verdammnis gestraft werden. Denn wer Gott nur unter dem Anschein der Frömmigkeit dienen will, verliert sein Verdienst und wird auch um das angenommene Amt gebracht, wenn er irgendetwas empfangen hat. Kraft der Vernunft wird er also gezwungen, zurückzugeben, was er zu Unrecht genommen hat, und nicht zu behalten, was er um des schändlichen Gewinns willen empfangen hatte .136 Ebenso im Register,137 und in Causa 1, Quaestio 1 wird es angeführt: Wenn jemand weder heilige Sitten besitzt noch von Klerus und Gemeinde berufen oder nachdrücklich dazu aufgefordert worden ist und unverschämt das Priesteramt Christi an sich nimmt, befleckt mit Verbrechen, aus unrechter Herzensliebe oder durch schäbige Bittgänge, Seilschaft, Dienstleistung oder Bestechungsgeschenke, nicht also zum Heil für die Seelen, sondern aus Gier nach eitlem Ruhm die bischöfliche oder priesterliche Würde empfängt und wenn er sie in seinem Leben nicht von sich aus aufgibt und der Tod ihn nicht in bitterer Reue vorfindet, wird er zweifellos in Ewigkeit zugrunde gehen .138 Seht, wie dieser hochheilige Papst mit deutBriefregister Gregors des Großen. 129 Vgl. Anm. 93. 130 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 3 (Friedberg 1,358). 131 A. a. O., c. 4. 132 Vgl. Anm. 93 und 121. 133 Gehasi war ein Diener des Propheten Elisa. Unter einem Vorwand erschlich er sich Festkleider und Silber und wurde seiner Habsucht wegen mit Aussatz bestraft. Vgl. 2Kön 5,19–27. 134 Lat. prebenda ; hiervon leitet sich der Begriff Pfründe ab. 135 Anspielung auf die Verfluchung Simons durch Petrus, vgl. Apg 8,20. Vgl. auch Anm. 93. 136 Decr. Grat. II C. 1 q. 3 c. 2 (Friedberg 1,412). 137 Vgl. Anm. 128. 138 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 115 (Friedberg 1,403). 128
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lichem und schrecklichem Urteil den Simonisten139 die ewige Verdammnis in Aussicht stellt, wenn sie nicht durch Aufgabe ihres Amtes und bittere Reue Abbitte leisten! Und da wenige durch die Tür eintreten, die der Herr Jesus Christus ist,140 und viele anderswoher emporklimmen, die wenigsten aber angesichts der Regel dieses Heiligen Reue empfinden, folgt daraus, dass sie scharenweise zur Hölle141 fahren. Was aber lässt sich über eine Vielzahl von Ämtern sagen? Es genügt schon, dass mehrere Ämter zu mehreren Marterqualen werden. Denn die heilige Synode des Urban142 entschied, dass kein Geistlicher in zwei Kirchen den Titel führen soll, wie es in Distinctio 70 der heiligen Kanonischen Schriften143 und in Causa 21, Quaestio 1 heißt: Ein Geistlicher soll nicht zur gleichen Zeit sein Amt in zwei Kirchen haben. Das ist nämlich eine Art Bankengeschäft, passt zu schändlicher Gewinnsucht und ist dem kirchlichen Brauch völlig fremd. Wir hören nämlich aus dem Wort des Herrn selbst, dass „niemand zwei Herren dienen kann. Entweder wird er nämlich den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten.“ 144 Ein jeder muss nämlich nach dem apostolischen Wort darin bleiben, worin er berufen worden ist, und darf nur in einer einzigen Kirche sein. Was nämlich durch schändlichen Gewinn in kirchlichen Dingen bewirkt wird, ist von Gott weit entfernt.145 Bemühungen um das Lebensnotwendige sind aber ganz anderer Art. Damit wird der, der will, sich das Nötige für den Leib verschaffen. Denn der Apostel sagt: „Zu dem, was ich und die, die mit mir waren, brauchten, haben diese Hände gedient.“ 146,147 So wird es in Causa 21, Quaestio 1 im Kapitel „Der Geistliche […]“ angeführt. Und ich weiß nicht, von welchem Geist wir getrieben werden, dass wir danach lechzen, der Gemeinde vorzustehen, obwohl der Herr droht, das Blut des Untergebenen von der Hand des Vorstehers zu fordern. Sein Blut, spricht der Herr, werde ich von deiner Hand fordern,148 das heißt, die Anführer der Gemeinde werden hart für die sündige Gemeinde bestraft. Daher steht Num 25 geschrieben: Weil das Volk gesündigt hatte, war der Herr zornig und sprach zu Mose: „Nimm Vgl. Anm. 93. 140 Vgl. Joh 10,9. 141 Wörtlich: „ins Hinnomtal hinabströmen“. Das Tal Hinnom gilt als Ort des Molochkultes, als Stätte, an der man „seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen ließ“ (2Kön 23,10; Jer 32,35), im apokryphen Henochbuch als „Gerichtsort für die in Ewigkeit Verfluchten“ (äthHen 27,2–4). 142 Synode von Piacenza (1095), einberufen von Urban II. (um 1035–1099). 143 Vgl. Decr. Grat. I dist. 70 c. 2 (Friedberg 1,257). 144 Mt 6,24. 145 Anspielung auf die Unwirksamkeit von Weihen, wenn sie gegen Geld gespendet wurden. 146 Apg 20,34. 147 Decr. Grat. II C. 21 q. 1 c. 1 (Friedberg 1,852). 148 Ez 3,18. 139
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alle Führer des Volkes und hänge sie auf im Angesicht der Sonne.“ 149 Darüber sagt Origenes in seiner 20. Homilie: Der Herr sprach zu Mose, dass er alle Führer nehmen und dem Herrn im Angesicht der Sonne darbieten soll. Das Volk sündigt, und die Führer werden im Angesicht der Sonne dargeboten, das heißt zur Prüfung vorgeführt, um vom Licht verklagt zu werden. Du siehst, welches das Los der Anführer des Volkes ist, die nicht nur für ihre eigenen Vergehen bloßgestellt werden, sondern auch gezwungen werden, für die Sünden des Volkes Rechenschaft abzulegen, dass es womöglich ihre Schuld ist, dass das Volk sich versündigt hat, dass sie vielleicht nicht gelehrt haben, dass sie vielleicht nicht ermahnt oder sich nicht gekümmert haben, diejenigen zu beschuldigen, die zu sündigen angefangen hatten, um so eine Ausbreitung der Seuche auf mehrere zu verhindern. Dies alles zu tun, droht er den Anführern und den Lehrern. Wenn das Volk gesündigt hat, ohne dass sie jenes getan und Sorge für das Volk getragen haben, sollen sie selbst bloßgestellt werden und selbst zur Verurteilung vorgeführt werden. Moses – das heißt, das Gesetz Gottes – zeihte sie der Nachlässigkeit und Untätigkeit, und auf sie selbst richtet sich der Zorn Gottes und weicht vom Volk. Wenn die Menschen dies bedenken würden, würden sie die Leitung des Volkes weder wünschenswert finden noch danach streben. Mir genügt es nämlich, wenn ich für meine eigenen Vergehen beschuldigt werde. Mir genügt es, für mich und meine Sünden Rechenschaft abzulegen. Warum muss ich sogar für die Sünden des Volkes im Angesicht der Sonne bloßgestellt werden, vor der nichts verborgen, verhüllt oder verheimlicht werden kann? 150 Und unten: Also werden die Anführer bloßgestellt, und wenn sie schuldig sind, verlässt der Zorn Gottes das Volk .151 Soweit Origenes. Seht, liebe Brüder in Christo, wie gefährlich es ist, Anführer und Vorsteher der Gemeinde zu werden. Darin können sich diejenigen heftig verstricken, die danach streben, der Gemeinde vorzustehen. Lasst uns aber nicht so danach lechzen, der Gemeinde vorzustehen, sondern lasst uns zuerst die Werke der Finsternis ablegen, auf dass wir nicht vom Teufel besiegt und verdammt werden, und lasst uns die Waffen des Lichts anlegen, auf dass wir den Teufel besiegen und gerettet werden, und lasst uns wie am Tage ehrbar wandeln , auf dass wir selig vom Herrn gekrönt werden durch Jesus Christus unseren Herrn, der gepriesen sei in alle Ewigkeit. Amen. Num 25,3–4. 150 Origenes, In Numeros homilia 20 (PG 12,735). Vgl. auch Hus, State succincti (Opera II, 342), De ecclesia 23 [D] (ed. Thomson, 221–222). 151 Origenes, PG 12,735. Vgl. auch Hus, State succincti (Opera II, 342), De ecclesia 23 [D] (ed. Thomson, 221–222 und diese Ausgabe Nr. 27).
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3 ZWEI AN FRAUEN GERICHTETE BRIEFE [um 1405 und um 1408]
Übersetzungsgrundlage: [I] Flajšhans, Listy z Prahy, 8–14; Novotny´ , Korespondence, 15–18 (Nr. 7); [II] Palacky´, Documenta, 7–8 (Nr. 3); Novotny´, Korespondence, 27–28 (Nr. 10). Brief in tschechischer Sprache.
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Einleitung Nr. 3
[I] Eine ähnlich scharfe Kritik an gesellschaftlichen Vergnügungen, wie sie im vorliegenden tschechischen Brief an eine unbekannte Adlige, die, auch wenn sie sonst ein frommes Leben führt, auf ihrem Gut Tanz und Spiele zulässt, vorgetragen wird, äußerte Hus in der Predigt „Du sollst Gott, den Herrn, lieben“ (diese Ausgabe Nr. 5), die er 1405 auf der Herbstsynode hielt. Darin attackierte er mit scharfen Worten jene Priester, die derartige Vergnügungen suchen: Und was sagt man zu den Altaristen, Kaplänen und den schändlichen Mönchen, die, [...] von ihrem Vater, dem Teufel, geführt, zu Tanzvergnügungen gehen, während sie doch halbtot die Sünden des Volkes und ihre eigenen beweinen sollten (vgl. unten Nr. 5)? Der Brief an eine unbekannte Adlige und die zitierte Predigt dokumentieren Hussens hohen moralischen Anspruch schon in den Anfangsjahren seiner öffentlichen Wirksamkeit. [II] In seinem zweiten, an Novizinnen einer unbekannten Gemeinschaft gerichteten Brief ermahnt Hus die Jungfrauen zu einem ehrfürchtigen Leben und sendet ihnen ein frommes Lied (in tschechischer Sprache?), das zur Vesper der heiligen Jungfrauen gesungen wird. Václav Novotny´ geht davon aus, dass das Schreiben an fromme Jungfrauen im Umkreis der Prager Bethlehemskapelle gerichtet war, und datiert dieses in das Jahr 1408, als Hussens Reform des Gesangs verwirklicht wurde. Die zeitliche Einordnung leitet sich ab aus der Formulierung im Text „welches wir singen“, was auch Prag als Entstehungsort wahrscheinlich macht.
An eine namentlich nicht bekannte Adlige
[I] An eine namentlich nicht bekannte Adelige Wohlgelingen in allem Guten und ein gottseliges Ende möge der barmherzige Erlöser verleihen, auf dass Du, nach einem Leben gemäß 5 seinem Willen, mit ihm auch in Ewigkeit nach dem Tode fortleben mögest.
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Hochwohlgeborene Dame, ich habe vernommen, dass Du Deine Witwenschaft ordentlich führst, doch lässt Du es darin an Achtsamkeit fehlen, dass Du auf Deinem Gut Spiele und Tänze gestattest, was eine klare Übertretung von Gottes Gebot ist. Denn im Spiel reizt man den Fremden, beschimpft ihn übel, man schlägt sich, flucht zuweilen auf Gott und die Heiligen, begeht Treuebruch, versäumt nützliche Werke, entweiht den Feiertag, verspielt sein Geld, bestiehlt seinen Herrn und die Eltern und raubt zuweilen deshalb auch auf Wegen, ermordet Menschen, Freunde wie Fremde. Und wenn es Bauern sind, verlassen sie mitunter gar Dorf und Hof, laufen weg, um ungehinderter Würfel- und anderen Spielen zu frönen und Tag und Nacht in den Schenken herumzulungern. Und daraus erwächst großer Schade für sie, ihren Herrn und die eigenen Kinder. Die Tanzenden aber verschwenden ihre gesamte vom Herrgott geliehene Zeit, die sie entgegen Gottes Gebot schlecht und unwürdig in vielen Todsünden zubringen, vor allem am Sonntag und anderen Festtagen, an denen sie sich doch vornehmlich für ihr Seelenheil in großer Andacht inständig auf alles Gute vorbereiten und von den Sünden befreien sollten, inbrünstig an Gott, den Herrn, denken und die gesamte Leibesfron, über der sie im Alltag ihr Heil versäumen, hinter sich lassen, aufmerksam Gottes Wort hören, fromm beten und zum göttlichen Leib und Blut herzutreten. Ebenda aber tanzen sie und übertreten so Gottes Gebot, fördern sämtliche Todsünden zutage, und so beschreiten sie den Weg des Antichrist, denn um ihr Seelenheil machen sie sich beim Tanz ja keinerlei Sorgen, sondern schmähen Gott, den Herrn, und seine Heiligen, ganz nach dem schändlichen Vorbild der alten Juden. Wie hierüber der heilige Bernhard schreibt: Die Tanzenden schmähen Gott, ihren Herrn und Erlöser, im Tanz. Denn Christus wurde für sie unter der Dornenkrone aufs Kreuz gespannt, einen Fuß über den anderen, doch sie spreizen unter prunkvollen Kränzen die Hände und schlagen die Füße übereinander, nicht um sich demütig von ihren Sünden zu reinigen, sondern um sich leichtfertig und hochfahrend zu zeigen.1 1
Lässt sich bei Bernhard von Clairvaux nicht nachweisen.
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Zwei an Frauen gerichtete Briefe
Ach, wer von denen, die hier im Tanze sich drehn und zuschauen oder danebenstehn, ist ohne Sünde? Wer mit Gott ist und wer nicht, das sehen wir. Ja, viele Todsünden gibt es hier, aber auch stumme Sünden: durch lüsterne, unreine Gedanken, Buhlerei, unzüchtige Blicke, unkeusches, unnützes und geschwätziges Reden, Berühren der Glieder, Betasten, Umarmen und andere schlimme Frevel. Da gibt es lauter Gelächter, Zank und Geschrei, da gibt es Schlägereien, Missgunst, Zornesausbrüche und viele andere Übel. Das ist der Ort, wo man das Bessere verlässt und das Schlechte zulässt, wo Zeit vertan wird, wo eine Großzahl von Seelen auf ewig verdammt wird. Da lockt der Teufel mit schlauer Versuchung, da wartet auf Mägde und Knechte im Herzen große Besudelung; denn sie verlassen das Haus zum Tanzen ohne die blasseste Ahnung von Sünde und kehren nach Hause zurück mit bösen Gedanken, Trägheit und Unlust zur Arbeit, beflecktem Leib und löchrigem Gewand und Schuhwerk; einige büßen ihr weißes Hemd ein, also Jungfernschaft, Witwen- oder Ehestand, die alles Gut dieser Welt aufwiegen, und nicht einmal Gott vermag (wie der heilige Hieronymus sagt2) ihnen das zurückzugeben, obwohl er doch allmächtig ist. Denn auch die Witwe und die Gemahlin kehren, ebenso wie die Jungfrau, von schlimmen Begierden erfüllt vom Tanze nach Hause zurück, in ihrem Stande befleckt. Ach, wir sehen es doch und bemerken es, was den Tanzenden aus ihrem Tanzvergnügen Schlimmes erwächst, wie es sie daran hindert, in den Himmel zu gelangen. Was hierzu das Alte Testament sagt, zeigt das Buch Exodus im 24. Kapitel, wo für einen Tanz vor dem Goldenen Kalb Moses als Knecht Gottes denen, die nicht tanzten, durch Gottes Weisung gebot, dass ein jeder sich mit dem Schwert gürten und seinen Bruder und Nächsten erschlagen solle; und so sind von ihnen dreiundzwanzigtausend Mann getötet worden.3 Und da derart viele Sünden im Tanze sich zeigen und durch den Tanz der Teufel so viele Seelen gewinnt, obliegt es den Christen, geflissentlich davor zu warnen, und einem jeden, davor zu fliehen. Doch ist hier sicherlich anzumerken, dass vielleicht jemand sagen mag: Da eben der Tanz Ergebnis oder Ansammlung derart gefährlicher Übel ist und Ursache vieler Sünden, haben doch deshalb viele einst gern getanzt und tun dies auch jetzt, oder sie schauen dabei zu; der Teufel hat so viele verblendet, dass die einen sagen: Es ist keine Sünde zu tanzen, denn hierbei handelt es sich um einen uralten Brauch; und Hieronymus, Epistola XXII ad Eustachium (PL 22,397). 3 Hus meint Ex 32,27 (die Zahl der Getöteten wird indes hier mit dreitausend beziffert).
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andere meinen, der Tanz solle bleiben, denn hier lernen sich Freunde kennen, und sie geben hier ihre Kinder zur Ehe. Und man sagt auch: Es tanzen doch auch die Priester; wäre es Sünde, dann tanzten doch weder die Geistlichen noch ihre Schüler, sondern sie würden es verbieten. Die Antwort hierauf ist die: Der Tanz ist eine besonders schwere Sünde und eine Todsünde vor Gott und seinen Heiligen, eine sehr schändliche Tat, schon lange und mehrfach von der Heiligen Schrift verdammt. Und dass viele Menschen gern tanzen, dies kommt daher: zuvörderst, dass üble, ruchlose, unkeusche Priester ihrerseits tanzen und so dem einfachen Volk ein schlechtes Beispiel geben, den Herrgott nicht fürchten, die Wahrheit und die Gerechtigkeit Gottes nicht lieben noch fürchten, nicht an das Jüngste Gericht denken, noch an die glühende Hölle, noch auch darüber mit anderen, Unkundigeren zu reden gedenken; denn ihnen ist die Verdammnis der Menschenseelen lieber als deren Erlösung; zum andern womöglich aus dem Grund, dass die weltlichen Herren, die das Gesetz und die Weisungen Gottes nicht lieben, diesem Treiben nicht Einhalt gebieten, vielmehr darin Ergötzung und Trost finden. Und so sind sie alle zusammen verblendet seit Urzeiten durch den Tanz, diese teuflische Unsitte. Ach, welch überaus schwere, menschengemachte Betäubung! Ach, welch überaus törichte, dumme Verblendung! Ach, welch schändliche Unachtsamkeit der Herren und anderen Amtsträger! Ach, welch überaus träges Versäumnis der Priester, dass sie die eigene Seele und die der anderen derart geringschätzen, die doch der Herr Christus so überaus schwer am Kreuz durch sein kostbares Blut erlöst hat! Was sagen sie dazu, wenn Christus am Tag des Jüngsten Gerichts für all das die Rechnung verlangt und ihr Sündergewissen, vereint mit dem Teufel und der gesamten Schöpfung, gegen sie Anklage erhebt und unter großem Geschrei zu ihrer Bestrafung aufruft? Ach, die Lehre, die hören wir und verzeichnen doch aufmerksam deren Missachtung seitens der weltlichen Herren und ihrer Amtsträger wie auch zahlreicher Priester, und nicht einmal das Laienvolk schützen sie, wie ihre Pflicht wäre. Zuweilen lassen die Herren und ihre Amtsträger irgendeinen wohl armen Menschen hängen, wenn er, vermutlich aus Not, eine Ziege oder eine Kuh stiehlt, und dies ist eine Sünde, die sie umgehend bestrafen. Doch dem Tanze zu frönen gestatten sie, wo es doch hier zu vielerlei Sünde und Ärgernis kommt, wo einer dem anderen die Tochter, Schwester oder Gemahlin raubt oder ein Mädchen schändet, womöglich gar umbringt. Die sind weitaus besser und teurer als alle Ziegen, Kühe und Pferde, und was sonst als die teuerste Sache der Welt gilt.
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Dass nun die Herren Würfel- und andere Spiele zulassen, tun sie zum eigenen Vorteil, damit ihre Einkünfte und Zinsen wachsen. Denn die leibliche Armut hier auf dieser Welt, obwohl nur von kurzer Dauer, fürchten sie, und sie vertrauen nicht völlig dem Herrgott noch glauben sie, dass er sie gnädig bis zum Tode begleiten und für das Lebensnotwendige sorgen wird; aber hierin täuschen sich diese Sicheren eher, wenn sie sich dadurch zu helfen versuchen. Denn es ist eine offenkundige Sache, dass diejenigen, die nicht spielen, nicht tanzen, besser dran sind und auch reicher und edler, und solche sind aufmerksamer bei ihrem Tagewerk und zahlen ihrem Herrn eher Abgaben und Zinsen. Doch mag es auch sein, dass jemand durch Würfelspiele oder Tänze reich wird, was hülfe es ihm, Besitz zu haben, wenn er dafür seine Seele oder Frau und Kinder verliert? Wie sagt der Erlöser doch selbst im Evangelium des heiligen Matthäus im 13. Kapitel: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? 4 Und viele weitere Schriftstellen hierzu vernehmen wir, etwa dass unrechtmäßig erworbenes Gut nicht bis zum dritten Erbfolger reicht, ja wir wissen auch selbst, dass sogar derjenige, der das Gut zu Unrecht erworben hat, und auch dessen Kinder sich oft dieses Guts nicht lange erfreuen. Oder sie brechen sich das Genick (vielleicht durch göttliche Fügung), sie werden erschlagen, enthauptet, man hängt sie, vielleicht nimmt ihnen ein Dieb alles weg, vielleicht verbrennt es durch Blitzschlag oder durch anderes Feuer, vielleicht sterben sie deshalb einen plötzlichen Tod, und einen stummen dazu: ohne die Beichte abgelegt und den Leib und das Blut Christi empfangen zu haben. Ach, welch entsetzlicher, trostloser Trost, ach, wie erbärmlich sind ihre Sorgen, mit denen sie auf dieser Welt ihr Leben in Nichtigkeit zubringen. Dann erst werden sie dies erkennen, erst dann werden sie die Augen aufreißen, wenn ihre Seele den Körper verlässt. Daher bedenke denn, was ich gesagt habe, liebe Frau und Witwe in Gott, auf dass der Herrgott nicht über Dich hier und nach dem Tod die Verdammnis der Macht des Teufels sowie allen Elends an Geist und Körper verhänge, auf dass er Dich befreie und vor Schaden bewahre und Dir bei Deinem Tode sagen möge: „Meine liebe Braut, komm zu mir in den Himmel, auf dass ich Dir ewige Freude gebe“, und er wird das Leid der Verdammten von Dir nehmen, auf dass sich all Dein gutes Wollen und Begehren erfülle. Gebiete Einhalt Spiel und Tanz auf Deinem Gut, der Herrgott wird Dir dafür hier auf Erden alle guten Dinge 4
Mt 16,26.
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vermehren. Gebiete, wo Du kannst, allen Eitelkeiten Einhalt, damit Gott Dir und all den Deinen die himmlische Freude gewähre. Amen. [II] An Novizinnen in ländlicher Gemeinschaft
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Seine Gnade und die Bestärkung in dieser Gnade und in der Jungfräulichkeit möge Euch der Bräutigam, Herr Jesus, gewähren, den Ihr über alles andere liebt, und darin seid Ihr wahrhaft weise: Denn er ist der weiseste, mächtigste, reichste, stärkste, schönste und so auch der angenehmste König; denn er befleckt seine Bräute nicht, entehrt sie nicht, betrübt sie nicht, wird ihnen nicht alt und niemals untreu, noch kann er je alt oder untreu werden. In Ewigkeit ist er mit ihnen verbunden, und sie werden ihn so haben, wie sie selbst es sich wünschen, nach ihrem Willen; und so wird eine jede voll des Königs sein ohne Einbuße des himmlischen Königreichs, in dem jeder und jede zum eigenen Willen kommt: Denn eine jede wird haben, was sie sich wünscht, und Böses wird sie nicht wünschen können. O, wägt ab, liebe Bräute dieses so ruhmvollen Königs Christus! Verlasst ihn nicht für einen anderen sündigen, hässlichen, armseligen und befleckten, bei dem mehr Verdruss als Freude sein wird, so oder so. Denn ist er schön, bereitet die Vorstellung Pein, er könnte sich andere nehmen; ist er hässlich, so schafft dies Verdruss; und ist er ein Trunkenbold, aufbrausend oder sonstwie armselig, ist es des Teufels genug. Empfängt sie von ihm ein Kind, so bedeutet das Schmerz im Austragen, in der Geburt und in der Erziehung; wird sie keine Leibesfrucht haben, bedeutet das Schande, Verdruss und fruchtloses gemeinsames Niederlegen; wird ein Kind geboren, bedeutet das Angst vor einer Fehl- oder Missgeburt. Und wer vermöchte die jammervollen Unglücksfälle beschreiben, vor denen die teure Keuschheit in Christus wie auch die Jungfräulichkeit in seiner Mutter bewahrt bleibt, ungleich höhergestellt zudem als Witwen- und Ehestand! Es heißt von ihr in der Schrift, dass die Engel sich an ihr ergötzen, von der der Herr Jesus sagt: Wer es fassen kann, der fasse es! 5 Und der heilige Paulus rät dazu mit vielerlei Gründen. Darum, allerliebste Jungfrauen, Bräute und Töchter in Christus, bewahrt ihm die reine Jungfräulichkeit, die da ist die Bewahrung des Willens vor Fleischesbefleckung durch ihn oder sie, die Christus oder die Jungfrau Maria niemals erlaubt hat zu fleischlicher Lust. Oh, Segen 5
Mt 19,12.
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Zwei an Frauen gerichtete Briefe
wird beschieden sein dem keuschen Jüngling oder der Jungfrau, wenn sie, so standhaft und auch im Erfüllen der anderen Gottesgebote so treu, die Ehrenkrone erhalten, d. h. den Lohn, bei ewiger Freude! Um ihretwillen bleibt beharrlich und stark, liebe Bräute Christi, bis in den Tod. Leicht und getreu werdet Ihr Euch enthalten, wenn Ihr das ewige 5 Königreich allzeit vor Augen habt, die Nichtigkeit dieser Welt betrachtet, einander vor schlechtem Umgang warnt, Demut in Euren Werken übt, kein hochmütiges Gebaren liebt und häufig den Leib Christi genießt. Darum bitte ich Euch, dass Ihr Euch diese Dinge gut einprägt; und 10 wenn mir Gott die Muße gibt und einen Boten, werde ich Euch noch mehr schreiben. Und ich sende Euch ein Lied, das wir singen zur Vesper der heiligen Jungfrauen, damit Ihr die Worte abwägt, Freude im Herzen empfindet und mit Euren Mündern singet; aber die Männer sollen es nicht hören, da sie eine böse Regung verspüren würden und 15 Ihr in die Spiele des Hochmuts oder des Anstoßes verfallen würdet. Magister Jan Hus, ein schwacher Priester
4 TRAKTAT VON DER VERHERRLICHUNG DES BLUTES CHRISTI [1405]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 1, 154b–162b; Flajšhans, Spisy M. Jana Husi Bd. 3, 3–37; verglichene deutsche Übersetzung: Zitte, Vermischte Schriften, 173–241.
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Einleitung Nr. 4
Der Traktat „De sanguine Christi glorificato“ stammt aus dem Jahr 1405 und war eine Reaktion auf die wundersamen Geschehnisse im brandenburgischen Wilsnack, wo im Jahr 1383 in der abgebrannten Kirche St. Nikolai unversehrte, wie von Blut rot gefärbte Hostien gefunden wurden. Daraufhin entwickelte sich Wilsnack zu einem beliebten Wallfahrtsort. Um dieses „Blutwunder“ als Betrug zu entlarven, richtete der Prager Erzbischof Zbyneˇ k Zajíc von Hasenburg im Jahr 1405 eine theologische Kommission ein, der auch Johannes Hus angehörte. Hus verfasste den vorliegenden Traktat, um die Gläubigen davon zu überzeugen, dass sie nicht auf Zeichen und Wunder, wie sie angeblich in Wilsnack geschehen waren, vertrauen sollten, sondern allein auf die Heilige Schrift. Da diese Abhandlung des Johannes Hus zu seinen längeren Texten gehört und nach scholastischen Argumentationsregeln aufgebaut ist (Quaestio [die zu erörternde Frage], Conclusiones [Schlussfolgerungen], Obiectiones [Einwände], Responsiones [Antworten]), soll um des besseren Verständnisses willen eine Gliederung vorangestellt werden, wobei sich die Seitenzahlen auf die vorliegende Übersetzung beziehen. Frage Erste Schlussfolgerung Zweite Schlussfolgerung Dritte Schlussfolgerung Erster Einwand und Antwort Zweiter Einwand und Antwort Dritter Einwand und Antwort Vierter Einwand und Antwort Fünfter Einwand und Antwort Sechster Einwand und Antwort Siebenter Einwand und Antwort Achter Einwand und Voraussetzung Achte Antwort Beispiele für das Wirken des Teufels Drohende Übel Beschluss des Erzbischofs
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Traktat von der Verherrlichung des Blutes Christi
Erörterung der Frage einer Verherrlichung des gesamten Blutes Christi, nebst zugehörigem kleinen Traktat, von Magister Johannes Hus. [Frage:] Ob Christus das gesamte Blut, das aus seinem Leibe geflossen
5 ist, in diesem Leib in der Stunde der Auferstehung verherrlicht hat.
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Folgendes merke ich an: Dass Christus das seinem Leibe entflossene Blut in diesem Leib zur Stunde der Auferstehung verherrlicht hat, heißt, dass er dieses Blut in seinem Leib, als er von den Toten auferstand, erhöht und mit ewigen Eigenschaften der Herrlichkeit geziert hat, wie zum Beispiel mit Unverweslichkeit, Beweglichkeit, Feinheit, Leidensunfähigkeit und mit anderen Eigenschaften des Körpers, die mit ewiger Seligkeit einhergehen. Diese Anmerkung erklärt sich aus dem Wort des Apostels in 1Kor 15, wo er zum Erweis der Auferstehung sagt: Aber jemand wird fragen: Wie werden die Toten auferstehen? Mit was für einem Körper werden sie leben? 1, und weiter unten erklärt: So wird die Auferstehung der Toten sein: Es wird gesät, d. h. es wird der Leib begraben, in Verweslichkeit und wird auferstehn in Unverweslichkeit, es wird gesät in Ruhmlosigkeit und auferstehn in Herrlichkeit, es wird gesät in Schwachheit und auferstehn in Kraft, und so in den übrigen Eigenschaften des verherrlichten Leibes und Blutes.2 [Voraussetzung:] Ich setze voraus: Christus, wahrer Gott und Mensch, ist aus übergroßer Liebe gestorben, und im Gehorsam gegen den Vater hat er sein Blut für die Sünden vergossen und ist von den Toten auferstanden, durch und durch verherrlicht. Die Voraussetzung erklärt sich aus dem Evangelium Christi sowie aus den Briefen der Apostel und aus den beiden Glaubensbekenntnissen der Kirche, ja sogar aus dem des Athanasius, auf denen die ganze Kirche Christi gegründet ist. Erste Schlussfolgerung: Christus hat vollauf verdient, dass das gesamte aus seinem Leibe geflossene Blut in seinem Leibe verherrlicht wurde. Beweis: Andere Heilige, die in besonderer Weise das eigene Blut für Christus vergießen, verdienen es, dass er in ihren Leibern verherrlicht wird, wenn deren Leiber von den Toten auferstehen mit Fleisch, Knochen und Blut in Unvergänglichkeit, Herrlichkeit und Kraft, wie jene Anmerkung sagt. Also hat Christus es vollauf verdient, dass das gesamte aus seinem Leibe geflossene Blut in seinem Leibe verherrlicht
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1Kor 15,35.
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1Kor 15,41.
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wurde. Die Folgerung ist schlüssig, insofern der wahre Gott und Mensch, aus übergroßer Liebe dem Vater gehorsam, all dieses Blut vergossen hat für unsere Sünden und von den Toten auferstanden ist, durch und durch verherrlicht, wie die Voraussetzung sagt. Also ist die Schlussfolgerung wahr. Desgleichen: Nach jedem beliebigen Blutstropfen Christi hat Gott ungleich mehr gedürstet (und jeden vergossenen weitaus lieber getrunken) als nach dem Blut jedes anderen Heiligen, das zur Ehre Gottes vergossen wurde. Christus aber, der Heiligen Dreifaltigkeit bis zum Tode gehorsam, hat jenen Durst durch das Vergießen seines Blutes ungleich mehr als die andern gestillt, ungleich mehr jenen Trank gereicht; also hat er auch ungleich mehr verdient, dass sein gesamtes Blut verherrlicht wurde. Die Folgerung ist schlüssig, durch das Argument vom Größeren [zum Kleineren], und die beiden Teile des Vordersatzes sind einem Rechtgläubigen ohne Weiteres einsichtig, also ist die Schlussfolgerung wahr. Bekräftigung: Jeder Blutstropfen Christi, der aus seinem Leibe geflossen ist, war ein unschätzbares und allgenugsames Lösegeld der Welt, insofern Christus sein Blut unbegrenzt, freiwillig und so mit ungeheurer Ehrfurcht und überaus reicher Genugtuung zur Ehre der hochheiligen Dreifaltigkeit in großer Fülle und in größter Demut vergossen hat. Also hat er es vollauf verdient, dass das gesamte aus seinem Leibe geflossene Blut in seinem Leibe verherrlicht wurde, insofern jeder einzelne Tropfen verherrlichungswürdig war. Denn wäre er das nicht gewesen, dann wäre irgendein Teil des Blutes Christi nicht unschätzbares und allgenugsames Lösegeld der Welt gewesen (was ein Widerspruch wäre und somit den Vordersatz aufheben würde); wenn aber irgendein Teil, dann aus demselben Grund gar kein Teil, da [den einzelnen Teilen des Blutes] keinerlei Unterschied zuweisbar ist. [Erster] Zusatz: Jeder beliebige Teil des Blutes Christi musste von Gott verherrlicht werden. [Zweiter] Zusatz: Christus hat vollauf verdient, dass jedes Haar, sofern von seinem Haupt oder Bart herausgezogen oder -gerissen, verherrlicht wurde. Dies erklärt sich aus ähnlichem Grund wie beim Blut. Denn wenn nach der Aussage Christi in Mt 10, Lk 12 und 21 alle Haare der anderen Heiligen gezählt sind und nicht ein Haar von ihrem Haupt zugrunde gehen wird, um wie viel mehr wird kein Haar Christi zugrunde gehen, sondern für immer auf dem Haupt und im Barte Christi verherrlicht sein! Denn Bart wie Haupthaar betreffen die Zierde des Mannes. Und es gibt keinen Grund, weshalb sich ein einziger und nicht irgendein anderer Teil seinem Rang nach mehr auf die Zier-
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de des verherrlichten Leibes Christi beziehen sollte, nicht anders als im Falle des Blutes. Also ist der Zusatz wahr. [Dritter] Zusatz: Christus hat vollauf verdient, dass sämtliche Teile seines Leibes, sowohl die beseelten als auch die unbeseelten, nach der besten Harmonie des verherrlichten Leibes zugleich zusammengesetzt wurden. Was daraus erhellt, dass er sich selbst unermesslich weise und willig nach all diesen verklärbaren Teilen dienstbar, demütig und ehrwürdig Gott, der Trinität, dargebracht hat; und da eine unendliche Macht, Weisheit und Güte und demzufolge die höchste Leichtigkeit und Fähigkeit in Gott ist, alle Teile harmonisch so zusammenzusetzen, ist klar, dass die Leichtigkeit Gottes und die Knechtschaft Christi in ihm die Wahrheit dieses Zusatzes erfordern. Zweite Schlussfolgerung: Christus hat in der Stunde der Auferstehung seinen Leib aus allen Teilen, die dieser jemals hatte, zusammengesetzt, erneuert und verherrlicht gemäß der besten Harmonie eines verklärbaren Körpers. Beweis: Christus hat eine solche Zusammensetzung, Erneuerung und Verherrlichung gemäß jener Harmonie zur Genüge verdient, sie völlig zu Recht angestrebt, und er war ohne weiteres imstande, sie zur selben Stunde sich selbst zu geben und zu vollbringen; auch wäre es unangemessen gewesen, eine solche Zusammensetzung über jene Stunde der Auferstehung hinaus aufzuschieben, insofern gemäß dem Apostel3 der erste Schritt Christus gebührte, da Christus von den Toten als Erstling der Schlafenden auferstanden ist, d. h. als Erster der Zeit nach und nach der Vollkommenheit in der Verklärung, und demzufolge gebührte ihm nach seinem Verdienst die vollkommenste Auferstehung an Leib und Gliedern, wie der Apostel an obiger Stelle beweist. Also ist die Schlussfolgerung wahr. [Erster] Zusatz: Christus hat sein gesamtes Blut und sein gesamtes Haar, kurzum jeden Teil seines Körpers, den er jemals hatte, in der Stunde der Auferstehung verherrlicht. Was sich daran zeigt ist, dass er damals seinen ganzen Körper nach allen Seiten vollständig verherrlicht hat, als Erstling derer, die von den Toten auferstanden sind. Also ist der Zusatz wahr. [Zweiter] Zusatz: Wenn Christus erst nach der Stunde der Auferstehung irgendeinen Bestandteil in einen Teil seines Körpers aufgenommen hätte, wäre er selbst nicht in jener Stunde der Erstling der von den Toten Auferstandenen gewesen. Denn offenbar hätte er dann nicht die 3
Vgl. 1Kor 15,20.23.
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gänzlich vollkommene Zusammensetzung und Verherrlichung des Leibes in allen Teilen gehabt, doch nur eine solche Zusammensetzung macht das Wesen des Erstlings der von den Toten Auferstandenen aus. Also ist der Zusatz wahr. [Dritter] Zusatz: Kein Teil von Christi Blut oder Haar existiert heute auf Erden, ohne Verherrlichung, außerhalb von Christi Leib. Das ist aus dem zuvor Gesagten klar. Daher ist ebenso klar, dass keinerlei Teil von Christi Blut oder Haar zu unseren Zeiten räumlich sichtbar auf Erden ist, weil der Leib Christi mit all seinen Teilen allein im Himmel ist, nach seiner räumlichen Dimension, obgleich er wirklich und wahrhaft auch im Altarsakrament anwesend ist. Dritte Schlussfolgerung: Die Christgläubigen sollen nicht heutzutage noch irgendetwas, das räumlich sichtbar auf Erden existiert, als Blut oder Haar Christi verehren. Beweis: Nach dem zuvor Gesagten ist nämlich nichts dergleichen Christi Blut oder Haar. Wenn also einer dergleichen verehrte oder behauptete, dass es das Blut Christi sei, würde er Christi Blut nach dem oben Gesagten nicht minder entehren, als wenn er das stinkende Blut eines toten Gauls als Blut Christi verehrte. Und doch hat die Bosheit der gierigen Priester ein solches Ausmaß erreicht, dass man hört, viele Boten des Antichrist hätten ihr eigenes Blut auf teuflische Weise wie Christi Blut auf der Hostie behandelt und es werde von törichten, besser noch: ungläubigen Christen, die aus Unglauben stets auf der Suche nach Zeichen sind, wirklich verehrt. [Erster] Zusatz: Die das Volk verleiten, heutzutage noch Blut und Haar Christi an sich, d. h. außerhalb seines Leibes sichtbar und fühlbar erleben zu wollen, sind Verführer des Volkes. [Zweiter] Zusatz: Die auf sichtbare Zeichen des leiblichen Haars oder Blutes Christi an sich aus sind und sich hierzu Wunder erhoffen, sind ein unrechtes, ungläubiges, unzüchtiges und verkehrtes Geschlecht, ungläubiger, als es Thomas der Zwilling gewesen war, als er nicht an die Auferstehung glaubte. Dies zeigt sich daran, dass sie auch nach der Zurechtweisung Thomas’ durch Christus sowie dem in ihm schon aufs Beste gestärkten Glauben noch Zeichen des Blutes Christi suchen, als ob sie nicht glaubten, dass Christus zur Rechten Gottes sitzt, mit dem verklärten Blut, noch, dass im ehrwürdigen Sakrament wirklich und wahrhaft Leib und Blut Jesu Christi anwesend sind, in jener wie immer beschaffenen Form, in der sie nun einmal hier in der Kirche bis zum Ende der Zeiten sein sollen. Und das offenbar deshalb, weil sie entweder leugnen, dass Christus die Rolle des Erstlings der von den Toten Auferstandenen zur Stunde der Auferstehung hatte, oder,
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dass ihm für sein ganzes Verdienst von Gott, dem Vater, nicht Lohn im Überfluss zukam. Also ist der Zusatz wahr. [Dritter] Zusatz: Jeder Gläubige muss demütig bekennen, dass Christus Jesus mit allen Teilen, die er jemals hatte, schon gänzlich in ihnen verherrlicht, zur Rechten Gottes, des Vaters, sitzt. [Vierter] Zusatz: Die der Form gemäß vorgetragene Quaestio 4 ist allgemeingültig. Da die Erörterung der Quaestio für einfache Menschen nicht zu verstehen ist, insofern sie, durch weltliche Geschäfte verhindert und durch Lügen von Schmeichlern verführt, im Glauben an Jesus Christus, den Herrn, sehr häufig verwirrt sind, so dass sie die Sünden nicht verlassen und trügerischen Worten glauben und wie ein ungläubiges Volk Zeichen suchen, deshalb scheint es zunächst nützlich, gegen die bereits konzedierte Quaestio Gründe anzuführen, die deren Wahrheit zu bestreiten scheinen, und diese soweit als möglich zu widerlegen, damit das gereinigte Denken der Gläubigen dann der Wahrheit leichter beipflichten kann. [Acht Einwände:] Erster Einwand gegen die konzedierte Quaestio: In der Kirche hat man auch jetzt noch Kleidungsstücke wie etwa das Untergewand, das Schweißtuch, das Kopftuch der seligen Jungfrau, darüber hinaus die Krone, Dornen, Nägel, Christi Kreuz, dies alles gefärbt, gerötet, bespritzt vom Blute Christi, das daran deutlich zu sehen ist. Also gibt es auch jetzt noch Blut Christi, das unverherrlicht ist, da es sich ja den Augen zeigt. Die Folgerung ist schlüssig, denn wäre es verherrlicht, so wäre es ja im verherrlichten Leibe Christi, folglich nicht am Untergewand, am Schweißtuch oder am Kopftuch. Die Wahrheit des Vordersatzes scheint durch die öffentliche Präsentation in den Kirchen erwiesen, in denen das Kopf- oder Schweißtuch, das Untergewand, die Nägel und Dornen mit dem Blut gezeigt werden. [Antwort:] Zu diesem Einwand ist anzumerken, dass jene Ausdrücke „gefärbt“, „gerötet“, „bespritzt“ einmal nominal, einmal partizipial aufgefasst werden können. Wenn nominal, so ist der Vordersatz des Argumentes falsch, da weder ein Stofffetzen noch ein Untergewand noch ein Schweißtuch Gesprenkel und Spritzer des Blutes an sich haben; sie haben aber die Röte des Blutes Christi, die zum Gedenken zurückblieb (vorausgesetzt, dass man in den Kirchen tatsächlich das 4 Quaestio hier und im Folgenden unübersetzt, da gleichbedeutend mit „These“ (vgl. Nr. 6, Anm. 7).
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Untergewand, das Schweißtuch hat). Denn wenn man zugibt, dass in dem ehrwürdigen Sakrament die Akzidenzien5 ohne das Subjekt6 bestehen, in dem sie zuvor gewesen waren, weshalb sollte nicht auch jene Röte ohne das Blut Christi im Subjekt7 sein (d. h. am Stoffteil, am Schweiß- oder Kopftuch, am Nagel, am Kreuz, an der Lanze oder der Krone)? Wenn aber jene Ausdrücke „gefärbt“, „gerötet“, „bespritzt“ partizipial genommen werden, dann wird der Vordersatz zugestanden, das Schweißtuch, das Untergewand Christi in oben genannten Kirchen seien vom Blute Christi gefärbt und bespritzt, weil sie vom Blute Christi gefärbt und bespritzt wurden. Aber daraus folgt nicht, dass sie jetzt noch vom Blut im nominalen Sinne gefärbt sind, so wenig man folgern kann: Christus ist gestorben und begraben, weil er starb und begraben wurde, also ist Christus tot, das heißt, er ist körperlich jetzt noch im Tod oder Grab, insofern der Vordersatz zwar korrekt ist, doch der Folgesatz falsch. Und so ist deutlich, dass diese Sätze („das Schweißtuch Christi ist vom Blut gefärbt“ oder „der Kronendorn ist mit dem Blut bespritzt“) auf die eine Weise wahr, auf die andere falsch sind. Der zweite Einwand ist, dass in Rom das Fleisch der Vorhaut des Herrn Jesu Christi gezeigt wird. Wenn also das Fleisch Christi, das ein Teil von Christi Leib ist, unverherrlicht ist, so ist erst recht oder immerhin gleichermaßen unverherrlicht noch jetzt das Blut Christi im Fleisch der Vorhaut, am Schweißtuch, am Dorn oder auf der Krone des Herrn Jesus Christus. [Antwort:] Hierauf antwortet man, indem man den Vordersatz verneint, und bevor den ein falscher Präsentator der Vorhaut beweist, wird der Engel mit der Posaune zum Tag des Gerichts blasen. Wie also der Gläubige nicht glaubt und nicht glauben soll, dass das vom Leib abgetrennte Haupt Christi gezeigt wird, so soll er nicht glauben, dass die vom Leib abgetrennte Vorhaut Christi gezeigt wird. Und wenn man einwendet, dass dann jene Römer sich täuschten, die die Vorhaut Christi zeigten, und ebenso jene, die den Worten der Präsentatoren glauben, so wird dies bejaht. Wie gleichfalls bejaht wird, dass einige Prager sich täuschten mit ihrer Behauptung, sie zeigten das mit Staub vermengte Blut Christi, den Bart Christi und die Milch der jungfräulichen Mutter Christi. Daraus folgt trotzdem nicht, dass alle Römer Leib und Blut als (äußere, ablösbare) Qualitäten Christi. 6 Christus als „Substanz“, als Träger dieser Qualitäten. 7 Hier der Gegenstand, als Träger dieser Qualität. Der Subjektbegriff ist nicht analog verwendet, denn eigentlich geht es ja um die Abtrennbarkeit vom Subjekt; analog also wäre das Blut hier Subjekt der Röte.
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oder alle Prager sich derart täuschen, insofern mehrere Gläubige derartiges weder behaupten noch glauben, sondern vertrauensvoll glauben, dass alles Blut Christi und sein gesamtes Haar in seinem verklärten Leib ist. Wenn aber das die oben genannten Präsentatoren bestreiten, so sollen sie das Gegenteil beweisen, und wir werden ihnen glauben, sofern sie nur auch gezeigt haben, wer die Milch der Jungfrau Maria bewahrt hat. Der dritte gegnerische Einwand: Als sinnlich erfahrbares würde das Blut Christi die Herzen weit stärker ergreifen als ein im Leibe Christi verherrlichtes, das nur geglaubt wird. Also wäre es besser, dass es von den Gläubigen gesehen als nur durch den Glauben geglaubt wird. Der Vordersatz wird im Besonderen auch deutlich am Beispiel von Thomas dem Zwilling, den nicht so sehr das im Leibe Christi verborgene Blut bewegte denn vielmehr das sinnlich erfahrbare, als jener ihm seine Wunden zeigte, durch die er ihn im Glauben stärkte, mit den Worten: Da du mich gesehen hast, Thomas, glaubst du; selig aber, die nicht sehen und doch glauben.8 Hier antwortet man, indem man den Vordersatz zugibt und die Folgerung verneint. Wahr ist allerdings, dass das Blut Christi, als es sichtbar aus dem toten Jesus herausfloss, die Erlösungsbedürftigen stärker und ursprünglicher bewegte, als es nun das verherrlichte tut. Damals nämlich bewegte es sie von der Sünde zur Gnade, vom Tod zum Leben, auf eine wirksame und ursprüngliche Weise, wie es sie heute nicht bewegt. Wenn es sich also heute den Menschen sichtbar zeigte, würde es sie mehr ergreifen, sofern es nur Christus gefiele. Da es ihm aber gefällt, dass sein Blut heute unsichtbar ist und geglaubt wird, wie auch er seiner Braut, der kämpfenden Kirche, des größeren Verdienstes wegen verborgen sein will, daher ist es so, dass Christus wie auch sein Blut (solange wir leben) für uns aus der Verborgenheit mehr bewirkt als in der sichtbaren Form. Daher sagt Augustinus9 über jenes Wort in Joh 14 (Wenn ich fortgegangen bin und euch die Stätte vorbereitet habe, […]10): Der Herr Jesus möge gehen und die Stätte vorbereiten; er möge gehen, um nicht gesehen zu werden, er bleibe verborgen, damit man an ihn glaubt. Dann wird nämlich die Stätte bereitet, wenn aus Glauben gelebt wird. Sieh, wie deutlich er zeigt, dass die Stätte im Hause Gottes, des Vaters, bereitet wird, solange Christus, und somit sein Blut, den leiblichen Sinnen verborgen, mit festem Vertrauen geglaubt wird. Deshalb steht zweifellos 8
Vgl. Joh 20,29.
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Joh 14,3.
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fest: Wenn es für uns besser gewesen wäre, dass Christus uns leiblich begegnet und wir sein Blut in sichtbarer Form trinken oder mit leiblichem Sinn sehen, hätte er dies getan. Doch da der Glaube ohne Verdienst wäre, wenn die menschliche Wahrnehmung einen Beweis hätte, darum wollte er, als ein Vergelter des Glaubens gemäß unserm größeren Verdienst, mit seinem Blut in dieser Weise verborgen sein.11 Und daher sagte er zu seinen Jüngern: Die Wahrheit sage ich euch. Es ist euch förderlich, dass ich gehe. Wozu Beda in seiner Homilie12 sagt: Es ist förderlich, dass ich die euch bekannte Gestalt dem Himmel darbringe, damit ihr euch danach mit größerem Verlangen sehnt und so, nachdem eure Herzen sich zum Himmel erhoben haben, für die Annahme der Geschenke des Heiligen Geistes empfänglich werdet. Wenn ich nämlich nicht fortgehe, nämlich durch Leiden und Himmelfahrt, wird nicht der Tröster zu euch kommen. Und es ist klar, dass jene, die fest daran glauben, das Blut Christi sei verherrlicht in seinem Leibe, der zur Rechten des Vaters sitzt, und in dieser Form auch im ehrwürdigen Sakrament einen größeren Verdienst haben als Thomas der Zwilling, der durch Sehen auf sinnliche Weise glaubte, wie Christus sagt: Da du mich gesehen hast, Thomas, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben. Wozu Chrysostomos sagt: Wenn jemand sagt „ich wünschte in jenen Zeiten zu leben, um Christus als Wundertäter zu sehen“, der möge bedenken: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ 13 Dies hat auch Petrus, der Apostel Christi, erwogen.14 Die Bewährung unseres Glaubens , sagt er, sei viel kostbarer als das Gold, das durch Feuer bewährt wird, und sie werde zum Lobe, zur Herrlichkeit und zur Ehre in der Offenbarung Jesu Christi befunden. Diesen liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht gesehen habt, an ihn glaubt ihr, obwohl ihr ihn auch jetzt nicht seht. Wenn ihr aber glaubt, werdet ihr jauchzen vor unaussprechlicher und verherrlichter Freude und tragt so das Ziel eures Glaubens davon, das Heil eurer Seelen. Seht doch den Lohn derer, die ohne sinnliche Wahrnehmung glauben. Der vierte Einwand: Christus konnte wollen, dass ein Teil seines Blutes vergossen wird, ohne jemals verherrlicht zu werden. Da du von keinem Gewissheit hast, dass er es nicht so wollte, ist es dir also zumindest doch zweifelhaft, demnach auch die Schlussfolgerung: Christus hat vollauf verdient, dass das gesamte aus seinem Leibe geflossene Blut in seinem Leibe verherrlicht wurde. Der erste Teil des Vordersatzes ist wahr aufgrund der Macht Christi; der zweite Teil ist offensichtlich, 11 Joh 16,7. 12 Beda Venerabilis, Hom. 2,6 (PL 94,159 A; CC 122, 254,30 ff.) tomus, In Ioannem Hom. 87 (PG 59,474). 14 Vgl. 1Petr 1,7.
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weil du weder aus der Schrift noch aus der Offenbarung, noch durch die Autorität der Kirche, noch aus der Vernunft, noch aus der sinnlichen Erfahrung Gewissheit hast. [Antwort:] Hier wird auf den ersten Teil des Vordersatzes geantwortet, indem zwischen der absoluten und der geordneten Macht Christi unterschieden wird. Denn nach seiner absoluten Macht kann er alles, was er will; nach seiner geordneten Macht aber konnte Christus nicht wollen, dass sein Blut vergossen wird, ohne jemals verherrlicht zu werden. Denn der Heilige Geist hatte durch den Mund Davids gesprochen: Du wirst nicht zulassen, dass dein Heiliger die Verwesung sieht 15, d. h. das Verfaulen an den Gliedern seines Leibes. Daraus erklärt sich, dass der zweite Teil des Vordersatzes falsch ist. Ich habe bereits die Gewissheit aus der Schrift und der Offenbarung des Heiligen Geistes durch David und aufgrund der Autorität der Kirche und somit auch aus der Vernunft der Schrift, insofern dieser Satz (oder seine Wahrheit): Du wirst nicht zulassen, dass dein Heiliger die Verwesung sieht, Heilige Schrift, Offenbarung und Autorität der Kirche ist, demzufolge vernünftiger Grund, der den Zweifel des Ungläubigen beseitigt. Da also kein Blut von Christus verfaulen oder zugrunde gehen durfte, da Christus leiden musste und so erst in seine Herrlichkeit eingehen sollte (gemäß dem letzten Kapitel bei Lukas), folgt daraus, dass das gesamte Blut Christi aus seinem Leib vergossen und dann verherrlicht werden musste. Also hat Christus es vollauf verdient, dass all das aus seinem Leibe geflossene Blut in seinem Leibe verherrlicht wurde. Und so ist die Schlussfolgerung in aller Form gültig. Der fünfte Einwand: Wie es möglich ist, dass das Blut Christi irgendwo sakramental existiert, wo es nicht dem Ort nach ist, auch wenn es woanders dem Ort nach ist, so ist es möglich, dass das Blut Christi irgendwo natürlich existiert, wo es nicht verherrlicht ist, auch wenn es woanders verherrlicht ist, da in Bezug auf die unbegrenzte Macht Gottes das Zweite so wahr wie das Erste ist. Mag denn also das ganze Blut Christi im Leib und im Himmel im Zustand der Herrlichkeit sein, so bleibt damit dennoch vereinbar, dass es auf Erden gemäß seiner natürlichen Substanz auf natürliche Weise besteht und außerhalb jenes Leibes ohne Verherrlichung ist. Und da du durch nichts versichert bist, dass er nicht doch seine Macht heute dergestalt ausübt, den Gläubigen hier zum Gedenken sein Blut in sinnlicher Form und ohne Verherrlichung außerhalb des Leibes zu zeigen und es im Him15
Ps 16,10.
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mel in völlig verherrlichter Weise zu haben, so ist es zumindest doch zweifelhaft, dass überhaupt kein Blut Christi heute auf Erden ohne Verherrlichung außerhalb seines Leibs existiert. [Antwort:] Hier antwortet man, indem man die Möglichkeit des Vordersatzes zugesteht und Folgerung samt Folgesatz ablehnt, nämlich dass es zweifelhaft sei, dass kein Blut Christi heute auf Erden ohne Verherrlichung außerhalb des Leibes Christi existiert, da dies ja der dritte Zusatz zur zweiten Schlussfolgerung bzw. ein Teil dieses Zusatzes ist. Denn Christus konnte sein Blut dem zweifelnden Thomas unter seiner unverweslichen Natur durch seine Bestätigung zeigen. Dennoch hat er es nicht unter jener verweslichen Natur zurückgelassen. Wie er nämlich seinen verherrlichten Leib nach seiner Auferstehung fühlbar, sichtbar und ernährbar gemacht hat, um den Glauben seiner Jünger zu stärken, ohne ihn darum in dieser unverherrlichten Form zurückzulassen, so verhält es sich offenbar auch mit dem Blut. Doch dass er dies jetzt noch tut, soll der Gegner durch die Schrift, die Vernunft, die Offenbarung des Heiligen Geistes zeigen, und dann wird er uns vor Augen gestellt haben, dass Christus sein verherrlichtes Blut unter unverherrlichter Natur zeigt, wie es diejenigen versichern, die aus Habgier ihr Spiel mit dem Volk treiben. Der sechste Einwand: Aufgrund des dir Zweifelhaften16 ist das bei Christi Beschneidung herausgeflossene Blut dem Stoff nach verwest, insofern es möglich war, dass es dem Stoff nach verwest, so wie es auch möglich war, dass Christus stirbt. Und wenn es dem Stoff nach verwest ist, kann oder konnte es nicht als dasselbe dem Stoff nach zurückkehren nach der Lehre des Philosophen im zweiten Buch über die Entstehung17. Also hat Christus selbst nicht sämtliches aus seinem Leibe geflossene Blut verherrlicht. [Antwort:] Hierzu wäre einiges zu sagen, da dieses Argument das Problem der Auferstehung berührt, nämlich wie ein und derselbe Mensch nach Geist und Leib und auch nach den Gliedern seines Leibs 16 Gemeint ist die (auch dem 4./5. Einwand zugrunde liegende) Schlussregel: Wenn die Folgerung formal korrekt ist und der Vordersatz zweifelhaft, lässt sich der Schlusssatz nicht bestreiten (Si consequentia est bona et formalis, et antecedens est dubium, consequens non est negandum; vgl. William Heytesbury [ca. 1312–1372/73], Sophismata asinina, hg. u. komm. von F. Pironet, Paris 1994, 294.477 f.). Hierbei ist zweifelhaft strenggenommen nur die eine Hälfte des Vordersatzes (der Untersatz), im obigen Fall: die faktische Unverwestheit des Blutes; die andere (der Obersatz) betrifft die Möglichkeit des Gegenteils, hier: die Verwesbarkeit; beides zusammen erlaubt nach obiger Regel den Schluss auf die mögliche Gegebenheit des Gegenteils, hier: die Verwestheit. 17 Aristoteles, De generatione et corruptione 2,11.
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von den Toten auferstehen soll. Doch mag an dieser Stelle das Wort jenes großen Philosophen Hiob genügen, der im 19. Kapitel sagt:18 Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und am Jüngsten Tag werde ich von der Erde auferstehen, und ich werde von Neuem mit meiner Haut umgeben werden. In meinem Fleisch werde ich Gott meinen Heiland 19 sehen, den ich selbst sehen werde, und meine Augen werden ihn schauen, und kein anderer. Hierüber sagt der selige Gregor im 14. Buch der Moralia, im letzten Kapitel:20 Indem wir also dem Glauben des seligen Hiob folgen und nach der Auferstehung unseres Erlösers den fühlbaren Leib wahrhaftig glauben, bekennen wir, dass unser Fleisch nach der künftigen Auferstehung sowohl dasselbe als auch verschieden ist; dasselbe nach der Natur, verschieden nach der Macht. Es wird deswegen geistlich sein, weil es unverweslich und spürbar sein wird, weil es nicht das Wesen der echten Natur verlieren wird. Sehr treffend also sagt Hiob: Am Jüngsten Tage werde ich von der Erde auferstehen (zu der ich erneut werde, ehe ich auferstehe), und ich werde von neuem mit meiner Haut umgeben werden (nicht mit einer fremden, sondern mit der eigenen), und in meinem Fleisch (nicht in einem fremden, wie die Häretiker sagten, die da behaupteten, dass die Seele des einen den Leib des anderen beträte) werde ich sehen (nämlich mit dem Auge des Geistes) den Heiland nach seiner Göttlichkeit, und mit den Augen des Leibes werde ich meinen Heiland sehen, nämlich Christus nach seiner Menschheit. Diesen werde ich selbst auf zweifache Weise sehen, ich selbst in eigener Person und kein anderer, meine Augen, nämlich die fleischlichen, die ich zuvor hatte, werden ihn sehen. Wenn ein Gläubiger diesen überaus festen Glauben bedenkt, wird er nicht an der Auferstehung seines Leibes samt dessen Gliedern zweifeln, sondern glauben, dass es für Gott nicht schwieriger21 ist, die zu Staub gewordenen oder in andere Leiber verwandelten Teile in ihren Leib zurückzubringen als sie im Anfang der Schöpfung aus dem Nichts zu erschaffen. Weshalb der ehrwürdige Beda in seiner achten Osterhomilie22 dem heidnischen Unglauben, oder auch jenen Christen, die hierüber unschlüssig sind, zur Antwort gibt: An dieser Stelle legen die Heiden der Einfalt unseres Glaubens gern Fallstricke, nach dem Motto: „Mit welcher Leichtfertigkeit vertraut ihr darauf, dass Christus, den ihr Hiob 19,25–27. 19 Vgl. Hiob 19,26. Hus zitiert offenbar aus dem Gedächtnis. Vgl. Gregor d. Gr., Moralia in Iob 14,77 (CC 143 A, 746; PL 75,1080B). Das Zitat ist lückenhaft. 21 Im lat. Text steht quod non minus est Deo difficile („dass es für Gott nicht weniger schwierig ist“), was aber keinen rechten Sinn ergibt; es muss offenbar maius heißen („dass es für Gott nicht mehr schwierig [= schwieriger] ist“). 22 Hom. 2,9 (CC 122,242; PL 94,141D).
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verehrt, irgendwie eure Leiber aus Staub als unverwesliche wieder zurückbringen kann, der nicht einmal die Narben seiner Wunden, die er am Kreuz empfing, bedecken konnte und gar nicht verheimlichte, dass sich an seinem, wie ihr sagt, von den Toten auferweckten Leib noch die Zeichen des Todes befanden.“ Diesen antworten wir, dass Christus, da er der allmächtige Gott ist, auch unsere Leiber, wie er versprochen, von der Verwesung zur Unverweslichkeit, vom Tod zum Leben, vom Staub der Erde zur himmlischen Herrlichkeit auferwecken wird. Aufgrund dieser Aussage kann leicht auf das Argument geantwortet werden. Selbst wenn man die Möglichkeit annimmt, dass das bei seiner Beschneidung aus Christi Leibe geflossene Blut seinem Stoff nach in eine der Form nach andere Sache verwandelt worden wäre (oder auch das Blut am Kreuz, falls ausgetrocknet und so durch die Wärme der Sonne irgendwie verdunstet), gilt dennoch: Durch wessen Macht es dergestalt in etwas anderes verwandelt wurde, durch dessen Macht wird es am Tag der Auferstehung von dort in die eigene Form zurückkehren, und so ist es numerisch dasselbe Blut seiner Form nach. Selbst wenn man also den ersten Teil des Vordersatzes im Argument zugesteht, wird dennoch der letzte Teil abgelehnt, dass nämlich dasselbe dem Stoff nach nicht wieder zurückkehren kann oder konnte. Die Lehre des Philosophen kann diesbezüglich verworfen werden, es sei denn, man würde sie anders glossieren, was jetzt zu weit führen würde. Für den Gläubigen reicht es, dass er denselben Körper, dieselben Augen, dieselben Hände und somit alle anderen Glieder und dasselbe Blut haben wird, das er im Namen des Herrn vergoss. Auch soll er nicht fürchten, wenn Bestien den Leib verzehrt und sein Blut getrunken haben, dass er es nicht zurückbekommt, da ja all das am Tage der Auferstehung verherrlicht werden wird. Denn die Stimme der Heiligen ist nicht leer und vergeblich. Räche, Herr, unser Blut;23 und: Die Stimme von Abels Blut schreit zum Herrn von der Erde.24 Es sprechen die Heiligen in Erwartung der Auferstehung: Wie lange, heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen? 25 Und der Herr sagt zu Kain: Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde.26 Lasst uns also gelassen und heiter die Verklärung unseres Blutes erwarten, wenn wir es nur im Auftrag unseres Herrn Jesu Christi vergießen, und sei’s für die leckenden Hunde. Daraus ergibt sich der siebente Einwand: Der dritte Zusatz zur ersten Schlussfolgerung sagt, Christus habe es vollauf verdient, dass 23
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alle Teile seines Leibes, die belebten sowohl als die unbelebten, zugleich miteinander verbunden wurden gemäß der besten Harmonie des verherrlichten Leibes; also verdienen entsprechend auch alle zum Heile bestimmten Menschen, dass all ihre Glieder, die sie je hatten, in ihren verherrlichten Leibern zugleich miteinander verbunden werden. So aber würde jemand längere Haare haben als sein ganzer Leib lang ist, ja sogar längere Nägel an Händen und Füßen, wenn man denn alle Teilchen zusammenträgt, die er abgeschnitten hat. Das aber würde der harmonischen Proportion der verherrlichten Leiber in ihren Gliedern Abbruch tun. Da also die Materie bei einigen der zum Heile Bestimmten teilweise überflüssig ist, bei einigen verringert, wird die überflüssige weggelassen und die verringerte ergänzt werden, und zwar so, dass einem zum Heile bestimmten Verstümmelten oder Blinden Materie hinzugefügt, einem anderen mit etwa sechs Fingern bzw. Zehen an Hand oder Fuß die überflüssige Materie abgenommen wird. Und so wird dieser verdienen, dass nicht alle Teile seines Leibes, die belebten wie die unbelebten, zugleich miteinander verbunden werden, gemäß der besten Harmonie seines verherrlichten Leibes. – Ebenso folgt, dass man sämtliches Blut, das man jemals vergossen hat, sei es durch Aderlass oder Verletzung, wiedererlangen würde. Das aber kann nicht geschehen, weil es allzu überflüssig wäre und ein Mensch es wegen des beschränkten Fassungsvermögens von Leib und Adern gar nicht wieder aufnehmen könnte. [Antwort:] Hierauf antwortet man, indem man die erste Folgerung zugesteht, insofern gemäß dem Zeugnis der Wahrheit, wie im zweiten Zusatz zur ersten Schlussfolgerung gesagt, nicht einmal ein Haupthaar der Heiligen zugrunde gehen wird, viel weniger also irgendein anderer Teil des Körpers. Und wenn man argumentiert, dann würde ja manch einer längere Haare haben, als sein ganzer Leib lang ist, ja sogar längere Nägel an Händen und Füßen, wenn man denn alle Teilchen zusammenträgt, die er abgeschnitten hat, so antwortet hierauf der Magister in den Sentenzen, im vierten Buch, Distinctio 4427 am Beispiel einer Statue dergestalt: Wenn eine Statue aus einem auflösbaren Metall im Feuer geschmolzen oder zu Staub gestoßen oder in eine Masse gegossen würde und der Künstler sie wieder aus ihrer Materie und Stoffmenge herstellen wollte, so würde es keinerlei Unterschied in ihrer Ganzheit machen, welches Materieteilchen welchem Glied der Statue zurückgegeben würde, sofern nur das Ganze, aus dem sie geschaffen war, völlig 27 Petrus Lombardus, Sententiae 4, dist. 44, c. 2 (PL 192,946). Der gesamte Passus stammt von Augustinus, Enchiridion 89f. (CC 46, 97,66–77.90–92).
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wiederhergestellt wird. Ebenso wird Gott, der wunderbare und unaussprechliche Künstler, unser Fleisch aus dem Ganzen, woraus es bestanden, mit wunderbarer Schnelligkeit wiederherstellen, und es wird für dessen Erneuerung gleichgültig sein, ob Haare zu Haaren zurückkehren, Nägel zu Nägeln, oder, was immer von diesen Dingen zugrunde gegangen, in Fleisch verwandelt und in die anderen Körperteile zurückgeführt wird, da die Umsicht des Künstlers dafür sorgt, dass nichts entsteht, was unschicklich ist. Nichts Unschönes wird dort sein, sondern was immer auch sein wird, es wird sich schicken, da nicht sein wird, was sich nicht schickt. So weit der Magister. Und es ist Lehrmeinung des Magisters, dass Nägel und Haare nicht zugrunde gehen, sondern verherrlicht werden. Und damit deren Länge nicht unschicklich anwachse, sondern in einem harmonischen Verhältnis bleibe, sagt er, dass sie in die alte Materie des Leibes zurückkehren werden. Und ähnlich wird es vom Blut gesagt. Es ist sogar bekannt, dass Haare und Nägel nicht ins Unbegrenzte wüchsen, wenn sie nicht abgeschnitten würden, sondern zu einem Maß, das ihnen von Gott gewährt wurde, wie auch die anderen Teile des Körpers, und dass sie, falls sie diese Länge erreichten, ohne vom Menschen daran gehindert zu werden, ihn schön machen würden, so wie Gott ihn haben wollte. Daher werden selbst lange Haare, die uns bei Männern sonst nicht so gefallen, die Männer zieren und uns auch gefallen, insofern sie in ihrer Länge verherrlicht sein werden. Ebenso sollte es über die Nägel gesagt werden, die in ihrer Länge wie Karfunkel strahlen werden. Lasst uns also nicht über die Wiedergewinnung der Nägel und Haare uns beunruhigen, sondern uns darüber umso herzlicher freuen. Bei der sogenannten überflüssigen Materie, wie sie z. B. bei einem Menschen vorliegt, der mit sechs Extremitäten an Hand oder Fuß geboren ist (manchmal wegen der Sünde der Eltern, manchmal, damit er demütiger sei, manchmal aus überschüssiger Materie), gilt der gleiche Grund wie oben, da Gott als der feinste Künstler einen hervorspringenden Teil an seiner Statue wieder umgießen kann, wie es ihm gefällt. Bei der verringerten Materie indes – wie etwa bei einem verstümmelten Menschen, der vielleicht, wie der Blindgeborene, zu Gottes Herrlichkeit auf die Welt kommen sollte oder auch wegen der Sünden der Eltern – wird der Herr ebenso tun wie mit dem Blindgeborenen, dem er die Augen öffnete, da es sein Wille war. Wenn du also in einem Glied mangelhaft bist, so lebe gottgemacht,28 weil du in den 28 Das lat. Wortspiel mit deficis („du bist mangelhaft“) und deifice- („gottgemacht“ [Adv.]) lässt sich im Deutschen nicht nachbilden.
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anderen Gliedern nach harmonischer Proportion vervollkommnet werden wirst, damit das zurückgebliebene Glied unter wohlgeordneten und -bemessenen Gliedern selbst besser abschneide. Hierzu äußert sich Hieronymus in der Homilie zu jenem Wort des Evangeliums: Nehmt euch in Acht vor dem Sauerteig der Pharisäer, der die Heuchelei ist ; 29 er sagt dort: „Auch all eure Haupthaare sind gezählt“ – hier zeigt er die ungeheure Fürsorge Gottes für die Menschen auf und die unaussprechliche Zärtlichkeit, da ihm kein Wort über unsere Werke oder Gedanken verborgen bleibt und auch die kleinen und kleinsten Dinge seinem Wissen nicht entgehen. An dieser Stelle werden diejenigen, die die Auferstehung des Fleisches leugnen, bloßgestellt, weil Gott, der wunderbare Künstler, unser Fleisch aus dem Ganzen, woraus es bestanden, in der wunderbaren Auferstehung und in unaussprechlicher Klarheit wiederherstellen wird, und es wird nichts zu dessen Erneuerung fehlen, sondern auch Haare und Nägel und alles, was vom Leibe zugrunde gegangen war, wird in Fleisch verwandelt werden, da die Umsicht des Künstlers dafür sorgt, dass nichts entsteht, was unschicklich ist.30 So weit Hieronymus, der ruhmvolle Slawe.31 Der letzte Einwand verweist auf die Wundereffekte, und das wie es scheint, vor allem zur Täuschung des Volkes. Denn so argumentieren diejenigen, die das Volk zum Opfern anreizen: Seht, dieses Blut bringt Wunder hervor – den Lahmen gewährt es den Gang, den Blinden das Sehen und den Gefangenen Freiheit etc. – also verdient es höchste Verehrung, steten Besuch, Betrachtung durchs leibliche Auge und folglich Belohnung und Ehrung in Form beträchtlicher Opfer. Und wer dies leugnet, soll wie ein Häretiker und Bekämpfer der Ehre Gottes gefangengesetzt und verunglimpft werden und, wenn er das Wundergeschehen nicht anerkennt, sterben.
Lk 12,1. 30 Hus zitiert aus einer Kompilation: Das erwähnte Logion aus Lk 12,1 Attendite a fermento pharisaeorum („Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer“) ist in Bedas Kommentar zum Lukasevangelium erläutert, wo allerdings später auch der hier folgende Satz aus Hieronymus’ Matthäus-Kommentar angeführt ist. Der nächste Satz aus Hieronymus geht dann bei Beda in jenen augustinischen Passus über, dessen Schlussteil Hus dem Lombarden entnimmt (s. Anm. 27); dies mag erklären, warum er (in abgewandelter Form) nun erneut als Auszug erscheint, obschon rätselhaft bleibt, wieso Hus diese klare Dublette zum ersten Zitat gleichwohl Hieronymus zuweist (die Abweichungen Hussens gegenüber Beda im zweiten Satz oben nicht kursiv). Möglicherweise zitiert Hus aus einem falsch lokalisierten (und ungenauen) Beda-Exzerpt aus zweiter Hand, ohne die Parallele zu registrieren. 31 Hieronymus war gebürtiger Dalmatier, also slawischer Herkunft.
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[Voraussetzung:] Hierzu wird als Erstes aus dem Evangelium des Herrn als Ausgangsbasis supponiert, dass jene Menschen, die im Glauben an Christus Wunder suchen, ein ungläubiges und verkehrtes Volk sind. Das ist offensichtlich, denn in Mt 17 sagt die Wahrheit: O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein, wie lange soll ich euch ertragen? Und Kap. 12: Das böse und ehebrecherische Geschlecht sucht ein Zeichen ;32 und Lk 11: Dieses Geschlecht ist nichts wert, es begehrt ein Zeichen .33 Zu jenen spricht er nämlich, die, mit dem Glauben an den Herrn nicht zufrieden, ein Zeichen vom Himmel suchten, um fest an ihn zu glauben. So sind die Christen auch heute damit unzufrieden, dass das wahre Blut Christi die gleiche Wirksamkeit dort hat, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt, und auch überall dort, wo es im ehrwürdigen Sakrament ist, den leiblichen Augen verborgen. Ebenso fragen die ungläubigen Juden nach Zeichen, von denen der Apostel 1Kor 1 sagt: Die Juden verlangen Zeichen, die Griechen aber fragen nach Weisheit. Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit.34 In der Tat predigen die Apostel und ihre katholischen Nachfolger, dass Christus, der Gekreuzigte, wahrhaft und wirklich im ehrwürdigen Sakrament anwesend ist, mit Blut und Leib. Die Juden aber, da sie nicht glauben, fragen nach sichtbaren Zeichen, indem sie zuerst ihn selbst in der Hostie mit leiblichen Augen zu sehen begehren und, wie sein Blut aus der Hostie herausfließt. Und wie sie am Kreuz durch Nägel, Krone und Lanze in ihm seine Göttlichkeit testeten, ob er denn wirklich auch Gott sei, so prüfen sie im ehrwürdigen Sakrament nicht selten durch Stiche, ob denn dort Christus sei und somit auch sein verborgenes Blut. Die Heiden aber nehmen Anstoß daran, dass wir sagen, Christus sei wahrhaft im ehrwürdigen Sakrament zugegen, sein Leib und Blut. In ihrer Entrüstung spotten sie deshalb: Die Christen verschlingen ihren Gott. Zu deren Schar gehörte auch der Kommentator des Averroes, der, in seiner Suche nach philosophischer Weisheit zum Toren geworden, sagte: Die schlimmste Sekte ist diejenige, die ihren Gott verspeist, womit er auf die Christen anspielte. So sind ja leider einige Christen mit dem Wort Christi nicht zufrieden, das da sagt: Dies ist mein Leib und dies der Kelch meines Blutes; sie suchen Zeichen, die vor ihren Augen erscheinen, die Ungläubigen. Wenn sie nämlich mit den früheren Heiligen wahrhaft glaubten, würden sie dann etwa nach diesen 32
Mt 12,39.
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Lk 11,29.
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1Kor 1,22 f.
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Zeichen, die nur den Ungläubigen gegeben sind, unter so emsig-eifrigem Fühlen und Tasten begierig verlangen? In der Tat kann ihnen nun der Heiland sagen: Das böse und ehebrecherische Geschlecht sucht ein Zeichen:35 böse aufgrund der wirklichen Sünde, ehebrecherisch aufgrund der Sünde des Unglaubens. Er kann ihnen auch sagen:36 Ich sage euch die Wahrheit, und doch glaubt ihr mir nicht. Daraus erhellt, dass kein wahrer Christ in seinem Glauben nach Zeichen suchen, sondern unbeirrten Gemüts in der Schrift zur Ruhe kommen soll. Wenn nämlich der Apostel Thomas ungläubig war, weil er Zeichen der Auferstehung zu sehen forderte, da doch die Kirche Christi in ihrem Glauben nicht vollständig unterrichtet war, um wie viel mehr wird dann der erst ungläubig genannt, der nach einer vollständigen Unterweisung durch den Heiligen Geist, die Apostel und die späteren Heiligen in Gestalt der Artikel des Glaubens noch Zeichen sucht. Heute bedarf die Kirche keiner Wunder, wie der selige Gregor in der Homilie zu jenem Wort im letzten Kapitel des Markusevangeliums sagt (Das aber sind die Zeichen, die jene begleiten werden, die da zum Glauben gefunden haben.37): Glaubt ihr denn etwa, meine Brüder, schon darum gleich gar nicht, weil ihr diese Zeichen nicht tut? Doch die waren nötig am Anfang der Kirche; damit sie nämlich zum Glauben hinwuchs, musste sie durch Wunder genährt werden, da ja auch wir, wenn wir Bäume pflanzen, sie so lange mit Wasser begießen, bis wir sehen, dass sie in der Erde erstarkt sind, aber wenn sie erst einmal Wurzeln geschlagen haben, hört man mit der Bewässerung auf. Das ist auch der Grund, warum Paulus 38 sagt: „Die Zungen sind zum Zeichen, nicht den Gläubigen, sondern den Ungläubigen.“39 Aus den Worten dieses Heiligen wird deutlich, dass diejenigen, die der Wunder bedürfen, geringen Glaubens sind. Zweitens, dass sie die feste Wurzel des Glaubens noch nicht haben. Und drittens, dass die wahrhaft Gläubigen keiner Zeichen bedürfen und dass ein größeres Verdienst vor Gott die haben, die ohne Wunder fest glauben, als jene, die durch Wunder bekehrt werden, wie weiter oben im dritten Einwand gegen diese Frage gesagt wurde. Das bestätigt auch der selige Augustinus in der 16. JohannesHomilie, über jenen Text: „Siehe, ein gewisser Prinz, dessen Sohn krank 35 Mt 12,39; 16,4. 36 Vgl. Joh 8,45. 37 Mk 16,17. 38 1Kor 14,22. 39 Gregor, Hom. in evang. 39,4. Der Eingangssatz: Heute bedarf die Kirche keiner Wunder (Nunc Ecclesia non indiget miraculis ) steht nicht dort; offenbar geht er auf einen ähnlichen Halbsatz in Bedas Kommentar zu 1Joh 3,24 (PL 93,105 C) zurück.
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war, kam und fing an zu bitten etc.“40, [wo] er sagt: Wer bat, glaubte nicht.41 Was erwartest du von mir zu hören 42? Frage den Herrn, was er über ihn dachte. Auf seine Bitte antwortete er nämlich so: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht. Er rügte diesen Mann als einen, der im Glauben lau oder kalt ist oder auch gar keinen Glauben hat, sondern ihn nur wegen der Gesundheit seines Sohnes versuchen will, was für einer denn Christus sei, wer er sei, wie viel er könne.43 So weit Augustinus. In der Tat mag Christus auf ähnliche Weise viele, die um sein Blut stehen, rügen und sagen: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht. Auch sie sind im Glauben lau oder kalt oder haben auch gar keinen Glauben, sondern sie wollen ihn versuchen wegen ihrer eigenen Gesundheit oder der ihrer Kinder, was für einer denn Christus sei oder sein Blut im Sakrament, ob es für die leiblichen Augen sichtbar sei, oder ob sein Blut rötlich, feucht oder trocken sei, welches das wahre oder falsche Blut sei und wie viel es könne, ob es ebenso viel oder mehr heile als das nicht so erscheinende Blut? Und sieh, ebenso kommen auch jene Zweifler daher, samt jenem Prinzen, von dem der selige Augustinus des Weiteren sagt: „Er selbst hat geglaubt und sein ganzes Haus.“ Wenn also er selbst samt seinem ganzen Haus nur deswegen geglaubt hat, weil ihm verkündet wurde, dass sein Sohn gesund sei, [... glaubte er noch nicht]44, [und] er fügt an: Die Samariter erwarteten keinerlei Zeichen, sie vertrauten lediglich seinem Wort. Die Bürger dieser Stadt hingegen 45 verdienten zu hören: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht. Und dennoch, als dort so ein großes Wunder geschah, glaubten nur er und sein Haus. Allein auf das Wort vertrauten viele Samariter, auf jenes Wunder vertraute allein jenes Haus. Und unten: Schließlich sahen jene den Herrn Jesus, wie er auf der Erde herumging, Wunder tat, Blinden das Augenlicht gab, den Tauben die Ohren öffnete, Stummen die Zungen löste, die Glieder der Lahmen berührte, über das Meer wandelte, den Winden und Wogen befahl, die Toten auferweckte und andere Wunder tat, und selbst dadurch fanden nur wenige zum Glauben. Ich rede mit dem Volk Gottes. Vgl. Joh 4,46 f. 41 Bei Augustinus (CC 36, 166,26) eine Frage. 42 So Augustinus; bei Hus steht „sehen“ (videre), offenbar assoziativ (vgl. übernächsten Satz). 43 Augustinus, In Ioannis evangelium tractus 16,3 (CC 36, 166,22 ff.). 44 Hier fehlt bei Hus die Fortsetzung des Satzes (die entscheidenden Wörter sind in eckiger Klammer ergänzt). 45 Im lat. Text (Opera omina [1558] Bd. 1, 159a) steht fehlerhaft oves autem eius („seine Schafe jedoch“), statt wie bei Augustinus (CC 36, 166,43), cives autem eius („die Bürger dieser [Stadt] jedoch“). 40
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Glauben wir nur, was wir als Zeichen gesehen haben? Was also damals geschah, kündigte das an, was heute geschieht. Die Juden waren oder sind noch den Galiläern ähnlich. Wir sind jenen Samaritern ähnlich; wir haben das Evangelium gehört und stimmen ihm zu; durch das Evangelium glauben wir an Christus, wir haben keine Zeichen gesehen noch fordern wir sie. Obschon nämlich jener Thomas, der die Finger in die Wundmale legen wollte, einer der zwölf auserwählten Heiligen war – und dennoch ein Israelit, d. h. vom Volk seines Herrn –, rügte der Herr ihn so wie diesen Prinzen. Zu dem sagte er: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht“; zu ihm aber: „Da du gesehen hast, hast du geglaubt“. Zu den Galiläern war er nach den Samaritern gekommen, die durch seine Predigten glaubten, bei denen er keine Wunder getan und die er in festem Glauben sehr bald zurückgelassen hatte, weil er sie damit nicht aus der Gegenwart Gottes entließ. Als nun der Herr zu Thomas sprach: „Komm, lege deine Hand [in meine Seite] und sei nicht ungläubig, sondern gläubig“, und dieser nach der Berührung der Wundmale ausrief: „Mein Herr und mein Gott!“, wurde er mit den Worten gescholten: „Weil du gesehen hast, hast du geglaubt“. Warum, wenn nicht darum, „weil der Prophet im eigenen Land keine Ehre hat“? Was aber heißt es, dass dieser Prophet bei den Fremden nun Ehre hat? „Selig, die nicht gesehen und dennoch geglaubt haben.“ Damit sind wir vorausgesagt, und was der Herr im Voraus gelobt hat, dies hat er auch an uns zu erfüllen beschlossen. Die ihn gekreuzigt haben, die haben ihn gesehen; sie haben ihn berührt, nur wenige aber geglaubt. Wir aber haben ihn nicht gesehen und nicht berührt, wir haben gehört und haben geglaubt. So geschehe in uns und werde in uns vollendet die Seligkeit, die er versprochen hat: sowohl hier, weil er uns seinem eigenen Vaterland vorgezogen hat, als auch in der künftigen Welt, weil wir anstelle der abgebrochenen Zweige eingepfropft 46 sind.47 So weit bis hier Augustinus. Damit hat er genügend erwiesen, dass die Samariter, die allein den Predigten Christi glaubten, einen größeren und vollkommeneren Glauben hatten als jene, die nur den Wundern glaubten. Und so sind heute auch diejenigen, die dem Evangelium glauben und nicht den Wundern, vollkommener im Glauben als jene, die nur den Wundern glauben und Wunder begehren. Daher fügt der selige Augustinus ebendort noch hinzu: Als würde er zu ihm (nämlich zum Prinzen) sagen : „Geh, dein Sohn lebt, falle mir nicht zur Last! Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht; du begehrst meine 46
Vgl. Röm 11,17.
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Augustinus, In Ioannis evangelium tractus 16,3f.
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Gegenwart in deinem Haus, ich kann allerdings auch durch ein bloßes Wort befehlen, vertraue nicht nur um der Zeichen willen. Der fremde Hauptmann hat darauf vertraut, dass ich durch das bloße Wort wirken kann, und bevor ich etwas tat, glaubte er; ihr dagegen glaubt nur, wenn ihr Zeichen gesehen habt.“ 48 So weit Augustinus. Seht, er zeigt, dass der Prinz, indem er die leibliche Gegenwart des Herrn in seinem Haus zur Heilung seines Sohnes forderte, nicht glaubte, insofern ja Christus trotz leiblicher Abwesenheit mit derselben Macht in seinem Haus zugegen war, um den Sohn des Prinzen zu heilen. So glauben leider viele nicht, dass Christi Blut von derselben Macht ist, wo auch immer es ist, sondern sie glauben, es sei von einer größeren Macht, wo hierdurch Zeichen geschehen, und so suchen sie nach Zeichen. Dass doch, wie hier Augustinus den Prinzen, der Herr zumindest im Geiste jeden, der Zeichen sucht, anspräche: Glaube du nicht um der Zeichen willen! Zweitens macht Augustinus deutlich, dass der Hauptmann, indem er die leibliche Gegenwart zur Heilung seines Sohnes nicht forderte, einen größeren Glauben bewies als der Prinz, der sie forderte. Wenn du nicht Augustinus glaubst, dann glaube Christus! Denn er sagt, indem er sich über den Hauptmann wundert: Ich habe einen solch großen Glauben in Israel nicht gefunden;49 und zum Prinzen sagt er: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder gesehen habt, glaubt ihr nicht . Reime die Worte zusammen und du wirst sehen, ob die Aussage wahr ist. Mögen die ungläubigen Christen denn also judaisieren. Vorausgesetzt also, dass allein für die Ungläubigen Wunder geschehen und dass nur sie nach Wundern fragen, doch die im Glauben Vollkommenen nicht; und drittens, dass die Kirche keine Wunder mehr nötig hat, wie nach Gregor gesagt wurde50 und wie die Glosse zu jenem Wort Das ist Gottes Gebot, dass wir im Namen seines Sohnes Jesu Christi glauben51 in Causa 1, Quaestio 3 anmerkt: In den ersten Zeiten (wie die Glosse sagt) fiel der Heilige Geist auf die Gläubigen, sie sprachen in Zungen und taten Wunder, doch nun hat die Kirche äußere Wunder nicht nötig. Jeder, der den Glauben und die Liebe hat, bezeugt, dass er in sich den Geist hat 52 (so die Glosse); und viertens nun auch noch vorausEbd., 16,5. 49 Lk 7,9. 50 Zu diesen drei hier resümierten Suppositiones vgl. S. 54 f. 1Joh 3,23. 52 Zitat an der angegebenen Stelle nicht nachweisbar. Die erste Hälfte stammt von Augustin, in: Ep. Ioannis ad Parthos 6,10 zu 1Joh 3,24b (PL 35,2025), die zweite geht offenbar letztlich zurück auf Bedas Fortsetzung in seinem Kommentar zur Stelle (PL 93,105 C; vgl. Anm. 39) und findet sich in obigem Wortlaut bei Martin v. León (1130–1203), Expositio in ep. I B. Ioannis, zu 1Joh 4,1 (PL 209,276 C).
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gesetzt, es sei für uns besser, dass Christus und somit sein Blut heute verborgen ist, als sichtbar für die leiblichen Augen, wie Augustinus in einer Predigt mit dem Anfang Medizin für die Wunden sagt über jenes Wort des Johannes: Ich sage die Wahrheit: Es ist für euch förderlich, dass ich gehe,53 wo er sagt: Er ist allerdings immer mit seiner Göttlichkeit bei uns, aber wenn er nicht fleischlich von uns gegangen wäre, würden wir immer seinen Leib leiblich sehen und niemals geistlich glauben. Durch diesen Glauben gerechtfertigt und beseligt, verdienen wir, das Wort selbst bei Gott, durch das alles geworden ist und das Fleisch ward, auf dass es unter uns wohne, gereinigten Herzens zu schauen, da man nicht durch Berührung der Hand, sondern mit dem Herzen zur Gerechtigkeit glaubt. 54 Zu Recht erhebt unsre Gerechtigkeit Anklage gegen die Welt, weil diese nur das glauben will, was sie sieht.55 So weit Augustinus. Da hast du’s denn klar vor Augen, dass es im Sinne des Glaubensverdienstes besser für uns ist, dass Christus und sein Blut verborgen ist. Denn sonst entfiele das Verdienst. Daher heißt es bei Augustinus: Durch welchen Glauben denn sonst gerechtfertigt und beseligt, verdienten wir noch, Christus zu schauen? Als würde er sagen: durch keinen. Denn der Glaube hat kein Verdienst, wo die menschliche Vernunft einen Beweis gibt (nämlich vermittelst der Sinne), wie der selige Gregor sagt.56 Daher sagt der selige Augustinus, dass Thomas, als er die Wundmale sah, etwas anderes glaubte. Den Menschen sah er und bekannte ihn, aber daran hatte er kein Verdienst; er glaubte etwas anderes, weil er Gott bekannte.57 Doch gründet sich diese Äußerung des seligen Augustinus und Gregor auf jenes Wort des Apostels: Der Glaube ist die Grundlage von Dingen, die man erhofft, ein Beweis von Dingen, die man nicht sieht.58 – Dies also in Kürze dargelegt,59 wird auf den letzten Einwand geantwortet, der so lautet: Dieses Blut da (wobei doch hier nur jene sichtbare Röte erwiesen ist, was sie auch sei, die in Wilsnack gezeigt wird) tut Wunder; denn den Lahmen verleiht es das Gehen, den Blinden das Sehen und den Gefangenen Freiheit: Also ist das, was da gezeigt wird, das Blut Christi, in sichtbarer Form und somit höchst verehrungswürdig. Joh 16,7. 54 Vgl. Röm 10,10. 55 Augustinus, Serm. 143,4 (PL 38,786). 56 Gregor, Hom. in ev. 26,1 (CC 141,2185 f.). 57 Vgl. Augustinus, In Ioannis evangelium tractus. 79,1 (CC 36, 526,23); der Wortlaut bei Hus verweist indes auf die Formulierung bei Gregor, Hom. in ev. 26,8 (CC 141,224,183 f.; PL 76,1202 A), wie sie auch bei P. Lomb., sent. 3,23,7 (PL 192, 806) zitiert ist (dort fälschlich Gregors Hesekiel-Kommentar zugewiesen). 58 Hebr 11,1. 59 Hier endet ein langes Anakoluth; die Wendung knüpft wieder beim Anfang der langen Rekapitulation an. 53
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[Antwort:] Hier muss der Gläubige erstens antworten, indem er den Vordersatz ablehnt, nämlich, dass jene Röte, was immer sie sei, dass diese es ist, die Wunder tut, und bevor ein habgieriger Priester jenen Vordersatz bewiesen hat, wird er zuvor sehr viele Lügen vorbringen. Denn er wird sagen: Seht, dieses Blut hat den aus dem Kerker befreit, jenen vom Tod und diesem das Gehen erneuert, obwohl er diese Gewissheit weder aus der Schrift hat noch aus dem Glauben, noch aus einer göttlichen Offenbarung, noch aus der Erfahrung, noch aus einem topischen Argument oder aus irgendetwas anderem. Denn man kann nicht schließen: Der Laie Petrus war ein Räuber, Mörder, Dieb, mit hartem Kerker zum Tode belegt, und er tat ein Gelübde auf das Blut Christi in Wilsnack, um frei zu kommen, und entkam mit Gewalt, indem er die eisernen Fesseln zerbrach; also hat ihn das Blut zu Wilsnack befreit.60 Ebenso wenig kann man schließen: Der Dienstmann Heinrich begann aus Hochmut einen Zweikampf mit einem Friedrich, gelobte, die Waffen jenem Blut in Wilsnack zu weihen, und erschlug den Friedrich, also hat jenes Blut in Wilsnack ihm Unterstützung gewährt. Und wie der habgierige Priester dem Trug jener Spitzfindigkeiten erliegt, so täuscht er mit anderen in skandalöser Weise das Volk Christi. Zweitens muss der Gläubige antworten, indem er die Folgerung ablehnt: Dieses sichtbare Blut tut Wunder, also ist es auf höchste Weise zu verehren und aufzusuchen, als wäre es das Blut Christi, ja sogar mehr noch als das Blut Christi, das verborgen irgendwo im ehrwürdigen Sakrament wahrhaft und wirklich existiert. Denn wenn diese Folgerung gälte, so wäre das Blut eines gewissen Weibes, das Wunder tat, höchst verehrungswürdig, und die Gläubigen würden in denselben Irrtum verfallen, in den zur Zeit des seligen Augustinus die verfallen waren, die wegen eines solchen Blutes das Fest jenes Weibes mehr feierten als das Fest Christi. Daher fügt Augustinus in der siebenten Homilie über Johannes, zu jenem Wort: Siehe, das ist das Lamm Gottes , Folgendes an: Meine Brüder, wenn wir unseren Preis erwägen, dass es das Blut des Lammes ist, wer sind dann diese Leute, die heutzutage das Fest irgendeines Weibes feiern? Und wie undankbar sind sie? Da hat man dem Weib, wie sie sagen, das Gold vom Ohr gerissen, ihr floss das Blut, das Gold wurde auf eine Waage gelegt, und es wog viel mehr aufgrund des Blutes. Und jedenfalls wurde jener Geist, ich weiß nicht welcher, durch das Blut besänftigt, das 60 Hus verweist auf die Ereignisse in (Bad) Wilsnack. Die Stadt liegt heute im Norden Brandenburgs.
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Gewicht zu senken. Die unreinen Geister wussten, dass Jesus Christus erscheinen würde, sie hatten es von den Engeln gehört und von den Propheten und fürchteten sein Kommen. Denn wenn sie es nicht fürchteten, weshalb riefen sie dann: „Was haben wir mit dir zu tun? Du bist gekommen, uns vor der Zeit zu vernichten, wir wissen es, weil du der Heilige Gottes bist? “ Und unten: Groß ist das, über den ganzen Erdkreis zu betrachten, wie der Löwe durch das Blut des Lammes besiegt wird, die Glieder Christi den Zähnen des Löwen entrissen sind. Also ist ein gewisser Geist auf irgendetwas Ähnliches verfallen, indem er wollte, dass sein Abbild durch Blut erkauft würde, weil er wusste, dass durch wertvolles Blut das menschliche Geschlecht irgendwann erlöst werden muss. Denn böse Geister erdichten für sich selbst gewisse Schatten der Ehre, um damit jene zu täuschen, die Christus folgen.61 Soweit bis hier Augustinus. Hier steht es nun, dass das Blut Christi das größte Wunder ist, das über die ganze Welt hin den Löwen besiegt hat, d. h. den Teufel. Zweitens, dass es den Zähnen des Teufels die Glieder Christi entrissen hat. Und drittens, dass es als Preis für das ganze Menschengeschlecht hinreichend ist. Und viertens, dass dennoch die Menschen das Fest irgendeines Weibes aufgrund des Blutes, das ihr vom Ohr geflossen und das Gold hinabgezogen hatte, mehr feierten als das Fest Christi, voller Undank für das überaus kostbare Blut unsers Herrn Jesu Christi. Und fünftens, dass die Teufel, weil sie wissen, dass die Welt durch das Blut Christi erlöst wird, angeordnet haben, dass ihnen vor dem Abbild Blut geopfert werde, um so die Christen zu täuschen. Daraus wird deutlich, dass böse Geister durch sich und durch böse Menschen Wunder geschehen lassen, um die Christen zu täuschen und zu verführen. So lassen nämlich auch heute boshafte Geister durch boshafte Priester das Blut in der Hostie entstehen. [Beispiele [für das Wirken] des Teufels:] Zuweilen geschieht dies auf einer geweihten Hostie, wie durch einen gewissen Mönch in Bologna, der bald darauf gefasst und, als er den Frevel gestanden, in einem eisernen Käfig am Stadttor noch einige Zeit wie ein Vogel gefüttert wurde, bis er sein Leben in solcher Buße elendiglich beendete; zuweilen auf einer nicht geweihten Hostie, wie in Chrudim in der Prager Diözese durch gewisse Priester, die nach ihrem Geständnis eingekerkert wurden und von denen einer starb, der andere, nachdem er die Fessel aufgebrochen hatte, die Flucht ergriff; 61
Augustinus, In Ioannis evangelium tractus 7,6.
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zuweilen außerhalb der Hostie, wie in der Krakauer Diözese, wo über längere Zeit hinweg eine Röte auf einem Kristallhenkel, abgefärbt von einem Metallblättchen, als das Blut Christi verehrt und ebendort auch ein Harz, das vom Bild des Gekreuzigten tropfte, für das Blut Christi gehalten wurde; zuweilen hat man auch eine nicht geweihte Hostie wie das ehrwürdige Sakrament für den Leib Christi gehalten, wie in Böhmen im Kutnisgebirge, wo ein Schüler Hostien zum Hause trug und versehentlich eine kleine Hostie fallen ließ, die Leute fanden und die sofort durch eine große Menschenmenge angebetet wurde. Doch als weise und mächtige Männer die Hostie dann an sich nahmen, fand man die Wahrheit heraus. Auch in Ungarn in der Pozonischen Diözese wurden zwölf Priester wegen Vortäuschung des Blutes inhaftiert, wie ich von vielen Priestern hörte. Und es gibt noch viele andere Orte, an denen boshafte Geister durch boshafte Priester aus Habgier vorgebliches Blut zur Schau stellen, die durch Lügen das Volk verführen, damit das Wort Christi erfüllt würde: Viele falsche Propheten werden sich erheben und werden viele verführen. Und da ja die Ungerechtigkeit überhandnimmt, nämlich die jener Priester, wird auch die Liebe vieler erkalten ,62 nämlich die der Untergebenen. Denn jene häufen die Ungerechtigkeit an durch Täuschung, und das Volk erkaltet in der Liebe, indem es auf deren Worte und Wunder vertraut, die ihm jedoch nicht nutzen werden, wie der Herr in Jer 23 sagt: Ich habe gehört, was die Propheten gesagt haben, die da in meinem Namen Lügen predigen ;63 und weiter unten: Die das erzählt und mein Volk durch ihre Lüge und ihre Wunder verführt haben, obwohl ich sie nicht geschickt und nicht beauftragt hatte, die diesem Volk keinerlei Nutzen gebracht haben, spricht der Herr.64 In der Tat predigen heute solche habgierigen Priester im Namen des Blutes Christi und so auch im Namen Christi viele Lügen, sie erzählen diese beständig und verführen das Volk mit ihrer Lüge und durch trügerische Wunder, die ihm nichts nützen, sondern mehr schaden, weil sie es berauben und im Bösen bestärken, wie es in Jer 23 heißt: Unter den Propheten Samarias (was mit „Wachsamkeit“ übersetzt wird) sah ich Torheit : Sie prophezeiten durch Baal (die da Wache halten, um zu verschlingen; denn Baal wird mit „Schlinger“ übersetzt) und sie täuschten mein Volk Israel . Und unter den Propheten Jerusalems sah ich den Gräuel der Unzucht, nämlich der geistlichen, weil sie sich, 62
Mt 24,11 f.
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Jer 23,25.
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nachdem Christus, ihr Bräutigam, hintangesetzt wurde, zum Teufel und zum Weg der Lüge bekehrten und die Schar der Übelsten bestärkten, damit sich nicht ein Einziger von seiner Bosheit abwende. Es werden nämlich durch Wunder und schöne Worte Räuber, Mörder und Diebe in ihrer Bosheit bestärkt, indem sie hoffen, dass sie durch die Wunder des vorgetäuschten Blutes befreit werden. Daher werden derartige oft durch den Teufel von der Gefangenschaft befreit, um mehrere Übel zu verüben und um schließlich noch tiefer in die Hölle hinabzusteigen, und wenn sie bereits von boshaften Geistern und vielen Schmerzen gequält worden sind, so werden sie doch aufgrund ihrer Treulosigkeit auch wieder von ihren Qualen befreit. Denn die bösen Geister erdichten, wie oben mit Augustinus gesagt wurde, gewisse Schatten der Ehre für sich selbst, um die zu täuschen, die Christus nachfolgen, wie auch der Teufel dem Trinkenden durch das Blut jenes oben erwähnten Weibs etwas vorgegaukelt hatte. So liest man über den heiligen Martin, wie der Teufel anstelle des verurteilten Räubers Wunder tat und das Volk verführte. So liest man über den Heiligen Bartholomäus, wie der Teufel Waradach, ähnlich auch Astaroth, Menschen mit Krankheiten plagte und, als sie ihn verehrten und ihm Ehre brachten, sie von ihren Leiden befreite. So auch über den Heiligen Petrus bei den Wundern Simons des Zauberers und bei den Magiern des Pharao, die bei dem dritten Zeichen versagten, wie Ex 8 zu lesen ist. Wenn in den letzten Zeiten die listigste und stärkste Verführung sein wird, so dass, wenn es möglich wäre, die Auserwählten verführt würden, wie Christus sagt: Wenn euch jemand sagt, siehe, hier ist der Christus, oder dort, so glaubt ihnen nicht. Denn es werden falsche Christen und falsche Propheten aufkommen und werden große Wunder und Zeichen tun, so dass auch die Auserwählten zum Irrtum verleitet werden, wenn es möglich ist. Siehe, ich habe es vorausgesagt. Wenn sie euch also sagen: Seht, er ist in der Wüste, so geht nicht hinaus, – seht, er ist in der Kammer, so glaubt es nicht! 65 Jetzt aber sagen viele: Siehe, da ist das Blut Christi in sichtbarer Form, und also ist Christus da, an den verlassenen Orten, wie sie erdichten, in Wald und Feld – glaubt es nicht!, sondern glaubt, dass das Blut Christi allein im verherrlichten Leib Christi ist, der zur Rechten Gottes des Vaters sitzt und im ehrwürdigen Sakrament auf uns verborgene Weise existiert, wo er nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes gesehen wird: Wenn also die Verfüh65
Mt 24,23–26.
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rung der Gläubigen so listig sein wird – und sie ist schon jetzt sehr stark, weil laut dem Apostel an die Thessalonicher 2, Kap. 2, bereits jetzt die Ankunft des Antichrist da ist, entsprechend dem Wirken des Satans in jeglicher Kraft, in trügerischen Zeichen und Wundern und in jeder Verführung zum Unrecht für die, die zugrunde gehen, weil sie die Liebe der Wahrheit nicht angenommen haben, um selig zu werden; und darum wird Gott ihnen das Wirken des Irrtums senden, damit sie der Lüge glauben und alle gerichtet werden, die nicht der Wahrheit geglaubt, sondern dem Unrecht zugestimmt haben 66 –, so müssen die Christgläubigen zu Recht die höchste Sorgfalt anwenden, damit sie im Glauben des Herrn ruhiger befestigt werden können, indem sie auf reine Weise nach dem Gesetz des Evangeliums leben und keinerlei Glauben an Märchen und trügerische Wunder verschwenden, noch auch an wirkliche Wunder, die durch einen bösen Geist und schlechte Menschen zustande gekommen sind. Denn sie müssen wissen, dass sowohl heilige als auch schlechte Menschen Wunderkräfte entfalten können. Ganz grundlos nämlich würde der Herr zu den Bösen sonst, wenn sie nicht Kräfte dieser Art ausübten, sagen: Viele werden mir an jenem Tag sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele machtvolle Taten vollbracht? Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch niemals gekannt, gehet fort von mir alle, die ihr Unrechtes tut.67 Weshalb auch der selige Hieronymus in der Homilie zu jenem Wort: Jesus trieb einen Dämon aus,68 dies sagt: Dämonen austreiben ist Dienern Gottes und Dienern des Teufels gemein, doch die Wahrheit bekennen und Gerechtigkeit üben ist nur die persönliche Tat der Heiligen. Wenn du also einen Menschen siehst, der Dämonen austreibt, doch weder die Wahrheit bekennt noch Gerechtigkeit übt, so ist er kein Mensch Gottes. Wenn du aber einen Menschen siehst, der die Wahrheit bekennt und Gerechtigkeit übt, auch wenn er nicht Dämonen austreibt, so ist er ein Mensch Gottes. So weit Hieronymus. Da es schwer ist, zu erfahren, wer ein Mensch Gottes ist, und niemand über sich selbst weiß, ob er der Gnade oder des Hasses würdig ist,69 daher ist es für jeden Christen notwendig, sich durch das Evangelium zu festigen, da die Wahrheit sagt: Es werden falsche Propheten und falsche Christen aufkommen und werden große Zeichen und Wunder tun, so dass sogar Auserwählte dem Irrtum verfallen, wenn es möglich ist.70 Denn wenn es schon schwer war zu bestehen, als der Märtyrer vor den Folterknechten Wunder tat, um wie viel schwerer wird es sein, wenn 66
Vgl. 2Thess 2,9–12.
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Mt 7,22 f.
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der Folterknecht vor dem Märtyrer mit Wundern glänzt? Wie der selige Gregor, Moralia 32, zu jenem Wort in Hiob 40 („Er streckt seinen Schwanz wie eine Zeder“ 71) sagt: Wir sollten bedenken, welch eine Versuchung des menschlichen Geistes es sein wird, wenn der fromme Märtyrer nicht nur unter Folter liegt, sondern dabei noch der Folterknecht vor seinen Augen Wunder tut. Wessen Tugend wird in ihren geistigen Grundfesten erschüttert, wenn der Folterer selbst noch durch Zeichen glänzt? 72 Wenn ein wahrer Christ diese Dinge bedenkt, soll er sich nicht um das frivole Anpreisen der Wunder scheren und sich nicht im Geiste mit Wundern beruhigen noch den falschen Botschaften der Marktschreier glauben, die für Lohn durch die Städte und Dörfer ziehen und Wunder ausrufen, die in der Natur noch niemals geschehen sind, etwa behaupten, dass sie von einem Dämon befreit wurden, wo doch erst zum Zwecke ihres Betrugs ein Dämon in sie gefahren ist. Wie betrügerisch sie sind, ist offenbar: Denn Petrziko von Ach, ein Prager Bürger guten Angedenkens, hatte eine gelähmte Hand und opferte in Wilsnack im Namen jenes Blutes, das sie dort predigen, eine silberne Hand. Und weil er erfahren wollte, was die Priester über jene Hand predigen würden, blieb er bis zum dritten Tag, und da verkündete in seiner Gegenwart in der Kirche ein Priester von der Kanzel: Höret, ihr Knaben, ein Wunder: Seht, ein Prager Bürger wurde an seiner gelähmten Hand durch das Blut Christi geheilt und zum Zeugnis dafür hat er diese silberne Hand geopfert. Er aber stand mit erhobener Hand da und sagte: Du Priester, warum lügst du? Sieh, meine Hand ist noch immer gelähmt. Die Zeugen dieses Ereignisses sind heutzutage in Prag seine Freunde und seine Familie. Auch wir drei Magister wurden durch den Herrn Erzbischof beauftragt, Menschen zu befragen, an denen Wunder geschehen sein sollten: erstens, wie ein Junge am Fuß geheilt worden sei – nach unserer Erfahrung war sein Fuß schlechter als vorher; ebenso war von zwei Weibern gesagt worden, dass sie nach ihrer Erblindung wieder ihr früheres Sehvermögen erhalten hätten, die aber vor aller Welt, vor uns und vor einem Notar gestanden, dass sie niemals blind waren, obschon sie einmal Schmerzen an den Augen hatten. Und so predigen habgierige Priester wie habgierige Laien Wunder, die Priester für einen Opfergang, Laien für Geschenke und andere wegen des Besuchs von Pilgern, die sie auf freche Weise um ihre Lebensmittel bringen. Denn alle suchen das Ihre und nicht die Ehre Christi. Deswegen hält es der Herr ihnen vor und warnt seine Gläubigen, 71
Hiob 40,12.
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Gregor d. Gr., Moralia 32,24 (CC 143B, 1648,69 ff.).
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Jer 23,20–22.
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indem er Jer 2373 sagt: In den letzten Tagen werdet ihr seinen Plan verstehen. Ich sandte sie nicht, und sie liefen, ich sprach nicht zu ihnen, und sie prophezeiten. Wären sie bei meinem Plan geblieben und hätten meine Worte meinem Volk bekannt gemacht, so hätte ich sie von ihrem bösen Weg und von ihren überaus schlechten Gedanken bekehrt. In der Tat, wenn die Priester bei dem evangelischen Rat Christi blieben und statt trügerischer Wunder die Worte Christi dem Volk bekannt machen würden, dann würde der fromme Heiland die Priester und das Volk vom bösen Weg bekehren, nämlich vom Weg der Sünde und der Täuschung und von den überaus schlechten Gedanken, mit denen sie aushecken, wie sie die Einfältigen trügerisch verführen, dass diese verlangen, nun das Blut Christi mit leiblichen Augen im ehrwürdigen Sakrament betrachten zu können. [Drohende Übel:] Daher fürchte ich, dass diese Übel kommen: erstens, dass viele mit Thomas dem Zwilling verlangen, nun das Blut Christi mit Augen zu sehen, wie es herabfließt; zweitens, dass sie glauben, das sichtbare Blut, das der Teufel oder der Teufelspriester aus Habgier hervorrief, sei das wahre Blut des Herrn Jesus Christus, so wie sie dies in Bologna glaubten und in Chrudim in der Prager Diözese, im Bistum Leitomischl, wo sie das Blut des Priesters, das aus seinem Finger auf die Hostie kam, als wahres Blut Christi anbeteten; drittens, dass sie meinen, das Blut sei wahrhaftiger, wenn es sich zeigt, als im ehrwürdigen Sakrament (was deutlich wird aus dem Bekenntnis derer, die das Blut besichtigen wollen oder besichtigt haben und sagen, dass dort das wahrere Blut sei; und einige, die sich scheuen, so zu sprechen, sagen ausrufend und bewundernd: Ha, dort ist also das wahre Blut Christi); viertens glauben und sagen sie, dass jenes sichtbare Blut von größerer Wirksamkeit ist als das Blut in jedem ehrwürdigen Sakrament, und indem sie von jener Wirksamkeit erfahren wollen, geloben sie wunderliche Dinge und rennen wie verrückt zu jenem Blut hin, obwohl das allerheiligste Blut Christi an jedem beliebigen Ort von derselben Wirksamkeit ist (dessen erste Wirksamkeit die ist, wie oben durch Augustinus gesagt, dass es in der ganzen Welt den Teufel besiegt hat; die zweite Wirksamkeit, dass es die Glieder Christi, d. h. die Gläubigen, den Zähnen des Teufels entrissen hat; die dritte, dass es ein hinreichendes Lösegeld für die ganze Menschheit ist; die vierte, dass es die Gläubigen im Geiste nährt und tränkt und sie bereiter zur Seligkeit macht; weshalb der Gläubige diese Wirksamkeiten genau erwägen und durch sie das gläubige Herz unverbrüchlich festigen soll);
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das fünfte Übel, dass vielleicht einige schwanken, ob das Blut Christi im ehrwürdigen Sakrament sei, wo es sich ihnen nicht sichtbar zeigt; sechstens, dass die Menschen in Bedrängnissen mehr das Blut als Gott selbst um Hilfe anrufen und mehr ihre Hoffnung auf die reine Kreatur setzen als auf den Schöpfer; siebtens, dass diejenigen, die dieses Blut besichtigen und anbeten, andere tadeln und brüskieren; denn sie sagen: Seht, aus Neid predigen sie gegen das Blut Christi und hindern uns daran, es zu besichtigen; es sei aber fern, dass jemand gegen das Blut Christi predige oder einen anderen daran hindere, das Blut Christi demütig aufzusuchen, sondern er predige gegen die törichte Erfindung seiner Erscheinung, die viele bereits zu Narren gemacht hat; doch hat sie die Aufdeckung solcher Erscheinung durch die Gnade Gottes erfolgreich auf den Weg der Wahrheit zurückgeführt; achtens, dass solche Leichtgläubigen nicht zufrieden sind mit dem Glauben, wie er von Christus gestiftet ist, der sein Blut verborgen haben wollte, damit seine Gläubigen dadurch einen größeren Lohn haben; neuntens, dass viele Priester den Götzendienst aus Habgier einführen; denn ihre Habgier, wodurch sie solcherart Mummenschanz treiben, ist Götzenfrondienst; zehntens, dass andere Priester, die die Frucht der Habgier sehen, Ähnliches treiben und eifrig danach streben; denn es gibt kaum noch ein Land, das nicht aufgrund des sichtbaren Blutes großen Ruf genießt; elftens, dass jedenfalls zahllose Lügen über Wunder am Menschen gepredigt werden; und da diese Lügen vor allem zwecks leiblichen Vorteils in Umlauf gelangen, sind offenbar solche Lügner, wenn sie nicht zu Verstand kommen wollen, auf ewig zu verdammen, gemäß jenem Wort des Psalmisten: Du wirst alle zugrunde richten, die Lügen sprechen; zwölftens, dass das Volk sowohl geistlicher als auch leiblicher Güter beraubt wird; über die geistlichen wurde bereits gesprochen; die leiblichen nimmt man dem Volk durch Pilgern wie auch durch allzu drückende Opferpflichten aufgrund von Gelübden; dreizehntens, dass besonders Räuber, Diebe und andere Galgenvögel sich mit der Befreiung durch jenes Blut beruhigen und in ihren Werken nur umso verwegener werden; und das sind die größten Verteidiger solch eines Blutes, obschon sie Christus selbst in ihren Gliedern abschlachten und sein Blut ruch- und gesetzlos vergießen;
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vierzehntens: Wenn Christus das ehrwürdige Sakrament, worin sein Leib und sein Blut ist, zum Essen und Trinken zu seinem Gedächtnis gab und sagte: „Nehmt und esst“, desgleichen „nehmt und trinkt“, nicht aber: „nehmt und bewahrt“, mit welcher Absicht und Leichtfertigkeit, wenn nicht um des zeitlichen Gewinns willen, bewahren sie und essen nicht, sofern das, was da gezeigt wird, jenes ehrwürdige Sakrament ist; ist es doch besser, es würdig zu essen als zu bewahren; denn falls die Priester das Sakrament in den Kirchen bewahren, dann doch letztendlich immer zu dem Zweck, dass die Schwachen, die nicht imstande sind, an den Altar zu gehen, den heilsam bewahrten Leib essen können; fünfzehntens, dass sie dort in Wilsnack nicht wissen, was sie anbeten; denn sie wissen weder aus der Schrift noch aus göttlicher Offenbarung noch aus dem Glauben an die Schrift, ob jenes Sichtbare ein Sakrament ist, da sie ja auch nicht wissen, ob es geweiht ist; und wenn es notwendig ist, dass die wahren Anbeter im Geist und in der Wahrheit anbeten, wie der Heiland in Joh 4 sagt,74 und wenn ihnen der Geist Gottes dies nicht zeigt und es für sie keine eindeutige Wahrheit ist, dass jenes dort anzubeten sei, so folgt daraus, dass sie nicht wissen, was sie da anbeten; wir aber beten den Leib und das Blut Christi zur Rechten Gottes des Vaters an, und zwar im ehrwürdigen Sakrament, das die Priester als ein verborgenes vollziehen; und so wissen wir, was wir anbeten. Daher können wir mit Christus zu jenen sagen: Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen, was wir anbeten.75 [Beschluss des Erzbischofs:] Nach Erwägung dieser und anderer Gründe hat der ehrwürdige Vater in Christus und Herr, Herr Sbynko, Erzbischof zu Prag und Legat des Apostolischen Stuhls, aufgrund des heilsamen Rats der Magister als wahrer Hirte, der seinen Schafen den Abweg wehren und den Weg der Wahrheit zeigen will, auf dass sie nicht die Stimme der Fremden hören, die nur Mietlinge sind,76 sondern die Stimme ihres Hirten Christus, der da sagt: Dies ist mein Leib, und dies ist der Kelch meines Blutes,77 und: Seht zu, dass euch niemand verführe,78 synodal verfügt und allen Pfarrern und Predigern in der gesamten Prager Diözese auferlegt, dem Volk an jedem Sonntag zu verkündigen, dass keiner bei Strafe der Exkommunikation nach hiermit ergangenem Urteil es wagen solle, nach Wilsnack zu dem besagten Blut hinauszugehen. Sollte aber jemand es wagen, dieser Verfügung zuwiderzuhandeln, so müsste er sich eine Absolution von ergangenem 74
Vgl. Joh 4,24.
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Vgl. Joh 4,22.
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Vgl. Joh 10,12 f.
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Vgl. Mt 26,26.28.
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Mt 24,4.
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Urteil bei besagtem Herrn oder seinen Vikaren in geistlichen Dingen besorgen. Wenn zuvor genannter Herr nicht all seine Sorgfalt verwendete, würden in seiner Diözese sehr viele Orte mit falschen Wundern glänzen. So wäre in einem Waldstück beim Kloster Hradisst, lateinisch 5 Gredis, ein gewisser Hain der Mönche, lateinisch merica genannt, auf Drängen der Mönche und infolge des Zulaufs der Menge mit diesem Ort zusammen geweiht worden, hätte er selbst es nicht unterbunden. Und auf dem Berg Blanik hatte ein Laie das Volk auf wunderliche Weise verleitet, dorthin zu laufen und das Gleiche anzustaunen; und in einer 10 Kirche ließ er einen Priester, der das Volk zum Narren hielt, festnehmen. Wenn nicht die Hirten des Nachts über ihre Herde wachen, werden reißende Wölfe die Schafe zerstreuen, und bald schon werden die Teufel die Hirten selbst ermorden. 15 Hier endet die Erörterung der Frage, nebst zugehörigem kleinen Traktat, von Johannes Hus: Vom Blute Jesu Christi, gegen den Betrug der habgierigen Kleriker und Laien durch falsche Wunder. Sie wurde durch die Universität und durch den Prager Erzbischof, den Herrn Sbynko, gebilligt.
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Abb. 3: Hus als Prediger, Illustration aus Otto Brunfels, Geistlicher Bluthandel ..., Straßburg 1525, VD 16 G 983 (Bayerische Staatsbibliothek München, Re--4 H.eccl. 870,1, fol. a2 verso).
5 SYNODALPREDIGT ÜBER MT 22,37: „DU SOLLST GOTT, DEN HERRN, LIEBEN“ [19. Oktober 1405]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 2, XXVII–XXXII; deutsche Übersetzungen: Zitte, Sinodal-Reden, 27–80 (verglichen); Kalivoda / Kolesnyk, 117–132 (bearbeitet).
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Einleitung Nr. 5
In der Forschung wird davon ausgegangen, dass es sich bei der vorliegenden Synodalpredigt um die erste derartige Predigt Hussens handelt und dass sie auf der Prager Herbstsynode im Oktober 1405 gehalten wurde.1 Sie gibt einen Einblick in das Denken und die Argumentationsweise des Johannes Hus in der Zeit vor dem Ausbruch des großen Konflikts. Hus präsentierte sich der Prager Geistlichkeit als ein überwiegend aus der Bibel schöpfender, aber auch in der theologischen Literatur und im Kirchenrecht bewanderter Gelehrter. Schon zu dieser Zeit vertrat er einen hohen moralischen Anspruch, den er mit scharfer Kritik am zeitgenössischen Klerus verknüpfte. Seine Prädestinationslehre und sein Kirchenverständnis, die er später weiter ausarbeitete, zeichneten sich bereits deutlich ab.
Hilsch, Johannes Hus, 71; das exakte Datum 19. Oktober 1405 nach Kalivoda/Kolesnyk; vgl. Soukup, Jan Hus, 63 f.
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Ein Sermon des Magisters Johannes Hus, gehalten auf der Synode am Hof des Prager Erzbischofs im Jahr 1405 über das vornehmste Gebot im Gesetz: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.2 Indem ich mich in allem als fehlerhaft erachte, schrecke ich davor zurück, die Worte des Gesetzes des Herrn, durch die die Gnade des Heiligen Geistes die Herzen der Gläubigen mit ihrem Licht aus freiem Ratschluss erleuchten könnte, mit beflecktem Munde auszusprechen, weil Gott zum Sünder spricht: Warum verkündigst du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund? ,3 und weil nichts Gesundes an meinem Fleisch ist und kein Friede in meinen Gebeinen angesichts meiner Sünden, denn meine Sünden gehen ja über mein Haupt, und wie eine schwere Last erdrücken sie mich, und meine Wunden stinken und eitern um meiner Torheit willen ,4 ja es haben mich Übel umringt, die ohne Zahl sind 5: Was also soll ich tun? Gewiss werde ich mit dem blutenden Mann des Blutes sprechen, doch als der unendlich Beklagenswertere werde ich sagen: Herr Gott, verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir. Tröste mich wieder mit deiner Hilfe, und mit dem Geist deiner Führung, d. h. mit dem Heiligen Geist, der mit dir ein einziger Gott ist, rüste mich aus. Ich will die Übertreter deine Wege lehren, dass sich die Sünder zu dir bekehren.6 Gib also Kraft, Gott, durch deinen Geist, ohne den die Reden nutzlos sind und die Herzen dürre bleiben. Wenn aber dein milder Geist zugegen ist und die Herzen befruchtet, so erfüllt er sie mit Erkenntnis und reinigt sie von Sünden. Wer sonst reinigt die Herzen der Demütigen, wenn nicht der siebengestaltige Geist? Wer belehrt die Herzen der Einfältigen, wenn nicht der, den der eingeborene Sohn des Vaters gesendet hat, dass er die einfältigen Fischer die ganze notwendige Wahrheit der Kirche lehren sollte? So sagt der eingeborene Sohn Gottes selbst: Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten .7 Von diesem Geist spricht der selige Papst Gregor in der Pfingsthomilie über jenen Satz in Joh 14: Aber der Tröstergeist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren 8: Ich will, spricht der selige Papst Gregor, die Augen des Glaubens in der Kraft dieses Heiligen Geistes erheben und die Väter des Neuen und Alten Bundes einzeln betrachten. Wohlan, mit diesen geöffneten Glaubensaugen betrachte ich David, Amos, Daniel, Petrus, Paulus und Matthäus 2 8
Mt 22,37. Joh 14,26.
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Ps 50,16.
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Vgl. Ps 38,4–6.
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Ps 40,13.
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Ps 51,13–15.
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Joh 16,13.
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und will dabei ermessen, welch ein Künstler dieser Heilige Geist doch ist. Indes versage ich in meiner Betrachtung; denn er erfüllt einen jungen Zitherspieler und macht ihn zum Psalmisten; er erfüllt einen Rinderhirten, der Sykomorenfrüchte pflückt, und macht ihn zum Propheten; er erfüllt einen züchtigen Jüngling und macht ihn zum Richter über Greise; er erfüllt einen Fischer und macht ihn zum Haupt der Kirche; er erfüllt einen Glaubensverfolger und macht ihn zum Lehrer der Heiden; er erfüllt einen Zöllner und macht ihn zum Evangelisten. Welch ein Künstler ist dieser Geist, keine Zeit braucht er zum Lernen. In allem, was er will, belehrt er, kaum dass er jemanden anrührt, und sein bloßes Anrühren ist Belehrung. Denn sobald er den menschlichen Geist erleuchtet, verwandelt er, hebt sofort auf, was gewesen, bringt sofort hervor, was nicht dagewesen ist.9 So der heilige Gregor. Wenn also jener Geist des Herrn so unmittelbar die Herzen rein macht, die Irrenden zurückruft und die Einfältigen plötzlich erleuchtet, dass sie seiner Gabe teilhaftig werden: so bleibt mir noch, dass ich, abgestumpft, wie ich bin, durch den Nebel der Sünde und umgeben von sämtlichen Nöten der Unkenntnis, mit euch gemeinsam in Einigkeit ebendieses Geistes der heiligsten Dreifaltigkeit Hilfe anrufe durch den Vermittler, Jesus Christus, den Herrn, der da ist der Weg und die Wahrheit und das Leben.10 Der Weg, der wegführt von Sündhaftigkeit, die Wahrheit, die zum Werk anleitet, und das Leben, das lebendig macht durch Gnade. Darum, mit Vertrauen auf Gott, wollen wir durch Christus Gott Vater in Demut bitten, dass er Kraft geben möge, Gott den Sohn, dass er Weisheit geben möge, und Gott den Heiligen Geist, dass er mir sein Wohlwollen verleihen möge, nutzbringend zu reden, und euch, ihr Lieben, in fruchtbringender Weise sein Wort zu hören, mit Beistand der glorreichen Jungfrau, der Mutter des Herrn Jesu Christi. Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. So steht es geschrieben bei Matthäus im 22. Kapitel, und so wird es im Gottesdienst dieses Sonntags gesungen. Da niemand einen anderen Grund legen kann außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus,11 wie der Apostel in 1Kor 3 bezeugt, so ist deutlich, dass das geistliche Haus der Kirche als festen Grund den Glauben an Christus hat, als Wände die Hoffnung auf das Leben, als festes Dach die Liebe. Auf diesen Felsen, der ein Fundament ist, wie niemand ein festeres legen kann, ist die Kirche Jesu Christi gegründet. Die Hoffnung aber ist aufgerichtet entsprechend den vier Wänden, hofGregor d. Gr., Homiliae in Evangelia 30 (PL 76,1225 C–1226 A). 3,11.
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fend, dass alles vergangene Übel kraft des Leidens Christi den Heiligen zum Ruhm werden wird, alles, was sein wird, im Segen kraft der Kindschaft Christi den Heiligen zur Seligkeit dienen wird, alles, was über dem Menschen steht, ihm zum Nutzen verliehen, alles, was unter den Menschen steht, zum glücklichen Gebrauch gegeben wird. Daraus erwächst die Liebe, die das geistliche Gebäude deckt und die Vollkommenheit der Kirche Jesu Christi vollendet. An diesem Bau soll jeder Katholik mitwirken, besonders aber soll der Klerus sich dem Bau mit Sorgfalt widmen und an der Zerstörung seines Gegenteils eifrig arbeiten. Ein derartiger Bau besteht nicht in dem beständigen Erwerb weltlicher Güter, wie habgierige und ehrgeizige Geistliche meinen, sondern in der Anhäufung von Tugenden nach dem Vorbild des Herrn Jesu Christi. Im gleichen Verhältnis, wie die Kirche mit Tugenden geschmückt wird, wird sie Christo zu Gefallen erbaut, und umgekehrt. Damit aber nicht herumgedeutelt wird, von welcher Kirche hier die Rede ist, muss man um der Deutlichkeit willen wissen: Die Kirche ist in einer ersten Hinsicht das gegenständliche Gebäude, das vornehmlich Gott geweiht ist und bestimmt für die Menge der Menschen, dass sie darin ihren Gott preisen, wie der Apostel 1Kor 11 sagt: Habt ihr aber nicht Häuser, da ihr essen und trinken könnt? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes, das heißt, indem ihr schändlich darin schlemmt? 12 Solcher Kirchen gibt es viele Arten. Man unterscheidet die Metropolitankirche, die Kathedralkirche, die Parochialkirche, das Oratorium oder die Kapelle. In zweiter Hinsicht wird „Kirche“ durch Namensübertragung gebraucht für diejenigen, die drinnen sind – seien es nun die geistlichen Diener, die man die ruhmvollen Männer der Kirche nennt, oder die Gläubigen allgemein, Laien und Kleriker. Und solcher Kirchen gibt es so viele, wie es Gemeinden von Gläubigen gibt. So nennt man die eine die römische Kirche, worunter der Papst mit den Kardinälen verstanden wird, wenn sie durch die Tür eintreten13 und es dem Herrn Christus in den Tugenden gleichtun. Eine andere heißt Prager Kirche, worunter der Herr Erzbischof und der hohe Klerus verstanden werden, wenn sie durch die Tür eintreten, die Sakramente Christi spenden und ihm, dem Seelenhirten, auch in Demut, Armut, Keuschheit, Barmherzigkeit und Geduld nachfolgen. Wenn aber die beiden oben genannten Versammlungen in den genannten Dingen abweichen, dann sind sie 12 1Kor 11,22. 13 D. h. die rechtmäßig ins Amt kommen, sich nicht einschleichen; im Hintergrund dieser Formulierung steht Joh 10,1.
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nach dem Zeugnis der Wahrheit Diebe und Räuber.14 Und folglich sind sie Kirchen des Antichrist. In dritter Hinsicht ist Kirche die Gesamtheit der Erwählten, und diese wird der mystische Leib Christi, Braut Christi und Himmelreich genannt. Und so spricht der Apostel Eph 5: Ihr Männer, sagt er, liebet eure Weiber, gleichwie Christus auch geliebt hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben.15 [...] So aber wird die genannte Kirche unterteilt, dass ein erster Teil die triumphierende Kirche ist, das ist die Menge der Erwählten, die im Vaterlande herrschen.16 Sie wird die triumphierende genannt, weil sie über die Laster Satans triumphiert hat. Der zweite Teil unserer heiligen Mutter Kirche ist die streitende Kirche, das ist die Schar der Erwählten, die auf dem Wege sind.17 Sie wird die streitende genannt, weil sie gegen das Fleisch, die Welt und den Teufel den Kriegsdienst Christi ausübt. Und die Lenker dieser Kirche sind die vom Heiligen Geist erwählten Bischöfe, die der Apostel Apg 20 mit den Worten ermahnt: So habt nun Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, unter welche euch der Heilige Geist gesetzt hat zu Bischöfen, zu weiden die Gemeinde Gottes, welche er durch sein eigen Blut erworben hat.18 Der dritte Teil der heiligen Mutter Kirche ist die schlafende Kirche, das ist die Menge der Erwählten, die im Fegefeuer schlafen. Sie wird aber schlafend genannt, weil sie sich dort nicht im Zustand des Erwerbens der Seligkeit befindet. Es setzt sich aber die heilige Mutter Kirche zusammen aus drei Teilen, von denen der erste, der allgemeine und unterste, das Volk ist, das von erlaubter Arbeit lebt; und dieser Teil ist in Sicherheit, wenn er Gottes Gebote hält und treulich seiner Arbeit nachgeht. Der zweite Teil der Kirche sind die weltlichen Herren; und dieser Teil, wenn er sich seinem Amt widmet, ist besser, aber mehr in Gefahr. Sein Amt ist es aber, das Gesetz Gottes zu verteidigen, die Diener Christi zu schützen und die Anhänger des Antichrist zu vertreiben. Dies ist nämlich der Grund, warum sie das Schwert tragen, wie der Apostel Röm 13 sagt.19 Und nach Augustinus ist der König ein Stellvertreter der Gottheit .20 Dieser Stand ist aber in dreifacher Hinsicht gefahrvoll, weil er dazu neigt, von HochVgl. Joh 10,1 und 8. 15 Eph 5,25. Im Text folgen drei weitere Belege, einer aus Augustinus, De doctrina christiana, und zwei aus den Dekretalen. 16 D. h. die Erwählten, die schon gestorben sind und jetzt im Himmel herrschen. 17 D. h. die Erwählten, die noch am Leben sind. 18 Apg 20,28. 19 Vgl. Röm 13,4. 20 So die Formulierung in der einst Wyclif zugeschriebenen Schrift The Lanterne of Light (5,34, 11 ff.), mit Verweis auf (Ps.-)Augustinus, Quaestiones veteris et novi testamenti, cap. 35, wo indes vom König als Ebenbild Gottes die Rede ist (PL 35, 2234); das Stichwort vom rex als vicarius dei fällt später (cap. 91; PL 35,2284). 14
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mut überwältigt zu werden, von weltlicher Begierde und von entnervender körperlicher Lust. Der dritte und beste Teil der Kirche ist der Klerus, wenn er in wirksamer Weise dem Amt vorsteht, das ihm obliegt. Er soll nämlich die Welt verlassen, die Kirche beleben wie der Geist und allenthalben möglichst streng Christus nachfolgen. Wenn er aber abfällt, so ist keiner schlimmer und finstrer, ja dann ist er wahrlich der Antichrist selbst, denn je höher die Stufe oder der Stand, desto schwerer der Fall, wie bekannt ist von Luzifer und von den Priestern, die den Herrn gekreuzigt haben, und von Judas. Wie nämlich Moses und Aaron als die ersten Priester des Alten Bundes die besten waren und die weiteren zu den schlechtesten herabsanken, wie das Ende ihrer Reihenfolge zeigt, so waren im Neuen Bund Christus und seine Apostel die besten Priester, aber absteigend von der ersten Zeit an. Und indem sie von der Nachahmung Christi zur Weltlichkeit abgestiegen sind, sind sie die schlechtesten zur Zeit des Antichrist. Da nämlich Christus Mt 16 spricht: Wenn mir jemand nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir,21 und der Apostel Eph 5 sagt: So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder ,22 darum müssen die Christen in der Tat Christus als ihren Herrn nachahmen und beide Teile des Gesetzes halten, denn sonst wären sie entartet, würden nicht für Söhne Christi, sondern für Söhne des Antichrist, nicht für Söhne Gottes, sondern des Teufels gehalten, wie Christus Joh 8 bezeugt: Ihr habt den Teufel zum Vater.23 Darin aber, dass die Menschen Christus im Wandel nicht nachahmen, besteht jede Übertretung der auf dem Wege Befindlichen, wie der selige Augustinus in der Schrift Von der wahren Religion sagt, wonach keine Sünde begangen werden kann, außer es wird erstrebt, was Christus verachtete, oder gemieden, was Christus ertrug.24 Daraus folgt, dass alle Menschen, die nach Christus gezeugt wurden, bei Strafe der ewigen Verdammnis Christus nachfolgen müssen. Und weil der Adel eines tugendhaften Geistes sich am Schweren erweist, deshalb werden wir ermahnt, gleichsam als die liebsten Kinder, Christus zu folgen nach dem oben angeführten Apostelwort: So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder .25 Darin begreift der Apostel drei Stufen von Gotteskindern und somit von Kindern des Herrn Jesus Christus. Die erste Stufe kommt den gerechten Untertanen zu, er nennt sie Gottes liebe Kinder; die zweite Stufe geziemt den gerechten weltlichen Machthabern, er nennt sie Gottes liebere Kinder; die dritte Stufe entspricht der Geistlichkeit, Mt 16,24. 22 Eph 5,1. 135). 25 Eph 5,1.
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die Christus strenger nachfolgt, er nennt sie Gottes besonders liebe Kinder. Aber wenn in der Nachahmung Christi jene Stufen entarten, dann wird die Reihenfolge der Stufen umgekehrt. Oft nämlich überragt der unterste Stand des Volkes durch hervorragende Tugend die andern. Daher sage ich des Näheren, dass von jeder dieser drei Stufen diejenigen Gottes liebe Kinder sind, die Gottes Gebote halten und ihren Vorgesetzten gehorchen, wie sie sollen. Danach scheint es, als ob die Weltpriester und die zurückgezogenen Ordensgeistlichen, die, vom Geist des Ungehorsams geleitet, die Würde eines Ehrenkaplans und Exemtionsprivilegien anstreben, nicht so liebe Kinder Gottes seien, wenn sie ihren Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten, Prioren und Pröpsten nicht demütig in erlaubten Dingen gehorchen wollen, wie sie es sollen, da sie doch nach dem unzerstörbaren Gesetz des unmittelbaren Stellvertreters Christi, des Apostels Petrus, sich aller menschlichen Ordnung unterordnen müssen um des Herrn willen und einem jeden, der sie dazu auffordert, nach Treu und Glauben Rechenschaft ablegen müssen. Denn 1Petr 2 sagt der unmittelbare Stellvertreter Christi: Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen .26 Daraus folgt, dass dies Gottes Wille ist. Und weil sie sich ihren Oberen nicht so im Gehorsam unterwerfen wollen, wie sie es ihnen versprochen haben, sondern sich davon ausnehmen, so sind sie dem Willen Gottes offenbar entgegen und somit nicht Gottes liebe Kinder. Denn liebere Kinder Gottes sind die, die aus Achtung vor Gottes Geboten und manchem Rat sowohl den Oberen als auch den Gleichgestellten gehorchen, wie sie sollen. Die liebsten aber sind die, die Gottes Gebote und alle seine Ratschläge befolgen und den Oberen und Gleichstehenden und Untergebenen gehorsam sind, wie sie es sollen. So waren Christus, der Täufer und die ersten Apostel Christi Gottes liebste Kinder, die das ganze Gesetz erfüllten, wie Gottes liebster Sohn Mt 3 sagt mit den Worten: Also gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.27 Und in dem Bestreben, jeden Menschen zum Einhalten der Gebote und zur Gotteskindschaft zu führen, sprach er: Du sollst Gott, den Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt 28 – was unser Thema war. Und weil viele, durch Satans List verführt, indem sie Gott abwerfen, behaupten, Gott zu lieben, muss man bemerken, um die verführerische Lüge des Teufels zunichte zu machen, dass Gott zu lieben bedeutet, in rechter Weise Gott wohlzuwollen. Doch da dies eine verdienstliche Handlung des auf dem Wege befindlichen Menschen ist, so ist 26
1Petr 2,13.
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Mt 3,15.
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deutlich, dass sie nur einem Menschen zuteil werden kann, der in Christus bleibt und in dem Christus bleibt aus Gnade. Und darum spricht in Joh 15 Christus selbst: Bleibt in mir und ich in euch ,29 und gibt als Beispiel: Gleichwie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, sie bliebe denn am Weinstock, so auch nicht ihr (höre heraus: „[...] verdienstliche Frucht bringen könnt und in rechter Weise Gott wohlwollen“), ihr bleibet denn in mir durch die Anhänglichkeit der Liebe. Wie daher ein schlechter Mensch nicht in rechter Weise Gutes sagen kann, so kann er nicht in rechter Weise Gott wohlwollen, denn das gleiche Gesetz gilt für beide. Und den ersten Fall führt der Heiland Mt 12 mit den Worten an: Wie könnt ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid?,30 als wollte er sagen: gar nicht. Und da nach Ansicht der heiligen Väter dieses Wort nicht sinnvoller verstanden werden kann, als dass die Bösen nicht in rechter Weise Gutes reden können (so wie ein fauler Baum nicht gute Frucht bringen kann31), so ist der Vordersatz klar. Daraus folgt, dass ein Mensch dann in rechter Weise Gott wohlgesonnen ist, wenn er recht lebt; recht zu leben aber heißt für einen Menschen, Gottes Gebote zu halten. Daraus folgt weiter, dass es nicht möglich ist, dass ein Mensch in der Liebe Gottes oder in der Gnade sei, wenn er nicht zu gleicher Zeit seine Gebote hält und folglich seinem Gott nach Gebühr dient. Dies nämlich geht ineinander über: dass ein Geschöpf Gott liebt und seine Gebote hält. Denn Joh 14 spricht Christus Jesus: Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote,32 als ob er sagt: Wenn ihr das tut, so folgt daraus, dass ihr mich liebt. Daher setzt er im Folgenden hinzu, was näher beschrieben Gott zu lieben bedeutet: Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt.33 Und derjenige, der aus derselben Quelle geschöpft hat, ist jener Johannes, der beim Mahl an der Brust des Herrn lag und 1Joh 2 spricht: Wer da sagt, er kenne ihn, das heißt in verdienstlicher Weise, und liebe ihn also, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist keine Wahrheit .34 Es ist also klar, dass ein Geschöpf unmöglich Gott liebt, wenn es nicht zeitlebens seine Gebote hält; denn es ist unmöglich, dass eine Kreatur vernünftig ist, ohne dass Gott ihr Gebote gegeben hat, und es ist unmöglich, ein Gebot gebührend zu halten, wenn nicht die einzelnen Gebote insgesamt gehalten werden, da im 2. Kapitel des Jakobusbriefs gesagt wird: Denn so jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig.35 Wer also das erste und größte Gebot hält, das ist: Gott lieben, der hält die Gebote. Daraus folgt 29 35
Joh 15,4. Jak 2,10.
30
Mt 12,34.
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Vgl. Mt 7,18.
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Joh 14,15.
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Joh 14,21.
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1Joh 2,4.
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Synodalpredigt über Mt 22,37
umgekehrt: Wenn jemand seine Gebote hält, so liebt er ihn. Das wird Joh 15 deutlich, wo Christus sagt: So ihr meine Gebote haltet, so bleibet ihr in meiner Liebe,36 und wiederum: Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete.37 Und 1Joh 2: Daran merken wir, dass wir ihn kennen, nämlich im Glauben, der durch Liebe geformt ist, so wir seine Gebote halten.38 Und weiter: Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen.39 Und 1Joh 3: Wer seine Gebote hält, in dem bleibt Gott und er in ihm.40 Und 1Joh 5: Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten.41 Aus diesen Worten des Heilands und des Evangelisten ergibt sich deutlich, dass niemand, der sich im Stand der Todsünde befindet, zugleich seinen Gott liebt. Und weiter folgt daraus, dass jeder Geistliche, der Unzucht treibt oder direkt im Konkubinat lebt oder durch irgendeine Todsünde entstellt ist, Gott hasst. Wenn er aber sagt: „Ich liebe Gott“, so ist er ein Lügner und keine Wahrheit in ihm; denn in diesem Fall ist er ein Sohn des Teufels und stammt vom Teufel ab. Dieser Schluss ergibt sich aus jenem Wort in 1Joh 3: Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt bei ihm; und er kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren.42 Daran zeigen sich die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels, dass die Kinder Gottes keine Todsünden begehen und so auch nicht Unzucht treiben, die Kinder des Teufels aber Unzucht treiben und in allerlei Verbrechen geraten. Und weiter ergibt sich, dass Kleriker, die offen im Konkubinat leben, offenbare Teufel sind, und die verborgen vor dem Blick der Menschen huren, sind versteckte Teufel und Zerstörer der Kirche Jesu Christi. Wenn aber ein Lüstling aus der häretischen Schar der Hurer hervortritt und einwirft, dass die einfache Unzucht keine Todsünde sei, so werde gegen den schleichenden Lüstling das Schwert des Wortes Gottes gezückt, um den Kopf dieses schändlichen Vergehens bei dem Lüstling abzuschlagen. Denn der Heiland sagt Mt 5: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen .43 Dort sagt also der Beste der Lehrer, um auch die entfernteste Gelegenheit zu dieser Sünde auszuschließen, nicht: Wer ein Weib begehrt, sondern: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Und der unzüchtige Joh 15,10. 37 Joh 15,14. 3,8 f. 43 Mt 5,27 f.
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1Joh 2,3.
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1Joh 2,5.
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1Joh 3,14.
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1Joh 5,3.
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1Joh
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„Du sollst Gott, den Herrn, lieben“
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Lüstling hat keine Entschuldigung, dass der Herr damit ein Weib, das eines anderen Frau ist, gemeint hat. Denn Gal 5 unterscheidet derselbe Herr Jesus durch den Apostel die Hurerei vom Ehebruch, indem er sagt: Offenbar sind aber die Werke des Fleisches, als da sind: Ehebruch, Hurerei [...] 44. Und er zeigt, dass es Todsünde ist, weil es des Himmelreiches beraubt, indem er hinzufügt: Die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben.45 Und 1Kor 6 sagt er: Lasset euch nicht verführen. Weder die Hurer noch die Abgöttischen noch die Ehebrecher noch die Knabenschänder noch die Diebe noch die Geizigen noch die Trunkenbolde noch die Lästerer noch die Räuber werden das Reich Gottes ererben .46 Aber weil die Hurerei treibenden Geistlichen das Reich Gottes gering achten, will der Apostel ihre Üppigkeit bändigen und befiehlt, sie von der Gemeinschaft der Kirche Christi auszustoßen, wie bekannt ist von dem Hurer in 1Kor 5; dort befiehlt er den im Namen des Herrn Jesu Christi Versammelten, in ebendemselben Geiste den Unzüchtigen zu übergeben dem Satan zum Verderben des Fleisches, auf dass der Geist selig werde, am Tage des Herrn Jesu Christi.47 Und später schreibt er vor: So jemand sich lässt einen Bruder nennen unter euch und ist ein Hurer oder ein Geiziger oder ein Abgöttischer oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber, mit dem sollt ihr auch nicht essen.48 Und darauf gestützt, verfügt die Kirche in Distinctio 81: Wenn jemand Presbyter, Diakon oder Subdiakon ist und sich im sündhaften Stand der Unzucht befindet, dem verbieten wir im Namen des allmächtigen Gottes und kraft der Machtbefugnis des heiligen Petrus das Betreten der Kirche solange, bis er gebüßt und sich gebessert hat. Die aber lieber im Sündenstand bleiben, soll keiner hören, denn ihr Segen verwandelt sich in Fluch und ihr Gebot in Sünde, wie Gott bezeugt durch den Propheten: „Fluchen will ich“, sagt er, „über eure Segnungen“ 49. Die aber diesem heilsamen Gebot nicht folgen wollen, fallen in die Sünde des Götzendienstes.50 Und die Sündenstrafe erschwerend erklärt die Kirche in derselben Distinctio: Wenn ein Bischof oder Diakon, nachdem er die Weihen des Diakonats erhalten hat, Unzucht oder Ehebruch treibt, soll er abgesetzt werden und, aus der Kirche ausgeschlossen, unter den Laien Buße tun.51 Seht, so schwer ist die Strafe für unzüchtige Kleriker, aber noch schwerer nach den Worten des Apostels, weil sie das Himmelreich nicht besitzen werden, und sie wird noch verschärft in Offb 21, wo der, der auf dem Thron sitzt, d. h. Jesus Christus, sagt: Der Hurer […] Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.52 44 50
Gal 5,19. 45 Gal 5,21. 46 1Kor 6,9 f. 47 1Kor 5,4 f. 48 1Kor 5,11. Decr. Grat. I dist. 81 c. 15. 51 A. a. O., c. 13. 52 Offb 21,8.
49
Mal 2,2.
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Synodalpredigt über Mt 22,37
Und es ist offenbar, dass des unzüchtigen Klerikers Strafe eine vierfache ist: Die erste ist die Trennung von Christus, somit von der ganzen allerheiligsten Dreiheit, und von der Kirche. Die zweite ist das verdiente Verbot, den Gottesdienst auszuüben, die dritte die Entziehung des Himmelreichs, die vierte die Auferlegung der ewigen Strafe im Feuer, das mit Schwefel brennt. Wenn du, Kleriker, diesen Strafen entgehen willst, so fliehe die Unkeuschheit sowohl des Leibes als auch der Seele, denn nur so liebst du Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (was unser Thema war). Da gesagt ist, dass der Klerus der beste Teil der Kirche ist, wenn er wirksam dem Amte vorsteht, das ihm obliegt, muss er das erste und größte Gebot des göttlichen Gesetzes in stärkerem Maße erfüllen als die anderen Teile der Kirche. Denn vornehmlich ihm, dem Gesetzeslehrer, wird, wenn er Gott fragt, was das größte Gebot des Gesetzes sei, vor allen andern zur Antwort gegeben: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt . Das ist, spricht der Gesetzgeber Christus Jesus, das erste und größte Gebot: das erste, weil alle Lehre (was immer der Mensch auch erlernt), wenn sie dies übergeht, nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich ist; und das kostbarste, da seine Einhaltung ausschließt, auf dem Weg zu ermatten, da denen, die Gott lieben wie seine Kinder, alle Dinge zum Besten dienen.53 Da das also das erste und höchste Gebot ist, sollst du also zuerst und am stärksten Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Denn das ist das erste, größte, beste, natürlichste, ursprünglichste, leichteste, kürzeste und nützlichste Gebot: Von dem fällt jeder Todsünder ab, da jeder Rückfall eines Christen in die Sünde allgemein als Abfall angesehen wird, so wie Jesus Sirach Kapitel 19 sagt: Wein und Weiber betören den Weisen.54 Daher werden im Kanon alle, die freiwillig das Gesetz übertreten und es verletzen, Abtrünnige genannt.55 Da nun jeder, der Todsünden begeht, gegen das ganze Gesetz verstößt, so folgt, dass jeder Todsünder vom Christentum abfällt. Er ist nämlich ungehorsam und widerspenstig, zusammen mit dem ersten der Engel, dem Abtrünnigen, gegenüber seinem Haupt und Herrn Jesus Christus. Dafür gibt es eine Bestätigung des seligen Augustinus in Vom Leben und Wandel der Kleriker , 2. Predigt.56 Ein Geistlicher , sagt er, hat zwei Dinge gelobt: Heiligkeit und Gemeinschaftsleben; wenn er aus dieser Gemeinschaft zur Hälfte gefallen ist, ist er auch selbst zu Fall gekommen, folglich noch Vgl. Röm 8,28. 54 Sir 19,2. 55 Decr. Grat. II C. 3 q. 4 c. 2. De vita et moribus clericorum c. 6 (PL 39,1573).
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Augustinus, Sermo 355
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viel mehr, wenn er aus der Heiligkeit durch Begehung von Todsünden gefallen ist. Und wer diesem obersten Gebot, dem besten Gesetz Christi: Du sollst deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, zuwiderhandelt, der muss für nichtswürdiger als ein Abtrünniger gehalten werden. Darum, ihr Kleriker, wollen wir uns selbst prüfen, ob wir vom Gesetz Christi abtrünnig geworden sind, die wir nicht nur mit einer Sünde geschlagen, sondern über den ersten Abtrünnigen hinaus in fleischlichen Sünden gefangen sind. Denn nach der Prophezeiung des Heilands in Mt 24 nimmt jetzt die Ungerechtigkeit überhand, weil in uns die Liebe erkaltet ist.57 Erkaltet ist nämlich die Kirche, die in den Aposteln und Märtyrern sehr feurig und heiß gewesen ist, weil diese, vom Heiligen Geist erfüllt, sich selbst geringachteten und die geistlichen Dinge den weltlichen voranstellten, indem sie sagten: Es ist nicht angemessen, dass wir das Wort Gottes versäumen und zu Tische dienen.58 So glühte auch der Apostel, der sagte: Ich suche nicht das Eure, sondern euch .59 Später aber, als die Kirche mit Reichtümern geradezu überhäuft wurde, begann bei den Klerikern die Gottesliebe abzuflauen und die Begehrlichkeit zu entbrennen, und dann zogen sie die weltlichen Dinge den geistlichen vor, als wollten sie jenes heilsame Wort des Herrn in Mt 6 widerlegen: Ist nicht das Leben mehr denn die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung? 60 Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen .61 Zu unseren Zeiten aber ist die Liebe zu Gott und dem Nächsten traurigerweise so sehr erkaltet, dass es fast keine Sorge für die geistlichen Belange mehr gibt, weil unser ganzes Streben und Interesse im Unrat der Welt versunken ist. Denn nach dem Wort des Apostels in Phil 2 gilt: Denn sie suchen alle das Ihre, nicht das Jesu Christi.62 Davon bewegt, sagt der selige Bernhard zu Papst Eugen: Über die Preise der Lebensmittel und ihre unzureichende Menge wird täglich mit den Dienern geredet. Ganz selten hingegen wird mit den Priestern eine Unterhaltung über die Sünden der Menge geführt; wenn ein Esel fällt, so ist jemand da, der ihn aufrichtet, wenn eine Seele verlorengeht, ist niemand da, der sich darum kümmert.63 Und Chrysostomus sagt: Wenn das Volk keine Abgaben bringt, so schelten alle; wenn es aber gegen Gottes Vgl. Mt 24,12. 58 Apg 6,2. 59 2Kor 12,14. 60 Mt 6,25. 61 Mt 6,33. 62 Phil 2,21. Bernhard von Clairvaux, De consideratione libri quinque ad Eugenium Tertium 4,20 (PL 182,786B). 64 Hus zitiert hier den in seiner Zeit fälschlich Johannes Chrysostomus zugeschriebenen, frühchristlichen Kommentar zum Matthäusevangelium: Opus Imperfectum in Matthaeum, hom. 44 (PG 56,884).
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Synodalpredigt über Mt 22,37
Gebote verstößt, so schilt niemand mit ihm .64 Der Grund dafür: Sie dienen mehr dem Mammon aus Habgier als dem Herrn Christus, um die Seligkeit zu gewinnen. Denn sie geizen allesamt, klein und groß.65 Denn, welch ein Kummer, die Weltpriester täuschen Armut vor und ziehen dabei ihre Untergebenen aus durch Kollekten. Und, was noch verwerflicher ist, die Kirchenfürsten, wie Päpste, Erzbischöfe, Bischöfe, Erzdiakone, Äbte, Pröpste, Kanoniker und deren Anhang, treiben, um dem Mangel zu entgehen, auf teuflische Weise Unterstützungen ein nach ihrem eigenen schandbaren Gutdünken, da doch weder göttliches noch menschliches Recht dazu verpflichtet, wenn eine schimpfliche, schwelgerische Verschwendung des Eigentums Christi dabei vor sich geht. Wo, frage ich, gibt es das göttliche Gesetz, dass ein solcher Kirchenvorsteher sein Volk besteuern soll? Vielmehr beraubt er unverdientermaßen das Volk Gottes, das er unter Strafe der Verdammnis verteidigen soll, anstatt es zu verteidigen, indem er es wie ein Folterknecht mit Strafen und Gericht einschüchtert. Aber der Herr ruft durch Micha: Höret doch, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Fürsten im Hause Israel! Ihr solltet es billig sein, die das Recht kennen, aber ihr hasst das Gute und liebt das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Gebeinen und fresst das Fleisch meines Volkes; und wenn ihr ihnen die Haut abgezogen habt, zerbrecht ihr ihnen auch die Gebeine und zerlegt es wie in einen Topf und wie Fleisch in einen Kessel.66 Als Strafe für diese Tat setzt der Prophet hinzu: Darum, wenn ihr nun zum Herrn schreien werdet, wird er euch nicht erhören, sondern wird sein Angesicht vor euch verbergen zur selben Zeit, wie ihr mit eurem bösen Treiben verdient habt.67 Zweitens betteln aufgrund ihrer Habsucht bei Päpsten, Bischöfen und weltlichen Herren die Körperschaften gerade der fettesten Sprengel, indem sie zuhauf die größte Armut ihres Kollegiums vortäuschen – eine Unsitte, die ihrer „frommen“ Habgier entsprungen ist (wie viele Pharisäer oder Mönche hat sie nicht schon zugrunde gerichtet, die, natürlicherweise getrennt von der Welt, nun rückwärts, wie der Krebs aus der Höhle, zurück in die Welt kriechen!) und die nicht nur Gott bekannt, sondern infolge der endlosen hasserfüllten Konflikte von seiten ihrer Konvente sowie durch die allenthalben bekannten Skandalgeschichten auch schon beim einfachen Volk zur Genüge publik ist. Drittens aber, und das ist das Allerverwerflichste, verfassen die grundbesitzenden Ordensgeistlichen, die vom Volk die Reichen oder 65
Jer 6,13.
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Mi 3,1–3.
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Mi 3,4.
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die Fetten des Herrn genannt werden, nämlich die Mönche, aufgrund ihrer Habsucht „Bruderschaftsbriefe“, in denen sie ihre guten Werke übertreiben, entgegen jenem Wort des Erlösers in Lk 17: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte.68 Diese Briefe aber geben sie nur den Reichen und machen diese zu Teilhabern ihrer guten Werke, damit sie, für ihren Konvent gewonnen, ihnen die Bäuche und roten Backen füttern, die Geldbeutel füllen und ihren Grundbesitz mehren. Und viertens fehlt nur noch der Mittagsdämon69, dass nämlich Almosensammler oder Ablassverkäufer und Bettler in großer Zahl durch großartige Feste, Wunderzeichen, Bruderschaften, Lug und Trug, bald mit Erlass, bald heimlich, das ganze einfache Volk durch ihre Bettelei ausziehen und die ganze Kirche Christi in Verwirrung bringen. Und davon sagt der selige Bernhard in der Predigt 21 über das Hohelied, dass jede solche Bettelei zu verwerfen sei,70 die fast in der ganzen Welt, doch besonders im Reich Böhmen, nur lauter geschröpfte Spender zurücklässt. Aber was ist der Grund hierfür, wenn nicht71 üppige Verschwendung bei den einen und habgieriges Festhalten bei den andern unter dem heuchlerischen Deckmantel der Freundschaft zur Kirche Christi? Diese falsche Freundschaft hat der selige Bernhard, jener luzide Denker der Kirche Christi, im Auge, wenn er in der 77. Predigt zum Hohenlied sagt: Nicht alle sind Freunde der Braut,72 die du heute bei dieser Braut stehen siehst; recht wenige sind es, die nicht das Ihre suchen, von all ihren Freiern73: Sie lieben die Hochzeitsgeschenke 74 – doch Christus können nicht die lieben, die ihre Hände dem Mammon gereicht haben. 75 Sieh, wie sie einherschreiten in ihrem Glanz und Prunk, ihren bunten Gewändern 76, nicht wie ein Bräutigam, sondern wie eine Braut, [die] aus ihrem Gemach [tritt]. 77 Aber woher, meinst du, kommt ihnen dieser Überfluss an Gütern, diese Pracht der Kleidung, Üppigkeit der Tafel, Ansammlung von goldenen und silbernen Gefäßen, wenn nicht aus dem Besitztum der Braut? Und so bleibt diese verarmt und mittellos, nackt zurück, ein erbarmungswürdiger Anblick, ungepflegt, strähnig und Lk 17,10. 69 Vgl. Ps 90,6 Vg. iuxta LXX (Ps 91,6 iuxta Hebr.). Das mythische Bild verdankt sich einer verderbten hebr. Lesart, der die Septuaginta folgt und mit ihr die entsprechende Psalter-Version der Vulgata. Vgl. Anm. 50 in Nr. 2. 70 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 21,7. Welche Stelle Hus meint, ist nicht auszumachen. 71 Der Text ist an dieser Stelle offensichtlich verderbt (statt nec [...] et [...] müsste nisi [...] et [...] stehen). 72 Bei Bernhard (PL 183,1155 C) steht sponsi („des Bräutigams“; vgl. Joh 3,29), nicht sponsae. 73 Vgl. Klgl 1,2. 74 Zur Wendung diligunt munera („sie lieben Geschenke“) vgl. Jes 1,23 (Vg.). 75 Vgl. Mt 6,24. 76 Vgl. Ps 45,15. 77 Vgl. Joel 2,16 mit Ps 19,6. 68
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blass. In unserer Zeit also heißt es die Braut nicht schmücken, sondern entblößen, nicht bewachen, sondern verderben, nicht verteidigen, sondern aussetzen, nicht unterweisen, sondern prostituieren, die Herde nicht weiden, sondern schlachten und verschlingen – wie der Herr von 78 ihnen sagt: „die mein Volk verschlingen wie einen Bissen Brot“ .79 Und weiter: Wen gibst du mir aus der Zahl der Vorsteher, der nicht vielmehr darüber wacht, die Beutel seiner Untergebenen zu leeren als ihre Fehler auszurotten? Wo sind die, die mit Gebet den Zorn abbiegen und ein Gott wohlgefälliges Jahr verkünden? Und etwas später: Würden sie nur so wachsam in der Seelsorge erfunden, wie sie eifrig nach einem Bischofssitz rennen, würden sie doch wie sorgsame Hüter über die ihnen anvertraute Braut wachen, nein, würden sie über sich selbst wachen und nicht dulden, dass man von ihnen sage: „Meine Freunde und Verwandten sind gegen mich aufgestanden“ .80 So Bernhard bis hierher.81 Darum, ihr alle, die ihr auf dem Wege des Herrn Jesu Christi in Demut dahinzieht, habt acht 82 auf diese entsetzliche Schandtat, dieses schwere Verbrechen. Die jungfräuliche Braut Christi wird von denen zur schimpflichen Buhlerei preisgegeben, denen sie zur Bewachung anvertraut ist .83 Die Führer der Völker sind heute nicht mit dem Gott Abrahams vereint ,84 sondern haben sich zusammengeschart gegen den Herrn und gegen seinen Gesalbten ,85 der mit lauter Stimme ruft: Ihr alle, die ihr auf dem Wege vorbeizieht, gebt acht und seht, ob es dergleichen noch einmal gibt :86 Ich weine in Windeln,87 der Klerus vergnügt sich in Purpurgewändern; ich werde für ihn meines eigenen Kleides beraubt, er glänzt in königlichem Prunk aus Almosengeldern; ich schwitze Blut im Todeskampf, er genießt das raffinierteste Bad; ich verbringe die Nacht unter Schmähung und Anspeien, er unter Gastmählern, Prassen und Trunkenheit; ich werde, erschöpft unterm Kreuz, zum Tode geführt, er zur Ruhe im Rausch; ich schreie, ans Kreuz genagelt, er schnarcht im weichen Bett; ich gebe aus übergroßer Liebe mein Leben für ihn, er erfüllt nicht einmal das Gebot der Liebe in der gebührenden Weise, wie ich ihm gesagt habe: Du sollst Gott, deinen Herrn, So Bernhard von Clairvaux (dicente de illis); bei Hus liegt offenbar ein Druckfehler vor, denn dicente illis („wie der Herr zu ihnen sagt“) ergibt keinen Sinn, da das Zitat keine Anrede ist. 79 Ps 53 (Ps 52 Vg.), 5. 80 Vgl. Ps 38 (37 Vg. iuxta LXX), 12. 81 Bernhard von Clairvaux, Cant. 77 (PL 183,1155C – 1156C). 82 Vgl. Klgl 1,12. 83 Vgl. schon Jacques de Vitry, Historia occidentalis (cap. 5: De negligentia et peccatis prelatorum), ed. by J. F. Hinnebusch, Fribourg 1972, 85. 84 Vgl. Ps 46,10. 85 Vgl. Apg 4,26 = Ps 2,2. 86 Vgl. Klgl 1,12. 87 Ego vagio in pannis : vgl. Lk 2,12 (pannis involutum „in Windeln gewickelt“). 78
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lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das sind die Worte, die als Thema gewählt worden waren. In diesen Worten zeigt sich erstens des Heilands Macht und Güte, dass er kindlich zu fürchten und zu lieben sei, wenn gesagt wird: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben. Zweitens die Unterweisung des Dieners Gottes und das Ausmaß: nämlich dass Gott geliebt werden soll über alles um der endlichen Erlangung der Seligkeit willen, wenn gesagt wird: von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Ich sagte zuerst, dass im Thema Macht und Güte des Heilands gezeigt werden, dass er kindlich zu fürchten und zu lieben sei. Denn weil er der Herr ist, darum ist er mächtig, und weil er Gott ist, darum ist er gut – da haben wir also die Macht und die Güte. Weil also der Herr mächtig, sogar allmächtig ist, ist er kindlich zu fürchten. Kleriker, fürchte diesen Herrn, zu dir nämlich spricht er: Bin ich Herr, wo fürchtet man mich? 88 Da er aber der Herr ist, denn er ist König aller Könige und Herr aller Herren,89 hat er die Macht der größten Bestrafung, nämlich durch ewiges Feuer. Er sagt: Geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer .90 Und soweit er Gott ist, hat er Kenntnis von allem Bösen, und soweit er der deine ist, ist er dein Sachwalter, und weil er der Herr, dein Gott, ist, hat er überall Gewalt über dich, überall Kenntnis von dir, überall das Recht zu strafen. Mit all dem wäre unvereinbar, dass er nicht straft, wenn du sündigst91. Darum fürchte Gott und halte seine Gebote,92 denn so liebst du den Herrn, deinen Gott. Und da Gott die erhält, die auf ihn hoffen, und die belohnt, die Gutes tun, so hoffe auf ihn und tue Gutes, denn so liebst du den Herrn, deinen Gott. Weil er aber der Herr, dein Gott ist, darum soll er von dir, Kleriker, kindlich geliebt werden. Liebe ihn also, denn dein Herr und Vater ist von großer Güte. Lass dich bewegen von der Güte dieses Vaters und Herrn, denn er verlangt nichts von dir, was nicht förderlich ist; denn in Anbetracht der Größe seiner Herrschaft hat er dich nicht zum Diener, weil er dessen bedarf, sondern zu deinem Nutzen. Und zweitens ist er dein Vater und guter Herr, weil er dir die Belohnung nicht ungebührlich lange vorenthalten kann, sondern damit zuvorkommt, indem er im Voraus mehr gibt, als du in angemessener Weise verdienen kannst. Drittens ist der Herr dein guter Gott, weil er dich gegen alle, die sich dir widersetzen können, verteidigt. Da er also der höchste Herr ist, so bedenke seine Macht, damit kindliche Furcht dich vor dem Bösen zurückhalte. Und weil er Gott ist, so betrachte die Mal 1,6. 89 Offb 19,16. 90 Mt 25,41. 91 Es muss offenbar delinquis heißen, nicht, wie im Text, delinquit (davor und danach steht die 2. Ps. Sg.). 92 Koh 12,13.
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unermessliche Güte Gottes, auf dass reine Liebe dich zum Guten verlocke, denn dann liebst du Gott, deinen Herrn. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass kindliche Gottesfurcht und Gottesliebe die vornehmlichen Maßstäbe sind, die das ganze verdienstliche Leben des Menschen messen, und wenn die Kleriker hiervon ablassen – wie der Prophet in Psalm 13 sagt: Aber sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer 93 –, so zeigt dies, dass äußerst viele vom verdienstlichen Wege der Seligkeit abgewichen sind. Und vor allem muss man mit wachem Auge darauf sehen, ob der Papst, Kardinal, Erzbischof, Bischof, Abt, Diakon, Erzdiakon, Propst, Dekan, Beichtiger oder Pfarrer sein Schaf, vielmehr seine geistliche Tochter, durch Luxus umbringt, ob er sie durch seine eigene Hurerei verdirbt und verschwenderisch aus dem Kirchengut ausstattet, ob er sie mit Gewändern, kostbarer als ein Gemälde, schmückt, ob er sie üppiger nährt als einen Armen Christi, ja als den eigenen Vater oder die eigene Mutter. Wir wollen auch sehen, ob die Pfründeninhaber bei sog. Dispens ihre Jahreseinkünfte verkaufen, ob sie wie Kaiphas Dienste feilbieten und ihre Ablässe viel zu teuer verkaufen, als dass ihnen einfiele, um Gottes willen umsonst weiterzugeben, was sie umsonst empfangen haben. Wir wollen auch sehen, ob die Pfründeninhaber, wie Erzdiakone und andere Vorsteher des Klerus, die ein gutes Leben führen, die Untergebenen gebührend für ihre Sünden strafen, oder, stinkend von eigenen Sünden, sie nicht aufsuchen, um sie zu bessern, sondern Geschenke annehmen und ihnen damit weiterhin erlauben zu sündigen. Weiterhin wollen wir Ausschau halten, ob die Pfarrer für das Offertorium Kaution verlangen, die Armen zwingen zu opfern, indem sie ihnen, wenn sie nichts geben, das Begräbnis gnadenlos verwehren. Tatsächlich würden sie nicht mit Tobias um Gottes willen ihren Nächsten begraben,94 da sie dem Bittenden die fremde Erde verweigern. Sie singen Totenmessen an den Feiertagen der Apostel und anderen Festen, wie auch am Sonntag gegen die Bestimmungen; und indem sie zu vier verschiedenen Zeiten unmittelbar am darauffolgenden Tage mehr als zehn Totenmessen singen, kürzen sie und lassen einiges weg (den Grund dafür kann auch das plumpeste Volk erfassen und darüber lachen); auch verordnen sie zur Verkündigung des Evangeliums Christi nicht nur die reinste Jahrmarktsmusik, es ist ein einziges Heulen, nur um die Ohren des Volkes zu kitzeln, und diese Zügellosigkeit wird von ihnen Gemeindefrömmigkeit95 genannt. Ps 14,3. 94 Vgl. Tob 1,20 f.; 2,7.9 95 Im Original hier ein Wortspiel mit dissolutio (Auflösung, Zügellosigkeit) und devotio (Andacht, Frömmigkeit), eine Anleihe beim 93
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Das bezeugt ihnen der fromme Bernhard, indem er sagt: Sie singen nämlich mehr dem Volk zu Gefallen als Gott. Sie singen nicht im Chor mit Maria, der Schwester Mosis,96 sondern im Palast mit Herodias, auf dass sie Teilnehmern des Gelages und dem Herodes gefallen. Und um uns, sagt er, auf das endlose Feld dieser Possen einzulassen: Woher, frage ich, kommen so viele Orgeln, Zimbeln und solche monströsen Gesänge in der Kirche? Und weiter unten sagt er: Das Volk steht und bewundert mit Staunen die Manieriertheit der Sänger, die dirnenhaften Bewegungen, den Wettstreit der Stimmen, und diese lächerliche Zügellosigkeit wird Religion genannt,97 obwohl es scheint, dass das Volk nicht ins Bethaus, sondern ins Theater gekommen ist; und man hat keine Furcht vor jener schrecklichen Majestät, in deren Nähe man sich befindet, wo jenes allerheiligste Blut im Kelch gehalten wird, der Himmel sich öffnet, die Engel herzutreten und das Himmlische mit dem Irdischen vereinigt wird . So weit Bernhard.98 Wir wollen auch sehen, ob die Pfarrer und gottgeweihten Mönche zu Schankwirten geworden sind. Das mögen die Laien bezeugen, die in ihren Tavernen um ihretwillen auf verschiedene Weise beschäftigt sind. Und was ist es, wenn sie Urlaub erbitten, um ungehinderter in Prag oder anderswo unter dem Vorwand des Studiums ihre unzüchtigen Schandtaten zu begehen? Aber sie sind verdorben und ein Gräuel geworden in ihrem Treiben,99 sagt der Psalmist, und kehren nicht zurück von ihrem Treiben zu einem Leben frei von Sünde; denn Neh 9 wird gesagt: Sie haben sich nicht bekehrt von ihrem bösen Tun ,100 denn sie treiben Wucher, sind Händler, verraten Beichtgeheimnisse, spielen Würfel. Zum Zeitvertreib suchen sie Kirchen auf, sodann entfachen sie Streit, der das Volk verwirrt, sie töten Söhne auf geistliche Art und zeugen sie fleischlich als lebenden Vorwurf, dass sie den Gott geschworenen Bund nicht gehalten haben. Doch um die geistliche Erbauung, die die Seelen rettet, kümmern sie sich nicht. Aber um Abgaben und Reichtümer zu vermehren, von denen ihre Nachkommen ein Wohlleben führen können und noch übermütiger werden, glauben sie am besten zu handeln, wenn sie ihre Untergebenen aus Habgier dazu verleiten, unter Übergehung sogar der eigenen Söhne, Eltern und armen Verfolgenden Zitat, wo dissolutio und religio gegenübergestellt sind (vgl. Anm. 97). 96 Vgl. Ex 15,20. 97 Vgl. Anm. 95. 98 Der Passus ist eine Kompilation aus Aelred von Rievaulx, Speculum charitatis 2,23 (PL 195,571), und Hugo von Fouilloy, De claustro animae 2,21 (PL 176,1080f.), wobei letzterer u. a. Anleihen aus Ps.-Bernardus, Tractatus de interiori domo 28,59 (PL 184,537), enthält; wahrscheinlich greift Hus bereits selbst auf eine entsprechende Kompilation zurück. 99 Ps 14,1. 100 Neh 9,35.
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wandten, für sie, die schon im Überfluss leben, testamentarische Zuwendungen anzuordnen. Sie bestellen sich zahllose Tricesimae101, die sie gar nicht erfüllen; sie machen unerlaubte und betrügerische Tauschgeschäfte mit Pfründen wie mit Pferden, mit Zugaben in bar, und werden deshalb später ewige Pein leiden. Und was sagt man zu den Altaristen, Kaplänen und den schändlichen Mönchen, die, wenn sie schon vieles von dem Gesagten getan haben, von ihrem Vater, dem Teufel, geführt, zu Tanzvergnügungen gehen, während sie doch halbtot die Sünden des Volkes und ihre eignen beweinen sollten? Wahrlich, des seligen Bernhard Wort wird schmerzlich erfüllt: Die Mönche sind zu Besessenen, die Bekehrten zu Verderbten, die Priester zu Sadduzäern, die Kleriker zu Ketzern geworden. Und so wird die Klage Jeremias in Klgl 1 erfüllt: Es ist von der Tochter Zion, das ist der kämpfenden Kirche, aller Schmuck dahin,102 denn zerstreut sind die Steine des Heiligtums, das sind die Priester der Kirche, die den Weg der Eitelkeit gehen. Und in Klgl 4: Die zuvor leckere Speise aßen , das heißt, die sich einst geistlicher Güter erfreuten, verschmachten auf den Gassen, von einer Torheit zur anderen fortschreitend, und die zuvor in Scharlach erzogen sind, das heißt: mit den Gaben des Heiligen Geistes, die müssen jetzt im Schmutz liegen,103 das heißt, sie hängen den weltlichen Dingen an. Und so sind sie, nach dem Psalmisten,104 in Endor untergegangen, zum Unrat der Erde geworden, nämlich verworfen, stinkend und unrein. Endor aber wird als Feuer der Zeugung gedeutet und ist ein Zeichen des Höllenfeuers, das sie sich errichten, auf dass sie darin ohne Ende brennen. Davor aber zurückschreckend sollst du, Kleriker, den Herrn, deinen Gott, lieben, weil in ihm Macht und Güte ist, so dass er kindlich zu fürchten und zu lieben ist. So viel über das Erste. Ich sagte zweitens, dass in den vorangestellten Worten die Unterweisung für den Gottesdiener berührt wird und das Ausmaß, dass Gott über alles geliebt werden soll, zur endlichen Erlangung der Seligkeit, wenn gesagt wird: von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. O, wie gut wird der Schüler Christi vom Lehrer, der alles weiß, bevor es geschieht, unterwiesen, Gott zu lieben, wenn die Art der Liebe zur heiligsten Trinität mit den vorangestellten Worten in Übereinstimmung gebracht wird. Lieben sollst du, sagt der Heiland, der Führer im Glauben und beste Lehrer, von ganzem Herzen, von ganzer D. h. die in einem Zeitraum von dreißig Tagen nach dem Tod oder Begräbnis eines Menschen gegen Bezahlung absolvierten Seelenmessen. 102 Klgl 1,6. 103 Klgl 4,5. 104 Vgl. Ps 83,11. 101
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Seele und von ganzem Gemüt, als wollte er sagen, dass es drei Arten gibt, Gott zu lieben, die den drei ewigen Personen zukommen. Denn weil er Herr ist, Gottvater, sollst du ihn von ganzem Herzen lieben; und weil er Gott ist, der Sohn, sollst du ihn von ganzer Seele lieben; und weil er dein ist, Gott der Heilige Geist, sollst du ihn lieben von ganzem Gemüt. So also sollst du den Herrn, deinen Gott, über alles lieben: Du sollst lieben von ganzem Herzen, also stark, Gottvater um der Macht willen; du sollst lieben von ganzer Seele, also vernünftig, Gott Sohn um der Weisheit willen; und du sollst lieben von ganzem Gemüt, also innig, Gott, den Heiligen Geist, um der Süßigkeit der Liebe willen. Und wiederum sollst du den Herrn lieben von ganzem Herzen, also stark, damit dich der Widersacher nicht überwältige; du sollst Gott lieben von ganzer Seele, also vernünftig, damit dich der Trug des Satans nicht verführe; du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Gemüt, also innig, damit dich die Schmeichelei des Fleisches und der Welt nicht verlocke. Möge dir angenehm werden die Weisheit Christi, auf dass du nicht verleitet werdest vom Geist der Lüge und des Irrtums. Und möge dir die Wahrheit, Christus, leuchten, auf dass du nicht durch Widerwärtigkeiten niedergedrückt werdest, möge dich die Kraft Gottes stärken, dass du nicht von Anfeindungen überwältigt werdest, denn dann liebst du stark, vernünftig und innig den Herrn, deinen Gott, und also den Herrn Jesus Christus; denn wer den nicht so liebt, wie gesagt ist, der ist wahrlich anathema , nach den Worten des Apostels in 1Kor 16: So jemand den Herrn Christus nicht lieb hat, der sei anathema.105 Anathema sagt er, das heißt: exkommuniziert, ausgestoßen, verloren und verdammt. Und aus ihrem Verhalten wird sichtbar, dass viele Kleriker exkommuniziert sind und getrennt vom Herrn Christus, ja sogar verloren, und wenn sie nicht Buße tun, in Ewigkeit verdammt, erstens weil sie den Herrn nicht stark genug lieben, um sich tapfer vor die Herde des Herrn zu stellen nach dem Wort des Herrn in Joh 10: Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.106 Daher werden sie den mächtigen Gott sagen hören: Ihr seid nicht in die Bresche gesprungen und habt euch nicht zu Hürden gemacht um das Haus Israel, um im Streit zu stehen am Tage des Herrn.107 Dazu die Glosse: „In die Bresche springen“ ist: für die Verteidigung der Herde mit freier Stimme den Mächten dieser Welt entgegentreten; „am Tage des Herrn im Kampf stehen“ ist: ungerechten Streitigkeiten aus Gerechtigkeitsliebe Widerstand leisten . Denn für 105
1Kor 16,22.
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einen Hirten ist die Furcht, die Wahrheit zu sagen, nichts anderes, als schweigend den Rücken zu kehren. Zweitens sind die Kleriker anathema, weil sie Gott nicht vernünftig lieben, indem sie töricht handeln. Denn Jer 10 spricht der Geist des Herrn: Die Hirten haben töricht gehandelt und nicht nach dem Herrn gefragt; darum haben sie auch keine Einsicht, und ihre ganze Herde ist zerstreut.108 Töricht, sagt er, haben sie gehandelt, weil sie aus Ehrgeiz sich um die verdienstlichen Früchte der Seligkeit gebracht haben. Töricht haben sie gehandelt, weil sie wegen der Jagd nach Vögeln und Wild das Flehen der Seelen vernachlässigt haben, williger, das für Almosen bestimmte Brot dem Hund als dem Armen zu geben. Töricht haben sie gehandelt, weil sie mehr Hunde als Arme Christi ernährt haben. Sie waren findiger, die Spuren des Hasen aufzusuchen als die schlimme Schuld des Sünders. Ebenso haben sie töricht gehandelt, wenn sie sagten, Gott wisse doch bereits, wer die Seinen sind, und wie wir auch leben, müssten wir selig oder verdammt werden; deshalb haben sie in törichter Verdummung Gott nicht gesucht, weil sie ihn nicht erkannt haben. Töricht haben die Geistlichen gehandelt, weil sie bei der Erlangung von Pfründen Simonie begangen und bei ihrem Verkauf die Sakramente der Giezi und Ischariot gespendet haben.109 Die Ersteren, nämlich die ihr Amt durch Simonie erworben haben, haben töricht gehandelt nach jenem Befehl des seligsten Papstes Gregor (entnommen dem Register und angeführt in Abschnitt 1, Frage 1 [im Decretum Gratiani]), indem sie sich ihm töricht widersetzten: Wenn ein Priester seine Pfarrstelle durch Geld erlangt, so soll er nicht nur die Stelle verlieren, sondern auch der Priesterwürde entkleidet werden, denn es ist keinem Gläubigen unbekannt, dass den Altar und die Zehnten und den Heiligen Geist zu verkaufen oder zu kaufen simonistische Ketzerei ist. Daher wird sich sein Segen in Fluch wandeln, weil er durch seine Beförderung zum Ketzer geworden ist. 110 Und an den zuvor angeführten Stellen111: Wenn jemand durch ungerechte persönliche Gunst oder schäbiges mündliches Bitten oder durch Anhängerschaft oder Dienstleistung oder betrügerisches Geschenk die Würde eines Bischofs oder Priesters nicht zum Heil der Seelen, sondern aus Begier nach eitlem Ruhm erwirbt und diese nicht zu Lebzeiten freiwillig 108 Jer 10,21. 109 Gehasi nach 2Kön 5,20 ff. und Judas Ischariot stehen im übertragenen Sinne für diejenigen, die sich durch unrechte Taten Geld verschafften und dafür bestraft wurden. 110 Gregor VII., von Hus vermutlich zitiert nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 3. Die Zuschreibung dieses Satzes an Papst Gregor VII. ist allerdings zweifelhaft. 111 Gemeint sind Register und Decr. Grat., auf die er bereits beim eben zitierten Passus verwiesen hat.
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aufgibt und ihn der Tod nicht in strenger Buße vorfindet, so wird er zweifellos auf ewig untergehen.112 Das ist der Erben Simons glorreiche Buße. Die Zweiten, die Verkäufer, Kinder des Giezi und Ischariot, haben töricht gehandelt, da sie folgende heilige allgemeine Bestimmung der Kirche verachtet haben, die in Abschnitt 1, Frage 1 zitiert wird: Man sagt (spricht die heilige Synode), dass es an verschiedenen Orten üblich sei, für den Empfang des Chrisma Geld zu geben, oder für die Taufe oder die Kommunion. Dies hat die heilige Synode als simonistische Ketzerei verworfen und unter die Strafe des Banns gestellt und bestimmt, dass weder für die Weihe noch für das Chrisma, die Taufe oder Balsam, auch nicht für Beerdigung oder Kommunion irgendetwas genommen werden dürfe, denn die Gaben, die Christus umsonst gibt, sollen durch kostenlose Austeilung weitergegeben werden .113 Weil aber entgegen dem gesagten, vom Heiligen Geist der Kirche übermittelten Grundsatz sich die Auslegungen des Antichrist einschleichen, einmal mit Arbeit, einmal mit Verpflegung, einmal mit Brauch bemäntelt, antwortet ihnen Papst Innozenz in einem Buch, und es wird nach ihm in Abschnitt 1, Frage 3, letztes Kapitel zitiert: Wenn jemand, sagt er, Pfründen, Priorat, Dekanat oder irgendeine geistliche Beförderung oder irgendein kirchliches Sakrament, zum Beispiel Chrisma oder heiliges Öl oder Altarweihen oder Kirchweih, unter Einfluss der verwerflichen Leidenschaft der Habgier mit Geld erworben hat, soll er die übel erworbene Ehre verlieren, und der Käufer wie der Verkäufer oder Vermittler sollen mit dem Mal der Schande gezeichnet werden.114 Und es folgt zum jetzt erörterten Gegenstand gegen die Glossen des Antichrist: Niemand , sagt er, darf für Verköstigung oder unter dem Vorwand eines Gewohnheitsrechts vorher oder nachher etwas nehmen oder geben, weil dies simonistisch ist. Und aus diesem heiligen Gesetz, das im Evangelium Christi begründet ist, erklärt sich, dass es für die Händler in Pfründen und Sakramenten keine angemessene Entschuldigung mehr gibt, es sei denn, es gäbe eine Entschuldigung für das Vorbringen von Entschuldigungen in Sünden.115 Töricht haben auch die Hirten, Priester, Magister und Doktoren gehandelt, die ihren ganzen Eifer und ihr Wissen in Habsucht verkehrt haben (die sie doch in erster Linie selbst bekämpfen sollen) und die doch als leuchtendes und wahrhaftiges Beispiel andern vor Augen gestellt werden sollen, indem sie sie aus ihren Fehlern zu Tugenden führen. Aber ach, verdunkelt von den vielen Gaben der Habsucht und Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 115. 113 Ebd., C. 1 q. 1 c. 105. 114 Ebd., C. 1 q. 3 c. 15. Vgl. Ps 141,4 (vgl. die figura etymologica in 140,4 Vg. [iuxta LXX] ad excusandas excusationes in peccatis). 112 115
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krumm im Gewissen, haben sie andere die Habgier durch Wort und Beispiel gelehrt, und nach dem Apostel in Röm 1 haben sie, wiewohl sie wussten, dass ein Gott ist, ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt (indem sie der Habsucht folgten, die Götzendienst ist), sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden.116 Und daher ruft der Apostel mit der Stimme Jesajas117 in 1Kor 1 und spricht unter Tränen: Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? 118 Wo, sagt er, ist ein Kluger, d. h. ein Theologe, der das göttliche Gesetz und damit die höchste Weisheit erforscht? Oder wo ist ein Schriftgelehrter, d. h. ein Rechtsgelehrter, der sich täglich mit der Rechtsüberlieferung der Menschheit befasst? Wo ist ein Weltweiser, d. h. ein in den freien Künsten Bewanderter, der jede Rede untersucht und reinigt als Grammatiker, der alle Feinheiten der Sprache zum Redeschmuck verwendet als Rhetoriker, der jede Wahrheit prüft als Logiker, der alle Zahlen in Verhältnisse setzt als Arithmetiker, der alle Verhältniszahlen der Töne in Übereinstimmung bringt als Musiker, der alle Bahnen der Sterne und die Finsternisse berechnet als Astronom, der Länge, Breite und Umfang der Erde und die Höhe des Himmels ausmisst als Geometer. Wirklich töricht haben sie gehandelt, wenn sie nicht vor allem Gott gesucht haben. Wo also befindet sich der Kluge, der Schriftgelehrte, der Weltweise? Als ob er sagt: Sie sind nicht im Gesetz des Herrn, weil sie so töricht waren, ihren Herrn nicht vor allem andern zu suchen, und so in die Irre gegangen sind. Denn ebenda folgt: Was töricht ist vor der Welt, hat Gott erwählt, dass er die Weisen zu Schanden mache.119 Töricht haben auch die Hirten, die Bischöfe, gehandelt, indem sie ungebildete, zu junge, umherziehende Kleriker mit denkbar schlechtem Lebenswandel in großer Zahl geweiht haben, denn dadurch wird die Kirche ins Chaos gestürzt, das Priestertum der Verachtung ausgesetzt und schändliche Räuberei getrieben. Was das Erste betrifft, sagt der selige Bernhard: Die Anmaßung der Kleriker sorgt in der Kirche überall für Chaos und Ärger .120 Denn von anderer Arbeit werden die Kleriker reich, sie verzehren die Früchte der Erde ohne Bezahlung, und ihr Unrecht quillt gleichsam aus ihrem Fett.121 Wenn jemand wissen will, auf welche Weise die Anmaßung der Röm 1,21f. 117 Gemeint ist Jes 33,18 (Vg.) Ubi litteratus, ubi legis verba ponderans, ubi doctor parvulorum? („Wo ist ein Schriftkundiger, wo einer, der die Gesetzesworte abwägt, wo ein Lehrer für die Kleinen?“); vgl. Nr. 2 dieser Ausgabe, wo dieselbe Stelle diskutiert wird. 118 1Kor 1,20. 119 1Kor 1,27. 120 Bernhard von Clairvaux, Ep. 152 (PL 182,311 B). 121 Ebd. (311 C), mit Zitats aus Ps 72,7 Vg. (73,7). 116
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Kleriker die Kirche ins Chaos stürzt und gestürzt hat, der möge die Chroniken und die Aussprüche der Heiligen lesen, und er wird mit klarem Blick sehen und deutlich erkennen, dass die ganze Zerrissenheit der Kirche von den Klerikern und ihrer Habgier ausgeht. Wer hat das Schisma der Sarazenen verursacht, wenn nicht der Kleriker? Wer das der Griechen, wenn nicht der Kleriker? Wer das der Lateiner, wenn nicht der Kleriker? Und wer entzweit jetzt das Römische Reich, wenn nicht der Kleriker? Davon spricht der selige Hieronymus, ein großer und wahrer Geschichtsschreiber: Wenn ich die alte Geschichte durchforsche, kann ich keinen finden, der die Kirche derart gespalten und das Volk aus dem Gotteshaus entfernt hat wie die, die zu Priestern Gottes bestellt sind, und die „Propheten“, d. h. die Wächter.122 So Hieronymus. Über das Zweite, nämlich, dass wegen der großen Anzahl von Priestern das Priestertum in Verruf gerät, spricht der selige Hieronymus im Brief an den Priester Euander: Die Diakone macht die geringe Anzahl ehrwürdig, die Priester macht die große Anzahl verächtlich.123 Und der selige Bernhard sagt in einer Predigt: Wegen der ungeordneten Vielzahl der Priester wird das Sakrament unseres Erlösers verachtet; sie sollten nämlich Stellvertreter Petri und Nachfolger der Apostel sein und sind Genossen des Judas und Vorläufer des Antichrist.124 Denn Petrus trat an Christus heran,125 es trat auch Judas heran,126 die Jünger traten heran,127 und auch die Soldaten, die ihn kreuzigten, traten heran ,128 und heute treten die schlechten Priester heran,129 die das, was sie auf dem Tisch des Herrn opfern, auf dem Altar des Teufels opfern,130 indem sie das verehrungswürdige Sakrament besudeln. Und daher spricht der Herr in Mal 1 zu euch Priestern, die meinen Namen verachten. So sprecht ihr: „Womit verachten wir deinen Namen?“ Damit, dass ihr opfert auf meinem Altar unreines Brot .131 Dazu sagt Hieronymus: Den Leib Christi besudelt, wer unwürdig an den Altar herantritt.132 Wenn dies doch der Priester bedächte, der falscher als ein Jude ist, grausamer als Judas Ischariot, schlechter als ein Heide, reißenHieronymus, Commentarii in Osee 2,9,8f. (PL 25,895 C). 123 Hieronymus, Ep. 146,2 (PL 22,1194). 124 Das Zitat ist nicht bei Bernhard belegt, sondern bei Petrus von Blois, Ep. 123 (PL 207,360C). 125 Vgl. Mt 18,21. 126 Vgl. Mt 26,49. 127 Vgl. etwa Mt 13,10. 128 Vgl. Mt 26,50. 129 Der gesamte Passus spielt mit der Ambivalenz des Verbums accedere, das im weitesten Sinne „herantreten“ heißt. 130 Auch diese Fortsetzung des obigen „Bernhard“-Zitats (vgl. Anm. 124) stammt offenbar nicht von ihm, auch nicht von Petrus von Blois, sondern findet sich schon in der oben (Anm. 98) erwähnten Schrift De claustro animae des Hugo von Fouilloy (PL 176,1085C). Hus dürfte erneut aus einer Kompilation zitieren. 131 Mal 1,6 f. 132 Vgl. Hieronymus, Comm. in Mal. 1 (PL 25,1548D). 122
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der als jedes Raubtier, mitnichten ein würdiger Priester Gottes, sondern ein Luzifer, nicht Diener Christi, sondern des Antichrist, der nicht mit reinem, sondern von Frevel stinkendem Herzen, mit einem vom Kuss der Hure befleckten Mund, mit verderbten Gedanken, mit tempelschänderischer Hand dreist es wagt, aber sich selbst zum Gericht, das verehrungswürdige Sakrament zu berühren und es noch unerlaubter als ein Tier und als Ischariot, in den der Satan gefahren ist, zu verschlingen. Dass er sich nicht scheut vor der gegenwärtigen heiligen Dreieinigkeit oder vor Christus, Gottes Sohn, der solch ein Verbrechen aus Barmherzigkeit erträgt, und nicht den Engel des Herrn fürchtet, der ihn mitten durchschneiden sollte, dass er sofort mit Judas mitten in die Hölle stürzt, wo er mit unauslöschlichem Feuer für immer brennen wird! Aber wird nun der Klerus das Gesagte fürchten und angemessene Buße tun für seine Sünden? Denn seine Sünde steht nahezu unauslöschlich verzeichnet entsprechend jenem 7. Kapitel des Jeremias. Die Sünde des Judas ist mit eisernem Griffel und stählerner Spitze eingeritzt quer über ihre Herzen. „Judas“ – was übersetzt heißt: der Bekenner – bezeichnet den Klerus, der behauptet, Gott besser als andere zu kennen. Aber gibt es ein falscheres Bekenntnis als dies, das er so lügnerisch mit seinen Taten widerruft? Darum ist es nicht verwunderlich, wenn gesagt wird, dass die Sünde des Klerus tief und unauslöschlich eingegraben ist. Wer kann Herzen, die in so ausgedehntem Maße verbrannt sind, heil machen? Uns ist es unmöglich, denn der Klerus ist das Herz des Volkes, das man (wie sie sagen) nicht anrühren darf. Wenn du dagegen murrst, sagt der Klerus: Es ist nicht erlaubt, vor der Öffentlichkeit die Fäulnis des Verbrechens des Klerus auszuwischen und das verwundete Herz mit Gottes Wort anzurühren und die Medizin der Nächstenliebe daraufzugießen. Dabei bringt sich der Klerus vor allem Volk schamloserweise selbst durch Verbrechen Wunden bei, trägt seine Wunde öffentlich, aber verschmäht die Medizin, die von Verbrechen reinigt, wie ein Irrer und Wahnsinniger. Kleriker, handle nicht so, sondern erweiche dein hartes Herz, lass dir den Eingriff des Arztes gefallen, nimm die Medizin des heilsamen Wortes zu dir, so wird das Öl der Liebe darauf gegossen werden, und dann wirst du Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt; das verleihe dir Jesus Christus, der Herr, der ewige Gott, der als Mensch geboren ist von der Jungfrau, der von Ewigkeit zu Ewigkeit gelobt sei, Amen.
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6 QUÄSTION DES MAGISTERS JOHANNES HUS: „ZUR KRITIK AM KLERUS IN DER PREDIGT“ [1408]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 1, 149a–153b; verglichene deutsche Übersetzung: Zitte, Vermischte Schriften, 129–173.
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Einleitung Nr. 6
Im scholastischen Lehrbetrieb des Spätmittelalters war die quaestio eine gängige Methode der gelehrten Erörterung einer Streitfrage, eines Problems oder Themas im Rahmen einer Disputation, doch konnte sie – wie im vorliegenden Fall – auch in schriftlicher Form erfolgen. Die zu erörternde Frage konnte entweder frei gewählt werden (quaestio quodlibetalis) oder im Rahmen des Studienprogramms festgelegt sein. In der Disputation standen sich der Respondent und der Opponent gegenüber, die die Argumente für und gegen einen Standpunkt austauschten. Dabei kam es darauf an, die gegnerische Seite durch Anwendung formaler Logik eines Widerspruchs zu überführen und die eigene Meinung durch Anführung von Autoritäten zu untermauern. Hussens Text lässt diesen Hintergrund noch deutlich erkennen. Die zu erörternde Frage besteht darin, ob der Klerus in der Predigt, die ja vornehmlich das Evangelium verkünden soll, öffentlich für sein ungeistliches Leben getadelt werden darf. Angeführt werden zunächst die Argumente, die zu einer Verneinung dieser Frage führen könnten. Darauf folgt die viel längere Reihe der Argumente, die eine Bejahung der Frage unterstützen und die Gegenargumente entkräften. Der Text scheint insgesamt also eine Sammlung von Argumenten darzustellen, mit denen Hus seine Kritik an den moralischen Verfehlungen des Klerus untermauern wollte. Als Kleruskritiker begegnet Hus in mehreren der in diesem Band übersetzten Texte (vgl. auch die Einleitung zu Nr. 8).
„Zur Kritik am Klerus in der Predigt“
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Bezüglich der Bereitschaft zum Evangelium,1 von der bereits anderenorts die Rede war, scheint es nützlich, kritisch zu prüfen, ob es bei der Verkündigung des Evangeliums vor Klerus und gemeinem Volke erlaubt sei, in Liebe die Bosheit des Klerus zu rügen, dessen Heuchelei aufzudecken und gegen seine offensichtlichen Laster zu predigen. Allem Anschein nach nicht, da der erste Engel der Bosheit, Luzifer, das nicht will; also ist es nicht erlaubt. Die Folgerung bezieht ihre Gültigkeit daraus, dass es dem Menschen nicht erlaubt ist, einem so großen Engel und Fürsten, gleich einem klugen Prälaten, in dessen Wollen zuwiderzuhandeln; und der Vordersatz hält einer Prüfung stand, denn wenn Luzifer wollte, dass bei der Verkündigung des Evangeliums vor Klerus und versammeltem Volk die Bosheit des Klerus in Liebe gerügt, seine Heuchelei aufgedeckt und gegen seine offensichtlichen Vergehen gepredigt wird, so würde er wollen, dass etwas in Liebe entsteht und so sein Gesetz zerstört wird und seine Mitstreiter sich von ihm abwenden. Wie aber wird sein Reich dann noch sicher bestehen, da er doch durch einen solchen Willensentschluss mit sich selbst entzweit und dadurch in seiner Kraft geschwächt ist? Das bestätigt auch der Erlöser in Lk 11: Ein jegliches Reich, das mit sich entzweit ist, wird verwüstet. Wenn also der Satan mit sich entzweit ist, indem er selber Dämonen austreibt, wie wird dann sein Reich bestehen? 2 Ebenso [2.]: Mohammed, der große Gesetzgeber, hat bei Todesstrafe verordnet, dass niemand sein Gesetz noch seine Werke durch irgendeine Predigt bekämpfe, und da er zusammen mit seinen Anhängern einen zahlreichen Klerus gebildet hat, ist es also auch nicht erlaubt, gegen sein Gesetz oder gegen die Vergehen seiner Geistlichen zu predigen. Diese Folgerung scheint schlüssig im Hinblick auf Mohammeds Gesetz, das einen größeren Klerus voraussetzt als das Gesetz unseres Herrn Jesus Christus. Ebenso [3.]: Der Antichrist würde das nicht wollen, und er selbst wird der größte Prälat sein, sich über alles erhebend, was Gott oder Gottesdienst heißt – dergestalt, dass er im Tempel Gottes sitzt und so tut, als wäre er selbst Gott.3 Demnach wird es nicht erlaubt sein, gegen seine Vergehen und seine Heuchelei zu predigen. Die Folgerung gilt, da dem höchsten Prälaten, der an heiliger Stätte als Stellvertreter Christi sitzt, in allen Dingen zu gehorchen ist; und der Vordersatz ist klar, denn wenn er gegen sein Gesetz und seine Vergehen predigen ließe, so wünschte er folglich gebessert zu werden, dann aber würde er nicht 1
Vgl. Eph 6,15.
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Quästion des Magisters Johannes Hus
über alles erhoben, was Gott heißt. Der Folgesatz steht dem Apostel entgegen, also ist der Vordersatz wahr. Ebenso [4.]: Die Mehrheit der Geistlichen behauptet, dass es nicht erlaubt sei, vor dem gemeinen Volk, auch nicht in Anwesenheit der Geistlichen selbst, deren Bosheit in Liebe zu rügen und ihre Heuchelei aufzudecken. Bei einer Wahl jedoch ist die Mehrheit der Maßstab, ihr muss man sich anschließen. Demnach ist es nicht erlaubt, die Bosheit der Geistlichen vor dem Volk in Liebe zu rügen, und folglich kann die Quaestio nur falsch sein. Ebenso [5.]: Die Bosheit des Klerus vorm Volke zu rügen, heißt, seinen Mund gegen den Himmel zu erheben, den Klerus zu verleumden, ihn zu beschämen, dem Volk ein Ärgernis zu geben, den Klerus beim Volke verhasst zu machen und den weltlichen Arm dazu anzustacheln, die zeitlichen Güter der Geistlichen einzuziehen. Allein so etwas tun, heißt, die Kirche zerstören. Also ist die Quaestio töricht, falsch und ketzerisch, da für die ganze Kirche zerstörerisch. Ebenso [6.]: Ex 22 heißt es: Die Götter sollst du nicht schmähen .4 Die Geistlichen aber sind die Götter der Laien, wie es Causa 11, Quaestio 1, heißt,5 also ist es nicht erlaubt, gegen Götter in dieser Weise zu predigen. Ebenso [7.]: Wer die Sünde seines Vorgesetzten publik macht, ist nicht weniger tadelnswert als Ham, der die Scham seines Vaters nicht zugedeckt hat.6 Nicht anders also, wer gegen die Geistlichen predigt. Ebenso [8.]: Konstantin hat, als er einen Priester mit einer Frau schlafen sah, ihn mit dem eigenen Mantel bedeckt, und recht tat er so; mithin handelt schlecht, wer das Gegenteil tut. Ebenso [9.]: Rabanus sagt: Wenn du einen Geistlichen mit der Hand auf dem Schoß eines Weibes siehst, so geh davon aus, dass er dies nur zum Segnen tut. Doch zugunsten der Wahrheit unserer Quaestio 7 wird erstens argumentiert: Jesus Christus, Hoherpriester und Haupt der heiligen Geistlichen, König der Welt und Führer des christlichen Heeres, demütigster Diener der Kirche, will stets das Gegenteil von dem, was der Fürst der Bosheit will, da diese zwei Herren konträrer Willensnatur sind; deshalb kann ein und derselbe Diener unmöglich beiden zugleich befriedigend dienen. Nun muss man aber Christus, dem größeren und Ex 22,28. 5 Decr. Grat. II C. 11 q. 1 c. 41. 6 Gen 9,22. 7 Hier zeigt sich, dass der Begriff der Quaestio von dem der Propositio bestimmt ist, die Frage zur These tendiert, weshalb der lat. Terminus durchweg (wie vielfach gehandhabt) hier unübersetzt bleibt (vgl. Nr. 4, Anm. 4).
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besseren Herrn, gehorchen. Also geziemt es dem Diener Jesu Christi, in der Predigt des Evangeliums die Bosheit des Klerus auch in Liebe zu rügen, seine Heuchelei vor dem Volk aufzudecken und gegen seine offenkundigen Laster zu predigen. Ebenso [2.]: Sogar Jesus Christus, der höchste Geistliche, wollte vor dem Volk angeklagt werden, von wem auch immer, sofern ihm ein Vergehen nachzuweisen wäre, weshalb er Joh 8 sagte: Wer von euch kann mich einer Sünde bezichtigen? 8 Folglich, da kein Geistlicher unschuldiger, besser und größer ist als er, muss sich nach seinem Vorbild auch jeder der Anklage aussetzen. Der Antichrist freilich, als Gegner Christi und stolzester Geistlicher, wird diese Folgerung nur verspotten, wird er sich doch sogar über alles erheben, was Gott heißt.9 Ebenso [3.]: Christus selbst klagt den Klerus sehr hart vor der Menge an: Euer Vater ist der Teufel – und fügt den Grund hinzu: da ihr mich töten wollt .10 Doch dies Evangelium Christi vor dem gemeinen Volke zu predigen, ist durchaus statthaft, und das heißt die Bosheit des Klerus zu rügen; also ist unsere Quaestio wahr. Ebenso [4.]: Christus selbst hat die Heuchelei der Geistlichen aufgedeckt, wie aus dem Verlauf des Evangeliums deutlich ist. Doch damit hat er uns ein Beispiel hinterlassen, nach dem wir handeln sollen; also ist unsere Quaestio wahr. Ebenso [5.]: Der Apostel befiehlt, alle Sünder zu tadeln: Tadle mit aller Geduld und Lehre.11 Doch da man die Geistlichen von der Lehre Christi nicht ausschließen darf, muss man jene, die öffentlich sündigen, auch öffentlich zurechtweisen, nur sollten sie von den Predigern freilich nicht namentlich und nur in Liebe getadelt werden. Dies befiehlt der Apostel, indem er sagt: Die da sündigen, rüge vor allen.12 Ebenso [6.]: Die Propheten – heilige Priester und Bauern – haben gegen die Bosheit des Klerus gepredigt und geschrieben, ja sie haben sogar den Klerus mit Recht erschlagen, wie vom Propheten Elia, von Daniel und anderen bekannt ist, die Priester erschlugen. Ebenso [7.]: Neh 9 sagt zu Recht das gesamte Volk öffentlich: Unsere Priester haben nicht nach deinem Gesetz getan und nicht Acht gehabt auf deine Gebote und Zeugnisse, die du hast ihnen lassen bezeugen .13 Also ist jetzt aus ähnlichem Grund dem Volke Christi erlaubt, die öffentlichen Laster des Klerus laut zu beklagen, und der Prediger Christi muss ebendies Volk sogar zu solch frommer Klage ermuntern; so nämlich haben im Alten Testament die Priester des Herrn es gehalten. Joh 8,46. 9 Vgl. 2Thess 2,4. 5,20. 13 Vgl. Neh 9,34.
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Joh 8,44 (vermengt mit 8,37).
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Ebenso [8.]: Der gesamten Kirche und somit dem ganzen Volk ist erlaubt, gegen viele Geistliche, die an irgendeiner Ketzerei festhalten, in Liebe zu reden und zu predigen; also ist unsere Quaestio wahr. Der Vordersatz verdeutlicht sich aus zahlreichen Verfahren, die bisher in der Kirche bereits gegen Geistliche geführt wurden. Ebenso [9.]: Laut Befehl des römischen Papstes ist es erlaubt, öffentlich, also vor dem Volk, gegen jeden Gegenpapst und dessen ganzen Klerus zu predigen, dergestalt, dass Titularkapläne, Notare und nahezu alle übrigen Geistlichen, ja selbst die Bischöfe dazu sogar unter Eid verpflichtet werden. Ebenso [10.]: Es ist erlaubt, einen Erlass der Kirche gegen Vergehen des Klerus, der für das Volk bestimmt ist, dem Volk zu erklären, da er ja andernfalls völlig umsonst für das Volk bestimmt wäre; also ist unsere Quaestio wahr. Der Vordersatz ist evident, zumal anhand jener Verfügung, die Distinctio 32 angeführt ist: Niemand soll die Messe eines Priesters hören, von dem er sicher weiß, dass dieser eine Beischläferin hat oder mit einer insgeheim bei sich eingeführten Frau verbotenen Umgang pflegt. Daher hat auch die heilige Synode diese Satzung bei Strafe der Exkommunikation verordnet, indem sie gesagt hat: „Wenn ein Priester, Diakon oder Subdiakon nach der Verordnung unseres Vorgängers seligen Angedenkens, des heiligen Papstes Leo, und Nikolaus’ zur Keuschheit der Geistlichen, seine Beischläferin öffentlich geheiratet oder danach nicht sofort verlassen hat, verbieten wir ihm im Namen des allmächtigen Gottes und kraft Autorität der Apostelfürsten Petrus und Paulus in aller Deutlichkeit, dass er seine Messe singe, das Evangelium lese, im Presbyterium mit denen gemeinsam seinen heiligen Aufgaben nachkomme, die dem vorher besprochenen Erlass gehorchten, oder an kirchlichen Einkünften teilhabe.“ 14 Seht, ein Gesetz für das Volk und darum öffentlich zu verkünden, ein Gesetz, dass niemand die Messe des Priesters hören soll, von dem er ganz sicher weiß, dass er eine Beischläferin habe. Nach diesem Gesetz also ist es erlaubt, die Hurerei der Geistlichen durch das Wort Gottes öffentlich, vor dem Volk, zu bekämpfen. Ebenso [11.]: Es ist erlaubt, die ungehorsamen Geistlichen öffentlich zu exkommunizieren. Also ist unsere Quaestio wahr. Ebenso [12.]: Ein Geistlicher führt einen unerlaubten Wandel, also kann er erlaubtermaßen als ein Verkehrter von den Gerechten bekämpft werden, denn sonst würden die Gerechten zu Mitschuldigen durch stillschweigendes Einverständnis. Deshalb heißt es in Causa 23, Quaestio 3: Wer den Verdorbenen entgegentreten und sie beirren kann, es 14
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aber nicht tut, macht 15 nichts anderes, als deren Ruchlosigkeit zu fördern. Und wer es unterlässt, manifestem Frevel entgegenzutreten, ist nicht frei vom Verdacht geheimer Komplizenschaft .16 Aus dem Gesetz folgt, dass ein Prediger, der nicht gegen die manifesten Vergehen des Klerus predigt, mitschuldig wäre durch Stillschweigen und ein geheimer Komplize jener sündigen Geistlichen. Und wirklich verrät das Stillschweigen oftmals die Unzucht und Habsucht des Predigers, insofern ja Gott dem Sünder als Strafe noch obendrein zufügt, dass dieser nicht andere in einer Sünde zurechtzuweisen sich traut, von der, wie er weiß, seine eigene Seele sich träge hinabziehen lässt. Ebenso [13.]: Es kommt vor, dass eine ganze Gemeinschaft von Geistlichen der Ketzerei verfällt und diese starrsinnig verteidigt. Also ist es erlaubt, öffentlich gegen diese Gemeinschaft zu predigen. Ebenso [14.]: Ein Teil des Klerus legt ja dem anderen in Aufrufen öffentlich und persönlich klare Vergehen zur Last. Wenn das erlaubt ist, was, wie ich meine, aus Habgier, Hochmut und Hass geschieht (da man ja derlei Tiraden allein wegen Dinkel und Dünkel17 loslässt), dann ist es doch nur umso mehr zum Zweck der Erneuerung des Klerus erlaubt, dessen Laster öffentlich zu bekämpfen. Ebenso [15.]: Nach geistlichem Recht ist es erlaubt, den Klerikern ihre Vergehen mit deutlichem Namensvermerk in aller Öffentlichkeit auf die Stirn zu schreiben und sie vor dem Volke erhöht zur Schau zu stellen, damit sie in ihren Vergehen besser erkannt werden. Also ist es erst recht erlaubt, in Liebe gegen die Vergehen des Klerus im Allgemeinen zu predigen. Der Vordersatz ist aus dem Verfahren mit den Scalaten ersichtlich,18 denen der Grund für ihre Strafe auf die Stirn geschrieben wird, freilich anders, als sie über dem Haupt des Herrn Jesus Christus geschrieben war. Ebenso [16.]: Matthäus schrieb sein Evangelium auf Hebräisch, Markus auf Italisch19, Lukas auf Syrisch und Johannes auf Griechisch, jeder für ein anderes Volk.20 Und da sich in deren Evangelien viele Aussagen gegen die Vergehen des Klerus finden, geschrieben zur Erinnerung, dürfen die Prediger diese Stellen auch gegen die Laster der Kleriker öffentlich verwenden. Die Syntax ist hier nicht ganz sauber. 16 Decr. Grat. II C. 23 q. 3 c. 8. 17 Vgl. im Original propter pastum & fastum – „wegen Futter(-neid) und Dünkel“. 18 Die Scalati wurden mit Bloßstellung auf einer Leiter (lat. scala ) bestraft. Die Leiterstrafe zählt zu den mittelalterlichen Ehr- oder Schandstrafen. 19 Das heißt Lateinisch . 20 Vgl. entsprechende Subscriptiones zu frühmittelalterlichen Textausgaben der Evangelien bzw. diverser Evangelienkommentare. 15
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Ebenso [17.]: Jesus Christus hat nur in hebräischer Volkssprache gegen die Bosheit der Priester gepredigt. Also ist es auch erlaubt, aus ehrlicher Liebe in der böhmischen und deutschen Sprache dagegen zu predigen. Ebenso [18.]: Jeder Geistliche, der manifest sündigt, predigt sehr wirksam gegen sich selbst durch die Tat, da manifeste Taten den Menschen viel besser und deutlicher zeigen, wie er im Inneren ist als bloße Worte. Also bekämpft auch der Geistliche, wenn er sündigt, sich selbst am meisten, da zuerst durch sich selbst und durch seine eigene Tat. Daher ist der Klerus das Buch des Antichrist und des Teufels, durch dessen Lektüre die einfachen Leute in die Schule des Teufels gelockt werden. Weshalb sie auch gemeinhin sagen: „Wir sehen es doch bei den Priestern, wieso sollen dann wir es nicht auch tun? Wenn es bei ihnen keine Sünde ist, dann auch nicht bei uns, da doch die Priester in allem noch heiliger sein sollen.“ Ebenso [19.]: Am Tag des Gerichts wird es allen Heiligen, sogar den Weibern, erlaubt sein, den bösen Klerus öffentlich anzuklagen und zum Leben in ewiger Pein zu verdammen. Also darf der Diener Gottes auch jetzt schon in Liebe gegen die Bosheit des Klerus predigen, besonders gegen diejenigen, die sich der Wahrheit des Evangeliums widersetzen. Und daher sagt der Apostel 2Tim 2: Ein Diener Gottes soll nicht streiten, sondern freundlich zu allen sein, offen, geduldig, mit Sanftmut jene zurechtweisend, die sich der Wahrheit widersetzen, falls Gott ihnen einmal wohl Buße verleihe zur Erkenntnis der Wahrheit und sie zur Nüchternheit fänden aus den Netzen des Teufels, in denen sie nach dessen Willen gefangen sind.21 Da es aber viele solcher Menschen gibt, wie hier der Apostel sagt, muss der Knecht Christi sie eindringlich mahnen. Also ist unsere Quaestio wahr. In dieser Quaestio liegt keinerlei Schwierigkeit, da ihre Wahrheit durch das Wort des Heiligen Geistes und durch das Handeln unseres Herrn Jesus Christus wirksam erwiesen ist. Doch muss man wissen: Die Bosheit des Klerus in Liebe zu rügen, seine Heuchelei aufzudecken und gegen seine offenbaren Vergehen zu predigen, heißt, diese Bosheit durch Nachahmung Christi in seinem Verhalten – aus Liebe zu ihm und zu seinem Gesetz, zum Heile des Klerus, zum Lobe Gottes und um des Verdienstes der Seligkeit willen – mit dem Wort Gottes zu überwinden. Und daraus folgt, dass niemand aus Hass gegen die Bosheit predigen darf. Zweitens folgt, dass ein Prediger, der wissentlich in Todsünde ist, nicht in Liebe predigt, denn offenkundig ahmt er als solcher 21
2Tim 2,24–26.
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in seinem Verhalten ja nicht den Herrn Jesus Christus nach. Drittens folgt, dass ein Prediger, der gegen die Bosheit predigt und wissentlich selbst in der Bosheit des Lasters befangen ist, gegen sich selbst predigt und sich selber den Strick um den eigenen Hals legt, mit dem er erhängt werden soll. Viertens folgt, dass ein Prediger, der größtenteils um des Gewinns oder Ruhms willen predigt, nicht in Liebe predigt, denn offenkundig ahmt er in seiner Predigt nicht den Herrn Jesus Christus nach, der nicht zum Gewinn oder eigenen Ruhm, sondern nur zum Lobe des Vaters sowie zum Heil seines Volkes gepredigt hat. Fünftens folgt, dass niemand zum Predigen geeignet ist, der nicht von Gott durch die Liebe erleuchtet wird; und deshalb sagt auch der Heiland bei Lukas im letzten Kapitel zu seinen Jüngern: Ihr aber bleibt in dieser Stadt, bis ihr angetan werdet mit der Kraft aus der Höhe .22 Und der selige Gregor sagt in seiner Homilie: Wer keine Liebe gegen seinen Nächsten hegt, der darf das Predigtamt keineswegs übernehmen.23 Woraus folgt, dass in der Ernte Christi sich selten ein wahrer Arbeiter findet.24 Da nun der Klerus häufig behauptet, ein Predigen gegen seine Vergehen sei nutzlos, sei dieser Nutzen zu seinem Erweis noch einigermaßen verdeutlicht. Der erste Nutzen ist der, dass die bösen Geistlichen, durch eine solche Strafpredigt immerhin doch beschämt, vom Laster zurückschrecken und nach dem Namen des Herrn Jesus Christus fragen, gemäß jenem Psalmwort: Erfülle ihr Angesicht mit Schande, und sie werden nach dir fragen, o Herr.25 Aus diesem Grund hat das Dekret der Kirche dem Volk verboten, die Messen notorischer Beischläfer zu hören. Weshalb es in der 32. Distinctio gemäß der Verordnung heißt: [es] hat 26 verfügt, von den Messen [derer 27], die sicher als solche erwiesen, sich fernzuhalten, zum einen, um jede Erlaubnis zur Sünde den andern zu nehmen, zum andern, um jene zurück zu den Klagen geziemender Buße zu rufen.28 Der zweite Nutzen: weil so die Würde der guten Geistlichen heller hervorzustrahlen beginnt, da Gegensätze sich im direkten Kontrast noch deutlicher abheben. Weshalb der Erlöser Mt 5 gesagt hat: So soll 22 Lk 24,49. 23 Gregor d. Gr., Hom. in evangelia 1,17 (PL 76,1139 B). 24 Vgl. Mt 9, 37; Lk 10,2. 25 Vgl. Ps 83,17 (der Vulgatatext [82,17] lautet am Ende wie Hussens Paraphrase zuvor). 26 Bei Hus steht hier decrevit, im Decr. Grat. (s. Anm. 28) decreverunt („haben verfügt“, nämlich decessores nostri – „unsere Amtsvorgänger“); das Subjekt ist bei Hus insofern nicht klar zu bestimmen. Hus zitiert wohl aus dem Gedächtnis (es fehlt ja auch das Subjekt zu abstinere „sich fernzuhalten“, natürlich fideles „die Gläubigen“). 27 Vgl. Decr. Grat. (s. Anm. 28) a missis sacerdotum („von den Messen der Priester“). 28 Decr. Grat. I dist. 32 c. 6.3.2.
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euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.29 Der dritte Nutzen: dass die guten Geistlichen durch den Vergleich mit den schlechten beim Volk noch beliebter sein werden, die bösen zu Recht noch stärker verachtet, gemäß jenem Wort des Erlösers in Mt 5: Ihr seid das Salz der Erde; wenn aber das Salz seine Würze verliert, so taugt es zu nichts, als dass man’s hinausschütte und von den Leuten zertreten lasse.30 Der vierte Nutzen: dass die Guten in Klerus und Volk die bösen Geistlichen meiden wie räudige Schafe und reißende Wölfe, ganz nach dem Rat des Apostels in 1Kor 5: Wenn unter Euch sich jemand Bruder nennen lässt und ein Hurer, Geizhals etc. ist, mit diesem [schrieb ich euch] auch nicht zu speisen,31 sondern ihn wie einen alten Sauerteig, der noch das ganze Volk ansteckt, auszuschaben .32 Dies meint auch jenes Wort des Erlösers Mt 13: Des Menschen Sohn wird seine Engel senden, d. h. seine heiligen Priester, und sie werden aus seinem Reich , d. h. aus der streitenden Kirche (was die Gemeinschaft des gläubigen Volkes ist), einsammeln , nämlich durchs Wort ihrer Predigt, die Ärgernisse, das heißt all jene, die Ärgernis geben,33 und werden sie aus der Mitte der Gerechten entfernen.34 Der fünfte Nutzen: dass die Einfalt des gemeinen Volkes den Wölfen in ihrem Verhalten nicht nachfolgt. Deswegen sagt die Wahrheit Mt 7: Hütet euch vor den falschen Propheten,35 und Mt 24: Es werden falsche Christen und falsche Propheten aufstehen,36 und es folgt: Geht nicht hinaus (nämlich wohin sie wollen).37 Der sechste Nutzen: dass der Entschuldigung und Verteidigung seitens der sündigen Laien der Boden entzogen wird, die gerne sagen: „Die Priester predigen gegen unsere Hurerei und andere Vergehen, doch von ihrer eigenen Hurerei und anderen eigenen Vergehen, da sagen sie nichts; jedenfalls ist es dann entweder gar keine Sünde, oder sie wollen allein herumhuren.“ Ebenso, weil sie gern sagen: „In unserem Auge, da sehen die Priester den Splitter, und im eigenen nehmen sie nicht den Balken wahr; sie sollen zuerst den Balken aus ihrem Auge entfernen, dann mögen sie uns den Splitter herausziehen heißen.“ Ebenso, dass sie nicht sagen: „Was weisest du mich zurecht? Die Priester tun es doch auch, warum weist du nicht diese zurecht, ist’s etwa bei ihnen nicht Sünde?“ Mt 5,16. Mt 13,49.
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Mt 5,13. 31 Vgl. 1Kor 5,11. Vgl. Mt 5,15. 36 Mt 24,24.
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Vgl. 1Kor 5,6. Vgl. Mt 24,26.
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Der siebente Nutzen: dass das ganze Volk einigermaßen Gottes Gesetz kenne. Weil Gottes Gesetz38 aber das ist: Wegen der Sünden seiner Priester und seiner Propheten, die Blut vergossen haben,39 leidet das Volk; desgleichen: Unsere Priester haben nicht nach deinem Gesetz getan und nicht achtgehabt auf deine Gebote; 40 desgleichen: Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr? Und die Gesetzeskundigen kannten mich nicht.41 Und so verhält es sich mit tausend Stellen von Gottes Gesetz, die zu kennen dem Volke förderlich ist, wie denn generell gut für es ist, das ganze Gesetz zu kennen. Der achte Nutzen: dass der Prediger – falls vor Ort ein böser Prälat ist, z. B. ein Antichrist, oder auch irgendein anderer Prälat, dessen Wandel zu Christus ganz deutlich im Widerspruch steht, so dass ihm das Volk aufgrund seiner Bosheit vielleicht auch in erlaubten Dingen nicht mehr gehorchen will –, dass der Prediger also sich bei seiner Predigt an Christi Vorbild halten und sagen soll: Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen (das Heilsame freilich) das haltet und tut’s; nach ihren Werken [jedoch] sollt ihr nicht tun . Desgleichen gemäß jenem Wort 1Petr 2: Ihr Knechte, seid untertan euren Herren, auch den zuchtlosen .42 Aber nicht in ihren Zuchtlosigkeiten, denn darin gehorsam zu sein, hieße, nach ihren Werken zu tun und so dem Befehl Gottes zuwiderzuhandeln, der sagt: Nach ihren Werken sollt ihr nicht tun.43 Der neunte Nutzen: dass Kandidaten des Priesteramts, die mit dem Volk eine Predigt hören, die gegen die Laster der Geistlichen vorgeht, ähnliche Laster nun meiden, zum Teil ihren Lebensstil ändern und sich zum Besseren wenden. Die aber womöglich schon in eine regelwidrige Haltung verfallen sind und schwere Sünden begangen haben, fürchten sich unter dem Eindruck der Würde des Priesteramts, unerlaubtermaßen dazu befördert zu werden, während sie sonst vielleicht auf verdammungswürdigem Weg dazu kämen, ohne den Stand des Priesters zu kennen. Der zehnte Nutzen: dass der Prediger, der in Liebe gegen das Laster des Klerus predigt, sich hiermit die Seligkeit verdient, aber auch der Klerus, sofern bekehrt, am Ende erlöst wird, falls aber nicht zur Bekehrung bereit, durch solch eine Predigt bereits von der Pein der Verdammnis gemartert zu werden beginnt. Denn der selige Augustinus sagt im 2. Buch vom freien Willen:44 Die Menschen mögen den Tadel „Gesetz“ hier = Gottes Wort, die Bibel. 39 Vgl. Klgl 4,13. 40 Neh 9,34. 41 Jer 2,8. Mt 23,2 f.; 1Petr 2,18. 43 Mt 23,3. 44 Das Zitat stammt aus De correptione et gratia 14,43.
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ertragen, wenn sie sündigen, und nicht vom Tadel aus gegen die Gnade oder von dieser aus gegen den Tadel Beweis führen, da den Sünden gerechte Strafe gebührt und zu dieser berechtigter Tadel gehört. Dieser wird wie eine Arznei verwendet, auch wenn das Heil des Kranken ungewiss ist: Gehört der Getadelte zur Zahl der Vorherbestimmten, so gereicht ihm der Tadel zum heilsamen Medikament; gehört er nicht dazu, so ist der Tadel strafende Folter . So weit Augustinus. Indem jedoch die getadelten Priester und sonstigen Kleriker mehr als die anderen hierüber Disput führen, liefern sie selbst den Beweis, dass sie nach allem Gesagten gewiss nicht zu denen gehören, die zur Erlösung bestimmt sind. Und daher kommt es auch, dass sie sich mehr als andere über den Tadel entrüsten, weil sie durch ihn einen Vorgeschmack von ihrer ewigen Verdammnis bekommen. Und obwohl noch weitere Vorteile der liebevollen Predigt gegen die Bosheit des Klerus vorgebracht werden könnten, sollen die zehn bereits angegebenen vorerst genügen, besonders aber das Verdienst des Predigers und die zuletzt erreichbare Seligkeit, erreichbar sowohl für den, der rechtmäßig tadelt, als auch für den, der den Tadel in Demut erträgt. Und diese Vorteile machen deutlich, dass obige Argumente aus dem Willensbegriff eines Luzifer, Mohammed und des Antichrist nicht schlüssig sind. Und so fehlt es den drei Pfeilen des Teufels an den nötigen Flugfedern. Zum vierten Beweis, in dem geschlossen wird: „Der Klerus in seiner Mehrheit behauptet, es sei nicht erlaubt [den Kleriker vor dem Volk zu rügen]. Bei einer Wahl aber ist die Mehrheit der Maßstab, ihr muss man sich anschließen.“ Der zweite Teil [der Untersatz] wird bestritten. Denn ebenso könnte der Antichrist schlussfolgern, dass jeder Jünger Christi sich die Toren zum Maßstab nehmen und ihnen sich anschließen müsse, da ja die Zahl der Toren unendlich, die Zahl der Klugen sehr klein ist. Und wirklich, gibt man den Untersatz zu, so folgt daraus, dass selbst die Mutter Christi und all seine Jünger bei seiner Verurteilung sich der Mehrheit der Geistlichen hätten anschließen müssen. Ebenso müsste ein jeder – da ja die Mehrheit der Geistlichen sündigt, indem sie die Sünde wählt – sich ihnen in dieser Wahl anschließen. Zum fünften Beweis, der aus mehreren Teilen besteht: Im ersten wird behauptet, den Klerus anzuklagen bedeute, seinen Mund gegen den Himmel zu erheben. Dies wird bestritten. Hierzu ist anzumerken, dass seinen Mund gegen den Himmel zu erheben nach der Glosse zu Psalm 72 heißt, gegen Gott zu reden. Und da jeder, der gegen die Wahrheit redet, gegen Gott selbst, der die erste Wahrheit ist, redet, so ist klar,
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dass jeder Geistliche, der behauptet, es sei nicht erlaubt, gegen die Bosheit des Klerus öffentlich zu predigen, hiermit seinen Mund gegen den Himmel erhebt. Daher sagt der Psalmist wegen dieser geballten Dreistigkeit der Kleriker: Sie haben ihren Mund gegen den Himmel erhoben, und ihre Zunge ging umher auf der Erde.45 Doch wer sind diese Leute? Sicherlich jene, von denen der Psalmist zuvor sagt: Sie haben nicht teil an der Mühsal der Sterblichen und werden nicht Plage erleiden wie andere Menschen. Darum hat sie der Hochmut gepackt.46 Hierzu sagt Bernhard: Offenbar brandmarkt der heilige David gewisse Leute mit schwerem Brenneisen; mögen die selbst es erkennen, für die die Parabel gedacht ist. Unter den Menschen hat nämlich ein jeglicher Stand seinen Teil an Arbeit und Lust; doch muss man die Klugheit von manchen bewundern, wie sie – obwohl sie die Stände ja scheiden und sondern – durch einen neuen Kunstgriff darunter all das, was sie freut, sich herauspicken und umklammern; was lästig ist, fliehen und meiden. Mit den Soldaten eint sie der aufgeblasene Dünkel, die Freude an zahlreicher Dienerschaft, prachtvollem Aufwand, kostbarem Pferdeschmuck, Falkenjagd, Würfelspiel und all dergleichen mehr; von den Dirnen schauen sich manche die pupurgefärbten hängenden Zobel ab, üppige Schlafgemächer und Bäder sowie die verweichlichte Pracht ihrer Kleider. Doch um das Gewicht einer Rüstung, schlaflose Nächte im Feldlager oder gefahrvolle Schlachten, wie auch um die weibliche Schamhaftigkeit und Zucht und all die Mühsal dieses Geschlechts, da machen sie stets einen Bogen. Die Bauern schwitzen, die Winzer graben um und beschneiden die Reben: Und die dabei schläfrig in Muße dahindämmern, befehlen, sobald die Erntezeit kommt, ihre Speicher wieder zu füllen, und ihre Vorratskammern sind voll (wenn nur nicht voller noch als bei jenen, wenn nur nicht ebenso voll!). Sie lassen sich’s gut gehn vom Weizen, sie trinken das reine Blut der Traube, mehr noch, sie setzen gehörigen Speck an vom Fett des Getreides, und ihre Weine bekommen von Kräuteressenzen aparten Geschmack, wodurch noch Öl in das Feuer gegossen wird. Sieh aber auch die Kaufleute: Meer und Land durchqueren sie unter Mühe und Lebensgefahr, nur um vergängliche Reichtümer anzuhäufen. Das alles ist viel zu anstrengend: Davor sollten sich unsere Füchse nur wohlweislich hüten und lieber derweil ihren süßen Schlaf genießen, um nicht zu sagen, es in ihren Betten nur munter treiben. Und doch wird man dann an den Festtagen schwer vom Gewicht der goldnen und silbernen Vasen die Hände ihrer Bediensteten finden, die Taschen gefüllt mit allerlei Reichtümern, lastenbehängt die Tragstangen, und in den Schrän45
Ps 73,9 (Vg. 72,9).
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Ps 73 (Vg. 72), 5 f. (zu 5a vgl. Zürcher Bibel).
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ken so viele Kistchen und Kästchen, dass man sie für Wechsler hielte, stellte man Tische dazu. Was soll man hier noch die Künstler oder Schmiede und die übrigen Handwerker dieser Art aufzählen? Mühevoll verdienen sie sich ihren Unterhalt. Jene aber schwelgen in Freuden und treiben im Überfluss träge dahin. Oder verhöhnt etwa nicht zu Recht diese Leute der Dichter: Dass nicht, wenn etwa dereinst, um wiederzuholen die Federn, / Komme der Schwarm der Vögel, die Krähe errege Gelächter, / All der gestohlenen Farben entkleidet 47? Noch mehr aber donnert der große Prophet, und mehr noch als ein Prophet, mit schrecklichen Worten: Ihr Otterngezüchte! Wer hat euch denn glauben gemacht, ihr würdet dem Zorn entrinnen? 48 Wo nämlich sind dann die Früchte der Buße,49 wenn für die Menschen, für jeden in seinem Stand, die Auferstehung anbricht? Wo, glaubst du, wird dieses Geschlecht dann zu finden sein? Falls sie sich etwa zu den Soldaten hinwenden, so werden diese sie auszischen, da sie in gar keiner Weise mit ihnen Gefahren und Mühe des Krieges geteilt haben. Ebenso werden auch Bauern, Kaufleute und alle anderen Stände der Menschen sie von sich fernhalten, da sie nicht teilhatten an der Mühsal der Sterblichen. Was bleibt dann übrig, außer dass die, die jeder Stand ausschließt und anklagt zugleich, schließlich den Ort bekommen, wo es keinerlei Stand gibt, sondern nur ewiges Grauen? Soweit die Predigt des heiligen Bernhard, darin er die Bosheit der Kleriker zeichnet und bloßstellt, von denen der Psalmist sagt: Sie teilen die Mühsal der Sterblichen nicht, die gegenwärtige versteht sich, und werden nicht Plage erleiden wie andere Menschen, d. h. im Fegefeuer, sondern wie die Dämonen [d. h. in der Hölle]. Weil sie denn derart gedeihen und strotzen, es ihnen so blendend ergeht, so hat sie der Hochmut gepackt,50 d. h., so die Glosse, er haftet an ihnen. Er hat sie gepackt wie mit Händen, so dass sie ihm nicht entkommen; sie sind umfangen vom Unrecht,51 so dass sie blind sind für ihren Nächsten, und von ihrer Ruchlosigkeit ,52 so dass sie blind sind für Gott. Wie aus dem Fett,53 d. h. aus dem Überfluss zeitlicher Güter, ist ihr Unrecht hervorgetreten54 und ist daher größer, als wenn sie aus Magerkeit sündigten; sie sind immer weitergeschritten,55 von Laster zu Laster, nach der Leidenschaft ihres Herzens ,56 indem sie jeder Leidenschaft frönten. Sie haben gedacht zuvor im Herzen und geredet mit Hor. ep. 1,3,18–20. 48 Mt 3,7 (vgl. 23,33; beide Stellen bei Hus im Wortlaut kontaminiert). 49 Vgl. Mt 3,8. 50 Vgl. Ps 73 (Vg. 72), 5 f. (auch für das vorhergehende Zitat). 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ps 73 (Vg. 72), 7. Die Deutung des seltsamen Bildes geht offenbar zurück auf Theodoret von Cyrus (PG 80,1445), das Bild selbst erklärt sich wohl nur aus verderbtem hebräischen Text. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd.
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ihrem Mund nur Niedertracht, indem sie andere verdarben, und haben Unrecht gesprochen auf hohem Podest , d. h. durch Selbstüberhebung, oder auf hohem Podest (laut Glosse) im Sinne von „öffentlich“ oder im Sinne von „gegen die Höhe“.57 Und es folgt [die Stelle] zum Thema: Sie haben ihren Mund gegen den Himmel erhoben, gegen Gott, indem sie gegen die Wahrheit redeten. Und ihre Zunge ging umher auf der Erde oder über die Erde ; die Glosse hierzu: d. h. sie hat die menschliche Gebrechlichkeit überstiegen.58 Sie glauben nämlich nicht, Menschen zu sein, die sehr bald sterben. Und daraus wird deutlich, welche Leute den Mund gegen den Himmel erheben und was es heißt, seinen Mund gegen den Himmel zu erheben. Der zweite Teil des fünften Beweises sagt: So gegen den Klerus zu predigen bedeutet, den Klerus zu verleumden. Dies wird bestritten. Denn Verleumdung ist ein gehässiges Ränkespiel zum Schaden des Nächsten. Die liebevolle Zurechtweisung aber ist kein gehässiges Ränkespiel zum Schaden des Nächsten, sie reinigt den Nächsten vielmehr vom Bösen. Der dritte Teil sagt: So zu predigen bedeutet, den Klerus zu beschämen. Hierbei muss man wissen, dass Beschämen nicht per se ein Vergehen oder ein Übel ist; sondern sowohl das aktive Beschämen [als Ursache] ist gut und heilsam als auch das passive Beschämtwerden in seiner Wirkung ein Gut. Zum Beispiel: Gott beschämt einen guten Menschen, so dass er sich vom Bösen abwendet – da hast du Beschämen als aktives Gut! Und jener, beschämt in Demut, erleidet seine Beschämung und erlangt so Vergebung der Sünden – da siehst du: Es ist für ihn gut, beschämt zu werden. Demnach ist es auch gut, den Klerus zu beschämen, damit er sich abwendet von seiner Bosheit. Vernimm den Psalmisten: Sie sollen beschämt werden und sich fürchten. Zurückweichen sollen sie und vor Scham erröten.59 Und das zeigt den ersten Vorteil der liebevollen Predigt auf, wie er oben bereits erwähnt wurde. Es wird also eingeräumt, dass die Bosheit des Klerus zu rügen und wider sie zu predigen heißt, den Klerus zu beschämen, natürlich den bösen Klerus; und dennoch heißt das nicht, dem Klerus zu schaden, sondern eher, ihm zu nützen, nämlich ihn von der Verdammung zurückzuziehen und somit von immerwährender Beschämung. Der böse Klerus also, der gegen den murrt, der gegen seine Bosheit kämpft, murrt gegen den Arzt, der ihn heilen will, und handelt der Gnade des Heiligen GeisVgl. Ps 73 (Vg. 72), 8. 58 Der Glossator (über-)interpretiert super terram („über die Erde hin“) als „über die Erde hinaus“. 59 Vgl. Ps 35, 4 (Vg. 34,4a/c).
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tes entgegen, durch die er ihn vom Bösen zurückziehen will. Dem Ruf der guten Geistlichen aber schadet jene Beschämung nicht, sondern sie rückt, wie der zweite Nutzen der Predigt besagt, deren heiliges Leben nur umso klarer ins Licht und stellt es heraus. Der vierte Teil sagt: So zu predigen heißt, dem Volke ein Ärgernis zu geben. Das wird bestritten und stattdessen erklärt, dass es das Volk vielmehr bessere und von jenen Ärgernissen, die der Klerus verursacht, zurückziehe, damit es den Geistlichen nicht wegen deren Ärgernis nachfolge. Und dies zeigt der vierte, der fünfte, ja sogar der sechste Nutzen. Ja, es bedeutet sogar, das Volk dazu zu ermuntern, für den Klerus zu beten und ihn dafür zu bemitleiden, dass er das Gesetz Christi durch seine Sitten so offen zerstört. Der fünfte Teil sagt: So zu predigen heißt, den Klerus beim Volke verhasst zu machen. Das wird eingeräumt, da der böse Klerus bereits den Hass Gottes auf sich gezogen hat, und folglich muss er beim Volk wegen seines Frevels verhasst sein, da Gott sagt: Ich hasse die Frevler , 60 ja, es ist ein Wort Christi und seiner Kirche. Und mit diesem heiligen und vollkommenen Hass hat Christus, der beste Prediger, die Schriftgelehrten, Priester und Pharisäer gehasst und sie angeklagt wegen ihres Frevels, weshalb sie zu seinen Feinden geworden waren. Weshalb er durch den Psalmisten sagt: Ich hasse sie mit vollkommenem Hass, sie sind mir zu Feinden geworden.61 Und mit diesem Hass, nur leider viel schwächer als Christus, hasse auch ich den bösen Klerus, und durch diesen Hass liebe ich ihn. Ich hasse seine Verkommenheit und liebe seine Heilung, und ich wünsche, das ganze Volk möchte den Klerus und mich im Besonderen so hassen. Der sechste Teil des Beweises sagt: So zu predigen heißt, den weltlichen Arm dazu anzustacheln, die zeitlichen Güter der Geistlichen einzuziehen. Dies wird bestritten, auch wenn zuweilen ein Prediger wohl aus begründetem Anlass den weltlichen Arm dazu auffordern mag, die zeitlichen Güter eines belasteten Klerus kraft Autorität der Kirche zu konfiszieren, wie aus dem Fall der Templer bekannt ist, deren gesamte zeitliche Güter durch den weltlichen Arm zum eigenen Gebrauch verteilt worden sind.62 Weshalb die liebevolle Ermahnung zu Recht jenes Dekret von Papst Pascasius vortragen kann, das in der letzten Quaestio von Causa 1 steht: Es ist klar, dass Simonisten von sämtlichen Gläubigen als die primären und eigentlichen Ketzer zu meiden und, falls sie trotz aller Ermahnung sich nicht eines Besseren besinnen, Ps 119,113. C. 1 q. 7 c. 27.
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Auflösung des Templerordens 1312.
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in ihre Schranken zu weisen sind durch die außerkirchlichen Gewalten, 63 das heißt (so die Glosse) die Laien, die diese Gewalt außerhalb der Kirche des Klerus innehaben, wie Distinctio 17, Kapitel Nec licuit,64 und Causa 23, Quaestio 5, Kapitel Principes ,65 ersichtlich. Und selbst jeder Bettler [in der Logik] muss Abscheu empfinden bei solch einer Spitzfindigkeit: „Der da predigt gegen die Bosheit des Klerus, deckt dessen Heuchelei durch die Schrift auf, also reizt er den weltlichen Arm, seine Güter gewaltsam an sich zu nehmen.“ So nämlich, durch ebendieselbe törichte Spitzfindigkeit, würde er alle Propheten, die gegen die Bosheit des Klerus redeten, und zumal unseren Herrn Jesus Christus beschuldigen, der zum verstockten Klerus gesagt hat: Ich sage euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben werden, das seine Früchte bringt.66 Aus all dem wird deutlich, dass der fünfte Beweis der Form nach in Ordnung ist,67 aber der Untersatz dort jeweils falsch ist,68 wo man den Obersatz einräumt.69 Zum sechsten Beweis, in dem es heißt Den Göttern sollst du nicht spotten, und da die Geistlichen Götter sind [...]: Hier wird der Untersatz eingeräumt bezüglich der guten heroischen Geistlichen, welche die Schrift Götter nennt, nicht aber bezüglich der bösen Geistlichen, die Dämonen Gottes sind, Silber und Gold, 70 aufgrund ihrer starken Leidenschaft für Gold und Silber, denn Augustinus sagt: Wenn du der Spreu nachläufst, wirst du selbst zu Spreu .71 Diese Götter haben einen Mund und reden nichts Heilsames. Sie haben Augen und sehen nicht,72 jetzt nicht den Sinn der Schrift, noch dann in der Seligkeit Gott, denn sie sind blind und Führer von Blinden .73 Sie haben Ohren und hören nicht, weder die Heilige Schrift noch eine gerechte Ermahnung, wie die Natter, die sich die Ohren verstopft. Sie haben Nasen und riechen nicht, denn sie können nicht zwischen Gutem und Bösem, zwischen Krankheit und Gesundheit unterscheiden. Sie haben Hände und fühlen nicht, denn sie können kein Beispiel für ein gutes Werk geben. Sie haben Füße und gehen nicht, denn sie sind vom Weg des Lebens abgekommen. Sie schreien nicht mit ihrer Kehle, denn sie sind nicht imstande, Gott mit Decr. Grat. I dist. 17 c. 4. 65 Decr. Grat. II C. 23 q. 5 c. 32. 66 Mt 21,43. 67 D. h. wenn man Ober- und Untersatz so wie der Gegenpart nimmt. 68 Sofern man aus eigener Sicht über Ober- und Untersatz urteilt. 69 D. h. in den Fällen 3 und 5 (zum Teil auch in 6). 70 Hus zitiert aus dem Gedächtnis und kontaminiert Ps 96 (Vg. [iuxta LXX] 95), 5 „alle Götter der Heiden sind Dämonen“ (omnes dii gentium daemonia ) mit Ps 115 (Vg. [iuxta LXX ]113,12 [114,4]), 4 „die Götzen der Heiden sind Silber und Gold“ (simulacra gentium argentum et aurum). 71 Verschiedentlich Augustin zugeschrieben (etwa von Wyclif, Opus Evangelicum 3,10), aber bei diesem nicht nachweisbar. 72 Vgl. Ps 115,5 (= Vg. 113,13 [114,5]). 73 Mt 15,14.
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Verdienst zu loben.74 Sie sind nämlich Gaukelwerke der Heiden, da sie den Heiden eine Heiligkeit vorgaukeln,75 die sie nicht haben, so wie ein Idol oder Gaukelwerk nur ein gemachtes Ding ist,76 das etwas vorgaukelt, das nicht existiert. Weshalb es Lk 20 heißt: Die Pharisäer schickten Fallensteller zu Jesus, die Gerechtigkeit vorgaukeln sollten .77 Oh, wie viele solcher Gaukelwerke es gibt! Und folglich sind es keine heiligen Götter, sondern Dämonen, die aus der Kirche Christi hinauszuwerfen sind. Und daraus wird deutlich, dass Götter, d. h. heilige Priester, keineswegs verspottet werden, wenn gegen die Gottlosigkeit der Dämonen mit Liebe und Leidenschaft gepredigt wird. Zum siebenten Beweis, anhand jenes Ham, der die Scham seines Vaters als Einziger sah, sie den anderen jedoch zum Spott präsentierte, sagen wir: Jeder Prediger, der die verborgene Sünde eines Geistlichen oder auch die eines Laien aus Spottlust verrät, wäre nicht minder zu tadeln als Ham; erstens wegen des öffentlichen Verrats einer Sünde, von der allein er nämlich wusste, zweitens wegen der albernen Spottlust, insofern ein jeglicher Mensch und besonders ein Prediger die Sünde seines Nächsten auslöschen, aber nicht verhöhnen sollte. So hindert uns das Beispiel Hams nicht, die Bosheit des Klerus im Allgemeinen vor Gott und dem Volke anzuklagen, nicht gerichtlich, sondern aus Mitleid; weshalb es dem Untergebenen auch nicht verwehrt ist, in gehöriger Weise den Vorgesetzten anzuklagen. Denn Causa 2, Quaestio 7, Kapitel Plerique ,78 sagt das Dekret, dass Ham die Scham seines Vaters nicht zudeckte, sondern zum Spott präsentierte, bedeutet für die Untergebenen nicht das Verbot, ihre Vorgesetzten anzuklagen, wohl aber, sie zu verraten;79 denn zu verraten ist eines, ein anderes, anzuklagen. Es verrät nämlich nur derjenige, der keine Beweise anführen kann; es verklagt hingegen derjenige, der in Anwesenheit des Angeklagten das Vergehen vor Gericht bringt und beweisen kann, was er vorgibt. Zum achten Beweis, am Beispiel Kaiser Konstantins, der einen Priester beim Koitus mit einer Frau mit dem Mantel bedeckte: Hier Vgl. Ps 115,6 f. (= Vg. 113,14 f.). 75 Wortspiel mit dem gemeinsamen Wortstamm von simulacrum („Trugbild, Gaukelwerk, Götzenbild“) und simulare („vortäuschen, -gaukeln, -spiegeln“). 76 Vgl. Ps 115,4 (= Vg. 113,12). 77 Vgl. Lk 20,20. 78 Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 27 (der von Hus erwähnte Kapitelanfang stammt aus dem dort angeführten Augustinus-Zitat [vgl. PL 39,1546]; im Decr. Grat. steht plerumque). 79 Hier ist die Vorlage etwas zu Lasten des Sinns komprimiert: Im Original heißt es, nach dem Dekret Anaklets würden die verdammt, die die Schuld ihrer Lehrer und Vorgesetzten so verrieten wie Ham, der die Scham seines Vaters nicht zudeckte, sondern sogar noch zum Spott präsentierte; durch diese Autorität sei den Untergebenen nicht die Klage verboten, sondern allein der Verrat. 74
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dient als Antwort die gerechte Tat des Pinehas, über den Chrysostomus in der Homilie zu Matthäus 1780 vermerkt, dass Pinehas den Juden und die Moabiterin bei ihrem Koitus nicht mit dem Mantel bedeckt hat,81 sondern zum Spieß gegriffen und sie durchbohrt hat.82 Deshalb sprach der Herr zu Moses: Pinehas, der Sohn Eleazars, des Sohnes Aaron des Priesters, hat meinen Zorn von den Söhnen Israels abgewendet, indem er von Eifer um mich gegen sie getrieben war, so dass ich nicht selbst die Söhne Israels in meinem Eifer vertilgte. Darum sprich zu ihm: Siehe, ich gebe ihm den Frieden meines Bundes, und er selbst mitsamt seiner Nachkommenschaft soll den ewigen Bund des Priestertums haben, weil er geeifert hat für seinen Gott und entsühnt hat den Frevel der Söhne Israels. So steht es geschrieben in Num. 25.83 Deshalb sagt Chrysostomus, und der Psalmist erwähnt es in Ps 105: Es wich die Plage ,84 und das ward ihm gerechnet zur Gerechtigkeit ewiglich .85 Und nach vielen Exempeln der Strafe86 schließt er dann endlich:87 Schauen wir also nicht nur auf die Werke, sondern zugleich auf die Zeit, den Grund, den Willen, auch die Verschiedenheit der Personen und prüfen wir alles mit größter Sorgfalt, was immer auch ihnen geschieht. Denn anders können wir nicht zur Wahrheit gelangen. Gewiss verlangt ja das Neue Testament für die Sünder mildere Strafen als das Alte; doch so wenig dies Grund ist, sie in ihrer Sünde zu fördern, so wenig ist dies ein Grund, sie nicht im Sinne genauer Bestrafung des Unrechts an Gott zur eigenen Heilung sowie zur kirchlichen Reinigung maßvoll zu züchtigen. Da also das Beispiel Pinehas’ durch die Schrift bekräftigt und durch das Wort Gottes gelobt und belohnt worden ist, so verdient es mehr Lob als das Beispiel Konstantins. Trotzdem behaupte ich darum noch nicht, dass ein jeder, der zufällig Zeuge ist und in der Lage zum Angriff, Es ist nicht die Homilie zu Mt 17, sondern Homilie 17 zu Mt 5 (PG 57,262 f.), und auch diese sehr frei memoriert (und kontaminiert mit Ps.-Chrysostomus, In Ps. CV). 81 Von einem Bezug auf das zuvor bei Hus erwähnte Beispiel Kaiser Konstantins findet sich nichts bei Chrysostomus. Hus hat offenbar dunkel in Erinnerung, dass auch dort von einem „Mantel“ die Rede ist (nämlich dem des erwachsenen Mannes, der dem Knaben nicht ansteht: PG 57,262). 82 Vgl. Num 25,7 f. Auch dieses Zitat steht nicht bei Chrysostomus; eine Paraphrase hierzu aber findet sich in der einst Chrysostomus zugeschriebenen Homilie zu Ps 105 (= 106), mit der Hus die Matthäus-Homilie hier aus dem Gedächtnis vermengt (vgl. PG 55,664). 83 Num 25,10– 13. 84 Ps 106 (Vg. 105), 30b, nur zitiert bei Ps.-Chrysostomus, In Ps. CV (PG 55,664). 85 Vgl. Ps 106 (Vg. 105), 30 f. Vers 31 sowohl bei Chrysostomus (PG 57,262 f.) als auch bei Ps.-Chrysostomus, In Ps. CV (PG 55,664), angeführt. 86 Vgl. Ps.-Chrysostomus, In Ps. CV, zu V. 41 f. (PG 55,664 f.). 87 Frei memoriert nach Chrysostomus, In Matth. Hom. 17 (PG 57,263). 80
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zwei Menschen im Beischlaf durchbohren soll; sondern er soll sie mit Rücksicht auf Zeit und Grund und Verschiedenheit der Personen, sofern er sie mit seinem Mantel bedecken kann, freilich aus Mitleid bedecken, damit es nicht andern zum Ärgernis werde, und es keineswegs breittreten; falls er jedoch entbrannt ist vom Eifer für unseren Herrn, so mag er denn – bei gleichem Beweggrund (und auch bei vergleichbarem zeitlichen Umstand) – das Beispiel Pinehas’ nachahmen. Zum neunten Argument, jenem Spruch des Rabanus: Wenn du einen Priester mit der Hand auf dem Schoß eines Weibes siehst, so geh davon aus, er tue dies, um sie zu segnen. Wenn dies gilt, so gilt auch vom ähnlichen Fall: Wenn du siehst, wie ein Priester sich auf ein Weib legt, den Mund auf den ihren gepresst, seine Augen über den ihren, die Hände auf ihren, so geh davon aus, er tue dies, um sie, so wie Elisa, vom Tod zu erwecken. Doch gepriesen sei Elisa, dass er sich nicht auf ein Weib, sondern allein auf den Knaben des Weibs im Verborgenen gelegt hat.88 Und gelobt und erhaben über jeden Verdacht sei Elia, der sich über einen Knaben hinstreckte, nicht über ein Weib,89 desgleichen der Apostel Paulus über dem toten Jüngling.90 Und gepriesen, gelobt und gerühmt sei Christus Jesus, der seine Hand nicht auf den Schoß des Weibes legte, sondern aufrecht die ihre ergriff und sie heilte,91 und ebenso dafür, dass er seine Hand nicht auf den Schoß oder Busen des Mädchens legte, sondern allein ihre Hand ergriff und sprach: Mädchen, ich sag dir, steh auf! 92 Und gelobt ohne jeden Hintergedanken sei der Apostel Petrus, der sich auf die tote Tabea nicht etwa legte, sondern sich hinkniete, betete und sich zum Leichnam wandte und sprach: Tabea, steh auf! 93 Wenn also diese Beispiele wahr sind und uns zur Erbauung dienen, so müssen sie uns, den Priestern, auch Mahnung sein, nicht bei der Absolution die Hand auf den Busen oder Schoß eines Weibes zu legen, sondern, nach Art der Apostel, allein auf den Kopf, um so, in kurzer Berührung des Hauptes, uns selbst wie auch sie vor Satans Stachel zu schützen. Daher sagt der Apostel Paulus, von diesem Stachel gemartert: Es ist gut für den Menschen, kein Weib zu berühren.94 Denn das Weib ist wie Pech des Teufels, das den Wandel der Priester befleckt. So wenig man Pech berühren kann, ohne beschmiert zu werden, im Feuer sich aufhalten ohne Verbrennung, so wenig kann man ein Weib berühren, ohne95 dran hängen zu bleiben. Höre, was Sir 9 gesagt wird: Wende den Vgl. 2Kön 4,34 f. 89 Vgl. 1Kön 17,21. 90 Vgl. Apg 20,10. 91 Vgl. Lk 4,39. 92 Vgl. Mt 9, 25. 93 Vgl. Apg 9,40. 94 1Kor 7,1. 95 Im lat. Text ist hier vor habitare ein non zu ergänzen.
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Blick vom geputzten Weibe und schau dich nicht um nach der schönen Gestalt einer anderen. Die Schönheit des Weibs hat schon viele zugrunde gerichtet, und hieran entbrennt die Begierde wie Feuer.96 Da sieh: wie Feuer! Weshalb dann folgt: Viele schon sind vor lauter Bewunderung für die Gestalt eines anderen Weibes zuschanden geworden, denn Umgang mit ihr ist wie glühendes Feuer.97 Setze dich gar nicht erst mit einer anderen zusammen und liege nicht mit ihr zu Tische .98 Sieh da, es heißt, nicht einmal zu Tisch mit dem Weibe zu liegen, also schon gar nicht die Hand auf ihren Schoß zu legen, weshalb der weise Vater Spr 5 spricht: Nun also, höre mich, mein Sohn, und weiche nicht von meines Mundes Worten: Halt fern von ihr deinen Weg und nähere dich nicht der Tür ihres Hauses.99 Auch Augustinus hat dies erwogen: Einen gefährlichen Feind hat die Keuschheit im Weibe gefunden, dem man nicht so sehr widerstehen soll als nur recht weit mit hängendem Zügel entfliehen. Denn das Weib entflammt, sobald man es hört, befleckt, sobald man es sieht, vergiftet, sobald man es anrührt. 100 Sieh da, er sagt: Es vergiftet, sobald man es anrührt : Also berühre auch nicht des Weibes Schoß, da solcherart „Ab-lösung“ seltsam, ja höchst skandalöse Auf-lösung ist,101 von der Bernhard sagt: Tu, was du willst, ich werde hier meinen Verdacht nicht los.102 Hieraus ist klar ersichtlich: Der Spruch des Rabanus ist nicht geeignet, den Argwohn gegen den Priester, der seine Hand auf den Schoß eines Weibes legt, auszuräumen, und macht es nicht leichter zu glauben, er tue dies nur zur Absolution; denn der Schoß eines Weibs ist kein Ort für die Absolution und nicht zur Berührung durch den Priester gedacht. Es hüte sich also der Priester, der Absolution erteilt, vor dem Schoße des Weibes; er lege an öffentlichem Ort, wenn die Sache es fordert, nur kurz und behutsam und ganz aus heiligem Vorsatz die Hand auf ihr Haupt. So nämlich wird der Verdacht behoben, und man wird annehmen, dass er dies nur zur Absolution tut. So ist denn hinreichend Sir 9,8–10. 97 Vgl. Vers 10 (= Vg. V. 9). 98 Sir 9,11 f. 99 Spr 5,7 f. 100 Zitat in dieser Form nicht nachweisbar; nur zum ersten Halbsatz ein wörtlicher Anklang bei Ps.Augustinus, Serm. 293 (PL 39, 2302 [2.]7), der Rest zum Teil sinngemäß (ebd., 2301,1.). Hus zitiert hier aus zweiter Hand (vgl. ersten Satz bei Alardus Gaza, Comm. in Ioannis Cassiani Collationes 19 [PL 49,1147B], der seinerseits in der Zuweisung zwischen Augustinus und dem Vf. der Schrift De singularitate cleri schwankt [ebd.; auch letztere Annahme stimmt nicht, trotz mancher Bezüge). 101 Wortspiel mit absolutio (Lossprechung, wtl. „Ab-lösung“) und dissolutio (Aufweichung, ,Auf-lösung‘). 102 Vgl. Bernhard von Clairvaux sermo 65,4 (PL 1831091C).
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deutlich, dass unsere Quaestio in ihrer Beweiskraft durch keines der Argumente, die als Einwände angeführt sind, widerlegt wird. Ende der Untersuchung „Zur Kritik am Klerus“, geschrieben von dem ehrwürdigen M. Joannes von Hussinetz, Baccalaureus der Heiligen Schrift.
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7 HUS AN DEN PRAGER ERZBISCHOF ZBYNEˇ K VON HASENBURG [Juli 1408]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 28–30 (Nr. 11).
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Einleitung Nr. 7
Hus schrieb den Brief an seinen Erzbischof, zu dem er bis dahin offenbar ein Vertrauensverhältnis besessen hatte, wahrscheinlich in der ersten Julihälfte des Jahres 1408. Er sprach darin Themen an, die dem Erzbischof von ihm schon bekannt waren, da Hus sie bereits in Predigten des Jahres 1407 vorgetragen hatte. Der Brief wurde allerdings durch Beschlüsse einer Prager Synode vom Juni 1408 veranlasst. Demnach sollten sich Prediger nicht mehr in volkssprachlichen Predigten gegen Laster anderer Kleriker äußern. Darin wurden Auswüchse der Theologie John Wyclifs gesehen. Der Brief belegt Hussens intensive Beschäftigung mit der Bibel.
Hus an den Prager Erzbischof
O ich Armer im Glauben und in der Wahrheit unseres Herrn Jesu Christi! Hochehrwürdiger Vater! 5 Sehr häufig verfahre ich so, wie Eure Väterlichen Gnaden mir bei
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Eurem Amtsantritt1 zum Grundsatz mitgegeben haben, dass ich, sooft ich eine Nachlässigkeit zum Schaden Eures Amtes bemerke, diese unverzüglich persönlich oder bei Abwesenheit schriftlich melde. Dieser Grundsatz zwingt mich, deutlich davon zu reden, wie es kommt, dass Leute, die ein lasterhaftes Leben führen und verschiedentlich schuldig geworden sind, ohne strenge Zurechtweisung wie ungezähmte Stiere und geile Hengste2 mit hochgereckten Hälsen frei herumlaufen, einfache brave Priester aber, die die Dornen der Sünde auszureißen sich mühen, die Pflicht Eurem Amt gegenüber aus gutem frommen Herzen erfüllen, sich nicht von Habgier leiten lassen, sondern gerne für Gott der mühevollen Verkündigung des Evangeliums dienen, als Ketzer ins Gefängnis geworfen werden und ausgerechnet für die Verkündigung des Evangeliums Verbannung erleiden. Mein Vater, was ist das für ein Pflichtgefühl, die Verkündigung des Evangeliums zu verbieten! Das hat doch Christus seinen Jüngern in erster Linie geboten, mit den Worten: Predigt das Evangelium allen Geschöpfen.3 Welch eine Verfügung, einen sorgfältigen und zuverlässigen Arbeiter von der Arbeit abzuhalten! In Wahrheit jedoch, so meine ich, geht dies ja gar nicht von Euer Väterlichen Gnaden aus, sondern von der Verkommenheit anderer. Welcher arme Priester also wird es noch wagen, Vergehen zu bekämpfen? Wer wird es wagen, Verfehlungen anzuklagen? Fürwahr, die Ernte ist groß, der wahren Arbeiter aber sind wenige, die sich von der Wahrheit leiten lassen.4 Also, mein Vater, bittet den Herrn der Ernte, dass er treue Arbeiter in seine Ernte schicke. Denn Eurer Väterlichen Gnaden obliegt es zuletzt, die ganze Ernte im Königreich Böhmen einzubringen, in die Scheune des Herrn zu sammeln und am Tage des Todes Rechenschaft über jede Garbe zu geben. Jedoch, wie werden Eure Väterlichen Gnaden eine so große Menge an Garben in die Scheune des Herrn einbringen können, wenn Ihr den Schnittern die Sichel des Worts aus der Hand nehmt auf Verlangen von Pflichtvergessenen, die von sich aus nicht in der Ernte arbeiten und andere behindern, wenn durch das Wort des Herrn ihre Verfehlungen berührt werden? An denen, o Schmerz, erfüllt sich jenes Wort des Apostels, wenn er sagt: Die gesunde Lehre werden
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Im Jahr 1403.
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Vgl. Jer 5,8.
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Mt 9,37; Lk 10,2.
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Hus an den Prager Erzbischof
sie nicht ertragen, von der Wahrheit ihre Ohren abwenden, den Fabeln aber sich zuwenden und zuhauf sich Lehrer nehmen, die ihnen die Ohren kitzeln.5 Tatsächlich wird sich dieses Wort des Apostels erfüllen, weil die Liebe unter der Geistlichkeit erkaltet ist und die Sündhaftigkeit im Volk überhandgenommen hat,6 eben aufgrund der geschwundenen 5 Liebe unter der Geistlichkeit, die sich von pflichtmäßiger Verkündigung des Evangeliums und wahrer Nachfolge Christi abkehrt. Denn wer von uns, ach, folgt noch Christus auf seinem Wege in Armut, Keuschheit und Demut sowie in beharrlicher Verkündigung! Wehe, wehe, wehe! Es erfüllt sich das Wort des Apostels: Alle suchen nur das 10 Ihre, nicht, was Jesus Christus von ihnen will.7 Also, Hochehrwürdiger Vater, seht die Dinge mit den Augen Eures Herzens, achtet die Guten, behaltet die Schlechten im Blick. Nicht sollen Euch schmeicheln die Prunksüchtigen, die Habgierigen, sondern es sollen Euch freuen die Demütigen, die Freunde der Armut. Treibt die 15 Pflichtvergessenen zur Arbeit an, hindert nicht die, die treu ihre Arbeit tun in der Ernte des Herrn, denn keinerlei Fessel erlaubt,8 was das Heil der Seelen erwirkt. Mehr noch würde ich schreiben, aber die mühevolle Arbeit der Verkündigung des Evangeliums hält mich davon ab. Der Herr, der alles vermag, möge den Sinn Eurer Väterlichen Gnaden bei 20 dem, was ich oben geschrieben habe, so lenken, dass Ihr dem Hirten der Hirten die geschuldete Rechenschaft geben könnt, wenn es Zeit ist.
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2Tim 4,3 f.
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Vgl. Mt 24,12.
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Phil 2,21.
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Vgl. 2Tim 2,9.
8 KLAGEARTIKEL DER PRAGER GEISTLICHEN GEGEN JOHANNES HUS [1408]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 153–155 (Nr. 1).
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Einleitung Nr. 8
Am 17. Juli 1407 predigte Hus in der Bethlehemskapelle über die kirchlichen Zustände in Prag, die ihm missfielen. Dazu zählte vor allem die Lebensweise der Geistlichen, die dem Vorbild Christi folgen sollte. Besonders prangerte er an, dass viele Geistliche für Amtshandlungen Geld nahmen, statt ihren Aufgaben als Seelsorger gewissenhaft nachzukommen. Damit verfolgte er Gedanken weiter, die er bereits in einer Predigt vor der Herbstsynode am 19. Oktober 1405 vertreten hatte (vgl. Nr. 5 dieser Ausgabe). Damals hatte er im Anschluss an Mt 22,37 dargelegt, dass der Klerus Christus in besonderer Demut nachfolgen müsse. War solche Kritik am Klerus auch längst Tradition auf Synoden, so nahm man doch stärkeren Anstoß in größerem Rahmen, weshalb eine Synode vom 16. Juni 1408 Kritik am Klerus vor dem Volk verbot. Doch hielt das Verbot Hus keineswegs ab. Seine Gegner verklagten ihn nun ihrerseits beim Prager Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg. Und sie warfen ihm in ihren Klageartikeln nicht nur einen formalen Verstoß vor, sondern sprachen ihm sachlich das Recht zur Kritik ab, indem sie ihn im schwelenden Abendmahlsstreit unter Verweis auf einen sehr wycliffreundlichen Ausspruch als Wyclifit verdächtigten, nämlich als Vertreter der ,Remanenz‘, wonach Brot und Wein bei der Eucharistie der Substanz nach ,verbleiben‘ (remanent). Bei einer dieser Anklage vorausgegangenen Untersuchung durch den Erzbischof in Prag konnten allerdings kaum Anhänger dieser Lehre nachgewiesen werden. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil es in den Jahren zuvor zu Disputationen über und Sympathiebekundungen – vor allem unter den Laien – für diese Lehre gekommen war, die wiederum zu Verboten durch den Erzbischof geführt hatten.
Klageartikel der Prager Geistlichen gegen Hus
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Auf inständige Bitten der Geistlichen Eurer Stadt und Diözese Prag habt nach Art eines pflichtbewussten Vaters die Güte, in Vollmacht Eures Amtes Maßregeln zu treffen und Sorge dafür zu tragen, dass keine Ärgernisse entstehen. Denn noch nicht lange gibt es um das Sakrament des Leibes Christi ein Ärgernis, das dadurch aufgekommen ist, dass man an der Römischen Kurie1 und auch außerhalb von ihr die „Natio Bohemica“2 wegen der Irrlehrer und Wyclifiten als ketzerisch bezeichnet hat, so dass die Guten wegen der Schlechten in Verruf geraten, ja schon geraten sind – und das während Eurer Amtszeit. Noch ist dieses Übel nicht völlig getilgt, da kommen nun auch noch anstoßerregende und hasserfüllte Predigten hinzu, die fromme Gemüter verletzen, die Ehrerbietung beseitigen und den Klerus beim Volk verhasst machen; beim Volk bleibt nur Murren zurück, und bei Euren Geistlichen, die ja auch so schon genug in Verruf sind, schwindet am Ende durch solche anstößigen und zudem halbwahren Predigten jegliche Hochachtung für einen löblichen Brauch. Und wenn Eure Hochwürdigen Väterlichen Gnaden sich nicht Eurer Geistlichen annehmen und den Funken solch anstößigen Predigens löschen, steht wohl zu befürchten, dass die Geistlichkeit derartigen Kränkungen entgegentritt und dadurch die Flammen des Feuers noch anfacht. Denn nicht aus tief verwurzelter Achtung, sondern aus Hass, Bosheit und Verlogenheit wird die Geistlichkeit über alle Maßen zurechtgewiesen, so dass die Guten und Unschuldigen wegen der Schlechten und Schuldigen unter diesen unendlichen Zurechtweisungen zu leiden haben. Darum, Hochwürdigster Vater, legen wir bei Euren Väterlichen Gnaden Beschwerde ein über die nachfolgend angezeigten Verfehlungen. Und zwar erstens, dass der Magister Jan Hus, Prediger an der Kapelle der Heiligen Unschuldigen Kinder von Bethlehem in der Prager Altstadt, im Jahr 1407, am 17. Juli, zur Stunde der Non,3 im Widerspruch zu dem, was die Heilige Mutter Kirche bestimmt hat und die Heiligen Väter verfügt haben, zu grundloser Schmähung, Anklage, Beleidigung und Herabwürdigung und darum zum Ärgernis für die gesamte Geistlichkeit und das gemeine Volk vor der gesamten Volksmenge beiderlei Geschlechts unter anderem gesagt hat oder zu sagen Zu denken ist an Papst Gregor XII., der gegen die Remanenz vorging. 2 Hus gehörte zur böhmischen Nation an der Universität Prag. Daneben gab es noch die polnische, die bayerische und die sächsische Nation. 3 Also „zur neunten Stunde“ nach Sonnenaufgang, d. h. zur liturgischen Gebetszeit um 15 Uhr.
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sich nicht gescheut hat: Wer von seinen Pfarrkindern, zumal von den armen, für Beichte, Offertorium,4 für die kirchlichen Sakramente, nämlich für Eucharistie und geweihte Wasser und Öle, für Taufe, Glockenläuten, Begräbnis usw. Geld verlange (kein Wort, ob vor oder nach der sakramentalen Spendung!) und auch nicht beabsichtige, von derartigen Geldforderungen Abstand zu nehmen, der sei ein Ketzer. Woraus er schloss, dass alle Pfarrer Ketzer sind, hierbei freilich allein seinen unberechtigten Vorwurf boshafterweise erhob, jedoch unerwähnt ließ, inwiefern er sich damit in Widerspruch setzte zu den Statuten des kirchlichen Rechts, wo es heißt: Dagegen aber trachten einige Laien danach, eine lobenswerte Gewohnheit gegenüber der Heiligen Kirche, die aus liebevoller Verehrung eingeführt wurde, im Eifer ihrer ketzerischen Verkommenheit, doch unter dem Deckmantel einer Frömmigkeit, die sich auf kirchliches Recht beruft, zu zerstören . Und es heißt weiter: Darum verbieten wir alle darüber hinausgehenden, verwerflichen Geldeinnahmen und ordnen an, fromme Gewohnheiten zu wahren, indem wir verfügen, dass kirchliche Sakramente frei zu spenden, zugleich aber auch durch den Bischof vor Ort, in Kenntnis der Lage, die in die Schranken zu weisen sind, die böswillig danach trachten, eine lobenswerte Gewohnheit zu ändern , wie das Kapitel Ad apostolicam über die Simonie ausführt.5 Zweitens wird Euch, Hochwürdigster Vater, ebenso angezeigt, dass vorgenannter Magister Jan Hus an erwähntem Tag, zur angegebenen Zeit, in ebender von ihm öffentlich gehaltenen Predigt mitzuteilen hatte, dass der Magister Petrus Wsˇ erub6 seligen Angedenkens gestorben ist und dass für ihn gebetet werden soll, und dabei unter anderem sagte (nicht allgemein, sondern indem er auf Einzelheiten einging): „Wenn es nach mir ginge (unbeschadet des göttlichen Richterspruchs), wollte ich nicht um die ganze Welt mit so vielen hohen kirchlichen Ämtern sterben.“ Bedenkt doch bitte, Hochwürdigster Vater, ob das gut gepredigt ist und ob eine solche Predigt das Volk erbaut oder eher durch solche Worte die Geistlichkeit verunglimpft wird. Dabei wissen wir doch, dass vorgenannter Magister Petrus ein guter Christ und treuer Verfechter des Glaubens gewesen ist, keine Irrlehren verbreitet hat Zubereitung der Konsekration durch den Priester bzw. deren Begleitung durch den Responsorialgesang. 5 Die Zitate stammen aus den Beschlüssen des vierten Laterankonzils von 1215; vgl. Decr. Greg. IX, De simonia: lib. 5 tit. 3, c 42 (Friedberg 2, 766). 6 Petrus Wsˇ erub (Petr ze Vsˇ erub) stammte aus Vsˇ erub bei Pilsen und war ein Kanoniker, der für sich zahlreiche Ämter sammeln konnte. So ernannte ihn König Wenzel IV. 1393 zu seinem Bevollmächtigten bei Papst Bonifaz IX. und 1394 zum Kaplan der Böhmischen Krone. Wsˇ erub starb im Juli 1407.
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und dass demgegenüber vorgenannter Magister Hus in Eurer Gegenwart vorzeiten gesagt hat,7 er wünsche, dass seine Seele dereinst dort sei, wo die Seele Wyclifs schon ist. Und der hat doch bekanntermaßen über das Altarsakrament allseits bekannte ketzerische Gedanken geäußert, die dem, was die Heilige Mutter Kirche bestimmt hat, entgegenstehen, weshalb die Remanenzthesen8 leider bei vielen in dieser Stadt noch immer lebendig sind. Drittens wird Euch, Hochwürdigster Vater, gleichfalls angezeigt, dass trotz synodalen Verbots jedes maßlosen Predigens gegen den Klerus vom Tag nach dem Fest des Hl. Veit dieses Jahres9 vorgenannter Magister Hus (aus welcher Dreistigkeit auch immer er dies tut), den gesamten vorgenannten Klerus diffamiert, obwohl es viele gute Prediger in dieser Stadt gab und noch gibt, die dennoch nicht jedes Maß verloren haben oder verlieren so wie er. Durch diese maßlose und herabwürdigende Predigt gegen die Geistlichen macht er den ganzen Klerus beim Volk verhasster denn je. Daher, Hochwürdigster Vater, weil ganz offensichtlich derartige Predigten uns und unseren Gemeinden, Euch und Eurer Diözese äußerst abträglich sind und mit dem Rufmord an uns auch der Eure einhergeht, mögen Eure Väterlichen Gnaden die Güte haben, uns von Amts wegen fürsorglich beizustehen. Darum bitten wir sehr.
In seiner Antwort (diese Ausgabe Nr. 9) räumt Hus in der zweiten Entgegnung auf den zweiten Anklagepunkt ein, dies so gesagt zu haben. 8 Thesen über die („verbleibende“) Substanz von Brot und Wein im Abendmahl, die auf John Wyclif zurückgeführt werden. 9 Der Tag des Hl. Veit ist der 15. Juni, die Synode fand also am 16. Juni 1408 statt.
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Abb. 4: Anfang einer tschechischsprachigen Hus-Postille, 1414. Vorlage: Václav Flajsˇ hans, Mistr Jan rˇ ecˇ eny´ Hus z Husince, Prag 1901, 213.
9 ANTWORT DES JOHANNES HUS AUF DIE KLAGEARTIKEL DER PRAGER GEISTLICHEN [1408]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´ , Korespondence, 30–41 (Nr. 12).
Einleitung Nr. 9
Ebenso wie die Klageartikel gegen Hus (vgl. diese Ausgabe Nr. 8) ist auch die Entgegnung von Hus an Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg gerichtet. Dabei nimmt die Verteidigungsschrift die dreiteilige Gliederung der Klage auf, zerlegt die Argumente aber in mehrere Unterpunkte. Hus bedient sich der für die scholastische Theologie üblichen Mittel, indem er zunächst die Anklagepunkte referiert und diese dann formal-logisch sowie mit Argumenten aus dem kirchlichen Recht und der Bibel widerlegt. Sein Fazit lautet: Der erste Anklagepunkt ist falsch, der zweite stellt den Vorgang verkürzt dar, der dritte wird verneint (unten 142,13 ff.).
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Da ich, Hochwürdigster Vater, bei Euren Väterlichen Gnaden durch meine Gegner als ein Prediger angezeigt worden bin, der Anstoß erregt, Irrtümern anhängt, sich gegen die Heilige Mutter Kirche stellt und so vom rechten Glauben entfernt hat – was sich indes mit der Hilfe des Herrn als leichtfertig und lügenhaft erweisen wird –, um also die leichtfertige Klage meiner Gegner zu widerlegen, möchte ich Euren Väterlichen Gnaden gemäß der Regel des seligen Apostels Petrus demütig und aufrichtig über meinen Glauben und meine Hoffnung sowie über die gegen mich vor Euren Väterlichen Gnaden erhobenen Vorwürfe Rechenschaft ablegen. Der unmittelbare Stellvertreter Christi sagt nämlich 1Petr 3:1 Gott heiligt in euren Herzen. Seid allzeit bereit, euch vor jedem zu verantworten, der von euch Rechenschaft fordert, über den Glauben und die Hoffnung, die in euch ist, doch mit Besonnenheit 2 und Ehrerbietung; und habt ein gutes Gewissen, damit die, die in euch den guten Wandel in Christus schmähen, beschämt werden in dem, was sie euch gleich Übeltätern verleumderisch nachsagen . Um also die bei meinen Gegnern über mich bestehende falsche Einschätzung zu widerlegen und aus der Welt zu schaffen, bekenne ich zuerst ganz allgemein, dass ich fest glaube, was auch immer der Herr Jesus Christus und seine ganze Kirche wollen, dass es geglaubt wird; und was auch immer zu glauben ich im Einzelnen künftig unterwiesen werde, daran will ich fest glauben und mich halten. Denn nicht nur Euren Hochwürden, sondern jedem, der es gemäß dem Wort des seligen Apostels Petrus von mir fordert, bin ich bereit, Rechenschaft zu geben, damit die, die mich wie einen Übeltäter verleumden, beschämt werden.
[Entgegnung auf den ersten Anklagepunkt]3 Zum ersten Anklagepunkt also, der sagt: Magister Jan Hus hat vor der gesamten Volksmenge beiderlei Geschlechts gesagt und zu sagen sich 30 nicht gescheut, im Widerspruch zu dem, was die Heilige Mutter Kirche bestimmt und die Väter verfügt haben 4 usw., gebe ich Rechenschaft, indem ich ihn bestreite und für falsch erkläre: erstens deshalb, weil ich nichts vor der gesamten Volksmenge gesagt habe, weil nicht die gesamte Menge der Menschen an dem Tag, an dem ich gepredigt habe, 35 in Prag war. Weder habe ich nämlich irgendetwas vor der Menge beiderlei Geschlechts, die damals in Rom war, gesagt, noch habe ich irgendetwas vor der Menge, die damals in Jerusalem war,5 gesagt. Also usw. 1Petr 3,15 f. 2 Der Vulgatatext, auf den Hus sich bezieht, liest hier modestia , nicht, wie die Nova Vulgata (gemäß dem griechischen Urtext), mansuetudine („Sanftmut“). 3 Die Titel sind offenbar Zusatz von späterer Hand. 4 Zitat aus der Anklage. 5 Ein
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[Zweite Entgegnung auf den ersten Anklagepunkt] Zweitens sage ich, dass dieser Anklagepunkt falsch ist, weil ich nichts gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche gesagt, sondern eher die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche bekräftigt habe. Dabei habe ich mich auf die nachfolgende Anweisung der Versammlung von Tre- 5 bur6 berufen, die in Quaestio 1,3 steht:7 Man sagt, dass in einigen Gegenden üblich ist, für den Empfang der heiligen Ölung Geld zu geben, ebenso für Taufe und Kommunion. Die Heilige Synode hat diesen Brauch als Ketzerei der Simonie verworfen und mit dem Kirchenbann belegt, und sie hat festgelegt, dass in Zukunft weder für eine Weihe- 10 handlung noch für heilige Ölung, Taufe, Begräbnis oder Kommunion etwas gefordert werden darf, sondern die Gaben Christi umsonst als unentgeltliche Spendung gereicht werden sollen. Und da habe ich gesagt: Wer für Sakramente Geld fordert und nicht beabsichtigt, von Geldforderungen Abstand zu nehmen, und zumal, wenn er Geld von 15 den Armen fordert und diese rücksichtslos zur Zahlung nötigt – jeder von der Art und alle, die so sind, all das sind falsche Propheten, Anhänger der Simonie und demnach Ketzer. 20 [Dritte Entgegnung auf denselben Anklagepunkt] Drittens sage ich, dass dieser Anklagepunkt, der da gegen mich vorgebracht worden ist, falsch ist, weil er besagt, ich hätte in diesem Zusammenhang gegen eine Festlegung der Heiligen Mutter Kirche geredet, weil ich von Geldforderungen gesprochen hätte, ohne dann genau zu sagen oder zu unterscheiden, ob die Gelder nun vor oder nach der 25 Spendung der Sakramente verlangt werden, und gesagt hätte, wer nicht beabsichtige, von derartigen Geldforderungen Abstand zu nehmen, der wäre ein Ketzer usw. Dazu sage ich: Wenn ich die oben erwähnte Festlegung der Heiligen Mutter Kirche zitiere, ohne ausdrücklich von einem Vorher und Nachher zu sprechen, habe ich nichts gegen 30 die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche gesagt, weil dann ja die Heilige Synode von Trebur gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche geredet hätte, indem sie sich damals geäußert hat, ohne ausdrücklich zu sagen und zu unterscheiden, ob nun vorher oder nachher, und Hinweis, so Sˇmahel (Zˇivot a dílo Jerony´ ma Prazˇského, Praha 2010, 101 f.), auf Prager Pilger in Rom und Jerusalem (ohne dass dies durch weitere Quellen gestützt sei). Soukups Einwand (Bohemia 52 [2012], 418), es sei nur rhetorische Finte, Hus nehme die Wendung „vor der gesamten Menge des Volkes“ beim Wort, indem er hineinlese „vor der gesamten Menge der Menschen “ (nicht etwa nur Prager), ignoriert ipso (die). 6 Die Synode von Trebur (Hessen) fand 895 statt. 7 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 105 (Friedberg 1,399 f.).
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folglich wäre sie häretisch. Und wenn diese Begründung meiner Kläger Bestand hätte, dann wäre der Herr Jesus ein falscher Prediger; denn wenn er sagt: Das ist mein Leib,8 nachdem er das Brot genommen hat, das er schon verwandelt hat, ohne dann ausdrücklich zu sagen und zu unterscheiden, dass das Brot nach der Konsekration nicht das ursprüngliche, vergängliche Brot bleibt, so hätte er gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche geredet, und das zu behaupten, ist doch sehr töricht. Ebenso wenn er sagt: Der Vater ist größer als ich ,9 ohne zu sagen „soweit ich Mensch bin“, würde er gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche reden, die sagt: In dieser Dreieinigkeit ist nichts früher oder später, nichts größer oder kleiner .10 Ja, wenn ihr törichter negativer Autoritätsbeweis Bestand hätte oder Beweiskraft besäße, würde er viele Kapitel im Kirchlichen Recht entschieden verwerfen. Denn jedes Kapitel, das nicht alle Folgerungen ausdrücklich nennt und unterscheidet, würde dann zwangsläufig Aussagen gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche machen, soweit diese in anderen Kapiteln den Sachverhalt vollständiger darstellt. Und demgemäß würden das Kapitel Cum in ecclesiae 11 und das Kapitel Suam nobis 12 Aussagen gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche machen. Und demgemäß würde auch Innozenz13 mit seinen Kapiteln derselben entschiedenen Verurteilung anheimfallen wie ich, wenn er darin das rücksichtslose Geldeintreiben verbietet und dabei nicht ausdrücklich von vorher und nachher spricht. Und weil jene Kapitel wahr sind und ich nur gesagt habe, was jene Kapitel auch sagen, habe ich also die Wahrheit gesagt. Und weil nichts, das wahr ist, im Widerspruch zur Heiligen Mutter Kirche steht, führt folglich das Argument die Kläger in die Irre. Wenn sie nämlich in der Universität aufgepasst hätten, [sollten sie wissen,] dass ein negativer Autoritätsbeweis ungültig ist, da man nicht schließen kann: Christus hat nicht ausdrücklich im Evangelium gesagt: Geben ist seliger denn Nehmen, also ist es nicht wahr, oder: also hat er schlecht oder gegen die Festlegung der Heiligen Mutter Kirche gesprochen. Und doch sagt Christus durch den Mund des Paulus:14 Geben ist seliger denn Nehmen.
35 [Lösung zu „vorher oder nachher“]
Auch finden die Geldeintreiber für Sakramente keinerlei Rückhalt, dass
Mt 26,26; Mk 14,22; Lk 22,19. 9 Joh 14,28. 10 Denzinger/Hünermann 75,25 (Ps.Athanasianisches Bekenntnis Quicumque ). 11 Decr. Greg. IX lib. 5 tit. 3 c. 9 (Friedberg 2,751). 12 Ebd., c. 29 (Friedberg 2,759). 13 Papst Innozenz III. (1160–1216). 14 Apg 20,35.
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ihnen erlaubt wäre, hinterher für Sakramente Geld zu verlangen. Denn die Autorität der Kirche sagt mit der Autorität von Papst Innozenz im Schlusskapitel von Quaestio 1,3:15 Wenn jemand Pfründen, ein Priorat oder Dekanat, oder irgendeine kirchliche Beförderung oder ein kirchliches Sakrament, wie z. B. Chrisam oder Heiliges Öl und Altar- oder Kirchweihe, aufgrund der verwerflichen Leidenschaft der Habgier durch Geld erworben hat, so soll er des unrechtmäßig erworbenen Amtes verlustig gehen, Käufer wie Verkäufer und Vermittler sollen durchs Schandmal gebrandmarkt sein, und weder zum Lebensunterhalt noch unter dem Vorwand einer Gewohnheit darf vor- oder nachher irgendetwas verlangt werden oder [jemand] von selbst etwas zu geben sich unterfangen, weil das Simonie ist. Da legt er drei Dinge nahe: 1. Keinesfalls darf unter dem Vorwand einer Gewohnheit für Sakramente etwas verlangt werden; 2. weder vorher noch nachher darf etwas verlangt werden; und 3. wird noch der Grund dafür angefügt: „weil das Simonie ist“ und demnach eine Ketzerei. Die also zuvor für Sakramente etwas verlangen oder geben, heißen eigentlich „Simonisten“, nach Simon, dem Magier, der in Apg 8 den Aposteln Geld angeboten hat und sagte:16 Gebt mir diese Vollmacht, dass der, dem ich die Hände auflege, den Heiligen Geist empfängt. Petrus aber sagte zu ihm: Dein Geld möge mit dir zum Teufel gehen; denn du meinst, dass Gottes Gabe durch Geld erworben werden könne! „Geziten“ aber heißen eigentlich die, die danach etwas verlangen, nach Gezi,17 der nach der Heilung des syrischen Feldhauptmanns Naaman durch den Propheten Elisa von ihm, dem Feldhauptmann, Geschenke gefordert hat. Darum steht geschrieben:18 Gezi lief Naaman nach und sagte: Mein Herr hat mich geschickt und lässt dir sagen: Eben sind zwei junge Männer vom Gebirge Ephraim zu mir gekommen, von den Jüngern der Propheten. Gib ihnen ein Talent Silber und zwei Festtagsgewänder . Und die Strafe ereilt Gezi, durch den Propheten angekündigt:19 Der Aussatz Naamans wird dir und deinen Nachkommen für immer anhaften. Und er ging von ihm, voller Aussatz wie Schnee. Und so ist deutlich, dass die Erben Simons eigentlich Käufer von Gottes Gaben sind und Geziten oder Nachkommen des Gezi eigentlich solche, die für Sakramente etwas verlangen, wiewohl beide mit dem einen Begriff als Anhänger des Simon angesehen werden müssen, weil Simon zuerst die Gabe Gottes kaufen und später wie Gezi Geld verlanDecr. Grat. II C. 1 q. 3 c. 15 (Friedberg, 1,418). 16 Apg 8,19 f. 17 Der eigentlichen Schreibweise „Gehasi“ wurde hier zugunsten von „Gezi“ nicht gefolgt, da die vermeintlichen Nachfolger des Gezi als Geziten bezeichnet werden. 18 2Kön 5,21–27. 19 2Kön 5,27. 15
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gen wollte. Genau diese Unterscheidung trifft auch der Magister20 im vierten Buch der Sentenzen, Distinctio 25,21 wo er den Sachverhalt so darstellt: Obwohl Simonisten eigentlich nur die heißen, die genau wie der Magier Simon eine Gnade von unschätzbarem Wert zu einem 5 bestimmten Preis kaufen wollen, und die, die für einen heiligen Dienst eine Bezahlung bekommen nach Art Gezis, Geziten genannt werden sollen, heißen dennoch alle, die da geben und nehmen, Simonisten, und beide verfallen demselben Urteil. Und in päpstlichen Verlautbarungen außerhalb der offiziellen Gesetzessammlungen wird über Simonie im 10 Kapitel Cum in ecclesiae gesagt:22 Dass für Sakramente etwas verlangt wird, verbieten wir mit Nachdruck. Wenn jemand aber es wagen sollte, gegen dieses Verbot anzugehen, soll er wissen, dass er mit Gezi seinen Teil abbekommen wird. 15 [Vierte Entgegnung auf den ersten Anklagepunkt]
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Viertens sage ich, dass dieser Anklagepunkt falsch ist, weil darin durch meine Gegner behauptet wird, dass ich aus dem Gesagten den Schluss gezogen hätte, dass alle Pfarrer deshalb Ketzer seien. Denn diese ihre ungeheuerliche Schlussfolgerung (der Richter, der mich und die, die mir jene Schlussfolgerung zuschreiben, schrecklich richten wird, sei mein Zeuge!) ist niemals während meiner Predigt in mein Herz, folgerichtig auch nicht in meinen Mund gekommen. Ich kenne nämlich viele Pfarrer, deren Schuhe auszuziehen ich nicht würdig bin und deren Füße ich wegen ihrer gottgefälligen Lebensweise sehr gerne küssen wollte. Wenn aber meine Gegner, nachdem der Obersatz vorgegeben ist,23 nämlich: „Alle, die für Sakramente Geld verlangen und von ihren Forderungen nicht lassen wollen, sind Simonisten und somit Ketzer“, stillschweigend einen Untersatz dazusetzen, nämlich: „Aber alle Pfarrer verlangen für Sakramente Geld und wollen von ihren Forderungen nicht lassen“, und selbst jenen Obersatz bestehen lassen wollen, dann ist die Schlussfolgerung regelgerecht, dass alle Pfarrer Ketzer sind. Aber ich bestreite den Untersatz, weil ich viele Pfarrer kenne, die niemals etwas verlangen, sondern, wenn nötig, aus ihren eigenen Mitteln für ihre Dienste aufkommen. Sie haben die Bemerkung in jenem Kapitel Suam nobis im Ohr, die sagt: Wenn ein
Petrus Lombardus. 21 Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libris distinctae. Tom. II [Liber III et IV]. Grottaferrata 1981 (Spicilegum Bonaventurianum V), 413. 22 Decr. Greg. IX lib. V tit. 3 c. 9 (Friedberg 2,751). 23 Hus argumentiert hier, wie oft, nach scholastischer Art in Form eines Syllogismus, der aus erster und zweiter Prämisse (Major und Minor) sowie dem Schluss (Conclusio) besteht.
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Priester, der wegen seines Amtes dazu verpflichtet ist und der sein Auskommen hat, angehalten wird, die geistlichen Gaben aus eigenen Mitteln zu spenden [...]24. Das genügt dazu. [Fünfte Entgegnung auf den ersten Anklagepunkt der Kläger] Fünftens sage ich, dass der Anklagepunkt falsch ist, weil sie behaupten, ich würde lobenswerte Gewohnheiten nicht beibehalten wollen, indem ich doch gerade verwerfliches Geldeintreiben in meiner Predigt untersagt habe – in Übereinstimmung mit jenem Satz aus dem Kapitel Ad Apostolicam, in dem es heißt:25 Verwerfliches Geldeintreiben verbieten wir. Denn welche Gewohnheit wäre verwerflicher als eine solche, die von den Heiligen Vätern und von der Kirche verboten worden ist, nämlich das rücksichtslose Eintreiben von Geld für Sakramente, die auch über einen langen Zeitraum nicht in eine gute Gewohnheit gewendet werden kann, weil sie eben aus sich heraus schlecht ist. Darum sagt hierzu das Kapitel Cum in ecclesiae :26 Es glauben aber recht viele, so etwas sei deshalb erlaubt, weil ihrer Meinung nach ein Gesetz des Todes durch eine lange Zeit der Gewöhnung an Geltung gewonnen habe, und beachten nicht, dass Vergehen desto schwerwiegender sind, je länger sie die unglückliche Seele gefangen halten. Siehe da, sie nennen das Geldeintreiben eine lex mortis 27, die auch nicht durch lange Zeit der Gewöhnung legitimiert werden kann, sondern je länger sie praktiziert wird, desto härter wird sie die Geldeintreiber verurteilen. Dass aber jenes Geldeintreiben eine verwerfliche Gewohnheit ist, macht Quaestio 13,3 aus dem Verzeichnis des seligen Gregor deutlich,28 der sagt: Beklagt hat sich bei uns Nereida, eine sehr angesehene Frau, dass Eure Bruderschaft von ihr für die Bestattung ihrer Tochter eine gehörige Summe Geld verlangen wolle. Das aber ist ein Fehler, und nachdem wir durch Gottes Fügung das Bischofsamt erlangt haben, haben wir ihn in unserer Diözese ganz und gar verboten und in keiner Weise erlaubt, Hus verweist auf Decr. Grat. III dist. 1. c. Sufficit, wo nur das Abhalten mehrerer Messen für Geld gerügt wird; das Zitat aber steht weder dort noch im Kap. Suam nobis der Dekretalen, jedenfalls nicht in der heutigen Ausgabe. Hus bezieht sich hier auf ein Kompendium des CIC, das den angeführten Passus als Glosse vermerkt (so noch bei P. Alagona, Totius iuris canonici compendium, Romae 1622, Tom. I, 624 [Epitome Decretalium, lib. V tit. 3. c. 29. Suam vobis [sic] Innoc.iij .], mit wenigen Abweichungen). 25 Decr. Greg. IX lib. V tit. 3 c. 42 (Friedberg 2,766). 26 Ebd., c. 9 (Friedberg 2,751). 27 Die Lesart lex mortis, die auch in der heute geläufigen Ausgabe Friedbergs im Text steht, ist offenbar falsch; der Kontext spricht für die Lesart moris [= consuetudinis]: Gewohnheit (consuetudo) verschafft einer Sitte (mos ) Gesetzeskraft. 28 Decr. Grat. II C. 13 q. 2 c. 12 (Friedberg 1,724). 24
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unter Berufung auf eine verwerfliche Gewohnheit Ansprüche geltend zu machen . Sieh da, dieser hochachtbare Papst nennt die Geldforderung für Bestattung einen Fehler, etwas also, das verboten und demnach ganz und gar unerlaubt ist. Und zweitens meint er, dass auf keine Weise unter Berufung auf eine verwerfliche Gewohnheit ein Anspruch geltend gemacht werden darf. Ich stimme in meiner Predigt auch ganz überein mit dem Kapitel Ad Apostolicam in jenem Abschnitt:29 Fromme Gewohnheiten gebieten wir zu bewahren; denn ich habe sehr oft in meinen Predigten gesagt, dass die Pfarrkinder gehalten werden – bei Strafe auf Todsünde –, die Priester, die mitten unter ihnen in der Verkündigung des Wortes Gottes und bei der Verwaltung der Sakramente ihre Arbeit tun, mit den lebensnotwendigen Dingen umsonst zu versorgen. Ebenso in Quaestio 1,1 aus den Akten des Konzils in Chalon-sur-Saône:30 Wir verfügen, dass, wie für die Einweihung von Kirchen und die Vergabe von Ämtern nichts genommen werden darf, so auch für den Kauf von Balsam oder Kerzen die Priester, die Chrisam bekommen wollen, keine Ausgaben haben sollen. Deshalb sollen die Bischöfe aus den Mitteln ihrer Diözese Balsam und Kerzen kaufen, jeder in seiner Diözese. Dasselbe aus den Akten des Konzils von Braga:31 Das Konzil beschließt, dass kein Bischof für ein wenig Balsam, der als Weihgabe für das Taufsakrament durch die Diözesen zur Verfügung gestellt wird, weil alle dafür nur vier Pfennige zu verlangen pflegen, etwas darüber hinaus verlangen darf, damit wir nicht etwa – so wie der Magier Simon die Gabe Gottes für Geld kaufen wollte – unsererseits verkaufen, was für das Seelenheil unter Anrufung des Heiligen Geistes geweiht wird, und somit zu unserer Verdammnis verkaufen. Dasselbe in päpstlichen Verlautbarungen außerhalb der offiziellen Sammlungen, im Kapitel über die Simonie,32 ebenso im 6. Buch aus der Dekretale Innozenz’ III. usw.33
[Erste Entgegnung des Magisters Hus auf den zweiten Anklagepunkt] Zum zweiten Anklagepunkt sage ich, dass meine Gegner den Vorgang verkürzt dargestellt haben. Ich hätte nach Nennung der Namen vieler verstorbener Magister – ich wollte damit die Zuhörer bewegen, an 35 ihren Tod zu denken, damit sie nicht sündigen – gesagt:34 „Ja, Magister Decr. Greg. IX lib. V tit. 3 c. 42 (Friedberg 2,766). 30 Die Synode fand 647/53 statt. Der Beschluss steht: Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 106 (Friedberg 1,400). 31 Ebd., c. 102 (Friedberg 1,399). 32 Extravagantes Ioannis XXII lib. V tit. 1 c. 1 f. (Friedberg 2,1287– 1289). 33 Vgl. PL 215,275 f. (= Decr. Greg. IX lib. V tit. 3 c. 32 (Friedberg 2,761). 34 Vgl. dazu Nr. 8, Anm. 6.
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Petrus Wsˇ erub ist auch gestorben. Darum betet zu Gott für seine Seele. Denn ich habe die Hoffnung, dass er mit Gottes Gnade gerettet ist, und fürchte zugleich, dass er verdammt ist. Das steht nämlich in der Entscheidung Gottes.“ Weil ich also die vielen Geistlichen, die damals in meiner Predigt saßen, von der gierigen Ämteranhäufung zurückhalten wollte, habe ich gesagt: „Wenn es nach mir ginge (unbeschadet des göttlichen Richterspruchs), wollte ich nicht um die ganze Welt mit so vielen hohen Ämtern sterben.“ Ich habe das nicht zu meinem eigenen Lob gesagt, sondern um die Geistlichen zu ermahnen – aus gutem, frommem Herzen, Gott ist mein Zeuge! Und ich tat es gemäß dem Worte des seligen Gregor, der sagt, dass Prediger sich der Gemeinde zum Lobe Gottes als Beispiel hinstellen können, indem sie sagen, sie hassten die Sünde und liebten die Tugend, so wie es der erste Prediger Christus getan hat, und sein auserwähltes Gefäß in Apg 20:35 Silber und Gold oder Kleidung habe ich von niemandem verlangt, wie ihr ja wisst. Ähnlich Samuel in 1Kön 8,36 und in 2Kor 11 heißt es:37 Umsonst habe ich euch das Evangelium Gottes verkündigt, andere Gemeinden habe ich ausgeplündert, habe mich von ihnen bezahlen lassen für den Dienst an euch. Und als ich bei euch war und Not litt, bin ich keinem zur Last gefallen. Noch vieles andere sagt Paulus an ebender Stelle und schließt:38 Wer ist schwach, und ich bin nicht mit ihm schwach? Wer ist im Glauben versucht, und ich brenne nicht mit ihm? Wenn also der Apostel, der eine von Habgier geleitete Gemeinde retten wollte, deshalb gesagt hat: 39 Von niemandem habe ich Silber oder Gold oder Kleidung verlangt , warum sollte es mir nicht erlaubt sein, um der Habgier entgegenzutreten, zu sagen, dass ich auf keinen Fall viele kirchliche Ämter besitzen und schon gar nicht in ihnen sterben möchte? Denn jeder hat genug damit zu tun, über ein einziges Amt die geschuldete Rechenschaft zu geben. Und als ich jene Worte sprach, habe ich nicht in Abrede gestellt, dass Magister Petrus – wir wollen seiner freundlich gedenken – ein guter Christ und treuer Verfechter des Glaubens gewesen ist. Sondern, als ich für ihn betete und sagte: „Ich habe die Hoffnung, dass er gerettet ist“, habe ich doch damit zugleich zum Ausdruck gebracht, dass er ein guter und treuer Christ war. [Zweite Entgegnung auf den zweiten Anklagepunkt] Zum zweiten Teil des Anklagepunkts, in dem meine Gegner behaupten, Apg 20,33 f. 36 1Sam 8,3 – Hus zählte die Samuelbücher nach der Vulgata als 1. und 2. Buch der Könige; das 1. und 2. Buch der Könige unserer Zählung erscheint bei Hus als 3. und 4. Buch der Könige. 37 2Kor 11,7–9. 38 2Kor 11,29. 39 Apg 20,33 f.
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dass ich vor einiger Zeit gesagt hätte, ich wünschte, dass meine Seele künftig dort sei, wo die Seele Wyclifs schon ist – ja, da verkürzen sie den Vorgang wieder, und zwar nicht mit dem, was sie sagen, sondern allein, wie sie es sagen, voller Hass und Groll, sind sie recht vollmundig. Ich gebe ja zu, gesagt zu haben, ich möchte – das ist meine Hoffnung – sein, wo die Seele Wyclifs schon ist. Denn jeder Mensch, von dem ich nicht aufgrund von Schrift oder Offenbarung weiß, er sei verdammt worden, ist, so meine ich, unvergleichlich besser als ich. Wenn ich nämlich, zur Hochzeit Christi geladen, zu Tische gehe, werde ich unterwiesen, mich auf den Platz ganz unten zu setzen, damit, wenn Christus kommt, der mich und jenen geladen hat, nicht zu mir sagt: „Gib diesem den Platz“, und ich muss dann beschämt den Platz ganz unten einnehmen.40 Auch wage ich keinen zu verdammen, den nicht die Heilige Schrift verdammt oder aufgrund von Offenbarung die Kirche, da die Wahrheit sagt,41 wem das Urteil zu verdammen zusteht:42 Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Daher ist die Anschuldigung töricht und von Leuten vorgebracht, die leichtfertig gegen das Gesetz Christi urteilen: „Dieser hat einen ketzerischen Gedanken geäußert, also ist er verdammt“; desgleichen: „Dieser ist ein Jude, ein Heide, Wucherer oder Steuereintreiber, also ist er verdammt“, wo doch der lästernde Räuber noch im Moment seines Todes gehört hat, dass der Herr ihm verhieß:43 Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Es sollen also die blinden jungen Hunde und leichtfertigen Richter lernen, so zu argumentieren: „Jener Mann hat einen ketzerischen Gedanken geäußert und keine Reue darüber empfunden, also ist er verdammt.“ Dann nämlich wird ihre Schlussfolgerung stimmen. Aber den Untersatz werden sie beweisen müssen, wenn sie am Tag des Gerichts vor allen Heiligen über ihr leichtfertiges Urteil Rechenschaft geben müssen – hoffentlich zufriedenstellend! Mit Blick auf das Ende dieses Anklagepunkts, Hochwürdigster Vater, wo es heißt: Die Remanenzthesen sind noch immer leider bei vielen in dieser Stadt lebendig,44 möchte ich, dass Eure Väterlichen Gnaden darauf achten und von meinen Gegnern verlangen, jene Remanenzthesen zu benennen und nachzuweisen. Denn indem sie sagen: Noch immer sind die Remanenzthesen leider bei vielen in dieser Stadt lebendig, widersprechen sie dem Synodaledikt von Euren Väterlichen Gnaden, in dem erklärt ist, dass Euer Hochwürden nach sorgfältiger Untersuchung niemanden finden konnten, der eine irrige Meinung Vgl. Lk 14,8 f. Klageschrift.
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Anspielung auf Joh 14,6.
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Lk 6,37.
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Lk 23,43.
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bezüglich des heiligen Sakraments vertrat; und sie behaupten, dass die Remanenzthesen bei vielen noch immer lebendig sind. Sie sollen jene Vielen nachweisen. Wenn sie die Wahrheit sagen, werden wir ihnen auch glauben. Und wenn sie keinen Nachweis führen können, werden sie in die Schlinge, die sie für meine Füße ausgelegt haben ,45 selbst gera- 5 ten. Sie werden nämlich Eure Diözese und besonders die Stadt Prag herabwürdigen und in Verruf bringen. Und weil sie selbst Hirten sind, die die irrenden Schafe in den Stall zurückbringen und auf den Weg der Wahrheit führen sollen – und dies nicht tun –, legen sie sich selbst den 10 Strick um den Hals, mit dem sie vom Herrn gefangen werden. [Entgegnung des Magisters Hus auf den dritten Anklagepunkt] Auf den dritten Anklagepunkt, in dem meine Gegner behaupten, dass ich, obwohl durch Synodalbeschluss dieses Jahres allen verboten sei, maßlos gegen den Klerus zu predigen, usw.46 – auf den dritten Anklagepunkt also entgegne ich kurz, indem ich ihn bestreite. Denn ich habe weder gegen das Verbot gehandelt, noch habe ich gegen den Klerus maßlos gepredigt. Maßlos predigen heißt nämlich falsch, schmeichlerisch oder ängstlich zu predigen. Aber nach der Weisung des Herrn und den heiligen Rechtsbestimmungen heißt die Sünden der Geistlichen zur Erbauung von Klerus und Gemeinde aufzudecken wahrhaft, gerecht, ohne Schmeichelei und ohne Angst zu predigen. Denn sonst hätte ja unser Heiland maßlos und folglich ungerecht gegen den Klerus gepredigt, wenn er zu den Schriftgelehrten, Pharisäern und Hohepriestern Joh 8 sagt:47 Euer Vater ist der Teufel , und Mt 12 zu den Schriftgelehrten und Pharisäern:48 Ein verworfenes, böses, abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen , und Mt 15:49 Warum übertretet ihr die Gebote Gottes wegen eurer Traditionen? Dass die Schlechten daran Anstoß nahmen, hat Christus nicht gehindert, gegen die Schlechtigkeit der Geistlichen zu predigen. Denn als seine Jünger Mt 15 sagen:50 Meister, weißt du, dass die Pharisäer an diesem Wort Anstoß genommen haben?, antwortet ihnen der Herr: Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, werden mit der Wurzel ausgerissen werden. Lasst jene nur machen. Sie sind blind und führen Blinde . Und Mt 2351 klagt er sie an mit achtfachem „Wehe“. Und Lk 1152 erhebt sich auf seine Vorwürfe hin einer von den Gesetzeslehrern und sagt: Meister, mit solchen Worten schmähst du auch uns. Und als er das zu ihnen sagte,53 Ps 56,7. 46 Synode vom 16.06.1408 (Novotny´, 39, Anm. 35). 47 Joh 8,44. 48 Mt 12,39. Mt 15,3. 50 Mt 15,13. 51 Mt 23,13–16.23–29. 52 Lk 11,45.53 f. 53 Text nach alter Vulgata. 45
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begannen die Pharisäer und Gesetzeslehrer, ihm energisch entgegenzutreten und ihn vielfach am Reden zu hindern,54 stellten ihm Fallen und suchten etwas aus seinem Mund zu erhaschen, um ihn anzuklagen. Sieh an! Die Predigt des vorzüglichsten Predigers, unseres Heilands, haben die Gesetzeslehrer, Schriftgelehrten und Pharisäer verleumdet, erstens, indem sie sagen: Du beschimpfst uns, zweitens, weil sie energisch ihm entgegentraten, drittens, weil sie begannen, ihn am Reden zu hindern, viertens, weil sie ihm Fallen stellten, fünftens, indem sie etwas aus seinem heiligen Mund erhaschen wollten, um ihn anzuklagen. Weil aber ich sündiger Mensch nicht über jenem Prediger stehe, da ja der Schüler nicht über seinem Lehrer steht und der Knecht nicht über seinem Herrn 55 – und ihn haben sie verfolgt –, was Wunder, wenn sie mich wegen meiner Predigten verfolgen. Denn im Buch der Weisheit heißt es:56 Die Gottlosen nämlich sagen bei sich und führen Böses im Schilde: Wir wollen über den Gerechten herfallen, weil er uns nicht von Nutzen ist, er sich dem widersetzt, was wir tun, er uns unsere Gesetzesverstöße vorhält und unsere verfehlte Lebensweise ans Licht bringt. Sieh an, was die Gottlosen da behaupten! Sie sagen dem Gerechten nach, er halte ihnen ihre Sünden vor und bringe ihre ganze verfehlte Lebensweise ans Licht. Genauso, wie sie mich verleumden, mir Fehler zuschreiben und behaupten, dass ich die Geistlichkeit in Verruf bringe. Wenn ich nämlich die Heilige Schrift verkündige, verkündige nicht ich sie, sondern eigentlich verkündet der Heilige Geist und letztendlich der Prophet Christus oder sein Apostel sie. Zum Beispiel, wenn ich sage: „Mein Volk, sie, die dich glücklich nennen, hintergehen dich und machen den Weg für deine Schritte unbegehbar“, sagt das Jesaja im dritten Kapitel.57 Und wenn ich sage: „Das sagt der Herr“, so redet da Jesaja.58 Ebenso, wenn ich sage: „Der Priester und der Prophet haben beide ihren Verstand verloren vor Trunkenheit, waren völlig betrunken vom Wein, begingen Fehler in ihrer Trunkenheit“, sagt das Jesaja im 24. Kapitel.59 Ebenso, wenn ich sage: „Wegen der Sünden ihrer Propheten und der Missetaten ihrer Priester, weil sie das Blut der Gerechten in ihrer Mitte vergossen haben“, dann sagt das Jeremia in den Klageliedern60 – und so weiter bei den einzelnen Propheten, bei Christus, den Aposteln und seinen gewissenhaften Predigern, die die Geistlichkeit wegen ihrer Sünden zurechtweisen. Und es ist selbstverständlich, dass ich keine maßlose oder herabwürdigende, sondern denen, die Hus ersetzt in Lk 11,53 Vulg. insistere („bedrängen“) aus dem Gedächtnis durch resistere („zurückdrängen, hindern“). 55 Mt 10,24. 56 Weish 2,1.12. 57 Jes 3,12. 58 Jes 7,7; 10,24 u. ö. 59 Jes 28,7. 60 Klgl 4,13. 54
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gerettet werden wollen, eine ehrliche und zum Heil führende Predigt halte, schlicht die Wahrheit verkündige. Wenn nämlich manche Leute an der ihnen gepredigten Wahrheit Anstoß nehmen, sagt Gregor in seiner Homilie über Ezechiel 7:61 Es ist besser, dass Anstoß genommen wird, als dass die Wahrheit preisgegeben wird. Denn obwohl unser Heiland wusste, dass die Schriftgelehrten und Pharisäer an der Wahrheit Anstoß nehmen, hat er nicht nachgelassen, die Wahrheit zu predigen, und sagt Mt 15:62 Lasst sie nur, nämlich Anstoß nehmen, sie sind blind und führen Blinde. So zeigt sich, dass die Wahrheit der Heiligen Schrift, die für alles Volk zu ständiger Erinnerung geschrieben worden ist, allem Volk erklärt werden muss, je nach Aufnahmefähigkeit der Zuhörer und der Situation. Aus dem Gesagten wird deutlich, Hochwürdigster Vater: Der erste Anklagepunkt ist falsch, der zweite stellt den Vorgang verkürzt dar, der dritte wird verneint. Obgleich aber meine Gegner, die mir jedoch – Gott ist mein Zeuge – lieb und wert sind, gegen mich leichtfertig derartige Anklagepunkte verfasst haben, so wünsche ich doch keine Bestrafung für sie, sondern überlasse sie dem allmächtigen, allwissenden und überaus gütigen Richter, der Dtn 32 sagt:63 Mein ist die Rache, und ich will vergelten , und schließlich Euren Hochwürdigen Väterlichen Gnaden, indem ich mich demütig Eurer väterlichen Unterrichtung, Zurechtweisung und Obhut unterwerfe, als Euer gehorsamer Sohn, und meine Sache vor den Herrn Zebaoth bringe, der gerecht richtet, den Menschen auf Herz und Nieren prüft 64 und jedem nach seinen Werken vergilt,65 der die Gottlosen verdammt und zuletzt die Gerechten errettet. Ihm sei Ehre und Ruhm in Ewigkeit. Amen.
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Röm 2,6.
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10 REKTORATSREDE ÜBER JAK 5,8: „STÄRKT EURE HERZEN“ [3. Dezember 1409]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 2, XLa–XLIIa; Schmidtová, Iohannes Hus, 119–130. Verglichene deutsche Übersetzung: Zitte, Sinodal-Reden, 182–205.
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Einleitung Nr. 10
Diese Rede hielt Hus als Rektor der Universität Prag für das Wintersemester 1409/10 vermutlich am 3. Dezember 1409 in St. Clemens zu Prag, vier Tage nach dem Gedenktag Karls IV. (vgl. Schmidtová, Iohannes Hus, 211). Doch ist der Bezug zum Anlass verschwindend gering, will man ihn nicht in dem eschatologischen Grundton erkennen, wie ihn das Wort von der nahenden Ankunft des Herrn im Jakobusbrief vorgibt. Der einzige deutliche Hinweis umklammert denn auch die geraffte Erwähnung von Karls Verdiensten allein mit der Frage, was wohl der Fürst zur Thematik zu sagen hätte, und legt ihm das Wort von der Vanitas aller Dinge aus Pred 1 in den Mund. Dies ist der Tenor der Rede, variiert von auffallend vielen lateinischen Versen diverser Autoren und Kompilatoren, darunter einem Grabmonolog Alexanders des Großen über die Nichtigkeit irdischer Macht, direkt vor Erwähnung des böhmischen Königs. Die Vanitas menschlichen Daseins im Spiegel von Tod und Gericht klingt auch noch im Schlusszitat an, mit dem sich der Kreis dieser Rede formal und inhaltlich schließt: Gewährsmann ist wie schon zu Anfang Bernhard von Clairvaux (wenn auch jetzt mit leicht variiertem Mariengebet aus der Feder des Anselm von Canterbury); inhaltlich aber steht hier im Zentrum, dass die erwartete Ankunft der Nichtigkeit etwas entgegensetzt und somit Grund genug ist, in Geduld „die Herzen zu stärken“.
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Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht! Jak 5.1 Und in der Predigtsammlung zum laufenden Abschnitt des Kirchenjahres2 sagt der heilige Bernhard zu Anfang seiner Adventspredigt: Vergegenwärtige ich mir in der Ankunft des Herrn, die wir heute begehen, den Kommenden selbst, übersteigt die Erhabenheit seiner Majestät mein Fassungsvermögen. Richte ich mein Augenmerk auf die, zu denen er gekommen ist, erbebe ich vor der Größe seiner Würde. Bedenke ich, weshalb er gekommen ist, ermesse ich erst den unschätzbaren Reichtum seiner Liebe. Betrachte ich die Art seines Kommens, erkenne ich die Erhöhung der Menschheit. Gekommen ist nämlich der Schöpfer und Herr des Alls, gekommen zu den Menschen, gekommen wegen der Menschen, gekommen als Mensch.3 Darauf, ihr Lieben, richtet den Sinn und stärkt eure Herzen. Ihr Lieben, bedenkt, dass der Schöpfer und Herr der Welt, Gottes eingeborener Sohn, sich selbst entäußert hat, indem er Knechtsgestalt annahm,4 dass Gott, der Ewige, Mensch ward, auf dass der Mensch Gott würde. Durch solche Gedanken stärkt eure Herzen. Bedenkt, ihr Lieben, dass da vom Himmel der große Arzt kam, weil die ganze Welt krank darniederlag.5 Er kam, um die Sünder zur Buße zu rufen,6 die fleischlichen Menschen zurückzuziehen von ihren fleischlichen Lastern, die Kaltgewordenen anzufachen durchs Feuer der Liebe, um denen, die blind sind vor Unwissenheit, mit Strahlen der heilsamsten Lehre Erleuchtung zu bringen. Es kam der allmächtige Herr nicht, um zu töten die Lebenden, sondern die Toten vom Tode des Leibs und der Seele aufzuerwecken. Es kam der allergerechteste Gesetzesgeber, nicht um das Gesetz zu brechen, sondern um es wirklich zu erfüllen.7 Es kam der Sohn des Menschen, nicht um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen. Er suchte uns auf, nicht um die Güter der Welt seinen Untergebenen zu nehmen, sondern um sein Leben hinzugeben zur Erlösung für viele.8 Es kam der edelste Kaufmann, auf dass er umsonst die dem Teufel Verkauften zurückkaufe durch sein eigenes Blut. Es kam der Mächtigste und unterwarf sich der Macht des Pilatus, auf dass er die Seinen der Macht des Teufels entreiße. Er kam, nicht um den Menschen verlorengehen zu lassen, sondern um ihn, den Verlorenen, zu finden und zu erretten. Er kam nicht, die Welt zu richten, sondern zu retten.
Jak 5,8 mit alter Lesart appropinquabit . 2 Die singulär bezeugte Wendung et in currentis temporis officio (Schmidtová) umschreibt Bernhards Sermones de tempore. 3 Vgl. Bernhard von Clairvaux, serm. 3 (PL 183,43 D). 4 Phil 2,6–8. 5 Vgl. Mt 9,12; Mk 2,17; Lk 5,31. 6 Lk 5,32. 7 Mt 5,17. 8 Mt 20,28.
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Ihr Lieben! Hört nicht mich, einen Sünder, sondern hört, was der sagt, der den Heiland erlebt hat, Joh 3:9 Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab: auf dass jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern das ewige Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Seht, ihr Lieben, wir haben die hingebungsvollste Ankunft des Heilands in all ihrer Demut, Barmherzigkeit und Sanftmut vernommen. Erwarten wir nun auch den strengsten Richter in seiner Majestät, Gerechtigkeit und Schrecklichkeit. Belügen wir uns nicht selbst, dass wir sagen: „Er, der kam, nicht dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde, wird uns nicht richten zur Verdammnis“. Gewiss wird der, der unseretwegen gerichtet wurde, auch uns bei seiner Ankunft richten. Hören wir, was der kommende Richter sagt, Joh 5:10 Der Vater, so sagt er, hat ihm die Macht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. Wundert euch nicht, denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, die Stimme des Gottessohns hören werden, und es werden hervorgehn, die Gutes getan, zur Auferstehung des Lebens, das ist zur Seligkeit, die aber Böses getan, zur Auferstehung des Gerichts, das ist zur Verdammnis. Das lasst uns bedenken, das lasst uns beständig im Geiste erörtern, das lasst uns fürchten; lasst uns die Laster11 aufgeben, die Tugenden lieben, lasst uns geduldig sein, denn darum spricht der Freund Christi, Jakobus: Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht . Der Apostel Christi ist ein guter Lehrer, denn durch die angeführten Worte unterweist, ermahnt, tröstet und erschreckt er. Er unterweist und ermahnt alle, indem er sagt: Stärkt eure Herzen . Er tröstet die Guten und versetzt die Bösen in Schrecken, indem er sagt: Die Ankunft des Herrn naht. Daher hört und lernt alle, freut euch, ihr Guten, fürchtet euch, ihr Bösen, denn die Ankunft des Herrn naht. Was bedeutet „hört und lernt“? Ohne Zweifel dies: Hört auf Gott, hört auf, Böses zu tun, lernt allesamt, Gutes zu tun, denn die Ankunft des Herrn naht. Fürchtet euch, ihr Bösen, denn die Ankunft des Herrn, der eure Verdammnis ist, naht; freut euch, ihr Guten, denn die Ankunft des Herrn, der eure Erlösung ist, naht. Höret, ihr Guten, die Worte des Herrn in Jes 3:12 Sprecht zum Gerechten, dass es gut für ihn steht, er wird die Frucht seiner Werke genießen. Hört, ihr Bösen, dass der Joh 3,16. 10 Joh 5,27–29. 11 Hier ist mit Opera omnia (1558) relinquamus vitia zu lesen (Schmidtová: relinquamus). 12 Jes 3,10.
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Herr ebenda zu euch spricht: Wehe dem Gottlosen, [ihm schlägt’s] zum Übel [aus], denn ihm wird Vergeltung seiner Hände [Werk] widerfahren.13 Doch wirst du sagen: „Wann?“14 Ebenda fügt der Herr als Antwort hinzu: Der Herr wird kommen zum Gericht mit den Ältesten seines Volks und mit dessen Fürsten,15 und dann auch naht die Ankunft des Herrn. Also wohlan denn ,16 ihr Reichen, weint voller Heulen über das Elend, das über euch kommt, euer Reichtum ist morsch, eure Kleider sind mottenzerfressen, euer Silber und Gold ist verrostet, und ihr Rost soll euch Warnung sein und wird euer Fleisch verzehren wie Feuer. Ihr habt euch Zorn17 angehäuft in den letzten Tagen, ihr habt auf Erden geprasst und in Ausschweifung eure Herzen genährt, spricht Jakobus im 5. Kapitel18 und fügt hinzu: Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht.19 Ihr Guten, auch wenn ihr etwas erleidet um der Gerechtigkeit willen, seid geduldig, und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe, spricht die Wahrheit bei Lukas im 21. Kapitel.20 Also stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht. Ihr angehenden Heiligen, stärkt eure Herzen, indem ihr euch sorgsam vorm Bösen hütet, denn 1Thess 3 sagt der Apostel: Gott ist treu, der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen.21 Ihr Zunehmenden aber, stärkt eure Herzen, indem ihr von Tugend zu Tugend fortschreitet, denn 2Thess 2 wird gesagt: Er selbst aber, unser Herr und unser Vater, der uns geliebt und uns einen ewigen Trost gegeben hat und eine gute Hoffnung durch seine Gnade, der ermuntere eure Herzen und stärke euch in allem guten Werk .22 Ihr Vollkommenen endlich, stärkt eure Herzen durch innige Betrachtung der himmlischen Güter; denn 1Kor 123 wird gesagt: Der euch stärken wird bis ans Ende, [damit ihr] ohne Fehl [seid] am Tage der Ankunft. All ihr Heiligen also, die ihr auf der Erde des Herrn seid, stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht. Stärkt eure Herzen, auf dass ihr, nachdem ihr den Schuppenpanzer der Sünde abgelegt habt, am Tage der Ankunft des Herrn im Wandel heilig und unversehrt an Geist und Leib erscheint, da der Apostel 1Thess 5 spricht: Gott heilige euch durch und durch, auf dass euer Geist und eure Seele und euer Leib ohne Tadel bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werde.24
Jes 3,11. 14 Im Original falsch interpunktiert. 15 Jes 3,14. 16 Mit Vg. und Schmidtová agite statt audite. 17 Hussens Vulgatatext liest hier (Jak 5,3) thesaurizastis vobis iram. 18 Jak 5,1–3.5. 19 Jak 5, 8. 20 Lk 21,28. 21 2Thess 3,3. 22 2Thess 2,16. 23 1Kor 1,8. 24 1Thess 5,23.
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Aber wozu soll der Mensch so unversehrt bewahrt werden? Ohne Zweifel, damit er gekrönt werde. Denn der Apostel spricht 2Tim 4: Es ist mir bereitet die Krone der Gerechtigkeit. Und fügt wenig später hinzu: Nicht aber euch 25 allein, sondern auch allen, die seine Ankunft lieb haben.26 Weshalb Jakobus, indem er uns diese Ankunft vor Augen stellt, sagt: Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht. Thema: Seht, wir haben den dringlichen Hinweis auf die Ankunft des Herrn aus den Worten des heiligen Apostels gehört. Hören wir auch den Heiland, er sagt nämlich Lk 21: Gebt auf euch Acht, dass eure Herzen nicht etwa durch Rausch und Trunkenheit und die Sorgen dieses Lebens beschwert werden und jener Tag nicht unvermutet über euch komme. Wie ein Fallstrick nämlich wird er kommen über alle, die das Antlitz der ganzen Erde bewohnen.27 Seht, da wappnet uns schon im Voraus der treue Heiland gegen das Übel, indem er sein Kommen uns mitteilt, und er stärkt uns im Guten, indem er hinzufügt: Wachet und betet! Und er fügt auch den Grund an, indem er sagt: Auf dass ihr für würdig befunden werdet, all dem zu entkommen, d. h. den Übeln der Strafe, was da kommen wird, und zu stehn vor dem Sohn des Menschen.28 Der gute Herr lehrt Gutes – hören wir also auf ihn, ihr Lieben, entfliehen wir Rausch und Trunkenheit und der Sorge dieses Lebens, auf dass nicht der Tag der Rache über uns komme. Lasst uns wachen und beten, auf dass wir würdig vorm Menschensohn stehen können, lasst uns hierdurch unsere Herzen stärken, da der Apostel uns sagt: Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht . Und ist unser Geist hierbei unbändig, bändige ihn Zerknirschung und ständiger Tränenfluss. Denn Bernhard sagt in der Predigt zu Allerheiligen über das Wort: Selig sind die Sanftmütigen:29 Ein unbändiges Pferd bändigt die Peitsche, eine störrische Seele Zerknirschung des Geistes und ständig fließende Tränen.30 Daher denke in all deinen Werken an dein Ende,31 und du wirst auf ewig, d. h. bis zum Tod, sagt die Glosse, nicht sündigen;32 dieses Ende, den Schrecken des Todes, die furchtbare Strafe des Gerichts, die Angst vor der glühenden Hölle, dies sollst du, so Bernhard, nie aus dem Auge deines Herzens verlieren.33 Bei Hus hier vobis entgegen dem Text. 26 2Tim 4,8. 27 Lk 21,34. 28 Lk 21,36. 29 Mt 5,5. Das folgende Bernhard-Zitat bezieht sich allerdings auf Vers 4: „Selig sind, die da Leid tragen“. 30 Bernhard von Clairvaux, In festo omnium sanctorum I 10 (PL 183, 453). 31 Ebd. (Sir 7,40a). 32 Sir 7,40. 33 S. Anm. 30.
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Sehet, drei Dinge sind uns vor Augen geführt: der schreckliche Tod, das furchtbare Gericht und die glühende Hölle. Der Tod kommt, es naht das Gericht, es wartet die Hölle. Höre es, Streithammel, höre es, du lebenshungriger Jüngling, höre es, Geiziger, höre es, Mächtiger, höre 5 es, Stolzer: Der Tod kommt. Also: Es kommt der Tod, den all deine Rechte nicht scheren.34 Es kommt der Tod, wird keinerlei Frist dir gewähren. 10 Es kommt der Tod, kein Betteln noch Ködern erweicht ihn. Es kommt der Tod, keine Macht dieser Erde verscheucht ihn. Es kommt der Tod – was wird aus deiner Propstei? Es kommt der Tod – mit Pfründen ist es vorbei. Es kommt der Tod, kein Papst kriegt ihn abgeschüttelt.35 15 Es kommt der Tod, der Haupt und Glieder dir rüttelt. Es kommt der Tod – tu andern und dir nichts zuleide. Es kommt der Tod – so tu, was Gott eine Freude.36
Es kommt der Tod, zu neuem Recht gehst du hinüber.37 20 Denn unser Los ist, hinüberzugehn durch die Tore des Todes. Schwer ist’s hinüberzugehn, denn der Übergang kennt keine Rückkehr. O Tod, wie bitter ist der Gedanke an dich für den ungerechten 38 Menschen, der Frieden hat in seinem Besitz, für den Mann, der sorglos in Muße dahinlebt, bei dem alles gelingt und der noch gut essen kann , 25 heißt es Sir 41.39 Er zeigt in den angeführten Worten, für wen der Gedanke an den Tod bitter ist: erstens für die Ungläubigen, die nicht an die Auferstehung glauben, indem er sagt: für den ungerechten Menschen; zweitens für die Reichen, weil sie die Reichtümer, an denen sie Da sich die originale Kombination aus Hexameter mit Binnenreim (sog. leoninischer Hexameter) und anaphorischem Auftakt (sog. Tiradenreim) deutsch kaum nachbilden lässt, ein Verzicht auf jegliche rhythmisch-phonetische Pointierung indes der poetischen Form nicht gerecht wird, ist versucht, dem in kurzen, fünfhebigen Reimpaaren irgendwie Rechnung zu tragen. 35 Die Ausgabe von 1558 bringt diesen Vers erst an neunter Stelle, doch passt er hier wesentlich besser, wo Schmidtovás Text ihn plaziert. 36 Hus verwendet hier einen Tiradenreim-Block aus dem Occultus des Nicolaus von Bibra (verfasst 1282–1284). 37 Da diese Version von Occultus 881 (Mundhenk) zusammen mit dem folgenden rein daktylischen Zweizeiler auch gesondert kursierte, mag sie auch Hus bereits so rezipiert haben. 38 Der Codex Amiatinus liest hier vor pacem habenti noch iusto; eine andere Lesart indes (und offenbar damals die übliche: so auch bei Hugo v. St.-Cher in seinem Kommentar zur Stelle [Sir 41,1]) lautet iniusto. 39 Sir 41,1 f.
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sich ergötzen, verlieren, indem er sagt: für den Menschen, der Frieden hat in seinen Gütern; drittens für die Müßigen, die nicht auf verdienstliche Werke vertrauen,40 indem er sagt: dem sorglosen Manne ; viertens für die Glücksverwöhnten und Erfolgreichen, weil sie ihren Erfolg und ihr Glück rasch schwinden sehen, indem er sagt: bei dem alles glattgeht, d. h. nach Wunsch; fünftens für die Gesunden und Jungen, weil es nötig ist, dass sie Schmerzen haben und schwach werden, weshalb er sagt: der noch gut essen kann. Sieh, für all diese ist der Gedanke an den Tod bitter. Wahrhaft schrecklich ist der Tod, denn es wird Sir 40 gesagt: Von dem, der ganz oben sitzt, auf seinem herrlichen Thron, bis zum Bettler in Asche und Staub , von dem, der Purpur trägt und eine Krone, bis hinunter zu dem, der in grobes Linnen gehüllt ist, herrscht Zorn, Eifer, Verwirrung, Unruhe und Todesangst.41 Und hierzu sagt Claudian in seinem kleineren Werk:42 Unter dem Tritt deiner Füße sind purpurgewandete Herrscher, All ihres Luxus entledigt, vermischt mit der Masse der Armen. Alles wird gleich durch den Tod.43 Und Hildebert: Gleich wird im Tode der Herr seinem Knecht, das Zepter der Hacke.44 Da sieh, der Tod zeigt es offen, wie klein die Macht dieser Welt ist und was unser Leben: ein Rauch, nur kurze Zeit sichtbar.45 Denn der Mensch, geboren vom Weibe, lebt nur eine kurze Zeit, erfüllt von vielerlei Elend, geht auf und verblüht wie die Blume und flieht wie ein Schatten.46 Dies hatte vorzeiten ein Brauch47 im Blick. So berichtet Johannes Patriarch von Alexandria48, dass an dem Tag, an dem der Kaiser gekrönt wurde, Künstler verschiedenfarbige Mamorstücke zur Hand nahmen und zum gekrönten Kaiser trugen und fragten: „Welchen Marmor befiehlt deine Herrschaft für dein Grabmal?“ Und er selber musste ihn auswählen, dergestalt dass man am Tag seiner Krönung schon Vorkehrung traf zum Bau seines Grabmals. Warum49 also, ihr Lieben, mühen wir uns so vergeblich ab, um uns zu erhöhen? Warum entsinnen wir 40 D. h. aus Resignation im Hinblick auf künftigen Lohn lieber irdische Muße genießen. 41 Sir 40,3 f. 42 Claudians De raptu Proserpinae wurde im Mittelalter als Claudianus minor überliefert. 43 Claudian, De raptu Proserpinae II, 300–302. 44 Hildebert von Lavardin, Carmina miscellanea, carm. 139 De morte (PL 171,1442 B). 45 Jak 4,14. 46 Hiob 14,1 f. 47 Hier setzt ein längeres Predigt-Exzerpt aus Jacques de Vitry ein (De commemoratione animarum, serm. 3 [Sermones aurei, Augsburg/ Krakau 1760, 347]), das sich bis S. 155 erstreckt (s. Anm. 64). 48 Johann von Jenstein, Bischof von Meißen, Erzbischof von Prag und Patriarch von Alexandria (1347/50– 1400). 49 Überleitung von Hus.
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uns nicht Vergils, der,50 wie man liest, vor seinem Tod vier Verse geschrieben hat, in denen er all die Mühen beim Abfassen seiner drei Bücher betont: des Buchs der Hirtengedichte, in dem er die Kunst des Schäfers beschreibt; des Buches vom Landbau, in dem er die Kunst des Ackerbaus darstellt; des Buchs der Aeneis, in dem er von der Kriegskunst berichtet. Und doch beklagt er, von all der Mühe nichts mit ins Grab genommen zu haben, weder von den wohlgenährten Ziegen und Schafen die Milch noch von den gut bestellten Feldern das Korn noch von den besiegten Feinden die Beute. Deshalb sagt er: Habe geweidet, bepflanzt, überwunden, als Hirte, Bauer und Reiter, Ziegen, Felder und Feind, alles mit äußerster Müh. Nahm von geweideten Ziegen und Saatland, vom Feind, dem besiegten, Weder die Milch noch das Korn noch auch die Beute mit mir.51 Dies alles hat Vergil im Bilde gesprochen. Kein Mensch wird im Tod von seinen Genüssen die Milch der Süße mitnehmen noch von seinen Reichtümern die Saat der Erquickung noch von seinen Würden oder Triumphen den Ehrentitel. Deshalb sagt der Psalmist: Lass dich nicht anfechten, wenn einer reich wird,52 d. h. in Bezug auf die fleischlichen Genüsse,53 und wenn die Herrlichkeit seines Hauses sich mehrt (dies in Bezug auf die zeitlichen Reichtümer54): denn wenn er dereinst zugrunde geht, wird er ja nicht alles 55 mitnehmen (dies in Bezug auf die zeitlichen Reichtümer). Bezeichnenderweise indes hat hier der Psalmist gesagt alles, weil man von diesen Genüssen, Reichtümern und Ehren durchaus etwas56 mit sich davonträgt. Denn von den Genüssen trägt der Mensch die Bitterkeit seines Gewissens davon (Spr 5: ihr Ende ist bitter wie Wermut );57 von den Reichtümern äußersten Hunger (Hiob 27: Wenn sich der Reiche schlafen legt,58 nimmt er nichts mit sich; er öffnet Fortsetzung des Predigtexzerpts. 51 Vgl. A. Riese: Anthologia latina I/2 (1906), Nr. 800, mit anderen Lesarten in V. 1 f. (die obigen ebd. im Apparat). 52 Ps 49 (48 Vg. iuxta LXX),17 f. 53 Der Begriff der deliciae , wo im Text nur vom dives die Rede, erklärt sich hier weniger aus dem Psalm denn aus Jacques de Vitrys erster Predigt zu Allerseelen (s. Anm. 47), wo jene Dreiheit aus Reichtum, Genüssen und Ehren, die Hus übernimmt, als Wesenszug menschlicher vanitas eingeführt ist (a. a. O., 345r). Exegetisch stiftet sie eher Verwirrung, zumal bei Hus (s. folgende Anm.). 54 Hier liegt ein Abschreibefehler von Hus vor: de Vitry dignitates, Hus divitias; doch Letzteres steht auch am Ende des Satzes, wie bei Vitry. Und wie bei ihm ist im Anschluss die Rede von den honores , die also durch jene Verschreibung hier ohne Analogon sind. 55 Die sinnentstellende Wortfolge „nicht alles“ (statt „alles nicht“) wegen der Versexegese bei Hus/de Vitry zu non sumet omnia, das missverstanden bedeutet „er wird nicht alles mitnehmen“, korrekt aber „[...] alles nicht mitnehmen“. 56 Das aliqua lässt nur den Sinn non omnia zu– den aber lässt nicht der Vers zu, in dem dieses non zu sumet gehört. 57 Spr 5,4. 58 Gemeint ist das Sterben.
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die Augen und findet nichts.59); von den Ehren Herabsetzung jeglicher Art (1Makk 2: Sein Ruhm ist Kot und Würmer, und morgen schon findet man nichts mehr davon60). Dies zeigt sich an Alexander dem Großen, dessen Gebeine in goldnem Gefäß verwahrt wurden und zu dessen Tod, wie Petrus Alphonsus61 sagt, Philosophen aus verschiedenen Teilen der Erde kamen, damit jeder von ihnen eine Sentenz über seine Gebeine vortrug. Um zu zeigen, wie eitel die Liebe zum Reichtum ist, sprach einer:62 Gestern noch machte er sich einen Schatz aus Gold, heute nun hat das Gold einen Schatz aus ihm gemacht. Ein anderer sprach: Gestern genügte ihm die ganze Welt nicht, heute begnügt er sich mit einem Grab von fünf Fuß. Um aber zu zeigen, wie eitel es ist, die Ehren und Würden dieser Welt zu lieben, sprach ein anderer: Gestern noch folgten ihm alle Lebenden, heute folgt umgekehrt er allen Toten. Ein weiterer sprach in Versen: Wie ist so flüchtig der Ruhm dieser Welt, wie nichtig der Name! Hier der Große beweist es: Dem nicht der Erdkreis genug war, Dem sind nunmehr, in Marmor gehaun, versenkt in der Erde, Ganze fünf Fuß genug für sein Haus. Welch edle Gebeine Ruhn hier auf winzigem Raum! 63 Ein anderer sprach, um zu zeigen, wie eitel die Macht der Welt ist: Gestern noch konnte er viele dem Tode entreißen, heute nun konnte er nicht den Todespfeilen entgehen. Ein anderer sprach: Gestern noch lastete er auf der Erde, heute lastet die Erde auf ihm . Ein weiterer sprach: Gestern noch hatte er viele Freunde und Feinde, heute hat er sie alle zu Schicksalsgenossen. Ein weiterer sprach: Gestern noch hatten die Völker vor ihm Respekt, heute haben sie nur noch Verachtung und Abscheu.64 Weshalb wohl der tote Alexander, wenn er hätte sprechen können, gesagt hätte:65 Hiob 27,19. 60 1Makk 2,62 f. 61 Petrus Alphonsi, Disc. clericalis 30 (PL 157, 705D– 706A). Hus zitiert nach Vitry (a. a. O., 348r), fügt den Namen hinzu und ergänzt aus Alphonsi Punkt 1 und 7; wie bei Vitry fehlen 3 und 5 (für 3 steht Punkt 2 aus Vitry). Zudem ergänzt er durch Verse der Alexandreis (s. Anm. 63), die allerdings schon Punkt 2 aus Alphonsi umschreiben (O. Zwierlein, Lucubr. Phil. II, 604, Anm. 3). 62 Kursiviert sind nur die Sentenzen nach P. Alphonsi sowie die Verse nach W. von Chatillon. 63 Verschnitt aus Walter von Chatillon, Alexandreis VIII 333.X 448–451, nach Vincenz von Beauvais, De mor. princ. inst. 9 (Vertauschung von rerum und mundi in VIII 332 f.). Quelle für Hus evtl. Summa recreatorum V 3 (zumindest in der von Vidmanová angeführten Version: Festschrift V. Bok, 2004, 388. 64 Hier endet das Predigt-Exzerpt aus Jacques de Vitry (s. Anm. 47). 65 Der folgende Grabmonolog entstammt einer späten Version (Rez. J3, ca. 12. Jh.) der Historia de preliis (der
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Ich, Alexander, der alle Welt einst im Kampfe besiegte, Werde nun selber besiegt, eh eine Stunde verstreicht. Der ich die Welt in der Hand hatte, alle auf Erden beherrschte, Habe nun nicht einmal mich, und meine Reiche sind nichts. Könige stürzte ich, mich stürzt der Tod, der Allesbezwinger. Alles erschlug ich – nun, ach, werde erschlagen ich selbst. Alles griff ich an, doch mich greift ein Wurm an und nimmt mir den Raum weg. Würmern ein Fraß bin ich, fraß selbst an der Welt wie ein Wurm. Raffte dahin alles, mich nun der Tod, der alles dahinrafft. Nichts behalt ich zurück, werde zerrieben zu Staub. Mich, dem die Welt nicht genug war, die Welt, die rings ich umfasste, Mich, dem der Erdkreis zu klein, fasst dieser winzige Topf. 66 Hoch zog es mich, auf den Flügeln des Greifs,67 zu himmlischen Höhen; Nun hat der Tartarus mich, Schuldigen, in seinem Schlund. Mich sah das Meer,68 mich senkte 69 ein gläsernes Fass 70 in die Tiefe: Jetzt ruht in winzigem Krug all mein erloschener Stolz71. Warum, o Mensch, der du stirbst, begehrst du,72 dich hoch zu erheben? 73 Was auch dein Zugewinn sei – immer begehrst du noch mehr.74 Alles geht ja vorbei, es vergeht auch das blühende Leben. Und je höher du steigst, umso viel tiefer dein Fall. Schau meinen elenden Leib, dem alle Welt huldigte: nunmehr Zwängt mich auf engstem Raum ein dieser dürftige Krug. lateinischen Übersetzung der Historia Alexandri Magni des Ps.-Kallisthenes [3. Jh.] durch Leo von Neapel [10. Jh.]), einer Version, die sich je nach Hs durch größere Verseinlagen auszeichnet (vgl. Fr. Pfister, Münchener Museum 1 [1911], 275, sowie A. Hilka, Romanische Forschungen 29 [1910], 70 f., mit alternativen Textvarianten). 66 Die Bilder der Erd- und Feuerbestattung sind ohne Bedenken gemischt. 67 Anspielung auf den bei Leo von Neapel, III 5 (Ps.-Kallisthenes II 41) geschilderten Himmelsflug Alexanders, bei dem dieser sich in hölzernem Fluggerät von zwei Greifen emporheben lässt. 68 Dem Himmelsflug folgt (Leo III 6; bei Ps.-Kall. vorher: II 38) ein nicht minder phantastischer Tiefseebesuch in gläsernem Fass, das ein eiserner Käfig hinablässt. 69 Zwei Hss (BM; s. Pfister) lesen am Ende profundit. 70 Neben testa (Topf, Urne, Krug) begegnet vereinzelt auch cesta (= cista – Kiste); s. Hilka. „Fass“ wäre eigentlich doleum (so bei Leo; entsprechend bei Ps.-Kall. πίθος), doch mag dies aus metrischen Gründen ersetzt sein. 71 Vgl. im Text timidum me frigidumque („mich Furchtsamen und Erkalteten“); für timidum lesen einige Hss tumidum („stolz“), was in Kombination mit frigidum nur den erloschenen Stolz meinen kann, den also timidum deutlicher ausdrückt. 72 Mit Schmidtovás Text (und den meisten der Hss) ist moreris, cupis zu lesen; meritis cupiens (Ed. 1558) hängt syntaktisch in der Luft. 73 In beiden Hus-Editionen falsch interpungiert; richtig dagegen bei Hilka und Pfister (s. o. Anm. 65). 74 Wie Anm. 73.
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Warum ergötzt sich die Menschennatur am Erklimmen der Höhe, Die ihre Erdengestalt dankt so vergänglichem Stoff? Wüssten wir früher, was allen im Tode bereitet, um vieles Bangte der Mensch im Voraus, was er für sicher jetzt hält. Als ich den Erdkreis regierte, da nannten mich alle den Großen: Wer oder was ich noch bin, siehst du, mein Leser, hier selbst. Seht, ihr Lieben, die Rede Alexanders zeigt uns die Kürze des Lebens, die Dürftigkeit der Macht, die Eitelkeit der Welt. Denn alles ist Eitelkeit, ein jeder Mensch, der da lebt, spricht König David.75 Und Eitelkeit über Eitelkeit, und alles ist Eitelkeit, spricht der große König, der Prediger, der Sohn Davids, in seinem Buch zu Anfang und Ende.76 Was aber würde77 wohl Karl, der ruhmreiche Fürst, Kaiser und König von Böhmen, sagen, dessen Gedächtnis zur Stunde begangen wird, der Beschützer der Kirche, Erneuerer des Friedens, Freund des Klerus, Glanz der Fürsten, Ernährer der Armen, Errichter unserer Hauptkirche und Gründer unsrer Universität? Fürwahr, wenn der Tote noch reden könnte, würde78 er sagen: Eitelkeit über Eitelkeit, und 79 alles ist Eitelkeit! Doch frage ich, was unsere Magister und Professoren der heiligen Theologie sagen würden, wenn sie, die Verstorbenen, leibhaftig uns Antwort gäben? Was etwa Magister Nikolaus Biceps,80 jener Disputant voller Scharfsinn; was Adalbert,81 der Redner kristallener Klarheit; was Genko,82 als Rechner unschlagbar; was Nikolaus Rakovnik,83 ein Dichter von höchstem Format; was Nicolaus Lytomissl,84 jener Ratgeber klarsten Verstands; was Stephan von Kölln,85 Patriot von glühendstem Eifer; was Johannes Stykna,86 der außergewöhnliche Prediger, dröhnend wie eine Posaune; was Petrus Stupna,87 Schöpfer der süßesten Tonkunst, erst recht aber Prediger glühendsten Eifers? Was würden sie 75 Ps 39,6 (Vg. 38.6). 76 Koh 1,2 und 12,8. 77 Hier ist, entgegen Schmidtovás Text, mit der Nürnberger Ausgabe diceret zu lesen. 78 Wie Anm. 77. 79 Der Hus vorliegende Text der Vulgata liest Koh 1,2 und 12,8 et omnia vanitas . 80 Böhmischer Theologe, *1349/50, †1399. 81 Adalbertus Ranconis de Ericino (Vojteˇ ch Ranˇku° z Jezˇova), böhmischer Theologe, *um 1320, †1388. 82 Unbekannt. 83 Nikolaus de Rakovnik (Mikulásˇ Rakovnik), böhmischer Theologe, 1379/80 Rektor der Karlsuniversität zu Prag, * um 1350, † 1402. 84 Nikolaus von Leitomischl (Mikulásˇ z Litomysˇ le), böhmischer Theologe, 1386 und 1402/03 Rektor der Universität zu Prag, † um 1404. 85 Stephan von Kolin (Sˇ teˇ pán z Kolína), böhmischer Theologe, 1397/98 Rektor der Karls-universität, *um 1360, †1408. 86 Johannes Scecna (Sˇteˇ kna), böhmischer Theologe, ab 1400 Theologieprofessor in Krakau, *um 1355, †1407. 87 Petrus de Stupna, böhmischer Prediger, †1407.
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alle und die anderen, auf deren Grabstätten wir mit unseren Füßen treten, was würden sie antworten? Sicherlich würden sie sagen: Eitelkeit über Eitelkeit, und alles ist Eitelkeit . „Nichts hilft der Wissenschaft Tiefe,88 es rettet nicht Gattung noch Art, keinem hilft 89 eine Masse von Schätzen: Der Stoff aller Dinge vergeht ,90 wie Eis in der Sonne dahinschmilzt.“ Seht, ihr Lieben, der ruhmreichste Fürst selbst, dessen Gedächtnis wir feiern in Hoffnung für seine künftige Seligkeit, und selbst unsere oben genannten Magister und lieben Brüder in Christo sind ins Grab91 gefallen wie Steine. Wer von uns weiß, ob ihnen gemäß dem Geiste92 die Ruhe gegeben ist? Wenn wir diese erlangen wollen, so müssen wir uns an das vorgegebene Thema halten, wo uns gesagt wird: Stärkt eure Herzen, denn die Ankunft des Herrn naht. Seht ihr Herren, geliebte Brüder in Christo, wir haben die Eitelkeit der Welt eingehend betrachtet, wir wollen nun auch auf den Tag des strengen Gerichts blicken, denn die Ankunft des Herrn naht, eine Ankunft, so sage ich, die gewiss ist, doch ungewiss hinsichtlich Zeit und Stunde. Denn wie die Wahrheit spricht: Wachet, denn ihr kennt weder Tag noch Stunde .93 Die Ankunft ist plötzlich, denn wie der Blitz vom Orient ausgeht zum Okzident, so wird die Ankunft des Menschensohn sein, sagt der Menschensohn selbst Mt 24.94 Die Ankunft ist qualvoll und schrecklich ,95 denn 2Petr 3 sagt der Statthalter Christi: Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb, dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen, und die Elemente werden vor Hitze schmelzen, und die Erde, und die Werke, die auf ihr sind, werden verbrennen.96 Und Petrus fügt hinzu: Wenn nun das alles zergehen soll, wie müssen wir 97 uns bewähren in heiligem Wandel und Frommsein, in Erwartung und Eile zur Ankunft des Tages unseres Herrn Jesus Christus, an welchem die Himmel vom Feuer sich auflösen und die Elemente in der Hitze des Feuers zerschmelzen! 98 Hus zitiert aus einem Tropus des 12. Jh. (vgl. J. Troxler, Liturgisches aus Beromünster, Zeitschrift für Schweizer Kirchengeschichte 14 [1920], 112.121; Cl. Blume, Tropi Graduales II [Leipzig, 1906], 378). 89 Das erneute valet (statt prodest bei Troxler, 121, und Blume, Str. 4b) zeigt, dass Hus memoriert. 90 Statt transierunt muss es wohl transit enim heißen (Troxler/Blume); materies als Plural (wie ihn transierunt voraussetzt) wäre nach rerum doch sonderbar. 91 Schmidtová liest sepulcrum statt profundum . 92 So bei Schmidtová; vgl. Offb 14,13. 93 Mt 25,13. 94 Mt 24,27. 95 Vgl. Augustin, De civitate dei 20,22,2 (PL 41,692): poenalis eius erit adventus (bei Schmidtová irrtümlich als Zitat aus Mt 24 [mit Verweis auf Mt 25,13: doppelte Zählung von Anm. 52]). 96 2Petr 3,10. 97 Hus liest nos, wohl eher in unbewusster Anpassung an die kollektive Situation, denn als Lesart ist es nicht belegt. 98 2Petr 3,11 f.
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Seht, der Tag des Herrn ist schrecklich, an welchem oben der aufgebrachte Richter sein wird, erzürnt über die Verworfenen, unten der schrecklich klaffende Abgrund der Hölle, zur Rechten sämtliche Sünden als Kläger, zur Linken alle Dämonen als Henker, hinten die brennende Welt, vorn die zur Hölle treibenden Engel Gottes, im Inneren die grausame Pein des Gewissens, von außen der unerträgliche Brand des Feuers am eigenen Leibe, bei Guten wie Bösen Erkenntnis der Sünden aller und Anerkennung des Urteils des heiligen Richters, das da lauten wird: Geht hin, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer .99 Wenn wir das alles erwägen, so lasst uns von Herzen Buße tun, lasst uns um Gnade bitten; denn Petrus spricht 2Petr 3: Der Herr verzögert nicht seine Verheißung, sondern er lässt um euretwillen Geduld walten und will nicht, dass jemand verlorengehe, sondern dass sich jeder zur Buße wende.100 Siehe, der treueste Herr will nicht, dass jemand verlorengeht, er will, dass alle gerettet werden, wenn sie Buße tun, er wartet in Geduld, und nachdem die Gaben verheißen sind, kennt er kein Säumen. Also stärkt eure Herzen in der Geduld, denn die Ankunft des Herrn naht. Ihr Lieben, unser Heil ist jetzt näher, denn da wir zum Glauben fanden, spricht der Apostel, denn die Nacht der Sünde, der Unwissenheit und der Verdammnis ist vorgerückt, aber der Tag der Gnade, des Glaubens und des Heils ist nahe .101 Also lasst uns unsere Herzen stärken, lasst uns ablegen die Werke der Finsternis,102 d. h. die Sünde, und anlegen die Waffen des Lichts, d. h. die Tugend, lasst uns so wie jetzt 103 ehrbar wandeln, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Schlafgemächern und Unzucht, nicht in Hader und Neid , denn der Apostel sagt Tit 2, dass erschienen ist die Gnade Gottes, unseres Heilands ,104 d. h. Gott selbst, unser gnädiger Heiland. In seiner ersten Ankunft ist er erschienen im Fleisch allen Menschen, um uns zu erziehen, dass wir verleugnen alle Gottlosigkeit und alle weltlichen Gelüste nüchtern gegen uns selbst und gerecht gegen den Nächsten und fromm gegen Gott in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung, d. h. die Seligkeit, die Gegenstand der Hoffnung ist, und auf die Ankunft der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, um uns zu erlösen von aller Ungerechtigkeit und sich ein wohlgefälliges 105 Volk zu reinigen, das eifrig sei zu guten Werken.106
Mt 25,41. 100 2Petr 3,9. 101 Röm 13,11 f. 102 Ebd. 103 Bei Hus statt sicut – in die (Vg.) hier sicut nunc (Varia-tion, keine Lesart). 104 Hus liest in seinem Vulgatatext salvatoris, nicht salutaris. 105 In Hussens Vulgata hier acceptabilem, nicht peculiarem. 106 Tit 2,11–14.
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Wahrlich, ihr Lieben, wenn wir darin unsere Herzen stärken, so wird uns keine Widerwärtigkeit schaden, indem uns so auch keine Bosheit beherrschen wird. Wer also will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 107 Ich bin gewiss, dass nicht einmal der Tod dies vermag,108 der den Gerechten gut ist, wie Spr 14 gesagt wird: Der Gottlose in seiner Bosheit wird verstoßen, der Gerechte aber vertraut auch in seinem Tod.109 Denn besser ist für die Gerechten der Tag des Todes als der Tag der Geburt ,110 da der Tod seiner Heiligen kostbar ist vor dem Herrn .111 Denn er ist der Austritt aus dem Fleische, das Ende der Verbannung, die Vollendung der Arbeit, das Anlegen im Hafen, die Beendigung der Pilgerschaft, das Ablegen der schwersten Last, d. h. des die Seele beschwerenden Leibes. Ja, der Tod ist wie das Absteigen von einem wilden Pferd, d. h. vom Fleisch, die Rettung aus einem baufälligen Haus, die Befreiung aus einem brennenden Ofen;112 er ist das Ende aller Krankheiten, das Entrinnen aus allen Gefahren, die Tilgung aller Übel, die Sprengung der Fesseln, der schuldige Sold an die Natur, die Rückkehr ins Vaterland und der Eingang in die Herrlichkeit.113 Daher, ihr Teuren, lasst uns unsere Herzen stärken mit diesen Worten, damit wir bestehen im Himmel, denn die Ankunft des Herrn, der zu uns herabgestiegen war, naht.114 Trachten wir danach, ihr Teuren, zu ihm durch sie hinaufzusteigen, der durch sie zu uns hinabstieg. Trachten wir danach, durch sie in die Gnade dessen zu kommen, der durch sie in unser Elend kam. Durch dich lass uns Zugang haben zum Sohn, o gebenedeite Gnadenfinderin, Lebensgebärerin, Mutter des Heils, dass der uns durch dich aufnehme, der uns durch dich gegeben ist. Möge bei ihm deine Unschuld die Schuld unseres Verderbens entschuldigen, möge deine Gott wohlgefällige Demut Vergebung erwirken für unsere Eitelkeit, möge deine reichliche Liebe die Vielzahl unserer Sünden bedecken und deine glorreiche Fruchtbarkeit uns die Fruchtbarkeit der Verdienste verleihen. Unsere Herrin, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns mit deinem Sohn, empfiehl uns deinem Sohn, rufe uns deinem Sohn in Erinnerung. Bewirke, o Gebenedeite, durch die Gnade, die Röm 8,35. 108 Röm 8,38. 109 Spr 14,32. 110 Koh 7,1. 111 Ps 116 (115 Vg. iuxta LXX),5. 112 Vgl. Dan 3,17. 113 Vgl. [Ps.]-Bonaventura [Rodolphus de Bibraco], De septem donis Sp. S. II 7,8 (Opp. VII, ed. Peltier, Paris 1866, 644 f.), mit Verweis auf quidam sanctus als Autor sowie auf Ps 115,5 als Teil eines Bernhard-Zitats (vgl. PL 183,484B). Bernhards Version mag, samt Variation bei Petrus Blesensis (PL 207,473D), die Urform sein. 114 Bernhard von Clairvaux, De adventu domini II, 5 (PL 183,43B). Das enthaltene Mariengebet stammt von Anselm von Canterbury (PL 158,960 f.).
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du erlangt hast, durch das Vorrecht, das du verdient hast, durch die Barmherzigkeit, die du geboren hast, dass er, der durch dich zum Genossen unserer Schwachheit und unseres Elends wurde, durch deinen Beistand uns teilhaben lässt an seiner Herrlichkeit und Seligkeit, er, Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr, der die Sünder, als er in seiner ersten Ankunft kam, vom Tode erlöst hat und durch sein letzes Kommen den Bestärkten in seiner Gnade das ewige Leben verleihen wird, selbst gebenedeit in alle Ewigkeit. Amen .
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11 EXKOMMUNIKATION DES JOHANNES HUS DURCH DEN PRAGER ERZBISCHOF [18. Juli 1410]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 397–399 (Nr. 26).
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Einleitung Nr. 11
Seit dem vertrauensvollen Brief Hussens an den Prager Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg im Jahr 1408 (vgl. Nr. 7 dieser Ausgabe) hatte sich das Verhältnis rasch verschlechtert (vgl. Nr. 8 und 9). Ende 1409 war es dem Erzbischof gelungen, eine päpstliche Bulle zu erwirken, in der alle Predigten außerhalb von Kathedral-, Kollegiat-, Pfarr- oder Klosterkirchen verboten wurden. Ohne Hus direkt zu nennen, war diese Bestimmung auf Hussens Predigttätigkeit an der Bethlehemskapelle gemünzt. Eine unmittelbare Bedrohung für Hussens Stellung bedeutete auch die Forderung, dass alle Wyclif-Traktate an den Erzbischof von Prag abzuliefern waren und den darin enthaltenen irrigen Artikeln abgeschworen werden musste. Bei Zuwiderhandlung drohte Amtsverlust. Die päpstliche Bulle wurde Anfang März 1410 in Prag bekannt. Doch Hus setzte sich über das Predigtverbot hinweg. Der Erzbischof verschärfte den Konflikt mit den Prager Wyclif-Anhängern und drohte ihnen mit dem Kirchenbann. Zugleich ordnete er die Verbrennung der Bücher Wyclifs an. Immer deutlicher trat Hus jetzt als Anführer der Prager Wyclifiten hervor. Gemeinsam appellierten diese an Papst Johannes XXIII. gegen die beabsichtigte Bücherverbrennung und die Behinderung der Predigt. Trotz der Empörung in einem Teil der Bevölkerung, die Hus in seinen Predigten in Bethlehem mit angefacht hatte, ließ der Erzbischof am 16. Juli 1410 die Bücher Wyclifs in Prag verbrennen. Den Kirchenbann gegen diejenigen, die sich seinen Anordnungen widersetzt hatten, verhängte er aber erst zwei Tage später von seiner sicheren Residenz Raudnitz aus.
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Wir, Zbynco, von Gottes Gnaden Erzbischof der heiligen Prager Kirche, Legat des apostolischen Stuhls, Kanzler der Universität Prag, Exekutor und Kommissar in der unten beschriebenen Sache, dazu vom besagten apostolischen Stuhl besonders beauftragt, entbieten allen Äbten, Pröpsten, Prioren, Archidiakonen, Dekanen, Kantoren, Schulleitern, Schatzmeistern und Kanonikern sowohl der Kathedral- wie auch der Kollegiat- und Pfarrkirchen, den Rektoren und Pfarrern der Klostergemeinden, und nicht zuletzt dem Friedhofsmeister des heiligen Adalbertus in unserer vorbesagten Prager Kirche, und allen Generalen, Provinzialen, Ministern, Guardianen, Kustoden, Rektoren, [...]1 Magistern, [...]2 Kommendatoren, Präzeptoren, Mönchen und Ordensbrüdern, [...]3 Klerikern sämtlicher Klöster, Hospitäler, Gotteshäuser und Güter sämtlicher Orden, der exemten wie nicht exemten, den Studenten jeglicher Fakultät und den Predigern sämtlicher Kirchen und Klöster, den öffentlichen Notaren und übrigen Christgläubigen, und allen anderen in unserer Stadt, Diözese und Provinz Prag, die die untenstehende Angelegenheit berührt oder irgendwie in der Zukunft berühren könnte, unseren Gruß im Namen des Herrn [und wünschen], dass unseren oder vielmehr den apostolischen Mandaten fester Gehorsam gezeigt werde.
Wisset, dass wir – nachdem neulich durch Vollmacht des besagten apostolischen Stuhls und nach gebührender Überlegung und reiflicher 25 Beratung mit unseren Suffraganen, [...]4 dem Dekan und Kapitel unserer besagten Prager Kirche, den Prälaten, Doktoren und Magistern und anderen als verständig geltenden Leuten, zusammen mit bewährten Doktoren der heiligen Theologie und des kanonischen Rechts, die Bücher und Aussagen eines gewissen Erzketzers Johannes Wyclif 30 untersucht worden sind – gewisse Bücher des vorgenannten Johannes Wyclif wie auch solche, die Aussagen desselben enthalten, durch Urteilsbeschluss, aufgrund der darin enthaltenen offensichtlichen Häresie, verdammt und, um diese aus den Augen der Gläubigen zu entfernen, damit nicht die Gläubigen selbst daraus angesteckt würden, 35 entschieden haben, dieselben verbrennen zu lassen. Über dieses Urteil haben wir in der gebührlichen Rechtsform unsere Prozessakte fertigen lassen und dieselbe in der neulich abgehaltenen heiligen Synode in Gegenwart einer großen Zahl von Klerikern und anderer Christgläubigen veröffentlicht und veröffentlichen lassen. 1
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Nach der Veröffentlichung dieser Prozessakte haben Magister Johannes Hus aus Husinec, Ladislaus von Zwierzeticz, Johannes von Brandis, Petrus von Sepekow, Petrus von Valencia, Michael von Drnowicz, Johannes von Landstein, Magister, Baccalaren und Studenten, für sich und ihre Anhänger und alle, die sich ihnen anschließen wollten, eine frivole Appellation gegen unseren Gerichtsbeschluss, wie uns zur Kenntnis gebracht wurde, eingelegt und vor öffentlichen Notaren und Zeugen einzulegen unternommen. Da wir uns dieser Appellation, als einer nichtigen und, wie gesagt, aus nichtigen Gründen eingelegten, nicht beugten, wie wir uns auch zu Recht gar nicht beugen durften , da es allem Anschein nach den katholischen Glauben angeht, haben wir in der Absicht, unser vorgenanntes Urteil zu exekutieren, die von uns verurteilten Bücher, wie auch solche, die Aussagen des vorher berührten Johannes Wyclif enthalten, tatsächlich dem Feuer übergeben und übergeben lassen. Da aber die vorbenannten M. Johannes Hus, Ladislaus von Zwierzeticz, Johannes von Brandis, Benessius von Lysa, Petrus von Sepekow, Petrus von Valencia, Michael von Drnowicz, Johannes von Landstein selbst wie auch ihre Anhänger sich unserem vorgenannten Gerichtsbeschluss bekanntermaßen wie Rebellen, Ungehorsame und Feinde des katholischen Glaubens entgegenstellten und ihnen verwegen entgegenzutreten wagten, haben wir auf der Grundlage der obgenannten apostolischen Autorität erklärt und erklären durch vorliegende Urkunde [nochmals], dass sie unter das in unseren genannten Prozessen enthaltene Urteil und die darin ausgesprochenen Strafen fallen und ihnen unterliegen, und wir exkommunizieren sie mit diesem Schreiben. Deshalb befehlen wir euch, allen zusammen und jedem einzeln, oder euren Stellvertretern, zu denen das gegenwärtige Schreiben gelangt oder die auf der Grundlage des gegenwärtigen Schreibens ersucht werden, und insbesondere dem Friedhofsmeister des heiligen Adalbertus in unserer vorbesagten Prager Kirche, kraft heiliger Gehorsamspflicht und unter Strafe der Exkommunikation, die wir gegen euch und die Euren nach vorangehender dreimaliger kanonischer Ermahnung, sofern nicht ihr und ein jeder von euch unseren oder vielmehr den apostolischen Befehlen gehorcht, mit diesem Schreiben wirksam zur Ankündigung bringen, mit strenger Verfügung, die vorbenannten Johannes Hus, Ladislaus, Johannes, Benessius, Petrus von Sepekow, Petrus von Valencia sowie Michael und Johannes mit Namen und die anderen, die ihnen in den vorgenannten Dingen anhängen und anhängen wollen, im Allgemeinen aus den oben genannten Gründen in euren Kirchen, Klöstern und anderen Orten am kommenden Sonntag
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und an allen übrigen Sonn- und Feiertagen unter Glockengeläut, mit brennenden, auf die Erde zeigenden Kerzen ohne Unterbrechung öffentlich als Exkommunizierte auszurufen und solchen Ausruf zu veranlassen, so lange, bis die vorgenannten Exkommunizierten im 5 Herzen umkehren und die Wohltat der Absolution zu erhalten verdienen und ihr es anders durch uns erfahren werdet in Mandaten. Darüber hinaus befehlen wir euch allen und einzeln und ordnen an unter Androhung der schon ausgedrückten Strafe der Exkommunikation, dass ihr samt all eurer Leute unseren in der heiligen Synode von uns 10 veröffentlichten Gerichtsbeschluss dem Volk von den Kanzeln kurz und bündig in der euch zusammen mit dieser Schrift offerierten Form bekanntgebt und uns von solcher Exekution eine glaubwürdige Meldung erstattet. Wir reservieren aber die Absolution der besagten Personen ausschließlich für uns oder unseren Oberherrn.
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Abb. 5: Johannes Hus, Brief an die getreuen Böhmen, in dem er seine Anhänger zu einem wahren christlichen Leben auffordert, verfasst im Kerker zu Konstanz am 10. Juni 1415 (Abschrift, 15. Jahrhundert). Vorlage: Císarˇ ová-Kolárˇ ová/Danˇhelka, Abb. 1; vgl. Novotny´, Korespondence, 269–273 (Nr. 129).
12 HUS AN DIE BÜRGER VON LAUN [um 1410]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 54–56 (Nr. 16); verglichene deutsche Übersetzung: Lüders, Johann Hus, 107–110.
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Einleitung Nr. 12
Etwa 1410 richtete Hus ein Schreiben an die Bürger der kleinen nordwestböhmischen Stadt Laun und lobte deren Eintracht und Frömmigkeit, die weit über diejenige in anderen böhmischen Städten hinausgehe. Er appellierte an sie, keine Zwietracht entstehen zu lassen und eher auf die Bewahrung des Gesetzes Gottes als auf die Gesetze der Menschen zu achten, wobei er einerseits auf unzüchtiges Verhalten von Klerikern, andererseits auf unangemessenes Verhalten weltlicher Richter verwies. Mit Blick auf das nahende Weltende rief er die Launer zu einem frommen, sündlosen Leben und zu Gottesliebe und Gottvertrauen auf. Im Zuge der Hussitenbewegung bekannten sich Städte wie Laun zu Hussens Gedankengut. Für radikale hussitische Chiliasten zählte Laun neben Saaz, Pilsen, Klattau und Schlan zu den fünf „gotterwählten Städten“, in denen die Gläubigen angesichts des nahenden Weltgerichts errettet würden.
Johannes Hus an die Bürger von Laun
Magister Johannes Hus, ein unwürdiger Diener Gottes, an die gläubigen Bürger von Laun. Gnade und Friede unseres Herrn Jesu Christi sei mit Euch! 5 Ihr Lieben, wenngleich ich Euch nicht mit meinen äußeren Augen
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gesehen habe, sondern nur mit den inneren, höre ich doch von Eurem beständigen Glauben und Eurer Liebe zu Gott und seinem Evangelium, wie der Erlöser selbst Euch in Glaube, Friede, Liebe und im Hören des Wortes Gottes geeint hat, so dass Eure Eintracht und Einmütigkeit über alle anderen Städte des Königreichs Böhmen hinaus in meinem Innersten aufbewahrt ist. Ich flehe Euch also an, Ihr Lieben, auch wenn ich Euch von Angesicht unbekannt bin,1 aber hinsichtlich Eures Heils auf Gott vertraue: Liebt einander, bleibt fest in Eintracht und lasst Euch in keiner Weise voneinander trennen! Denn jene Eintracht, die durch den wahren Glauben besteht, wird Euch unversehrt für Gott aufbewahren. Gott aber wird Euch durch seine Barmherzigkeit guten Fortgang gewähren, dass Ihr Fleisch, Welt und Teufel besiegen könnt. Gebt darauf Acht, Ihr Lieben, und denkt daran, dass durch Euch nicht auf irgendeine Art Spaltungen, Verrat, Neid, Zorn und dergleichen aufkommen. Wenn unter Euch jemand schwer zu bändigen ist oder Zwietracht sät, überführt diesen unter Euch wie einen Bruder. Streitet nicht vor Gericht, denn auf beiden Seiten hinterlässt es großen Schaden an Seele, Körper und Vermögen! Bemüht Euch, mehr das Unrecht, das Gott geschieht, als das, welches Euch geschieht, zu bestrafen. Ach, darin irrt die ganze Welt, dass die Sterblichen mehr ihr eigenes Unrecht als jenes gegen Gott ahnden wollen. Diesen Weg bereitet besonders der Antichrist und ebnet ihn schön, insbesondere für uns Priester, die wir wollen, dass die Gesetze der Menschen genauer eingehalten werden als das Wort Gottes. Seht, wenn dieser Priester, Mönch oder Prälat Unzucht treibt oder Ehebruch begeht, kommt dieses Verbrechen ungestraft davon, und wenn er etwas seinem Willen entsprechend lehrt und gebietet, will er, dass es bei Androhung des Kirchenbanns befolgt wird. Ebenso die Weltlichen: Wenn einer Gott mit Schimpf belegt, bestrafen sie ihn nicht. Doch wenn jemand zu ihnen sagt: „Verehrte Väter, Ihr habt mich zu Unrecht verurteilt!“ – was allzu oft geschieht –, dann strafen sie mit dem Schwert, weil er die Richter der Ungerechtigkeit bezichtigt. Ich aber vertraue auf den Herrn, dass er Euch von solchen Übeln befreien wird, auf dass Ihr sein Gesetz mehr beachtet als die Gesetze der
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Vgl. Gal 1,22.
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Menschen. Wenn Ihr dieses bewahrt, kann Euch niemand schaden.2 Deshalb, Ihr Lieben, erkennt die Dinge, die ewig sind und niemals vergehen! Es sind nämlich zwei Sachen: Verdammnis und ewiges Leben. In der Verdammnis herrschen ewiges Feuer, Finsternis, ungeheure Qual und unaufhörliche Brandmarter unter Teufeln. Im ewigen Leben dagegen ist vollkommene Freude, Licht, keinerlei Schmerz oder Qual und der Umgang mit Gott selbst und seinen Engeln. Wie der heilige Paulus sagt: Was kein Auge geschaut und kein Ohr gehört hat und in kein Menschenherz gekommen ist – versteht an dieser Stelle: in überhaupt keinen Menschen! –, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben.3 Selig werden wir also sein, wenn wir jene Seligkeit genießen, wo vollkommene Liebe sein wird. Dort werden wir nämlich sehen, wer ausgeschlossen ist, verdammt und verschmäht, dort werden alle Sünden, die jetzt im Herzen der Menschen verborgen sind, entdeckt werden, dort werden wir solche Freude und solchen Trost erfahren, derer wir niemals beraubt werden können. Und wenn wir hier um Christi willen etwas erleiden, werden wir selig werden. Denn durch Kreuz und Demütigungen werden wir wie das Gold im Feuer durch den Schmied geprüft, der die ganze Welt aus dem Nichts geschaffen hat. Selig werden wir also sein, wenn wir bis zum Ende im Guten verharren. Ihr Lieben, dies wisst Ihr, dass die Welt ins Verderben stürzt, der Tod vor der Tür lauert und wir in Kürze von hier gehen werden: Lebt erstens fromm und heilig, indem Ihr den Sünden entsagt, strebt zweitens nach dem, was himmlisch ist, und liebt drittens Gott von ganzem Herzen und vertraut auf ihn, weil er Euch wegen der Verdienste Jesu Christi in seiner Herrlichkeit auszeichnen und Euch an seinem Reich teilhaben lassen wird. Amen.
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Vgl. 1Makk 5,50 (Vg. 5,48); vgl. Lk 10,19.
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13 HUS AN RICHARD WYCHE [nach 15. März 1411]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 83–86 (Nr. 24).
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Einleitung Nr. 13
Bei dem Brief des Johannes Hus handelt es sich um ein Antwortschreiben. Hus bedankt sich bei Richard Wyche für dessen Brief, berichtet über die Wirkung des empfangenen Schreibens und über die aktuelle Situation in Böhmen. Wyche, ein Schüler und aktiver Mitstreiter des John Wyclif, hatte seinen Brief an Hus am 8. September 1410 aus London geschickt. Darin hatte er gegenüber Hus und dessen Anhängern Verständnis, Trost und Zuspruch geäußert. Es waren allerdings mehrere Monate vergangen, bis der Brief aus England in Prag eingetroffen war. Erst Anfang 1411 hatte Hus ihn erhalten. Erwidert hat ihn Hus offenbar erst nach Mitte März, enthält sein Antwortbrief doch eine Anspielung auf den in Prag am 15. März 1411 verkündeten päpstlichen Bann wegen Nichterscheinens, d. h. weil er einer Vorladung an die Kurie nicht nachgekommen war.
Johannes Hus an Richard Wyche
Der Friede Christi möge reich sein in Euren Herzen durch den Heiligen Geist, der Euch gegeben ist, Teuerster in Jesus Christus! Der Brief Deiner Liebden, welcher von oben vom Vater des Lichts her-
5 abgekommen ist, hat den Mut in den Brüdern Christi kräftig entfacht:
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weil er so viel an Lieblichkeit, geistiger Kraft, Stärkung und Trost enthält, dass, wenn sämtliche anderen Schriften durch den Schlund des Antichrist verschlungen würden, er selbst den Getreuen Christi zum Heile genügte. Daher sagte ich, in meinem Geist seinen stärkenden Inhalt wieder und wieder bedenkend, vor vielen Menschen in einer öffentlichen Predigt, bei der, wie ich schätze, beinahe zehntausend1 Menschen zugegen waren: Seht, liebste Brüder, welch große Sorge um Euer Heil die treuesten Prediger Christi in einem fremden Land haben, dass sie sich sehnen, ihr ganzes Herz auszugießen, wenn sie uns nur stärken könnten im Gesetz Christi.2 Und ich habe hinzugefügt: Seht, unser teuerster Bruder Rychardus, des Magisters Johannes Wyclif Mitstreiter für die Sache des Evangeliums, hat uns einen Brief geschrieben von so viel Ermutigung, dass ich, wenn ich auch sonst keine andere Schrift haben würde, mich einsetzen müsste für das Evangelium Christi bis in den Tod; und ich werde es tun, mit der Hilfe unseres Herrn Jesus Christus. So sehr aber sind die Gläubigen Christi entbrannt bei diesem Brief, dass sie mich gebeten haben, ihn in die Sprache unseres Volkes zu übersetzen. Was ich aber Deiner Liebden samt den übrigen Brüdern schreiben soll, weiß ich nicht. Als weniger Gelehrter kann ich die Gelehrteren nicht unterrichten, soll ich etwa als Schwächerer die Stärkeren in der militia Christi stärken? Und was soll ich sagen? Die Worte der Ermahnung und der Stärkung, Teuerster, hat Dein Brief vorweggenommen. Mir bleibt nur übrig, zu bitten und zu danken. Ich bitte um den Beistand des Gebets, und ich danke, dass Böhmen aus dem gesegneten England bereits so viel Gutes durch Deine Arbeit unter der Fürsorge des Herrn Jesus Christus übernommen hat. Auch ist nicht verwunderlich, wenn dies anderen ein Geruch zum Tode ist, [uns] aber [Anlass zur] Freude, weil vielen Geruch zum ewigen Leben.3 So breit nämlich hatte der Feind das Unkraut in unserem Königreich gesät,4 dass das Korn des Weizens sich kaum und selten zeigte: den ganzen Acker des Menschen hatten die Brennnesseln überwuchert,5 so dass nur schwer der Weg des Heils zu finden war.
Vgl. die Skepsis Novotny´ s zur Stelle. 2 Der Zusatz vel domini nach Christi ergibt keinen rechten Sinn; in B fehlt er. 3 Vgl. 2Kor 2,16. 4 Vgl. Mt 13,25. 5 Spr 24,31.
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Schon aber sieht das Volk, das im Finstern wandelte , das große Licht Jesu Christi;6 denn denen, die da wohnten im Lande des Todesschattens ,7 ist erschienen das Licht der Wahrheit, das durch die Fürsorge unseres Erlösers die Leute – Barone, Ritter, Bürger und gemeines Volk – begierig aufgreifen. Wenn dies die heilige Gemeinschaft in England erst so ganz recht 8 ergriffe, würde sie freudig in den Jubel des Herzens ausbrechen: Freue dich, Unfruchtbare, die du nicht gebärst, brich aus und rufe laut, die du nicht schwanger bist, denn viele Kinder wird die Verlassene haben.9 Wisse, liebster Bruder, dass das Volk nichts hören will außer der Heiligen Schrift, besonders das Evangelium und die Briefe; und wo auch immer in einer großen oder kleinen Stadt oder in einem Dorf oder auf einer Burg ein Prediger des heiligen Lebenswandels erscheint, kommen die Leute scharenweise zusammen, während sie den unordentlichen Geistlichen verschmähen.10 Seither hat sich der Satan erhoben,11 denn schon hat sich der Schwanz des Behemoth bewegt, und es steht noch aus, dass der Herr Jesus Christus seinen Kopf zertritt.12 Seht, ich habe nur sacht seinen Kopf berührt, und schon hat er seinen Rachen geöffnet, um mich zusammen mit den Brüdern hinunterzuschlucken. Bald wütet er, bald häretisiert er mit lügnerischem Wort, bald schmeichelt er, bald lässt er die Flamme der Zensur auflodern, trägt die Fackel des schrecklichen Blitzes umher in den Diözesen der ringsum liegenden Länder, und zu Hause wagt er nicht, meinen Kopf zu berühren. Noch ist nämlich die Stunde nicht gekommen,13 denn noch hat der Herr nicht durch mich und meine Brüder aus seinem Rachen gerettet, die er zum Leben der Herrlichkeit vorher erwählt hat; weshalb er denen, die das Evangelium verkünden, die Tapferkeit geben wird, um Behemoth wenigstens am Schwanz zuzusetzen, bis endlich sein Kopf samt der einzelnen Glieder gänzlich zertreten wird. Dies wünschen wir von Herzen, dafür arbeiten wir und, wie Deine liebenswürdige Freundlichkeit schreibt, dafür müssen wir auch den Tod demütig ertragen, und wir dürfen nicht zweifeln an der Hilfe des allmächtigen Herrn, denn der treueste Herr sagt: Ich bin bei ihm in der Not, ich werde ihn retten, Vgl. Mt 4,16a. 7 Vgl. Mt 4,16b. Hus liest in seinem Vulgatatext in regione umbrae mortis. 8 Offenbar ist vestra korrupt; in Anlehnung an B (recta) dürfte recte wohl am ehesten passen. 9 Gal 4,27. In Novotny´ s Text steht deserti , was nur auf falscher Transkription von -[a]e beruhen kann. 10 Es ist aspernantes zu lesen. 11 Vgl. Mk 3,26. 12 Vgl. Gen 3,15. Es gibt die mittelalterliche Tradition, den Behemoth (= Nilpferd) in Hiob 40,15 mit der Schlange des Sündenfalls bzw. dem Drachen in Offb 12,9 in Verbindung zu bringen. 13 Joh 2,4; Joh 7,30.
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und ich werde ihn verherrlichen .14 O Beistand, o Rettung, o Verherrlichung, du erwartest Richard mit den Brüdern, der schon viele Drangsale ertragen hat. Nimm auch mich Unglücklichen auf, dass ich mit meinen Brüdern sein möge, die dein Gesetz inmitten eines verworfenen und ehebrecherischen Geschlechts15 unerschrocken bekennen. Gib uns Hilfe in der Not, denn Rettung durch Menschen ist unnütz,16 auf dich sei unsere Hoffnung gerichtet, zu dir möge uns das dreifache Seil17 ziehen, das der Antichrist nicht zerreißen kann, weil es der Herr Jesus Christus geknüpft hat.18 Möge er selbst, liebster Bruder, Dir und Deinen Helfern ein unversehrtes Leben in Gnade gewähren, damit du noch lange leben und die verirrten Schafe zum Weg der Wahrheit hinführen kannst. Ich bin sehr erfreut, und wir alle sind es, die wir das Evangelium lieb und wert halten, dass Deine Liebe sich uns so gütig19 gezeigt hat, uns heilbringend zu unterweisen. Von anderem wird Nicolaus, dem sie schreiben, noch berichten. Der Brief ist uns erst am 2. Sonntag des Fastens20 überbracht worden, weil Symon damit in Ungarn gewesen ist. Unser Herr König und sein ganzer Hof, die Königin, die Barone und das gemeine Volk sind für das Wort Jesu Christi. Die Kirche Christi von Böhmen grüßt die Kirche Christi in England, mit dem Wunsch, teilzuhaben am Bekenntnis des heiligen Glaubens in der Gnade des Herrn Jesus Christus. Der gnädige Gott möge Euer Lohn dafür sein, dass Ihr uns Bedürftigen mit so viel Mühen die Abschriften verschafft habt. Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft, sei mit Euch. Amen.
14 Ps 91,15. 15 Mt 12,39; Mt 16,4. 16 Ps 60 (Vg. 59),13. 17 Vgl. Koh 4,12. struxit zu lesen. 19 Es ist benigne zu lesen. 20 8. März 1411.
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Es ist con-
Abb. 6: Hussens eigenhändige Abschrift des lateinischen Wyclif-Traktats De veris universalibus, 1398. Am Ende findet sich der tschechische Satz: „Amen, tak boh day.“ (Amen, dies gebe Gott). Vorlage: Václav Flajsˇ hans, Mistr Jan rˇ ecˇ eny´ Hus z Husince, Prag 1901, 304. Die Handschrift befindet sich heute in Stockholm, Kungliga biblioteket, Cod. A 164, fol. 135r.
14 PREDIGT ÜBER LK 14,23: „UND DER HERR SPRACH ZU DEM KNECHT: ,GEH HINAUS AUF DIE LANDSTRASSEN UND AN DIE ZÄUNE UND NÖTIGE SIE HEREINZUKOMMEN‘“ [21. Juni 1411]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 2, XLVIIa–XLVIIIa (fehlerhafte Seitenzählung); verglichene deutsche Übersetzung: Zitte, Sinodal-Reden, 251–267.
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Einleitung Nr. 14
Am 19. Juni 1411 verhängte Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg über Prag und sein Umland ein in der Paxis nicht streng befolgtes Interdikt, das die Spannungen zwischen Wyclif-Anhängern und -Gegnern weiter verschärfte und König Wenzel veranlasste, jedem Geistlichen mit dem Verlust seiner Pfründe zu drohen, der den Anweisungen des Metropoliten Folge leisten sollte. Hus nutzte die ernste Situation, um sich zwei Tage später in einer Predigt in der Bethlehemskapelle zu Lk 14,23 erneut zu Wyclif zu bekennen. Ausdrücklich findet sich unter Bezugnahme auf dessen Schrift „De officio regis“ der Hinweis, dem König, dem alle Personen weltlichen und geistlichen Standes untertan seien, obliege die Pflicht, alle Untergebenen zum Guten zu bewegen. Der Monarch solle alle Geistlichen zu Predigt und Gottesdienst zwingen, womit er lediglich die ihm von Gott verliehene Macht anwende, während der Erzbischof durch Verhängung des Interdikts gegen das Gesetz Gottes verstoßen habe.
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Von zwei Knechten spricht der Erlöser im Evangelium: der eine ruft auf, der andere nötigt. Der eine stellt den geistlichen Stand dar, der andere den weltlichen. Und was immer ein jeder von ihnen gemäß dem Gesetz des Menschen befiehlt, der das große Abendmahl eingesetzt hat, muss man ausführen. Und was sie diesem Gesetz zuwider befehlen, darf man nicht tun, usw. Jeder von diesen Knechten hat wiederum zwei Gestalten. Der gute geistliche Knecht tut den Willen seines Herrn und ruft andere auf, es ihm gleich zu tun, und auf diesen muss man hören und ihn nachahmen. Der andere tut nicht den Willen des Herrn, sondern ruft nur auf, ihn zu tun, und auf diesen muss man hören, darf ihn aber nicht nachahmen. Das Gleiche gilt für den weltlichen Knecht. Ein jeder von ihnen kann dem Herrn aber dienen, indem er das Gute bald von Natur aus tut, bald seiner Art nach. An der vorliegenden Stelle sagt der Herr zu dem Knecht, der den weltlichen Arm darstellt: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen.1 Der allererste Knecht dieses Arms ist jeder beliebige König in seinem Reich; ihm müssen sowohl der weltliche als auch der geistliche Stand untertan sein, und deshalb haben Könige während der ganzen Zeit des alten Gesetzes vom Anbeginn der Einrichtung des Königtums den Hohenpriestern wie auch jedem einzelnen Menschen vorgestanden. Das bezeugt das Buch der Könige, und das hat auch unser Erlöser bestätigt, der, obwohl höchster Priester, ja König und Gott, doch dem heidnischen Herrscher untertan sein wollte und ihm den Tribut gab, wie Mt 17 zeigt,2 und so auch dem Herrscher Pilatus, indem er ihm nach dem Willen Gottes demütig gehorchte, selbst bis zum Tode, wie es sich aus Joh 19 ergibt.3 In diesem Sinne spricht sich auch Petrus aus (2Petr 2) 4: Seid untertan aller menschlichen Ordnung, es sei dem König, als dem Oberhaupt, oder den Statthaltern, als denen, die von ihm gesandt sind zur Strafe für die Übeltäter, zu Lobe aber den Rechtschaffenen. Desgleichen heißt es im letzten Kapitel des Titusbriefs:5 Erinnere sie, den Fürsten und der Obrigkeit untertan zu sein, ihrem Befehl zu gehorchen, zu allem guten Werk bereit zu sein. Desgleichen in Röm 13:6 Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott; die aber besteht, die ist von Gott verordnet. Wer sich also der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich der Ordnung Gottes, die aber sich widersetzen, ziehen selber Verdammung auf sich. Denn nicht das gute Werk, sondern das böse fürchtet die Herrscher. Willst du dich aber vor der Obrigkeit nicht fürchten, so tue Gutes, 1
Lk 14,23.
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Vgl. Mt 17,24.
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Vgl. Joh 19,1 ff.
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1Petr 2,13 f.
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Predigt über Lk 14,23
und du wirst Lob von ihr haben, denn sie ist Dienerin Gottes, dir zugute. Doch tust du Böses, so fürchte dich. Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert, sie ist ja Dienerin Gottes und Rächerin zum Zorngericht für den, der Böses tut, usw. Aus diesen Texten geht hervor, dass der König ein Diener Gottes ist, der dazu das Schwert hat, die Guten wie die Bösen zu regieren, die Guten, indem er sie schützt, die Bösen, indem er sie nötigt zum Guten, seien es Laien oder auch Geistliche. So hat es der überaus weise König Salomo getan, der die weltlichen Übeltäter tötete, dem Priester jedoch, da er ihn nicht töten wollte, das Priestertum entzog, wie 3Kön 27 zeigt. Daher muss8 der König das Gesetz Gottes kraft seines Amtes beschützen, Unruhestifter durch seine Zwangsgewalt unterdrücken und Feinde des Gesetzes in seinem Königreich vernichten (und die sich hierin den Königen widersetzen, widersetzen sich dem Willen Gottes, nach dem Apostel Röm 13)9. Und dies hat der weise König Salomo im Alten Testament getan, indem er den Hohenpriester des Amtes enthob, wie mit der Absetzung Abiathars und der Einsetzung Zadoks an seiner Statt in 3Kön 210 gezeigt wird. Das aber war mehr, als Bischöfen die weltlichen Güter zu entziehen, und doch hat er’s getan, und darum war König Salomo ein Friedensstifter und sein Königreich in voller Blüte aus der Kraft Gottes. Und aufgrund dieses dreifachen Amtes, das der König seinem Gott zu erfüllen hat, verleiht Gott dem König ein dreifaches Gut: weltlichen Wohlstand, irdische Macht und Ehre der Welt – auch vonseiten des Hohenpriesters – und zuletzt die Seligkeit nach dem Maße, in dem er seinem Herrn treulich gedient hat. So die Beweisführung des Magisters Johannes Wyclif zum Amt des Königs. Doch äußert dieser Magister Johannes Wyclif Zweifel, ob es den weltlichen Herren erlaubt sei, die Prädestinierten geistlich zum Eintritt zu nötigen. Und ihm scheint, es sei ihnen nicht erlaubt, weil sie als solche nicht über die geistliche Gerichtsbarkeit verfügen, um die Kinder Gottes zu bekehren. Desgleichen: Niemand bekehrt sich zu Gott, wenn nicht aus eigenem Willen. Die Nötigung also widerspricht jenem Eintritt, weil nichts verdienstlich oder schuldhaft ist, wenn es nicht freiwillig geschieht. Desgleichen: Ein jeder solcher Eintritt ist erfreulich und also auch freiwillig. Jeder Genötigte aber ist bedauernswert, und so scheint die sogenannte Nötigung einen Widerspruch zu enthalten. Bei diesem Zweifel ist aber daran festzuhalten, wie an einem 1Kön 2,24 ff. 8 Hier beginnt ein Zitat aus Wyclifs De officio regis (Conclusio de off. regis. Cod. Pal. Vindob. 4527, fol. 146a; vgl. J. Loserth, Wiclif and Hus, London 1884, 268 f.), das sich bis zum Absatzende erstreckt. 9 Röm 13,2. 10 1Kön 2,35.
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Glaubenssatz, dass die weltlichen Herrscher die Zwangsbefugnis hierzu von Gott haben. Und daher haben sie ihr Besitzrecht nicht dank eigener Hände Arbeit wie die Bauern, sondern kraft ihres von Gott eingerichteten Amtes, um sich diesem Gottesamt freier und wirksamer zu widmen, dessen Widersacher zu vernichten und die anderen, Lenksameren, zu nötigen. Die Priester Christi dagegen haben eine bescheidenere Form des Lebensunterhalts, zum einen, weil es ihnen eher zukommt, in Demut der Menschheit Christi nachzufolgen, zum anderen, weil sie nicht so herrisch und furchterregend wie die weltlichen Herrscher Strenge zeigen dürfen. Denn obschon das Volk den Priester fürchten soll wegen Androhung der Höllenstrafe, so doch nicht so stark wie den weltlichen Herrscher wegen Verhängung der leiblichen Strafe. Zum ersten Punkt11 sagen wir, dass dies eine falsche Annahme ist, denn die Könige sind laut Augustinus Stellvertreter Gottes, und nach den menschlichen Gesetzen sind sie Oberpriester. Da ihre Macht, die der Apostel im 13. Kapitel des Römerbriefs erwähnt,12 keine leibliche ist (weil darin ein Arbeiter sie übertrifft), ist es offenbar geistliche und evangelische Macht, mag sie auch zur Strafe für ihre Sünde durch die cäsarischen Priester beschränkt sein. Denn diese verkennen, dass sie nur in priesterlichen Kleidern mit klingender Klingel das Allerheiligste betreten dürfen, weil das Wort Gottes, wie der selige Gregorius sagt, in der Kirche vor dem Volk erklingen soll. Aber sie begehren weltliche Würden, wodurch sie die Einfältigen mit Gesetzen des Antichrist abschrecken können vom Wege des Herrn, und erfinden geistliche Strafen aus Gewinnsucht, um die Untergebenen auszuplündern, und somit sind sie keine Stellvertreter Christi, sondern die vornehmsten Sachwalter des Antichrist. Zum zweiten Punkt13 sagen wir, dass der Eintritt anfangs qualvoll, zuletzt aber erfreulich und freiwillig ist. Und wie Christus Paulus niederwarf, die Händler aus dem Tempel vertrieb und die Juden, die ihn gefangen nehmen wollten, zurückdrängte und auf diese Weise seine königliche Hoheit zeigte, so sollen die weltlichen Herrscher in gleicher Weise ihm hierin nachfolgen. Denn seine Priester sind dazu nicht befähigt, wie auch Christus solches Tun nach dem Priestertum seiner Menschheit nicht zukam. Und obschon solcher Eintritt, wie viele tugendhafte Taten, am Anfang schwer ist, ist er für den höheren Teil der Seele aus Gottes Gnade dennoch erfreulich. Daher spricht der D. h. zu der Frage, ob es den weltlichen Herren erlaubt sei, die Prädestinierten geistlich zum Eintritt zu nötigen. 12 Röm 13,1. 13 D. h. zur These, dass jeder freiwillige Eintritt erfreulich und jeder erzwungene bedauerlich sei.
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Apostel von sich und seinen Freunden: Wir, die wir des Geistes Erstlinge haben, seufzen auch in uns.14 Deshalb müssen die weltlichen Herrscher, wie der selige Isidor lehrt, zuallererst diese Pflicht erfüllen. Und daraus ergibt sich auch die Lösung zum dritten Punkt.15 Ein und dasselbe Werk kann nämlich in verschiedener Hinsicht als freiwillig oder unfreiwillig bezeichnet werden. Indem also die weltlichen Herren den Zwang in seiner noch unvollendeten Form eröffnen, sichern sie Gott die kindliche, von reiner Freude verklärte Furcht, insofern sie diese durch die knechtische Furcht hervorbringen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass unser König Wenzel, wenn er die Priester durch Beschlagnahme ihrer Einkünfte zum Predigen und Ausüben ihrer Amtstätigkeit zwingt, die ihm von Gott verliehene Macht durchsetzt. Zweitens ergibt sich daraus, dass der Erzbischof, wenn er in ganz Prag und im Zwei-Meilen-Umkreis wegen dieser Beschlagnahme das Interdikt verhängt, sich der Macht Gottes widersetzt und alle Priester, die sich mit ihm der Obrigkeit widersetzen, sich die Verdammnis zuziehen, falls sie keine Buße tun. Denn der König verordnet ihnen ein gutes Werk, nämlich Predigt und Gotteslob, wovon der Apostel im 13. Kapitel des Römerbriefs sagt:16 Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben; und sie selbst widersetzen sich darin dem König, also der Ordnung Gottes, wie ebendaselbst der Apostel nachweist. Desgleichen, wie oben aus dem letzten Kapitel des Titusbriefs angeführt wurde:17 Erinnere sie, den Fürsten und der Obrigkeit untertan zu sein, ihrem Befehl zu gehorchen, zu allem guten Werk bereit zu sein – und der König befiehlt durch die Stimme des Herolds, dass jeder Priester ein jedes ihm zukommende gute Werk tun solle, und sie widersetzen sich jenem Befehl, widersetzen sich also dem Gebot Gottes. Außerdem hören sie weder auf das Wort Christi noch achten sie auf sein Exempel. Ich meine jenes Wort in Mt 5:18 Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr dem Übel nicht widerstreben sollt; sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Sieh, dies Wort schlagen die Priester streit- und schmähsüchtig in den Wind, indem sie wegen der Beschlagnahmung ihrer Einkünfte keinen Gottesdienst halten wollen. 14 18
Röm 8,23. 15 Das heißt zu der Frage der Freiwilligkeit. Mt 5,38–41.
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Daher belegen sie mit dem Bannfluch und exkommunizieren, verhängen das Interdikt, berauben Gott der Ehre, belegen grundlos die mit dem Bann, die ihre Freunde sind und ihnen selbst nur Gutes tun, indem sie sie wieder zu ihrem Dienst am Herrn Jesus Christus zurückbringen wollen. Sie hören nicht, was Lukas im 6. Kapitel sagt:19 Euch, die ihr zuhört, sage ich: Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen, und betet für die, die euch beleidigen. Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete auch die andere dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere [auch den Rock] nicht, etc. Und wer dir das Deine nimmt, [von dem] fordere es nicht wieder. Fürwahr, diese Worte unseres Heilands sind bei den Geistlichen leider in Vergessenheit geraten. Sie freuen sich nicht mehr über die Beschlagnahmung ihrer zeitlichen Güter, wie die ersten Christen, zu denen der Apostel Hebr 10 sagt: Ihr habt den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet;20 aber sie haben noch nicht bis aufs Blut widerstanden,21 wie er in demselben Brief im 12. Kapitel hinzufügt. Und dazu belegen sie mit dem Bannfluch, exkommunizieren und halten keinen Gottesdienst. Sie schauen nicht, wie der Apostel Hebr 12 befiehlt, zu Jesus auf, dem Stifter und Bewahrer des Glaubens,22 der trotz in Aussicht gestellter Freude das Kreuz erduldet, die Schande verachtet hat und zur Rechten des Vaters sitzt. Denn wenn sie auf das Beispiel des Stifters sähen, würden sie nicht über die Beschlagnahmung murren, ich sage nicht Einziehung, hat doch der Stifter des Glaubens die Einziehung seiner Kleider geduldig ertragen, er hat auch nicht etwa ein Ende der Opferung seines Leibes verlangt noch ein Interdikt des Gebets verhängt; als er misshandelt wurde, hat er sich, ohne ein Wort des Vorwurfs, für seine Feinde am Kreuz geopfert und für sie inständig vor seinem Vater gebetet mit den Worten (Lk 22): Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! 23 Um uns auf dieses Vorbild hinzulenken, fügt der Apostel Hebr 1224 noch hinzu: Gedenket an den, der einen solchen Widerspruch von den Sündern gegen sich selbst erduldet hat, auf dass ihr nicht in eurem Mut ermattet und ablasst, denn ihr habt in eurem Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut widerstanden. Schau, wenn wir Priester das erwögen, so würden wir nicht gleich wegen der Ungerechtigkeit des Mammons mit dem Gottesdienst aufhören, würden nicht das Interdikt verhängen noch ein böswillig ausgehecktes Interdikt so leicht befolgen. Sieh, was für ein (Miss-)Verhältnis: Herr Jesus untersagt den Verbrechern durch den Apostel unter 19 24
Lk 6,27–30. Hebr 12,3.
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Vgl. Hebr 12,4.
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Androhung der Verdammung den Zugang zum Brot des Leibes Christi, und die verkommenen Priester – Beischläfer, Geizhälse, Ehebrecher, Würfelspieler und Fröner der übrigen Laster – hören nicht auf, die heiligen Handlungen durchzuführen, trotz des klaren Verbotes durch Gott und die heilige Kirche. Aber bei einer leichtfertigen Anordnung des Erzbischofs, ohne jeden vernünftigen Grund, hören sie damit auf. Sie sind also wahrhaft jene in Mt 15, die wegen menschlicher Verordnungen die Gebote Gottes übertreten. Laut Innozenz, Hostiensis und Bernhard darf das Interdikt nämlich nicht ohne triftigen Grund verhängt werden, so wenig wie ein Ruhen der Ordenszulassung, und nicht wegen der Schuld eines Einzelnen, sondern nur wegen der Schuld der gesamten Gemeinschaft. Auch darf kein Ort für eine Geldschuld gleich welchen Betrags durch ordentliche oder delegierte Vollmacht mit dem Interdikt belegt werden, andernfalls ist es nicht rechtsverbindlich, es sei denn, es liegt eine besondere und ausdrückliche Erlaubnis des Apostolischen Stuhls vor. So sagt es Bonifatius VIII. in der Extravagante Proinde attendatur. Doch auch abgesehen von allen menschlichen Traditionen sollte man, wie oben gesagt, das unverbrüchliche Gesetz und das Leben des Herrn Jesu Christi beachten, der sogar in Erwartung des Todes seine Jünger zum Beten ermahnte, damit sie nicht in Versuchung fielen, und dann doch als Einziger betete. Und wiewohl er durch ein einziges Wort seine Feinde mit Leichtigkeit hätte vernichten können, verbot er Petrus bei seiner Festnahme, ihn mit Gewalt zu verteidigen, und dies zum Exempel (hätte er doch seinen Vater bitten können, ihm mehr als zwölf Legionen Engel zu schicken), dass Petrus und seine Anhänger bei Verfolgung nicht zu den Waffen die Zuflucht nehmen sollten, sondern allein zum Gebet. So haben es die Apostel und die übrigen Heiligen gehalten. Denn sie verhängten bei Einziehung ihrer zeitlichen Güter oder bei Einkerkerung nicht etwa das Interdikt, sondern verharrten nur umso mehr beim Gebet und beim Opfermahl Christi, damit der allmächtige Herr dem Geduldigen Standhaftigkeit verlieh und die Übrigen angesichts der Standhaftigkeit der Heiligen zum Glauben an Jesus Christus herbeieilten. Daher steht in Apg 12 geschrieben:25 Petrus ward zwar im Gefängnis gehalten; aber die Gemeinde betete ohne Unterlass für ihn . Und weil es nützlich für die Gemeinde war, dass Petrus aufgrund des beständigen Gebets aus dem Gefängnis befreit wurde, führte der Engel des Herrn ihn heraus aus dem Kerker. Doch da der Klerus leider mehr 25
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am Kot dieser Welt hängt, statt dass er demütig für den Herrn Jesus Christus leiden und so die Seligkeit erlangen will, hat er grundlose Statuten über Erwerb, Vermehrung und gierige Sicherung zeitlicher Güter verfasst, auf die er sich ungleich mehr stützt als auf das Gesetz 5 Christi, weil nach dem Wort Christi in Mt 2426 die Liebe erkaltet ist und die Ungerechtigkeit vieler überhandgenommen hat. Doch da die Bosheit des Antichrist bereits so deutlich zunimmt, als sei sie zum Abfallen reif, ermahnt der Herr und Heerführer Jesus den weltlichen Arm, auf sein Gesetz zu hören, es zu halten und zu schüt10 zen. Und er ermahnt ihn, die Abtrünnigen, sofern es unter ihnen Kinder der Gnadenwahl gibt, zu nötigen, die Bosheit des Antichrist fahren zu lassen und zum Tisch des Herrn zurückzukehren, vor allem die Geistlichen. Denn Gott wirkt Wunder: Während die Weltlichen einst das Predigen und die Verrichtung der Sakramente verboten und die 15 Priester, wenn sie doch predigten, töteten, zwingen sie jetzt die Unwilligen zum Predigen und zur Verrichtung der Sakramente und kommen von überall herbeigelaufen, um das Evangelium Jesu Christi zu hören. Ihm sei Ruhm und Ehre in Ewigkeit. Amen.
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Mt 24,12.
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Abb. 7: Degradierung eines Geistlichen durch Zerstörung der Tonsur. Illustration aus Otto Brunfels, Geistlicher Bluthandel ..., Straßburg 1525 (VD 16 G 983).
15 HUS AN PAPST JOHANNES XXIII. [1. September 1411]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 95–100 (Nr. 31).
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Einleitung Nr. 15
Der Prozess gegen Hus wegen dessen fortwährendem Bekenntnis zu Wyclif spitzte sich im Verlaufe des Jahres 1411 zu, insbesondere nachdem Kardinal Colonna im Februar über Hus aufgrund seines Nichterscheinens vor Gericht erneut den Bann verhängt hatte, König Wenzel in seinem Konflikt mit Erzbischof Zbyneˇ k sämtliche Güter und Einkünfte des Klerus im Lande konfiszieren ließ (vgl. diese Ausgabe Nr. 14), der Metropolit mit einem neuerlichen – letztlich wirkungslosen und dann wieder aufgehobenen – Interdikt reagierte und Hus den Streit des Königs mit dem Erzbischof in seinen Predigten thematisierte. In dieser aufgeheizten Atmosphäre wandte sich Hus am 1. September direkt an Papst Johannes XXIII., den er um die Genehmigung bat, nicht persönlich an dem gegen ihn geführten Prozess vor der Kurie teilnehmen zu müssen. Hus sieht sich selbst als guter Katholik, einzelne ihm vorgeworfene häretische Auffassungen weist er zurück, so zum Beispiel den Vorwurf, er vertrete die Remanenzlehre Wyclifs im Abendmahl. Auch legt er dar, nicht für die Sezession der deutschen Magister und Scholaren aus Prag wenige Monate zuvor verantwortlich zu sein. Er nennt die Gründe, weshalb er nicht persönlich vor der Kurie erscheinen will, erklärt sich aber im Gegenzug bereit, vor Universität und Prälaten in Prag Zeugnis seines rechten Glaubens abzulegen.
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Im Namen des Herrn, Amen. Im Jahr von dessen Geburt eintausendvierhundertelf, in der 4. Indiktion, am 1. Tag des September, etwa zur Abendstunde, im 2. Jahr des Pontifikates unseres in Christus heiligsten Vaters und Herrn, Herrn Johannes XXIII., Papstes durch Gottes Vorsehung, in der alten Stadt Prag, in der Stube der Fakultät des Karlskollegs, wo die Handlungen und dringenden Geschäfte der Universität Prag behandelt zu werden pflegen, in unserer, der untenstehenden öffentlichen Notare und unterzeichneten Zeugen, die zu dieser Angelegenheit eigens zusammengerufen wurden, Gegenwart, ist der ehrenvolle und gelehrte Herr Johannes aus Husinec, Magister der Künste und Baccalarius formatus der heiligen Theologie an der benannten Universität sowie Prediger des Gottesworts an der Bethlehemskapelle, die in der besagten Prager Altstadt gelegen ist, persönlich erschienen vor dem ehrwürdigen Herrn, dem Herrn Simon von Tyssnow, Magister der Künste und Baccalar der Theologie, Rektor der besagten Universität Prag, der damals selbst ebendort mit den von ihm durch seine vereidigten Boten vorgeladenen Magistern derselben Universität in einer Vollversammlung zusammengekommen war, wo ebendieser Magister Johannes Hus ein eigenhändig beschriebenes Blatt Papier in der Art eines Schreibens oder Briefes, dessen Handschrift wir untenstehende Notare wohl erkennen und bestätigen, vorgezeigt und Wort für Wort vorgelesen hat. Dessen Inhalt war Wort für Wort wie folgt: In schuldiger Ehrerbietung vor der Kirche Jesu Christi und ihrem obersten Bischof. Immer bereit, jedem, der dies fordert, Rechenschaft von dem Glauben, den ich habe, abzulegen, bekenne ich von ganzem Herzen, dass der Herr Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist und dass sein ganzes Gesetz von so sicherer Wahrheit ist, dass kein Jota oder Längezeichen darin fehlgehen kann; und endlich, dass seine heilige Kirche so sicher auf einem festen Fels errichtet ist, dass die Pforten der Hölle nichts gegen sie ausrichten können.1 Und entschlossen, in der Hoffnung auf deren Haupt, den Herrn Jesus Christus, eher die Strafe eines grauenvollen Todes zu erleiden, als wahlweise irgendetwas zu sagen oder zu behaupten, was dem Willen Christi und seiner Kirche entgegen ist, versichere ich darum getreulich und wahrhaft, dass ich von Feinden der Wahrheit beim apostolischen Stuhl boshafterweise angezeigt wurde. Fälschlich haben sie nämlich behauptet und behaupten sie, dass ich das Volk gelehrt hätte, dass im Sakrament des Altars die Substanz des materialen Brotes zurückbleibt. Fälschlich, dass, wenn die 1
Vgl. Mt 16,18.
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Hus an Papst Johannes XXIII.
Hostie erhoben wird, sie dann der Leib Christi ist, und wenn sie hingelegt wird, sie es dann nicht ist. Fälschlich, dass ein Priester, der eine Todsünde begangen hat, nichts bewirkt. Fälschlich, dass die Herrscher den Klerikern die weltlichen Güter wegnehmen sollen und dass sie keinen Zehnt bezahlen sollen. Fälschlich, dass die Ablässe nichts sind. Fälschlich, dass ich geraten haben soll, den Klerus mit einem materiellen Schwert zu erschlagen. Fälschlich, dass ich irgendwelche Irrtümer oder irgendeinen Irrtum oder irgendeine Häresie gepredigt oder verteidigt haben soll oder dass ich das Volk vom Weg der Wahrheit auf irgendeine Weise abgebracht haben soll. Fälschlich, dass ich die Ursache gewesen sei, dass einige deutsche Magister aus Prag vertrieben wurden, da diese, indem sie das Gründungsprivileg der Universität Prag nicht beachten noch den erlaubten Mandaten des Allergnädigsten Fürsten und Herrn, des Herrn Wenzel, des allzeit Erhabenen römischen Königs und Königs von Böhmen, gehorchen wollten, und in der Annahme, dass ohne ihre Präsenz die Universität Prag nicht bestehen könne, ohne Not auf ihre Güter (oder wohin einem jeden gefiel) zurückgekehrt sind. Ich bekenne aber, dass ich gegen das Urteil des ehrwürdigen Vaters in Christus, des Herrn Sbinko,2 an den apostolischen Stuhl appelliert habe, schließlich auch gegen die Prozesse, die aufgrund falscher Information vom heiligen apostolischen Stuhl ausgegangen sind. Denn boshafterweise haben die Feinde der Wahrheit, uneingedenk ihrer Ehre und ihres Heils, dem apostolischen Stuhl hinterbracht, dass im Königreich Böhmen, in der Stadt Prag und in der Markgrafschaft Mähren Irrtümer und Häresien entstanden seien und die Herzen vieler Menschen infiziert hätten, so sehr, dass wegen der Vielzahl derjenigen, die mit solchen Irrtümern angesteckt sind, es nötig sei, ein Mittel zur Besserung anzuwenden. Fälschlich haben sie schließlich behauptet, dass die Bethlehemskapelle ein privater Ort sei, wo doch diese vom Ortsbischof 3 zum Kirchenlehen erklärt worden ist, dessen Zerstörung im Volk die Gottesverehrung beträchtlich aufheben, den Fortschritt der Seelen mindern, Skandal verursachen und das Volk nicht wenig gegen die Zerstörer aufbringen würde. Persönlich aber vor die römische Kurie zitiert, wünschte ich in Demut zu erscheinen. Doch weil mir sowohl im Königreich als auch außerhalb des Königreichs, insbesondere von den Deutschen, Hinter2 Vgl. diese Ausgabe Nr. 11. 3 Nach ordinario ist loci zu lesen (statt locus ), statt confirmatus am Ende confirmata (zu ipsa).
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halte gestellt wurden, um mich zu töten, habe ich, auf den Rat vieler vertrauend, entschieden, dass es Gott versuchen hieße, das Leben dem Tod auszuliefern, ohne dass dies der Fortschritt der Kirche erfordre. Deshalb bin ich nicht persönlich erschienen, sondern habe Anwälte und Prokuratoren benannt, indem ich dem heiligen apostolischen Stuhl gehorsam sein wollte. Deshalb, höchster Stellvertreter Christi, flehe ich die Gnade Eurer Heiligkeit demütig an, dass sie mich vom persönlichen Erscheinen und den weiteren Folgen um des Erbarmens des allmächtigen Gottes willen gütig entbinden möge, weil ich durch den gnädigsten Fürsten und Herrn, Herrn Wenzel, Römischen König und König von Böhmen, sowie durch die ehrwürdigen Väter und berühmten Fürsten, Herrn Wenzel, Patriarch von Antiochia, Herrn Konrad, Bischof von Olmütz, den berühmten Fürsten Herrn Rudolf, Herzog von Sachsen, Kurfürsten des Heiligen Reiches, durch die übrigen Fürsten, Barone und Herren, durch den hochmögenden Herrn Stiborius, Botschafter des berühmten Fürsten und Herrn, des Herrn Sigismund, Königs von Ungarn, mit dem obengenannten ehrwürdigen Vater in Christus, dem Herrn Sbinko, völlig ausgesöhnt bin. – Denn ich erbot mich, auf alle Vorwürfe einzeln zu antworten, sogar vor der ganzen Zuhörerschaft [mit der Versicherung], dass ich bei begründetem Vorwurf sogar durch Entzündung des Feuers gebessert werden wollte, falls ich nicht nachgäbe. Und ich bin bereit, heute vor der Universität Prag und der Menge aller Prälaten bezüglich der Dinge, die gegen mich vorgebracht werden, Rechenschaft abzulegen, wenn jemand von den Gegnern sich erhebt. Doch auch bis jetzt will noch niemand die Gegenpartei vertreten und sich so an die Strafvergeltung gemäß den kanonischen Strafbestimmungen binden.
30 Geschrieben zu Prag mit meiner eigenen Hand am Tag des heiligen
Aegidius Magister Johannes Hus, Eurer Heiligkeit geringster Priester4
Es folgen Erklärungen der Notare Michael von Prachatitz und Nicolaus de Brunna, die die Echtheit des Briefes bestätigen (Novotny´, Korespondence, 99f.).
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Abb. 8: Portrait des Johannes Hus, aus: Johannes Agricola, Tragedia Johannis Huß ..., Zwickau 1538, VD 16 A 1026 (Bayerische Staatsbibliothek München, P.o.germ. 12 p, Titelblatt).
16 GEGEN JOHN STOKES [September 1411]
Übersetzungsgrundlage: MIHO XXII, 59–70; MIHO/CC XXII, 45–61.
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Einleitung Nr. 16
Der Konflikt zwischen der Amtskirche und den Prager Wyclif-Anhängern spitzte sich zu, als Hus im März 1411 vom Papst exkommuniziert wurde. Zusätzlich wurde im Juni 1411 über Prag das Interdikt verhängt. Da diese Maßnahmen nicht fruchteten, übertrug der Prager Erzbischof im Juli 1411 die Lösung des Konfliktes an den böhmischen König Wenzel. Nachdem der Erzbischof im September aus Prag geflohen war, traf in der Stadt eine Gesandtschaft des englischen Königs ein, die von dem erfahrenen Soldaten Hartung van Glux angeführt wurde. Unter den englischen Gesandten war auch John Stokes, Karmelit und Lizenziat der Rechte. Stokes äußerte sich während seines Aufenthalts in Prag negativ über Wyclif. Mit seinen Äußerungen griff er nicht nur die böhmischen Anhänger Wyclifs an, sondern auch seine Kollegen in Oxford, die ebenfalls für die Lehren Wyclifs eingetreten waren. Hus übernahm es in der Folge, gegen Stokes Auffassungen argumentativ vorzugehen. Am 13. September 1411 verteidigte er Wyclif an der Prager Universität in einer Rede. Mit der vorliegenden Schrift forderte Hus den Engländer Stokes zu einer Disputation heraus, auf die dieser sich jedoch nicht einließ.
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Weil jeder Mensch, der regen Verstandes ist, insbesondere aber ein Priester des Herrn, sich grundsätzlich um die Ehre Gottes bemühen, sich der Wahrheit widmen, die Lüge vertreiben, den Ruf seines Volkes hochhalten und seinen eigenen verteidigen soll, habe ich also, als Geringster der Priester, dennoch in der Hoffnung ein Priester des Herrn, als geborener Bürger des allerchristlichsten Königreichs Böhmen und Untertan unseres durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, des Herrn Wenzeslaus, König der Römer, stets Mehrer des Reiches und König von Böhmen, schließlich als Zögling und Lehrer der Universität Prag, zur Ehre Gottes, zur Förderung fruchtbarer Wahrheitserkenntnis, zur Verteidigung unseres Rufs – des Königreichs wie auch der eigenen Person – sowie zur Zerschlagung der Lüge den großen Mann Johannes Stokes aus England, der als Lizenziat der Rechte der Universität Cambridge auftritt, aus den genannten Beweggründen herausgefordert und fordere ihn heraus, nach universitärer und scholastischer Sitte die Behauptung zu verteidigen, die er vor einem öffentlichen, zuverlässigen Notar sowie vor geeigneten Zeugen aufgestellt hat, und diese, wenn sie der Wahrheit entspricht, aufrechtzuerhalten, wobei ich in diesem Falle dieselbe bereitwillig annehmen und festhalten werde, wenn sie allerdings falsch sein sollte, sie zusammen mit mir abzutun durch Zeugnis für die entgegengesetzte Wahrheit. Damit aber Euch Zuhörern die Gründe dieser Handlung einsichtiger werden, hört nun zu! Eurer Weisheit ist es bekannt, dass es studentischer Brauch ist, weise Männer zu befragen, sie bei der Ankunft als Willkommene zu empfangen und denen, die Ansehen haben, Ehrerbietung zu erweisen. Daher machten nach dieser Weise einige Magister unserer Prager Universität, zusammen mit Baccalaren und Studenten, auf die Kunde, dass einige Magister oder Doktoren aus dem Königreich England in dieser Stadt in einem gewissen Hause Rast machten, besagten Herren ihre Aufwartung, und als sie dabei von einem Lizenziaten der Rechte unter ihnen erfahren und diesen gebührend empfangen hatten, zu längerem Gespräch jedoch keine Zeit blieb, gingen sie wieder fort, allerdings mit der Forderung nach einem Gegenbesuch. Nach dem Frühstück luden sie mit Wohlwollen des ehrwürdigen Rektors unserer Universität den besagten Lizenziaten in das Kollegium ein, um die geschuldete Ehrerbietung zu erweisen; doch durch das Abraten eines gewissen Soldaten1 verpuffte die Einladung ohne gebührenden Ausgang. Und weil daraufhin eine wortreiche Debatte über die Ehre 1 Gemeint ist offenbar der Anführer der englischen Gesandtschaft Hartung van Glux.
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unserer Reichsbewohner losbrach, fragten einige Magister unter Hinzunahme eines öffentlichen Notars ausdrücklich nach, ob sich der genannte Herr Johannes Stokes ihnen stellen wolle. Dieser forderte entschieden und bestimmt folgendes Disputationsthema ein: Wer auch immer die Bücher des Magisters Johannes Wyclif gelesen oder in ihnen studiert hat, wird sich im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln, wie sehr er auch von der Natur wohldisponiert oder im guten Glauben verwurzelt ist. Da eine solche Behauptung auf eine unklare Haltung unserer Universität hinausläuft und demgemäß unseres Königreichs, ja selbst der Oxforder Universität, die seit dreißig Jahren die Bücher des Magisters Johannes Wyclif hat und liest, und da ich und die Glieder unserer Universität jene Bücher seit mehr als zwanzig Jahren haben und lesen, ist die erwähnte Behauptung, da weder explizit in der Heiligen Schrift aufgestellt noch durch einen Erfahrungsbeweis gestützt, richtig nur auf die dritte Art, d. h. mit rationalen Gründen zu untersuchen. Ein Christ muss nämlich im Glauben und in der Prüfung dieser dreifachen Wahrheit Festigkeit zeigen: erstens in der Wahrheit, die in der Heiligen Schrift dargelegt ist; zweitens in der Wahrheit, die durch die Sinne erfahren wird; und drittens in der Wahrheit, die durch die nicht zu täuschende Vernunft sorgfältig ausgearbeitet ist. Denn für diese dreifache Wahrheit den Tod zu erleiden, ist besser, als Wohltat für Schmeichelei zu erlangen .2 Von Rechts wegen also müsste Herr Johannes Stokes seine Behauptung, wenn es die Wahrheit ist, bis zum Tode verteidigen. Wenn man die Wahrheit nämlich nicht verteidigt, wird sie unterdrückt, so steht es im Kanon, Distinctio 83, Kapitel Error.3 Aber weil er von dem genannten Thema zurücktrat – denn er schrieb die Bekanntmachung in englischer Schrift 4 und sagte: Dies waren meine Worte, dass, wenn ich jemanden wüsste, der in den Büchern von Wyclif liest und studiert oder seine Meinungen unterstützen und hochhalten möchte, ich ihm um Gottes willen und aus Liebe, die der Nächste gegenüber dem Nächsten haben soll, raten würde, davon abzulassen, weil ich die vielen Übel aus solchem Studium gut kenne, da man kaum einen Menschen finden könnte, und sei er zum Guten auch wohldisponiert, der sich nicht, wenn er in den Büchern des Wyclif unaufhör2 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 81 (Friedberg 1,665). 3 Decr. Grat. I dist. 83 c. 3 (Friedberg 1, 293). 4 Die offenbar in englischen Lettern, aber auf Latein verfasste Bekanntmachung Stokes’, die am 13. September 1411 an der Tür der Prager Kirche angeschlagen wurde und aus der Hus im Folgenden zitiert, vgl. bei Novotny´, Korespondence, 103 f. (Nr. 33B).
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lich studiert, im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln wird. Dies waren meine Worte, sagte er, und ich habe nicht gesagt „wer auch immer gelesen hat“ und auch nicht „im guten Glauben verwurzelt“. Und er fügte hinzu, was er gesagt hatte: dass man Wyclif im Königreich England für einen Häretiker hält, seine Bücher verbrannt sowie seine Meinungen als häretisch verdammt hat. Um also zu zeigen, dass dieser Herr in die Skylla fiel, als er die Charybdis vermeiden wollte ,5 fallen wir ihm zunächst in die Flanke: Der Herr Johannes Stokes sagt und sagte mit seinem Begleiter und Soldaten Hartung Glux, dass Johannes Wyclif ein Häretiker sei, und sie sagen, dass er kein Engländer, sondern ein Deutscher gewesen sei; also ist durch diese von ihnen als wahr unterstellte Prämisse: „Wyclif ist ein Häretiker, und Wyclif ist ein Deutscher“ die ganze Häresie ursprünglich den Deutschen zuzuschreiben. Die Folgerung erhellt daraus, dass laut ihrer Aussage Quelle und Ursprung der ganzen Häresie der Deutsche Johannes Wyclif ist. Freuen können sich also die Deutschen über so gute Neuigkeiten und mögen solche Gesandten mit vielen Geschenken belohnen! Dass aber Wyclif kein Deutscher war, sondern ein Engländer, beweisen seine Schriften. Denn die Engländer sagen, dass er selbst die ganze Bibel aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt hat, und oft schreibt er in seinen lateinischen Büchern erneut, was schon auf Englisch gesagt ist, wie er am Anfang des Dialogus sagt: Es schien einigen nützlich, wenn die katholische Glaubenslehre, obwohl für die Gläubigen schon in der Volkssprache Englisch zusammengestellt, auf Lateinisch noch breiteren Kreisen bekannt würde ;6 denn zuerst stellte er die ganze Glaubensaussage des Dialogus auf Englisch zusammen und später auf Latein. Desgleichen sagt er in dem kleineren Dekalog, dass er ihn bereits auf Englisch verfasst habe, und so an vielen anderen Stellen. Da unkundige und gierige englische Priester eine englische Darlegung als häretisch vernichteten, äußert er sich in dem Büchlein De triplici vinculo amoris folgendermaßen: Daraus ist die Torheit derer ersichtlich, die die Schriften als häretisch verurteilen wollen, weil sie auf Englisch geschrieben sind und all die Sünden deutlich benennen, die jene Provinz in Verwirrung versetzen. Denn es ist möglich, dass die edle Königin von England, die Schwester des Kaisers, 7 ein Evangelium hat, das in drei Sprachen geschrieben ist: in böhmischer, deutscher und lateinischer Gualterus de Castellione, Alexandreis V 301 (PL 209,514C). 6 Wyclif, Dialogus sive Speculum ecclesie militantis, c. 1. 7 Anne von Böhmen (* 11. Mai 1366 in Prag, † 7. Juni 1394 in Sheen/London), Schwester von Wenzeslaus IV. (König von Böhmen und römisch-deutscher König), heiratete 1381 Richard II., König von England.
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Sprache, doch ihr deswegen Ketzerei zu unterstellen, wäre eine teuflische Torheit. Und wie die Deutschen in dieser Form die eigene Sprache begründetermaßen verteidigen wollen, so müssen auch die Engländer aus vernünftigem Grund ihre Sprache verteidigen.8 Siehe, Magister Johannes Wyclif legt deutlich dar, dass die Engländer die Bücher, die er selbst auf Englisch verfasst hat, gegen die Kleriker um ihrer eigenen Sprache willen aus dem gleichen Grund verteidigen müssen, wie die Böhmen und Deutschen ihre Sprache verteidigten. Also ist entweder Magister Johannes Wyclif ein Engländer und die zuvor genannten Männer sagen nicht die Wahrheit, oder er ist ein Deutscher, und dann ist das ganze Übel dieser Häresie, das die Deutschen jetzt den Böhmen zuschieben, von einem Deutschen ausgegangen. Ich aber glaube nicht und räume nicht ein, dass Magister Johannes Wyclif ein Häretiker ist, doch ich verneine es nicht, sondern hoffe, dass er kein Häretiker ist, da ich im Verborgenen vom Nächsten den besseren Teil auswählen soll. Daher hoffe ich, dass Magister Johannes Wyclif zu denen gehört, die errettet werden. Hierzu bewegt mich das Wort Christi in Mt 7: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet,9 und in Lk 6: Verdammt nicht, und ihr werdet nicht verdammt ,10 und das Wort des Apostels in 1Kor 4: Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der sowohl das Verborgene der Dunkelheit erleuchten als auch das Dunkle der Herzen sichtbar machen wird.11 Zweitens bewegt mich die Liebe, die ich gegenüber dem Nächsten haben soll, indem ich ihn liebe wie mich selbst.12 Drittens bewegt mich sein guter Ruf, den er bei den guten Priestern und der Universität Oxford hat sowie allgemein bei dem Volk, wenn auch nicht bei den ungerechten, gierigen, prunkvollen und genusssüchtigen Prälaten und Scholaren. Viertens bewegen mich seine Schriften, in denen er sich mit ganzer Anstrengung bemüht, alle Menschen zum Gesetz Christi zurückzuführen, besonders den Klerus, damit dieser, wenn er von der prunkvollen Herrschaft der Welt ablässt, mit den Aposteln nach dem Leben Christi lebt. Fünftens bewegen mich seine Beweise, die er sehr oft durch Zusammenfassung in seinen Sentenzen wiedergibt. Sechstens bewegt mich seine Leidenschaft, die er gegenüber dem Gesetz Christi hatte, indem er in Bezug auf die christliche Wahrheit Wyclif, De triplici vinculo amoris, c. 2. Lk 10,27.
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1Kor 4,5.
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versicherte, dass sie in keinem einzigen Jota oder Punkt fehlen könne. Daher verfasste er das Buch De veritate sacrae Scripturae , darin er bis ins Letzte die Wahrheit des Gesetzes des Herrn bewies. Allzu töricht mithin ist die Folgerung: „In den Königreichen England, Frankreich und Böhmen halten eine Menge Prälaten und Kleriker den Magister Johannes Wyclif für einen Häretiker, also ist Magister Johannes Wyclif ein Häretiker.“ Dies wäre, wie wenn man argumentieren würde: „In den Königreichen der Türken, Sarazenen und Tartaren halten sie Jesus Christus für einen Nicht-Gott13, also ist der Herr Jesus Christus kein Gott.“ Oder: „Die Vorgenannten halten ihn mit den Juden für einen einfachen, irrenden Menschen, also ist er ein einfacher, irrender Mensch“. Auch wird ohne Schriftbeweis keiner die Ungleichheit14 zugeben. Und mir scheint, dass die Pariser die Folgerung verneinen würden: „Im Königreich England hält man den König Frankreichs für einen ungerechten Menschen, also ist er ein ungerechter Mensch“. Denn wenn sie diese Folgerung zugestehen würden, dann würden sie die Engländer zu Unrecht angreifen. Auf ähnliche Weise dürften die Engländer die Folgerung ablehnen: „Im Königreich Frankreich hält man den König Englands für einen ungerechten Menschen, also ist der König Englands ein ungerechter Mensch.“ Denn sie würden die Franzosen zu Unrecht angreifen, wenn sie es zugestehen würden. Denn es darf keinen Kampf gegen einen gerechten König geben. Das gleiche Argument gälte bei der Verbrennung von Büchern, denn 1Makk 1 wird erwähnt, dass sie die Bücher Gottes im Feuer verbrannten und zerrissen, und bei wem auch immer Bücher des Zeugnisses des Herrn gefunden wurden und wer auch immer das Gesetz des Herrn bewahrte, den schlugen sie gemäß dem Königsedikt tot.15 Wenn also die Verbrennung böser Menschen die Bosheit von Büchern beweisen würde, dann wäre das Gesetz des Herrn böse. Auf ähnliche Weise würde die Verbrennung der Bücher des heiligen Gregor beweisen, dass er böse war,16 und die Verbrennung vieler Heiliger würde beweisen, dass sie böse waren. Wie also nicht folgt: „Priester, Schriftgelehrte und Pharisäer verurteilten mit den Ältesten des Volkes Jesus Christus als Häretiker, also ist der Herr Jesus ein Häretiker“, so folgt auch nicht bei irgend-einem anderen Menschen: „Priester, Magister samt Mönchen und Prälaten verurteilten jenen Menschen als Häretiker, also ist jener So die Formulierung bei Hus (habent pro non-deo). 14 D. h. die Ungleichheit in der Natur gegenüber Gott, dem Vater. 15 1Makk 1,59 f. 16 Dies spielt auf die bei Sigebert von Gembloux zu findende Geschichte an, dass die Schriften Gregors des Großen von den Römern nach seinem Tode verbrannt wurden.
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Mensch ein Häretiker.“ Denn diese Schlussfolgerung lässt die falsche Anklage gegen den heiligen Johannes Chrysostomus gelten, der von den Bischöfen und dem ganzen Klerus als Häretiker verurteilt wurde.17 Auf ähnliche Weise wurde der heilige Gregor aufgrund seiner Bücher von den Kardinälen verurteilt. Noch andere Beispiele könnte ich anführen. Ebenso wäre mit der gleichen Evidenz, mit der Magister Johannes Wyclif ein Häretiker wäre, wie sie selbst behaupten, Johann erhabenen Angedenkens, der Herzog von Lancaster, der Vater Heinrichs IV., des jetzigen Königs von England, ein Häretiker.18 Die Folgerung wird bewiesen: „Denn wer auch immer mehrere Häretiker oder einen Häretiker verteidigt, ist selbst ein Häretiker; der zuvor genannte Herzog aber schützte, unterstützte und liebte den Magister Johannes Wyclif sehr, also ist oder war dieser Herzog ein Häretiker.“ Die Folgerung ist korrekt, die Minor für Engländer klar, und die Maior wird deutlich im Kanon, denn Causa 24, letzte Quaestio, Kapitel Qui aliorum wird gesagt: Wer Häretiker verteidigt, ist nicht nur ein Häretiker zu nennen, sondern sogar ein Häresiarch.19 Da also Johannes Stokes samt dem Soldaten Hartung diese Folgerung – Johann, der Herzog von Lancaster, ist oder war ein Häretiker – im Königreich England nicht zu behaupten wagte, dürfen sie offensichtlich auch nicht den Vordersatz zu jener Konsequenz behaupten. Wenn sie aber jene Schlussfolgerung vor dem König von England und in dessen Königreich doch zu behaupten wagten, sollen sie nicht mit mir teilen, was sie als Geschenk von hier mitnehmen werden, etc.20 Ebenso, wenn wir hier einmal die Glosse des Johannes Theutonicus beiseite lassen, wonach man von einem Häretiker wie auch von Häresie in mehrfachem Sinne spricht, und wenn wir voraussetzen,21 dass ein Häretiker eigentlich der ist, der an der falschen, der Heiligen Schrift
Johannes Chrysostomus wurde, weil er die unehrenhaften Sitten des kaiserlichen Hofes und des Klerus anprangerte, auf Veranlassung des Alexandriner Patriarchen Theophilus von Synoden in den Jahren 403 und 404 seines Amtes enthoben. 18 Johann, Herzog von Lancaster (gest. 1399), Begründer des Hauses Lancaster, Vater des englischen Königs Heinrich IV. (1399–1413). Unter König Johanns Schutz entkam Wyclif der Verfolgung und blieb bis zu seinem Lebensende auf seiner Pfarre in Sicherheit. 19 Decr. Grat. II C. 24 q. 3 c. 32 (Friedberg 1,999). 20 Gemeint ist vielleicht, dass Hus, als Teil des Lehrkörpers, nicht mit einem vonseiten der Universität für den englischen König bestimmten Geschenk in Verbindung gebracht zu werden wünscht, sofern dessen Überbringer den Vater dieses Königs in dessen Gegenwart als Häretiker bezeichnen sollte. 21 Vgl. Anm. 24. 17
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widersprechenden Lehre festhält durch beharrliches Verteidigen – denn Causa 24, Quaestio 3, Kapitel Qui in ecclesia wird gesagt, dass nicht der ein Häretiker ist, der irrt, sondern der, der den Irrtum trotzig verteidigt;22 so nämlich definiert der selige Augustinus in der Schrift De utilitate credendi 23 den Begriff der Häresie: Häresie ist eine falsche, der Heiligen Schrift widersprechende und hartnäckig verteidigte Lehre; aus welcher Definition man entnehmen kann, dass bei Häresie im eigentlichen Sinne drei Dinge zusammenkommen: nämlich Irrtum in der Erkenntnis, Hartnäckigkeit in der Leidenschaft und Widerspruch zur Heiligen Schrift –: dies also vorausgesetzt,24 frage ich den Gegner, ob Magister Johannes Wyclif auf ewig verdammt wurde. Wenn er sagen sollte, dass dem so sei, da er ein Häretiker war, schlage ich ihm folgende Prämisse vor: „Magister Johannes Wyclif hielt, solange er lebte, an der falschen, der Heiligen Schrift widersprechenden Lehre fest.“ Wenn der Gegner dies zugesteht, soll er jene Lehre aufzeigen, und daraufhin soll er zeigen, dass er hartnäckig an ihr festhielt – und er wird feststellen, dass er immer lobenswerte Beteuerungen gegen die Hartnäckigkeit in seinen Büchern vorgebracht hat. Falls aber diese zu schwach sind, schlage ich dem Gegner diese Prämisse vor: „Magister Johannes Wyclif bedauerte am Ende seines irdischen Lebens von Herzen alle Sünden.“ Doch da der Gegner von sich aus nicht imstande ist, die Absicht des Menschen zu erfahren (da er nicht der allmächtige Gott selbst ist), und da er keinen Schriftbeweis hat noch sich auf himmlische Offenbarung stützt und den Magister Johannes Wyclif auch nicht mit eigenen Sinnen in der Hölle sieht, ist also dies für ihn zweifelhaft: „Magister Johannes Wyclif hat am Ende seines irdischen Lebens all seine Sünden von Herzen bedauert“;25 und folglich ist ebenso dies für ihn unbekannt oder zumindest doch zweifelhaft: „Magister Johannes Wyclif ist ein Häretiker.“ Ebenso sagt der genannte Herr Johannes Stokes in seiner Bekanntmachung, dass man in England Magister Johannes Wyclif für einen Häretiker hält. Dies erscheint mir nach Durchsicht der Schreiben der Decr. Grat. II C. 24 q. 3 c. 31. 23 Auf diese Schrift verweist das Decr. Grat. kurz vorher (vor c. 28: V. Pars), doch findet sich obige Definition weder dort noch in der Schrift selbst, dafür bei Wyclif, De veritate sacrae scripturae III 32 (ed. Buddensieg, 275, 2f.). 24 Erst hier beginnt der eigentliche Hauptsatz (Interpunktion und Absatz bei Ersˇ il hier falsch: istis suppositis knüpft wieder bei supponendo vom Satzbeginn an). 25 Hus ist hier unscharf: Gemeint ist ein spätes Geständnis eigener Häresie; doch das eben ließe ja nicht den Schluss auf die Hölle zu, sondern allenfalls den auf das Fegfeuer, wenn man von wirklicher Reue ausginge.
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Universität Oxford als falsch. Der Universität ist mehr zu vertrauen als ihm. Wenn er zu sagen gewagt hätte, dass die Schreiben gefälscht wären, müsste er sich unter Strafe verpflichten, dies zu beweisen. Wenn er dies nun bewiesen hätte, dann würde er die Engländer aus Oxford zu Fälschern erklären, denn das Siegel sowie die auf dem Pergament geschriebenen Buchstaben enthüllen, dass sie englisch sind. Was für eine Freude wird der Zurückkehrende den Engländern verkünden, wenn er sie als Dokumentenfälscher zur Schau stellen wird! Ebenso sagt der genannte Herr Johannes Stokes, dass man schwerlich einen Menschen finden werde, und sei er zum Guten auch wohldisponiert, der nach dem Studium der Bücher Magisters Johannes Wyclif sich nicht, wenn er ununterbrochen in ihnen studiert hat, im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln wird. Wenn dies wahr ist, folgt, dass man schwerlich in der ganzen Universität Oxford einen Menschen finden werde, der nicht in Häresie verwickelt wäre. Diese Folge würde er nicht in Oxford zu behaupten wagen. Und hier der Beweis der Folgerung: „Die ganze Universität Oxford liest, lernt und studiert seit dreißig Jahren die Bücher ebendieses Magisters Johannes Wyclif, und das über einen großen Zeitraum hinweg, nämlich zehn, fünfzehn, dreißig Jahre hindurch; also würde man an der Universität Oxford schwerlich einen Menschen finden, der nicht in Häresie verwickelt wäre“, etc. Ebenso gibt es viele Bücher Johannes Wyclifs, die sich weder mit dem Klerus beschäftigen, der ihm zürnt, noch mit der Heiligen Schrift, sondern sie lehren die reine Logik, die ethische Metaphysik und die natürliche Physik, in denen man nicht um Häresie besorgt sein muss. Also können jene Bücher einen langen Zeitraum hindurch gelesen, gelernt und studiert werden, ohne dass sich jemand in Häresie verwickelt, und folglich scheint die Aussage des Herrn Johannes Stokes nicht wahr zu sein. Ebenso halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass alle gebildeten und erwachsenen Christen die Bücher Magisters Johannes Wyclif die ganze Zeit hindurch kontinuierlich studieren. Aus dieser Annahme folgt, dass in der ganzen Christenheit schwerlich ein Mensch zu finden sein wird, der sich nicht in Häresie verwickeln würde. Der Folgesatz ist abwegig, also auch der Vordersatz, weil dann unter all jenen kaum ein einziger guter Christ zu finden wäre. Und nähme man all die Prälaten und Kleriker auch noch hinzu, die fast ausnahmslos der Häresie verfallen wären, so herrschte folglich unter den Prälaten der völlige Umsturz der Kirche. Ein höchst bizarres Ergebnis, das ungeachtet der eignen Prämisse Johannes Stokes nicht öffentlich zu vertreten wagte.
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Ebenso sind keine sophistischen Gründe der Häretiker von so großer Kraft wie die Gründe der Heiligen Schrift. Also werden auch keine sophistischen Gründe einen Christen, der gut in der Schrift bewandert ist und der beständig welche Bücher auch immer studiert, im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln. Die Folgerung gilt, weil aus dem Verhältnis der Gleichheit oder geringeren Ungleichheit keine Bewegung geschieht. Und klar ist, dass die Gründe der Heiligen Schrift von größerer Kraft sind als die sophistischen Gründe, weil aus jedem beliebigen Schriftgrund, als einem rein affirmativ beglaubigten, folgt, dass dies sei oder so sei, wie jener Grund sagt, da der Heilige Geist diesen Grund nennt, hingegen aus keinem sophistischen Grund folgt, dass dies sei oder so sei, nur weil es jener sophistische Grund sagt. Also ist das Argument samt seiner Prämisse korrekt. Ebenso: Wenn es so wäre, dass sich schwerlich ein Mensch finden ließe, und sei er zum Guten auch wohldisponiert, der sich nicht, wenn er jene Schriften fortwährend studiert hat, im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln würde, dann hat sich die Universität Oxford schwer geirrt, die über dreißig Jahre die genannten Bücher studiert und sie ihren Studenten als Vorlesungsstoff und Lektüre verordnet hat. Dieses Ergebnis soll der Herr Johannes der Universität Oxford ausdrücklich mitteilen und sie hinsichtlich dieses Fehlers zurechtweisen. Ebenso würde mit gleicher Evidenz, wer fortwährend die Bücher des Aristoteles über den Himmel26, die Welt27 und das achte Buch der Physik28 lesen und studieren würde, sich im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln, und folglich müssen aus dem gleichen Grund auch jene Bücher von den Christgläubigen ferngehalten werden. Die Folgerung gilt insofern, als sich kein größerer29 Grund bei jenen Büchern des Philosophen sehen lässt, in denen er den ersten Artikel des Glaubens angreift, indem er leugnet, dass Gott der Schöpfer der Welt sei, desgleichen jenen ersten Glaubenssatz der Heiligen Schrift in Gen 1: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde,30 als bei den Büchern Wyclifs. Ebenso dürfte mit gleicher Evidenz die Heilige Schrift nicht gelesen werden. Die Folgerung ist offensichtlich, weil im Ausgang von der Heiligen Schrift mitunter recht einflussreiche Häretiker, wie Sabellius und Arius, der Häresie verfallen sind, ja heutzutage die Juden hartnäckige Häretiker sind, und das allein aus der Heiligen Schrift, die sie beständig studieren und lesen, aber nur schlecht verstehen und hartnäckig das Gegenteil lehren etc. Aristoteles, De caelo II 1, 283b 26. 27 Ps.-Aristoteles, De mundo. 28 Aristoteles, De physica VIII 1, 251b 17. 29 Richtig: kein geringerer (minor statt major). 30 Gen 1,1.
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Ebenso argumentiert der Heiland in Lk 6 auf folgende Art: Jeder, der zu mir kommt und meine Reden hört und sie tut – ich will euch zeigen, wem dieser ähnlich ist: Ähnlich ist er dem Menschen, der ein Haus baute und in die Tiefe grub und das Fundament auf Fels legte. Als aber eine Überschwemmung kam, stieß der Wasserstrom an jenes Haus und konnte es nicht bewegen; denn es war gegründet auf festen Fels.31 Also jeder, der die Reden Christi hört und sie tut, ist so weise und stark gegründet auf den Fels Christus, dass kein Studium und keine Lektüre sein geistliches Haus bewegen kann, sich in Häresie zu verwickeln. Und so ist erneut die Aussage des Herrn Johannes Stokes falsch. Ebenso sagt der Heiland in Joh 10: Meine Schafe hören meine Stimme, ich erkenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht zugrunde gehen. Keiner wird sie aus meiner Hand reißen . 32 Im Anschluss: Niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen. Woraus folgt, dass nicht das Lesen welcher Bücher auch immer die Schafe durch Häresie aus der Hand Gottes reißen kann .33 Ebenso kann der größte Häretiker, der Teufel, der täglich falsche Glaubenssätze lehrt und die Menschen langanhaltend und heftiger treibt, sich in Häresie zu verwickeln, es doch nicht erreichen, dass sich kaum ein Mensch findet, der nicht in Häresie verwickelt wäre – also erst recht nicht das Studium der Bücher des Magisters Johannes Wyclif. Die Folgerung gilt aufgrund des Arguments vom Stärkeren her in verneinter Form; der Vordersatz ist offensichtlich, weil sich viele Menschen von der Gnade Gottes finden lassen, die nicht in Häresie verwickelt sind. Denn der Heiland baute die Kirche auf sich selbst, damit die Macht des Teufels sie nicht überwinden kann. Daher sagt er Mt 16: Auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen,34 die das riesige Haus Gottes ist, die Gemeinschaft der heiligen Gläubigen, und die Pforten der Hölle, die die Versuchungen des Teufels sind, Anfeindungen und Häresien, werden keine Macht haben gegen sie. Ebenso sagt der tiefe Betrachter der Göttlichkeit 1Joh 5: Wer aus Gott ist, sündigt nicht und kann nicht sündigen, da die Zeugung [aus Gott] ihn bewahrt.35 Wer also aus Gott ist, ist kein Häretiker und kann kein Häretiker sein. Die Folgerung gilt, weil aus dem Gegenteil des Folgesatzes das Gegenteil des Vordersatzes formaliter folgen kann. Dies zugegeben, ist offensichtlich, dass, wer aus Gott ist, durch keinerlei Studium gleich welcher Bücher je zum Häretiker wird noch sich in Häresie verwickeln kann, da mit der Annahme des Gegenteils die Zeu31
Lk 6,47 f.
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Joh 10,27 f.
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Joh 10,29.
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Mt 16,18.
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1Joh 5,18.
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gung [aus Gott] ihn nicht schützen würde. Erneut also hat die Aussage des Herrn Johannes Stokes keinen Bestand, etc. Ebenso, wenn Entgegengesetztes zum selben Wissensbereich gehört (nach [Analytica] Priora I, De anima II und Ethica V 36), so folgt daraus, dass jeder, der das Gesetz Christi und welche seiner Wahrheiten auch immer studiert, das Wissen der hierzu konträren Häresie ebenfalls hat. Aber er fällt nicht dadurch, dass er fortwährend die Wahrheit des Gesetzes Christi studiert und damit gleichzeitig die hierzu konträre Häresie erkennt, in die Häresie; also auch nicht einer, der welche Bücher auch immer studiert, etc. Ebenso ist das Gesetz des menschlichen Fleisches, das gegen den Geist begehrt, gemäß dem Apostel in Gal 5,37 dem heutigen Brief,38 tiefergehend, beständiger und für den Menschen ein stärkerer Antrieb gegen den Geist als die genannten Bücher. Und trotzdem verwickelt es einen Menschen, der zum Guten veranlagt ist, nicht derart in Sünde, dass man kaum einen Menschen finden könnte, der nicht in die Sünde des Fleisches verstrickt wäre, da die Zeugung aus Gott viele bewahrt. Also ist die Aussage des Herrn Johannes Stokes falsch. Ebenso lasen der selige Augustinus, Hieronymus und Chrysostomus über einen langen Zeitraum hinweg sorgfältig Bücher von Häretikern, und dennoch verwickelten sie sich deswegen nicht in Häresie. Also aus gleichem Grund auch andere nicht, zumal, wenn sie aus Gott geboren sind, wie es behandelt wurde, etc. Ebenso lasen und studierten über einen langen Zeitraum hinweg der heilige Moses und Daniel mit den Freunden Bücher der Heiden, und dennoch waren sie nicht in Häresie verwickelt. Also wird sich aus gleichem Grunde auch nicht, wie nach jener These, ein Mensch durch sein Studium im Laufe der Zeit in Häresie verwickeln. So viel in Kürze gegen die Behauptung des Herrn Stokes, der – freundlich und ehrenvoll durch ehrwürdige Magister und etliche Herren unter der treuesten Zusicherung zu einem Vortrag geladen – aus irgendeinem Grund nicht hierher kommen wollte, etc.
Vgl. Aristoteles, De caelo II 3, 286a 25; De gener. et corr. I 7, 324b 6. 37 Gal 5,17. Gal 5,16 ff. war die Lesung des 14. Sonntags nach Trinitatis, der 1411 auf den 13. September fiel. Dies war der Tag der Disputation, die von Hus ausgerufen wurde, und der Bekanntmachung, die von Johannes Stokes veröffentlicht wurde.
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Abb. 9: Opera omnia (1558) Bd. 1, Titelblatt (VD 16 H 6154).
17 GEGEN EINEN ANONYMEN GEGNER [Oktober 1411]
Übersetzungsgrundlage: MIHO XXII, 73–107; MIHO/CC XXII, 63–108.
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Einleitung Nr. 17
Die Schrift Contra occultum adversarium („Gegen einen anonymen Gegner“) entstand im Oktober 1411. Hus berichtet, dass er nach seiner Predigt über die Tempelreinigung Anfeindungen ausgesetzt war: So fand sich in seinen Unterlagen noch am selben Tag ein kurzes Schreiben, das sich gegen Hussens Äußerungen über den Klerus und die weltliche Gewalt richtet. Hus gibt den Inhalt dieses Briefes wörtlich wieder. Der Brief und Hussens Auseinandersetzung damit vermitteln einen lebendigen Eindruck von der Debatte über den Klerus und sein Verhältnis zur Gemeinde einerseits und zur weltlichen Obrigkeit andererseits. Hus spart nicht mit Kritik an seinem Gegner, bei dem es sich möglicherweise um Marˇ ík Rvacˇ ka1 gehandelt hat. Die Stellungnahme steht darüber hinaus im weiteren Kontext einer Auseinandersetzung um die Schriften John Wyclifs, die der Prager Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg im Juli 1410 verbrennen ließ.2 Daher verwundert es nicht, dass Hus auf verschiedene Werke von Wyclif Bezug nimmt, ohne seine Quelle namentlich zu nennen. Für manche Abschnitte hat Hus nicht nur die Argumentationsstruktur, sondern auch die angeführten Beispiele und Zitate – wenn auch in anderer Ausgestaltung und Gewichtung – aus seiner Vorlage übernommen.
Der Theologe und Magister Mařík Rvačka (lat. Mauritius de Praga, etwa 1365–1424) hat sich in Wort und Schrift mehrfach gegen Hussens Thesen über das Priesteramt ausgesprochen. 2 Vgl. Anm. 117.
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Weil ich bei meiner Predigt des Evangeliums zu der Gemeinde gesagt hatte, dass unser Heiland wegen der Sünden der Priester und des Volkes über Jerusalem weinte und es nach 42 Jahren zerstören ließ, und zweitens, dass Christus, indem er die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel warf, den Königen und Herren des weltlichen Armes ein Beispiel gab, wie sie zuerst die Schlechtigkeit des Klerus in Fesseln schlagen und besonders die Machenschaften der simonistischen Häresie ausrotten müssen, wenn sie die Ungerechtigkeit gegen Gott strafen wollen, da legte mir jemand – ich weiß nicht, ob ein Freund der Wahrheit oder ein Eifersüchtiger – unmittelbar nach der Mahlzeit jene Widerworte bei der Kanzel in meine Predigt: Verehrter Lehrer, nachdem du in deiner Predigt das Gesetz Gottes lehrst mit der Vernichtung der Priesterschaft, vernichtest du in Wahrheit das Gesetz Gottes, wo doch der Apostel Hebr 7 sagt: Eine Veränderung des Priestertums zieht zwangsläufig auch eine Veränderung des Gesetzes nach sich.3 In deiner heutigen Predigt zeigt sich aber, dass du die Priesterschaft Gottes in drei Punkten vernichtest: erstens in der Ehre und der Freiheit, wenn du sagst, dass Christus die Macht, mit der er die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel geworfen hat, dem weltlichen König übertragen hat, um den Klerus zu bessern. Davon behauptet der heilige Gregor genau das Gegenteil,4 wenn er in den Moralia sagt, dass Christus nicht durch andere, sondern durch sich selbst als Priester die Priester bessern wollte, zumal Christus nicht König sein wollte (Joh 6) 5, sondern Priester (Mt 22) 6. Außerdem schreibt der König Artaxerxes 2Esr 8 allen Weltlichen vor, dass „niemand Macht haben solle, den Priestern und Klerikern irgendetwas aufzuerlegen“.7 Ebenso hast du gesagt, dass Jerusalem insbesondere wegen der Verbrechen der Priester zerstört wurde. Wenn doch ebenso die Gemeinschaft in Sünde ist, über die der Herr geweint haben soll, aber dort überhaupt nichts über die Priester gesagt wird, dann pass auf, dass du nicht zu denen gehörst, die das Wort Gottes verfälschen! Lies noch einmal die Worte des Apostels an die Hebräer, der sagt, dass alle Priester der Sünde unterworfen sind außer Christus .8 Und dennoch rechnet er ihnen dies nicht als Sünde an, sondern zeigt die Notwendigkeit, für die eigene Sünde genauso zu opfern wie für die Sünde des Volks. Vergleiche nicht das Priestertum des Evangeliums mit dem Levitischen Priestertum, nachdem doch Christus das Levitische Priestertum Hebr 7,12. 4 Wie Hus später zu Recht kritisiert, findet sich kein Beleg für eine solche Aussage Gregors d. Gr. 5 Vgl. Joh 6,15. 6 Vgl. Mt 22,41–46. 7 3Esr 8,25 Vg. (vgl. Esr 7,24). 8 Vgl. Hebr 5,1–3.
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zerstört hat und in der Tat sogar schwor, dass sein Priestertum in Ewigkeit bleibe; und aufgrund der Verderbnis der alten Priester darfst du nicht die heutigen Priester verdammen, weil auch jene, wie verbrecherisch sie auch immer waren, niemals durch weltliche Personen verbessert worden sein sollen. Ebenso hast du gesagt, dass die Priester, die im Konkubinat leben und in Todsünde sind, Frevler seien, nicht aber diejenigen, die ihrem Bischof ungehorsam sind. Hast du etwa nicht 1Kön 15 gelesen, dass Gehorsam stärker wiegt als Opfergaben und dass alle Sünde aus Ungehorsam ihren Anfang nimmt? 9 Und zwar nicht nur aus dem Ungehorsam gegen Gott, sondern auch aus dem Ungehorsam gegen seinen menschlichen Stellvertreter, wo doch Christus sagt: „Wer euch verachtet, verachtet mich.“ 10 Oder willst du etwa zu Unrecht behaupten, dass sie keine Stellvertreter sind, weil sie keine Nachfolger Christi sind? Aber sieh doch ein, dass keiner einen Stellvertreter einsetzt als Beauftragten in Wissen oder Güte, sondern allein in der Macht, wie offenbar wird aus den besonderen Eigenschaften der Personen der gepriesenen Dreifaltigkeit. Jener verborgene Angreifer oder Inquisitor der Wahrheit bemüht sich sehr eifrig darum, mir zwei Fehler zuzuschreiben: einen ersten, dass ich durch meine Predigt das Gesetz Gottes zerstöre; und einen zweiten, dass ich durch meine Predigt das Priestertum zerstöre. Und jener hinterhältige Anonymus will den ersten durch den zweiten beweisen. Aber sein ganzes Schreiben steht unter jener falschen Prämisse, dass ich durch meine Predigt das Priestertum zerstöre. Denn er sagt, dass dies aus meiner Predigt in drei Punkten deutlich wird: erstens in der Ehre und der Freiheit. Aber den dritten Punkt hat er vergessen,11 vielleicht weil er nicht aus Liebe zum Heiligen Geist geschrieben hat und folglich auch nicht auf Anregung der heiligsten Trinität. Damit aber jener Gegner weiß, weshalb ich gepredigt habe, dass unser Erlöser wegen der Sünden vor allem der Priester und der des Volkes geweint hat über Jerusalem, und es durch Titus und Vespasian zerstören ließ, siehe, genau deshalb stelle ich ihm diese Worte der Heiligen vor Augen, die ich damals vorgetragen habe. Vgl. 1Sam 15,22 f. 10 Lk 10,16. 11 Hier irrt Hus: primo in honore et libertate ist offenkundig Punkt 1 (als Hendiadyoin), wie nicht nur fehlendes secundo o. ä., sondern auch fehlendes in vor libertate zeigt („erstens in Ehre und Freiheit“: beschnittene Freiheit ist Ehrenverlust); Punkt 2 und 3 sind jeweils durch item („ebenso“) kenntlich gemacht. Um Hussens Verständnis der Stelle doch irgendwie nachvollziehen zu können, ist oben im Text der bestimmte Artikel gebraucht. 9
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Zuerst habe ich jene Worte von Beda Venerabilis12 angebracht: Nachdem er die Übel aufgezählt hatte, trat er in den Tempel und warf die Verkäufer und Käufer heraus, womit er einen Hinweis gab, dass die Schuld des Verfalls des Volkes besonders bei den Priestern lag. Während er nämlich die Verkäufer schlägt, zeigt er, wo die Wurzel der Verderbnis liegt. Und dasselbe sagt der heilige Augustinus.13 Der heilige Gregor, den jener Gegner ins Gegenteil kehren will, sagt es ebenso in seiner Predigt über dieses Evangelium und spricht: Als er nämlich von den üblen Umständen erzählte und sogleich in den Tempel ging, um die Verkäufer und Käufer dort hinauszuwerfen, offenbarte er in Wirklichkeit, dass der Verfall des Volkes vor allem durch die Schuld der Priester seinen Lauf nahm. Indem er deren Verfall feststellt, aber gleichzeitig die Verkäufer im Tempel und die Käufer schlägt, in genau dieser Durchführung seines Handelns zeigt er, wo die Wurzel des Übels liegt.14 Ich habe aber auch Chrysostomus über diesen Evangeliumstext angeführt:15 Wie ein Arzt, sobald er das erste Mal zu einem Kranken kommt, sofort nach dessen Magen fragt und diesen rasch zu beruhigen sucht, weil ja, wenn der Magen gesund ist, der ganze Körper gesund ist, aber wenn er in Aufruhr ist, der ganze Körper schwach ist, genauso blüht die ganze Kirche, wenn die Priesterschaft unbescholten ist, wenn sie aber verdorben ist, so ist der ganze Glaube welk. Das Herz aber und der Magen sind hierbei die Priester, weil durch sie die ganze Gemeinde in geistlichen Angelegenheiten gelenkt wird. Und so wie das Herz der Sitz der Weisheit ist, so sind die Priester Träger der geistlichen Weisheit, da Jesaja über die Könige sagt: „Das ganze Haupt ist in Schmerz“, aber über die Priester: „Das ganze Herz ist in Traurigkeit“ 16. So nämlich, wie der Magen, wenn er Nahrung empfängt, diese zersetzt und in sich selbst und im ganzen Körper verteilt, so empfangen auch die Priester die rechte Kenntnis des Wortes durch die Heilige Schrift von Gott, verarbeiten sie in sich, d. h. untersuchen und bedenken sie bei sich, und reichen sie der ganzen Gemeinde dar. Und so, wie jedes einzelne Körperteil mit Hilfe des Magens Nahrung aufnimmt und nach seiner Natur in sich umwandelt – zum Beispiel wird das, was die Leber aufnimmt, ganz und gar Blut, was aber die Galle aufnimmt, wird ganz zu Gallensaft, was indes in den LunZitat ist bei Beda (Beda der Ehrwürdige, um 670–735) nicht nachzuweisen. Es findet sich aber, mit demselben Verweis, bei Jacobus de Voragine, Serm. ad dom. X. post Trinit. I 3 (Sermones Aurei I, Augsburg/Krakau 1760, 214). 13 Eine genaue Stelle lässt sich nicht ausmachen. 14 Greg. Hom. in evang. 39,2 (PL 76,1295 A), zitiert bei Beda, Expositio in Lucae evangelium V 19 (PL 92,571B). 15 Vgl. Ps.-Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, homilia 39 (PG 56,839). 16 Jes 1,5.
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gen aufgenommen wird, wird Schleim, was aber in den Brüsten aufgenommen wird, wird ganz zu Milch –, so nehmen alle das Wort Gottes auf, wenn die Priester in der Kirche sprechen, ein jeder aber verarbeitet es in seinem eigenen Herzen, so dass dieses eine Wort in den aufrechten Herzen dem Leben zugute kommt, in den unrechten Herzen aber Zorn erregt wie Gallensaft, in anderen aber süßeste Liebe bewirkt wie Milch, in anderen aber Hass wie schädlichen Schleim, den man ausspucken muss. Seht also zu, ihr Priester, dass ihr euch bessert in Wort und Werk! Denn so, wie ein krankes Glied noch nicht zu einem schwachen Magen führt, ein schwacher Magen aber zur Erkrankung aller Glieder, so führt auch die Sünde eines einzelnen Christen noch nicht zur Sünde der Priester, wohl aber die Sünde der Priester zur Sünde der gesamten Gemeinde. Daher gibt jeder einzelne Christ über seine eigenen Sünden Rechenschaft ab, die Priester aber müssen nicht nur über ihre eigenen, sondern über die Sünden aller Rechenschaft ablegen. Soweit Chrysostomus. Zum Schluss habe ich gesagt, dass, wenn ihr nicht jenen Heiligen glauben wollt, ihr doch Jeremias glauben sollt, der durch den Geist Gottes Klgl 4 sagt: wegen der Sünden seiner Propheten und der Ungerechtigkeit seiner Priester, die Blut vergossen haben inmitten der Gerechten.17 Und dann habe ich dies mit den Worten des Erlösers bei Mt 23 untermauert.18 Siehe, mein Gegner, schon aus diesen Worten habe ich gefolgert, dass unser Erlöser vor allem wegen der Sünden der Priester über Jerusalem geweint hat und es dann zerstören ließ. Warum aber habe ich an zweiter Stelle gesagt, dass unser Erlöser, als er die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel warf, ein Beispiel für die Könige und Herren des weltlichen Armes gab, dass sie zuerst die Schlechtigkeit des Klerus bezähmen und besonders die Machenschaften der simonistischen Häresie ausrotten müssen, wenn sie die Ungerechtigkeit gegen Gott strafen wollen? Weil er – wie es bei Chrysostomus heißt,19 dass der König wie das Haupt in der Kirche ist, und da Christus damals bei seinem Einzug empfangen wurde wie ein König, wie die Menschenmassen bezeugen, die ihn mit den Worten begleiteten Gesegnet ist der König, der kommt im Namen des Herrn, Friede im Himmel und Ehre in der Höhe,19a und er selbst beim Betreten des Tempels weise und machtvoll die Verkäufer und Käufer durch seine Exekutivgewalt hinauswarf – weil er, indem er mit einer aus Stricken gefertigten Peitsche beim befallenen Magen begann, d. h. bei der Priester17
Vgl. Klgl 4,13.
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Vgl. Mt 23,13–36.
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schaft in ihrer Habgier, durch diese Tat offenbar lehrte, dass die Könige und weltlichen Herren mit der Bestrafung des Unrechts an Gott beim Klerus anfangen müssen, weil dieser, wenn er selbst verdorben ist – wie eine Wurzel, nach Augustinus und Beda, oder eben wie ein Magen nach Chrysostomus –, den Rest des christlichen Leibes befällt. Diese Verpflichtung ergibt sich aber aus dem Gebot der Liebe zu Gott, indem man das Unrecht an diesem bestraft. Denn dazu ist ihnen gemäß dem Apostel im Brief an die Römer im 13. Kapitel die Autorität gegeben;20 andernfalls begingen sie selbst in verräterischer Weise Sünde aus stillem Einverständnis.21 Denn in Causa 23, Quaestio 3 steht geschrieben: Wer den Unrechten entgegentreten und sie hindern kann, es aber nicht tut, der tut nichts anderes, als deren Ruchlosigkeit zu unterstützen. Wer es unterlässt, dem offenkundigen Verbrechen entgegenzutreten, der ist nicht frei vom Verdacht der heimlichen Mittäterschaft.22 Da also die Könige und weltlichen Herren gemäß dem Apostel, wie oben beschrieben, Diener Gottes sind und ebendarin ihren Dienst leisten23 und dafür das Schwert tragen und Steuern einnehmen, dass sie an denen die Strafe vollziehen, die Schlechtes tun, und dazu gesandt sind, dass sie sie bestrafen nach dem Zeugnis des Apostels Petrus in 1Petr 2 (auch die Priester müssen jeder menschlichen Ordnung um Gottes willen untergeordnet sein, sei es dem König als Oberhaupt, sei es den Anführern als von ihm Gesandten, weil dies der Wille Gottes ist, 24 wie ebenda Petrus, der unmittelbare Stellvertreter Christi, sagt), so müssen die Könige, Fürsten und Herren folglich so handeln, dass sie durch ihre zustimmende Duldung nicht selbst zu Komplizen werden. Auch die Priester müssen darin den Königen unterworfen sein, um nicht aus Ungehorsam verurteilenswerter zu sein als die Fürsten und Herren selbst durch ihre Zustimmung. Nach der Darstellung des Augustinus25 schenkt Gott, indem er dem König die Fürsorge für das Königreich umfassend überträgt, ihm auch das, was zum Schutz dieses Königreiches gehört, weil er sonst den König in das Fangnetz des Teufels gehen ließe. Weil aber geheimes Einverständnis mit offenem Unrecht der Priester an Gott Zerstörung des Reiches, Verdammung des Königs und Vergehen an Gott bedeutet, umgekehrt aber Zerstörung des offenen Unrechts Schutz und Bestand Vgl. Röm 13,1–6. 21 Bis hierher in diesem Absatz zahlreiche Übereinstimmungen mit Wyclif, serm. I 42 (Loserth, 279, 17–26). 22 Decr. Grat. II C. 23 q. 3 c. 8. 23 Vgl. Röm 13,6. 24 Vgl. 1Petr 2,13–15. 25 Ein genauer Beleg lässt sich nicht finden. Dieser und folgender Absatz (212,3–8.20–29), samt der Verweise auf Augustinus, fast wörtlich aus Wyclif (serm. III 27 u. I 42, Loserth, 211,4–15; 280,2 ff.).
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des Königtums, Rettung des Königs und Ehre Gottes bedeutet, ebendeshalb muss ein unter seinen Dienern mächtiger König dies ganz besonders tun und darauf hinarbeiten. Ebenso besteht kein Zweifel, dass die Könige, Fürsten, Herren und Kämpfer gemäß der ihnen aufgetragenen Machtform für Gott streiten. Aber sie haben von Gott Entscheidungs- und Strafgewalt, also müssen sie Gott dienen, indem sie seine Feinde auf solche Art bestrafen. Und dies ist der Grund, weshalb ein König, wie der selige Augustinus sagt,26 auch ein Stellvertreter des Herrn Christi ist. Für Christi Weisheit gibt es zwei Schritte bei der Lenkung seines Königreichs: erstens, dass Christus selbst, der König der Könige und Herrscher der Herrscher, alle seine Legionen mit aller Macht verteidigt; zweitens, dass er auf kluge Weise seine Gegner zerstört und insbesondere seine inneren Feinde, weil sie seine besonderen Feinde sind. Folglich muss auch jeder beliebige andere König und säkulare Anführer auf ähnliche Weise nach dem Beispiel dieses Königs handeln. Diese Schlussfolgerung ergibt sich daraus, dass ebendadurch, dass Christus als weisester König einem König oder Fürsten die Macht überträgt, um das Königreich nach seinem Gesetz zu lenken, er ihm auch die Macht gibt, alle notwendigen menschlichen Werke an seiner Stelle zu tun, weil er ihn sonst in ungebührlicher Weise in die Regierung gesetzt hätte; nun hat aber Gott den Königen die Macht gegeben, das Königreich nach seinem Gesetz zu lenken; folglich hat er ihnen auch die weiteren notwendigen Befugnisse dazu gegeben. Aber weil es für die Lenkung des ihm anvertrauten Königreiches unter Umständen dringend notwendig ist, mit aller Macht gegen böse Priester vorzugehen, ist dies dem König von Gott gewährt. (So nämlich hatten Titus und Vespasian im 42. Jahr nach der Auferstehung des Herrn von Christus die Macht und den Willen, die Priester und das Volk in Jerusalem zu vernichten, wie aus dem Evangelium des Lukas im 19. Kapitel erhellt, wo der Erlöser seine Prophezeiung verkündet, wobei er vor Liebe und Schmerz stockt: Wenn auch du, sagt er, wüsstest – man hört heraus: „dann würdest du weinen“27.) Und diese Lehre setzte Kaiser Karl,28 der König von Böhmen – Gott hab ihn selig –, in die Tat um, als er die übermütigen Priester mit Exekutivgewalt bezähmte, das Gesetz Gottes schützte und die vernichtete, die sich dem Gesetz Gottes widersetzten. Und daher gab ihm der all-
Vgl. Augustinus, Quaestiones Veteris et Novi Testamenti 35 (CCSL 50, 63): Dei enim imaginem habet rex. 27 Vgl. Lk 19,41 f. 28 Es handelt sich um Kaiser Karl IV. (1316– 1378). 26
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mächtige Herr weltliches Glück, Ehrerbietung der Welt und weltliche Macht, und er gab ihm, wie wir fest glauben, nach seinem Tod das ewige Reich der Ehre. Die bereits zuvor zitierten Worte lassen sich durch weitere Autoritäten der Heiligen untermauern, denn der heilige Augustinus sagt im 33. Brief an Bonifacius:29 Welcher vernünftige Mensch würde zu unseren Königen sagen: „Kümmert euch in eurem Reich nicht darum, von wem die Kirche eures Herrn gelenkt wird oder von wem sie angegriffen wird; nicht in eure Verantwortung fällt es, wer gläubig und wer frevlerisch sein will.“ Denen kann man sagen: „Nicht in eure Verantwortung fällt es, wer in eurem Reich sittsam ist und wer schamlos?“ Dies sagt Augustinus. Aus dieser Rede wird deutlich, dass besonders der König dem Klerus eine Strafe auferlegen muss, falls der Bischof nicht bessernd eingreift, und zwar nicht aus Liebe zur eigenen richterlichen Gewalt, sondern vor allem im eifrigen Bemühen um Gerechtigkeit, und nicht um seinen Hass auszuleben, sondern um schlechtes Verhalten zu bessern, wenn nötig sogar durch Entzug des Vermögens (Causa 23, Quaestio 4, Abschnitt Ex his ;30 und Causa 12, Quaestio 1, Sicut ecclesia: Um eine Verbesserung zu erzielen, können kirchliche Güter von den Priestern abgezogen werden ,31 laut Bischof Gratian32). Und dies gilt besonders, wenn es Simonisten sind. Von denen ist in der letzten Quaestio der ersten Causa die Rede, im Dekret des Papstes Pascasius, der sagt: Es ist klar, dass Simonisten von allen Gläubigen wie die allerschlimmsten Häretiker zu meiden und, wenn sie selbst nach einer Ermahnung nicht zur Besinnung kommen, auch durch äußere Gewalten in die Schranken zu weisen sind (Glosse: das heißt mit Laien, die diese Gewalt außerhalb der Kirche des Klerus haben) .33 Siehe, er sagt, sie seien mit äußeren Gewalten in die Schranken zu weisen! Mag einer diese „äußeren Gewalten“ nun Heiden oder Juden oder die Gewalten der christlichen Laien nennen, in jedem Fall folgt, dass Könige, Fürsten und weltliche Herren die Gewalt haben, in dieser Weise bessernd einzugreifen. Ebenso sagt Augustinus in seinem Traktat über Johannes:34 Sie 35 wundern sich aber, dass die christlichen Gewalten sich gegen die verabVgl. Augustinus, Epistula 185 ad Bonifacium 5,20 (PL 33,801 f.). 30 Vgl. Decr. Grat. II C. 23 q. 4 c. 54 (Friedberg 1,928; anders MIHO XXII, wo auf c. 15 [Friedberg 1,903f.] verwiesen wird). 31 Vgl. Decr. Grat. II C. 12 q. 2 c. 49 (Friedberg 1,703). 32 Gratian (um 1100–1160) ist Autor der Kirchenrechtsammlung Decr. Grat. 33 Vgl. Decr. Grat. II C. 1 q. 7 c. 27 (Friedberg 1,437–438). 34 Vgl. (mit leichten Abweichungen) Augustinus, In Evangelium Ioannis tractatus 11, 14 (PL 35,1483; CC 36,119.1). 35 D. h. die Häretiker.
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scheuungswürdigen Zerstörer der Kirche auflehnen. Wenn sie sich aber nicht auflehnten, wie sollten sie Gott dann Rechenschaft über ihr Reich ablegen? Eure Liebe möge sich auf das richten, was ich sagen will: Den christlichen Königen der Welt kommt es zu, dass sie in ihren Regierungszeiten ihre Mutter Kirche, die sie geboren hat, in Frieden halten wollen. Und kurz darauf das Dekret des Königs Nebukadnezar: „Wer auch immer gegen den Gott von Schadrach, Meschach und Abed-Nego blasphemisch spricht, wird des Todes sein und sein Haus zerstreut werden.“ 36 Siehe, wie jener ausländische König veranlasste, dass man dem Gott Israels nicht lästere, der drei Knaben aus dem Feuerofen befreien konnte. Wie also sollten christliche Könige nicht zürnen und wüten, wenn Christus von ungerechten Priestern 37 hinausgeworfen wird ,38 von dem nicht nur jene drei Knaben, sondern auch eine riesige Menge des Volkes mit ihren Königen vom Feuerbrand der Hölle befreit wurden? 39 Und wie können selbst die Könige die Unkundigen, Unzüchtigen und gänzlich Unfähigen in der Kirche in ein Amt setzen, wo sie doch selbst die Kirche reinigen müssen wie von Unkraut40 gemäß der Autorität, die ihnen von Gott übertragen wurde? Ebenso schreibt der selige Gregor im Registrum, Buch 7, Kapitel 9, an die Königin der Franken:41 Da geschrieben steht „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber Sünde macht die Völker elend“ 42, hält man ein Königtum dann für dauerhaft, wenn die Schuld, die man erkannt hat, sehr schnell ausgetilgt wird. Da also der Grund für den Verfall des Volkes die schlechten Priester sind – wer nämlich könnte sich als Vermittler für die Sünden des Volkes anbieten, wenn der Priester, der eigentlich für die Sünden des Volkes beten sollte, selbst sogar noch Schlimmeres begeht? –, und da sich in Euren Gebieten Priester schamlos und nichtsnutzig benehmen, müssen wir uns sofort mit brennender Leidenschaft erheben, um dies zu rächen, damit nicht das Verbrechen weniger Menschen zum Untergang aller führt. Und es folgt die Art und Weise des Eingreifens: Wir übersenden Euch, wenn Du es anordnest, mit der Zustimmung Eurer Autorität eine Person, die diese Umstände zusamDan 3,29 (Vg. 3,96). 37 Die Wendung „von ungerechten Priestern“ (ab iniquis sacerdotibus ) findet sich im Augustinuszitat nicht und ist von Hus (oder seiner VorS. o. Anm. 34. 40 Das lateinische Bild (vitulamen „Wurzelsprößling“) ist eigentlich von blinden Zweigen oder Trieben genommen, die keinen Ertrag bringen. 41 Vgl. Gregor d. Gr., Ep. XI 4,69 (PL 77, 1209A–1210A). Adressatin des Briefes ist Brunichild (um 550–613), Königin der Franken. Allerdings gibt Hus den Brief in der verkürzten und leicht modifzierten Fassung wieder, die man bei Wyclif in mehreren Schriften findet, vgl. u. a. John Wyclif, De officio regis, fol. 141b. 42 Spr 14,34.
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men mit anderen Priestern gründlich untersuchen und nach Gottes Geboten verbessern muss. Denn, was ich gesagt habe, darf man nicht ignorieren, nämlich dass derjenige, der verbessern kann und es versäumt, sich zweifellos zum Komplizen des Verbrechens macht. Sorgt also für Eure Seele, sorgt für Eure Nachkommen, für die Ihr Euch eine leichte Regierungszeit wünscht, sorgt für die Provinzen und denkt mit aller Kraft über die Ausräumung dieses Verbrechens nach, bevor unser Schöpfer seine Hand zum Schlag ausstreckt. Und im nächsten Kapitel schreibt er an den König der Franken Folgendes:43 Ihr möget wünschen, dass alle Dinge, die, wie Ihr erkennt, sich auf die Verehrung unseres Gottes, auf die Verehrung der Kirche und auf die Ehre der Priester beziehen, mit Umsicht bestimmt und in jeglicher Hinsicht geschützt werden. Daher ermuntern wir Euch, erneut zu befehlen, dass ein Konzil zusammenkommt und dass die fleischlichen Laster unter den Priestern, wie ich zuvor schon geschrieben habe, und die Verdorbenheit der simonistischen Häresie aller Bischöfe aufs Schärfste verdammt und gerügt werden, und wir ermuntern Euch, dass Ihr dafür sorgt, dass solche Leute aus Euren Gebieten entfernt werden, und dass Ihr nicht mehr zulasst, dass Geld dort mehr erreichen kann als die göttlichen Gebote. Und es folgt: So wie gegen äußere Feinde, sollt Ihr auch Acht geben auf innere Feinde der Seelen, so dass Ihr den Feinden unseres Gottes getreulich Widerstand leistet und dadurch hier auf Erden unter seinem Schutz glücklich regiert und danach unter der Führung seiner Gnade zu ewiger Freude kommt. Dies sagt der allerseligste Papst Gregor, der weder den Königinnen und Königen noch den anderen weltlichen Herrschern die Befehlsgewalt über den Klerus versagt, sondern sie sogar entschieden dazu auffordert, den übermütigen Klerus zu bessern, damit nicht der höchste Herr sie selbst zurechtweist, weil sie es unterließen, den Klerus zu bessern. Und wenn sie den Klerus zurechtgewiesen hätten, dann dürften sie glücklich regieren und herrschen und später zu den Freuden des himmlischen Königreiches geführt werden. Ebenso schreibt Papst Leo IV. an Ludwig August, und so steht es auch in der zweiten Causa, Quaestio 7:44 Wenn wir irgendwie unziemlich handelten und bei den Untertanen nicht den Pfad des gerechten Gesetzes bewahrten, dann wollen wir alles verbessern nach Eurem Urteil Vgl. Gregor d. Gr., Ep. XI 4,59 (PL 7,1179B–C). Das Zitat dürfte Hus ebenfalls seiner Lektüre der Schriften Wyclifs entnommen haben (Def. art. p. 174). 44 Vgl. Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 41 (Friedberg 1,496).
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und dem Eurer Gesandten. Denn wir werden nicht Schüler der Wahrheit, sondern – und es betrübt mich, das zu sagen – sogar Lehrer des Irrtums vor den Übrigen, wenn wir, die wir doch fremde Sünden ahnden müssen, selbst Schlimmeres begehen. Daher ermuntern wir besonders die Milde Eurer Majestät, damit Ihr Gesandte, die Gott über alles fürchten, in jene Gebiete schickt, um nach jenen Dingen zu forschen, die ich genannt habe, und alles genau herauszufinden, z. B. ob Eure ruhmreiche Herrschaft sich bis auf sie erstreckt. Siehe, wie jener heilige römische Bischof nicht nur die Zurechtweisung des Klerus von einer weltlichen Gewalt zulässt, sondern sogar sich selbst im Falle einer Verfehlung von seinen Boten zurechtweisen ließe. Die Vergewisserung über all diese Dinge ist Aufgabe des obersten Pontifex, so zeigen es Wort und Werk des Herrn Jesu Christi, der sich zur Bezichtigung einer Sünde der Menge der Juden stellte mit den Worten in Joh 8: Wer von euch kann mich einer Sünde bezichtigen? 45 Dazu sagt der selige Gregor:46 Bedenkt die Freundlichkeit Gottes, liebste Brüder. Er kam zur Vergebung der Sünden und sagte: „Wer von euch kann mich einer Sünde bezichtigen?“ Er, der aus göttlicher Kraft die Sünder gerecht machen kann, verschmäht es nicht, mit Gründen zu zeigen, dass er kein Sünder ist. Und nicht nur zur Bezichtigung durch das Wort, sondern sogar zur Züchtigung durch die Peitsche stellte er sich dem ungerechten Richter Pilatus, ohne eigene Schuld. Und er nahm den schändlichsten und grausamsten Tod auf sich, den leider die falschen Christen und besonders die genusssüchtigen, fetten, geizigen und törichten Kleriker gar nicht beachten! Wenn wir also – und besonders die Kleriker unter uns – von Herzen seinen, d. h. Christi Opfertod bedenken wollten, den er wegen unserer Sünden erlitten hat, dann dürften wir nicht murren, wie auch der nicht murrte, der für uns gelitten hat und uns ein Beispiel gab, auf dass wir seinen Spuren nachwandeln. Er hat keine Sünde begangen, und in seinem Mund fand sich kein Trug. Er verleumdete nicht, obwohl er verleumdet wurde, und drohte nicht, obwohl er litt, sondern übergab sich unschuldig einem Richter.47 Aber, ach! Wir weichen von unserem Vorbild und Haupt ab und murren, während uns der weltliche Arm sogar selbst bei den schlimmsten Sünden nur mit dem Worte anklagt, weil wir eben nicht zu jenen gehören, über die die Kirche singt:
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Joh 8,46.
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Vgl. Greg. d. Gr., Hom. in Ev.1.18 (PL 76, 1150 B).
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Vgl. 1Petr 2,21–23.
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Sie werden mit Schwertern getötet wie Schafe. Kein Laut ist zu hören, keine Klage, sondern schweigenden Herzens bewahrt ihr Geist, mit reinem Gewissen Geduld.48 Nun bleibt, auf die Worte des anonymen Gegners zu antworten, denn laut einem Philosophen hat ein Weiser zwei Aufgaben, nämlich nicht zu lügen und Lügner zu offenbaren.49 Wenn der Gegner also folgende Annahme macht: Verehrter Lehrer, nachdem du in deiner Predigt das Gesetz Gottes lehrst mit der Vernichtung der Priesterschaft, zerstörst du in Wahrheit das Gesetz Gottes , dann hätte Jesus Christus das Gesetz Gottes zerstört, wenn jene hypothetische Annahme wahr wäre. Die Folgerung ist aber falsch, weil er Mt 5 sagt: Ich bin nämlich nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen .50 Und diese Folgerung ist offenkundig, denn Christus lehrte das Gesetz Gottes, wie der Gegner kaum leugnen wird; und Christus hat das Levitische Priestertum zerstört, wie der Gegner in seiner Äußerung vorbringt; also ist der Vordersatz jenes vom Gegner aufgestellten hypothetischen Urteils wahr, aber der Folgesatz (der nämlich: Christus hat das Gesetz Gottes zerstört) ist häretisch. Denn ich lege Christus in der Rolle des Pharisäers das gleiche hypothetische Urteil mit folgender Annahme vor: „Guter Lehrer Christus, nachdem du in deiner Predigt das Gesetz Gottes lehrst mit der Vernichtung der Priesterschaft, zerstörst du in Wahrheit das Gesetz Gottes.“ Siehe, diese Redefigur ist sehr ähnlich, weil in der Tat dem Christus bei Mt 22 gesagt ist: Lehrer, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und der Weg Gottes, und damit das Gesetz Gottes in Wahrheit lehrst.51 Und der Gegner fügt ja in seiner Rede hinzu, dass Christus die Levitische Priesterschaft zerstört hat. Aus der hinreichenden Ähnlichkeit folgt, dass Christus das Gesetz Gottes zerstört hat und folglich von den Juden aus berechtigtem Grunde umgebracht wurde. Dieser Folgesatz ist aber falsch, Analecta hymnica medii aevi 50 (Leipzig 1907), 204, Nr. 153. 49 Vgl. Aristoteles, Sophistici elenchi 165a, 24–27, ἔστι δ' [...] ἔργον περὶ ἕκαστον τοῦ εἰδότος
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ἀψευδεῖν μὲν αὐτὸν περὶ ὧν οἶδε, τὸν δὲ ψευδόμενον ἐμφανίζειν δύνασθαι. „Die Aufgabe eines Weisen ist es aber [...], dass er von den Dingen, die er kennt,
nichts Unwahres sagt und dass er vermag, denjenigen, der Falsches darüber sagt, aufzudecken.“ Es ist wahrscheinlich, dass Hus nur indirekt Zugriff auf Aristoteles hatte, vgl. z. B. den Prolog von Ockhams Summa Logicae: cum enim duo sint actus sapientis ad alterum, non mentiri de quibus novit et mentientem manifestare posse . 50 Mt 5,17. 51 Ähnlich Mt 22,16.
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ebenso wie der Vordersatz; also ist auch die aufgestellte Schlussfolgerung des Gegners samt seiner Prämisse nicht gültig. Ebensowenig bestätigt die Heranziehung des Apostels52 die vom Gegner genannte Schlussfolgerung, weil nicht folgt: „Christus hat die Priesterschaft verändert und das Gesetz verändert, also hat er das Gesetz zerstört.“ Der Gegner muss nämlich wissen, dass es nicht das Gleiche ist, das Gesetz zu verändern und das Gesetz zu zerstören, zumal der Gegenstand des Alten und des Neuen Gesetzes derselbe ist und folglich der allgemeine Glaube der Väter des Alten wie des Neuen Testaments derselbe ist, wie auch der Apostel 1Kor 10 nachweist, wenn er sagt: Unsere Väter sind alle unter einer Wolke gewesen und sind alle durch das Meer gegangen, etc.; und weiter unten: Alle haben sie dieselbe geistliche Speise gegessen und alle denselben geistlichen Trank getrunken. Sie tranken aber vom geistlichen Fels, der ihnen mitfolgte. Dieser Fels aber war Christus.53 Siehe, weil Christus der Fels ist, ist der Gegenstand für den Glauben der heiligen Väter wie auch für den Glauben der Christen derselbe. Und weil der Glaube der heiligen Väter heilig war, wie auch jener der heiligen Christen, ist die Veränderung und die Zerstörung des Gesetzes nicht dasselbe, so dass sie wechselseitig aufeinander folgen gemäß ihrer Zustandsabfolge. Wenn aber der Gegner ohne Beweis seiner Schlussfolgerung die Prämisse beweist, indem er sagt: Dass du aber die Priesterschaft Gottes vernichtest, zeigt sich aus deiner heutigen Predigt in drei Aspekten: Zuerst in der Ehre und der Freiheit, so verneine ich den Untersatz des Gegners, indem ich über die wahre Ehre spreche, die der Lohn der Tugend ist. Denn ein Mensch darf nur mit ihr als gut gelobt werden, wie der Philosoph im 4. Buch der Ethik sagt.54 Und ähnlich verhält es sich mit der wahren Freiheit, von der der Erlöser in Joh 8 sagt: Wenn ihr bei meiner Rede bleibt, werdet ihr wirklich meine Schüler sein, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien .55 Ich rufe also den Herrn selbst als Zeugen der Wahrheit an, dass ich aus dem Antrieb des Herzens zu dem Zweck predige, dass die Priester – gemäß der Rede des Stellvertreters Christi in 1Petr 2 – wie Freie sind und nicht wie solche, die die Freiheit als Deckmantel der Schlechtigkeit benutzen, sondern wie Diener Gottes .56 Aber die schädliche Freiheit, durch die der Klerus frei sein will, weil er ja nicht von einem weltlichen Der anonyme Gegner hatte auf Hebr 7,12 verwiesen: „Eine Veränderung des Priestertums zieht zwangsläufig auch eine Veränderung des Gesetzes nach sich.“ 53 1Kor 10,1.3 f. 54 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea 1123 b 35. 55 Joh 8,31 f. 56 Vgl. 1Petr 2,16. 52
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Arm jedweder Art bestraft werden könne, wie sehr auch immer der Klerus gegen Gott, gegen den König oder gegen einen anderen Fürsten oder Herren oder gegen irgendeinen anderen Menschen sich versündigt, genau diese Art Freiheit versuche ich durch meine Predigt nach Kräften zu zerstören, weil eine solche Freiheit laut Petrus, dem Stellvertreter Christi, eben ein Deckmantel der Schlechtigkeit ist – ein Deckmantel, durch den auch der Klerus seine Schlechtigkeit zu verdecken bestrebt ist. Da aber eine solche Freiheit die schlimmste Knechtschaft ist, weil sie eine Knechtschaft der Sünde, des Fleisches, des Irdischen und des Teufels ist, wer wäre dann ein Knecht Christi, wenn er nicht zugleich auch der Kirche bei der Zerstörung einer so gearteten Freiheit helfen würde? Indem man nämlich gegen eine so geartete Freiheit predigt, bahnt man dem Klerus den Weg zur Ehre, zur wahren Freiheit und schließlich zum Erreichen der Seligkeit. Und daher zerstören die weiter oben angeführten Heiligen, die ich zitiere, in keiner Weise das Priestertum hinsichtlich der Ehre und Freiheit. Und folglich muss man den Gegner bei seiner eigenen Annahme für einen Lügner halten. Außerdem kann seine falsche Rede nicht durch eine wahre Annahme bewiesen werden. Es ist nämlich die Wahrheit, wenn er sagt, dass Christus die Macht, mit der er die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel geworfen hat, dem weltlichen König übertragen hat, um den Klerus zu bessern, wie schon mehrfach angeführt wurde. Und wenn er sagt, wovon der heilige Gregor genau das Gegenteil behauptet in den Moralia , verschweigt der Gegner hier die Stelle im Buch der Moralia, weil er die Worte, die er nennt, in den Moralia gar nicht gefunden hat.57 Er gibt nämlich seine eigenen Worte wieder, wie ich glaube, und nicht die des seligen Gregor: dass Christus nicht durch andere, sondern durch sich als Priester selbst die Priester bessern wollte. Indem er jene Worte erfindet, impliziert der Gegner, dass der selige Gregor sich selbst in seinen Worten widerspricht. Der Gegner soll also die Predigten des seligen Gregor lesen, und dann wird er sehen, ob dieser den Klerus zurechtweist. Er möge die bereits angeführten Worte an die Königin und den König der Franken bedenken, und dann wird er sehen, wie hart er selbst, der ein anderer als Christus ist, die Priester tadelt. Der Gegner erinnert sich nicht einmal daran, wie Christus Petrus durch Paulus tadeln ließ58 und wie er durch die Apostel und ihre anderen Nachfolger die Priester verbessern ließ und durch Titus und Vespasian zurechtweisen wollte, ja sogar Judas, den einstigen Bischof, durch den Teufel zurechtwies. 57
Ein solches Zitat Gregors ist in der Tat nicht nachzuweisen.
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Vgl. Gal 2,11–21.
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Und noch dazu ist er von Sinnen, dass er hinzufügt, dass Christus nicht König sein wollte, wobei er dafür das Johannesevangelium, Kapitel 6, anführt. Aber er täuscht sich bei dieser Rede in Joh 6: Als Jesus erkannt hatte, dass sie kommen werden, um ihn zu ergreifen und ihn zum König zu machen, floh er selbst erneut allein auf den Berg.59 Sieh, daraus, dass Christus auf den Berg flieht, folgert der Gegner oder nimmt unpassenderweise an, dass Christus nicht König sein wollte. Der Gegner hat aber die Heiligen Schriften vergessen. Heiliger Jesaja, sag ihm doch die Worte aus dem 9. Kapitel: Ein Knabe ist uns geboren und ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.60 Heiliger Jeremias, sag ihm die Worte aus dem 23. Kapitel: Ich werde dem David einen gerechten Spross erwecken und er wird als König regieren und weise sein und Recht und Gerechtigkeit auf der Erde herstellen .61 Sacharja, beschreibe diesen König, wie du es im 9. Kapitel sagst: Freu dich sehr, Tochter Zion, jubele, Jerusalem. Siehe, dein gerechter König und Helfer kommt zu dir, selbst arm und auf einer Eselin und auf einem Eselsfüllen reitend .62 Engel Gabriel, sag diesem Gegner die Worte aus dem ersten Kapitel bei Lukas, dass Jesus herrschen wird im Hause Jakob in Ewigkeit und seine Herrschaft kein Ende haben wird.63 Ihr Könige aus Saba, fragt diesen Gegner mit euren Worten im zweiten Kapitel bei Matthäus: Wo ist er , der neugeborene König der Juden? 64 Ihr Massen, singt die Worte aus dem 19. Kapitel bei Lukas: Gelobt ist der König, der kommt im Namen des Herrn, Friede auf Erden und Ehre in der Höhe.65 Und was soll ich sagen? Vielleicht hat sich der Gegner die Antwort der Juden zu eigen gemacht: Wir haben keinen König,66 d.h. Christus. Aber wenn er auch wie die Juden nicht will, dass für Christus der Titel Jesus von Nazareth, König der Juden geschrieben wird, so muss er doch zugeben, dass Jesus König der Könige und Herr der Herren 67 ist und sein wollte. Aber vielleicht dürfte der Gegner erwidern, dass Pilatus fragte:68 Bist du der König der Juden, und der Herr Jesus ihm antwortete: Mein Königreich ist nicht von dieser Welt. Der Gegner soll aber sehen, dass Jesus, als Pilatus fragte: Bist du der König der Juden?, sofort antwortete und sprach: Fragst du das von dir aus, oder haben andere dir das über mich gesagt? Und als Pilatus aus den dann folgenden Worten den Schluss zog: Also bist du König?, stimmte Jesus zu und antwortete: Du sagt es, dass ich König bin . Der Gegner sollte also wissen, dass Christus
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Joh 6,15. 60 Jes 9,6. 61 Jer 23,5. 62 Sach 9,9. 63 Lk 1,32 f. 64 Mt 2,2. Vgl. Joh 19,15. 67 Vgl. Offb 19,16. 68 Vgl. im Folgenden Joh 18,33–37.
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König sein wollte gemäß beiden Naturen, aber nicht ein königliches Amt ausüben wollte auf menschliche Art. Das priesterliche aber übte er aus, und am Tage des Gerichts wird er ein königliches wirksam ausüben, denn bis zu dieser Zeit des Gerichts verbirgt er die sichtbare Ausübung eines Königtums nach der Menschennatur. Daher sagt er Mt 25: Wenn der Menschensohn kommt in seiner Herrlichkeit und alle seine Engel mit ihm, dann wird er auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit sitzen 69 – da sieh, ein Beweis seiner Königswürde. Und vor ihm werden alle Völker versammelt werden 70 – da sieh, die Universalität seiner Königswürde. Und er wird sie voneinander trennen71 – da sieh, die Macht eines Königs. Und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zu seiner Linken 72 – da sieh, die Weisheit eines Königs. Dann wird der König denen sagen, die zu seiner Rechten sein werden: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, welches für euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ 73 – da sieh, eines Königs würdiger Lohn an die treuen Diener. Und dann: Und der König wird denen sagen, die zu seiner Linken sein werden: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist!“ 74 – da sieh, welch große Gerechtigkeit dieses Königs. Es ist also offenkundig, dass Christus König sein wollte und sein will, wenn er auch nicht wie ein menschlicher König ein Königreich besitzen und regieren, sondern eher für uns arm werden wollte, obwohl er reich war, damit wir durch seine Armut reich werden in der Seele und nicht in den Belanglosigkeiten der Welt.75 Aber mit Blick auf jene Stelle in 2Esr 8, wonach der heidnische König Artaxerxes anordnete, dass gegenüber den Priestern niemand die Macht haben solle, ihnen irgendetwas aufzuerlegen ,76 wünschte ich, dass der Gegner die Augen geöffnet hätte, wie sogar ein heidnischer König dem Esra und seinen Brüdern die Macht übergab, damit er in Jeru-salem das Haus Gottes wieder aufbaue gemäß der Weisung Gottes. Weshalb jener König im selben Kapitel sagt: Was immer du mit deinen Brüdern aus Gold und Silber fertigen willst, bringe es heran zum Wohlgefallen gemäß der Anordnung deines Herrn und Gottes; und ebenso die hochheiligen Gefäße, die dir zum Gebrauch deines Gotteshauses in Jerusalem gegeben sind.77 Und weiter unten: Alles soll geschehen nach dem Gesetz Gottes für Gott den Höchsten, und der König fügt auch den Grund an, indem er sagt: damit nicht einmal der Zorn sich erhebt im
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Mt 25,31. 70 Mt 25,32. 71 Mt 25,32. 72 Mt 25,33. 73 Mt 25,34. 74 Mt 23,41. Vgl. 2Kor 2,9. 76 3Esr 8,25 Vg. (= Esr 7,24). 77 3Esr 8,17 f. Vg. (= Esr 7,18 f.).
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Reiche des Königs und seines Sohnes und seiner Kindeskinder.78 O, wenn doch die christlichen Könige nach dieser Regel handelten und die Priester beauftragten, dass sie alles nach der Weisung ihres Herrn und Gottes tun sollten! Dann nämlich würden sie nicht so sehr die Zügel schleifen lassen und vom Gesetz des Herrn Jesu Christi abweichen und für den Herrn nicht einen stofflichen Tempel errichten, sondern die Kirche, die Christus durch sein Blut eingesetzt hat und die die Apostel bepflanzt haben. König Artaxerxes sagt außerdem zum Anliegen des Gegners: Euch aber ist gesagt, dass allen Priestern und Leviten und heiligen Sängern und Dienern des Tempels und Sekretären dieses Tempels kein Tribut und keine andere Steuer auferlegt wird, noch soll irgendeiner die Macht haben, ihnen irgendetwas aufzuerlegen. 79 Überlege, Gegner, wie gut jener heidnische König anordnet, dass keiner die Macht haben solle, irgendetwas aufzuerlegen. Wem denn? Er sagt: den heiligen Priestern, den heiligen Leviten, den heiligen Sängern und den heiligen Dienern Gottes . Dieses Adjektiv „heilig“ muss nämlich nicht nur zum Wort „Sänger“ dazugesetzt werden. Einen ähnlichen Fall findest du im Wort des Erlösers in Lk 14, wo er sagt: Wenn du ein Gastmahl ausrichtest, lade die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen ein,80 wo jenes Adjektiv „arm“ in allen nachfolgenden Fällen ergänzt werden muss, nämlich folgendermaßen: „Lade die armen Krüppel, die armen Blinden und die armen Lahmen ein.“ Wenn nämlich irgendeiner reiche Krüppel, reiche Blinde oder reiche Lahme einladen würde, dann würde sofort das vorausgehende Verbot zutreffen, in dem der Erlöser sagt: Wenn du ein Mittagessen oder ein Abendessen ausrichtest, lade nicht deine Freunde und nicht deine Brüder und nicht die Verwandten und nicht die reichen Nachbarn ein, damit sie dich nicht selbst zurückeinladen und es dir vergolten wird.81 Dort ist es ganz deutlich, dass der Erlöser nicht verbietet, arme Freunde, arme Brüder, arme Verwandte oder arme Nachbarn einzuladen – genau das gebietet er ja –, sondern er verbietet, zum Gastmahl reiche Freunde, reiche Brüder, reiche Verwandte und reiche Nachbarn einzuladen, die eine Gegeneinladung aussprechen können. Genauso gesteht König Artaxerxes in seiner Vorschrift den heiligen Priestern, den heiligen Leviten und den heiligen Sängern eine Freiheit zu, aber nicht den verdorbenen Wüstlingen oder anderen Betrügern, wo er doch vorschreibt, solche Leute zu züchtigen. Daher fügt jener König nach Gewähr dieser Freiheit sofort hinzu: Du aber, 78
3Esr 8,23 Vg. (= Esr 7,23).
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3Esr 8,24 f. Vg. (vgl. Esr 7,24).
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Lk 14,13.
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Lk 14,12.
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Esra, bestelle gemäß der Weisheit Gottes Richter und Schiedsrichter in ganz Syrien und in Phönikien und belehre alle, die das Gesetz deines Gottes nicht kennen, dass alle, die das Gesetz übertreten, hart bestraft werden – mit dem Tod, mit Folter oder auch einer Geldstrafe oder Ausweisung.82 Siehe, da hast du ganz klar auf der Hand, dass jener heidnische König die Priester nicht mit einer Freiheit zum Sündigen ausgestattet hat, sondern sie gegebenenfalls sogar mit dem Tod bestrafen ließ. Und so hatte er die Gewalt, die es ihm erlaubte, die Priester zu strafen. Und so ist klar, dass mein Gegner – wie Goliath – mit dem eigenen Schwert, das er mit sich führte, niedergestreckt wurde. Aber der berühmteste Fürst und Herr, Herr Wenzel, römischer König und stets erhabener böhmischer König,83 hatte es unternommen, die gleiche Regel für die Priester anzuwenden, indem er mit öffentlicher Verlautbarung befahl, dass ein jeder Priester, Diakon und ebenso auch jeder sonstige Diener in seinem Amt getreulich seinem Gott diene. Jedem, der so handelte, gewährte er die Freiheit, und er ließ jeden bestrafen, der dagegen verstieß. Diese Regel, so hoffe ich, wird die Kurie selig einhalten und dabei insbesondere bei den Priestern ihrer Hoheit anfangen – zur Ehre Gottes und zu ihrer künftigen Seligkeit, aber nicht zur Vergrößerung ihres eigenen christlichen Reiches. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass nicht ich, sondern der Gegner einer von denen zu sein scheint, die das Wort Gottes verfälschen, weil er durch eine verkürzte Wiedergabe der Schrift versucht, einzelne Priester sogar im Falle von bösem Verhalten von der weltlichen Strafgewalt auszunehmen. Wenn der Gegner darüber hinaus sagt: Lies noch einmal die Worte des Apostels an die Hebräer, der im 5. Kapitel sagt, dass alle Priester der Sünde unterworfen sind außer Christus; und dennoch rechnet er ihnen dies nicht als Sünde an, sondern zeigt die Notwendigkeit, für die eigene Sünde genauso zu opfern wie für die Sünde des Volkes ; siehe, da sieht jener Gegner – vielleicht wegen seiner großen Nase – den Text des Apostels nicht, in dem der Apostel jedem Priester die Sünde zuweist außer Christus. Er sagt nämlich: Denn jeder Priester, der aus den Reihen der Menschen genommen wird, wird für die Menschen in den Angelegenheiten eingesetzt, die sich auf Gott beziehen, um Gaben und Opfer für ihre Sünden darzubringen. Er kann nämlich mitfühlen mit denen, die unwissend sind und irren, weil er auch selbst von Schwachheit befallen 3Esr 8,26 f. (vgl. Esr 7,25 f.). 83 Wenzel (von Luxemburg) IV. (1361–1419), König von Böhmen (1363–1419) und König des Heiligen Römischen Reiches (1378–1400).
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ist.84 Siehe, dies ist die erste Anerkennung von Sünde. Und es folgt eine zweite: Und deshalb muss er für die eigenen Sünden ebenso opfern wie für die Sünden des Volkes.85 Siehe, die zweite Anerkennung von Sünde für einen beliebigen Priester außer Christus. Und so liegt offen zu Tage, dass mein Gegner, obwohl er die Priester gerade entschuldigen möchte, sie selbst eigentlich anklagt, weil er das Gegenteil von dem, was er sagen möchte, nebenbei in seine Worte einflicht. Weiterhin sagt er: Vergleiche nicht das Priestertum des Evangeliums mit dem Levitischen Priestertum . Wenn jener die Priesterschaft des Evangeliums einen Stand nennt, der in der Autorität besteht, die Gott der geistlichen Dienerschaft eines Bischofes gewährt hat, um die Kirche nach Gebühr zu verwalten, dann will ich nicht die Priesterschaft des Evangeliums mit der Levitischen Priesterschaft vergleichen, weil die Priester des Evangeliums eine würdigere Autorität haben als die Levitischen, um die Kirche nach Gebühr zu verwalten. Wenn er aber mit „Priesterschaft“ die Priester selbst meint, dann weiß ich nicht, wen ich mit wem vergleichen soll. Aber ich weiß, dass der höchste Priester und unser Christus Jesus, der der helfende Priester zukünftiger Güter ist, jeden einzelnen Priester übertrifft, sowohl die Priester des Evangeliums als auch die Levitischen, wie der Apostel an die Hebräer im 9. Kapitel schlussfolgert.86 Und schließlich weiß ich auch, dass Jesu Apostel die Priester des Alten Testaments übertroffen haben: Ich weiß aber auch, dass viele Priester des Alten Testaments würdiger sind als ein gewisser Bischof des Neuen Testaments, nämlich Judas, der Verräter des Herrn, und als andere schlechte Priester. Wer nämlich würde sagen, dass Aaron, Melchizedek, Zadok, Sacharja und ebenso andere heilige Priester nicht würdiger waren als Judas Ischariot oder irgendein anderer nichtsnutziger Priester des Neuen Testaments, der in Ewigkeit der verworfene Sohn des Teufels sein wird, weil er als geringster der Heiligen im Reich des Vaters die einzelnen Verdammten übertrifft. Wenn der Gegner fortfährt und sagt, dass Christus das Levitische Priestertum zerstört, aber geschworen hat, sein eigenes Priestertum bleibe in Ewigkeit, da muss der Gegner wissen, dass Christus das Priestertum nicht als Sakrament und nicht in Gestalt der einzelnen Priester unter den Heiligen des Alten Testaments zerstört hat; obschon nämlich die heiligen Priester im Reich des Vaters nicht das Amt eines Priestertums ausüben werden, wie sie es nun im weltlichen Reich ausüben, werden sie dennoch Priester in Ewigkeit bleiben, weil sie sich selbst ja Gott geweiht haben. Und dazu kann sich jenes hören lassen, was der 84
Hebr 5,1f.
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Hebr 5,3.
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Vgl. Hebr 9,11.
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Gegner anfügt: dass Christus schwor, dass sein Priestertum in Ewigkeit bleibe. Nicht hier auf dem Pilgerweg nämlich wird das Priestertum des Evangeliums ewig dauern, so wie auch die Welt nicht ewig dauern wird, da ja unser Erlöser und Priester die Vollendung der Zeit verheißt.87 Weiter sagt der Gegner: Du darfst aufgrund der Verderbnis der alten Priester nicht die heutigen Priester verdammen, weil auch jene, wie verbrecherisch sie auch immer waren, niemals durch weltliche Herrscher verbessert worden sein sollen. Ich glaube, dass auch jener Gegner nicht von Weltlichen verbessert werden wollte, wie verbrecherisch er auch selbst sei. Weil ich die Priester zurechtweise und sage, dass sie von einem König nach dem Vorbild Christi zurechtgewiesen werden können, wenn es ihre vielgestaltige Schlechtigkeit erfordert, so vermutet er, dass ich wegen der Schlechtigkeit der alten Priester auch die Priester des Evangeliums verwerfe. Aber gepriesen sei Gott, der Vater, der wegen der Boshaftigkeit der Alten das ganze Menschengeschlecht verworfen hat, das er durch die Erniedrigung des Herrn Jesu Christi erneuert hat. Wenn ich doch aber unmöglich die Priester so in ihrer priesterlichen Würde wie in ihrer weltlichen Herrschaft oder in der tugendhaften Gesinnung verwerfen kann, weshalb lastet er mir dann die Verwerfung der Priester an, außer er würde sagen, dass ich die jetzigen Priester verwerfe, weil ich in wohltätiger Absicht ihre Verbrechen nachweise? In diesem Fall müsste der Gegner aber mit der gleichen Argumentation auch die heiligen Propheten, den Herrn Jesus Christus und die heiligen Gelehrten derselben Tat beschuldigen wie mich, denn auch sie predigten und schrieben gegen die Schlechtigkeit der Priester. Verwirft etwa der selige Gregor die heutigen Priester, wenn er in seiner 17. Predigt sagt: Ich glaube, liebste Brüder, Gott hat keine größere Vorverurteilung ertragen als von den Priestern 88? Über das Bibelwort Erntearbeit gibt es zwar viel, aber Erntehelfer gibt es wenige 89 sagt Gregor an der gleichen Stelle: Wir müssen mit tiefer Traurigkeit feststellen, dass es zwar jene gibt, die das Gute hören, aber diejenigen fehlen, die das Gute sagen. Siehe, die Welt ist zwar voll von Priestern, doch es findet sich bei Gottes Ernte nur sehr selten ein Arbeiter, weil wir das Priesteramt zwar annehmen, aber die Aufgabe des Amtes nicht erfüllen.90 Dies sagt Gregor. Und der selige Hieronymus sagt: Wenn ich die alten Historien durchforste, kann ich niemanden finden, der die Kirche so zerrissen und die Völker so vom Haus Gottes weggeführt hat wie die 87 89
Vgl. Mt 13,49 und 24,14. 88 Vgl. Gregor d. Gr., Hom. in Ev. I 17 (PL 76,1146 C). Lk 10,2. 90 Vgl. Gregor d. Gr., Hom. in Ev. I 17 (PL 76,1146C).
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als Priester Gottes Eingesetzten, die Propheten und Wächter.91 Und der heilige Chrysostomus sagt in der 34. Predigt seines unvollendeten Werkes: Ein Laie, der sich vordergründig zum weltlichen Leben bekennt, sich aber um das geistliche Leben bemüht, ist besser als ein Priester, der sich zum geistlichen Leben bekennt, aber das fleischliche Leben ins Herz schließt. Und ein Laie, der vor Gott Reue zeigt, ist besser als ein Kleriker, der in seinen Sünden verweilt. Der Laie nämlich wird am Tag des Gerichts ein unsterbliches Gewand anlegen, der reulose Priester wird aber seiner Würde beraubt werden.92 Und warum muss man die Schrift noch weiter heranziehen, wenn jene Heiligen uns bereits solche Worte nicht zur Verwerfung der Priester, sondern zur Tröstung gegen sie in den Schriften hinterließen? Wenn der Gegner aber annimmt: weil auch jene – er meint die Priester des Alten Testaments – niemals, wie verbrecherisch sie auch immer waren, durch weltliche (Personen) verbessert worden sein sollen , dann beansprucht jener Gegner tatsächlich eine generelle Negation. Um diese zu beweisen, ist von ihm verlangt, dass er das ganze Testament im Kopf hat und es durchforstet. Doch weil er es eben nicht gründlich durchsucht hat, erhält er den Gegenbeweis: Zunächst verweise ich auf den Priester Mathan, den das Volk wegen Götzendiensts vor den Altären Baals tötete (2Chr 23 und 4Kön 11).93 Ebenso enthob der überaus weise und von Gott zum König erhobene Salomo den höchsten Priester seines Priesteramts und vertrieb ihn (weil er Adonia, Salomos Bruder, gegen Salomo anhing) zurück auf seine eigenen Ländereien, wie 3Kön 2 aus der Absetzung Abjatars und dessen Ersetzung durch Zadok hervorgeht.94 Daher heißt es dort: Also verwarf Salomo Abjatar, dass er nicht mehr Gottes Priester sei, damit das Wort Gottes erfüllt werde, das er über das Haus Elis in Silo gesagt hat.95 Dies war folglich noch sehr viel mehr, als einem Bischof weltliche Güter zu entziehen96 oder die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel zu werfen. Daher war Salomo ein friedensstiftender König, und sein Königtum wuchs und gedieh in der Kraft des Herrn.97 Ebenso wird 4Kön 15 König Asarja mit Lepra geschlagen, weil er dem Klerus nicht die Heiligtümer entzogen hat.98 So müssen die Fürsten der Welt Angst haben, dass sie mit der Lepra des Gehasi geschlagen Vgl. Hieronymus, Comm. in Oseam prophetam II (PL 25,895 BC). 92 Vgl. Ps.Chrysostomus, Op. imperf. in Mt 40 (PG 56,852). 93 Vgl. 2Chr 23,17 und 2Kön 11,18. 94 Der letzte Halbsatz („wie [...] hervorgeht“) ist ein Zitat aus Wyclifs De officio regis (vgl. Nr. 14, Anm. 7). 95 1Kön 2,28. 96 Vgl. Wyclif, a. a. O. (Nr. 14, ebd.). 97 Auch dieser Satz ist dem erwähnten Abschnitt aus Wyclif entnommen. 98 Vgl. 2Kön 15,4 f. 91
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werden, wenn sie in ihren Königreichen Simonie begünstigen (4Kön 5)99. Ebenso ließ der heilige König Joschija, der die Heiligtümer in Jerusalem zerstörte, die Salomo, der König Israels, für das Götzenbild der Sidonier gebaut hatte, und andere Heiligtümer des Jeroboa, der Israel zur Sünde gebracht hatte,100 dieser König Joschija ließ alle Priester der Heiligtümer töten, die in den Städten Samariens waren. Und weil er dies gut gemacht hatte, lobt ihn die Schrift im selben Kapitel und sagt: Kein König vor ihm war ihm ähnlich, weil er sich in seinem ganzen Herzen nach dem Herrn und in seiner ganzen Seele und in seiner gesamten Lebensführung nach dem Gesetz des Mose richtete. Nach ihm gab es auch keinen König mehr, der ihm ähnlich war.101 Ebenso steht Neh 13, wie der treu ergebene Nehemia, auf dessen Rede hin Gott ihn dazu berief, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen, den Priester Heliasiph, der in der Schatzkammer des Gotteshauses Vorsteher war, mit seinem Verwandten Thobia vertrieb, weil er sich eine Kammer eingerichtet hatte, in der sie die Gaben lagerten. Daher sagt er dort: Ich habe das Übel erkannt, dass Heliasiph an Thobia getan hatte, dass er ihm eine Kammer einrichtete auf dem Vorplatz des Gotteshauses. Und dies schien mir besonders schlecht zu sein, und ich warf die Geräte des Hauses von Thobia vor die Schatzkammer.102 Siehe, wie er die Habgier der Priester in Fesseln schlägt! Ebenso schlug derselbe Nehemia, wie dort gesagt wird, die Schwelgerei der Priester in Fesseln. Daher sagt er: Von den Söhnen Jojadas, des Sohnes des Hohepriesters Heliasiph, war einer der Schwiegersohn des Horoniters Sanaballat, den ich von mir jagte.103 O, wenn doch unsere Anführer und Herren ebenso die hurenden Presbyter von sich jagen würden! Weil also Nehemia mit dieser Vertreibung richtig gehandelt hat, sagt er sofort in den folgenden Worten: Erinnere dich an die, Herr, mein Gott, die das Priestertum und das Gesetz der Priester und Leviten befleckt haben.104 Überdies werden verbrecherische Priester des Alten Testaments an vielen Stellen der Heiligen Schrift durch heidnische Könige auf Gottes Befehl hin zurechtgewiesen. Wie hat es also jener Gegner mit einer solchen Vorbereitung gewagt, so unbedacht hervorzupoltern, dass die alten Priester, wie verbrecherisch sie auch waren, niemals durch weltliche Personen verbessert wurden? Hätte er doch wenigstens die Klagen des Propheten Jeremias gelesen, dann hätte er unter anderem dies in Klgl 2 gesehen: Darf man denn im Heiligtum des Herrn den Priester und Propheten erschlagen? Und dann: Gott, du hast am Tag deines 99
Vgl. 2Kön 5,20–27. Neh 13,29.
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2Kön 23,13.
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2Kön 23,25.
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Neh 13,7 f.
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Neh 13,28.
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Zorns getötet und sie abgeschlachtet und hast dich nicht erbarmt.105 Weiterhin sagt der Gegner in seinem Schreiben: Ebenso hast du gesagt, dass die Priester, die im Konkubinat leben und in Todsünde sind, Frevler seien, aber nicht diejenigen, die ihrem Bischof ungehorsam sind. Diesen letzten Teil hat der Gegner böswillig hinzugefügt. Ich gebe nämlich zu gesagt zu haben, dass die im Konkubinat lebenden und in jedwede Todsünde verstrickten Priester tatsächlich Frevler sind, weil sie Religionsschänder, Verderber und Beflecker nicht nur des irdischen Tempels sind, sondern auch des geistigen Tempels, der die Seele ist, in der der Heilige Geist wohnen soll durch die Gnade, wie der Apostel in 2Kor 6 sagt: Ihr aber seid der Tempel des lebendigen Herrn, wie der Herr sagt: „Ich werde unter ihnen wohnen und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mir ein Volk sein. Darum geht aus ihrer Mitte weg und trennt euch von ihnen“, sagt der Herr, „und berührt nichts Unreines. Und ich will euch annehmen, und ich werde euer Vater sein, und ihr sollt meine Söhne und Töchter sein“, sagt der Herr.106 Ebenso sagt er in 1Kor 3: Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? 107 Und auf das eben zitierte Wort folgt: Wenn jemand aber den Tempel Gottes befleckt, den wird Gott verderben. Denn der Tempel, der ihr seid, ist heilig.108 Wer also, frage ich, verletzt diesen Tempel, wenn nicht der, der eine Todsünde begeht? Und so frevelt ein ungerechter Priester, ein hurender, ein geldgieriger, ein hochmütiger und ein bestechlicher Priester, das heißt er verletzt, befleckt und entweiht den geistigen Tempel, indem er Christus hinauswirft und den Ort Belial übergibt. Mit Bedacht sagt daher der Apostel 2Kor 6: Welche Gemeinsamkeit hat die Gerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit? Und welche Gemeinschaft besteht zwischen Licht und Finsternis? Welche Übereinstimmung besteht zwischen Christus und Belial? Oder was für eine Gemeinsamkeit hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Was hat der Tempel Gottes für eine Übereinstimmung mit den Götzen? 109 Und dann fügt er an: Ihr aber seid der Tempel des lebendigen Gottes,110 das bedeutet, dass in diesem Tempel nicht zugleich Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sein können, nicht zugleich das Licht der Gnade und die Finsternis der Sünde, nicht zugleich Christus und Belial. Es besteht also kein Zweifel, dass die schlechten Kleriker diesen Tempel entweihen und ganz besonders die habgierigen Kleriker, weil sie den Tempel Gottes zu einer Räuberhöhle machen. 105 108
Klgl 2,20 f. 1Kor 3,17.
106 109
2Kor 6,16–18 mit Verweis auf Lev 26,12 und Jes 52,11. 2Kor 6,14–16. 110 2Kor 6,16.
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1Kor 3,16.
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Daher sagt der heilige Chrysostomus dazu in seiner 50. Predigt Folgendes: Derjenige macht den Tempel Gottes zu einer Räuberhöhle, der irdische Reichtümer für sein Seelenheil sucht und für den die Beschäftigung mit der Religion dadurch nicht mehr so sehr die Beschäftigung mit Gott ist als vielmehr die Gelegenheit zu einem schändlichen Geschäft. Denn täglich kommt der Herr in seinen Tempel, d. h. in die heilige Kirche, und wirft diejenigen hinaus, die die Gnade Gottes aus der Kirche verkaufen, nämlich die Bischöfe, Presbyter, Diakone und die, die nur dem Namen nach religiös sind, und auch die Laien, die ebenso verbrecherisch handeln, wenn sie die Gaben Gottes kaufen und verkaufen .111 Dies sagt Chrysostomus. Man kann bildlich von der Entweihung der Kirche lesen. Erstens durch Jeroboa (3Kön), der zwei goldene Kälber machte, das eine in Dan und das andere in Bethel, wie man sagt, als ein Haus Gottes.112 Aber er tat dies aus Habgier, um das Königreich nicht zu verlieren – wodurch auf die Habgier des Klerus in der Kirche angespielt wird. Zweitens wurde die Kirche durch Nebusaradan entweiht, den sogenannten Anführer der Köche (4Kön, letztes Kapitel),113 der das Haus Gottes niedergebrannt hat – und dies spielt auf jene an, die genusssüchtig in der Kirche leben und deren Gott ihr Bauch ist, wie der Apostel Phil 3 sagt.114 Und zum dritten durch König Antiochus, der überaus hochmütig war und die Kirche entweihte (1Makk 1),115 als er über dem Altar Gottes einen Götzen der Abscheu errichtete und Bücher verbrannte und alle, die nicht Götzenanbeterei betrieben, tötete – und dies spielt auf die Hochmütigen und die Bestechlichen an, die die ehrliche Kirche bekämpfen. An diesen Worten sollen also die habgierigen, schwelgerischen, genusssüchtigen, hochmütigen und bestechlichen Presbyter erkennen, ob sie freveln – das heißt, den Tempel Gottes beflecken und schänden –, und sie sollen in der Tat das Wort des Apostels fürchten: Wenn jemand aber den Tempel Gottes befleckt, den wird Gott verderben! 116 Und so kann der Gegner keine Entweihung des Tempels und der irdischen Kirche oder der Geräte des Tempels und des Schmuckes erfinden, die nicht mit einer Entweihung des geistlichen Tempels und der Kirche einherginge. Also sollen sich die, die an Christus glauben, tunlichst vor der Verletzung und Befleckung ihrer Seele hüten, indem sie ihrer Seele nicht durch ein Verbrechen schaden, damit unser Herr und Gott sie nicht verderbe. Der Gegner soll also das ganze Alte Testament 111 113
Vgl. Ps.-Chrysostomus, Op. imperf. in Mt 38 (PG 56,841). 112 1Kön 12,28 f. Vgl. 2Kön 25,8 f. 114 Vgl. Phil 3,19. 115 Vgl. 1Makk 1,57–60. 116 1Kor 3,17.
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lesen, wenn er einen anderen Grund für die Entweihung finden will als die Sünde, und soll mir die Stelle zeigen, wenn er sie gefunden hat. Aber ich glaube, dass er nichts anderes finden kann, als dass die Entweihung aus der Sünde hervorgeht. Zu seinem Nachsatz aber, den er böswillig hinzugefügt hat und durch den er suggeriert, ich hätte gesagt, dass die Priester, die ihrem Bischof ungehorsam sind, nicht freveln: Hier hängt er mir zu Unrecht einen Fehler an, weil ich das Gegenteil gesagt habe. Denn ich habe ausdrücklich gesagt, dass diejenigen Priester ihre eigenen Seelen entweihen, verletzen und beflecken, die ihren Bischöfen hinsichtlich legitimer Gebote nicht gehorsam sind und die die Bischöfe in den Dingen missachten, die sich auf das Gesetz Gottes beziehen. Doch habe ich nach dem Grund gefragt, weshalb Priester der Entweihung geziehen werden, wenn sie ein Gebot ihres Bischofs nicht halten (sei es ein legitimes oder ein illegitimes), von denselben Leuten aber nicht der Entweihung geziehen werden, wenn sie ein ausdrückliches Gebot Gottes nicht halten. So befiehlt der Bischof zum Beispiel, in Prag insgesamt und zwei Meilen rings darum das Interdikt einzuhalten, weil die Einkünfte mancher Priester beschlagnahmt werden;117 und ein Geistlicher, der nicht vom Lob Gottes weichen will und nun in Berufung geht, weil er die Verordnung für unrechtmäßig hält, und darum weiterhin seine religiösen Aufgaben erfüllt, wird dann der Entweihung geziehen, aber ein anderer Priester, der ein Gebot Gottes übertritt, wird von jenen nicht der Entweihung geziehen – zum Beispiel, wenn dieser das Gebot Du sollst nicht ehebrechen 118 übertritt und das Gebot Ein Mensch, der einen Makel hat, soll seinem Gott nicht dienen und kein Brot darreichen und auch nicht seinen Dienst verrichten.119 Ebenso jenes Wort Dtn 23: Wenn unter euch ein Mensch ist, der sich beim nächtlichen Schlaf besudelt hat, der soll aus dem Lager gehen und nicht wiederkehren, bis er sich bis zum Abend mit Wasser gewaschen hat; und erst nach dem Untergang der Sonne soll er in das Lager Gottes zurückkommen.120 Bei seiner Auslegung dieser Bibelstelle wendet der heilige Gregor dies 117 Das Beispiel nimmt Bezug auf die Ereignisse des Jahres 1411: Der Erzbischof Zbyněk von Hasenburg hatte zahlreiche Schriften Wyclifs verbrennen lassen. König Wenzel IV. wiederum ließ die Einkünfte mancher Priester beschlagnahmen, um diejenigen zu entschädigen, deren Bücher vernichtet worden waren. Als Gegenmaßnahme belegte der Erzbischof daraufhin Prag und das Umland mit einem Interdikt und verbot alle geistlichen Handlungen, um den Druck auf die Befürworter der Wyclifschen Thesen zu erhöhen. 118 Ex 20,14. 119 Lev 21,17 f. 120 Dtn 23,10 f.
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auf jeden Beliebigen an, der im Geiste besudelt wurde durch welche Art von Todsünde auch immer. Dies steht im kanonischen Recht, Distinctio 6.121 Und damit es noch klarer wird: Unter gerichtlicher Strafe bis hin zur Verdammung ist geboten, dass keiner, der im Verbrechen haftet, das Sakrament des Leibes unseres Herrn Jesu Christi isst, wie der Apostel 1Kor 11 sagt: Wer unwürdig das Brot isst oder den Kelch des Herrn austrinkt, wird schuldig sein am Leib und Blut des Herrn. Jeder Mensch soll aber sich selbst prüfen und sodann von jenem Brot essen und aus dem Kelch trinken.122 Und es folgt die Strafe für dieses Verbot: Wer nämlich unwürdig isst und trinkt, der isst und trinkt für sich zum Gericht .123 Und wenn kein Priester von jenem Verbot ausgenommen wird, folgt daraus, dass jeder Priester das Gebot des Herrn übertritt, der mit einem Verbrechen auf der Seele sein Amt ausführt und das Abendmahl empfängt, wo doch der Apostel ebendort sagt: Ich nämlich habe vom Herrn empfangen, was ich euch gegeben habe.124 Warum also entweiht jener Erste, der das Interdikt eines Bischofs übertritt, aber nicht der Zweite, der ein Gebot des Herrn übertritt? Ich warte bis heute auf eine Antwort von denen, die sagen, dass diejenigen, die während der Zeit des Interdikts unter Berufung ihr Amt dennoch ausübten,125 die Kirche entweiht hätten, aber nicht jene, die das Gebot unseres Herrn Jesu Christi missachteten. Ich wundere mich auch, weshalb die Bischöfe es wagen, das Interdikt zu verhängen, weil einem Priester ein irdisches Gut entzogen wird, nicht aber, wenn ein Laie durch einen Priester der eigenen Ehefrau beraubt wird, obwohl doch die Ehefrau unendlich viel kostbarer ist als irgendein irdisches Gut des Priesters. Wenn doch der Gegner schöne Gründe vorlegen würde! Und da doch alle Priester, die im Konku-binat leben, ihrem Diözesanbischof ungehorsam sind aufgrund der Tatsache, dass sie gegen Gott ungehorsam sind und sogar dessen ausdrückliches Gebot oder Statut missachten, warum gelten dann nicht sie als Entweiher? Und warum setzt der Bischof nicht ihretwegen ein Interdikt fest, wo doch die Schuld vieler hurender Priester für die Kirche einen viel größeren Schaden darstellt als die Beschlagnahmung von Einkünften, die sogar rechtmäßig sein kann, wenn das Verbrechen es erforderlich macht?
Vgl. Decr. Grat. I dist. 6 (Friedberg 1,9 f.). 122 1Kor 11,27–29. 123 1Kor 11,29. 1Kor 11,23. 125 Gemeint ist wohl das zuvor erwähnte Interdikt in Prag, demgemäß manche Kleriker keinen Gottesdienst hätten ausüben dürfen.
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Der Gegner fährt fort und spricht: Hast du etwa nicht im 1Kön 15 gelesen, dass Gehorsam stärker wiegt als Opfergaben und jede Sünde aus Ungehorsam ihren Anfang nimmt? 126 Lieber Gegner, ich habe es gelesen, aber ich beurteile die Worte der Schrift anders als du. Denn du verfälschst das Wort Gottes und willst es auf den Gehorsam der Prälaten hinbiegen, ich aber sage, dass der Gehorsam, den man Gott leistet, besser ist als Opfergaben ohne einen solchen Gehorsam. Warum hast du nicht gründlich den Text gelesen, der da lautet: Da spricht Samuel: Bist du etwa nicht zum Haupt gemacht worden über die Stämme Israels, als du sehr gering warst in deinen Augen? Und doch hat dich der Herr zum König über Israel gesalbt und auf den Weg geschickt und gesagt: „Geh und töte die Sünder Amaleks, und du wirst gegen sie kämpfen bis zu ihrer Vernichtung“. Weshalb also hast du nicht auf die Stimme des Herrn gehört, sondern hast dich der Beute zugewandt und ein Unrecht begangen in den Augen des Herrn? Und Saul sprach zu Samuel: „Ich habe doch auf die Stimme des Herrn gehört und bin auf dem Weg gewandelt, auf den der Herr mich geschickt hat, und ich habe Agag, den König von Amalek, hergeführt und Amalek getötet. Aber das Volk nahm von der Beute Schafe und Rinder, die Erstlinge unter denen, die erschlagen wurden, um sie seinem Herrgott zu opfern in Galgala.“ Und Samuel sprach: „Will der Herr etwa Brandopfer und Opfertiere und nicht viel eher, dass der Stimme des Herrn gehorcht wird? Denn Gehorsam ist besser als Schlachtopfer, und Gehorchen ist mehr wert, als das Fett der Widder zu opfern, weil es wie die Sünde der Wahrsagerei ist, sich zu widersetzen, und wie das Verbrechen der Abgötterei, nicht Folge leisten zu wollen. Dafür also, dass du das Wort des Herrn verworfen hast, hat der Herr dich verworfen, auf dass du nicht König seist.“ 127 Siehe, wenn der Gegner samt seinen Komplizen diesen Text beachten würde, so würde er lernen, dass Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn besser ist als Opfer, die die Priester leisten ohne Gehorsam gegen den Herrn, weil sie jenes Wort des Herrn Du sollst nicht ehebrechen 128 verwerfen (Ex 20). Ebenso: Umsonst habt ihr empfangen, also gebt auch umsonst (Mt 10).129 Ebenso: Die Könige herrschen über ihre Völker, aber bei euch soll es nicht so sein! (Lk 22).130 Ebenso: Liebt eure Feinde, seid denen gegenüber wohltätig, die euch hassen! Segnet die, die euch verlästern, betet für die, die gegen euch Ränke schmieden! Und wer dir auf die eine Wange schlägt, dem halte auch die andere hin! Und dem, der dir den Umhang wegnimmt, verwehre auch das Hemd nicht! Gib aber jedem, der dich bittet! Und wer dir das Deine nimmt, von dem for126
Vgl. 1Sam 15,22 f.
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1Sam 15,17–23.
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Ex 20,14.
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Mt 10,8.
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Lk 22,25 f.
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dere es nicht zurück,131 so die Stimme des Herrn bei Lukas im sechsten Kapitel. Die Priester, die dieser Stimme nicht gehorsam sind, müssen nach dem Beispiel Sauls verworfen werden, damit sie nicht Könige über das Volk sind. Zweitens würde er lernen, dass Gott die Opfergaben von solchen Leuten nicht annimmt. Drittens, dass sie, weil sie sich der Stimme Gottes widersetzen, gleichsam in der Sünde der Wahrsagerei sind. Viertens, dass sie gleichsam Abgötterei betreiben, weil sie der Stimme Gottes nicht gehorchen. Und fünftens zeigen diese Bibelstellen, dass alle Sünde aus Ungehorsam entsteht. Und ich spreche von Ungehorsam mehr im Hinblick auf Gott als im Hinblick auf den Menschen, weil ja Gehorsam im Hinblick auf Gott vorrangiger und bedeutsamer ist als im Hinblick auf den Menschen, wie die Apostel es gegenüber den Priestern Apg 4 bestimmt haben: Entscheidet selbst, ob es vor Gott gerecht ist, eher auf euch zu hören als auf Gott.132 Und Apg 5: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.133 Aufgrund seines Ungehorsams gegen Gott wurde Luzifer aus dem Himmel geworfen, ein Mensch aus dem Paradies und Saul aus seinem Königreich, wie hier in dem vorgelegten Text deutlich wird, weil er nicht der Stimme des Herrn und den Worten Samuels gehorchte. Als Samuel daher zu Saul sprach: Dafür, dass du das Wort des Herrn verworfen hast, hat der Herr dich verworfen, dass du nicht König seist ,134 sprach Saul zu Samuel: Ich habe gesündigt, denn ich habe mich über die Rede des Herrn und über deine Worte hinweggesetzt, weil ich mich vor dem Volk fürchtete und auf dessen Stimme gehört habe .135 Siehe, Saul stellt die Pflichtverletzung gegenüber dem Wort des Herrn vor die Pflichtverletzung gegenüber den Worten des Propheten und deutet damit an, dass es keine Pflichtverletzung wäre, wenn nicht eine Pflichtverletzung gegenüber dem Wort des Herrn. Und daher sagen die Propheten nicht „Ich sage dir dies, ich befehle jenes“, sondern sie sagen „Dies sagt Gott der Herr, dies befiehlt der Herr.“ Daher wiederholt Samuel im angeführten Text mehrmals die Worte „Du hast nicht auf die Stimme Gottes gehört“ und sagt nicht „auf meine Worte“. Und daher rührt es, dass derjenige, der die Priester verachtet, insoweit auch Gott verachtet, inwieweit die Priester dem Willen Gottes zustimmen oder ihn verkünden, wie der Gegner das Wort des Herrn angefügt hat aus Lk 10: Wer euch verachtet, verachtet mich.136 Aber es ist keine zwingende Schlussfolgerung, dass jemand, wenn er einen Prälaten, Bischof, Priester oder sonst irgendeinen Herrn oder Vorsteher verachtet, weil Lk 6,27–30. 10,16.
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Apg 4,19.
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Apg 5,29.
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1Sam 15,23.
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1Sam 15,24.
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dieser irgendetwas gegen Gott vorschreibt, folglich auch Christus verachtet. Denn Gott verachtet jeden Prälaten, der ihm durch ein Verbrechen feindlich gegenübersteht. Ein treuer Jünger Christi verachtet völlig zu Recht einen Prälaten bei einem illegitimen Gebot und verhält sich damit entsprechend dem Willen Gottes. Und auch die Angst vor dem Tod stellt keine Entschuldigung dar für den Ungehorsam gegenüber Gottes Befehl, so wie auch Saul keine Nachsicht gewährt wurde, der spricht: Ich habe gesündigt, denn ich habe mich über die Rede des Herrn und über deine Worte hinweggesetzt, weil ich mich vor dem Volk fürchtete und auf dessen Stimme gehört habe.137 Was wäre das schließlich für eine Beständigkeit und Beharrlichkeit im Menschen, wenn er aus Angst vor dem körperlichen Tod das Gebot des Erlösers übertritt, der doch Mt 10 spricht: Fürchtet nicht jene, die den Leib zerstören, aber die Seele nicht zerstören können, sondern fürchtet vielmehr den, der den Leib und die Seele in der Hölle zerstören kann138? Im Nachsatz fährt der Gegner fort und spricht: Oder willst du etwa zu Unrecht behaupten, dass sie keine Stellvertreter sind, weil sie keine Nachfolger Christi sind? Hier sage ich dem Gegner, dass es zwei Arten von Stellvertretern Christi gibt, nämlich wahre und falsche. Wahre Stellvertreter Christi sind die, die Christus selbst in den Sitten nachahmen gemäß dem Wort Christi, der Joh 12 sagt: Wer mir dient, soll mir nachfolgen .139 Falsche Stellvertreter Christi sind aber in Wirklichkeit diejenigen, die wegen ihrer schlechten Werke in den Augen Gottes verworfen sind, obwohl sie ein Amt haben wie von Gott erwählte Menschen. An Saul nämlich erinnert man sich nicht als einen vom Herrn erhobenen König und an Judas nicht als einen, der von einem anderen unter die Apostel gewählt wurde. Über die Worte des Evangeliums als Jesus Jerusalem betrat 140 sagt der selige Remigius daher in seiner Predigt: Jedweder Bischof, der die Gnade des Heiligen Geistes verkauft, mag er auch aus Sicht der Menschen in einem priesterlichen Gewand strahlen, ist in den Augen Gottes schon des Priesteramtes beraubt. Daher verflucht auch das kanonische Kirchenrecht die simonistische Häresie und lehrt, dass man diejenigen des Priesteramtes beraubt, die für die gewährte geistliche Gnade einen Profit anstreben.141 So Remigius. Und der selige Ambrosius sagt in den Sermones : Es ist Betrug, wenn sich jemand Pries137 1Sam 15,24. 138 Mt 10,28. 139 Joh 12,26. 140 Mt 21,10. 141 Vgl. Remigius Autisiodorensis, Hom. quadragesimales (cod. bibl. univ. Prag. X A 13, fol. 7ra, et VI E 2, fol. 2r). Der Abschnitt wird nicht nur von Wyclif zitiert (vgl. Def. art. p. 223), sondern findet auch in vielen anderen Schriften von Hus Verwendung.
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ter oder Kleriker nennt und das Gegenteil von dem tut, was seinem Stande zukommt.142 Und Chrysostomus sagt: Es gibt viele Priester und doch wenige Priester.143 Ebenso sagt es der selige Gregor, und so steht es im Kanon, Causa 1, Quaestio 1: Diejenigen, die heilige Ämter verkaufen oder kaufen, können keine Priester sein .144 Und der selige Hieronymus schreibt an Heliodor, und so steht es auch im Kanon, Causa 2, Quaestio 7: Nicht alle Bischöfe sind Bischöfe (Glosse: Sie sind dem Namen nach Bischöfe, nicht der Sache nach). Denk an Petrus, denk aber auch an Judas, stütz dich auf Stephanus, aber weise Nicolaus von dir (der einer der sieben Diakone war, die die Apostel eingesetzt haben, der dann aber verworfen wurde).145 Die kirchliche Würde allein macht noch keinen Christen: Der Hauptmann Cornelius, der anfangs ein Heide war, wird durch die Gabe des Heiligen Geistes gereinigt, der Knabe Daniel richtet über die Ältesten. Es ist nicht einfach, an der Stelle eines Petrus und Paulus zu sein und den Platz derjenigen einzunehmen, die bereits mit Christus herrschen. Das unnütze Salz (das sind die dummen Prälaten) taugt zu nichts, als dass es hinausgeworfen (d. h. aus der Kirche) und von den Schweinen (d. h. den Dämonen) zertreten wird .146 Solche Stellvertreter nennt der Hirte der Seelen Joh 10 Diebe und Räuber, wenn er spricht: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Stall der Schafe tritt, sondern anderswo hereinkommt, der ist ein Dieb und Räuber. 147 Und ebenso: Wahrlich, wahrlich ich sage euch, dass ich die Tür zu den Schafen bin. Alle, wieviele es auch waren, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber.148 Siehe, es gibt zwei Arten von Stellvertretern. Alle Bischöfe sind zwar, wie das kanonische Recht sagt, als Stellvertreter der Apostel in das Amt berufen, aber viele von ihnen sind Diener im Dienst des Antichrist, weil sie in ihrem Handeln Christus feindlich gegenüberstehen und daher – wie der oberste Bischof sagt – Diebe und Räuber sind. Und über jene wird 1Joh 2 zu Recht gesagt: Viele wurden zu Antichristen.149 Von ihnen spricht auch Bernhard zu Eugenius und erklärt, wie Unwürdige sich in die kirchlichen Ämter einschleichen, weil sie geehrt einherschreiten wollen, danach trachten, den Menschen zu gefallen, sich zu bereichern, sich zu brüsten und sich dieser Welt in allen Dingen anzuVgl. Ps.-Ambrosius, sermo 30 (PL 17,665C) = Decr. Grat. II C. 22 q. 5 c. 20 (Friedberg 1,147). 143 Vgl. Ps.-Chrysostomus, Op. imperf. in Mt 43 (PG 56,876) = Decr. Grat. I dist. 40 c. 12 (Friedberg 1,147). 144 Vgl. Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 1 (Friedberg 1,361). 145 Vgl. Apg 5,6 und Irenäus, Adversus haereses I 26,3. 146 Vgl. Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 29 (Friedberg 1,492) = Hieronymus, ep. 14 (PL 22,353) mit Verweis auf das Salzwort in Mt 5,13. 147 Joh 10,1. 148 Joh 10,7 f. 149 1Joh 2,18. 142
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passen. Höre die Klagen des Herrn, was der geduldige Vergelter über diese so große Unbesonnenheit der Menschen spricht, der eher Reue als Vergeltung will: „Sie selbst haben regiert, aber nicht auf mein Geheiß, sie haben Anführer bestimmt, aber ich habe sie nicht berufen150.“151 All die nämlich in den kirchlichen und übrigen zum Heiligtum gehörenden Ständen, die nur ihre eigene Ehre suchen oder Reichtümer oder fleischliche Lust, kurzum, das Ihre, nicht das Jesu Christi, treibt ganz offensichtlich und unzweifelhaft nicht die Liebe, die Gott ist, sondern eine Liebe, die Gott fremd und die Wurzel aller Übel ist: die Begierde.152 Welch eine Verwegenheit, mehr noch, welch Tollheit! Wo ist die Furcht vor dem Herrn? Wo die Erinnerung an den Tod? Wo die Angst vor der Hölle und jene furchtbare Erwartung des Gerichts? Und dann: Ihre Verdammung ist gewiss.153 So Bernhard. Weil nun von den früheren, noch von Christus erwählten Bischöfen einer ein Teufel war, wie er Joh 6 selbst sagt: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt, und einer von euch ist ein Teufel? 154 – worüber Bernhard an obiger Stelle, im kleinen Kapitel „Über das Geldsäcklein des Judas“ sagt: „Habe ich nicht“ , so sagt er, „euch Zwölf erwählt; und einer von euch ist ein Teufel?“ Wenn sich doch unter Zwölfen heutzutage ein Petrus finden ließe: einer, der alles verlassen hat, einer, der kein Geldsäcklein hat. Und weiter unten sagt er: Wehe, wehe, im Hause des Herrn sehen wir Schreckliches :155 Götzendienst! Ich lüge, wenn Habgier nicht Götzendienst ist, wenn nicht sogar für gewisse Leute ihr Bauch zu ihrem Gott geworden ist. Was nämlich ein jeder vor allen Dingen verehrt, das hat er bekanntlich zu seinem Gott gemacht. Ja, wie viele sehen wir, die Geschenke lieben und auf Gegenleistungen aus sind! Wie viele sehen wir, die nicht dem Herrn Christus dienen, sondern ihrem Bauch! 156 So Bernhard. Und nach Predigt 33 zum Hohenlied (über die Stellvertreter) leben die Stellvertreter Jesu Christi in Heuchelei: Alle , sagt Bernhard, sind Freunde und alle Gegner, alle sind Verbündete und alle Feinde, alle sind Hausgenossen, und keiner ist friedfertig, alle sind Nächste, und alle suchen das Ihre, alle sind Diener Christi und dienen doch dem Antichrist. Sie schreiten einher als Ehrenträger der Güter des Herrn, dem sie selbst keine Ehre erweisen. Daher kommt jener buhlerische Glanz, den du tägIm Bernhard-Zitat hier vocavi (so auch PL 184,446 A), an anderer Stelle dasselbe Zitat mit üblicher Lesart cognovi (Opp. [1963, ed. Eršil] XXII, 216,25). 151 Hos 8,4. 152 Vgl. 1Tim 6,10. 153 Vgl. Gaufridi abbatis Declamationes [...] ex S. Bernardi sermonibus coll., c. 13 (PL 184,445D–446B). 154 Joh 6,70. 155 Vgl. Hos 6,10. 156 Vgl. Gaufridi abbatis Decl. c. 14 (PL 184,446C–D). 150
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lich siehst, das gespielte Verhalten, der königliche Prunk. Daher das Gold an Zügeln, Sätteln und Sporen – die Sporen schillern mehr als die Altäre 157 –, daher die Tische, die von Speisen und Bechern nur so strotzen. Daher die Gelage und Besäufnisse, daher Kithara, Lyra und Flöten, daher die überfließenden Keltereien, die vollen Speisekammern, überquellend an allem und jedem, daher die Salbenfässer, daher die vollen Geldbeutel. Ach, genau so wollen sie’s haben und sind doch Kirchenvorsteher, Dekane, Erzdiakone, Bischöfe und Erzbischöfe! Und diese Dinge werden ihnen nicht durch ihr Verdienst zuteil, sondern durch jenes Unwesen ,158 das in der Finsternis umgeht. Früher wurde es vorausgesagt, und nun kommt die Zeit der Erfüllung: „Siehe, im Frieden war meine Bitterkeit am bittersten.“ 159 Bitter zuerst bei der Ermordung der Märtyrer, bitterer danach im Zusammenstoß mit den Häretikern, und nun am bittersten bei den Sitten der Hausgenossen. Man kann sie nicht in die Flucht schlagen, und man kann ihnen nicht entfliehen, so mächtig sind sie geworden, so zahlreich sind sie über uns.160 Die Seuche der Kirche ist innerlich und unheilbar und daher die Bitterkeit im Frieden am bittersten. Aber in welchem Frieden? Es ist ein Frieden und doch kein Frieden: Friede vor den Heiden, Friede vor den Häretikern, aber in der Tat kein Friede vor den eigenen Kindern. Die Stimme des Trauernden in dieser Zeit erschallt: „Die Kinder habe ich ernährt und großgezogen, sie selbst aber haben mich verachtet!“ 161 Sie haben mich verachtet und besudelt durch den schändlichen Lebenswandel, durch Gewinnsucht, durch schändlichen Handel, durch das Unwesen endlich, das in der Finsternis umgeht. Es bleibt nur, dass auch noch der Mittagsdämon162 aus unserer Mitte ersteht, um die zu verführen, die etwa noch bei Christus geblieben sind und in ihrer Unschuld verharren.163 Siehe, aus diesen Worten des heiligen und frommen Bernhard kann der Gegner zusammen mit mir entnehemen, wer die wahren und wer die falschen Stellvertreter des Herrn Jesu Christi sind. Ein wahrer Stellvertreter Christi nämlich verwickelt sich nicht in weltliche Tätigkeiten, sondern folgt Christus nach in seiner Niedrigkeit, Armut, Reinheit und im Gehorsam, so wie Christus der niedrigste, ärmste und Gott gehorsamste Mensch auf Erden war. Daher sagt der Erlöser dem Petrus und so nicht nur jedem beliebigen Bischof, sondern auch jeglichem Bei Bernhard als Wortspiel: plus calcaria quam altaria fulgent. 158 Vgl. diese Ausgabe Nr. 2, Anm. 49.. 159 Jes 38,17. 160 Hussens Text super nos („über uns“) lässt sich schwer übersetzen. Bernhard von Clairvaux hat super numerum (über die Zahl, d. h. dass man sie nicht zählen kann). 161 Jes 1,2. 162 Vgl. diese Ausgabe Nr. 2, Anm. 50. 163 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 33 (PL 183,959). 157
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Christen: Folge mir nach (Joh 21)164. Und Mt 16: Wer mit mir gehen will, soll sich verleugnen und sein Kreuz tragen und mir folgen .165 Jenem Anführer zu folgen aber bedeutet so zu wandeln, wie auch er wandelte, d. h. nicht auf Irdisches aus zu sein und nicht vergänglichen Reichtümern nachzulaufen, sondern vor weltlichen Ehren zu fliehen, für die himmlische Ehre alles Weltliche gern zu verachten, allen Menschen zu nützen, Liebe zu üben, keinem ein Unrecht zu tun und das selbst erlittene Unrecht nicht nur geduldig zu tragen, sondern sogar für diejenigen bei Gott um Vergebung zu bitten, die es einem zugefügt haben, niemals nach eigener Ehre, sondern allein nach der Ehre des Schöpfers zu trachten, so viele Menschen wie möglich zur Liebe der himmlischen Dinge mit sich emporzuziehen. Dies und dergleichen zu tun bedeutet, den Spuren Christi zu folgen, sagt Gregor.166 Der Gegner mag also mit mir zusammen überlegen, ob wir die Stellvertretung Christi auf diese Weise ausüben und dann ohne Zweifel wahre Stellvertreter sind. Wenn wir indes in Übereinkunft mit dem Antichrist abtrünnig werden, dann missbrauchen wir die Stellvertretung Christi, insoweit als wir die Macht haben, das Amt auszuüben. Ganz am Ende seines Schreibens hängt der Gegner noch diesen sehr hässlichen Drachenschwanz an: Lass dich belehren, dass keiner einen Stellvertreter einsetzt als Beauftragten in Wissen oder Güte, sondern allein in der Macht, wie offenbar wird aus den besonderen Eigenschaften der Personen der gepriesenen Dreifaltigkeit . O mein lieber Gegner, welch großes Unrecht verübst du gegen den höchsten Stellvertreter und Diener, Jesus, und schreibst auch noch der gepriesenen Dreifaltigkeit zu, was ihr nicht anstehen kann! Weshalb denkst du nicht an das Wort des Dieners und Gesandten Christus, der sagte: Alles ist mir von meinem Vater anvertraut 167? Wenn dir, Christus, alles vom Vater anvertraut ist, also Macht, Weisheit und Güte, dann dürftest auch du ein mächtiger, weiser und guter Diener und Gesandter sein. Dass du ein Diener bist, bekennst du selbst mit den Worten: Der Menschensohn kommt nicht, dass man ihm diene, sondern um zu dienen und seine Seele zu geben zur Erlösung für viele (Mt 20);168 und zwar der beste Diener, weil er ein umso viel besseres Amt erhalten hat, als es der Bund seiner Mittlerschaft ist, der geweiht ist durch bessere Verheißungen (Hebr 8).169 Dass er indes ein Gesandter oder Beauftragter menschlicher Art war, kannst du den Worten des Apostels Paulus Gal 4 entnehmen: Als aber Joh 21,19. 165 Mt 16,24. 166 Die Gregor d. Gr. hier zugewiesenen Worte sind Teil eines längeren Passus aus Beda Venerabilis (serm. I 21 = CC 121,150). 167 Mt 11,27. 168 Mt 20,28. 169 Hebr 8,6. 164
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die Vollendung der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, von einem Weibe geboren und unter das Gesetz gestellt, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste und wir die Kindschaft erlangten.170 Höre auch ihn selbst, der Joh 7 sagt: Von mir selbst bin ich nicht gekommen, doch wahr ist, der mich geschickt hat.171 Höre, dass ihm die Macht gegeben ist: Er gab ihm auch die Macht, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist (Joh 5)172. Und abermals: Gegeben ist mir alle Macht im Himmel und auf Erden (Mt 28)173. Ebenso: Du hast ihm die Macht über alles Fleisch gegeben, damit er all die, die du ihm gegeben hast, ihnen das ewige Leben gebe.174 Höre, was er über das Wissen sagt: Meine Lehre ist nicht meine eigene, sondern die des Vaters, der mich gesandt hat.175 Höre auch, was er über die Güte sagt: Der Herr dieser Welt kommt und hat nichts an mir. 176 Siehe, der Diener und Gesandte, der spricht: Der Vater ist größer als ich,177 eingesetzt vom Vater, und folglich von der ganzen Dreifaltigkeit, ist eingesetzt nach menschlicher Art in Macht, Wissen und Güte. So lass dich denn, mein Gegner, belehren, dass einer durchaus, da Gott Vater, seinen Stellvertreter oder Beauftragten einsetzt in Wissen und Güte, nicht nur in der Macht, was somit genau deinem hässlichen Anhang entgegensteht. Und weil jener Gesandte und Diener, der Herr Jesus, seine Stellvertreter nicht ohne Befugnis an seiner Statt eingesetzt hat, weil er sie dann nicht gesandt hätte, wie ihn der Vater gesandt hat, daher setzte er sie mit Macht ein, wie er bei Lukas im 9. Kapitel sagt: Als er aber die zwölf Apostel zusammengerufen hatte, gab er ihnen die Kraft und Macht über alle Dämonen sowie zum Heilen von Krankheiten. Und er sandte sie aus, das Reich Gottes zu predigen und die Kranken zu heilen .178 Weil aber Macht ohne Wissen nur wenig vermag, daher gab er ihnen Weisheit, verbunden mit der Ermunterung, ihren Geist nicht mit langer Vorüberlegung zu ermüden, wie sie auf Fragen antworten sollen. Daher sagte er ihnen: Prägt es euren Herzen gut ein, nicht im Voraus darüber nachzudenken, wie ihr antworten sollt. Ich nämlich werde euch die Stimme und Weisheit geben, der alle eure Gegner nicht widerstehen und widersprechen können .179 Und Mt 10: Wenn sie euch preisgeben, überlegt nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid die Sprecher, sondern es ist der Geist eures Vaters, der in euch spricht.180 Siehe, er spricht in einer ersten Vollmacht: Ich werde euch geben , und von einer zweiten sagt er: Der Geist eures Vaters spricht in euch . 170 176
Gal 4,4 f. Joh 14,30.
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Joh 7,28. Joh 13,28.
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Joh 5,27. 173 Mt 28,18. 174 Joh 17,2. Lk 9,1f. 179 Lk 21,14 f. 180 Mt 10,19 f.
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Joh 7,16.
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Was zeigt sich hier anderes, als dass es zur heiligen Dreifaltigkeit gehört (deren Werke laut dem seligen Augustinus181 nach außen hin unteilbar sind), einen Stellvertreter einzusetzen in Macht, Wissen und Güte? Und wie, frage ich, wären die Apostel so brauchbare und gute Stellvertreter Christi gewesen, wenn sie nicht von ihm in Macht, Wissen und Güte eingesetzt worden wären? Als nämlich der Erlöser ihnen sagte: Empfangt den Heiligen Geist! Deren Sünden ihr vergeben habt, denen werden sie vergeben,182 empfingen sie beim Empfang des Heiligen Geistes in der Tat die Macht, Weisheit und Güte – und besonders, als er ihnen am Pfingsttag den Tröster schickte, der sie die ganze Wahrheit lehrte. Und daher sagt der Erlöser Joh 17: So, wie du mich gesandt hast, habe ich auch sie in die Welt gesandt. Und für sie heilige ich mich selbst, damit auch sie heilig sind.183 Und so ergibt sich aus all dem Gesagten, dass die gepriesene Dreifaltigkeit gemäß den Eigenschaften ihrer Personen einen Stellvertreter nicht minder in Weisheit und Güte einsetzt als in der Macht. Nicht anders verhält es sich beim Herrn Jesus, als oberstem Bischof, und seinen Aposteln. Hätte der Gegner doch die Regel des Paulus über die Position des Stellvertreters beachtet, die dieser in 1Tim 3 aufstellt: Wenn jemand ein Bischofsamt begehrt, so begehrt er ein gutes Werk! 184 Doch wie soll er, unkundig und schlecht, ein gutes Werk vollbringen, allein mit der Macht? Wahrhaft gut beschreibt der Apostel, was für ein Stellvertreter eingesetzt werden muss, indem er sagt: Ein Bischof muss nämlich untadelig sein.185 Siehe, zuerst wird die Güte genannt; wenn er nämlich untadelig sein soll, dann muss er auch gut sein. Und er fügt an: nüchtern, klug, ehrenvoll, sittsam, gastfreundlich, gelehrt.186 Siehe, es geht um Wissen; denn wie wird er gelehrt sein, wenn er kein Wissen hat? Nicht trunksüchtig, kein Schläger, sondern gemäßigt, nicht streitsüchtig, nicht begierig .187 Und dann: Er muss aber auch einen guten Leumund haben bei denen, die außerhalb stehen, damit er nicht in Schimpf gerät und in den Fallstrick des Teufels.188 Und dies verlangt der Apostel nicht nur von den ersten Stellvertretern, sondern auch von ihren Knechten und ihren geringeren Dienern. Daher fügt er hinzu: Es ist nötig, dass in ähnlicher Weise auch die DiaVgl. etwa ep. 164,6 (CC 44,53711 f.): sed quid facit filius sine spiritu sancto vel sine patre, cum inseparabilia sint omnia opera trinitatis? („Aber was macht der Sohn ohne den Hl. Geist oder ohne den Vater, wo doch alle Werke der Dreieinigkeit untrennbar sind?“). 182 Joh 20,22 f. 183 Joh 17,18 f. 184 1Tim 3,1. 185 1Tim 3,2. 186 1Tim 3,2. 187 1Tim 3,3. 188 1Tim 3,7. 181
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kone sittsam sind, nicht doppelzüngig, nicht dem vielen Wein ergeben, nicht schändlichen Gewinn erstrebend, indem sie das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen haben. Und diese sollen zuerst geprüft werden, und sie sollen ihren Dienst nur dann leisten, wenn sie ohne Fehl und Tadel sind.189 Siehe, über die Weisheit sagt er: die das Geheimnis des Glaubens haben , das heißt das Geheimnis, dass sich auf den Glauben bezieht, und von der Güte des Lebens sagt er: in reinem Gewissen. Und er sagt, dass dies bei ihnen geprüft werden solle und dass sie erst dann dienen sollen. Und es besteht kein Zweifel, dass jeder beliebige weise König, Anführer, Herr oder Familienvater sich einen kundigen und guten Stellvertreter oder Knecht sucht, dem er dann die Gewalt überträgt – außer mein Gegner ist dermaßen dumm, dass er einen einfältigen und überaus sittenlosen Stellvertreter einsetzen würde. Aber was würde sogar den einfachsten Menschen, die ihren Verstand gebrauchen, unvernünftiger erscheinen? Wer würde einen so ungebildeten und törichten Stellvertreter ins Amt setzen, um Presbyter, Bischof oder Papst zu werden? Oder hätte jener Gegner vielleicht sogar einen Tausch gebilligt, bei dem ein Pfarrer mit einem Bademeister die Kirche gegen das Bad tauscht, so dass der Presbyter die Aufgaben des Bademeisters und der Bademeister die des Presbyters ausübt? Aber was könnte sogar einem Knaben dümmer erscheinen? Und so wird klar, dass dieser Gegner beim Schreiben selbst ein Stellvertreter für einen oder mehrere andere war, und dass er zwar mit Vollmacht ausgestattet wurde, aber – wie es im Schlusssatz klar wird – eben nicht mit Wissen und Güte, und damit jedenfalls nicht mit den Eigenschaften der Personen der gepriesenen Dreifaltigkeit. Amen.
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1Tim 3,8–10.
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Abb. 10: Portrait des Johannes Hus, aus Otto Brunfels, Iohannes Huss, De anatomia Antichristi ..., Straßburg 1524, VD 16 H 6162 (Bayerische Staatsbibliothek München, ESl--4 P.lat. 631 m-1-3, Teil 3, Frontispiz).
18 HUS AN DIE PILSENER [Herbst 1411]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 24–27 (Nr. 12); Novotny´, Korespondence, 104–108 (Nr. 35).
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Einleitung Nr. 18
Pilsen stellte sich früh auf die Seite Hussens, später wirkte hier als eifriger Verfechter des Hussitismus der Prediger Wenzel Koranda (erst 1420 wechselte die Stadt die Seiten und wurde zu einer festen Bastion des Katholizismus in Westböhmen). Als es in der zweiten Hälfte des Jahres 1411 aus nicht näher bekannten Gründen in der Stadt zu Unruhen kam, wandte sich Hus, hiervon Kenntnis erhaltend, direkt an die Pilsener. In seinem tschechischen Schreiben, das vor seiner Replica contra predicatorem Plznensem (Antwort an einen Pilsener Prediger), entstanden Ende 1411, verfasst sein muss, hielt er ihnen vor, sie hätten sich früher eifriger in den Dienst Gottes gestellt, doch jetzt würden sie zögerlicher agieren und untereinander Streit führen. Außerdem verteidigte Hus die Lesung des Evangeliums in der Volkssprache gegen Einwände Pilsener Geistlicher mit Hinweis auf die damals herrschende Ansicht, die vier Evangelien seien zunächst im Idiom der einzelnen Evangelisten verfasst worden.*
Vgl. die Stelle in Hussens Erklärung zu Petrus Lombardus (Flajšhans, Listy z Prahy, 15; s. den Hinweis bei Novotny´, Korespondence, 107, mit Auszug).
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Den Guten ein Ausharren in der Tugend, den Sündigen die heilige Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus. Liebe Herren und Brüder in der Gnade Gottes! 5 Mit großem Bangen vernehme ich, dass unter Euch Streit herrscht
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und Zwietracht in der Wahrheit Gottes, dass Ihr nach gutem Beginn schlecht weitermacht, Gott erzürnt, Eure Seelen verderbt, andern ein schlechtes Beispiel gebt und Eurem Ruf schadet. Für den kleinen Gewinn dieser Welt schätzt Ihr das ewige Leben gering. O, warum vergesst Ihr, dass der Erlöser spricht: Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse? 1 O, warum vergesst Ihr, dass Ihr ein gutes Beispiel für das ganze böhmische Land im guten Handeln, im Hören auf Gottes Wort, im Eindämmen des Bösen gewesen seid? O, wie konntet Ihr vergessen, dass Eure Einigkeit im Guten heilig ist, dass diese Euch vor den Feinden geschützt, Euch reich gemacht hat und hochgeschätzt vor Gott und den Menschen? Dies hat der Feind Gottes, der Teufel, bemerkt und bedauert es, und er hat den Antichrist und seine Werkzeuge aufgeweckt, damit sie aus Euch die Gnade und den Willen Gottes vertreiben und ihm, dem elenden Geist, das Haus zurückgeben, aus dem er vertrieben ist, damit er, Inbegriff der sieben bösen Geister, wiederum zurückkehren kann und es ärger sei als zuvor. Schon hat er Gelage, schon Spiele, schon andere Ruchlosigkeiten, die das Wort Gottes aus Euch vertrieben hatte, zu Euch zurückgebracht. Wo habt Ihr den Hirten Eurer Seelen, der Euch führe? Da ist keine sichtbare Wunde, keiner, der Mitleid hätte, um Euch, wie von Räubern Verletzten, Wein und Öl in die Wunde zu gießen und sie zu verbinden. Ihr habt unter Euch womöglich solche, die Gift daraufgießen, durch das Verkleinern der Schrift, und Öl, nicht wahre Liebe, sondern Schmeichelei. Wisst Ihr nicht, dass der Schmeichler ein süßer Feind ist, wer aber straft, der liebt, die Wunden heilt er, auch wenn der Gebrechliche unwillig ist und die Zähne fletscht. O heiliger Gregor, großer Papst, Du sagst: Der allein wird einst ein Freund sein, der den Schmutz aus meiner Seele kehrt. Lieber Heiliger, bitte für die Pilsener, dass sie Dir hierin folgen mögen und dass sie das wahre Wort Gottes preisen, die Predigten gegen die Sünden lieben, sich an die wahren Führer halten und die gefräßigen Wölfe von sich fernhalten. Und sie werden erkennen, dass der, der sie züchtigt, sie zu Gott hinführt, und der, der nur
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schmeichelt, sie von Gott wegführt. Wer schmeichelt, füttert mit Gift, wer züchtigt, tränkt mit Wein. Denk daran, dass sie bald sterben, und wohl dem, der einen guten Tod stirbt, doch wehe, wer verdammt dem ewigen Feuer verfällt. Oh, liebe Christen, Ihr wisst, dass ein guter Ruf besser ist als eine teure Salbe.2 Wohin wollt Ihr Euren guten Ruf werfen, der so war: „Die Pilsener sind die Einmütigsten, ihre Stadt verwalten sie ordentlich, das Wort Gottes lieben sie, sie verjagen die Frauen der Priester und die Kuppler, Würfelspiele haben sie verboten und anderen Städten ein gutes Beispiel geliefert.“ Treu ist Gott unter Euch getreten, hat Weizen gesät, und der Teufel hat das Unkraut darunter gestreut, um den Weizen zu ersticken. Beim lieben Herrgott, beim schmachvollen, überaus grausamen göttlichen Leiden, um Eurer Errettung, Eurer Ehre, der Besserung anderer und Eures eigenen Heiles willen: Die Ihr Euch geirrt habt, kehrt zur Wahrheit zurück; die Ihr heilig seid, werdet noch heiliger! Denn Gott der Herr spricht: Die Zeit ist nahe; wer Unrecht tut, der tue fernerhin Unrecht, und wer unrein ist, der bleibe fernerhin unrein, und wer gerecht ist, der bleibe auch ferner gerecht, und der Heilige heilige sich auch fernerhin. Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir: Einen jeden werde ich nach seinen Taten entlohnen.3 So spricht der Herr Jesus. Wenn Ihr sein liebes Wort annehmt und es bewahrt, dann gibt er zum Lohn das ewige Leben in unendlicher Freude; doch wenn Ihr es nicht annehmt und bewahrt, dann gibt er die ewige Verdammnis im ewigen Feuer, in Finsternissen unter den Teufeln, wo niemanden Ruhe noch Trost erwartet. Doch ich vertraue seiner heiligen Gnade und habe Hoffnung, daher schreibe ich Euch, auf dass Ihr Guten ausharrt und Ihr anderen Euch in allem Guten verbessert, und so werdet Ihr Söhne Gottes sein, Bürger jener Stadt, in der es keine Finsternis gibt und keine Betrübnis, und darin werdet Ihr Gott den Vater erblicken und alle Dinge erkennen und einer wird den anderen ganz so wie sich selbst lieben, und Ihr werdet alles haben, was ihr benötigt. Dieser Stadt Pilsen, jetzt gespalten, Euch allen mögen der Vater und Sohn und der Heilige Geist durch den Tod Christi des Herrn und mit Hilfe der Jungfrau Maria und aller Heiligen beistehen. Amen. Nach Fertigstellung des Briefes habe ich einen Brief erhalten, in dem geschrieben steht, dass die Priester verbieten, das Evangelium in der natürlichen Sprache, auf Tschechisch oder auf Deutsch, zu lesen. 2
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Zum anderen, dass irgendein Priester gepredigt hat, dass niemand, der in Todsünde lebt, ein Diener und Sohn des Teufels sei. Zum Dritten, dass er in der neuen Messe gepredigt hat: Solange jener Priester noch nicht die Messe gelesen hatte, war er ein Sohn Gottes; aber heute und danach, wenn er die Messe lesen wird, ist er ein göttlicher Vater und Schöpfer des göttlichen Leibes. Zum vierten, dass dieser Geistliche gepredigt hat, dass der schlimmste Priester besser sei als der ehrenwerteste Laie. Wenn dies der Fall ist und niemand sich gegen diese Irrlehren stellt, dann steht ein großes Zeichen über Euch, dass Ihr stark von der Wahrheit abgefallen seid, und besonders diejenigen, die Lehre und Verstand haben. Denn wie sagt doch der heilige Johannes Chrysostomus im Hinblick auf jenes Wort Christi, unseres Erlösers: Fürchtet euch nicht vor jenen, die den Leib töten,4 und mit diesen Worten hat Christus angezeigt, dass nicht allein der ein Verräter an der Wahrheit ist, der zaghaft die Wahrheit predigt, sondern auch, wer die Wahrheit nicht aus freien Stücken verteidigt, obwohl es ihm ansteht, sie frei zu verteidigen, ist ein Feind der Wahrheit. Denn wie der Priester verpflichtet ist, die Wahrheit, die er von Gott vernommen hat, mutig zu verkünden: So ist auch der Laie, d. h. wer nicht Priester ist, verpflichtet, dass er die Wahrheit, die er von dem Priester, vorgetragen aus der Heiligen Schrift, vernommen hat, in festem Vertrauen verteidigt; sofern er dies nicht tut, verrät er die Wahrheit. Und so habt Ihr einen großen heiligen Grund aufgrund des Wortes Christi: Fürchtet euch nicht vor jenen, die den Leib töten,5 dass ein jeder, sowohl Priester als Laie, der die Wahrheit kennt, diese bis zum Tode verteidigen soll, andernfalls wäre er ein Verräter an der Wahrheit und damit auch an Christus. Und viele von Euch kennen die Wahrheit, und Ihr seid gelehrt, dass ein jeder Mann das Gesetz Gottes aussprechen, bekennen, und – sofern er dies vermag – auch lesen kann, sei es nun in Latein, wie der heilige Markus sein Evangelium schrieb, sei es in Griechisch, wie der heilige Johannes sein Evangelium und die kanonischen Briefe schrieb, sei es in Hebräisch, wie der heilige Matthäus sein Evangelium geschrieben hat, sei es in Syrisch, wie der heilige Lukas sein Evangelium geschrieben, sei es in Persisch, wie der heilige Simon sein Evangelium predigte und geschrieben hat, sei es Judäisch, wie der heilige Bartholomäus, und so auch in anderen Sprachen: Wieso lasst Ihr die Priester die Leute daran hindern, das Gesetz Gottes in Tschechisch oder Deutsch zu lesen? Auch zum zweiten Punkt, ob Ihr nicht wisst, dass man nicht Gott 4
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in Tugend und dem Teufel in Sünde dienen kann? Ich weiß, dass Ihr vernommen habt, dass Christus spricht: Niemand kann zwei Herren dienen ,6 und dann: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon .7 Und Ihr wisst auch, dass der heilige Petrus spricht: Von wem jemand überwunden ist, dessen Diener ist er. 8 Und Christus spricht: Wer Sünde tut, ist Diener der Sünde .9 Und der heilige Paulus spricht zu den Römern: Diener der Sünde seid ihr gewesen .10 Wie könnt Ihr, wenn Ihr die Heilige Schrift kennt, dulden, dass ein Priester predigt, ein Mensch, der in Todsünde lebt, sei dennoch kein Diener des Teufels? Auch weiß ich, dass Ihr vernommen habt, dass der Herr Jesus spricht, dass das Unkraut eine zornige Brut ist, die der Teufel in die Welt gesetzt hat,11 und dass er auch den Bösen sagt: Ihr seid vom Vater, dem Teufel, und nach des Vaters Lust wollt ihr tun;12 und er liefert den Grund, indem er sagt: Ihr könnt ja mein Wort nicht hören, weil ihr vom Vater, dem Teufel, seid.13 Und der heilige Johannes, der Apostel, spricht durch den Heiligen Geist: Ihr Söhne, keiner möge euch verführen; wer die Wahrheit lebt, der ist gerecht, wie Christus gerecht ist, und wer in Sünde handelt, der ist vom Teufel.14 Und nachfolgend sagt er: Darin werden die Söhne Gottes und die Söhne des Teufels offenbar: Jeder, der nicht gerecht ist, ist nicht aus Gott.15 Da habt Ihr es also, dass jeder Todsünder vom Teufel ist und ein Sohn der Teufel: Wieso lasst Ihr dann eine Irrlehre gegen dieses heilige Schriftwort Christi predigen? Wisset, dass derjenige, der so predigt, ein Diener und Sohn der Teufel ist, und er ist schlimmer als der geringste gute Laie. Und so ist dieser Priester kein göttlicher Vater; denn wenn Gott ein Sohn dieses Priesters wäre und dieser Priester ein Sohn der Teufel, dann wäre also Gott auch ein Sohn der Teufel! Also ist auch dieser Priester, der diesen Irrtum predigt und daran festhält, nicht Schöpfer des göttlichen Leibes, sondern Vermehrer einer großen Ketzerei. Soll er doch all seine Brüder zu Hilfe nehmen und mit ihnen auch nur eine einzige Nisse erschaffen, dann werde ich ihnen bekennen, dass sie Schöpfer sind. Dies weiter zu verfolgen, würde hier zu weit führen. Oh, Ihr mutigen Christen, seid Ihr denn alle schon tot, dass Ihr es zulasst, Irrlehren zu verteidigen und Gottes Wort zu verkürzen? Macht die Augen auf und gebt nicht dem Teufel über Euch die Herrschaft! Möge Euch Gott, der allein Schöpfer zu sein vermag und ist, hierbei helfen. Amen.
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Mt 6,24. Joh 8,44.
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Mt 6,24. 8 2Petr 2,19. Joh 8,43. 14 1Joh 3,7 f.
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Joh 8,34. 1Joh 3,10.
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Röm 6,20.
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Vgl. Mt 13,38.
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19 APPELLATION DES MAGISTERS JOHANNES HUS GEGEN DIE URTEILSSPRÜCHE DES RÖMISCHEN BISCHOFS AN JESUS CHRISTUS, DEN HÖCHSTEN RICHTER [18. Oktober 1412]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 464–466 (Nr. 49).
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Einleitung Nr. 19
1412 fanden die „kritischen Jahre“ im Leben Hussens ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluss. Nachdem im April eine römische Synode Wyclifs Lehre als häretisch verurteilt hatte und im Mai in Prag eine Bulle Papst Johannes’ XXIII. eingetroffen war, die die Gewährung von Ablässen zur Unterstützung eines Kreuzzuges gegen König Ladislaus von Neapel verkündete, reagierte Hus – ein Verbot des neuen Prager Erzbischofs Albík von Neustadt und der Prager Theologischen Fakultät missachtend – mit einer den Ablasshandel scharf attackierenden Rede in der Universität sowie in gleicher Weise ausgerichteten Predigten in der Bethlehemskapelle. Diese öffentlichen Auftritte hatten Unruhen in Prag zur Folge. Damit verlor Hus weitgehend die Unterstützung seines weltlichen Schutzherrn, König Wenzels IV., der finanziell vom Ablasshandel profitierte. Wohl im Juli verkündete Kardinal Pietro degli Stephaneschi darüber hinaus einen verschärften Kirchenbann gegen Hus wegen dessen Nichterscheinen vor der Kurie. Die entsprechende Urkunde traf kurz vor der turnusmäßigen Synode im Oktober 1412 in Prag ein. Am 18. Oktober wurde die Aggravation des Kirchenbanns gegen Hus in Prag verkündet. Hussens Appellation an den „höchsten Richter“, das heißt Jesus Christus selbst, stellte die Antwort darauf dar. Den lateinischen und tschechischen Text schlug er – vermutlich ohne Rücksprache mit seinem juristischen Berater Johann von Jessenitz – demonstrativ am Tor des Kleinseitner Brückenturms in unmittelbarer Nähe der erzbischöflichen Residenz an. Hus rekapitulierte darin die Gründe, die ihn zu einem derartigen ungewöhnlichen, keineswegs jedoch einzigartigen Schritt veranlassten. Seiner Auffassung nach war der gegen ihn verhängte Bann ungültig, da mit dem inzwischen verstorbenen Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg im Sommer 1411 unter königlicher Vermittlung eine Schlichtung erreicht worden war. Hus verkündete allen Christgläubigen, dass sein alter Gegner Michael de Causis, die Kanoniker der Prager Kirche sowie Kardinal Stephaneschi die Schuld für den erneuten Bann trügen. Gegen die im Prozess zu seinen Ungunsten gefallene Entscheidung protestierte er. Von einem streng rechtlichen Gesichtspunkt aus war ein solcher Akt natürlich unzulässig und unwirksam, weil das kanonische Prozessrecht Christus als oberste Gerichtsinstanz nicht anerkannte.
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„Grundlos bei Gott eingelegte Berufung des Johannes Hus“1
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Weil der allmächtige Gott, einer im Wesen, dreifach in den Personen, die erste und letzte Zuflucht der Bedrückten ist und ein über die Wahrheit im irdischen Leben wachender Herr, der denen [gerechtes] Urteil verschafft, die Unrecht erleiden, der all denen nahe ist, die ihn in der Wahrheit anrufen, der losbindet, die da gefesselt sind, der den Willen derer tut, die ihn fürchten, und die beschützt, die ihn lieben, und der alle unverbesserlichen Sünder verdirbt, und weil Christus Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch, in seiner Not von Hohepriestern, Schriftgelehrten, Pharisäern, ungerechten Richtern und Zeugen umgeben, als Gottes Sohn durch überaus qual- und schmachvollen Tod die vor Erschaffung der Welt Erwählten von der ewigen Verdammnis als der Sohn Gottes erkaufen wollte, hat er denen, die ihm nachfolgen, jenes vortreffliche Exempel zum Gedenken hinterlassen, dass sie ihre Sache dem allmächtigen, allwissenden und allgütigen Herrn übergeben sollen, und tat dies mit folgenden Worten:2 Ach, Herr, sieh an mein Elend, denn der Feind triumphiert! 3 Denn du bist mein Helfer und Hort,4 Du, Herr, hast es mir kundgetan, und ich habe erkannt; du hast mir ihre Pläne gezeigt, und ich war wie ein argloses Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wusste nicht, dass sie gegen mich beratschlagt und gesagt hatten: „Lasst uns ein Holz in sein Brot stecken und ihn aus dem Land der Lebendigen ausrotten, dass seines Namens nimmer gedacht werde.“ Du aber, Herr Zebaoth, der du richtest gerecht und prüfest Nieren und Herzen, lass mich sehen, wie du ihnen vergiltst; denn dir habe ich meine Sache befohlen.5 Denn die mich peinigen, sind so viele,6 und sie haben sich miteinander beraten und sprechen: Gott hat ihn verlassen; jagt ihm nach und ergreift ihn, denn da ist keiner, der ihn befreit! 7 Sieh also, Herr, und schau ,8 denn du bist meine Geduld. 9 Errette mich von meinen Feinden,10 „du bist mein Gott ...“, sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer .11 Mein Gott, schaue auf mich,warum hast du mich verlassen? 12 Denn die Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt.13 Denn mit gespaltener Zunge haben sie wider mich geredet und mit Hasstiraden mich Palacky´s Vorlage stammt offensichtlich von einem Gegner des Jan Hus. 2 Übersetzungen nach dem Vulgatatext, der vom hebräischen vielfach abweicht, zumal beim Psalter, bei dem sich Hus stets auf die erste Version, nach der Septuaginta, bezieht. 3 Klgl 1,9. 4 Ps 119 (= 118 Vg.), 114. 5 Jer 11,18–20. 6 Ps 3,2. 7 Ps 71 (= 70 Vg.),10 f. 8 Klgl 1,11; 2,20. 9 Ps 71 (= 70 Vg.),5. 10 Ps 143 (= 142 Vg.),9. 11 Ps 22 (= 21 Vg.),11 f. 12 Ps 22 (= 21 Vg.),2. 13 Ps 22 (= 21 Vg.),17.
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Appellation an Christus
umgeben und streiten wider mich ohne Grund. Dafür, dass ich sie liebe, feinden sie mich an. Sie erweisen mir Böses für Gutes und Hass für Liebe.14 Sieh, gestützt auf das überaus heilige und fruchtbare Exempel des Erlösers, appelliere ich gegen eine schlimme Bedrückung, ein ungerechtes Urteil und eine vorgebliche Exkommunikation durch die Hohenpriester, Schriftgelehrten, Pharisäer und Richter, die auf dem Stuhl des Mose sitzen,15 an Gott, dass er sich meiner Sache annehme, darin den Spuren des Erlösers Jesus Christus folgend, so wie auch der heilige und große Patriarch von Konstantinopel, Johannes Chrysostomus,16 gegen ein doppeltes Konzil, das der Bischöfe und der Kleriker, und die hoffentlich seligen Bischöfe Andreas von Prag17 und Bischof Robert von Lincoln18, die gegen den Papst in ihrer widerrechtlichen Bedrückung demütig und heilsam an den höchsten und gerechtesten Richter appelliert haben, der nicht durch Furcht erschüttert, nicht durch Vorlieben gelenkt, nicht durch ein Geschenk bestochen und nicht durch falsche Zeugen getäuscht wird. Ich wünsche also, dass alle Christgläubigen und insbesondere die Fürsten, Adligen, Ritter, Edelleute und alle anderen Einwohner des Königreichs Böhmen wissen und mit mir leiden, der ich durch eine vorgebliche Exkommunikation so schwer bedrückt bin, die insbesondere erwirkt wurde durch den Anstifter, meinen Feind und Gegner Michael de Causis19, einstiger Priester an der Kirche des heiligen Adalbert in der Prager Neustadt, mit Zustimmung und Hilfe der Kanoniker der Prager Kirche, verhängt und hinausgeschleudert durch Petrus, Kardinaldiakon der römischen Kirche des Titels St. Angelo,20 dem vom römischen Papst Johannes XIII. verordneten Richter, der fast zwei Jahre lang meinen Anwälten und Prokuratoren keine Audienz geben wollte, die nicht einmal einem Juden, Heiden oder Häretiker verweigert werden darf. Auch wollte er sich mit keiner begründeten Entschuldigung wegen meines persönlichen Nichterscheinens zufriedengeben noch Zeugnisse der Universität Prag mit angehängtem Siegel und Beglaubigung öffentlicher, zur Bezeugung berufener Notare mit väterlicher Ps 109 (= 108 Vg.),3–5. 15 Mt 23,2 ist die Rede von den Schriftgelehrten und Pharisäern, die auf dem Stuhl des Mose sitzen. 16 Johannes Chrysostomus (ca. 344/349– 407). 17 Bischof von Prag 1214–1224. 18 Robert Grosseteste (ca. 1170–1253), Bischof von Lincoln 1235–1253. 19 Michael von Deutschbrod, genannt De Causis, früher Pfarrer zu St. Adalbert in Prag, von den Hus-Gegnern nach Rom entsandt, wo er von Papst Johannes XXIII. zum procurator de causis fidei ernannt wurde. 20 Pedro de Fonseca war der von Papst Benedikt XIII. kreierte Kardinaldiakon von Sant’Angelo in Pescheria von 1413 bis zu seinem Tod 1422.
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Milde gütig annehmen. Daher ist offensichtlich, dass ich nicht unter das Merkmal der Widerspenstigkeit falle, da ich nicht aus Missachtung, sondern aus vernünftigen Gründen nicht erschienen bin, als ich vor die römische Kurie zitiert wurde: einmal, weil mir überall auf dem Weg Hinterhalte gelegt worden waren, dann, weil mich andere Gefahren vorsichtig gemacht hatten, so die Beraubung und Gefangennahme der Magister Stanislaus21 und Stefan Pa´ leˇ c,22 die, als sie ihrer Vorladung nachkommen wollten, in Bologna ihres Geldes und anderer Dinge beraubt und schimpflich eingesperrt und wie Verbrecher behandelt wurden, ohne dass überhaupt irgendein Verhör stattgefunden hätte; dann auch, weil meine Prokuratoren sich zur Feuerstrafe verpflichten wollten gegenüber jedem, der sich mir an der römischen Kurie entgegenstellen und Partei ergreifen wolle; schließlich auch, weil man meinen rechtmäßigen Prokurator an der besagten Kurie einsperrte, ohne dass dies, wie ich meine, irgendeine Schuld erfordert hätte. Weil nun in sämtlichen alten Gesetzen, sowohl des göttlichen Gesetzes Alten und Neuen Testaments als auch des kanonischen Rechts, die Bestimmung gilt, dass die Richter die Orte aufsuchen, wo das Verbrechen geschehen sein soll, und dort diejenigen zum Vorwurf gegen den Angeklagten oder Verleumdeten befragen, die den Angeklagten durch ihren Umgang kennen, die auch keine böswilligen Rivalen oder Feinde des Angeklagten sind, die auch ehrenhaft sein sollten, keine Verleumder, sondern eifrige Liebhaber des Gesetzes Jesu Christi, schließlich auch, dass dem Zitierten oder Beschuldigten ein geeigneter und sicherer Zugang gewährt wird und Richter samt Zeugen nicht dessen Feinde sein dürfen, diese Bedingungen aber für mein Erscheinen nicht gegeben waren, ist offensichtlich, dass ich, aufgrund berechtigter Sorge um Leib und Leben, vor Gott [vom Vorwurf] der Widerspenstigkeit sowie von der vorgeblichen und leichtfertigen Exkommunikation freigesprochen bin. Ich, Johannes Hus aus Husinec, Magister der freien Künste, baccalaureus formatus der heiligen Theologie an der hohen Universität zu Prag, Priester und bestellter Prediger an der Bethlehemskapelle, richte Stanislaus von Znaim (um 1360–1414), böhmischer Theologe und Anhänger Wyclifs, weshalb er 1405 an die Kurie nach Rom zitiert wurde. Auf dem Weg dorthin wurden er und Stefan von Pa´ lecˇ in Bologna für mehrere Monate eingekerkert. 22 Stefan von Pa´ lecˇ (ca. 1370–1424) war ein böhmischer Theologe, Anhänger Wyclifs und Rektor der Prager Universität. Zeitweise mit Hus sympathisierend, kehrte er sich später von ihm ab und wurde während des Konstanzer Konzils zu einem seiner entschiedensten Gegner. 21
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Appellation an Christus
diese Appellation an den Herrn Jesus Christus, den gerechtesten Richter, der eines jeden Menschen gerechte Sache kennt, beschützt und gerecht beurteilt, offenbart und unfehlbar belohnt.
20 VERTEIDIGUNG EINIGER ARTIKEL DES JOHN WYCLIF [Sommer 1412]
Übersetzungsgrundlage: [I] MIHO XXII, 141–232; zur Übersetzung ausgewählt wurde der Abschnitt 205–232; MIHO/CC XXII, 146–257 (hier 224–257); bearbeitete deutsche Übersetzung: Kalivoda/Kolesnyk, 135– 155. [II] Lateinisch mit deutscher Übersetzung in Conciliorum oecumenicorum decreta, 411–416; die deutsche Übersetzung folgt weitgehend der Vorlage.
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Einleitung Nr. 20
Der Konflikt zwischen Hus und der Amtskirche hatte seine Wurzeln in der Aufnahme der Lehren des Oxforder Theologen John Wyclif in Böhmen und insbesondere an der Universität Prag zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Wyclifs Theologie und Kirchenkritik machten großen Eindruck auch auf den Studenten und späteren Magister Johannes Hus, doch war Hus zunächst keineswegs der prominenteste unter den Prager Wyclif-Anhängern. Auch wurde er erst zu einem relativ späten Zeitpunkt zur Zielscheibe der gegen den Wyclifismus gerichteten Maßnahmen des Prager Erzbischofs und der römischen Kurie. Seit spätestens 1409 aber trat Hus mehrfach offen für Wyclif ein, den er zum Beispiel gegen John Stokes verteidigte (vgl. diese Ausgabe Nr. 16). Hus übernahm Begriffe und Ideen von Wyclif, bewahrte gegenüber dem Engländer aber immer eine gewisse theologische Selbständigkeit. Dies gilt insbesondere für Wyclifs Abendmahlslehre, die von Hus nicht rezipiert wurde. Im amtskirchlichen Verfahren gegen Hus und im Konstanzer Urteil spielte der Vorwurf, er vertrete Wyclifsche Ketzereien, eine zentrale Rolle (vgl. diese Ausgabe Nr. 36). Die von den Gegnern zusammengestellten 45 Artikel Wyclifs waren die wichtigste unter den kursierenden Listen der Wyclifschen Irrtümer. Die 45 Artikel wurden im Juli 1412 von der Prager antiwyclifschen Partei noch einmal ausdrücklich als ketzerisch verurteilt. Dennoch fand im Sommer 1412 an der Prager Universität eine Disputation statt, in der die Artikel erörtert wurden. Hus beteiligte sich daran durch Verteidigung einiger der inkriminierten Artikel, wobei er streckenweise wörtlich auf Wyclif-Schriften zurückgriff. Die Entlehnungen aus Wyclif werden im Folgenden nicht eigens gekennzeichnet. Der vorliegende Text (Nr. 20.I) entstand im Zusammenhang mit dieser Disputation. Er gibt einen Eindruck von der Wyclif-Rezeption Hussens in der reifen Phase seiner theologischen Entwicklung und illustriert seine akademisch-scholastische Argumentationstechnik. Zur Orientierung wird die Liste der 45 in Konstanz verurteilten Wyclifschen Artikel in deutscher Übersetzung beigegeben (Nr. 20.II).
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[I] Zu den Artikeln 15 und 4
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Keiner ist weltlicher Herr, keiner Prälat und keiner Bischof, solange er in Todsünde lebt.1 Der Artikel hat drei Teile: Erstens: Keiner ist weltlicher Herr, solange er sich in Todsünde befindet. Zweitens: Keiner ist Prälat,2 solange er sich in Todsünde befindet. Drittens: Keiner ist Bischof, solange er sich in Todsünde befindet. Als Erstes ist festzustellen, dass Herrsein ein Haben voraussetzt. Und obwohl es nach Aristoteles3 und dem Autor der Sechs Prinzipien4 vielfältige Arten des Habens gibt, so genügen für unseren Gegenstand drei Arten des Habens, nämlich das natürliche, das weltliche und das geistliche Haben. Auf die erste Art des Habens besitzen die Sünder die natürlichen Güter, und doch nicht schlechthin zu Recht, sondern zu Unrecht. Das weltliche Haben aber ist die Art des Habens, auf die die Mächtigen der Welt die Güter des Glücks oder Zufalls haben; und das in doppelter Weise, in äquivokem Sinn, nämlich wirklich und vorgeblich. Aber auf die dritte Art des Habens, die bestmögliche nach dem Genus, haben nur die, die im Stande der Liebe und Gnade sind, das, was sie haben. Daher sagt wegen dieses so äquivoken5 Habens der Heiland: Wer nicht hat, von dem wird man nehmen, auch was er hat .6 Da zeigt sich deutlich der oben genannte Unterschied. Daher haben der Gerechte wie der Ungerechte ihre zeitlichen Güter hier auf diesem Lebenswege ebenso äquivok, wie von einem Petrus, der seine Herrschaft auf tyrannische Weise okkupierte, gesagt würde, er habe sie, im Vergleich zu einem Paulus, der die seinige nach Erbrecht hat.7 Zweitens ist festzustellen, dass ein anderes das göttliche Recht ist, ein anderes das Kirchenrecht, ein anderes das weltliche Recht. Das göttliche Recht ist von Gott allein eingesetzt, von Christus durch Wort und Tat erklärt als Gesetz des Evangeliums. Kanonisches Recht wird jenes Recht genannt, das von einem oder mehreren Prälaten eingesetzt und veröffentlicht worden ist, um die zu bändigen, die gegen die heiligen Regeln rebellieren. Und man kann es als in Übereinstimmung mit dem evangelischen Recht befindlich erkennen, wozu auch die Glaubensartikel gehören, die in heiligen SynoVgl. Nr. 20.II Art. 15. 2 Das heißt: ein geistlicher Vorgesetzter. 3 Aristoteles, Metaphysik IV 23. 4 Der Gilbertus Porretanus (Gilbert von Poitiers) zugeschriebene Traktat des 12. Jahrhunderts Liber sex principiorum, in dem die aristotelischen Kategorien diskutiert werden. 5 mehrdeutigen. 6 Mt 13,12; Mk 4,25; Lk 19,26. 7 „Petrus“ und „Paulus“ bei Wyclif rein fiktiv. 1
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Verteidigung einiger Artikel des John Wyclif
den oder Konzilien ausgelegt worden sind. So wie nämlich der Mensch derselbe ist, wenn auch wechselnd in Kleidung und [anderen]8 Merkmalen, die von ihm Kenntnis vermitteln, so ist es dieselbe evangelische Gesetzeswahrheit, die im Evangelium verborgen oder enthüllt ist und die von der Kirche später anders, aber nicht entgegengesetzt ausgelegt worden ist, wie bei dem von uns vertretenen Glauben deutlich ist. Das weltliche Recht aber ist von Menschen aufgrund der Sünde erfunden, um dem Staat ein Zwangsrecht zu geben über die Güter des Leibes und die des Besitzes, so, wie das evangelische Recht den Bereich der Güter der Gnade ordnet. Und diese Dreiteilung lässt sich auf folgende Zweiteiligkeit reduzieren: Ein anderes ist das göttliche Recht, ein anderes das menschliche Recht. Das göttliche Recht ist ein Recht, das von Gott eingegeben ist. Das menschliche Recht ist ein Recht, das von Menschen aufgrund der Sünde erfunden ist. Doch sind diese Glieder in ihrem Verhältnis nicht aufgrund eines Gegensatzes unterschieden, denn alles wahre Recht ist göttliches Recht. Aber die Art der Eingebung, Veröffentlichung und Durchführung macht für uns den Unterschied. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung von natürlicher und weltlicher Herrschaft. Natürliche Herrschaft ist die von Gott eingesetzte Herrschaft, begründet im ersten Titel des Rechts,9 die beliebig viele reiche Leute unter gleichem Recht zulässt, Besitzveräußerung aber von Rechts wegen nicht erlaubt. Weltliche Herrschaft dagegen ist die aufgrund der Sünde von Menschen errichtete Herrschaft, nicht unter einzelnen10 gleichermaßen berechtigten Herren teilbar, aber ohne Rechtsverstoß abtretbar. Drittens ist festzustellen, dass eines das aktiv Gerechte ist, eines das passiv , von außen erlebte Gerechte. Auf die erste Art ist allein das gerecht, was in sich Gerechtigkeit als eine ausgebildete Tugend hat; und das geschieht auf zweierlei Weise, entweder indem diese Gerechtigkeit das wesenhafte Sein des Gerechten ausmacht, auf welche Art nur Gott gerecht sein kann, oder indem diese Gerechtigkeit hinzutritt nach Art einer Eigenschaft, und so sind die vernünftigen Geschöpfe, die nur in der Gnade gerecht sind. Auf die zweite Art ist jede Kreatur gerecht, da „gerecht“ und „gut“ bei Seiendem schlechterdings austauschbar sind. Die Gerechtigkeit aber, die von Natur aus und von
Zu ergänzen ist aliis. 9 Der bei Wyclif sehr häufig gebrauchte Begriff des titulus hier im Sinne von Rechtsanspruch. 10 Text wohl verderbt; zu lesen ist möglicherweise singulis [Wyclif] ex aequo iustis (vgl. De civ. dom I18, Poole 125,9 f.).
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selbst das Geschöpf begleitet, ist die Güte, durch die das Geschöpf geformt wird nach dem Willen des ersten Prinzips. Die Beweise für diese dreifache Teilung will ich jetzt lassen, weil sie aufhalten. Viertens ist festzustellen, dass der Begriff Herrschaft bald der Form nach gebraucht wird, bald der Rechtssache oder dem Gegenstand nach, d. h. bezüglich des Herrschaftssubjekts, des Rechtsgrunds oder des Umfangs, auf den sich die formale Herrschaft erstreckt;11 so nennt das Volk ein Besitzstück Herrschaft und sagt, Güter und Landbesitzungen sind für den Besitzer eine Herrschaft. Doch jetzt soll die Rede sein von der Herrschaft in ihrem formalen Verständnis, und das ist der Zustand einer vernünftigen Natur, demzufolge es heißt, sie sei ihrem Dienenden vorgesetzt – so wie ein Mensch weltlicher Herr heißt, insofern er einem Dienenden vorsteht (gut oder schlecht). Nachdem dies festgestellt ist, soll folgende Supposition gelten: Niemand im Stande der Todsünde hat per se ein Anrecht auf irgendein Gut Gottes. Und damit die Erklärung des Satzes nicht behindert wird durch Mehrdeutigkeit oder Unkenntnis der Ausdrücke, füge ich an, dass nur von dem gelten soll, er habe per se ein Anrecht auf irgendein Gut oder an ihm, der völlig zu Recht ebendas besitzt oder hat, was er gleichzeitig nicht zu Unrecht hat; so freilich, dass jemand, der zu irgendeiner Zeit etwas12 zu Unrecht hat, dieses zur selben Zeit nicht per se zu Recht hat. Nachdem dies festgestellt und supponiert ist, wird für den ersten Teil des Artikels der Beweis geführt, erstens so: Alles menschliche Recht setzt göttliches Recht ursächlich voraus; also setzt auch alle im Hinblick auf Menschen gerechte Herrschaft ein göttliches Recht im Hinblick auf Gott13 voraus. Aber jeder, der in Todsünde lebt, entbehrt als solcher der gerechten Herrschaft im Hinblick auf Gott,14 also auch gerechter Herrschaft schlechthin. Wie nämlich in einer logischen Relation die Folgerung aus einem schlechthin Gegebenen15 gilt , so gilt: Wenn etwas gerecht oder ungerecht ist im Hinblick auf Gott, dann ist es schlechthin so, da die erste Regel nicht je nach Belieben außer Kraft gesetzt werden kann. Und dass jeder, der in Todsünde ist, als solcher Zur terminologisch schwierigen Stelle vgl. die vier Aspekte bei Wyclif (De dom. div. I1, Poole, 6,28 ff.): Herrschaftsverhältnis, -subjekt, -grund, -besitz (relatio – subiectum dominans – ius in quo fundatur dominium – possessum ). 12 Hier muss aus Wyclif (De civ. dom., Poole, 2,2) bei Hus ein quidquam ergänzt werden. 13 Die tautologische Wendung ius divinum quoad deum durch Abschreibefehler; es muss heißen (wie auch bei Hus im nächsten Satz und bei Wyclif schon hier) iustum dominium quoad deum. 14 S. obige Anm. 15 Text hier verderbt.
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der wahren Herrschaft entbehrt, wird so bewiesen: Alles Gute, das ein solcher besitzt, besitzt er zu Unrecht. Also versagt er in der wahren Herrschaft über alles, was sich beherrschen lässt. Der Vordersatz wird bewiesen: Der Sünder besitzt nur so, wie er ist, aber wie er auch sei, ist er zu Unrecht, also auf welche Art er auch besitzt, besitzt er zu Unrecht. Der Obersatz ergibt sich daraus, dass die Todsünde, indem sie die Natur befällt, erst recht jede äußere Erscheinungsform oder Bestimmung derselben befällt, wie zum Beispiel, wenn das Leben eines Menschen ungerecht ist, er also ungerecht lebt, jede seiner Handlungen ungerecht ist, denn er handelt nicht anders, als er lebt. Und da Leben für die Lebenden Sein bedeutet, nach dem 2. Buch „Über die Seele“,16 so ergibt sich: Wie er zu Unrecht ist und lebt, so ist er zu Unrecht Herr und ist zu Unrecht Substrat für jedes ihm anhängende Akzidens. Diese Erklärung mag vielen sophistisch erscheinen, sollte indes jedem Metaphysiker vollauf genügendes Zeugnis der Glaubwürdigkeit sein, denn sie ist der Schluss des ersten Philosophen, der Mt 6 so spricht: Wenn dein Auge rein ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Ist aber dein Auge ein Schalk, so wird dein ganzer Leib finster sein.17 In diesem Wort liegt nach den heiligen Lehrern folgender Sinn: Wenn die Bestrebung richtig ist, so wird die ganze Menge der folgenden Handlungen gerecht sein; und wenn die Bestrebung von der Gerechtigkeit abweicht, dann ist die ganze Menge der Werke, auch der ihrer Art nach guten, ungerecht. Gerechtigkeit ist nämlich nach Aristoteles im 5. Buch der Ethik18 die hervorragendste der Tugenden, sie leuchtet unter den andern hervor wie der Abendstern unter den Gestirnen; auf diesen Sinn scheint Christus anzuspielen, wenn er die Gesamtheit der gerechten Werke licht nennt und die Gesamtheit der ungerechten Werke finster. Und wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass der Sünder zu Unrecht Leib und Seele und Organe oder irgendein anderes natürliches Gut hat, so wird offenbar ganz richtig geschlossen. Denn wenn ein solcher ungerecht lebt, so ist klar, dass er zu Unrecht eine Seele und somit das Leben hat, sonst hätte die Wahrheit, die nicht lügen kann, nicht so oft gesagt, dass der, der sein Leben liebt und es zu seinem Vergnügen entgegen der Gerechtigkeit lieben will, es verlieren wird, wie es Joh 12 heißt.19 Denn niemand verliert, was er besitzt oder hat, wenn er nicht das Recht daran verliert. Also wenn er das Recht verliert, so verliert er wahrhaftig alles, was er hat. Unter anderem erörtert D. h. nach Aristoteles, De anima II (tatsächlich De vita et morte I, 467b 18). 6,22 f. 18 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea V 3, 1129b 27. 19 Joh 12,25. 16
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Augustinus, 1. Homilie über Johannes,20 dass die Sünde das Nichts ist und die Menschen zu nichts werden, wenn sie sündigen. Denn niemand, der Todsünde begeht, besitzt in diesem Fall Leib und Seele und auch kein äußeres Gut, es sei denn äquivok; denn da er das Sein aus lauter Gnade besitzt, welches Sein nach dem Naturrecht gehalten ist, im Gnadenstand zu verbleiben, so bleibt er, wenn er die Regel dieses Rechts verlässt, kein Geschöpf oder Besitzer von etwas, es sei denn nur äquivok. Also ist kein Mensch im Stande der Todsünde weltlicher Herr, es sei denn äquivok oder vorgeblich. Ebenso wird auf folgende Art bewiesen: Wenn es vorkommt, dass ein Ungerechter eindeutig rechtmäßig über Irdisches herrscht, so träfe damit auch zu, dass ein Ungerechter völlig gerecht die irdischen Güter gebrauchen kann, über die er keine eindeutig gerechte Herrschaft hat. Die Folgerung ergibt sich daraus, dass niemand eine freie und völlig rechtmäßige Herrschaft hat, dem von Rechts wegen jede Nutzung verweigert werden muss. Denn jedem rechtmäßigen Besitzer ist es erlaubt, sein Eigentum rechtmäßig zu nutzen. Doch gegen die Zulässigkeit des Folgesatzes wird so argumentiert: Dann würde ja auch ein ungerechter Petrus, der irdischen Besitz hat und davon den Armen Almosen gibt, unter welchen Umständen du willst, sofern er selbst jedoch ungerecht bliebe, usw.21 Und so zeigt sich, dass, wenn der Gebrauch von irdischen Gütern seitens des Ungerechten kein ungerechter wäre, es ganz besonders hier der Fall wäre; denn vornehmlich solch eine Handlung ist ein Gut der Art nach, durch nichts zu verderben als durch die Ungerechtigkeit, in der er Almosen verteilt und somit ungerecht ist. Wenn man dies zugibt, verdürbe er auf die gleiche Art auch jedes andere gute Werk, denn bei jedem beliebigen Werk, in Begleitung der Ungerechtigkeit,22 läuft es ebenso ab. Wird also angenommen, dass der ungerechte Petrus nicht auf ungerechte, sondern völlig gerechte Weise verteilt habe, so steht dem entgegen: Kein äußeres Werk ist per se gerecht, außer es geht von der Tugend der Gerechtigkeit aus; aber dem Almosenverteilen des Petrus fehlte die Tugend der Gerechtigkeit in Petrus, da er bestimmt ist durch den konträren Zustand der Ungerechtigkeit; also ist das angenommene Verteilen nicht schlechthin gerecht. Ja, weil Gerechtigkeit die ganze Tugend wäre, nach dem 5. Buch der Ethik,23 so hat er, wenn er gerecht Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus 1 (PL 35,1385). 21 Zu ergänzen ist pure iuste uteretur temporalibus („[...] völlig rechtmäßig irdische Güter gebrauchen“). 22 Mit Wyclif (De civ. dom. I1, Poole 4,10) ist hier iniustitia comitante zu lesen. 23 Aristoteles, Ethica Nicomachea V 3, 1130a 9.
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verteilt hat, tugendhaft verteilt und ist demnach ein Mann von Tugend, der wohlgefällig und verdienstlich vor Gott handelt. Das wäre folglich gegen die gesamte Lehre der Philosophen und Ethiker,24 die sagen, dass, wer in Todsünde ist, ein der Art nach gutes Werk tun kann, aber nicht in guter Weise. Ebenso fordert Gott von diesem wie von jedem, der auf dem Wege ist, dass er nichts tut außer in der Gnade; dieser aber handelt außerhalb der Gnade, weil er in Todsünde ist, wie vorausgesetzt war, also handelt er anders, als er soll. Auch verpflichtet diese geforderte Andersartigkeit des Handelns den Petrus nicht zu anderem Handeln unter beliebiger Strafe, sondern bei Strafe der Todsünde. Daraus ergibt sich: Wenn Petrus ungerecht ist, so sündigt er ununterbrochen, was er auch tun mag, beim Schlafen, beim Essen oder wenn er irgendein der Art nach gutes Werk tut. Und einem Einsichtigen wird dies nicht zweifelhaft sein, der weiß, wie der innere Mensch, wenn er von Sünde verderbt ist, den ganzen Rest seiner leiblichen Natur ansteckt und all seine Handlungen. Folglich, bei wem auch immer das Leben ungerecht ist, bei dem ist auch die Herrschaft über was immer nur ungerecht, und somit ist keiner ein weltlicher Herr, der in Todsünde ist. Und wenn ein Zeugnis für diesen Satz verlangt wird, hier die Schlussfolgerung des Apostels in 1Kor 13: Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.25 Jedem, der die Ausdrücke kennt, ist bekannt, dass Ungerechtigkeit und Liebe zwei unmittelbar entgegengesetzte Begriffe sind, so dass eines von beiden im Menschen sein muss, und wenn eines in ihm ist, ist das andere nicht darin und umgekehrt. Und ebenso ist bekannt, dass es nicht möglich ist, dass ein Ungerechter etwas gebraucht, ohne es gleichzeitig ungerecht zu gebrauchen, vielmehr zu missbrauchen. Dadurch wird es einem Ungerechten unmöglich, über jemanden zu herrschen, ohne ihn zugleich ungerecht zu beherrschen oder viel mehr zu tyrannisieren, weil er ungerecht innehat, was anderen zukommt; also ist keiner gerechterweise ein weltlicher Herr, solange er sich im Stande der Todsünde befindet. Wenn ein Zeugnis der heiligen Kirchenlehrer gesucht wird, hier die Meinung des großen heiligen Augustinus im 37. Brief an Macedonius. Dort heißt es: Was soll ich sagen von den Wucherzinsen, die sogar die Gesetze und Richter selbst zurückzugeben befehlen; ist der grausamer, der dem Reichen etwas entzieht oder entreißt, als der, der den Armen mit Wucher zugrunde richtet? Dergleichen also ist in jedem Fall unge„Ethiker“ = Theologen; vgl. bei Wyclif (De civ. dom. I1, Poole, 4,21) philosophorum et theologorum. 25 1Kor 13,3.
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rechter Besitz, und ich wollte, dass er zurückgegeben würde, aber es ist nicht möglich, dies durch einen (Glosse: weltlichen) Richter zurückzufordern. Nun wollen wir klug betrachten, was geschrieben steht (Glosse: im Prolog der Bibliothek): „Dem gläubigen Menschen gehört eine ganze Welt von Schätzen, dem ungläubigen nicht ein Obol.“ Können wir nicht alle, die sich scheinbar der auf erlaubtem Wege erworbenen Dinge erfreuen, aber nicht fähig sind, sie zu nutzen, überführen, dass sie fremdes Eigentum besitzen? Das nämlich fürwahr ist kein fremdes Eigentum, was man zu Recht besitzt, das aber besitzt man zu Recht, was man in gerechter Weise besitzt, und in gerechter Weise das, was man in guter Weise besitzt. Alles aber, was auf schlechte Weise besessen wird, ist fremdes Eigentum; auf schlechte Weise aber besitzt, wer auf schlechte Weise gebraucht. Die Gerechtigkeit, sage ich, kann niemand auf schlechte Weise besitzen, und wer sie nicht liebt, der hat sie nicht; das Geld aber wird auch von schlechten Menschen auf schlechte Art besessen und von guten in umso besserer Weise besessen, je weniger es geliebt wird.26 So weit Augustinus. Auf dasselbe zielt der berühmte Lehrer, der selige Hieronymus, im Brief an Paulus, wo er sagt: Von alters her wird gesagt: Dem Habgierigen fehlt sowohl, was er hat, als auch, was er nicht hat. Dem Gläubigen ist die ganze Welt voller Schätze, der Ungläubige aber hat nicht mal einen Obol.27 Auf dasselbe zielt der große heilige Patriarch Chrysostomus, der zweimal von den Bischöfen verdammt worden ist, der über jenes Wort in Mt 6 Folgendes ausführt: Er sagt nicht: Niemand kann gleichzeitig Gott und Reichtümer besitzen, sondern: Niemand kann ein Diener Gottes und der Reichtümer sein. Denn etwas anderes ist es, Reichtümer zu haben, etwas anderes, dem Reichtum zu dienen. Wenn du Schätze hast und diese Schätze dich nicht hochfahrend oder gewalttätig machen, sondern du nach Vermögen den Hilflosen gibst, so bist du Herr über die Schätze, nicht ihr Diener; denn nicht die Schätze besitzen dich, sondern du besitzt die Schätze. Wenn dich deine Schätze aber hochfahrend oder gewalttätig machen und du, durch Habgier gefesselt, niemandem etwas gibst, dann bist du Knecht deiner Schätze, nicht Herr, denn die Schätze besitzen dich, nicht du besitzt deine Schätze.28 Seht, so ausdrücklich erklärt dieser große heilige Philosoph, dass der Hochfahrende oder durch andere Sünde Verdorbene kein Herr ist. Und ebenfalls, dass er keine Reichtümer besitzt. Ja, er sagt in der Decr. Grat. II C. 14 q. 4 c. 11 (Friedberg 1,738), wo Augustinus, Epistola 153 (PL 33, 664 f.) angeführt wird. 27 Hieronymus, Ep. 53 ad Paulinum (PL 22,549). 28 Ps.Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, hom. 16 (PG 56,722).
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29. Homilie: Herren werden die Menschen fälschlich genannt. In Wahrheit aber ist niemand Herr außer Gott.29 Also ist keiner weltlicher Herr, der in Todsünde ist. Auf dasselbe zielt auch der selige Anselm in der Schrift Über die Erhabenheit der seligen Jungfrau im letzten Kapitel, wo er sagt: Der freilich darf kein Anrecht auf das, was Gott gehört, rechtmäßig haben, der sich nicht scheut, in den Dingen, die Gottes sind, dessen Willen mit schlechten Taten entgegenzutreten.30 So jener. Da kann, wer will, schreien, so viel er mag, und aus Ärger diese Heiligen angreifen. Indes, die Beweisführung, dass kein Mensch weltlicher Herr ist, solange er in Todsünde ist, geht weiter, und zwar so: Im Begriff des Herrn als solchen liegt, dass er dem vorsteht, was ihm dient. Aber der Ungerechte als solcher steht ja nicht den irdischen Dingen vor, sondern befindet sich in ihrer Knechtschaft, wie vorhin klar wurde durch Chrysostomus. Also ist er nicht ihr Herr. Der Obersatz ergibt sich aus der Bestimmung der Herrschaft, da sonst jedes beliebige Geschöpf ohne Unterschied jedes andere beherrschen könnte, und der Untersatz ergibt sich daraus, dass jeder Todsünder in seiner Liebe willentlich dem ewigen Gut irgendein zeitliches Gut vorzieht, und das ebendadurch, dass er diesem Zeitlichen dient, denn er unterwirft sich ihm gemäß seiner höchsten Potenz, nämlich der des eigenen Willens. Daraus wird offenkundig, dass das zeitliche Gut den Missbrauchenden so sehr verdammt und ihn mit seiner höchsten Potenz auf die niederste Stufe herabzieht, dass es dem Menschen dann nicht anders dient als ein Sklave, der seinen Herrn zu Boden wirft und ihn an den Haaren in einen See schleift. Und daher sagen die Heiligen richtig, dass der Mensch das, was er am meisten liebt, zu seinem Gott macht, d. h. zu dem Gut, auf dessen Pflege er vornehmlich achtet. Und das heißt Gott in einer Definition. Und es wird deutlich, wie philosophisch der höchste Philosoph Mt 6 spricht: Niemand kann Gott und dem Mammon dienen , d. h. zugleich.31 Und sein Jünger32 beklagt Röm 1, dass die Philosophen sich von Gott zur Welt gekehrt und dem Geschöpf mehr denn dem Schöpfer gedient haben.33 Und es ist klar, wie die Lehrer zu verstehen sind, die sagen, dass Götzendienst im Gefolge jeder Sünde ist, da einer durch die Sünde, die er begeht, durch Sünde der Welt, des Fleisches oder des Teufels, in seinem Streben ein weltliches Gut, von dem er nur ein Abbild, eine Vorstellung hat, vorzieht dem unveränderlichen Chrysostomus, Homiliae super Matthaeum, hom. 29. 30 Eadmer von Canterbury, De excellentia Virginis Mariae 10 (PL 159,576 C). 31 Mt 6,24. 32 D. h. Paulus. 33 Röm 1,25. 29
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Gut, das nur jenseits aller Vorstellung erkennbar ist, wie Augustin zeigt in seiner Schrift Von der wahren Religion .34 Daraus ergibt sich, dass jeder, der in Todsünde ist, der wirklichen Herrschaft über jedes Geschaffene ermangelt. Das wird insgesamt bestätigt dadurch, dass, wer Sünde tut, der Sünde Knecht ist , nach dem Wort der Wahrheit in Joh 8.35 Aber jede Sünde ist niedriger, weil ein geringeres Sein, als jedes Geschöpf. Also erniedrigt sich jeder Sünder dazu, einem Etwas zu dienen, das niedriger ist als irgendein Geschöpf. Und da der Herr, soweit er ein solcher ist, ein Vorgesetztsein bedeutet, so folgt, dass der Sünder, als solcher, kein Geschöpf wirklich beherrscht. Und so ergibt sich die Antwort auf die politische Frage, was dazu nötig sei, dass jemand Herr sei von etwas, da das Vorhandensein der äußersten Mittel nicht ausreicht, auch keine Aussage von Zeugen, die ja täuschen können, auch nicht der Spruch des Richters, wie sich’s erweist am verurteilten Christus in Mt 26 36 oder an Susanna in Dan 13.37 Auch der leibliche Besitz genügt nicht; denn Augustin sagt im Gottesstaat, Kapitel 4: Ohne die Gerechtigkeit, was sind die Reiche anders als ein großer Raub? 38 Und auch die Erbschaft genügt nicht. Denn der selige Hieronymus sagt: Jeder Reiche ist entweder ungerecht oder eines Ungerechten Erbe. Wenn nämlich der Sohn Erbe wird von des Vaters Raub, Wucher, Diebstahl oder Simonie, was ist der Grund, dass er Herr ist? Auch nicht Tausch oder Schenkung [genügt], denn wer kann rechtmäßig etwas tauschen oder geben? Daher ist zur Herrschaft erforderlich und ausreichend die Zugabe der Herrschertugend, durch deren Vermittlung er Gott dient; dann aber dienen ihm die unterstellten Dinge ohne Zweifel.39 Ebenso: Wenn sich jemand etwas aneignet, was seinem König gehört, so ist er Verräter seines Königs; also ist in noch viel höherem Maße der, der sich aneignet, was Gott allein zustehen kann, Verräter seines Gottes. Das tut jeder Hochmütige und folglich jeder, der Todsünde begeht; also ist jeder Todsünder Verräter seines Gottes. Der Untersatz ergibt sich daraus, dass jeder Hochmütige seinem Gott den Gehorsam verweigert; da also allein Gott die Herrschaft zukommen kann, ohne dass er einem Höheren unterstellt wäre, folgt, dass jeder Hochmütige in dem Umfange, in dem er es ist, eine Herrschergewalt für sich beansprucht, die nur Gott zustehen kann. Augustinus, De vera religione 10,18 (PL 34,130). 35 Joh 8,34. 36 Mt 26,59–66. Das heißt in der apokryphen Geschichte von der Rettung der Susanna durch den Propheten Daniel, Dan 13,1 ff. (Vg.). 38 Augustinus, De civitate dei IV 4 (PL 41,115). 39 Hieronymus, In Abacuc Prophetam II 3 (PL 25,1316). 34 37
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Desgleichen: Jeder Hochmütige wird von der Sünde beherrscht, wie der Apostel Röm 5 sagt, wenn er davon spricht, dass die Sünde herrsche;40 aber keine Sünde ist ein Gott unterstellter Diener: Also unterwirft sich jeder Hochmütige, indem er dem Herrn untreu wird, dem genau entgegengesetzten Herrn, und folglich ist dann nicht gerechtfertigt, dass er etwas nach Gottes Recht innehat. Ein deutliches Beispiel ist: Wenn ein Diener eines weltlichen Königs, der von ihm viele Güter hat, aus Bosheit, ohne Grund zu haben, untreu zu werden, dem Feind seines Königs sich zum Dienst unterwirft, wie kann er dann rechtmäßig vom König sein Einkommen erhalten und durch seine Speisen und Getränke gestärkt werden, wenn er ein Gegner des Königs selbst ist? Desgleichen: Jeder, der ungerechterweise einen Diener Gottes erschlägt, der sein Bild oder Ebenbild trägt und die Person des Herrn im Ausüben des ihm anvertrauten Amtes repräsentiert, frevelt und verliert durch die Tat selbst seine Herrschaft; so ist es mit jedem, der nach Erlangung der Gnade sündigt; also verliert er nach göttlichem Gesetz, was er im Gnadenstande gehabt hat. Der Untersatz erhellt daraus, dass er durchaus wirklich sich selbst erschlägt, deshalb, weil die Sünde Gott von der Seele trennt, der durch die Gnade zuvor sein Leben war, und er damals ein Bild seines Gottes war, indem er durch die Gnade mit ihm verbunden war und ihm diente mit dem würdigsten Dienst, den es gibt. Daher möge der Mensch die Rechtsfälle des menschlichen Rechts betrachten, wenn jemand frevelt und so mit der höchsten Strafe bestraft werden muss. Er wird sehen, dass der Sünder in jene Delikte in noch wirklicherem Grade Gott gegenüber gerät, indem er, je nach Vermögen, das Verbrechen der Majestätsbeleidigung begeht, Mordanschlag, Entehrung des obersten Herrn der Welt, durch gewaltsames Ergreifen der Herrscherrechte aus ungerechtestem Anlass, durch die größte Unzucht und Schädigung des gesamten Staates und so hinsichtlich anderer politischer Straffälle dem Staat gegenüber, die im Gesetz des Herrn angeführt sind. So nämlich hat Adam durch Übertretung des Gebotes des Herrn die Herrschaft über seine Natur verloren, ist gestorben und hat alle seine Nachfahren, ja, den neuen Adam dem Tod unterworfen. Und zu diesem Gegenstand des Vergehens äußert sich der Philosoph im 5. Buch der Ethik.41 Und so ist deutlich, dass jeder Ungerechte der Herrschaft ermangelt; erstens dadurch, dass die Art der göttlichen Gabe für ihn unmögRöm 5,12–21. 41 Vgl. bes. Aristoteles, Ethica Nicomachea 5,10 f. (über den Begriff der Verfehlung).
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lich geworden ist; zweitens dadurch, dass er durch Ungerechtigkeit die Gnade Gottes verloren hat und damit die Herrschaft, die der Gnade folgt. Wenn er nämlich, nach menschlichem Gesetz vor Gericht gerufen, wegen Nichterscheinens oder mangelnder Vertretung sein Besitzoder sonstiges Eigentum einbüßt, um wie viel mehr würde er, wenn er nach göttlichem Recht zitiert wäre, um sich für seine Herrschaft zu verantworten, und ungerechtfertigt fernbliebe, seine Herrschaft verlieren? Fürwahr, um so viel begründeter, als Gott wahrhafter Herr ist und, wenn er ruft, ein Herold mit mehr Würde, weil es die Heilige Schrift, ja, sogar die ganze Dreieinigkeit mit ihren Heiligen ist, die da ruft, die nichts verlangen kann als Gerechtes. Und sicher ist, dass er, bei Strafe des Verlustes aller Güter bezüglich des Gnadenamtes, ruft zur ewigen Dienstbarkeit, denn auf andere Weise als durch Gnade ist es unmöglich, die Herrschaft beim Menschen mehr zu begründen als beim Tier, das der Mensch durch Vernunft und Tugend übertreffen soll. Die genannte Wahrheit wird auch durch die Schriften des Alten und Neuen Testaments bewiesen. Denn 1Kön 15 spricht der Prophet Samuel zu Saul: Weil du nun des Herrn Wort verworfen hast, hat er dich auch verworfen, dass du nicht König seist ;42 und später: Du hast des Herrn Wort verworfen, und der Herr hat dich auch verworfen, dass du nicht König seist über Israel.43 Und weiter: Der Herr hat das Königreich Israel heute von dir gerissen und deinem Nächsten gegeben, der besser ist denn du .44 Seht, so deutlich zeigt die Schrift, dass Saul wegen seiner Sünde, durch die er das Gebot Gottes übertreten hat, den Rechtsanspruch auf das Königreich verloren hat. Der ausdrückliche Beweis dafür ist 1Sam 13,1, wo gesagt wird: Ein einjähriger Knabe war Saul, als er zu herrschen begann, zwei Jahre aber hat er über Israel geherrscht.45 In welcher Weise ist dies wahr, dass Saul ein Jahr alt war, als er zu herrschen begann, da doch 1Kön 9 gesagt wird: Der hatte einen Sohn mit Namen Saul; der war ein junger, schöner Mann, und war kein schönerer unter den Kindern Israel, von der Schulter aufwärts überragte er das ganze Volk .46 Inwiefern ist es zweitens wahr, dass er nur zwei Jahre über Israel geherrscht hat, da er doch viele Jahre regiert hat? Das erklärt der Magister in der Scholastica historia47 und sagt, dass Saul, als er gewählt wurde, so gerecht war wie ein einjähriger Knabe und zwei Jahre lang gerecht regiert hat. 1Sam 15,23. 43 1Sam 15,26. 44 1Sam 15,28. 45 Hier ist Hus Opfer einer falschen Lesart des Alters von Saul in 1Sam 13,1. 46 1Sam 9,2. 47 Petrus Comestor, Historia scholastica, historia libri I Regum, c. 12 (PL 198,1306 AB) – eine Bibelparaphrase des 12. Jahrhunderts.
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Ebenso sagt der Prophet Daniel in Dan 3: Es gibt zu dieser Zeit keinen Fürsten, Propheten und Heerführer .48 Auf welche Weise ist dies wahr, da es viele aus königlichem Geschlecht gab und Daniel selbst Prophet war, wie aus Dan 149 ersichtlich ist? Diejenigen, die die Artikel verdammen, würden doch wohl nicht wagen, diese prophetische Schrift zu verdammen, sondern würden verstehen, dass um der Sünden des Volkes Israel willen zu jener Zeit kein Fürst ist, der die Herrschaft über das Volk würdig einnehmen könnte. Und kein Prophet ist da, der die Befreiung des Volkes würdig verkündigen oder verdienen könnte. Und kein Führer ist da, der das Volk aus der babylonischen Gefangenschaft führen könnte. Warum also sollten sie nicht ebenfalls sagen: Keiner ist würdig und rechtmäßig ein weltlicher Herr, wenn er sich in Todsünde befindet. Ebenso spricht der Herr Hos 8: Sie haben regiert, doch ohne mich; sie haben als Fürsten geherrscht, und ich kenne sie nicht.50 Diese Schrift hat der selige Bernhard in seinem Buch mit dem Anfang Es sprach Simon Petrus 51 auf unser Thema bezogen. Er sagt von denen, die unrechtmäßig in den Besitz kirchlicher Pfründen eintreten: Wer ist, der mit dieser Absicht die kirchlichen Würden und den Dienst im Heiligtum sucht, nein, vielmehr ersucht wird? 52 Und später: Sie wollen einherschreiten als Angesehene, sie streben den Menschen zu gefallen, sich zu bereichern und zu überheben und sich dieser Welt in jeder Hinsicht anzugleichen. Höre die Klagen des Herrn, was er über diesen so großen Frevelmut der Menschen sagt, der ein geduldiger Vergelter ist, die Buße mehr wünscht als die Strafe: „Sie haben regiert“, sagt er, „doch ohne mich; sie haben als Fürsten geherrscht, und ich kenne sie nicht“– all die nämlich, die in kirchlichen und anderen Würden, die zum Heiligtum gehören, ihre eigene Ehre suchen oder Reichtümer oder leibliche Genüsse, kurzum: das Ihre, und nicht, was Jesu Christi ist. Und später: Die Wurzel allen Übels, die Begierde, treibt [sie] 53 an. So viel dort. Und dieses Wort des Heiligen zeigt zur Genüge, dass sowohl Weltliche wie Geistliche, die schlecht leben, nicht in Wahrheit, sondern widerrechtlich Herren, Fürsten oder geistliche Würdenträger sind. Dies erklärt er noch offener im zweiten Buch an Papst Eugen54 mit den Worten: Der Gebrauch dieser Dinge, nämlich der zeitlichen Güter, soll Dan 3,38. 49 Dan 1,3–6. 50 Hos 8,4. 51 Gaufredi abbatis Declamationes de colloquio Simonis cum Iesu ex S. Bernardi sermonibus collectae, c. 13 (PL 184,445C, 445 D– 446A). 52 Allzu verkürzt bei Hus, vgl. Bernhard von Clairvaux (PL 184,445C). 53 Die beiden Zitate gehören bei Bernhard syntaktisch zusammen (PL 184,446A). 54 Bernhard von Clairvaux, De consideratione libri V ad Eugenium III., II 6 (PL 182, 748A–C).
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gut sein, der Missbrauch schlecht, die Sorge darum schlechter, das Erwerben derselben noch schimpflicher; so dass du diese auf irgendeine andere Art erwerben magst, aber nicht kraft apostolischen Rechts, denn er konnte dir nicht geben, was er nicht hatte. Was er hatte, hat der Apostel gegeben, die Fürsorge, wie ich sagte, über die Kirchen. Etwa die Herrschaft? Höre ihn selbst: Zum Klerus sagt er, „seid nicht Herrschende, sondern Vorbilder der Herde“ 55. Und damit du nicht meinst, dass dies nur aus Bescheidenheit, nicht wirklich, behauptet wird, höre das Wort des Herrn im Evangelium: „Heidnische Könige herrschen über sie, und die die Macht über sie haben, werden gnädige Herren genannt.“ 56 Und weiter: Ihr aber nicht so.57 Deutlich ist, dass den Aposteln die Herrschaft untersagt wird, und magst du auch wagen, als Herrschender das Apostolat oder als Apostolischer die Herrschaft an dich zu reißen, so wirst du gewiss an einem von ihnen gehindert; wenn du beides haben willst, wirst du beides verlieren, andernfalls halte dich nicht für ausgenommen von der Zahl derer, über die Gott sich so beklagt: „Sie haben regiert, doch ohne mich, sie haben als Fürsten geherrscht, und ich kenne sie nicht.“ 58 Siehe, wie eindeutig schließt dieser Heilige, dass der Papst Herrschaft und Apostolat unrechtmäßig zugleich in Anspruch nimmt und somit nicht von Gott aus regiert und ein Fürst ist, den der Herr selbst nicht anerkennt. Daher sind alle, die unrechtmäßig in kirchliche Pfründen gelangen, indem sie diese für sich selbst beanspruchen und schlecht leben, nicht die wirklichen Hirten und Führer, sondern Diebe und Räuber. Denn der Fürst der Hirten sagt Joh 10: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo ein, der ist ein Dieb und ein Räuber.59 Und später: Alle, die vor mir gekommen sind, das sind Diebe und Räuber.60 Ebenso erzählt der Heiland im Gleichnis vom Reichen, der sich am Reichtum maßlos erfreute, dass Gott zum Reichen gesagt hat: Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wem wird dann gehören, was du bereitet hast? 61 So ist der, der sich Schätze sammelt und nicht gegenüber Gott reich ist. So offen sagt es die Wahrheit, dass jeder, der sich unrechtmäßig Schätze anhäuft, nicht gegenüber Gott reich ist und folglich vor Gott nicht Herr ist. Ebenso wird gesagt: Und dem Engel der Gemeinde zu Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! Und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, 55 61
1Petr 5,3. Lk 12,20.
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arm, blind und bloß.62 Seht, der Bischof von Laodizea hat sich für reich gehalten, und der wahrhaftige Zeuge Christus, der nicht lügen kann, sagt, er sei elend und jämmerlich, arm und bloß, was der Bischof selbst nicht gewusst hat, denn durch die Sünde der Erkaltung in der Gnade war er weder warm noch kalt. Dieser also war nicht reich vor Gott, obwohl er nach seinem geschätzten Vermögen doch reich war vor sich und den Menschen. Und so wird deutlich, dass die Heilige Schrift wahr ist, wenn sie bezüglich der Kraft des Wortes Hos 8 sagt: Sie haben regiert, d. h. widerrechtlich, doch ohne mich , d. h., ohne dass ich ihren Missbrauch der Herrschaft anerkannt hätte; sie haben als Fürsten geherrscht, nämlich dem Namen nach, und ich kenne sie nicht ,63 d. h. ich habe ihr angemaßtes Fürstentum nicht anerkannt wegen des Missbrauchs. Ebenso ist die Schrift wahr, wenn sie sagt, dass Saul nach Übertretung des göttlichen Gebots verworfen wurde, dass er nicht mehr König sein sollte, da sie sagt: Du hast des Herrn Wort verworfen, und der Herr hat dich verworfen, dass du nicht König seist über Israel.64 Wahr ist die Schrift auch, wenn sie Saul danach König nennt. Das erklärt der eifrige Ausleger Lyra, der die oben angeführte Stelle (Ein einjähriger Knabe war Saul, als er zu herrschen begann, und zwei Jahre lang hat er über Israel geherrscht.),65 auslegt, indem er sagt: Man kann es so sagen: weil nach diesen zwei Jahren seit Beginn seiner Regierung David von Gott erwählt wurde und von Samuel zum König gesalbt, wie 1Sam 16 steht, und seitdem Saul nicht mehr zu Recht geherrscht hat, sondern nur noch unrechtmäßig, weshalb hier die folgenden Jahre von seiner Regierungszeit abgerechnet werden. Dies sagt Lyra [zu] 1Kön 13 am Anfang.66 Ebenso legt er jenes Wort in Hos 8 Sie haben regiert aus: „Sie haben regiert“, d. h. die Könige Israels, „aber ohne mich“, 67 weil durch göttliche Anordnung die Herrschaft über die zwölf Stämme auf ewig an David und seine Nachkommen gegeben worden ist. Doch gegenteilig scheint das, was 3Kön 11 zu Jerobeam gesagt wird: „So spricht der Herr, der Gott Israels: Siehe, ich will das Königtum aus der Hand Salomos reißen und dir zehn Stämme geben.“ 68 Dazu muss man sagen, dass dies nur indirekt, gleichsam durch Zufall geschah, nämlich um die Sünde Salomos zu strafen, zu der er im Alter neigte, und so ließ er Jerobeam das Volk streng behandeln, durch welche Behandlung zehn Stämme sich von ihm trennten, und so geschah dies durch Zulassung Gottes und nicht eigentlich durch eine Anordnung, die eine Sache Offb 3,14 und 17. 63 Hos 8,4. 64 1Sam 15,26. laus von Lyra, Bibelkommentar zu 1Sam 13,1.
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an sich und absolut betrifft. Deshalb folgt: „Sie haben als Fürsten geherrscht, und ich weiß nicht davon“,69 d. h. ich habe nicht anerkannt, nämlich die Bosheit des Volkes, das sich vom Reiche Davids getrennt und sich dadurch einen König durch eigenen Willen gegeben hat und nicht durch Befehl des Herrn. So Lyra über Hos 8,4. Und so ist deutlich, wie die Schriftworte in Übereinstimmung zu bringen sind, nämlich, dass Gott [1.] die gerechten Könige, Fürsten und Herren anerkennt, die ungerechten nicht anerkennt, bezüglich des Missbrauchs oder Versagens (wie dort: Sie haben regiert, doch ohne mich), aber auch [2.] die Herrschaft der Bösen anerkennt, im Sinn des von außen bestätigten Herrschertums und hinsichtlich ihres Versagens, von welcher Art die gerechte Strafe oder Besserung ist; doch erkennt er nicht an [1.], dass jemand Tyrann ist. Und hier ist zu bedenken, dass diejenigen, die die Güter des Herrn durch die Sünde missbrauchen, [durchaus auch] Werke tun, die der Art nach gut sind, aber moralisch schlechte bei Dingen wie Essen, Sitzen70 und Verteilen und dergleichen; und Gott will und verfügt all die ersteren Werke in ihrer Substanz sowie das Gute, das daraus hervorgeht, aber er will nicht, dass sie auf Missbrauch sinnen und von der Tugend lassen. Darum gab Gott dem König Pilatus Gewalt und erkannte den Tod Christi an und damit alles Gute, das daraus hervorging; aber er hat nicht anerkannt und erkennt nicht an, dass der König Pilatus die Königsgewalt missbraucht hat. Schon ist klar, nach welchem wahren Sinn der Schrift keiner ein weltlicher Herr ist, solange er in Todsünde ist, weil niemand dann rechtmäßig herrscht, wenn er keine Gerechtigkeit hat, darum, weil die Todsünde jede Gerechtigkeit aus dem Menschen vertreibt, nach der er formal tätig und dem Namen nach gerecht war. Wenn aber dieser Mensch niemals gerecht gewesen ist, wie es bei den Juden oder Heiden der Fall ist, dann befindet er sich ständig in Todsünde und ermangelt so der Gerechtigkeit, es sei denn, dass Gott jemanden durch seine Kraft erhält. Es sei also zugegeben, dass nicht nur ein Mensch in Todsünde, sondern sogar der Teufel König ist, insofern Hiob 40 von ihm oder dem Antichrist gesagt wird: Er ist ein König über alle Kinder des Hochmuts,71 ebenso auch ein Fürst: Nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen werden;72 ebenso ein Herr: Niemand kann zwei Herren dienen. […] Ihr könnt Hos 8,4. 70 Evtl. statt sedendo mit Wyclif (De civ. dom. I3, Poole 22,31) se tegendo (luxuriöses Sich-Kleiden neben Prassen und Habgier). 71 Hiob 41,26. 72 Joh 12,31.
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nicht Gott dienen und dem Mammon.73 Siehe, der Teufel ist König, Fürst und Herr, aber unrechtmäßig, missbräuchlich, im falschen Sinne des Wortes, nicht rechtmäßig und wirklich. Und so wird zu Recht allgemein anerkannt, dass der Reiche in der Hölle begraben liegt und die bösen Könige in der Hölle sind. Ebenso die Fürsten und Herren, ja, auch die geistlichen Würdenträger. So nennt der Apostel die Teufel selbst Fürsten und Gewaltige und Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen,74 mit denen wir zu kämpfen haben in der Macht und Kraft des Herrn Jesu Christi. Und aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich gleichermaßen, dass der zweite Teil des Artikels, nämlich der: Keiner ist Prälat, solange er sich in Todsünde befindet, wahr ist. Der dritte Teil des Artikels ist dieser: Keiner ist Bischof, solange er sich in Todsünde befindet. Dazu sagt der selige Augustinus in Causa 8, Quaestio 1: Wer den Bischofsstand wünscht, der wünscht ein gutes Werk .75 Damit will er sagen, was der Bischofsstand sei, dass er die Benennung für ein Werk ist, nicht für einen Rang. Und später: Wenn wir wollen, können wir die Bischöfe lateinisch mit Superintendenten76 übersetzen, auf dass der, der vorstehen, aber nicht fördern will, erkenne, dass er kein Bischof ist .77 Ebenso Ambrosius in Causa 22, letzte Quaestio: Hütet euch, ihr Brüder, vor der Lüge, denn alle, die sie lieben, sind Kinder des Teufels. Nicht nur in falschen Worten, sondern auch in Scheinwerken ist Lüge. Denn eine Lüge ist es, sich Christ zu nennen und die Werke Christi nicht zu tun. Denn eine Lüge ist es, sich als Bischof, Priester oder Kleriker zu bezeichnen und zu tun, was diesem Stande entgegengesetzt ist.78 So Ambrosius in der Predigt, die er am Sonntag hielt über Abraham. Ebenso Gregor: Wer die heiligen Ämter verkauft oder kauft, kann nicht Priester sein. Davon steht geschrieben: Fluch dem, der gibt und empfängt, das ist: die simonistische Ketzerei. Wie können sie also, wenn sie verdammt sind und nicht heilig, andere heiligen? Und wenn sie nicht am Leibe Christi bleiben, wie können sie den Leib Christi reichen oder empfangen; wer verflucht ist, wie kann der segnen? 79 Seht, dieser Heilige sagt nicht nur, dass Simonisten nicht Priester sind, sondern noch weiter, dass Simonisten nicht Priester sein können. Ebenso sagt er in der Homilie Er bestimmte aber weitere zweiundsiebzig 80: Zu euch Priestern sage ich mit Betrübnis, dass manche unter Mt 6,24. 74 Eph 6,12. 75 Decr. Grat. II C. 8 q. 1 c. 11 (Friedberg 1,593 f.) zitiert Augustinus, De civitate dei XIX 19 (PL 41,647). 76 Also: Aufsichtsführende. 77 Es folgt ein weiterer Verweis auf Augustinus, Decr. Grat. II C. 24. 78 Decr. Grat. II C. 22 q. 5 c. 20 (Friedberg 1,888). 79 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 12 (Friedberg 1,361). 80 Lk 10,1.
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euch gegen Bezahlung geistliche Ämter vergeben, die Gnade des Geistes verkaufen und durch fremdes Unrecht unter Sündenschaden zeitlichen Gewinn aufhäufen, wie wir gesehen haben. Warum, frage ich, kommt es euch nicht zu Bewusstsein, was die Stimme des Herrn mit den Worten vorschreibt: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“ 81 Warum haltet ihr euch nicht vor Augen, dass unser Erlöser, als er in den Tempel kam, die Tische der Taubenverkäufer umstürzte und das Geld der Wechsler ausschüttete? Welche sind es heute, die im Tempel Gottes Tauben verkaufen, wenn nicht diejenigen, die für die Handauflegung Bezahlung verlangen, durch welche Handauflegung doch der Heilige Geist vom Himmel gegeben wird. Die Taube wird also verkauft, weil die Handauflegung, durch die der Heilige Geist empfangen wird, gegen Bezahlung gewährt wird. Aber unser Erlöser stürzt die Tische der Taubenverkäufer um, denn er macht das Priestertum solcher Verkäufer zunichte. Daher kommt es, dass die heiligen Kanones die simonistische Ketzerei verdammen und die aus dem Priesterstand zu entfernen befehlen, die für die Spendung der geistlichen Würde Bezahlung verlangen.82 Siehe, dieser Heilige sagt, dass Gott das simonistische Priestertum zerstört. Und es wird klar, wie wenige heute wirkliche Priester sind. Ebenso Hieronymus an Heliodor: Nicht alle Bischöfe sind Bischöfe: Sieh Petrus an, betrachte Judas; anerkenne Stephanus, verwirf Nikolaus. Nicht die geistliche Würde macht den Christen aus.83 Sieh, so ausdrücklich sagt dieser Heilige, dass Judas und Nikolaus Diaconus keine Bischöfe sind, ja, dass der kein Christ sei, der sich die geistliche Würde anmaßt und kein gutes Leben führt. Ebenso Augustinus: Wer sich über seine Regierung keine Rechenschaft gibt und seine Fehler nicht wieder gutmacht, auch nicht die Übertretung seiner Kinder straft, der ist eher ein schamloser Hund als ein Bischof zu nennen.84 Ebenso sagt Chrysostomus in der 25. Homilie: Es sind viele Priester und doch wenige Priester. Und später: Ein böser Priester gewinnt durch sein Priestertum Schuld, nicht Ehre .85 So weit jener. Derselbe sagt im Unvollendeten Werk über den Satz des Evangeliums Der es empfangen hatte, ging hin, vergrub es in der Erde und verbarg das Geld seines Herrn: 86 An die Diakone und Lehrer: Nach seiner Voraussicht scheint Mt 10,8. 82 Gregor d. Gr., Homiliae in evangelia I 17 (PL 76,1145A–C). 83 Decr. Grat II C. 2 q. 7 c. 29 (Friedberg 1,492) aus Hieronymus, Ep. 14 ad Heliodorum monachum (PL 22,353). 84 Decr. Grat II C. 2 q. 7 c. 32 (Friedberg 1,493). 85 Decr. Grat. I dist. 40 c. 12 (Friedberg 1,147 f.) aus Ps.-Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, hom. 43 (PG 56,876). 86 Mt 25,18.
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Gott das Amt des Diakonats oder Priestertums denen gegeben zu haben, die gerecht sind; die aber ungerecht erfunden werden, die sind offenbar von Menschen eingesetzt, nicht von Gott. Am Ausgang wird erkannt, wer von Gott eingesetzt ist und wer von den Menschen. Denn wenn jemand seinen Dienst bis zum Ende gut ausgeführt hat, so wird offenbar, dass er von Gott eingesetzt worden ist. Wer aber seinen Dienst schlecht ausführt, der ist von Menschen eingesetzt. Wie aber manche Priester von Menschen eingesetzt werden, ist deutlich im 8. Buch der apostolischen Kanones gesagt. Wer aber von Menschen eingesetzt ist, der ist Gott gegenüber weder Diakon noch Priester.87 So Chrysostomus. Ebenso sagt der selige Remigius in der 19. Homilie zu jenem Wort des Evangeliums: Jesus zog in Jerusalem ein: 88Wer sind die, die Tauben verkaufen, wenn nicht diejenigen, die den Heiligen Geist durch Handauflegen gegen Bezahlung austeilen? Aber der Herr stürzt die Tische der Taubenverkäufer um, denn er macht die Bezahlung dieser Priester zunichte. Denn welcher Bischof die Gnade des Heiligen Geistes verkauft hat, mag er auch scheinbar vor den Augen der Menschen in der bischöflichen Stola glänzen, vor den Augen Gottes ist er schon des Priestertums entkleidet. Darum verdammen auch die heiligen Kanones die simonistische Ketzerei und befehlen, die aus dem Priesterstande zu entfernen, die für die Erteilung der geistlichen Gnade Bezahlung verlangen.89 So Remigius. Sogar ein Blinder in der Logik mag zusehen, ob nicht dies die Folge ist: Wenn ein Bischof in den Augen Gottes des Priestertums entkleidet ist, ist der Bischof vor Gottes Augen tatsächlich kein Priester mehr, weil er dessen entkleidet ist. Nun kann er die Folgerung leugnen und wählen, ein Bischof zu sein, der vor den Augen der Menschen in der bischöflichen Stola glänzt, auch wenn er vor Gott weder Bischof noch Priester ist; oder er kann umgekehrt wählen, vor Gott ein Priester und Bischof zu sein und dabei nicht in bischöflicher Stola vor den Augen der Menschen zu glänzen; und offenbar ist, dass das Zweite zu wählen ist und nicht das Erste, sofern der Fall der Annahme dem freien Willen überlassen ist. Und die Aussprüche der Heiligen gründen sich auf das Wort des Heilands in Mt 5: Ihr seid das Salz der Erde; wo nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze .90 Er setzt hinzu: Es ist nicht einmal als Mist nütze .91 Ein Wort, das der selige Ps.-Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, hom. 53 (PG 56,935). 21,10. 89 Remigius von Auxerre, Homiliae quadragesimales. 90 Mt 5,13. 14,35.
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Hieronymus im Brief an Heliodor anführt: Es ist nicht leicht, an der Stelle von Petrus und Paulus zu stehen und die Stelle derer, die schon mit Christus herrschen, innezuhaben. Das taubgewordene Salz ist zu nichts nütze, als fortgeworfen und von den Schweinen zertreten zu werden .92 Die also diesen Satz verneinen: Keiner im Stande der Todsünde ist Bischof, die verneinen auf ähnliche Weise diesen Satz: Das taubgewordene Salz ist zu nichts mehr nütze, nicht einmal im Mist. Das taubgewordene Salz ist der törichte Prälat, der, wie die Wahrheit sagt, zu nichts nütze ist, als fortgeworfen und von den Menschen zertreten zu werden; mögen sie auch jenen Satz verneinen: Alle geistlichen Würdenträger gelten nicht als geistliche Würdenträger, denn nicht der Name macht den Bischof, sondern sein Leben.93 Ebenso: Wenn ein Mensch, der in Todsünde ist, nicht wert ist, ein Christ genannt zu werden, so ist er im gleichen oder in noch höherem Maße nicht wert, Bischof oder Priester zu heißen. Die Folgerung ist schlüssig, denn so wie die Todsünde das Christsein verhindert, so auch das Bischof- und Priestersein; denn die Eigenart des Christseins ist ebenso unzerstörbar wie die des Priestertums, und umgekehrt. Der Vordersatz wird klar durch den seligen Augustin in der Schrift Vom christlichen Leben , der sagt: Wer bereit ist, einen anderen zu verletzen oder ihm zu schaden, der lügt, wenn er sich Christ nennt.94 Und durch den seligen Ambrosius, wie oben angeführt: Es ist eine Lüge, sich Christ zu nennen und die Werke Christi nicht zu tun.95 Und durch Chrysostomus in Homilie 20, der sagt: Die sind niemals Christen gewesen, die von der Kirche abfallen. So wie nicht alle, die aus Israel sind, Israeliten sind, so sind nicht alle, die sich Christen nennen, Christen.96 Es wird auch klar durch den seligen Hieronymus, der von sich schreibt, dass er im Geist hinweggeführt und vor den Stuhl des Richters gebracht worden sei, wo er vor der Helligkeit des Lichtes zur Erde fiel und nicht wagte, aufzusehen. Daher sagt er: Auf der Erde liegend, wagte ich nicht aufzublicken. Nach meinem Stande gefragt, antwortete ich, dass ich Christ sei. Aber der, dem ich antwortete, sagte: Du lügst; du bist ein Ciceronianer, kein Christ; wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz; da verstummte ich.97 Siehe, so spricht der gerechte Richter zum seligen Hieronymus, indem er sagt: Du lügst, wenn du dich Christ nennst; und er verneint es, dass er ein Christ sei, mit den Worten: Du bist ein Ciceronianer, kein Christ. Wie Anm. 83. 93 Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 27 (Friedberg 1,491). 94 Ps.-Augustinus, De vita christiana 6 (PL 40,1037). 95 Wie Anm. 78. 96 Ps.-Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, hom. 20 (PG 56,745). 97 Hier., ep. 22 (PL 22,416).
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Aus diesen Worten erklärt sich der Vordersatz, nämlich, dass niemand, der in Todsünde lebt, ein Christ ist. Was also ist nicht schlüssig daran, wenn nach den Aussprüchen dieser Heiligen zugegeben wird, dass diejenigen keine Bischöfe, Priester und Christen sind, die sich in Todsünde befinden? Paulus sagt voll des Heiligen Geistes 1Kor 13: und hätte ich die Liebe nicht, so wäre ich nicht ; 98 und der selige Augustinus, Über Joh., 1. Homilie, sagt: Die Sünde ist das Nichts, und die Menschen werden zu nichts, wenn sie sündigen ;99 und im Buch der Selbstgespräche, Kapitel 3: Sooft du vom Guten abweichst, trennst du dich vom Wort, weil es das Gute ist; auf diese Art wirst du zum Nichts, weil du ohne das Wort bist, ohne das nichts geworden ist; und weiter unten: Ich bin so oft zum Nichts geworden, wie ich mich von dir getrennt habe, denn ich habe das Gute, das du bist, vergessen und bin sogar schlecht geworden; und: Wenn ich also ohne dich war, war ich gar nicht, sondern war nichts.100 Dazu sagt der ehrwürdige Boetius in Consolatio, Buch 4, Abschnitt 2, Folgendes: Es mag ja jemandem wunderlich erscheinen, dass wir die Bösen, die doch die meisten unter den Menschen sind, für nichtexistent erklären: Und doch verhält es sich so; denn von denen, die böse sind, sage ich nicht, dass sie nicht böse seien, sondern ich verneine klar und eindeutig, dass sie sind.101 Seht, wie deutlich diese großen Philosophen und Theologen zugeben, dass der Mensch in Todsünde nichts ist. Was ist also verwunderlich, wenn vernunftgemäß zugegeben wird, dass keiner, der in Todsünde ist, Bischof, Priester oder Christ ist? Warum folgen die Theologieprofessoren nicht jenen heiligen Philosophen und Theologen, indem sie mit Jesus Christus zugeben: Meine Lehre ist nicht die meine.102 Denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat. 103 Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht dass ich meinen Willen tue, sondern den Willen des, der mich gesandt hat.104 Ich will noch nicht hinaufgehen auf dieses Fest. Und: Da ging auch er hinauf . 105 Und wie viele solche verneinenden Aussagen gibt es in der Heiligen Schrift, die wir gezwungen werden, gelten zu lassen! Aber fern sei es, dass wir eine falsche Ansicht festhalten. Die Lehrer des Kirchenrechts hätten erwägen müssen, dass man eine Sache eher so verstehen sollte, dass sie eine Bedeutung hat, als dass sie unsinnig ist, und so, dass Lehrmeinungen ihrem wahren Sinn nach 1Kor 13,2. 99 Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus 1 (PL 35,1385). Vgl. Ps.-Augustinus, Soliloquiorum animae ad Deum 5 (PL 40,869). 101 Boetius, De consolatione philosophiae IV 2 (PL 63,794B). 102 Joh 7,16. 103 Joh 5,30. 104 Joh 6,38. 105 Joh 7,8 und 10.
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nicht verdammt werden würden, da es nicht nur die Rinde der Worte, sondern das Mark und den Inhalt zu betrachten gilt. Nicht nur die Worte, sondern die Absicht der Worte haben wir zu beachten. Die Worte nämlich sollen der Absicht dienen, und nach der Absicht der Redenden müssen die Worte verstanden werden. Und nicht auf den Wortlaut ist das Augenmerk zu richten, sondern mehr auf den Willen des Redenden.106 Wenn also die Heiligen, die ihre Meinung aus der Heiligen Schrift ziehen, sagen, dass niemand Herr, Bischof, Priester oder Christ ist, wenn er sich in Todsünde befindet, so muss man den wahren Sinn annehmen und nach diesem das Wort oder die schriftliche Darlegung gelten lassen. Andererseits muss man das Schriftwort gelten lassen, dass ein Todsünder König, Herr, Priester oder Diakon oder Bischof oder sogar Christ ist; König wie Pharao, Priester wie Annas, Diakon wie der Ketzer Nikolaus, Bischof wie Kaiphas und Judas; Judas war, da durch die Satzung Christi Bischof, demnach auch Christ. Und es ist kein Widerspruch, wenn einer sagt: Judas ist kein Bischof, und ein anderer sagt: Judas ist ein Bischof, es sei denn, dass sie es beide in derselben Bedeutung verstehen, so nämlich, dass der eine sagt, Judas sei Bischof rechtmäßig und im Gnadenstande, und der andere dasselbe verneint: Dann hat der Erste etwas Falsches, der andere etwas Richtiges gesagt. Siehe, wir haben ein ähnliches Beispiel von Johannes dem Täufer, der, gefragt von den Priestern und Leviten: Bist du Elia?, es verneinte und Nein sagte.107 Und die Wahrheit, die nicht lügen kann, sagt Mt 11 zur Menge: Er ist Elia.108 Siehe, sie widersprechen sich nicht, in denen derselbe Geist redet, denn etwas anderes ist es, was Johannes von sich bestreitet, etwas anderes, was die Wahrheit von ihm behauptet. Johannes verneint, dass er Elia in Person sei; die Wahrheit behauptet, dass er ein Elia an Geist und Kraft sei, nach jenem Wort in Lk 1: Und er wird vor ihm hergehen im Geist und in der Kraft des Elia, zu bekehren die Herzen der Väter zu den Kindern und die Ungläubigen zu der Klugheit der Gerechten.109 Was also ist Verwunderliches oder nicht schlüssig daran, wenn einer behauptet und sagt: Keiner, der in Todsünde ist, ist Christi, und ein anderer behauptet und sagt, dass jemand in Todsünde Christi sei? Der Erste spricht mit Paulus Röm 8: Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein; 110 der Zweite sagt mit dem Evangelisten Johannes: Der Todsünder ist Christi, weil ihm der Vater alles in seine Hände gegeIn den Text eingestreut sind mehrere Belege aus dem Liber Extra (2,22,6; 5,40,25; 5,33,26; 2,28,41; 5,40,15). 107 Joh 1,21. 108 Mt 11,14. 109 Lk 1,17. 110 Röm 8,9.
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ben hat .111 Wenn also der Satz erklärt wird, zeigt sich, dass er kein Widerspruch ist. Der Erste sagt: Niemand, der in Todsünde ist, ist Christi aufgrund der Gnade, die angenehm macht; der andere sagt: Wer in Todsünde ist, ist Christi aufgrund der Natur. Wie also diese beiden Behauptungen sich nicht widersprechen, so auch nicht die ersteren. Und diejenigen, welche gebührend erwögen, inwiefern dies kein Widerspruch ist (es sei denn, wie der Philosoph sagt, es gehe um Behauptung und Verneinung desselben von demselben und gemäß demselben), verstünden dann sehr leicht die Heilige Schrift, die die Halbgebildeten in Unkenntnis von Kraft und Eigenart des Widerspruchs nicht leicht fassen und darum öfter an ihr Anstoß nehmen, so wie in jenem Schriftwort Joh 12: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.112 Ähnlich an derselben Stelle: Und wer meine Worte hört und glaubt nicht, den werde ich nicht richten. Das Wort, welches ich geredet habe, das wird ihn richten am jüngsten Tage.113 Ähnlich jenes Apostelwort Gal 2: Ich lebe, doch nun nicht ich .114 Ähnlich jenes Wort: Der Faule will und will nicht.115 Daher haben aufgrund des scheinbaren Widerspruchs die Jünger, als der Heiland zu den Jüngern sprach: Über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen; und abermals über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen ,116 gesagt: Wir wissen nicht, was er redet .117 Wenn sie nämlich begriffen hätten, dass der Heiland das Wahre von verschiedenen Zeiten spricht, so hätten sie erkannt, dass es kein Widerspruch ist. Und aus dem Gesagten kann schon deutlich werden, in welchem Sinn es wahr ist, dass keiner, der sich in Todsünde befindet, weltlicher Herr, Bischof oder geistlicher Würdenträger ist, denn er ist ein solcher nicht wahrhaftig, rechtmäßig, aus Gnaden, sondern nur dem Namen nach und ganz in der falschen Bedeutung des Wortes, weil in diesem Fall, wie gesagt, Gott solche Herrschaft, Würde oder Amt nicht anerkennt. Daher sagt Augustinus in der 6. Homilie: Nicht jedem, der sagt: „Friede sei mit euch“, darf man Gehör schenken wie einer Taube. Die Raben nämlich fressen vom Aas, das hat die Taube nicht an sich, die von den Früchten der Erde lebt.118 Wie daher die weltlichen Herren, wenn sie vor dem Angesicht der Kirche Zustimmung finden und sich aus der Todsünde erheben, dadurch zur Gnade die weltliche Herrschaft wiedergewinnen, so gewinnen die Priester, Päpste und Bischöfe, wenn sie sich von der TodJoh 13,3. 112 Joh 12,44. 113 Joh 12,47 f. 114 Gal 2,20. 115 Spr 13,4. 116 Joh 16,16. Joh 16,18. 118 Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 30 (Friedberg 1,492), aus Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus 6 (PL 35,1427).
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sünde zur Gnade erheben, durch Gottes Gnade ihre frühere Würde wieder. Und was sie auch immer getan haben – selbst wenn es ihnen nicht als Verdienst angerechnet wird zum ewigen Leben, insofern sie bei ihrem Tun sündigen –, so nützen doch die Sakramente, die sie unterdessen austeilen, da sie es nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft Gottes tun, der Kirche in rechtmäßiger Weise. Die Schlüsselgewalt, die mit Todsünde zusammenbesteht, bleibt in ihnen, wenn auch ihr Priestertum, wie der selige Remigius sagt, aufhört.119 Und es offenbart sich Gottes große Barmherzigkeit, Macht und Herrlichkeit: Barmherzigkeit, weil er die Sünder durch Gnade zur Herrschaft zurückberuft, wie König David, zum Bischofs- und Priesteramt, wie den Petrus, der verleugnete, aber Buße tat, ja, die Heiden zu seinem auserwählten Volk. Und davon spricht der Apostel Röm 9:120 Wie Hosea sagt: 121 Ich werde mein Nicht-Volk mein Volk heißen, und meine Nicht-Geliebte meine Geliebte, und die nicht Barmherzigkeit erlangt hat, eine, die Barmherzigkeit erlangt hat; und es soll geschehen: Anstatt dass zu ihnen gesagt wird: Ihr seid nicht mein Volk, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden. Die nämlich in Todsünde waren, waren zu der Zeit weder das Volk Gottes im Gnadenstand noch das geliebte, noch das, was die Barmherzigkeit der Begnadung erlangt hat. Doch indem sie sich durch die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes aus der Todsünde erheben, sind sie Gottes erwähltes Volk und Kinder des lebendigen Gottes. Daher wurde vorhin gesagt: Und es soll geschehen: Anstatt dass zu ihnen gesagt wird: Ihr seid nicht mein Volk, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden . So offenbart sich die Barmherzigkeit Gottes, die zuvorkommt, hilft und erhält. Zweitens offenbart sich die Macht Gottes darin, dass er durch einen unwürdigen und unreinen Diener ein sehr würdiges und reines Werk vollbringt, wie zum Beispiel Taufe, Lossprechung, Weihe und Predigt des Wortes Gottes. Daher sagt dazu der selige Augustinus im Buch Über den Leib des Herrn :122 Innerhalb der katholischen Kirche wird der Dienst am Leib und Blute des Herrn um nichts mehr durch den guten, um nichts geringer durch den schlechten Priester ausgeführt, weil er nicht im Verdienst des Weihenden, sondern im Wort des Schöpfers und in der Kraft des Heiligen Geistes vollführt wird. Wenn nämlich die Weihe im Verdienst bestünde, so hätte sie nichts mit Christus zu tun. Nun aber, wie er selbst es ist, der tauft, so ist er es selbst, der durch den Heiligen Geist dies Hus bestreitet also nicht, dass auch in Todsünde lebende Priester die Sakramente gültig spenden können. 120 Röm 9,25 f. 121 Vgl. Hos 2,25 f. 122 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 77 (Friedberg 1,385).
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zu seinem Leib macht und in sein Blut verwandelt . Derselbe sagt im Buch Die Worte des Herrn :123 So geschieht es, dass durch einen katholischen Priester, der verwerflich und heuchlerisch ist, wenn jemand zu ihm mit ehrlichem Herzen kommt, der Heilige Geist in ihm die Vergebung der Sünden bewirkt, der in der heiligen Kirche so wirkt, dass er die Verwerflichen vertreibt und doch durch ihren Dienst die Rechtschaffenen124 sammelt. Und auf dasselbe zielt der selige Gregor, wenn er sagt:125 Ob es nun von guten oder von schlechten Dienern innerhalb der Kirche verteilt wird, so ist es doch heilig, weil es der Heilige Geist auf mystische Weise belebt, jener, der sich einst zur apostolischen Zeit in sichtbaren Werken offenbarte. Und sie werden nicht durch die Verdienste guter Sakramentsverwalter vermehrt oder durch die der schlechten verringert, denn „weder der, der pflanzt, noch der, der bewässert, ist etwas, sondern der, der das Gedeihen gibt, Gott“. Dies muss man über Leib und Blut des Herrn Jesu Christi und auch von der Taufe und Salbung wissen und bewahren, denn die göttliche Kraft wirkt geheimnisvoll in ihnen, und diese ist ausschließlich eine Kraft oder Macht von göttlicher, nicht menschlicher Wirksamkeit .126 So jener. Drittens wird die Herrlichkeit Gottes dadurch offenbar, dass er, wenn er die Sünder zur Gnade zurückruft und durch unreine Diener die Seelen von der Befleckung reinigt auf reine Weise, am Ende allen Heiligen herrlich erscheinen wird. Wenn man das bis hierher Gesagte berücksichtigt, ergibt sich entsprechend, dass auch der 4. von den verdammten Artikeln wahr ist, nämlich: Wenn ein Bischof oder Priester in Todsünde lebt, ordiniert er nicht, opfert er nicht, konsekriert er nicht und tauft er nicht.127 Es ergibt sich, dass, wenn er nach dem Gesagten nicht in würdiger Weise Bischof oder Priester ist, er dann nicht würdig ordiniert, Messopfer bringt, weiht oder tauft. Daher sagt Alexander dem Bischof und Märtyrer Valerian: Die Gewalt zu binden und zu lösen ist den wahren, nicht den falschen Priestern vom Herrn übertragen. Als er den Aposteln sagen wollte: „Wessen Sünden ihr vergeben werdet, denen sind sie vergeben“ 128, schickte er voraus: „Empfanget den Heiligen Geist“, um allen deutlich zu zeigen, dass der, der den Heiligen Geist nicht hat, Sünden nicht behalten oder vergeben kann.129 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 81 (Friedberg 1,386) aus Augustinus, Sermones de Scripturis, sermo 71 (PL 38,466). 124 Hier ist (entgegen der Übersetzung von Kalivoda/Kolesnyk) mit MIHO XXII probos statt reprobos zu lesen. 125 1Kor 3,7. 126 Decr. Grat II C. 1 q. 1 c. 84 (Friedberg 1,388). 127 Unten Nr. 20.II, Art. 4 der in Konstanz verurteilten Sätze Wyclifs. 128 Joh 20,22 f. 129 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 4 (Friedberg 1,967).
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Ebenso der selige Augustinus: Die Habgierigen geben nicht diejenige Vergebung der Sünden, die durch Berufung, das ist durch die Stimme der Taube, gegeben wird, wer immer auch tauft, obschon zu seinem Frieden die gelangen, denen sie gegeben wird. Denn er sagt nicht zu Räubern und Wucherern: „Wenn ihr jemandem die Sünden erlasst, dem sind sie erlassen; wenn ihr sie jemandem behaltet, dem werden sie behalten.“ Denn von außen kann niemand gebunden oder gelöst werden, wo130 keiner ist, der einen anderen binden oder lösen kann. Gelöst wird, wer mit der Taube Frieden gemacht hat, gebunden, wer mit der Taube nicht Frieden hat.131 So Augustinus. Derselbe sagt in seiner Schrift Über die wahre und falsche Buße: Gott hat den Lazarus, den er aus dem Grabe erweckte, seinen Jüngern zum Losbinden übergeben. Dadurch zeigt er, dass die Gewalt zu lösen den Priestern gegeben ist; er sagte: „Was ihr auf Erden lösen werdet, das soll auch im Himmel gelöst sein“ 132, das ist: Ich, Gott, und alle Zenturien der himmlischen Heerscharen und alle Heiligen, die in dieser Herrlichkeit lobpreisen, bestätigen mit uns die, die ihr bindet und löst. Er hat nicht gesagt: die ihr zu binden und zu lösen meint, sondern, an denen ihr Werke der Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit vollbringt. Eure anderen Werke aber an den Sündern erkenne ich nicht an.133 So Augustinus. Derselbe über die Exodus-Stelle, wo man von der Goldplatte liest: Es soll aber eine Goldplatte ständig vor der Stirn des Priesters sein 134; diese , sagt er, bezeichnet das Unterpfand des guten Lebens; wer dieses wirklich, vollkommen – denn er ist nicht nur der Bezeichnung nach, sondern in Wahrheit Priester – hat, der allein kann die Sünden hinwegnehmen.135 So Augustinus. Ebenso Gregor im Buch der Dialoge: Nur diejenigen in diesem Fleisch haben die Gewalt zu binden und zu lösen wie die heiligen Apostel, die deren Beispiel und Lehre befolgen.136 Derselbe in der 26. Homilie: Der Gewalt zu binden und zu lösen entäußert sich, wer sie zu seinem Vergnügen, nicht um des Lebenswandels seiner Untergebenen willen ausübt.137 Daraus ergibt sich: Diejenigen, die die Artikel verdammt haben, müssen das Gesagte gelten lassen oder mit dem vierten Artikel zusammen verurteilen. Mit dem Decr. (s. nächste Anm.) ist ubi statt nisi zu lesen. 131 Decr. Grat II C. 1 q. 1 c. 39 (Friedberg 1,373 f.) zitiert Augustinus, De baptismo contra Donatistas III 18 (PL 43,150 f.). 132 Mt 18,18. 133 Ps.-Augustinus, Liber de vera et falsa penitentia 10 (PL 40,1122). 134 Ex 28,36–38. 135Augustinus, Quaestionum in Heptateuchum II 120 (PL 34,638). 136 Zitat nicht nachweisbar. 137 Gregor d. Gr., Homiliae in evangelia II, hom. 26 (PL 76,1200B).
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[II] Die vom Konstanzer Konzil verurteilten 45 Artikel Wyclifs 1. Die materielle Substanz138 des Brotes und ebenso die materielle Substanz des Weines verbleiben im Altarsakrament. 2. Die Akzidentien des Brotes139 verbleiben in diesem Sakrament nicht ohne Subjekt.140 3. Christus ist in diesem Sakrament nicht identisch und real in eigener leibhaftiger Person141 gegenwärtig. 4. Wenn ein Bischof oder Priester in Todsünde lebt, ordiniert er nicht, opfert er nicht, konsekriert er nicht und tauft er nicht. 5. Es ist im Evangelium nicht begründet, dass Christus die Messe angeordnet hat. 6. Gott muss dem Teufel gehorchen. 7. Wenn ein Mensch gebührend bereut hat, so ist für ihn jede äußere Beichte überflüssig und unnütz. 8. Wenn ein Papst nach göttlichem Vorherwissen verdammt und böse ist und folglich ein Glied des Teufels, dann hat er keine Gewalt über die Gläubigen, die ihm von irgendjemandem verliehen wäre, es sei denn vielleicht vom Kaiser. 9. Nach dem Tod Urbans VI. ist niemand mehr als Papst anzuerkennen, sondern man muss nach Art der Griechen unter eigenen Gesetzen leben. 10. Es ist gegen die Heilige Schrift, dass Kirchenmänner Besitz haben. 11. Kein Kirchenoberer darf jemanden exkommunizieren, es sei denn, er wisse zuvor, dass er von Gott exkommuniziert ist; und wer einfach so exkommuniziert, wird dadurch zum Häretiker oder Exkommunizierten. 12. Ein Kirchenoberer, der einen Kleriker exkommuniziert, der an den König oder an ein Reichskonzil appelliert hat, ist eo ipso ein Verräter des Königs und des Reiches. Der aristotelische Begriff „Substanz“ meint (im Unterschied zu den „Akzidentien“) das innere, unter den Akzidentien verborgene Wesen der Dinge, im Falle des Brotes also den Leib Christi. Wyclifs Satz wendet sich gegen die spätmittelalterliche sog. Transsubstantiationslehre, derzufolge in der Messe durch den Priester die Substanz der Elemente Brot und Wein in Leib und Blut Christi gewandelt wird. Nach Wyclifs Auffassung findet eine solche Substanzwandlung nicht statt. 139 Der aristotelische Begriff der „Akzidentien“ beschreibt die äußere Erscheinungsform der Dinge, im Falle des Brotes also Aussehen, Geschmack, Geruch usw. 140 „Subjekt“ bedeutet hier so viel wie „Grundlage“, „Träger“ der Akzidentien. 141 Andere Lesart: „in eigener leiblicher Gegenwart“. 138
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13. Jene, die aufgrund einer Exkommunikation, die von Menschen ausgesprochen wurde, aufhören, das Wort Gottes zu predigen oder zu hören, sind exkommuniziert und werden am Tag des Gerichts als Verräter Christi gelten. 14. Es ist einem Diakon oder Presbyter erlaubt, das Wort Gottes ohne Vollmacht des Apostolischen Stuhls oder eines katholischen Bischofs zu predigen. 15. Keiner ist weltlicher Herr, keiner Prälat und keiner Bischof, solange er in Todsünde lebt. 16. Die zeitlichen Herren können nach ihrem Belieben der Kirche zeitliche Güter entziehen, wenn die Besitzenden habituelle Sünder sind, das heißt Sünder dem Habitus142 nach, nicht nur im aktuellen Vollzug. 17. Leute aus dem Volk können nach ihrem Ermessen sündige Herren zurechtweisen. 18. Der Zehnte ist ein reines Almosen, und die Pfarrangehörigen können ihn wegen der Sünden ihrer Kirchenoberen nach Belieben entziehen. 19. Besondere Gebete, die von Prälaten oder Religiosen einer einzigen Person zugewendet werden, bringen ihr keinen größeren Nutzen als allgemeine Gebete unter sonst gleichen Voraussetzungen. 20. Wer den Brüdern143 ein Almosen zukommen lässt, ist durch diese Tat exkommuniziert. 21. Wenn jemand in eine besondere religiöse Gemeinschaft eintritt, sei es eine Gemeinschaft mit Besitz oder ein Bettelorden, wird seine Untauglichkeit und Unfähigkeit zur Beobachtung der Gebote Gottes größer. 22. Heilige, die sich als Stifter besonderer religiöser Gemeinschaften betätigten, haben dadurch gesündigt. 23. Religiose, die in besonderen religiösen Gemeinschaften leben, gehören nicht zur christlichen Religion. 24. Die Brüder sind verpflichtet, durch ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt zu erwerben und nicht durch Bettelei.144 Der Ausdruck „Habitus“ ist weder mit „Haltung“ noch mit „Gewohnheit“ noch mit „Gesinnung“ zutreffend übersetzt. Es geht hier um eine Art Disposition zum Bösen. Jedenfalls denkt der Artikel an eine „Dauerformung“, nicht an einzelne böse Taten. 143 Gemeint sind wohl die Brüder der Bettelorden. 144 Bezüglich dieses Artikels sind die Gründe für die Verurteilung in die Akten eingefügt: „Der erste Teil ist Ärgernis erregend und stellt eine anmaßende Behauptung dar, insofern er so allgemein und unterschiedslos spricht; der zweite Teil ist irrig, weil er behauptet, den Brüdern sei das Betteln nicht erlaubt.“
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Verteidigung einiger Artikel des John Wyclif
25. Alle, die sich verpflichten, für andere, welche ihnen in zeitlichen Dingen zu Hilfe kommen, zu beten, sind simonistisch. 26. Das Gebet dessen, der nach göttlichem Vorherwissen verdammt wird, hat für niemanden einen Wert. 27. Alles geschieht aus absoluter Notwendigkeit. 28. Die Firmung Jugendlicher, die Ordination von Klerikern und die Weihe von Orten werden dem Papst und den Bischöfen wegen ihrer Gier nach zeitlichem Gewinn und ihrer Ehrsucht vorbehalten. 29. Universitäten, Studien, Kollegien sowie ihre Graduierungen und Lehrämter sind aus nichtiger heidnischer Gesinnung eingeführt worden und nützen der Kirche so viel wie der Teufel. 30. Die Exkommunikation durch den Papst oder einen Prälaten ist nicht zu fürchten, denn sie ist eine Zensur des Antichrist. 31. Es sündigen die Gründer von Klöstern, und alle, die eintreten, sind Teufelsmänner. 32. Den Klerus zu bereichern, ist gegen das Gebot Christi. 33. Papst Silvester und Kaiser Konstantin haben geirrt, als sie die Kirche mit Vermögen ausstatteten. 34. Alle Angehörigen von Bettelorden sind Häretiker, und solche, die ihnen Almosen geben, sind exkommuniziert. 35. Alle, die in eine religiöse Gemeinschaft oder in einen Orden eintreten, sind eo ipso unfähig zur Beobachtung der göttlichen Gebote und demzufolge unfähig, ins Himmelreich zu gelangen, wenn sie denselben [Einrichtungen] nicht den Rücken kehren. 36. Der Papst mitsamt allen Klerikern, die Besitz haben, sind dadurch, dass sie Besitz haben, Häretiker; ebenso alle, die ihnen zustimmen, das heißt alle weltlichen Herren und übrigen Laien. 37. Die römische Kirche ist die Synagoge des Satans, und der Papst ist nicht der unmittelbare und nächste Stellvertreter Christi und der Apostel. 38. Dekretalbriefe sind apokryph und führen vom Glauben an Christus weg; die Kleriker, die sie studieren, sind töricht. 39. Der Kaiser und die weltlichen Herren sind vom Teufel dazu verführt worden, die Kirche mit zeitlichen Gütern auszustatten. 40. Die Wahl des Papstes durch die Kardinäle wurde vom Teufel eingeführt. 41. Es ist nicht heilsnotwendig zu glauben, die römische Kirche sei unter den übrigen Kirchen die oberste.145 Auch zu diesem Artikel finden sich die Gründe für die Verurteilung in den Akten: „Es ist ein Irrtum, wenn man unter der römischen Kirche die Universalkirche oder
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Verteidigung einiger Artikel des John Wyclif
42. Es ist naiv, den Ablässen des Papstes und der Bischöfe zu glauben. 43. Eide zur Bestätigung menschlicher Verträge und bürgerlicher Handelsgeschäfte sind unerlaubt. 5 44. Augustinus, Benedikt und Bernhard sind verdammt, es sei denn, sie haben Buße getan bezüglich dessen, dass sie Besitztümer hatten, religiöse Gemeinschaften stifteten und in sie eintraten. Und so sind alle, vom Papst bis zum letzten Religiosen, Häretiker. 45. Alle religiösen Gemeinschaften sind ohne Unterschied vom 10 Teufel eingeführt worden.
das Generalkonzil versteht; der Artikel irrt auch, insofern er den Primat des Papstes über die anderen Teilkirchen leugnet.“
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Abb. 11: Portrait des Johannes Hus, aus: Johannes Agricola, Tragedia Johannis Huss ..., Wittenberg 1537 (VD 16 A 1025).
21 HUS AN DAS PRAGER LANDESGERICHT [vor 14. Dezember 1412]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 22 f. (Nr. 11); Novotny´, Korespondence, 157 f. (Nr. 54).
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Einleitung Nr. 21
In der ersten Dezemberhälfte 1412 trat in der Causa Hus eine scheinbare Wende ein. Zum einen bemühte sich Hussens getreuer Verteidiger Johann von Jessenitz, in dem Rechtsstreit die Ungültigkeit der Entscheidung Kardinal Pietro della Stephaneschis aufzuzeigen, nämlich gegen Hus den verschärften Kirchenbann zu verhängen, zum anderen fasste Hus selbst den Entschluss, sein öffentliches Schweigen zu beenden und sich trotz des Verbots erneut dem Predigeramt zu widmen. Jessenitz sollte in seinem Vorgehen die weltliche Macht unterstützen. Daher wandte sich Hus, wohl im Einklang mit seinem Rechtsberater, an das in Prag tagende Landesgericht, dessen Zusammenkunft für Mitte Dezember geplant war. In seinem Verteidigungsschreiben beschreibt er den Streit mit der Kurie, unter Verweis auf die Prager Kanoniker, die (vor allem Michael de Causis) darauf hingearbeitet hätten, dass über ihn der Bann verhängt wurde. Er betont, dass die Verhängung des Interdikts auch die „kaiserlichen Rechte“ beschneide, und bittet König und Herren im Landesgericht, zum Wohle des Landes zu handeln und ihm zu ermöglichen, das freie Wort Gottes zu verkünden. Hus erläutert auch, warum er sich weigert, vor die Kurie zu treten, und er verspricht, sich vor all seinen Anklägern zu verantworten.
Hus an das Prager Landesgericht
Den hochwohlgeborenen Herren und Beamten des Königreichs Böhmen sowie den anderen Herren, die jetzt in Prag weilen. Gelingen in allen guten Angelegenheiten möge Euch der gnädige
5 Herrgott gewähren!
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Liebe Herren, Ihr Erben des heiligen Königreichs Böhmen! Vor Euer Gnaden noch danke ich meinem huldreichen Herrn, König Wenzel, römischer und böhmischer König, dass er mich bei der Verkündigung des Gottesworts und bei meiner Wahrheit gnädig hat walten lassen, und dass er mit den Fürsten und Herren sowie seinem Rat mich und die anderen Magister mit dem Priester Zbyněk, seligen Andenkens Erzbischof von Prag, versöhnt hat, und dass er zwischen uns vermittelt hat, wie Eure Gnaden durch die entsprechende Abschrift vernommen haben. Unter Missachtung dieses Schiedsspruchs haben die Prager Kanoniker den Pfarrer zu St. Adalbert, Michael [de Causis], veranlasst, auch weiterhin gegen mich zu prozessieren; und so haben sie gegen mich den Bann verhängt, doch ich fürchte schon keinerlei Ärgernis mehr für meine Seele, sondern erdulde gern und froh dies Gebaren. Doch das schmerzt mich, dass ich nicht das Wort Gottes predige, ich will nicht, dass man den Gottesdienst einstellt und das Volk in Verwirrung gebracht wird. O wägt ab, liebe Herren, mag ich auch selbst große Schuld tragen, ob sie deshalb das Recht haben, durch solcherlei Bannflüche und die Einstellung gottesdienstlicher Handlung dem Herrgott das Lob zu verweigern und unter dem Volk Gottes Verwirrung zu stiften, ohne anhand der Heiligen Schrift begründen zu können, den Gottesdienst dergestalt einzustellen, wann immer es ihnen gerade so einfällt. Sie drücken und nötigen die Fürsten, Herren, Ritter, Edelleute und das einfache Volk und treiben sie aus ihrem Land. Und dies verstößt gegen das Gesetz Gottes, gegen die Verfassung der geistlichen, aber auch der kaiserlichen Rechte. Daher, liebe Herren und Erben des Königreichs Böhmen, tragt Sorge, dass diese Zwischenfälle ein Ende finden und das Wort Gottes unter dem Gottesvolk Freiheit genieße. Und ich werde mich stellen, wie ich mich stets zu stellen bereit war und wie ich mich immer gestellt habe vor dem Priester Zbyněk heiligen Andenkens und seinen Amtsträgern, als er noch nicht auf Betreiben der Prälaten und Prager Pfarrer sich gegen mich stellte und mich nach Rom beorderte. Und ich will vor allen Magistern, Prälaten und vor Euer Gnaden erscheinen und gern die Anklage gegen mich vernehmen und darauf antworten sowie das Urteil erdulden, wie es einem armen Priester gebührt, nur möge doch der hervortreten, der mir die Schuld anzeigt. Und dazu erbot ich mich stets, und Königliche Gnaden
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Hus an das Prager Landesgericht
hat ihnen dazu die Einwilligung gegeben, und niemand hat je mich beschuldigt, wohl aber gesagt, ich sei unfolgsam. Und ich bin mir ja dessen bewusst, dass ich weder Papst noch Erzbischof darin gehorsam sein will, nicht zu predigen; denn dies ist wider Gott und mein eigenes Seelenheil. Ich weiß, liebe Herren, dass Ihr dem Befehl ja gleichfalls 5 nicht folgt, durch den der mittlerweile verstorbene Papst in seiner Bulle, die sie teuer erkauft haben, angewiesen hat, dass niemand das Wort Gottes in Kapellen predige; denn ich weiß, dass viele von Euch über Kapellen verfügen, in denen Ihr die Predigt hört, und zuweilen auch zu Hause. Am päpstlichen Hof habe ich mich nicht gestellt, denn 10 ich hatte meine Beisteher, die man ohne Schuld in den Kerker geworfen hat und die sich bis zum Feuertod gegenüber jedem verpflichten wollten, der mir ketzerische Ansichten vorwerfen würde. Und allein habe ich mich auch nicht gestellt, denn man hat mir allerorts Fallstricke gelegt, damit ich nicht nach Böhmen zurückkehre. Und ich ver- 15 traue Euer Gnaden, dass Ihr mit Seiner und Ihrer Königlichen Gnaden darauf hinwirkt, was Euch der allmächtige Gott zum Wohle Eures Landes angeraten erscheinen lässt. Der möge Euch auch durch seine Gnade bestärken. Amen. Magister Johannes Hus, ein schwacher Priester
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22 KLEINE AUSLEGUNG DES GLAUBENSBEKENNTNISSES [1412]
Übersetzungsgrundlage: MIHO I, 105 f.
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Einleitung Nr. 22
Hussens bedeutendstes Werk in tschechischer Sprache (Menší výklad na vieru, zu deutsch „Kleine Auslegung“) entstand im Spätherbst 1412 in Prag. Im Mittelpunkt stehen das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote und das Vaterunser. „Jeder verständige Christ, der erlöst werden möchte, muss glauben, muss Gottes Gebote erfüllen und muss zu Gott beten [...] Weil diese drei Dinge dem Menschen zum ewigen Leben notwendig sind, ist es gut, wenn er diese drei Dinge erkennt, sie weiß und danach handelt.“ Mit diesen Worten erklärte Hus Sinn und Aufgabe seiner umfangreichen, 96 Kapitel umfassenden Schrift. 28 Kapitel betreffen dabei das Glaubensbekenntnis, 50 die Auslegung der Zehn Gebote, die restlichen 16 beziehen sich auf das Vaterunser. Im fünften Kapitel findet sich der berühmte, Hussens Verhältnis zur „Wahrheit“ kennzeichnende Satz, der von Joh 8, 31 f. ausgeht: „Darum, frommer Christ, suche die Wahrheit, höre auf die Wahrheit, lerne die Wahrheit, liebe die Wahrheit, sprich die Wahrheit, halte die Wahrheit, verteidige die Wahrheit bis zum Tode, denn die Wahrheit befreit dich von der Sünde, vom Teufel, vom Tod der Seele und schließlich vom ewigen Tod.“ Für Hus war die einzige Wahrheit das Wort Gottes. Für diese Wahrheit wollte er notfalls auch den Tod erleiden. Inhaltlich und gedanklich nahm Hus auch in den Výklady Bezug auf sein großes Vorbild John Wyclif, den er somit – ohne auch nur ein einziges Mal dessen Namen zu nennen – im Volk popularisierte. Die folgende Übersetzung greift die von Hus selbst als „Kleine Auslegung“ bezeichnete Zusammenfassung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses in Kapitel 26 heraus.
Kleine Auslegung des Glaubensbekenntnisses
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Ich glaube an Gott , den allmächtigen Vater , d. h., dass Gott der allmächtige Vater ist, dass er Himmel und Erde geschaffen hat und so alle Dinge im Himmel und auf Erden. Und ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn , d. h., ich glaube, dass Jesus Christus der eingeborene Sohn Gottes und unser Herr ist, denn er ist wahrer Gott und wahrer Mensch; der empfangen ist oder seinen Anfang genommen hat aus dem Heiligen Geist oder durch den Heiligen Geist, d. h., ich glaube, dass er empfangen ist durch die Macht des Heiligen Geistes um der ewigen Liebe willen, die er dem Menschen entgegenbringt; diese Liebe wohnt dem Heiligen Geist inne zur Vollendung des Menschseins Jesu Christi. Er wurde geboren von der Jungfrau Maria – verstehe dies zeitlich –, als Mensch, der zuerst im Leben begann und ein vollständiger Mensch war nach den Worten der Jungfrau Maria, da sie sprach zu dem Engel: Mir geschehe nach deinem Wort.1 Er hat gelitten unter Pontius Pilatus , er hat etwas mehr als 32 Jahre gelebt, in Not und Trübsal; dann ist er gekreuzigt worden, und zwar unter großem leiblichen Schmerz, und ist einen grässlichen Tod gestorben und war tot bis zum dritten Tage, denn seine Seele war außerhalb des Körpers nach dem Tode; begraben wurde er nach dem Leibe, der weder verweste noch stank, nicht allein um der Salbe willen, mit der er eingerieben war, sondern weil es von der Heiligen Dreifaltigkeit so bestimmt war. Doch in der Zeit, bevor er von den Toten auferstand, ist er mit seiner Seele hinabgestiegen zur Hölle und hat die Seinen aus der Gewalt des Teufels machtvoll befreit, und wo er geruhte, da gab er ihnen die Seligkeit. Doch am dritten Tage ist er auferstanden von den Toten, nachdem er mit der Seele in den Körper zurückgekehrt war, so dass er also den ersten Tag vom Begräbnis bis Mitternacht sechs Stunden gelegen hat, am zweiten Tage, dem heiligen Sonnabend, einen ganzen Tag, und am dritten Tage, nach weiteren sechs Stunden, ist er auferstanden, und so hat er 36 Stunden im Grabe gelegen; doch beachte hier, dass du den natürlichen Tag rechnest, der 24 Stunden hat. Dann, nach vierzig Tagen, in denen er sich seinen Jüngern noch häufig zeigte, sie lehrte und wegen ihres Unglaubens schalt, trat er leibhaftig ein in den Himmel (oder auch die Himmel) und sitzt nun zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters, d. h. über alle anderen Geschöpfe ist er selig in den allerbesten Gaben Gottes. Doch darfst du nicht denken, dass der Vater eine rechte Hand im leiblichen Sinn hätte; denn weder der Vater noch der Heilige Geist hat eine leibliche Gestalt, da einzig der 1
Lk 1,38.
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Kleine Auslegung des Glaubensbekenntnisses
Sohn sich verkörpert hat; durch diese Leiblichkeit ist er geringer als die ganze Heilige Dreieinigkeit. Von dort wird er dann leibhaftig kommen zum Tag des Jüngsten Gerichts, zu richten die Lebenden, d. h. die Heiligen, zum ewigen Leben, und die Toten, d. h. die Verfluchten, zu ewiger Verdammnis; oder: Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden, d. h. jene, die jetzt leben, und die Toten, d. h. jene, die bereits verstorben sind. Sodann weiter: Ich glaube an den Heiligen Geist, d. h., ich glaube, dass der Heilige Geist die dritte Person ist, völlig gleich dem Vater und dem Sohn. Und hier beachte, dass dieser Glaube besagt, dass du an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist glauben sollst, aber nicht besagt, dass du an die Empfängnis Christi oder sein Leiden glauben sollst; sondern dass du glauben sollst, dass der Vater Himmel und Erde geschaffen hat und dass Gottes Sohn sich verkörpert hat. Und also glaube diese Stücke, aber nicht an sie. – Die heilige gemeine Kirche : Du glaubst, dass es eine gemeine heilige Kirche gibt, d. h. eine Gemeinde oder Schar aller Auserwählten, und dass diese Gemeinde die Braut Christi ist, die von der Heiligen Dreifaltigkeit Christus aus ewiger Liebe anvertraut wurde. – Gemeinschaft der Heiligen , das ist der gemeinsame Genuss der Hilfe und der Liebe, dergestalt, dass alle Heiligen, die hier zur ewigen Seligkeit wandern, alle guten Werke gemeinsam haben, sowohl mit jenen, die im Himmel sind, als auch mit denen, die im Fegefeuer sind, also dass die himmlischen Heiligen denen, die hier sind, helfen, und diese sich untereinander und denen, die in der Vorhölle sind, und alle zusammen sich lieben. – Vergebung der Sünden: Glaube, dass kraft des Verdienstes Christi der heiligen Kirche endlich die Sünden vergeben werden und dass den Heiligen, die im himmlischen Königreich sind, schon alle vergeben sind. – Auferstehung des Leibes : Glaube, dass alle, die noch nicht von den Toten auferstanden sind, auferstehen und ihren Lohn erhalten werden, ein jeder nach seinem Verdienst. – Und das ewige Leben: Du glaubst, dass alle Heiligen ewig leben werden in Seligkeit mit der Heiligen Dreieinigkeit und mit den heiligen Engeln in ewiger Freude. Kann der gemeine Mensch andere Feinheiten und Schwierigkeiten nicht begreifen, so habe er an diesen Stücken genug, indem er sich klarmacht, dass ohne den Glauben niemand Gott lieben kann und auch niemand ohne Unglauben sündigen kann und dass jeder Mensch erlöst werden muss oder verdammt ist; daher muss jeder Mensch ein Schüler Gottes oder des Teufels sein. Und der ist ein Schüler Gottes, der Gottes Wort hört und mit Werk erfüllt; und der ist ein Schüler des Teufels, der Gottes Wort nicht hört, oder es hört, aber nicht mit dem Werk
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füllt und also nicht glaubt. Und darüber ist am Anfang gesprochen, und davon wird noch die Rede sein in den Büchern über das göttliche Gebot. Und dieses Glaubensbekenntnis, das man in der Messe singt, ist schon verfasst worden auf dem allgemeinen Konzil in der Stadt, welche 5 Nicäa2 heißt; auf diesem Konzil war der heilige Nikolaus anwesend; und alle geistlichen Väter zusammen waren 318, deren Fassung wir glauben wie das heilige Evangelium, denn ein jedes Stück hat seine Grundfeste in der Heiligen Schrift.
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Im Jahr 325.
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Abb. 12: Der Holzschnitt (um 1530/40) zeigt Johannes Hus im Gelehrtentalar mit Barett und einer Schriftrolle in der rechten Hand. Die im Profil dargestellten Gesichtszüge entsprechen dem im 16. Jahrhundert etablierten Typus: spitze Nase und langer schwarzer Bart. Hus zu Füßen sind in kleinerem Maßstab eine Gans und ein Schwan zu sehen. Dies greift eine von Luther zitierte Aussage Hussens auf, wonach auf die Gans, d. h. Hus, ein Schwan, d. h. Luther, folgen werde. Gans und Schwan stehen für das Vorgänger-Nachfolger-Schema. Im Bildtyp „Luther mit dem Schwan“ war dieses Schema im 16. und 17. Jahrhundert weit verbreitet. (© akg-images 4756)
23 KLEINE AUSLEGUNG DER GÖTTLICHEN ZEHN GEBOTE [1412]
Übersetzungsgrundlage: MIHO Bd. 1, 327–329.
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Einleitung Nr. 23
Zu den katechetischen Stücken, die Hus in seinem bedeutendsten tschechischen Werk „Vy´ klady“ (Auslegungen) behandelte, zählten neben dem Glaubensbekenntnis (diese Ausgabe Nr. 22) auch die Zehn Gebote. In Kapitel 79 findet sich eine Zusammenfassung der Auslegung, die für die folgende Übersetzung herausgegriffen wird. Der Text ist zur Volksunterweisung gedacht und liefert ein Zeugnis der strengen Moralität, die Hus den Gläubigen immer wieder einschärfte.
Kleine Auslegung der göttlichen Zehn Gebote
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Damit du, der du lesen kannst, andre in aller Kürze im Gottesgebot unterweist, ist sie [die Kurze Auslegung] folgendermaßen zusammengestellt: Du sollst keine anderen Götter haben ; also wisse, du sollst nur einen einzigen Gott haben, der Himmel und Erde geschaffen hat; an ihn allein sollst du glauben, das heißt, du sollst ihn über alle anderen Dinge lieben, da er das allerbeste Gut ist; und darum sollst du keine anderen Dinge so sehr wie Gott oder mehr als Gott lieben und auch nicht deinen Gott nennen. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen, d. h. du sollst ihn nicht zur Lüge missbrauchen noch sollst du ihn leichtfertig nennen oder leichtfertig in seinem Namen schwören. Denk daran, dass du den Feiertag heiligst , d. h. dass du am Heiligentag, und vor allem am Sonntag, den Gott selbst eingesetzt hat, nicht sündigst, nicht Unzucht treibst, nicht tanzest, nicht würfelst oder andere Spiele spielst, nicht buhlst, den Tag nicht mit unnützer Rede verbringst noch in Trägheit vergeudest, sondern ihn heiligst, d. h. durch heilige Werke Heiliges wirkst; dass du, was du die ganze Woche versäumt hast, nun nachholst durch Denken an Gott, durch Hören des göttlichen Wortes, Unterredung, der Priester durch Predigen und Lesen in der Heiligen Schrift, und der Laie durch was für ein gutes Werk auch immer, zu dem ihm Gott Gelegenheit gibt. Ehre deinen Vater und deine Mutter, also: Wenn der Vater am Leben ist oder die Mutter, lehre sie, wenn nötig, Gott gehorsam zu sein, und du sei ihnen gehorsam im Guten und verhalte dich ihnen gegenüber ehrfurchtsvoll; und wenn sie in Not sind, und du kannst, so hilf ihnen, und wenn sie krank sind, bette sie, gib ihnen zu essen, und so wie sie dich beim Kacken getragen haben, so hilf, wenn nötig, auch du jetzt ihnen. Sind sie aber schon tot, dann bitte Gott für sie. Auch dergestalt: Ehre deinen himmlischen Vater Jesus Christus und deine Mutter, die heilige Kirche, die die Gemeinde aller Auserwählten zur Seligkeit ist. Und diesen Vater und diese Mutter ehrst du, wenn du seine Gebote erfüllst; und du ehrst sie nicht, wenn du eine Todsünde begehst. Du sollst nicht töten – versteh: einen Menschen zu Unrecht. Zu Unrecht tötet, wer ohne schuldhaften oder berechtigten Anlass jemanden tötet. Darum sollst du nicht zu Unrecht töten: weder durch eigene Tat noch durch Anraten, noch durch Verleiten, noch durch Verurteilen, noch durch Verrat, noch durch Nichtverteidigen, wenn du könntest, noch durch schlechtes Beispiel, noch durch bewusstes Anstiften zur Sünde, noch – du, Frau – durch absichtsvolle Tötung der Frucht des Leibes, noch durch Verhungernlassen eines Armen, dem du geben könn-
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test, noch – du, Priester – durch Unterdrückung des Wortes Gottes; denn so viele Seelen der Priester durch das Wort Gottes nicht erreicht, so viele mordet er, wie der heilige Gregor sagt. Du sollst nicht unkeusch sein , weder mit dem Willen noch durch das Werk. Der ist unkeusch, der zum körperlichen Werk außerhalb der Ehe aufruft. Du sollst nicht stehlen , d. h. ohne den Willen Gottes sollst du nicht deines Nächsten Güter an dich nehmen. Und so sollst du ihn nicht berauben, weder durch Wucher noch durch Gewalt, noch durch Schätzung, noch durch falsche Verurteilung, noch durch hinterlistige Anklage, noch durch Zurückhalten des Lohns und der Schulden, noch durch Erteilen von Ablässen für Geld, noch indem du für Geld Messen hältst, Beichte abnimmst, Taufen vornimmst oder Ölung erteilst. Solche Räubereien einer äußerst listigen Priesterschaft sind ebenso unrecht wie die, wodurch sie die armen Leute ausplündert, indem sie von ihnen Almosen nimmt; über diesen Diebstahl ist viel geschrieben, doch harrt dieses Thema noch andernorts auf den gebührenden Raum. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, d. h. du sollst gegen ihn nicht falsch zeugen. Falsch zeugt, wer etwas Falsches gegen den anderen sagt oder die Wahrheit aus Bosheit, um ihm zu schaden. Falsch zeugt ein Priester, wenn er die Wahrheit Gottes dem Volk in Todsünde verkündet; denn die Wahrheit Gottes ist das Zeugnis Gottes. Daher sagt Gott zum Sünder: Warum verkündest du meine Gerechtigkeit und nimmst mein Zeugnis in deinen Mund? 1 Und hier vermerke, dass jemand falsch zeugt, indem er die Wahrheit spricht, wie Gott zum Sünder sagt. Und jemand zeugt falsch, indem er die Unwahrheit spricht, im Wissen, dass es die Unwahrheit ist; und dies ist eine sehr schwere Sünde. Und jemand zeugt falsch, ohne zu wissen, ob es die Unwahrheit ist; und dies ist eine geringere Sünde. Und jemand zeugt die Wahrheit, ohne zu wissen, ob es die Wahrheit ist; und dies ist auch eine Sünde. Daher hütet sich ein wahrhaftiger Christ vor einem Zeugnis, wenn er nicht sicher ist. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, noch sollst du begehren seine Frau. Damit ist zuerst gesagt, dass das Haus die Frau, das Gesinde und das Gut des Nächsten enthält; und Gott will sagen, dass der Mensch weder Gut noch Gesinde seines Nächsten unrechtmäßig begehren soll; und die Frau nennt der Herrgott deshalb besonders, um eindringlicher davor zu warnen, sie zu begehren, da die Frau jenes 1
Ps 50,16 (Vg. 49,16).
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Gut des Nächsten ist, das für dessen Seele am teuersten ist; und deshalb, weil der Mensch am meisten die Frau begehrt, wenn sie schön ist; denn von Natur aus ist der Mann mehr der Frau zugetan als irgendeiner anderen Sache, und so begehrt er sie weitaus stärker. Auch du, Frau, begehre nicht einen fremden Mann; und wenn er dich nehmen will, so willige du nicht ein; denn niemals sollst du dieses Gebot übertreten, auch wenn du denkst, dass du nicht allein einwilligst. Wisse auch, dass der Herr, indem er dem Mann verbot, eine fremde Frau zu begehren, damit andeuten wollte, dass im Allgemeinen mehr Männer fremde Frauen begehren, als Frauen fremde Männer. Und ich bin dessen sicher, und ich sage dies, dass ich eher zehn oder zwanzig wahre Ehefrauen gefunden habe, die nicht in bösem Begehren den Wünschen eines fremden Mannes nachgegeben haben, als einen Ehemann; denn leider erliegen die Männer sehr leicht der Unzucht. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut, d. h. zu Unrecht, so dass du es ihm wegnimmst, sei das Gut nun ein Knecht, eine Magd, ein Ochse, ein Esel, ein Pferd, oder irgendein anderes, noch so kleines, für ihn aber nützliches, sei es ein Hund, eine Katze, eine Taube, ein Huhn, ein Topf, ein Deckel oder ein Ei; denn wenn du willst, dass man auch dir nichts von deinem Gut wegnehme, so wünsche dies auch deinem Nächsten. Wenn du diese Gebote erfüllst, dann bist du ein wahrer Christ, ein Diener und Sohn Christi; und dann wirst du würdig Seine Gnaden bitten dürfen, dass er dir das ewige Leben schenken möge. Hier endet die Kurze Auslegung der göttlichen Zehn Gebote.
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Abb. 13: Hus wird der weltlichen Gewalt zur Bestrafung übergeben. Illustration aus Otto Brunfels, Geistlicher Bluthandel ..., Straßburg 1525, VD 16 G 983 (Bayerische Staatsbibliothek München, Re--4 H.eccl. 870,1, fol. c3 recto).
24 HUS AN SEINE PRAGER ANHÄNGER [1412 ]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´ , Korespondence, 142 (Nr. 49, tschech. Fassung); 146 (Nr. 49*, lat. Fassung); verglichene deutsche Übersetzung: Lüders, Johann Hus, 85-92.
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Einleitung nr. 24
Hus, der nach der Ablassaffäre und wegen der hierdurch verlorenen Unterstützung König Wenzels IV. bereits aus Prag geflohen war und sich an einem unbekannten Ort aufhielt, wandte sich in mehreren Schreiben an seine Anhänger in der Hauptstadt und suchte sie in ihrem Glauben zu bestärken. Am Beispiel des Lebens Christi zeigt er den Wert der Wahrheit auf, die zwar unterdrückt werde, letztlich jedoch die Siegerin bleibe. Hus erwähnt, dass einige aus Furcht die Wahrheit verlassen hätten, wobei er offenkundig auf seine vormaligen Freunde Stanislaus von Znaim und Stefan von Pa´ lecˇ anspielt. Zugleich bietet Hus ein symbolisches Bild vom Sinn und Resultat seines Wirkens, wobei er auf die Bedeutung seines Namens anspielt: Die Gans, ein träger, in geringer Höhe fliegender Vogel, wird zum Instrument und Hüter der Wahrheit. Vergeblich haben die Prälaten in Form von Bann und Vorladung Netze gegen die Gans ausgeworfen. Im Kampf um die göttliche Wahrheit sind schon Adler und Falken aufgestiegen, deren flinkere und kühnere Verteidiger (vgl. Hussens eigene Worte S. 308, 19 ff.).
Hus an seine Prager Anhänger
Magister Johannes Hus, Priester und Diener in der Hoffnung Jesu Christi, allen, die in der Wahrheit Gottes leben, dessen Gesetz anerkennen, auf die Wiederkunft des Erlösers warten, mit dem sie in Ewigkeit leben wollen, Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und von unserem 5 Herrn Jesus Christus, der sich für unsere Sünden in den Tod gegeben hat, um uns von dieser armseligen Welt und von der ewigen Verdammnis zu erlösen nach dem Willen Gottvaters, dem Ehre sei in Ewigkeit! Amen.1 Ihr Lieben, ich vernehme Euren Eifer und den Erfolg im Gesetz Gottes,
10 ich danke Gott 2 voller Freude und bitte, er möge Euch einen vollende-
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ten Verstand geben, damit Ihr die Schlauheit des Antichrist und seiner Boten erkennt und Euch durch sie nicht von der göttlichen Wahrheit abbringen lasst. Und ich vertraue seiner heiligen Gnade, dass er in euch vollende, was er Gutes begonnen hat,3 und Euch nicht abfallen lässt von seiner Wahrheit, von der viele aus Furcht Abstand genommen haben,4 indem sie mehr den armseligen Menschen fürchten als den allmächtigen Herrn, der die Macht hat, zu töten und Leben zu schenken,5 zu verdammen und selig zu machen,6 und seinen getreuen Diener in der Versuchung zu bewahren und ihm für geringes Leid das ewige Leben in unermesslicher Freude zu geben. Daher, Ihr Lieben, erschreckt nicht, und Eure Angst beunruhige Euch nicht, dass einige von Euch der Herr versucht, indem er zulässt, dass Euch die Diener des Antichrist ängstigen. Denn Gottvater sagt jedem seiner Söhne in den Sprüchen Salomos:7 Fürchte dich nicht vor plötzlichem Schrecken noch vor den Sturmesgewalten der Gottlosen. Der Herr wird an deiner Seite stehn, und er behütet deinen Fuß, dass er nicht gefangen werde. Und durch David sagt er über einen jeden seiner Diener, der um seinetwillen Leid erträgt:8 Mit ihm bin ich in der Not, ich will ihn befreien und ihn zu Ehren bringen. In diesem Wissen, meine allerliebsten Brüder, habt große Freude , wie der heilige Jakob sagt,9 wenn ihr in mancherlei Anfechtungen fallt, im Wissen, dass die Erprobung eures Glaubens Geduld wirkt; die Geduld aber soll ein vollkommenes Werk haben, auf dass ihr vollkommen und ganz seid und keinerlei Mangel zeigt. Und nachfolgend sagt er:10 Selig der Mann, der Anfechtung erduldet, denn wenn er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn liebhaben.
Gal 1,3–5. 2 1Kor 1,4. 3 Vgl. Phil 1,6. 4 Anspielung auf Stanislaus von Znaim und Stefan von Pa´ lecˇ . 5 Vgl. 1Sam 2,6. 6 Jak 4,12. 7 Spr 3,25 f. 8 Ps 90,15. 9 Jak 1,2–4. 10 Jak 1,12. 1
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Johannes Hus an seine Prager Anhänger
Darum steht 11 fest in der Wahrheit, die Ihr erkannt habt; alles, was ihr tut ,12 tut als Söhne Gottes. Vertraut darauf, dass Christus gesiegt hat, dass auch Ihr siegen werdet. Denkt an ihn, der von den Gottlosen Anfechtungen erlitten hat, damit Ihr nicht nachlasst in Eurem guten Eifer. Und alle zusammen, indem wir abwerfen jede Last und fortstoßen jede Sünde, lasset uns laufen durch Geduld in den 13 uns verordneten Kampf, indem wir aufsehen zu Jesus, dem Schöpfer und Vollender unseres Glaubens, der, die Freude vor Augen, das Kreuz auf sich nahm, die Schande nicht achtete und nun sitzet zur Rechten Gottes .14 Ja, wenn doch er, der Schöpfer, Herr und König der ganzen Welt, ohne dass ihn seine Göttlichkeit zwang, geruht hat, sich selbst zu erniedrigen in seiner Menschheit dergestalt, dass er, selbst ohne Schuld, uns Sündern geruhte, so treu zu dienen, dass er sich Durst und Hunger, Kälte und Hitze, Kummer und Schlaflosigkeit unterwarf, in Gebet, Nachtwache, Predigt, Arbeit sowie auf der Flucht, und gewaltige Schmach von Bischöfen, Priestern, Magistern und Schriftgelehrten erlitt, die ihn einen Verräter und Trunkenbold, Narren, vom Teufel Besessenen, Verführer und Gotteslästerer nannten und sagten, dass dieser Mensch nicht aus Gott sei,15 den sie der Schuld der Ketzerei bezichtigten, aus der Gemeinde ausschlossen, aus der Stadt führten und ans Kreuz nagelten wie einen Verbrecher – ja,16 wenn die Priester dies dem angetan haben, der durch sein Wort, und ganz ohne Geld oder sonstige Kosten, alle möglichen Krankheiten heilte, Dämonen austrieb und Tote erweckte, durch Gottes Gesetz unterwies, keinem schadete, selbst ohne Sünde war, einzig nur, weil er ihnen so klar ihre Schlechtigkeit zeigte, was wundert Ihr Euch dann, dass die jetzigen Boten des Antichrist, die geiziger und unzüchtiger, grausamer und schlauer sind als jene, sich seinen Dienern widersetzen, sie beschimpfen und drängen, Verbrechen verüben, kerkern und morden? Doch hat der huldvolle König, Herr, Meister und Vater, der liebe Bruder, mächtige Schöpfer, unser gnädiger Erlöser gesagt:17 So euch die Welt hasst, so wisset, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch von der Welt erwählt habe, darum hasst euch die 1Kor 16,13. 12 Kol.3,17. 13 Hus schreibt, gemäß damals üblicher lat. Lesart (curramus ad [...] certamen ), k ustavenému boji („zum verordneten Kampf“). 14 Hebr 12,1 f. 15 Mt 11,19; Lk 7,34; Joh 9,16. 16 Interpunktion und Absatz im Text hier offenbar falsch; nur bei einheitlicher Konstruktion mit ersterem Teil ist dieser syntaktisch halbwegs plausibel (in der lateinischen Fassung geglättet, doch gegen den tschechischen Urtext). 17 Joh 15,18–21. 11
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Welt. Gedenket an meine Worte, dass ich euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten. Aber das alles werden sie euch tun um meines Namens willen; denn sie kennen den nicht, der mich gesandt hat. Da habt ihr die Prophezeiung unseres Erlösers, dass seine Auserwählten leiden sollen an der Welt, das heißt an bösen Menschen, die Gottvater und den Herrn Jesus in Wahrheit nicht kennen; denn wenn sie auch mit dem Munde sagen, sie erkennen Gott, so verleugnen sie ihn doch mit den schlimmen Taten; so spricht der heilige Paulus.18 Und ihre Taten sind offensichtlich: Geiz und Ämterkauf, Hoffart und Unzucht, Verlassen und Verschmähen des göttlichen Wortes. Ihr Urteil stellen sie über das Gesetz Gottes, und sie verwerfen Demut, Armut, Keuschheit und Leiden Jesu. Auch werden die Bösen nicht aufhören, die wahren Glieder Christi zu verfolgen, und diese nicht, Verfolgung zu leiden, solange hier der Kampf Christi gegen den Antichrist fortdauert. Denn der heilige Paulus sagt:19 Und alle, die wahrhaft leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden. Die Bösen aber und die Verführer schreiten zu schlimmerem Übel voran, als Verführte wie als Verführer. Der heilige Paulus meint, dass alle Guten um Jesu Christi willen leiden müssen, und die bösen Söhne werden Irrlehren verkünden und andere verführen und so in der Bosheit ihren Willen zur Verdammnis erfüllen. Daher hat der mildtätige Erlöser zur Ermahnung seinen Auserwählten gesagt und prophezeit:20 Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben, und hütet euch vor den Menschen, denn sie werden euch überantworten vor ihre Rathäuser, d. h. zur Anklage, und werden euch geißeln in ihren Schulen. Es wird aber ein Bruder den Bruder zum Tod überantworten und der Vater den Sohn, und die Kinder werden sich empören wider ihre Väter und Mütter und sie umbringen, und ihr werdet bei allen verhasst sein um meines Namens willen. Wer aber bis an das Ende beharrt, der wird errettet werden. Wenn sie euch aber in dieser Stadt verfolgen, dann fliehet in eine andere. Und dieser Wettlauf wird bis zum Jüngsten Tag fortdauern. Und weiter spricht er:21 Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommt. Der Jünger steht nicht über seinem Meister noch der Knecht über dem Herrn. Es ist dem Jünger genug, dass er wie sein Meister sei, und dem 18
Tit 1,16.
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Mt 10,16 f.21–23.
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Knecht, dass er sei wie sein Herr. Haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, wie viel mehr werden sie seine Hausgenossen so heißen? So fürchtet euch denn nicht vor ihnen. Und so hat der Erlöser gesprochen, um seine Anhänger zu warnen, zu lehren und zu trösten; er warnt sie, wachsam zu sein, die gefräßigen Wölfe an ihren Taten zu erkennen, die in ihrer Habgier die ganze Welt verschlingen wollen, und die falschen Propheten daran, dass sie den wahren weder im Wort noch in der Tat gleichen und dass sie wie falsche Christen sind, die vorgeben, die wahrsten Diener Christi zu sein, in Wahrheit jedoch ihren Taten nach seine größten Feinde sind. Gern würden sie, wenn sie könnten, sein Wort unterdrücken, das sie durch ihren Hochmut, durch Geiz, Ämterkauf, Wollust und durch ihre anderen Werke bekämpfen. Zuerst sind sie gegen alle Kapellen vorgerückt, damit das Wort Gottes in ihnen nicht mehr verkündet werde;22 das hat ihnen Christus nicht gestattet. Und jetzt, wie ich höre, gehen sie daran, Bethlehem zu zerstören, und in den Kirchen, in denen man gegen ihre Verkommenheit predigt, das Predigen ganz zu verbieten. Auch damit werden sie, ich vertraue auf Gott, keinen Erfolg haben. Zuerst haben sie die Netze der Vorladung und des Bannfluchs für die Gans23 ausgespannt24, und nun sind es viele, denen sie nachstellen. Doch da ja die Gans, ein sanfter Vogel, gezähmt, von niedrigem Flug, begonnen hat, ihr Netz abzustreifen, gibt es durchaus noch zahlreiche andere Vögel, die, auch ihrer Lebensart nach im Hochflug zu Gott, ihnen die Netze zerreißen. Sie haben sie mit Anklage überzogen, mit dem Bannfluch erschreckt wie mit einem hölzernen Falken und schließlich aus dem Köcher des Antichrist einen Pfeil abgeschossen, indem sie den Dienst und das Lob an Gott verhinderten. Und je mehr sie ihre Bosheit verheimlichen, desto klarer enthüllen sie diese; je unbehelligter sie sein wollen, umso mehr bekommen sie zu tun; je mehr sie ihre Verordnungen flicken wie Netze, umso mehr streift man sie ab, und indem sie den Frieden im Fleisch haben wollten, haben sie diesen verloren und obendrein den im Geiste, denn indem sie anderen schaden wollen, schaden sie sich am meisten. Es ergeht ihnen wie den Priestern und Bischöfen bei den Juden, die das, was sie festhalten wollten, verloren und in das, was sie meiden wollten, hineingerieten, im Wahn, die Wahrheit ganz zu bezwingen, Im Spätsommer 1412 planten die Gegner der Bethlehemskapelle, diese zu zerstören. 23 hus = alttschechisch „Gans“. 24 Anspielungen auf die einzelnen Phasen des Hus-Prozesses.
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die doch auf ewig Siegerin ist, im Wahn, sie niederzuhalten, die doch die Eigenschaft hat, je mehr man sie abschirmt, nur desto heller zu leuchten, und je tiefer man sie zu Boden drückt – und zuweilen mit ganzer Wucht – umso höher sich dann erneut zu erheben. Die Bischöfe, Priester, Magister und Rechtsgelehrten, Herodes und Pilatus, die Bürger Jerusalems und die Gemeinde verurteilten die Wahrheit, töteten sie und trugen sie zu Grabe; doch sie erstand auf, überwand sie alle und schickte für einen Verkünder, d. h. für sich selbst, ihnen zwölf und mehr. Und diese Wahrheit nun hat anstatt einer schwachen Gans viele Adler und Falken nach Prag geschickt, die scharfe Augen haben, durch Gottes Gnade hoch oben fliegen und gute Vogelfänger für Jesus, den König und Herrn, sind. Er wird sie und all seine Gläubigen stärken, zu denen er spricht: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende! 25 Ja, wenn doch er, der wahre Gott, der allmächtige, mit uns ist, der mächtigste und der sicherste Anwalt, der freigiebigste König und Spender, wer vermag gegen uns im Kampf zu bestehen, welche Furcht kann uns trennen von ihm, welcher Tod uns scheiden? Und was verlieren wir, wenn wir für ihn Güter, Freunde, Ehre, die elende Welt und das elende Leben ablegen? Sicher werden wir, eben noch elend, hundertmal trostreichere Güter, liebenswertere Freunde und freudenvollere Ehre eintauschen, und der Tod wird uns von diesen Dingen nicht trennen.26 Denn wer für Christus stirbt, der siegt, entrinnt allem Elend und genießt ewige Freude, zu der Euch allen, zusammen mit allen Getreuen und auch mit mir, der barmherzige Erlöser Jesus Christus verhelfen möge! Diese Worte schreibe ich Euch, liebe Brüder und Schwestern, damit Ihr feststeht [...]27 [in der erkannten Wahrheit und keinerlei Vorladungen fürchtet noch aufgrund ihrer grausamen Drohungen weniger Gottes Wort hört als früher. Denn „Gott ist treu, der Euch stärken und vor dem Bösen bewahren wird.“28 Endlich bitte ich Euch, Ihr Lieben, sehr eindringlich: Betet für die, die die Wahrheit Gottes in Gnaden verkünden, und auch für mich betet, dass ich noch wortgewaltiger gegen die Bosheit des Antichrist schreibe und predige und dass mich Gott, wenn die größte Not es erfordert, in die Schlachtreihe stelle, um seine Wahrheit zu verteidigen. Denn dies sollt Ihr wissen, dass ich nicht davor fliehe, diesen elenden Leib im Dienste der göttlichen Wahrheit Gefahr oder Tod auszusetzen, da ich weiß, dass Ihr keinerlei Mangel an Gottes Wort habt, vielmehr Mt 28,20. 26 Vgl. Röm 8,35.38 f. 27 Hier bricht die ursprünglich tschechische Fassung des Briefes ab, während die lateinische fortfährt. 28 Vgl. 2Thess 3,3.
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die Wahrheit des Evangeliums von Tag zu Tag weiter verbreitet wird. Doch um derentwillen, die Gewalt erleiden und der Verkündigung des Wortes Gottes bedürfen, wünsche ich weiterzuleben, um so die Bosheit des Antichrist aufzudecken, damit ihr die Frommen entrinnen können. Weshalb ich andernorts predige, anderen diene, im Wissen, dass 5 sich der Wille Gottes an mir erfüllt, sei es durch Tod vonseiten des Antichrist, sei es durch Schwäche. Und wenn ich nach Prag komme, bin ich gewiss, dass meine Gegner mir einen Hinterhalt legen und Euch verfolgen, sie, die Gott nicht dienen und anderen den Dienst verwehren. Wir aber wollen Gott für sie bitten, dass sie sich, falls unter ihnen Aus- 10 erwählte sind, zum Bekenntnis der Wahrheit bekehren. Bei dem, was ich Euch geschrieben habe, gebe Euch Gott Erkenntnis und Stetigkeit und erfülle Euer sehnliches Harren mit allen Gütern um der Verdienste Jesu Christi willen, der für uns den schmach- und schmerzvollsten Tod erlitten und so ein Beispiel für uns hinterlassen 15 hat, gleichermaßen zu leiden nach seinem Wohlgefallen! Amen.
25 ÜBER DIE SECHS VERIRRUNGEN [1412 /1413]
Übersetzungsgrundlage: Erben, Sebrané spisy cˇ eské, 212–240; Ryba, Betlémské texty, 63–104; MIHO IV, 271–296; verglichene deutsche Übersetzung: Schamschula, Jan Hus, 27–66; Anmerkungen anhand von MIHO IV, 456–461, bearbeitet.
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Einleitung nr. 25
In der tschechischen Fassung vollendete Hus den Traktat „O šesti bludiech“ (Von den sechs Verirrungen) spätestens am 21. Juni 1413. Hus hatte nach der Ablassaffäre und dem damit verbundenen Verlust der Protektion durch König Wenzel IV. Prag wohl im Laufe des Oktober 1412 verlassen und war ins „Exil“ über Nordwest- nach Südböhmen gegangen. Allerdings kehrte er bereits Anfang Januar 1413 vorübergehend in die böhmische Landesmetropole zurück, predigte sogar in der Bethlehemskapelle, verließ die Stadt freilich noch vor Beginn der Februarsynode unter dem neuen Erzbischof Konrad von Vechta. Husanhänger und -gegner suchten derweilen nach einem tragfähigen Konsens in theologischen Grundpositionen. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen König und böhmischem Klerus, in denen es u. a. um die Frage der Säkularisation des Kirchengutes ging, kehrte der gebannte Hus noch zwei Mal kurzzeitig nach Prag zurück, hatte doch das über die Stadt verhängte Interdikt seine Wirkung bereits verloren. Zuvor vollendete er in der Bethlehemskapelle die tschechische Überarbeitung seines Traktats „Von den sechs Verirrungen“, der in lateinischer Version unter dem Titel „De sex erroribus“ bereits vorlag und auszugsweise an die Wände der Bethlehemskapelle geschrieben war. Nach eigenem Bekunden verfasste Hus seinen Traktat „für Priester und für Schüler“, damit sie gegen die Ketzerei des Ämterkaufs vorgingen, wobei ihnen die an den Wänden der Bethlehemskapelle angebrachten lateinischen Verse eine Hilfe zur Erkennung und Beurteilung grundlegender irriger Auffassungen in Fragen der Erschaffung, des Glaubens, der Vergebung der Sünden, des Gehorsams, des Bannspruchs und des Ämterkaufs sein sollten. Im Vergleich zur lateinischen Fassung handelt es sich bei der tschechischen Version um eine grundlegende Überarbeitung, auch und gerade mit Blick auf den formalen Rahmen: In jedem der sechs Kapitel steht dabei eine „Verirrung“ im Zentrum, wobei Hus in seiner Argumentation gegen die Verirrungen auf die Kirchenväter sowie die Bibel (Altes wie Neues Testament) zurückgreift.
Über die sechs Verirrungen
Eingedenk der sechs Verirrungen, denen viele anheimfallen könnten, brachte ich die Schrift der Heiligen in der Bethlehemskapelle an der Wand an, den Menschen zum Schutz: Die erste Verirrung betrifft die Schöpfung, die zweite den Glauben, die dritte die Vergebung der Sün5 den, die vierte den Gehorsam, die fünfte den Fluch, die sechste den Ämterkauf. Und so ist das erste Kapitel gegen die erste Verirrung gerichtet, das zweite gegen die zweite und so fort. Erstes Kapitel
10 Unter der Verirrung über die Schöpfung verstehe ich dies: dass irrige
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Priester sagen, sie könnten, sooft sie wollten, den Leib Gottes schaffen und sie seien die Schöpfer ihres Schöpfers. Und weiter sagen sie, dass jeder Priester würdiger sei als die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes, was sie so begründen: Sie habe nur einmal Gott, Jesus Christus, geboren, aber jeder Priester könne ihn oft erschaffen. So erheben sich die Gottlosen über die Jungfrau Maria, ja über Christus, den wahren Gott und Menschen, indem sie sagen, sie seinen seine Schöpfer.1 Und mit diesem Hochmut sind sie der wahre Antichrist, von dem der heilige Paulus sagt, dass er sich über alles erhebt, was Gott heißt, das ist über Christus, der in Wahrheit der Mensch und Gott heißt. Damit die Gläubigen die Worte der heiligen Lehrer besser verstehen und durch die Erkenntnis dieser Verirrung sich besser vor ihr hüten können, sollen sie wissen: Erstens, dass Etwas-Erschaffen bedeutet, es aus nichts zu machen. So schuf Gott Himmel und Erde und alle Dinge außer sich selbst aus nichts. Nichts war vor der Erschaffung der Welt, nur Gott. Daraus folgt die Lehre, dass jedes Ding, das ist und nicht Gott heißt, Schöpfung ist und zu sein begann. Die zweite Lehre besagt, dass nur Gott der Schöpfer ist, und wie es den einen Gott gibt, so gibt es einen Schöpfer. Zweitens sollen die Leute wissen, dass Schaffen in der Schrift auch bedeutet, aus einer anderen Sache etwas zu machen; so sagt die Schrift, Gott schuf den Menschen aus irdischem Ton,2 das heißt, er machte ihn in der Form eines Leibes aus Erde. Drittens heißt Schaffen, einen Menschen mit Macht oder einem Amt ausstatten. So schafft der König einen Ritter, wenn er einen Mann zum Ritter schlägt; der Bischof schafft einen Priester, wenn er ihm mit Gottes Kraft das Priestertum verleiht.
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2Thess 2,4.
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Gen 2,7.
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Viertens bedeutet Schaffen, einer Sache Form geben, wie der Künstler dem Holz eine Form gibt und bewirkt, dass dieses Holz einem Menschen oder einer anderen Sache ähnlich sei; auch der Schneider gibt dem Stoff eine Form, damit der Stoff ein Mantel, ein Kleid oder eine Kapuze sei; und der Schumacher formt das Leder, damit es ein Schuh werde; das Weib macht in der Käseform aus der Sauermilch den Käse; und ein guter Priester macht – das heißt bewirkt – mit dem Wort Gottes, dass der Mensch Gottes Sohn sei. Indes heißen alle die Genannten in der Schrift nicht Schöpfer, sondern sie heißen Handwerker oder Arbeiter. Auf keine dieser vier Arten, nicht eine einzige, kann der Priester Gott oder etwa den Leib Christi erschaffen. Denn er kann den Leib Christi weder aus nichts noch aus einer anderen Sache machen. Der Leib Christi nämlich, wie er einmal von Gott im Leib Marias der Jungfrau aus ihrem Blute geschaffen wurde, ist niemals zunichte geworden, er konnte also später nicht empfangen werden, noch kann er einst empfangen werden. So kann kein Priester ihn aus nichts oder aus einer anderen Sache schaffen; ein Priester kann ihn aber in der Messe auch nicht zum Ministranten machen oder ihn auf die vierte Art, wie ich sagte, formen. Daher irren die Priester, welche meinen, dass für ihre Messfeier Jesus oder sein Leib von Neuem zu sein begänne. So irren sie auch, wenn sie meinen, dass sie die Schöpfer Gottes und würdiger als die Jungfrau Maria seien, die reine Gottesmutter, die die Leiblichkeit Christi empfing und dann Gott den wahren Menschen gebar, obwohl sie die Gottheit weder empfing noch gebar. Und gegen diese Verirrungen an der Schöpfung steht dieses erste Kapitel in Bethlehem an der Wand zu lesen: Erschaffen . Der heilige Augustinus sagt: Es ist Unrecht, an einen anderen Schöpfer zu glauben oder einen anderen zu nennen als Gott. Augustinus: Weder die guten noch die bösen Engel können Schöpfer irgendeiner Sache sein.3 Damascenus: Die, welche sagen, dass die Engel Schöpfer irgendeiner Sache seien, sind die Münder ihres Vaters, des Teufels, der ein Lügner ist und Vater (d. i. Erzeuger) der Sünde. Die Zitate im jeweils zweiten Teil der Kapitel übernahm Hus aus seinem Traktat Super IV Sententiarum. – Augustinus, De trinitate 3, 9/16 (PL 42,877), weiter ca. 8/18 (col. 978). Auch 3. Kapitel De Genesi ad litteram (PL 34, 279–296), lib. 3, cap. 8/13 (PL 42, 876). – Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 2,3 (PL 94,874). – Anselm von Canterbury, Monologium 37 [al. 36] (PL 158,190). – Bernhard von Clairvaux, Sermo ad Petrum. – Mt 26,26. – Mk 14,24; Lk 22,20. 3
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Anselm: Gott allein ist der Schöpfer . Bernhard in der Predigt über den Papst Petrus: Der Leib Christi wird nicht geboren, gezeugt oder geschaffen, sondern mit den Händen der Priester zubereitet. Das heißt, dass Gott mit seiner Kraft, mit seinen Worten, die der Priester spricht, bewirkt, dass in den Händen des Priesters zugleich der Leib Christi und die Gestalt des Brotes gegenwärtig ist; aber der Leib Christi wird dort weder geboren noch geschaffen, denn er beginnt nicht von neuem, obwohl er da auf sakramentale Weise zu sein beginnt. Daher, o Priester, begnüge dich damit, dass du, wenn du ohne Todsünde bist und die Messe feierst, den Leib Christi zu Gottes Lob um der Menschen und deiner Sünden willen opferst, da du doch den Leib nicht schaffen kannst. Jesus Christus aber, der durch dich diese Worte sagt: Dies ist mein Leib, bewirkt, dass das Brot sein Leib werde. Indem er sagt: Dieser Kelch , d. h. der Wein im Kelch, ist mein Blut , bewirkt er, dass der Wein sein Blut werde.3a Und gewiss, o Priester, ist es genug, wenn du würdig als treuer Diener deinem Erlöser dieses teure und würdige Opfer bringst, und je demütiger und inbrünstiger du dies tust, desto würdiger wird es sein; je mehr du dich aber erheben wirst, desto mehr wirst du herabgesetzt werden, und du bist unwürdig, dieses Messopfer zu feiern.
Zweites Kapitel Die zweite Verirrung, die am Glauben ist, ist folgende: Viele Priester 25 glauben an die Jungfrau Maria, an die Heiligen und an den Papst, ohne zu verstehen, dass es ein Ding sei, an etwas zu glauben, ein anderes, von ihm zu glauben, und noch ein drittes Ding, der Sache zu glauben. Zum Beispiel: Es ist doch etwas anderes, an Gott zu glauben, von ihm zu glauben oder Gott zu glauben. An Gott zu glauben heißt, im Glauben 30 Gott am meisten zu lieben; von Gott zu glauben heißt, die Schrift, die von ihm berichtet, für wahr zu halten; Gott zu glauben endlich heißt, alles, was Gott sagt, für wahr zu halten. Daraus folgt, dass der, welcher Gott nicht mit allen Kräften liebt, mag er doch glauben, dass die ganze Schrift wahr sei, dennoch an Gott nicht glaubt. So glaubt der Teufel 35 und jeder Christ, der sich in Todsünde befindet, dass die Heilige Schrift wahr sei. Dass wir an keine Sache außer Gott glauben sollen, folgt ferner daraus, dass wir keine Sache neben Gott aus allen Kräften lieben sollen. Und so sollen wir nicht an die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes glau3a
Lk 22,19 f. parr.
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ben, denn wir sollen sie nicht am meisten lieben, sondern wir sollen von ihr glauben, dass sie als allzeit reine Jungfrau mit Gottes Macht Gott, Jesus Christus, uns zur Erlösung gebar und dass sie zunächst dem Herrn Jesus eine besondere Person ist, die würdigste und über jedem Engel, über jedem Apostel, über allen Jungfrauen, Märtyrern und Priestern stehende; auch sollen wir glauben, dass die heilige Kirche, die die Gemeinschaft aller für die Erlösung Auserwählten ist und in der die Jungfrau Maria ein Glied bildet, die heilige Kirche also, die die geliebte Gemahlin Christi ist, mit seinem Blut erlöst, und die am Tage des Jüngsten Gerichts endgültig gereinigt werden wird, ohne den Makel einer Todsünde und ohne den Flecken einer alltäglichen Sünde und ohne ein körperliches Gebrechen in einem seiner Glieder bleiben wird: Diese Frau, die auch Jungfrau heißt, da sie mit Christus auf ewig rein bleibt, ist würdiger als die Jungfrau Maria; kein Mensch aber, außer Jesus, ihr Sohn, ist würdiger als die hochgelobte Mutter Gottes, ohne die niemand von uns das Heil erlangt. So haben wir also von ihr zu glauben. Wir sollen auch ihr glauben, dass nämlich wahr sei, was sie gesagt hat. Auch glauben wir der Schrift, was sie über den heiligen Petrus sagt, dass er meineidig war, bereute und Christi Gesetz schließlich einhielt; und wir glauben, dass, was der Heilige Geist durch ihn gesprochen hat, wahr ist, und so glauben wir ihm darin; wenn er aber sich verleugnete und Meineid leistete, glauben wir ihm nicht, denn dies halten wir nicht für Wahrheit, sondern für Lüge. Auch glauben wir von einem anderen Heiligen und vom Papst, wenn er uns die Wahrheit sagt und wir die Wahrheit erkannt haben, und wir glauben ihm; sagt er uns aber eine Lüge, dann sollen wir ihm nicht glauben. So glauben wir von den Heiligen und den Heiligen, aber wir glauben nicht an die Heiligen und sollen nicht an sie glauben. Daher steht in Bethlehem zu lesen: Glauben. Der heilige Augustinus sagt: Nicht jeder, der ihm (d. i. Christus) glaubt, glaubt zugleich an ihn; denn auch die Teufel glauben ihm, aber sie glauben nicht an ihn. Andererseits wiederum können wir von seinen Aposteln sagen: „Wir glauben Paulus, aber wir glauben nicht an Paulus; wir glauben Petrus, aber wir glauben nicht an Petrus.“ Demjenigen nämlich, der an ihn (d. i. Christus), der den Sündigen zum Gerechten macht (die Sünden vergibt), glaubt, wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit. Was heißt also an ihn glauben? Glaubend lieben, glaubend an ihn sich halten, glaubend ihm (im Fortschreiten der Liebe) nachfolgen und seinen Gliedern sich zugesellen. Dies nämlich ist der Glaube, den Gott von uns verlangt.4 4
Augustinus, In Ioannis evang. tract. 29, 6 (PL 35,1631).
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Der heilige Beda sagt über die Schrift, wo der Apostel schreibt: Dem, der an ihn glaubt, der den Sündigen gerecht macht, Folgendes: Es ist eine andere Sache an Gott zu glauben, Gott zu glauben, und von Gott zu glauben: An Gott glauben ist glaubend lieben (verlangend), glaubend in 5 ihn einzugehen (im Fortschreiten), glaubend sich an ihn halten (in der Liebe bis an den Tod) und seinen Gliedern (d. i. den Heiligen) sich einverleiben (mit den Heiligen sein). An Gott glauben ist glauben, was er (d. i. Gott) sagt; das tun auch die Bösen (d. h. sie glauben); wir aber glauben einem (beliebigen) Menschen, aber nicht an den Menschen. Von Gott 10 glauben ist glauben, dass er Gott ist .5 Augustinus in der Auslegung des Glaubensbekenntnisses beim Artikel Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche sagt: Es sei angemerkt, dass nicht an die Kirche geglaubt werden soll, denn sie (die Kirche) ist nicht Gott, sondern das Haus Gottes.6 15 So sagen die Heiligen, dass wir nur an Gott glauben sollen.
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Drittes Kapitel Die dritte Verirrung, die an der Vergebung der Sünden, ist diese: dass Priester meinen, es sei an ihrem Willen gelegen, wem immer sie die Sünden vergeben wollten, sie zu vergeben. Wem sie die Sünden aber nicht vergeben wollten, seien sie nicht vergeben. So prahlen sie mit der Macht der Sündenvergebung und verstehen doch nichts von dieser Macht und wissen nicht, dass sie niemandem die Sünden vergeben können, es sei denn, dass er sie bereute und Gott sie ihm vergäbe; dass sie aber die Sünden nicht festhalten können, wenn der Sündige sie bereut, dem Gott sie vergibt, mögen sie auch meinen, sie könnten die Sünden gegen Gottes Willen und gegen die Reue des Sünders festhalten. Daher sollen die Priester lernen, dass es dreierlei Vergebung der Sünden gibt: Die eine heißt die Vergebung aus eigener Macht. Dies besagt, dass jemand mit seiner und nicht mit fremder Macht Sünden vergibt. Und dies steht dem zu, durch den der Prophet Jesaja im 43. Kapitel sagt: Ich bin es, der deine Sünden tilgt.7 Und die Juden, da sie dies wussten, sagten nach dem heiligen Lukas im fünften Kapitel: Wer kann die Sünden vergeben, denn allein Gott? 8 Sodann heißt die zweite Sündenvergebung die aus nächsteigener Macht, da sie nämlich der aus eigener Macht am nächsten steht. Diese Sündenvergebung gebührt Christus, da er ein Mensch ist, denn sein Menschsein wurde mit der Göttlichkeit in einer Person vereinigt. Dass Beda Venerabilis über Röm 4,5. 213,735). 7 Jes 43,25. 8 Lk 5,21.
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er Mensch geworden ist, ist jedoch der erste Grund, weshalb jeder Mensch, der auserwählt ist, von der ewigen Verdammnis erlöst wird. Christus nämlich, der wahre Gott und wahre Mensch, erduldete als Mensch Mühen, Leid, Schmähung und den schändlichsten und grausamsten Tod um unserer Sünden willen. Daher sagt der heilige Jesaja im 53. Kapitel mit der Stimme aller Auserwählten: Fürwahr, er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Er aber ist um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.9 So sagt der heilige Jesaja, wie der gnädige Jesus für uns gelitten und unsere Sünden hier weggenommen hat. Und so vergab und vergibt er mit der Kraft der Vergebung aus nächsteigener Macht als Mensch. Denn diese Macht hat die Gottheit. Sie kommt von der Heiligen Dreieinigkeit, und niemand außer Christus dem Menschen, der der wahre Gott und der wahre Mensch ist, kann sie haben; wer nämlich diese Macht hätte oder haben könnte, der müsste, da er Gott und Mensch zugleich wäre, zum Tode geführt und wie ein Lamm tief erniedrigt werden. Von diesem Lamm aber sagt der heilige Johannes der Täufer: Siehe, das ist das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt.10 Die dritte Vergebung der Sünden endlich heißt die priesterliche, da nämlich diese Sündenvergebung durch den Dienst des Geistlichen vollzogen wird, wie durch denVollzug der heiligen Taufe oder die heilige Predigt, durch den guten Rat, die Austeilung des Leibes des Herrn, das Gebet, die Beichte oder das Vorbild des heiligen Lebens. Und diese Sündenvergebung kommt von den Priestern und steht ihnen zu nach jenem Wort unseres Erlösers im 20. Kapitel des heiligen Johannes: Nehmet hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.11 Und wiederum in der Lesung im 18. Kapitel des heiligen Matthäus heißt es: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet (d. i. die Sünden), soll auch im Himmel gebunden sein; und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.12 Und im 16. Kapitel des heiligen Matthäus sagt Christus zur heiligen Kirche durch Petrus: Dir will ich geben des Himmelreichs Schlüssel (d. i. Macht und Herrschaft), also des himmlischen Königreichs: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.13 9
Jes 53,4–5.
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Joh 1,29.
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Joh 20,22–23.
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Hier also habt ihr die Sündenvergebung: die erste aus eigener Macht, die nur Gott zusteht; die zweite aus nächsteigener Macht, die nur Christus als dem Menschen zusteht. Und diese dritte kann ohne die erste und zweite nicht sein. Daher sagt der Erlöser im 15. Kapitel des heiligen Johannes: Ohne mich könnt ihr nichts tun.14 Und weil Jesus der gnädige Erlöser „der wahre Gott ist“, hat er die erste Macht, Sünden zu vergeben; und weil er auch der Mensch ist, der um unserer Sünden willen gelitten hat, hat er auch die zweite Macht, als bester Priester und Diener der heiligen Kirche, der im 20. Kapitel des heiligen Matthäus sagt: Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und seine Seele gebe zur Erlösung für viele.15 Und wer diese Worte versteht, der kann leicht die Schrift zusammenfügen und die menschlichen Streitigkeiten schlichten. Wenn nämlich einer sagt, die Priester hätten die Macht, die Sünden zu vergeben, so ist es wahr, dass sie die dritte, die priesterliche, haben; und wenn ein anderer sagt, die Priester hätten nicht die Macht, Sünden zu vergeben, so ist es wahr, dass sie nicht die aus eigener Macht und die aus nächsteigener Macht haben. Denn sie vergeben nicht mit eigener Kraft die Sünden wie Gott und sind auch nicht für die Sünden der Welt gestorben wie Christus. Und noch eine vierte Art der Sündenvergebung gibt es, zu der jeder Mensch, der über Vernunft verfügt, verpflichtet ist. Er hat nämlich die ihm von Gott gegebene und gebotene Macht, seinen Schuldigern die Sünden zu vergeben. Denn es heißt im 6. Kapitel des heiligen Matthäus: Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihrer Fehler nicht vergebet, wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.16 Diese Worte sprach der Erlöser, als er seine Jünger und uns lehrte, wie wir beten sollten, und er sagte: Vergib uns unserer Schulden, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.17 Und weil die Priester irren, wie es gesagt wurde, steht, damit sie sich vor der Verirrung hüten, so in Bethlehem zu lesen: Vergebung der Sünden . Der heilige Augustinus beweist in der Predigt über die Lesung Es bat ihn der Pharisäer einer in der Auslegung des Wortes: Ihr sind viele Sünden vergeben, dass ein reiner Mensch (d. h. nicht Gott) Sünden nicht vergeben kann und dass der Pharisäer, da er glaubte, Christus als reiner Mensch könne keine Sünden vergeben, weniger böse war als der Ketzer, 14
Joh 15,5.
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Mt 6,14–15.
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der sagt, er könne einem Menschen die Sünden vergeben.18 Augustinus sagt: Der Pharisäer war besser (d. i. weniger böse), denn da er Christus nur für einen Menschen hielt, glaubte er nicht, dass von einem Menschen Sünden vergeben werden könnten. So zeigte sich der Verstand der Juden besser als der der Ketzer. Denn die Juden sagten: „Wer ist dieser, dass er Sünden vergibt? Darf ein Mensch sich falsch solches Recht aneignen?“ Was aber sagt der Ketzer dazu? „Ich vergebe, ich reinige ich heilige.“ Antworten solle ihm nicht ich, sondern Christus: „O Mensch! Da die Juden mich für einen Menschen hielten (d. h. nicht Gott), glaubten sie nicht, dass ich die Sünden vergeben könnte.“ Nicht ich sage zu mir, sondern Christus antworte dir: „O Ketzer! Der du Mensch (d. h. nicht Gott) bist, sagst: Komm, Weib! Ich erlöse dich. – Ich, der ich für einen Menschen gehalten werde (nicht Gott), sagte: Gehe hin, Weib! Dein Glaube hat dich erlöst.“ Sie antworten, wie der Apostel sagt: „Sie wissen nicht, was sie sagen, noch, was sie versichern.“ Sie antworten und sagen: „Wenn Menschen nicht die Sünden vergeben können, ist es eine Lüge, was Christus sagt. Was ihr auf Erden löset, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Wisst ihr denn nicht, weshalb das gesagt wurde? Der Herr (Christus) wollte den Menschen den Heiligen Geist geben und von diesem Heiligen Geist seinen Getreuen die Vergebung der Sünden. Nicht durch menschliches Verdienst wollte er es verstanden wissen, dass die Sünden vergeben werden. Denn was bist du, Mensch, wenn nicht krank? Du, der du selbst die Gesundheit brauchst, willst mir Arzt sein? Mit mir suche die Arznei! Und um es verständlicher zu machen, dass die Sünden durch den Heiligen Geist, den er seinen Jüngern gab, vergeben werden und nicht durch menschliches Verdienst, sagt der Herr an einer Stelle folgende Worte: „Nehmt hin den Heiligen Geist.“ Und gleich fügte er hinzu: „Wenn ihr jemandem die Sünden vergeben werdet, werden sie ihm vergeben sein“ 19, das heißt, der Heilige Geist vergibt, nicht ihr.20 So weit Augustinus. Augustinus: Nur Christus allein nimmt die Sünden hinweg, denn er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.21 Hieronymus sagt bei der Lesung des heiligen Matthäus im 16. Kapitel, bei den Worten: Dir gebe ich die Schlüssel des himmlischen Königreichs 22: An dieser Stelle (der Schrift) verstehen Bischöfe und Priester fälschlich einen Hochmut der Pharisäer, die entweder die Unschuldigen zu verdammen oder die Schuldigen freizusprechen wähnen, wohingegen vor Gott nicht der Schiedsspruch der Priester, sondern das Leben der Sünder angesehen Augustinus, Sermo 99, 8–9 (PL 38,600) 19 Joh 20,22 f. 20 Augustinus, Sermo 99, 8– 9 (PL 38,600). 21 Augustinus, Opus imperfectum contra Iulianum 2,84 (PL 45,1176). 22 Mt 16,19. 18
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wird (d. h. Gott sieht nicht das Urteil des Priesters an, sondern das Leben des Sünders, um ihm, wenn er danach verlangt, zu vergeben, oder nicht, wenn er nicht danach verlangt). Wir lesen im Leviticus von den Aussätzigen, wo sie sich dem Priester zu zeigen hatten, damit, wenn sie vom Aussatz befallen waren, sie von den Priestern beschmutzt (gezeichnet) werden sollten nicht damit die Priester sie aussätzig und unrein gemacht hätten, sondern damit man Kenntnis (eine Erkennungsmöglichkeit) vom Aussätzigen hätte und unterscheiden könnte, wer rein und wer unrein ist. Wie also dort (im Alten Gesetz) der Priester den Aussätzigen unrein macht (zeichnet), so bindet hier (im Neuen Testament) oder löst (d. h. er zeichnet den Schuldigen oder den Unschuldigen) der Priester oder der Bischof: nicht die, die unschuldig sind (bindet er) und nicht die, die schuldig sind (löst er), sondern er weiß von seinem Amt, da er die Unterschiede der Sünden (der Sünder) vernimmt (d. h. er soll es aus der Schrift wissen), welcher Mensch gelöst und welcher gebunden werden soll.23 Dies sagt der heilige Hieronymus. Hieraus zieht der Magister Sententiarum folgenden Schluss: Nun zeigt es sich offen, dass Gott nicht dem Urteil der Kirche folgt, die bisweilen mit Trug und Unkenntnis urteilt (d. h. Gott urteilt nicht nach den Priestern und Kirchenversammlungen, die oft betrogen werden), sondern Gott urteilt immer nach der Wahrheit, sowohl im Vergeben der Sünden als auch im Behalten.24 Ambrosius sagt dies: Das Wort Gottes – d. h. Christi – vergibt die Sünden, der Priester ist Richter. Der Priester nimmt sein Amt wahr, aber er spricht nicht mit (seiner) Gewalt Recht (er vergibt nicht die Sünden), das heißt, er hat nach der Auslegung der Schrift nicht die Gewalt der Sündenvergebung und der ewigen Verdammung (Höllenqual), sondern er hat den Auftrag (das Amt) der Verkündigung. Auch hier steht wiederum geschrieben: Derselbe vergibt die Sünden, der um der Sünden willen gestorben ist.25 Alle diese Worte sind begründet auf dem Worte Gottes im 43. Kapitel des heiligen Jesaja: Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.26 Dazu sagt der Magister Sententiarum: Aus der Schrift ist es richtig anzunehmen (zu verstehen) und zu sagen, dass Gott allein die Sünden vergibt und behält. Dennoch gab er der Kirche (d. i. der Gemeinschaft der Hieronymus, Commentarius in evangelium Matthaei 3 (Pl 26,122), zit. nach Petrus Lombardus (PL 192,887). 24 Petrus Lombardus, Sententiarium IV (PL 192, 887). 25 Ambrosius, zit. nach P. Lombardus, Sententiarum 4, di. 18, cap. 4 (PL 192, 887). 26 Jes 43,25.
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Christen im Priester) die Macht, zu binden und zu lösen. Er aber (Gott) bindet und löst anders als die Kirche; denn er vergibt allein mit seiner Macht und reinigt auch die Seele vom inneren Makel und löst sie von der Schuld des ewigen Todes. Dies sagt der Magister. Und er kommt zu dieser Auslegung: Denen ihr die Sünden vergebt – d. i. anzeigt, dass sie ver- 5 geben sind – werden sie vergeben sein (d. i. von Gott); denen ihr sie aber behalten werdet – d. i. anzeigt, dass sie behalten sind, ohne dass ihr irret – werden sie behalten sein.27 Und so steht es an der Wand in Bethlehem zur Warnung vor den Verirrungen, damit die Menschen wissen, dass es nicht im Belieben der 10 Priester steht, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Denn dies steht im Willen und in der Macht Gottes, in der Macht Christi des Menschen, und es hängt von der Reue oder vom Starrsinn des Menschen in seiner Seele ab, auch davon, ob der Sünder ganz bereut, dass er mit seinen Sünden Gott erzürnt hat, dass Gott der Herr durch Jesus Christus 15 ihm diese Sünden erließ. Und der Priester soll ihm den Rat geben, wie er bereuen solle, und soll zu ihm so sprechen: Lieber Bruder, weil du von Herzen die Sünden bereust, künftighin nicht sündigen willst und dem gnädigen Erlöser vertraust, dass er sie dir vergab, sind dir die Sünden vergeben: Geh hin in Frieden, sündige nicht mehr und tue Buße in 20 ziemendem Maße. Fahre fort, Gutes zu tun bis zum Tod. Viertes Kapitel Die vierte Verirrung, die am Gehorsam, ist diese: dass manche Leute meinen, sie müssten ihren Älteren, wie zum Beispiel den Bischöfen, 25 Herren, Vätern und anderen geistlichen und weltlichen Herrschern, in allem gehorsam sein, was sie befehlen, sei es böse oder gut. Von ihr lassen sich besonders die Priester leiten, die nicht verstehen wollen, dass Gott alle Missetat verboten hat und dass er der höchste Herr ist. Wenn also irgendein Mensch jemandem befiehlt, etwas Böses zu tun – das 30 heißt eine Sünde –, so darf er dies keineswegs befolgen. Denn er hat mehr Gott dem Herrn zu gehorchen als irgendeinem Menschen auf dieser Welt. Weiter soll er wissen, dass, weil alle unsere Taten zum Ruhme Gottes und zum Gelingen unseres Heils vollbracht werden sollen, nie- 35 mand einem Menschen gehorchen solle, es sei denn darin, was zu Gottes Gebot, zu seinem Rat und seinem Lob hinführt. Wo immer also jemand dessen gewahr werden sollte, dass ihm ein Prälat oder ein Herr Petrus Lombardus, Sententiarum 4,18,5 (PL 192,887) – „Augustinus“ statt Ambrosius. Den Fehler übernahm Hus von seiner Quelle: Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 92.
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oder der Vater etwas befehlen will, was gegen sein (Gottes) Gebot oder gegen seinen Ratsschluss und sein Lob gerichtet ist, darf er ihm darin gar nicht gehorchen. Denn er muss Gottes Gebot und Rat höher bewerten als den Befehl eines Menschen. Ich sage, den Rat Gottes solle er befolgen, wenn er durch den Heiligen Geist an diesen Rat erinnert worden ist und dazu einen starken Antrieb hat. Zum Beispiel: Wenn der Papst, der Vater und die Mutter Katharina befahlen, einen Mann zu nehmen, und sie durch Gottes Fügung erkannte, dass der heilige Stand der Jungfräulichkeit von hoher Würde ist und sie eine große Neigung hatte, ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, und da sie wusste, dass Gott denen gnädig seinen Rat gibt, denen er diese Würde verleiht, wenn die Jungfrau Katharina also Kenntnis dessen und inneren Antrieb hatte, durfte sie weder dem Papst noch Vater und Mutter darin gehorsam sein, dass sie ihr befahlen, einen Mann zu nehmen. Und wenn sie Dorothea befahlen, bis zum Tode Jungfrau zu bleiben und sie bei sich eine große Neigung zum Ehestand und große Versuchungen bemerkte, sollte sie ihnen darin nicht gehorchen. Denn Jungfräulichkeit und Ehestand sind im Willen der Jungfrau. Das Gleiche kann auch von der Witwe gesagt werden. Auch wenn der Papst verbietet, in Kapellen das Wort Gottes zu predigen, wenn er Priestern, die predigen können und das gute Verlangen haben, zu dienen, und ein gottgefälliges Leben führen, verbietet, die Messe zu feiern, sollen sie ihm darin nicht gehorchen; denn dies widerspricht dem Gebot, dem Rat und dem Lob Gottes. So ist es also bisweilen gut, den Prälaten und Älteren nicht zu willfahren. Deshalb steht an der Wand von Bethlehem zu lesen: Gehorsam . Augustinus sagt: Es ist nicht immer böse, dem Geheiß eines Höherstehenden nicht zu gehorchen. Wenn nämlich ein Herr die Dinge befiehlt, die wider Gott sind, soll ihnen nicht gefolgt werden.28 Hieronymus sagt: Gebietet ein Herr etwas, was nicht gegen die Heilige Schrift ist, dann sei der Diener dem Herrn ergeben. Gebietet er etwas gegen die Schrift, dann gehorche (der Mensch) mehr dem Herrn (Gott) seiner Seele als dem Herrn des Leibes. Und weiter unten sagt er: Wenn es gut ist, was der Kaiser gebietet, tue seinen Willen. Ist es böse, antworte ihm: „Es muss Gott mehr gehorcht werden als den Menschen.“ Das gleiche gilt für den Gehorsam der Diener gegenüber ihren Herren, der Frauen gegenüber ihren Männern und der Kinder gegen-über den Vätern: Sie sind nur in den Dingen schuldig, den Herren, Vätern und Müttern gehorsam zu sein, die nicht gegen Gottes Gebot sind.29 28
Zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 92 (PL 14,303).
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Der heilige Gregor sagt: Die Menschen niederen Standes sollen ermahnt werden, nicht mehr, als sich ziemt, untertänig zu sein, damit sie nicht streben, deren Sünden zu verehren, wenn sie über Gebühr den Menschen untertan sein wollten.30 Gregor sagt auch: Man muss jedoch auch wissen, dass durch Gehorsam niemals Böses getan werden darf. 31 Der heilige Johannes Chrysostomos sagt ebenfalls: Wie verhält es sich, sagt jemand, wenn ein Prälat böse ist? Werden wir etwa dem Bösen auch gehorsam sein? Was sagst du dazu? So wisse, dass du dich in der Sprache des Glaubens vor ihm zu hüten und ihn zu meiden hast, sei er ein Mensch, sei er selbst als Engel vom Himmel herabgestiegen.32 Dies sagt der heilige Johannes. Der heilige Isidorus spricht:33 Wenn der Herrschende etwas täte, was vom Herrn (Gott) verboten ist, oder geböte es zu tun, oder er verletzte, was in der Schrift geschrieben steht, oder geböte es zu verletzen, soll ihm das Urteil des heiligen Paulus vorgehalten werden, der sagt: Aber so auch wir (die Apostel)oder ein Engel vom Himmel euch anders predigen würden, so sei der verflucht.“34 Und weiter sagt Isidor: Wenn euch jemand verwehrt, was vom Herrn befohlen ist, und umgekehrt das zu tun gebietet, was der Herr verbietet, sei der vermaledeit all denen, die den Herrn lieben . Und weiter sagt er: Wenn der, der herrscht, außer dem Willen Gottes oder außer dem, was in der Heiligen Schrift offen geboten ist, sagt oder befiehlt, sei er wie ein falscher Zeuge Gottes oder wie ein Kirchenräuber gehalten. Der heilige Bernhard sagt: Es ist offenbar, dass Böses tun, sei es auch noch so sehr (vom Herrscher) befohlen, nicht Gehorsam ist, sondern Ungehorsam. So weit der heilige Bernhard.35 In der Geistlichen Bestimmung steht geschrieben: Gegen die Ordnung und in verbotenen Dingen ist niemand verpflichtet zu gehorchen.36 Ebenda steht zu lesen: Einem unrechten Befehl eines Prälaten darf kein Gehorsam gehalten werden.37 Ebenso heißt es da: Aus einem gerechten Grund ziemt es, einem Geheiß des Papstes nicht zu gehorchen.38 Grat. II C. 11 q. 3 c. 93 (PL 26,584.591). 30 Gregor d. Gr., Regula pastoralis III, c. 17 (PL 77,78). 31 Gregor, zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 99 (PL 76,766). 32 Iohannes Chrysostomos, In epistolam ad Hebreoshom.34 (PG 63,231). 33 Isidorus, zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 101. (übernommen aber aus Basilia, Regulae breves c. 114 und 303). 34 Gal 1,8. 35 Bernhard, Epististola VII ad Adam monachum (PL 182,95). 36 Decr. Greg. IX lib. V. tit. 3 De simonia c. 43. 37 A. a. O., lib. I tit. 11 De temporibus ordinationum c. 15, und lib. II tit. 28 De appellationibus c. 54. 38 A. a. O., lib. I tit. 3 De resciptis c. 5.
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Diese Worte sind begründet auf dem Gesetz Gottes. Zunächst steht im zweiten Buch Mose im 23. Kapitel: Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen und nicht antworten vor Gericht, dass du der Menge nach vom Rechten abweichst.39 Und im fünften Buch im 4. Kapitel steht: Ihr sollt nichts dazu tun, dass ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf dass ihr bewahren möget die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete.40 Wiederum in diesem Buch im 24. Kapitel heißt es: Halte mit Fleiß alles und tue alles, das dich die Priester, die Leviten, lehren, und was ich ihnen gebot, das sollt ihr halten und danach tun.41 In der Weissagung des Ezechiel im 20. Kapitel sagt Gott der Herr: Ihr sollt nach eurer (bösen) Väter Geboten nicht leben und ihre Rechte nicht halten und an ihren Götzen euch nicht verunreinigen: Denn ich bin der Herr, euer Gott. Nach meinen Geboten sollt ihr leben, und meine Rechte sollt ihr halten und danach tun.42 In der Lesung des heiligen Matthäus im 15. Kapitel sagte Jesus zu den Meistern und Schriftgelehrten: Warum übertretet denn ihr Gottes Gebote um eurer Gesetze willen, dieweil ihr solche Lehren lehrt, die nichts denn Menschengebote sind? 43 Ebenfalls beim heiligen Matthäus, im 23. Kapitel, sagt Christus: Auf Moses Stuhl saßen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, dass ihr halten sollt, das haltet und tut es; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun.44 In der Auslegung des Wortes Gehorchet euren Oberen steht geschrieben: Den Oberen und Predigern ist zu gehorchen, denn ihre Lehren und Sitten sind heilig und treu (d. h. im Glauben). Wenn sie (die Oberen) jedoch vom Wege des Rechten abirren, sollen wir nicht tun, was sie tun. Was sie sagen, lasst uns hingegen tun, es sei denn, dass sie in der Lehre irrten. Und deshalb sagt Jesus: „Was sie sagen, das tut; aber was sie tun, das sollt ihr nicht tun.“ 45 Und der heilige Augustinus sagt in der Predigt über die Lesung des heiligen Johannes bei dem Wort Ich bin der gute Hirte: 46 Sitzend nämlich auf dem Stuhl Mose lehren sie das Gesetz Gottes. Und so lehrt Gott durch sie; wenn sie aber ihre (Erfindungen) werden lehren wollen, hört nicht auf sie und folgt ihnen nicht: sicher nämlich suchen diese ihren Gewinn und nicht die Dinge, die Christi sind.47
Ex 23,2. 40 Dtn 4,2. 41 Dtn 24,8. 42 Ez 20, 18–19. 43 Mt 15,3. 44 Mt 23,2–3. 45 Haymo, Expositio in epistolam ad Hebreos (PL 117,935). 46 Joh 10,11. 47 Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus 46 c. 6 (PL 35,1730).
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Im 4. Kapitel der Apostelgeschichte steht geschrieben, dass „die Obersten und Ältesten des Volkes und Hannas, der Oberpriester, und Kaiphas, und Johannes, und Alexander und wie viele ihrer waren vom Hohepriester-Geschlecht, den Aposteln befahlen, nicht zu sprechen und zu lehren im Namen Jesu. Petrus aber und Johannes antworteten und 5 sprachen zu ihnen: „Richtet ihr selbst, ob es vor Gott recht sei, dass wir euch mehr denn Gott gehorchen; denn wir können es nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehöret haben.“48 Ebenda im 5. Kapitel sagen Petrus und andere Apostel denselben: 10 Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.49 So steht es auch in Bethlehem zu lesen, zur guten Belehrung, dass die Menschen nicht ihren Prälaten und Oberen zu gehorchen haben, es sei denn in guten Befehlen. Fünftes Kapitel Die fünfte Verirrung, die am Fluch, ist folgende: dass Priester meinen und das Volk belehren, dass jeder Fluch, den sie aussprechen, dem Menschen schade, den sie verfluchen. Aber da dies nicht der Fall ist, soll man wissen, was ein Fluch ist; zweitens, weshalb er sein soll, und drittens, wie er sein solle. Zuerst sollst du wissen, dass der Fluch eine Verwünschung und ein Bannspruch ist. Und hier gibt es zweierlei Arten: einen gerechten und einen ungerechten. Gerecht ist er, wenn Gott oder ein Mensch kraft seines Amtes und nach dem Gesetz einen Menschen verflucht und wegen einer offenkundigen Todsünde, nach einer Ermahnung den Sünder im Volk kenntlich macht, damit man mit ihm keinen Umgang pflege, solange er sich nicht von seiner Todsünde befreit. So heißt Fluch „Fluch“, d. h. Malediktion, wenn ein böser Mensch von Gott böse genannt wird, weil er nicht seine Gebote hält; er heißt aber deshalb „Bannspruch“, weil der böse Mensch wegen einer Todsünde aus der heiligen Gemeinschaft ausgestoßen ist. Auch ist er in der Zeit, solange er in der Todsünde ist, nicht in der Gnade heilig unter den Heiligen und nicht teilhaftig des Dienstes der heiligen Kirche, denn er ist durch die Todsünde von Gott und von der heiligen Gemeinschaft für eine Zeit geschieden. Und so steht jeder Träger einer Todsünde im Fluch Gottes, der selbst den Sünder verflucht, da er im fünften Buch Mose im 28. Kapitel sagt: Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn deines Gottes, dass du hältst und tust alle seine Gebote und Rechte, so wer48
Apg 4,5–6.18–20.
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Apg 5,29.
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den alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen. Verflucht wirst du sein in der Stadt, verflucht auf dem Acker. Verflucht wird sein deine Scheuer und all dein Übriges. Verfluchst wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Landes, die Frucht deiner Ochsen und die Frucht deiner Schafe. Verflucht wirst du sein, wenn du eingehst, und verflucht wirst du sein, wenn du ausgehst.50 So ist der Fluch oder der Bannspruch von Gott festgelegt worden. David wiederum sagt im 118. Psalm: Verflucht sind, die deine Gebote missachten.51 Und so sagen die Priester alle jeden Tag zur Prim, und sie verdammen alle, die im Stande einer Todsünde sind, ja auch sich selbst, wenn sie eine Todsünde begangen haben, und sprechen so. Von diesen Worten lies hier den zweiten Teil: dass der Fluch nur um einer Todsünde willen ausgesprochen werden darf; nichts unterscheidet und trennt nämlich den Menschen von Gott dem Herrn so, wie zuerst die Todsünde, wie Jesaja im 59. Kapitel sagt: Eure Untugenden scheiden euch und euren Gott voneinander.52 Ein Mensch also, der in der Gnade Gottes war und eine Todsünde begeht, schneidet sich von Gott und der heiligen Gemeinde los und stellt sich selbst in den Bann und den Fluch, denn er liebt nicht Gott den Herrn und Jesus Christus. Der heilige Paulus sagt nämlich im letzten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther: So jemand den Herrn Christus nicht lieb hat, der sei Anathema.53 Daraus folgt, dass jedes Geschöpf, wenn es in der Todsünde verharrt, zu gleicher Zeit von Gott dem Herrn verdammt, verflucht und ausgeschlossen ist. So ist jeder Teufel und jeder Träger einer Todsünde im gerechten Fluch Gottes, den er verkündet zum Jüngsten Tag, wenn er allen nicht reumütigen Sündern sagt: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist den Teufeln und seinen Dienern.54 Das also ist Gottes Fluch. Der Fluch indes, mit dem die Priester umgehen, ist die öffentliche Verkündigung im Volk, dass ein Mensch von der Teilhabe an den Sakramenten ausgeschlossen und aus der Gemeinde ausgewiesen sei. Diese Ankündigung macht der Priester oder der Prälat mit einer Schrift, mit Ausrufen, Kerzenauslöschen, falschem Läuten und anderen Einfällen, wie Werfen von Steinen, Singen, Umdrehen oder Peitschen des Bildes der Kreuzigung und anderen Sitten, die die Priester außerhalb der Heiligen Schrift ersannen, da sie sich nicht damit begnügten, was der Erlöser Petrus und in ihm der heiligen Kirche vorschrieb: dass er einen Bruder, der eine Todsünde begangen hatte, zuerst allein 50
Dtn 28,15–19.
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Ps 118,21.
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Jes 59,2.
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1Kor 16,22.
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Mt 25,41.
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ermahnte und bestrafte; wenn dieser jedoch nicht gehorchte, zweioder dreimal, sollte er ihn bestrafen; das dritte Mal aber sollte er ihn der Gemeinde oder vielen ankündigen; wenn er aber das dritte Mal der Gemeinde nicht gehorchte und in der Todsünde verharrte, sollte man mit ihm keinen Umgang pflegen und ihn wie einen Heiden oder einen notorischen Sünder behandeln, um ihn vielleicht so von der Sünde weg- und zum Gesetz Gottes hinzuführen.55 Denn dieser Fluch und die Exkommunikation ist wie eine Arznei, mit der der Nächste nicht getötet, sondern an der Seele geheilt werden soll, wie der heilige Augustinus sagt.56 Und so ließ der heilige Paulus einen notorischen Unzüchtigen ausstoßen, der mit seiner Schwiegermutter sündigte, und hieß ihn dem Teufel überantworten, damit der ihn am Leib quälte und damit er, seiner Sünden eingedenk, sie bereute und seine Seele gerettet würde.57 Es kann auch dies geschehen, dass ein Mensch einen anderen vermaledeien, verfluchen und exkommunizieren kann und dies im Einklang mit Gott tut. Dies geschieht, wenn er, selbst ohne Todsünde, den verflucht, den auch Gott verflucht. Manchmal aber flucht er, ohne mit Gott übereinzustimmen. Dies tut er, indem er den verflucht, den Gott segnet; er nennt den verdammt, den Gott selig nennt, oder wenn er, selbst in eine Todsünde verstrickt, flucht, vermaledeit und mit dem Bann belegt. Aus diesen Worten kann noch ein Drittes abgeleitet werden: wie der Fluch zu sein habe. Es ist nämlich notwendig, dass der Mensch, der den Fluch ausspricht, mit Gott im Grund und in der Ordnung übereinstimmt: im Grund, um deshalb zu verfluchen, weil Gott verflucht, d. h. um einer Todsünde willen; in der Ordnung, um aus Liebe zu verfluchen, wie auch Gott verflucht, denn Gott ist die ewige Liebe. Wenn daher derjenige, welcher flucht, in der Ordnung der Liebe irrt oder ohne den Grund der Todsünde, dann verflucht er sich selbst, desgleichen, wenn er aus Rache oder aus Habgier oder aus Zorn oder aus Hochmut flucht; da er so flucht, ist er nämlich nicht im Einklang mit Gott dem Herrn. Daraus folgt, dass ein Fluch falsch ist, wenn einer verflucht wird, der ohne Todsünde ist; zweitens, wenn der Fluch entgegen der Ordnung gesprochen wird, und hier gibt es mehrere Arten des Verstoßes. So ist heutzutage der priesterliche falsche Fluch verbreitet, so sehr, dass sogar einfache Menschen es bemerken können, dass dieser Fluch mehr Mt 18,15–17. 56 Augustinus, Sermo 351 De utilitate agendae penitentiae c. 4/10 (PL 39,1546), zit. nach Decr. Grat. II C. 2 q. 1 c. 18. 57 1Kor 5,1–5.
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denen schadet, die ihn aussprechen, als denen, die von ihnen den Fluch ertragen müssen. Wenn nämlich ein Mensch von der Todsünde frei ist, und besonders, wenn man ihn mit dem Fluch von der Wahrheit Gottes losreißen will, er aber fest bleibt und den Fluch demütig und ergeben erträgt, dann schadet ihm der Fluch nicht, sondern er trägt zum Heil seiner Seele bei. Und zur Bestätigung dieser Worte steht an der Wand von Bethlehem so zu lesen: Fluch oder Bannspruch . Der heilige Augustinus sagt: Denke über Augustinus, was dir beliebt, nur das Gewissen allein klage mich vor dem Angesicht Gottes nicht an.58 Und an einer anderen Stelle sagt er: Du hast begonnen, deinen Bruder wie einen notorischen Sünder zu halten; du bindest (durch den Fluch) ihn auf Erden, aber sieh zu, dass du ihn gerecht bindest. Denn ungerechte Bindungen brechen die Gerechtigkeit.59 Derselbe sagt zum Priesterstand von Hippo: Was schadet es dem Menschen, wenn ihn von dieser Tafel die menschliche Dummheit hinwegwischen will, da ihn doch kein böses Gewissen aus den Büchern des Lebens wegradiert? 60 An anderer Stelle sagt er: Wenn du (wer du auch seist) den Menschen auch noch so sehr in der Zeit verdammst (d. h. durch den Urteilsspruch oder Fluch) und wenn du das (falsche) Urteil auch vom ersten Ratsherrn (d. i. Herrscher oder Rat oder Richter oder Bürgermeister) über Cyprian fällst (d. h. einen unschuldigen Menschen), so ist doch der irdische Richterstuhl (d. h. die Macht, mit der man die irdischen Menschen urteilt) eine Sache, eine andere aber ist der himmlische Thron (d. h. die Macht, mit der Gott im Himmel spricht); von der niedrigen nimmt er die Verurteilung hin, von der höheren die Krone.61 Weiter sagt er: Der ungerechte Fluch verletzt nicht den, der verflucht wird, sondern den, der flucht.62 Papst Gelasius sagt: Gegen wen ein Fluch ausgesprochen ist, der lasse von seiner Verirrung (wenn er sie beging), und der Fluch ist frei (d. h. er schadet nicht); ist er aber ungerecht, dann braucht er sich um so weniger um ihn zu sorgen, als bei Gott und seiner (heiligen) Kirche niemanden Augustinus, Contra Secundinum Manichaeum c. I (PL 42,577), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 51. 59 Augustinus, De verbis domini c. 4 (PL 38,509), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 48. 60 Ad clerum Iponensem (marg.): Augustinus, Epistola 78, c. 4 (PL 33,269), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 51. 61 Augustinus, Enarratio in Psalmum 36, sermo 3 c. 13 (PL 36,391). 62 A. a. O., c. 53, zit. nach Decr. Grat. II C. 24 q. 3 c. 1. 58
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ein falscher Fluch belasten kann. Wünsche deshalb nicht, von diesem Fluch dich zu lösen, von dem du weißt, dass er nicht gebunden ist.63 Der ungerechte Fluch schadet mehr dem, der flucht, als dem Verfluchten.64 Wieder steht geschrieben: Mehr soll das eigene Gewissen befolgt (d. i. gewogen) werden als der Prälaten Fluch.65 Und wiederum steht geschrieben: Ein gerechter Fluch bindet weder vor Gott noch vor der Kirche.66 Der heilige Augustinus: Nach dem katholischen Glauben kann weder jemand Gott schaden, noch kann Gott jemandem ungerechterweise schaden, noch kann er dulden, dass jemand ungerechterweise leidet.67 Wieder heißt es: Wer gerecht ist und gerecht verflucht wird, dem wird Belohnung zuteil werden (von Gott).68 Und wieder steht geschrieben: Wenn Untergebene verflucht werden, die (gerechterweise) nicht zum Bösen gezwungen werden können, dann sollen sie auf den Fluch nicht hören, denn „weder vor Gott, noch vor seiner (christlichen) Kirche kann jemanden ein ungerechter Fluch belasten“.69 Der heilige Augustinus sagt: Wir können gegen niemanden (gerechterweise) einen Fluch aussprechen, es sei denn, dieser sei (einer Missetat) überführt oder er habe sich freiwillig (zu seiner Untat) bekannt.70 Der heilige Hieronymus sagt: Die, deren Sünden offenkundig sind, lasst uns aus der Kirche ausstoßen; wo aber eine Sünde nicht evident ist, können wir niemanden aus der Kirche verbannen, damit wir nicht, indem wir das Unkraut jäten, mit ihm auch den Weizen ausraufen.71 Wiederum steht geschrieben: Kein Bischof beraube irgendeinen Menschen ohne sicheren und offenkundigen Grund der Sünde der Gemeinschaft der christlichen Kirche. Denn weil der Bannfluch ein Spruch des Todes (d. i. der Todsünde) ist,darf er aus keinem anderen Grund als für eine Todsünde auferlegt werden, und nur auf die, die anders nicht gebessert werden können.72 Gelasius, zit. nach Decr. Grat. II C. 24 q. 3 c. 46 (PL 59,150), und Felix III. (Epistola sive tractatus – PL 58,966). 64 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 87. 65 Decr. Greg. IX lib. II tit. 13 De restitutione spoliatorum c. 13. 66 Freies Zitat nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 64. 67 Augustinus, De natura boni lib. III c. 39, zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 47. 68 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 90 (Ausspruch des hl. Augustinus, Enarratio in psalmum 102 c. 14 – PL 37,1328). 69 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 101. 70 Augustinus, zitiert nach Decr. Grat. II C. 2 q. 1 c. 1 (PL 39,1547). 71 Hieronymus, zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 22 (fälschlicherweise statt Origenes, Homilia 21 in Iosuam c. 15, zitiert; Hus übernahm den Fehler). 72 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 41. 63
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Wieder steht geschrieben: Das Urteil Gottes an der Wahrheit, das niemals betrügt und niemals betrogen wird, steht immer auf festem Grund; aber das Urteil der (christlichen) Kirche folgt manchmal der (unsicheren) Meinung, und es geschieht der Kirche bisweilen, dass sie betrügt und betrogen wird. Daher geschieht es auch, dass einer, der (gerechterweise) von Gott gebunden ist, vor der Gemeinschaft (in falscher Annahme) entbunden wird, und dass einer, der vor Gott frei ist, vom katholischen (menschlichen) Fluch in (falscher Annahme) gebunden wird.73 Der heilige Gregor sagt so:74 Zwischen den Reden der Lobenden und der Tadler sollen wir zum Gewissen Zuflucht nehmen, und wenn wir dort nicht das Gute finden, das über uns gesagt wurde, sollen wir großen Kummer haben; finden wir darin aber nicht das Böse, das die Menschen über uns sagen, sollen wir frohlocken. Denn was ist es, dass nicht alle (uns) loben und dass wir das Gewissen sich uns rein zeigt? Da ist Paulus, der uns sagt: Unser Lob ist dies: das Zeugnis unseres Gewissens.75 Hiob sagt auch: Sieh, im Himmel ist mein Zeuge.76 Wenn wir also einen Zeugen im Himmel und einen Zeugen im Herzen haben, mögen die Toren draußen sagen, was sie wollen.77 Der heilige Gregor sagt auch: In allen widerwärtigen Dingen, die in diesem Leben uns zustoßen können, soll, wie ihr wisst, nur das Urteil des allmächtigen Gottes gewogen werden, und wir müssen zu unserem Herzen Zuflucht nehmen, damit keines Menschen Zunge dort Schuld sprechen kann, wo das Gewissen freispricht. Wen nämlich das Gewissen verteidigt, der ist unter allen Anklägern freigesprochen; und frei ohne Anklage kann der nicht sei, den nur das Gewissen, das in ihm ist, anklagt.78 Dies sagt Gregor. Daher sagt Cato hierzu: Führst du ein gutes Leben, dann achte nicht auf die Reden der bösen (Menschen); unser Richterspruch ist nicht, was jedermann sagt.79 Aus diesen Worten geht hervor, welcher Spruch bindet und welcher nicht bindet: Der ungerechte aber bindet nicht und schließt nicht aus der Gemeinschaft der Heiligen aus. Dieses Argument ist begründet auf dem 4. Buch Mose im 23. Kapitel, wo gesagt wird: Wie soll ich fluchen, dem Gott nicht flucht? Wie soll Decr. Greg. IX lib. V tit. 39 De sententia excommunicationis c. 28. 74 Gregor d. Gr., Epistola Palladio presbytero lib. 11 ep. 2 (PL 77,1120), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 55. 75 2Kor 1,12. 76 Hiob 16,19. 77 Gregor d. Gr., Epistola Constantio Mediolanensi episcopo lib. 7 ep. 14 (PL 77,868), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 52. 78 Ebd. 79 Ps.-Cato, Disticha moralia III, 2. 73
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ich schelten, den der Herr nicht schilt? 80 Und weiter unten steht geschrieben: Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschen Sohn, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen und nicht tun? Sollte er etwas reden und nicht halten? Siehe, zu segnen ward ich hergebracht (mit Gottes Willen), den Segen (Gottes) kann ich nicht wenden .81 Der Prophet nennt den Grund, weshalb das Volk nicht fluchen dürfe, und sagt: Es ist kein Götze in Jakob (d.i. dem Geschlecht Jakobs), und man sieht keinen Götzen in Israel (d. i. im Stamme Israel). Sein Gott (dieses Volkes) ist mit ihm .82 Im 108. Psalm wiederum sagt David: Fluchen sie, so segne du.83 Matthäus sagt im 5. Kapitel: Selig seid ihr, wenn euch die Leute schmähen und verfolgen werden und allerlei Übles gegen euch sagen werden, so sie darin lügen (euch dies zufügend) um meinetwillen.84 Lukas sagt im 6. Kapitel: Selig seid ihr, so euch die Leute hassen und euch absondern (von der Gemeinde) und euch schelten und verwerfen euren Namen als einen boshaften um des Menschensohnes willen. Freuet euch alsdann und frohlocket; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel.85 Und im 19. Kapitel des heiligen Matthäus sagt Christus: Was Gott zusammengefügt hat (durch die Liebe), das soll der Mensch nicht scheiden.86 Der heilige Paulus sagt zu den Römern im 8. Kapitel: Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht. Wer will verdammen? 87 Und der heilige Lukas sagt im 10. Kapitel der Apostelgeschichte, dass Gott zu Petrus gesprochen habe: Was Gott gereinigt hat, das mache du nicht gemein.88 Der heilige Petrus sagt im 1. Brief im 3. Kapitel: Wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommet? Und ob ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig.89 Weil aber nach dem Wort des heiligen Gregor in der Homilie in der Furcht gehalten werden soll des Hirten (Prälaten) Fluch (oder Urteil) , 90 deshalb soll der Untergebene daran denken, dass er die Furcht habe; und wenn er nach Christi Gesetz sein Gewissen erforscht hat und die Schuld, um deretwillen man ihn geächtet hat (bei sich), nicht findet, soll er fürchten: die Ungeduld, in die er flüchten könnte, zweitens den Abfall von der Beständigkeit, drittens des ungerecht Fluchenden VerNum 23,8. 81 Num 23,19 f. 82 Num 23,21. 83 Ps 109,28. 84 Mt 5,11. 85 Lk 6,22 f. Mt 19,6. 87 Röm 8,31.32–34. 88 Apg 10,15. 89 1Petr 3,13 f. 90 Gregor d. Gr., Homilia 26 in evangelia c. 6 (PL 76,1201), zit. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 1.
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derben (an der Seele), viertens den Schaden seiner Nächsten, der wegen des Fluchens entstehen könnte, wie zum Beispiel in der nützlichen Predigt oder in der Verweigerung der Sakramente; denn derjenige, der irrig flucht, ist bisweilen der Grund für das Verderben vieler, da er dem geächteten (Menschen) das Predigen verweigert, mit dem er sie nützlich über das Gesetz Gottes belehren könnte; fünftens hat er zu fürchten, dass von der Wahrheit, an die er, der Verfluchte, sich hält, seine Nächsten sich abwenden; sechstens, dass seine Nächsten sündigen, indem sie sich von ihm entfernen, ihn beschimpfen und die Taten der Liebe (an ihm) unterlassen; siebtens muss er fürchten, dass der unrechte Fluch von den Christen gutgeheißen werden könnte, denn es wird sehr oft ein ungerechter Fluch ausgesprochen und selten ein gerechter. Aber er (der Gerechte) braucht nicht zu fürchten, dass der unrechte Fluch seiner Seele schade, sondern er soll sich freuen und frohlocken, dass ihm durch ihn die Belohnung der Seligkeit zuteilwerden wird; denn der gerechteste Priester und Richter sagt im 5. Kapitel des heiligen Matthäus: Selig seid ihr, so euch die Leute schmähen und verfolgen und allerlei Übles gegen euch sagen werden, so sie darin lügen, um meinetwillen; seid fröhlich und getrost, denn es wird euch im Himmel wohl belohnt werden;91 und im 6. Kapitel des heiligen Lukas steht: Selig seid ihr, so euch die Leute hassen und euch absondern und euch schelten und verwerfen euren Namen als einen boshaften um des Menschensohnes willen. Freuet euch alsdann und frohlocket; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel.92 So steht es an der Wand in Bethlehem geschrieben, damit die Priester lernen, weshalb, wann und wie sie den Bann zu sprechen haben, und damit sie mit dem Fluchen sich nicht so sehr beeilen. Und auch deshalb, damit andere Menschen sich nicht durch unrechte Sprüche von Gottes Wahrheit abbringen lassen, und wenn sie verflucht werden, dass sie in Demut und Ergebenheit dulden und von ihrem Erlöser den ewigen Segen erwarten, den er am Jüngsten Tag so sprechen wird: Kommet her ihr Gesegneten, empfanget das himmlische Königreich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.93 Sechstes Kapitel Die sechste Verirrung ist der Ämterkauf, der Priester und andere Menschen sehr erschüttert hat. Du sollst wissen, dass diese Verirrung des Ämterkaufs auch einen Verkauf heiliger Ämter einschließt, obwohl es zwei Wörter dafür gibt: Ämterkauf und Ämterverkauf. Das Wort „Kauf91
Mt 5,11 f.
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mann“ nämlich bezeichnet sowohl den, der kauft, als auch den, der verkauft, wie das Wort „Händler“. Weiter mögest du wissen, wie dieses Wort „Ämterkauf“ lautet, dass es besser lautet als das lateinische „Simonia“. Denn die Lateiner gaben dieser Verirrung den Namen nach Simon: „Simonia“, der die Kraft des Heiligen Geistes bei den Aposteln kaufen wollte, damit er den Menschen die Hände auflegte, und wem er sie auflegte, der sollte die Gabe des Heiligen Geistes empfangen; aber tschechisch heißt diese Verirrung „svatokupectvie“ („Kauf des Heiligen“) von der Tat, denn es ist eine heilige Sache, die die Menschen verkaufen oder kaufen. Denn sie wollen unrecht verkaufen und kaufen, wie ich ausführlich in meinem tschechischen Buch über den Ämterkauf schrieb. Wisse also, dass der Ämterkauf der unrechte Wunsch ist, eine geistliche Sache mit einer zeitlichen zu tauschen. Daraus folgt, dass jeder ein Ämterkäufer ist, der den ungerechten Wunsch hat, zu predigen, zu taufen, Messe zu lesen, zu beten, Beichte zu hören, die letzte Ölung zu geben, die Ehe zu schließen, zu leiten, zu segnen, die Gesalbten zu weihen, die Hand aufzulegen, Priester zu weihen, Kirchen, Kelche, Altäre, Altartücher zu weihen, Menschen zu firmen, Pfründen zu vergeben, Begräbnisse in der Kirche zu verkaufen, auf dem Friedhof oder in der Kapelle, oder für einen Dienst, für Geschenke oder für eine materielle Gunst zu Pfründen zu verhelfen. Zuallererst ist er aber ein Ämterverkäufer, denn er hat den bösen Wunsch, eine geistliche Sache mit einer materiellen oder zeitlichen einzutauschen, also mit Geld oder mit einem anderen materiellen Nutzen oder mit einem Dienst oder mit Prahlerei oder mit einer eitlen Gunst. Und jeder wiederum, der ungerechterweise begehrt, ein materielles Ding gegen ein geistliches zu tauschen, wie Geld, Dienste, irgendein Geschenk gegen Priestertum, Bistum und gegen andere oben genannte Dinge, ist ein Ämterkäufer, denn er will zu Unrecht eine geistliche Sache, das ist eine heilige, für eine materielle. Und da sollst du wissen, dass eine heilige oder geistliche Sache heißt, was Gottes Geschenk ist, hingeben zur Erlösung der Seele. Und die Menschen sündigen darin sehr, wenn sie mit ihrem Verlangen irren. Und damit diese Verirrung angezeigt werde, steht an der Wand von Bethlehem so zu lesen: Ämterkauf . Der Ämterkauf ist das heftige Begehren nach dem Kauf oder Verkauf einer geistlichen Sache oder einer zur geistlichen gehörenden Sache. Kurz und besser ausgedrückt: Der Ämterkauf ist der unechte Wille, eine geistliche Sache gegen eine zeitliche zu tauschen. Papst Leo sagt: Die Gabe (des Heiligen Geistes) ist nichtig, wenn sie nicht umsonst (ohne Geld) gegeben und genommen wird; und die Ämter-
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käufer nehmen nicht umsonst; daher nehmen sie die Gabe, die am meisten in den kirchlichen Ämtern zugegen ist, nicht entgegen. Und da sie sie nicht nehmen, haben sie sie nicht; und da sie sie nicht haben, können sie sie weder umsonst noch nicht umsonst jemandem geben. Was also vergeben sie? Gewiss, was sie haben. Und was haben sie? Gewiss den Geist der Lüge. Wie werden wir dies beweisen? (Auf folgende Weise): Da der Geist der Wahrheit (der Heilige Geist) – wie die Wahrheit (Christus) bezeugt, aus der (der Wahrheit, Christus) er hervorgeht – umsonst angenommen wird (von den Heiligen, die ihn nehmen) 94, so ist es ohne Zweifel der Geist der Lüge, der nicht umsonst genommen wird (d. h. die Ämterkäufer nehmen nicht die Gabe des Heiligen Geistes an, sondern des falschen Geistes).95 Dies sagt Papst Leo. Und Gregor, der heilige Papst: Wenn ein Priester eine Kirche durch Geld erhält, so soll er nicht nur die Kirche verlieren, sondern auch des Priesteramtes beraubt werden.96 Wiederum sagt Gregor: Diejenigen, welche die Weihe verkaufen oder kaufen, können keine Priester sein. Denn es steht geschrieben: „Verfluchtes Geben, verfluchtes Nehmen, das ist die Ketzerei der Simonie.“ Wie also können, da die Ämterverkäufer verdammt und die Heiligen es nicht sind, jene anderen weihen? (Das bedeutet: Sie können es nicht, das ist gewiss). Da sie aber nicht im Leib Christi (d. i. in der Kirche der Heiligen) sind (durch die Gnade), wie können sie den Leib Christi geben oder nehmen? Wie kann der, der verflucht ist, segnen? Dies sagt Gregor.97 Und in seiner Predigt sagt er: Euch Priestern klage ich, dass wir erkannt haben, dass manche von Euch für Geschenke die Weihe (der Diakone) gespendet haben, um eine geistliche Gabe zu verkaufen und aus fremden Bosheiten mit dem Schaden der Sünde materiellen Gewinn zu sammeln. Wie kommt euch nicht in den Sinn, was die Stimme Gottes sagt: „Umsonst habt ihr es empfangen (d. i. ohne Geld), umsonst gebt ihr es.“ 98 Und weshalb stellt ihr auch nicht vor die Augen des Verstandes, dass unser Erlöser, als er in den Tempel getreten war, die Tische der Taubenverkäufer umstürzte und „das Geld der Geldwechsler verschüttete“? 99 Und welche sind heute im Tempel Gottes, die Tauben verkaufen: nur die, welche in der heiligen Kirche für das Handauflegen Geld annehmen, wodurch der Heilige Geist vom Himmel verliehen wird. Deshalb wird eine Taube verkauft, wenn jemand die Gabe des Heiligen Geistes für Geld hingibt. Unser Erlöser aber stürzt die Tische der Taubenverkäufer Mt 10,8. 95 Leo d. Gr. zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 1. 96 Gregor d. Gr. zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 3. 97 Zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 12. 98 Mt 10,8. 99 Joh 2,15.
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um, denn er entzieht solchen Händlern die Priesterschaft. Deshalb verdammen die heiligen Kirchengesetze die simonistische Ketzerei und befehlen, sie (die Ämterkäufer) des Priestertums zu entkleiden.100 Gregor sagt ferner: Wenn jemand sich weder durch heilige Sitten auszeichnet, noch vom Klerus oder vom Volk berufen noch durch eine Bitte angetrieben schamlos das Priestertum Christi annimmt und schon mit irgendeiner Sünde befleckt ist, mit falscher Liebe des Herzens oder mit unreinen Bitten des Mundes oder mit der Macht oder durch materiellen Dienst oder mit einem betrügerischen Geschenk (mit dem er den Beschenkten und sich um die Seele betrügt) des Bischofs und des Priesters – nicht vom Gedeih der Seele, sondern von eitler Ruhmgier bestärkt. Und wenn er das Priestertum zu Lebzeiten freiwillig nicht ablegt und der Tod ihn nicht in tiefer Zerknirschung antrifft, ist er ohne Zweifel für ewig verloren.101 Und wieder sagt der heilige Gregor: Zu uns kam die schlechte Kunde, dass einige Bischöfe den Priestern den Zehnten ihres Bistums und der Opfer der Christen nicht geben, sondern sie lieber nichtpriesterlichen Personen (d. i. Laien) geben, d. h. ihren Dienern, oder – was noch schlimmer ist – auch Freunden. Wenn also irgendein Bischof gefunden wird, der dieses göttliche Geheiß übertritt (das durch den heiligen Paulus ausgesprochen wurde, dass nämlich der Bischof die Armen ernähren solle und besonders die Priester, die predigen), dann solle er unter den größten Ketzern und den schlimmsten Widersachern (Christi) nicht unter den Geringsten genannt werden. Und wie das Konzil von Nicäa über die Ämterkäufer entschied, soll der Bischof, der gibt, und sollen die Laien, die von ihm nehmen, sei es durch Abmachung, sei es durch Dienst, dem ewigen Feuer anheimgegeben werden.102 Der heilige Gregor sagt auch: Wie der Bischof die Hand, die er auflegt, nicht verkaufen darf, so darf der Diener oder der Schreiber in der Weihe (zum Priester) weder seine ( des Bischofs) Stimme (mit der er zur Weihe aufruft) noch seine Schrift (die Briefe) verkaufen.103 Wiederum sagt er: Eine Kirche, die mit einem Vertrag (gegen Entgelt) geweiht wird, sollte eher entweiht als geweiht heißen.104 Papst Alexander I. sagt: Solche Händler – nämlich die Ämterkäufer – sollen nicht wie andere Sünder bestraft werden, sondern sie sollen vom Tempel Gottes, d. i. von der heiligen Kirche, weiter (als andere Sünder) verstoßen werden. Denn wie diese Händler, die das heilige HandaufleGregor d. Gr., Homiliae in evangelia lib. I, hom. 17,13 (PL 76,1145). 101 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 115. 102 Decr. Grat. II C. 16 q. 7 c. 3. 103 Decr. Grat. II C. 1 q. 2 c. 4. 104 Decr. Grat. II C. 1 q. 4 c. 11. 100
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gen verkaufen wollen, durch die Taube gekennzeichnet werden, so sind die Kaufleute als Geldwechsler der Kirchenpfründe zu erkennen, die die Gabe Gottes, wie wir in der Schrift lesen, zu einer Höhle des Lasters machen .105 Dies sagt Alexander. Derselbe sagt: Indem ich den heiligen Aposteln und ehrwürdigen Vätern folge, rufe ich aus voller Überzeugung, dass, wer durch Ämterkauf geweiht ist, (sei er Bischof), sei er Priester oder Diakon, des Priestertums unwürdig ist; [...] Des Kaiphas (d. i. des Bischofs, der wie Kaiphas für Geld Bischof geworden ist) Gebot und des Simon Erfindung (d. h. dessen, der wie Simon Geld gab, um zu Macht zu kommen) ist weit vom heiligen Priesterstand entfernt .106 Der heilige Remigius sagt in einer Predigt: Die Priester sollen aufmerksam darauf achten und sich hüten, dass sie das Haus Gottes nicht in eine Stätte des Lasters verwandeln. Ein Schurke ist, wer (materiellen) Gewinn zu ziehen sucht und aus dem Vollzug des Heiligen (d. i. durch Taten, die die Heiligkeit bezeugen) einen Handelsgegenstand macht. Darum sollen sie fürchten, wie jene (die Juden) aus dem materiellen Tempel verjagt wurden, aus dem geistigen Tempel hinausgejagt zu werden. Denn jeden Tag geht der Herr in das Haus seines Vaters, in die heilige Kirche, und jagt die von niedrigem Gewinn Beschmutzten hinaus und rechnet dem Verkäufer und dem Käufer die gleiche Sünde an (er beschuldigt beide der gleichen Sünde, obwohl vielleicht der eine mehr gesündigt hat als der andere). Ämterverkäufer nämlich sind die, welche die heilige Wahrheit (zum Priester und anderen Würden) für Geld hergeben; Ämterkäufer aber sind die, welche für die Gerechtigkeit (d. i. das Amt Gottes) Geld geben und mit dem Geben des Geldes (sich selbst) die Sünde einkaufen. Es sei vermerkt, dass (in der Lesung) gesagt wird: „Die Tische der Geldwechsler und die Tische der Taubenverkäufer warf er um.“ Was nämlich soll unter den Tischen der Geldwechsler verstanden werden, wenn nicht die Altäre, die durch die Habgier der bösen Priester zu Tischen der Geldwechsler werden? Was ist unter den Tischen der Taubenverkäufer anderes zu verstehen als die Meister-(Prälaten-)würde in der (christlichen) Kirche, da sie sich dem (materiellen) Gewinn zuwendet, sich in Nichts verwandelt (sich auslöscht). (Wisse, dass der Tisch der Taubenverkäufer jede Würde bedeutet, in der jemand sich befindet und die Gaben des Heiligen Geistes verkauft. Und so machte der Geiz Judas, obwohl sein Apostolat von Gott ist und daher gut, es zu einem Tisch desAlexander zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 3 c. 9 (PL 146,1389). q. 3 c. 9.
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sen, der die Taube verkaufte. Ebenso ist es mit dem Papsttum, mit der Bischofs- und Priesterwürde und anderen Würden). Und was wird mit der Taube bezeichnet, wenn nicht der Heilige Geist, der sich über dem getauften Herrn (Jesus) in der Gestalt einer Taube zeigte? Und welche sind es, die die Taube verkaufen, wenn nicht die, die den Heiligen Geist (d. i. die Gaben des Heiligen Geistes, wie die Taufe, die Beichte, die Weihe) durch Handauflegen gegen Geld austeilen? Aber der Herr wirft die Tische der Taubenverkäufer um, denn er macht den Preis solcher Priester zunichte. Denn welcher Bischof auch immer die Gabe des Heiligen Geistes verkauft, mag er auch noch so sehr vor dem Angesicht der Leute im Bischofsgewand prangen, ist vor den Augen Gottes seines Priestertums ledig. Deshalb auch verdammen die heiligen Gesetze das Ketzertum der Simonie, und sie befehlen, die des Priestertums zu berauben, die Gewinn suchen, indem sie die Gabe des Geistes verleihen .107 Dies alles schreibt der heilige Remigius, der emsige Ausleger der Heiligen Schrift. Der heilige Ambrosius sagt so: Es finden sich gar viele, die durch Handel die Gabe des Heiligen Geistes kaufen wollen, wenn sie Geld geben, um die Erhöhung des Bischofsamtes anzunehmen, und wenn sie die Worte Petri vergessen, der zu Simon sagte: „Dass du verdammt werdest mit deinem Gelde, dass du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt.“ 108 (Wisse, dass die Priester den Heiligen Geist, der Gott ist, weder geben noch verkaufen können und dass sie auch nicht glauben dürfen, sie könnten den Heiligen Geist oder die Gaben, die sie gegen Geld gewonnen haben, verkaufen.) Da nun solch großes Übel (die Simonie) im Gebrauch ist und dieses von den Größeren (den Heiligen) oft mit dem Schwert (der Vergeltung) abgeschnitten (d. h. verdammt) wurde, legen auch wir an dieses Brandmal – das bestehen bleibt – das Eisen an (d. h. die Vergeltung durch den Bannfluch) und wollen allgemein beschließen, dass jeder, der für irgendeine geistliche Würde ein Geschenk gab und öffentlich angezeigt wurde, von dieser Zeit an wissen soll, dass er durch Bannfluch verstoßen und von der Gemeinschaft des Leibes und des Blutes Christi ausgestoßen ist, denn es ist Christus bekannt, dass der Verdammte eine Sünde beging.109 Wiederum sagt der heilige Ambrosius: Dies aber ist es, was ich beklage, dass der Erzbischof materiell (d. h. aus einem materiellen VerRemigius von Auxerre, Quadragesimale, Ms UK Praha VI E, 1b–2a, und Ms X A 13, 6b–7a. 108 Apg 8,20. 109 Ambrosius zugeschrieben (in Wahrheit aber 8. Konzil von Toledo, can. 3 aus dem Jahre 643), zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 7.
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langen) einen Bischof ernannt hat, denn er setzte gegen Geld einen geistig Aussätzigen (Ämterkäufer) in das Amt ein. Deine Gelder – sagte (Petrus) – seien mit dir verflucht, dass du die Gabe des Heiligen Geistes gekauft und ein wunderbares Geschenk zum Verderb der Seelen umgewandelt hast.110 Dies sagt Ambrosius. Wieder sagt er: Gewiss erscheint er den irdischen Augen als großer Bischof, dem Angesicht Gottes aber erscheint er als großer Aussätziger; gegen Geld erwarb er ein unwürdiges Bischofsamt, und vor Gott verlor er den inneren Menschen; der Leib gewann die Würde, die Seele aber verlor die Tugend. Und wiederum sagt er: Als er zum Bischof geweiht wurde, war, was er gab, Gold; was er verlor, war die Seele. Als er einen anderen weihte, war es Gold, was er nahm; was er gab, war Aussatz (d. i. Simonie). Papst Innozenz schreibt: Wenn irgendjemand eine Pfründe oder eine Propstei oder ein Dekanat oder irgendeine kirchliche Würde oder ein Sakrament wie z. B. das Chrisam oder die heilige Ölung oder die Weihe von Altären und Kirchen durch die verdammungswürdige Gier nach Geld erlangt hat, soll er die unrecht gewonnene Würde verlieren, und der Käufer, der Verkäufer und der Anreger sollen mit dem Makel der Schande getroffen werden. Und weder zum Lebensunterhalt, noch aus irgendeiner Gewohnheit, sowohl vorher (vor der Weihe) als auch nachher (nach der Weihe) soll ihnen gegeben werden, was sie verlangend fordern (ein Priester hat nichts zu verlangen), denn das ist Ämterkauf; aber frei, ohne irgendeine Einschränkung, bediene dich der dir gegebenen Würde und Wohltat .111 Dies sagt Innozenz. Auch in den Dekreten steht geschrieben: Wir bestimmen, dass weder für die Weihe von Kirchen noch für die Weihe von Diakonen etwas genommen werden darf, auch nicht für Balsam (der mit dem Öl geweiht wird), noch für Kerzen, die sie kaufen, sollen die Priester (den Bischöfen) etwas geben, die das Chrisam (vom Bischof) nehmen sollen. Deshalb sollen die Bischöfe aus dem kirchlichen Vermögen den Balsam und die Kerzen kaufen, ein jeder in seiner Kirche.112 Die Synode von Trebur sagt: Es wird gesagt, dass es an einigen Stellen Sitte sei, für das Empfangen von Chrisam Geld zu geben, desgleichen für die Taufe und für das Abendmahl. Diese (Sitten) hat das heilige Konzil als Ketzerei der Simonie verdammt und verflucht und bestimmt, dass danach weder für Chrisam, noch für Balsam, noch für eine BeerdiPs.-Ambrosius, zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 14. 111 Innozenz, zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 3 c. 15. 112 Aus dem Konzil von Cabillon (zur Zeit Karls d. Gr.), zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 106.
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gung, noch für das Abendmahl etwas auf Verlangen genommen werde; das Konzil hat dagegen beschlossen, dass die Gaben Gottes umsonst (also ohne Geld) ausgeteilt werden sollen . Und da die Ämterkäufer sich auf die Gewohnheit berufen und sich so von der Sünde freisprechen wollen, stellte Innozenz trefflich fest, dass durch keinerlei Gewohnheit etwas vorher oder nachher durch Zwang gefordert werden könne, denn das ist Simonie.113 Und wiederum sagt Innozenz: Sie meinen aber, es treffe zu, dass das Gesetz des Todes (die Sünde) durch die alte Gewohnheit würdiger werde; sie glauben dies und bemerken nicht, dass die Sünden umso schwerer werden, je länger sie die unglückliche Seele gefangen halten. Der heilige Augustinus sagt: Vergebens verbreiten einige, die im Verstand besiegt werden, vor uns die Sitte – gleichsam als wäre die Sitte größer als die Wahrheit –, dass in geistlichen Dingen nicht das befolgt werden sollte, was besser ist und was vom Heiligen Geist kundgetan wurde.114 Wiederum sagt er: Wir sollen mehr der Wahrheit als der Sitte folgen, denn Verstand und Wahrheit besiegen die Sitte immer.115 Cyprian, der heilige Märtyrer, sagt: Die Gewohnheit ohne Wahrheit, ist eine alte Verirrung; deshalb lasst uns die Verirrung aufgeben und der Wahrheit folgen .116 Und wieder sagt er: Und wir müssen nicht der Sitte der Menschen folgen, sondern der Wahrheit Gottes.117 Der heilige Ambrosius sagt: Alles Neue, was Christus nicht lehrte, verdammen wir mit Recht, denn für die gläubigen (Christen) ist Christus der Weg.118 Der heilige Gregor sagt: Weil Paulus sagte, „einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ 119, folgt daraus, dass dort, wo Christus nicht der Grund ist, nichts Gutes gebaut werden kann.120 Sankt Isidor sagt: Die Sitte weiche der Autorität; Gesetz und Verstand mögen die böse Sitte überwinden.121 So weit Isidorus. Ausspruch des Gegenpapstes Innozenz (korrigiert aus can. 7 des 3. Laterankonzils von 1179), zit. nach Decr. Greg. IX lib. V tit. 3 De simonia c. 9. 114 Augustinus, De baptismo contra Donatistas lib. I c. 5 (PL 43,157), zit. nach Decr. Grat. I dist. 8 c. 7. 115 A. a. O., c. 6. 116 Cyprian, Epistola 74 ad Pompeium contra epistolam Stephani (PL 3,1134), zit. nach Decr. Grat. I dist. 8 c. 8. 117 A. a. O., c. 9 (PL 4,85). 118 Ambrosius, De virginitate c. 6,28 (PL 16,273). 119 1Kor 3,11. 120 Gregor d. Gr., Epistola ad Anastasium, Antiochenum episcopum, lib. IX ep. 49 (PL 77,982), zit. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 26. 121 Isidor, zit. nach Decr. Grat. I dist. 11 c. 1. 113
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Diese Schrift erwägend, o Priester und Diakone, leget von euch ab den alten Menschen, der durch Lüste in Irrtum sich verdirbt, und ziehet den neuen Menschen an; so sagt der heilige Paulus zu den Ephesern im 4. Kapitel.122 Wenn ihr der Simonie verfallen seid, tut Buße, die ihr aber rein seid von dem tödlichen Aussatz (dem Ämterkauf), hütet euch vor ihm mit Macht, denn eine eklige Fäulnis geht im Priesterstand unter dem weltlichen Volk um und bedrängt den Papst, die Kardinäle und Bischöfe. Darum sollen sie sich hüten, für Geschenke, Dienste und weltliche oder materielle Gunst Pfründen zu vergeben, Diakone, Kirchen, Altäre, kirchliches Gerät und Kelche gegen Geld zu weihen und um des Geldes willen die Hände aufzulegen. Hütet euch, ihr Diakone, Weihe und Pfründen gegen Geschenke und Dienste anzunehmen. Hütet euch, ihr Priester, die ihr die Beichte hört, Sünden vergebt, die Messe feiert, predigt und andere heilige Handlungen vollführt. Hütet euch, ihr Schreiber und bischöflichen Diener, dass ihr nicht seid wie Gehazi. Hütet euch, die ihr in das eigentliche Gesetz eintretet; hütet auch ihr euch, die ihr andere in dieses Gesetz aufnehmet. Hütet euch, alle Priester und Diakone, irgendein geistliches Amt gegen einen zeitlichen Nutzen eintauschen zu wollen. Fordert nicht für die Beerdigung, für das Abendmahl, für die Trauung, für die Ölung, für die Firmung, für die Taufe, für die Dinge, von denen schon deutlich gesprochen und geschrieben wurde in den Gesetzen. Hütet euch, ihr Redner, Schreiber und Herren, vor Ämterkäufern. Hütet euch ihr anderen, dass ihr nicht durch Unterstützung, Aufmunterung oder auf andere Weise durch Duldung dessen teilhaftig werdet. Und wisst, dass die Ämterkäufer die größten Ketzer sind, die auch von den außenstehenden Leuten (d. i. von den Laien, wie die Auslegung dieses Wortes sagt) unterdrückt werden sollen, und dass sie vor Gott verflucht und abgesetzt sind und dass sie unwürdig und (ewig) verdammungswürdig sich selbst dienen und dass sie, wenn sie nicht die Pfründe niederlegen und bereuen, der ewigen Verdammnis anheimfallen werden. Deshalb folgern die Heiligen in den Dekreten: Weil, wie Papst Leo erwiesen hat, die Ämterkäufer nur den Geist der Lüge annehmen, sind nach dem heiligen Gregor die Ämterkäufer des Priestertums nicht würdig, verwandelt sich ihr Segen in Fluch, ist mit ihnen das Geben und Nehmen des Fluches, denn sie sind nicht heilig und nicht im Leib Christi (in der heiligen Kirche) (durch die Liebe) eingesetzt und sie sind verdammt. Sie können weder andere weihen, noch den Leib des Herrn austeilen, noch nehmen, noch andere segnen; nach dem heiligen Ambrosius 122
Eph 4,22 f.
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sind sie mit dem Fluch behaftet und vom Leib und vom Blut Christi ausgeschlossen, denn Gold wird genommen, und Aussatz wird gegeben. Nicht zu reinigen (d. h. schwer zu reinigen) ist nämlich die Schuld des Verkaufs eines geistlichen Dienstes. Gemäß dem Konzil von Chalkedon sind sie dazu verurteilt, dass sie aus einer solchen (erkauften) Weihe keinen Nutzen ziehen. Nach Papst Gelasius fallen sie der Verdammnis anheim. Nach Gregor von Nazianz können sie nicht im heiligen (priesterlichen) Stand verbleiben noch in ihn zurückkehren. Nach dem Propheten Elisa sind sie mit Aussatz besudelt. Nach Petrus (dem Apostel) sind sie zur Verdammnis verurteilt. Und von Christus wurden sie aus dem Tempel gejagt: Was anderes kann der Ämterverkäufer dem Ämterkäufer mit seiner Weihe geben, als das, was Innozenz von manchen Ketzern bezeugt: „Die die Gabe des Heiligen Geistes, die sie annahmen, verloren haben, können seine Fülle nicht geben, die am meisten in der (Priester-) Weihe sich entfaltet, die sie mit ihrem Ketzertum verloren haben?“ Dies alles steht in den Dekreten geschrieben.123 Es sei auch bemerkt, dass gerade die Balaamiter als diejenigen gelten, die aus Gewinnsucht predigen.124 Sie sind nach Balaam benannt, von denen im 4. Buch Mose geschrieben ist125 und im zweiten Brief Petri im II. Kapitel,126 wo es heißt: Sie haben ein Herz, durchtrieben von Geiz, verfluchte Leute; verlassen den richtigen Weg und gehen irre und folgen nach dem Wege Balaams des Sohnes Bosors, welchem beliebte der Lohn der Ungerechtigkeit (das Geld für einen bösen Fluch). Die Gehaziter sind eben die, welche nach dem Geben einer Gabe Geschenke begehrend nehmen, wie Gehazi, von dem im 4. Buch der Könige im 5. Kapitel geschrieben ist.127 Von diesen sagt Petrus Damiani dies: Es gibt manche, die weder vorher, ehe sie den Dienst der (Priester-)Weihe vollziehen, noch vor dem Vollzug einer Entscheidung (d. h. weder vor der Weihe einer Sache wie eines Diakons, einer Kirche oder eines Altars, noch, ehe sie eine Entscheidung treffen) irgendeinen Vertrag schlossen; nachher aber fordern sie begehrend wie von Schuldnern, und sie sind besonders eifrig im Eintreiben der Gaben: Die Gehaziter entgehen der Sünde nicht, die Gehazi beging, als Naaman (vom Aussatz) geheilt ward und er schon (nach Hause) zurückgekehrt war, und jener für die Gabe des Heiligen Geistes (die Heilung) Geld zu verlangen wagte. Und wie er (Gehazi) von keiner geringeren Strafe als vom Aussatz heimgesucht wurde, der die Menschen von den Städten verbannte (damit in Decr. Grat. II C. 1 q. 1, die Worte Gratians zum 16.–17. Kapitel. 124 Innozenz papa (ep. 24 ad Alexandrum episcopum Antiochenum, c. 3 (PL 20,550). 125 Num 22,22 f. 126 2Petr 2,14–15. 127 2Kön 5,20–27. 123
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ihnen keine Aussätzigen wohnten): So wird dieser (Ämterkäufer) von keiner leichten, sondern von dieser Fäulnis der Sünde besudelt, die von den Sakramenten der heiligen Kirche verbannt (vom Leib des Herrn, von der Teilhabe der geistlichen Gnade). So schreibt Petrus Damiani.128 Scariotiter oder Juditer heißen die, welche eine Gabe Gottes verkaufen, indem sie andeutend oder offen sagen: „Was wollt ihr mir geben, und ich werde euch weihen, die Messe halten, Macht geben, die Firmung spenden, werde predigen oder die Sakramente spenden (Taufe, Beichte)?“ Darum steht geschrieben, dass die Verkäufer (geistlicher Ämter) den Heiligen Geist wie ihren Sklaven verkaufen und gewiss dem Verräter Judas, der Christus den Juden verkauft hat, ähnlich sind.129 Simoniter (d. h. Simons Söhne) heißen ausdrücklich die, welche für die geistliche Macht oder für die Gabe des Heiligen Geistes einen materiellen Vorteil wie Geld, eine Gabe oder einen Dienst geben wollen oder gegen das Gesetz geben, wie ihr Vater, der Zauberer Simon den Aposteln Geld gab. In der Apostelgeschichte im 8. Kapitel nämlich sagt der heilige Lukas: Da aber Simon sah, dass der Heilige Geist gegeben ward, wenn die Apostel die Hände auflegten (Gott gab, nicht die Apostel, sagt der heilige Augustinus), bot er ihnen Geld an und sprach: „Gebt mir auch die Macht, dass, so ich jemand die Hände auflege, der den Heiligen Geist empfange.“ 130 Siehe, so unterscheiden sich die Balaamiter, die Gehaziter, die Scariotiter oder Juditer und die Simoniter. Gemeinsam aber heißen sie alle Simoniter nach Simon, dem letzten (in der Schrift belegten) und offenkundigen Käufer der Kraft des Heiligen Geistes. Deshalb sagt der Magister Sententiarum: Obwohl Simoniter eigentlich und besonders diejenigen heißen, die wie der Zauberer Simon eine unveräußerliche Gnade (die gegen Geld nicht gekauft werden kann) gegen Geld kaufen wollen, und die für einen heiligen Dienst Geld nehmen, nach Gehazi Gehaziter heißen, so heißen doch sowohl die, welche geben, als auch die, welche nehmen, gemeinsam Simoniter, und sie werden beide vom gleichen Gericht abgeurteilt. So sagt der Magister.131 Diese Worte sind dafür geschrieben worden, dass die Priester und Diakone, die Gott vom Ketzertum der Simonie bewahrt hat, sich mit Eifer vor ihm schützen sollen; wen aber der Teufel mit diesem Ketzertum beschmutzt hat, der soll sein Gewissen erforschen und Buße tun; so können beide dem ewigen Verderben entgehen. Petrus Damiani, Contra philargyriam et munerum cupiditatem, c. 5 (PL 145,5 35– 536). 129 Nach Mt 26,15. 130 Apg 8,18–19. 131 Magister Sententiarum (= Petrus Lombardus), Sentent. lib. IV dist. 25 c. 4 (PL 192,907).
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So steht es in Bethlehem lateinisch zu lesen von der Verirrung, die tschechisch gut „svatokupectvie“ („Kauf des Heiligen“) heißt, wie ich zu Beginn dieses Kapitels dargelegt habe. Ich habe mein Werk am Mittwoch nach der Heiligen Dreifaltigkeit in der Bethlehemskapelle abgeschlossen. Und die Prager Priester mit dem Erzbischof, die wussten, 5 dass ich hier bin, und andere, die mich sahen, hörten nicht auf den Gottesdienst, wie der Papst es ihnen gebot, über den ich sie belehrt habe. Und da sie solcherart ungehorsam sind und den Gottesdienst nach ihrer Erfindung abhalten, sind sie verflucht und des Priestertums 10 ledig. Amen.
26 HUS AN SEINE PRAGER ANHÄNGER [Juli 1413]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 177–179 (Nr. 69).
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Einleitung Nr. 26
Im Juni 1413 hatte Hus nochmals kurzzeitig Prag besucht, sich aber wegen des verhängten Interdikts bald wieder auf das Land zurückgezogen. Er wandte sich nach Südböhmen und fand hier auf der Burg Kozí Hrádek (= Ziegenburg) der niederadeligen Brüder Johann und Ctibor von Kozí Zuflucht. Auch im Exil blieb Hus dabei mit seinen Prager Anhängern verbunden. In seinem Schreiben aus dem Juli 1413, das ein gutes Beispiel eines biblisch argumentierenden Mahn- und Trostschreibens darstellt, wie es Hus wiederholt an seine Gefolgsleute verschickte, klingt zugleich ein neuer Ton an. Hus sehnt sich nicht wie zuvor allein danach, auf die Kanzel in der Prager Bethlehemskapelle zurückzukehren, sondern bittet erstmals seine Anhänger darum, für seinen Erfolg als Prediger auch unter der Landbevölkerung zu beten.
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Hus an seine Prager Anhänger
Magister Johannes Hus, ein Diener Jesu Christi, wünscht allen, die in Prag leben, Gnade und Frieden von Jesus Christus. Von ganzem Herzen, teuerste Brüder, wünsche ich Euch zutiefst, dass
5 Ihr durch Jesus Christus frei werdet von allen Sünden, das Fleisch, die
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Welt und den Teufel bezwingt durch Verachtung der Eitelkeiten dieser Welt, damit Ihr durch die Gnade Jesu Christi alle Dinge um des Heils willen sanftmütig erduldet und in Bedrängnissen bis ans Ende aushalten könnt. Das erbitte ich für Euch, teuerste Brüder, die ich ständig in meinen Gebeten erwähne. Denn darum habe ich mehr als zwölf Jahre unter Euch – Gott ist mein Zeuge! – im Wort Gottes gearbeitet, und darin lag mein höchster Trost, weil ich um Eure Sorgfalt beim Hören des Gotteswortes wusste und die wahre und echte Buße bei vielen erlebte. Darum, teuerste Brüder, beschwöre ich Euch beim Leiden Christi, dass Ihr sein Evangelium bewahrt und daran festhaltet und in all dem, was ich seinerzeit aufzählte, Fortschritte macht und Frucht bringt. Also wankt und strauchelt ja nicht im Geist und beachtet nicht jene, die den unsicheren Weg betreten, sich anderswohin gewendet haben und schon zu grimmigen Feinden Gottes und unseres Werks geworden sind. Ihr freilich, teuerste Brüder, wisst, dass die Jünger Christi, die ihm anhingen, abtrünnig wurden und nicht mehr mit ihm weitergehen wollten. Christus ist gerade deshalb gekommen, um Menschen voneinander zu trennen, wie er selbst sagt: Ich bin gekommen, um den Sohn vom Vater und die Tochter von der Mutter zu trennen.1 Und weiter: Um meines Namens willen werdet ihr [von] allen Menschen verraten werden.2 Und damit uns deren Verrat nicht erschüttert noch Verfolgung oder Tod uns einschüchtern, fügt der Erlöser gleich noch hinzu: Kein Haar von eurem Kopf soll verlorengehen, denn durch Leiden werdet ihr eure Seelen erhalten.3 Wenn also nicht einmal ein Haar verlorengeht,4 wie sollen dann die Gläubigen verlorengehen? Darum, teuerste Brüder, eifert danach, den wahren Glauben, die sichere Hoffnung zu bewahren, steht fest in der Liebe zum Wort Gottes und hängt ihm mit größter Sehnsucht an. Hört auf die, die euch der Erlöser sendet, um sein Evangelium ohne Furcht zu predigen, im festen Widerstand gegenüber reißenden Wölfen und falschen Propheten. Von ihnen sagt Christus seinen Gläubigen: Viele falsche Propheten werden kommen und viele Menschen verführen.5 Vor ihnen sich zu hüten,
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Mt 10,15.
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Vgl. Lk 21,16 f.
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Lk 21,18 f.
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Vgl. Apg 27,34.
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Mt 24,11.
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Johannes Hus an seine Prager Anhängr
mahnt Christus die Gläubigen, und lehrt, woran sie zu erkennen sind, nämlich an ihren Früchten :6 Hochmut, Unzucht, Habgier, Simonie, Verachtung von Gottes Wort und Verfolgung der Gläubigen, Verleumdung, Ehrsucht, Eifer für menschliche Traditionen usw. Denn solche tragen den Schafspelz, die sich mit Namen und Amt eines christlichen Menschen bekleiden und so, da sie inwendig gierige Wölfe 7 sind, die Schafe Christi zerfleischen und zerreißen. Von solchen Wölfen hat Christus zu seinen Jüngern gesagt: Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe. Seid also klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben .8 Dass sie klug sein sollen, sagt er deshalb, damit sie, den Schlangen gleich, sich nicht hinters Licht führen lassen und in sich das Haupt Christi erschlagen; einfältig wie die Tauben, um die Grausamkeit der Wölfe leidensbereit zu ertragen. Da seht Ihr wohl, teuerste Brüder, wir haben also einen einleuchtenden Hinweis auf die Wölfe und dazu noch die Lehre, nicht zuzulassen, durch sie abgebracht zu werden vom Wege Christi, auf dem wir danach streben, zur himmlischen Freude zu gelangen. Bewahrt und hütet Glauben, Hoffnung, Liebe, Niedrigkeit, Sanftmut, Gerechtigkeit, Bescheidenheit, Besonnenheit, Nüchternheit, Geduld und andere Tugenden, schmückt Euer Leben mit guten Sitten und Werken. Freut Euch daran, Verfolgung zu erleiden. Denn Christus sagt: Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden .9 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen ,10 sie werden Euch ausstoßen und vertreiben, Euch um des Wortes Gottes willen zu Ketzern erklären. Freut euch an jenem Tag, weil euer Lohn im Himmel groß sein wird.11 Wer also festhält an Glauben, Hoffnung und Liebe, wird der nicht wegen seines Erlösers so viel Schimpf und Schande erleiden, weil er sicher ist, das Hundertfache im ewigen Leben zu empfangen? In Erwartung dessen vergesst nicht, was Christus gesagt hat: Denn es wird eine Bedrückung geben, wie sie nicht gewesen ist von Anbeginn der Welt noch zukünftig sein wird.12 Warum das? Den Grund nennt der Apostel selbst: Kommen wird eine Zeit, da werden die Menschen die heilsame Lehre nicht annehmen, sondern sich um ihrer Sehnsüchte willen haufenweise mit Lehrern umgeben, die ihnen die Ohren kitzeln; von der Wahrheit aber werden sie das Gehör abwenden und Fabeln anhängen.13 Diese Prophezeiung des heiligen Paulus seht Ihr bereits mit eigenen Augen sich erfüllen. Denn an anderer Stelle sagt er: All jene, die in Christus ein rechtschaffenes Leben führen wollen, werden Verfolgung 6
Mt 7,16. 7 Mt 7,15. 2Tim 4,3 f.
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Mt 10,16.
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Mt 5,4.
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Mt 5,11.
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Mt 5,12.
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Mt 24,21.
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erleiden. Die Gottlosen aber und die Verführer zum Bösen kommen bestens voran.14 Darum, teuerste Brüder, wie der heilige Petrus mahnt, seid ja auf der Hut, dass ihr nicht mit den anderen, verführt durch den Irrtum der 5 Gottlosen , aus Eurer eigenen Festigkeit fallt, sondern wachst in der Gnade Gottes und der Erkenntnis Jesu Christi.15 Bittet Gott für mich, er möge mir gutes Gelingen beim Predigen seines Wortes gewähren: an allen Orten, wo es die Notwendigkeit erfordert, in großen und kleinen Städten, in Dörfern, auf Burgen, in Wald und Flur, wo immer ich nütz10 lich sein kann, damit das Wort Gottes in mir nicht unterdrückt wird. Grüßt einander und tröstet Euch gegenseitig in der Gnade Gottes, des Vaters, seines hochgeliebten Sohnes und des Heiligen Geistes, der Euch vor Sünden schützen und in ewiger Freude wohnen lassen kann. Ihm sei Lob und Ehre in Ewigkeit. Amen.
14
Vgl. 2Tim 3,12 f.
15
2Petr 3,17.
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Abb. 14: Erstausgabe von Hussens 1413 verfasstem Hauptwerk „De ecclesia“. Paulus Constantius (Paul Phrygio; Hrsg.): De causa Boemica, Hagenau 1520 (Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. 4073, Titelblatt).
27 ÜBER DIE KIRCHE [1413]
Übersetzungsgrundlage: Thomson, De Ecclesia; deutsche Teilübersetzungen: Kalivoda/Kolesnyk, 155–230 (Kapitel II, III, XI, XVII–XXI, XXIII); Carsten Heß, Die Kirchenkritik des Johannes Hus in seinem Werk „De Ecclesia“, Bochum 2011 (BA, unveröffentlicht) mit Übersetzungen der Kapitel IV, VI und XIV. Englisch: Schaff, De Ecclesia.
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Einleitung Nr. 27
Der Traktat „Über die Kirche“ (De ecclesia ) gilt zu Recht als Hussens Hauptwerk, da er eine komprimierte Darstellung der Ansichten bietet, die er seit seinem ersten öffentlichen Auftreten über die Kirche entwickelt hatte. Nach Wyclifs gleichnamiger Abhandlung, von der Hus inspiriert war und die er mitsamt anderer Wyclif-Schriften in vielen Passagen wörtlich, aber insgesamt eklektisch exzerpierte und eigenständig verarbeitete, war es in der mittelalterlichen Theologiegeschichte die zweite monographische Behandlung der Ekklesiologie. Hus hat die ersten zehn Kapitel noch in Prag konzipiert, bevor er nach seiner Exkommunikation die Stadt verließ. Er vollendete die Schrift im Mai 1413 auf der „Ziegenburg“ (vgl. die Einleitung zu Nr. 25). Hier entfaltete Hus – wie Luther ein Jahrhundert später auf der Wartburg – eine rege schriftstellerische Tätigkeit, und neben der Bibelübersetzung ins Tschechische sowie bedeutenden tschechischen Schriften war es sein Hauptwerk über die Kirche, das er hier zum Abschluss brachte. In seiner Methode ist das Buch ganz und gar ein Werk der Scholastik. Es werden Thesen aufgestellt, mit „Autoritäten“, das heißt Zitaten aus Bibel, Kirchenvätern und Kirchenrecht, untermauert, Einwände vorgebracht, die ebenfalls mit Autoritäten gestützt werden, um dann die Widersprüche mit Hilfe der (aristotelischen) Philosophie aufzulösen. Die Schrift erörtert in den ersten zehn Kapiteln die Definition der Kirche, ihre Gliederung, ihre Einheit, ihr Haupt usw. Ab Kapitel 11 setzt sie sich mit dem Gutachten der Prager theologischen Fakultät auseinander, das acht Doktoren gegen seine Lehrmeinungen verfasst hatten. In immer neuen Variationen erörtert Hus die Frage nach Norm und Autorität in der Kirche und sucht die verhängten Strafmaßnahmen (Exkommunikation, Amtsenthebung, Interdikt) als illegitim zu erweisen. Der Schlüssel zu Hussens Ekklesiologie ist die Prädestinationslehre. Kirche wird im Anschluss an Augustinus und Wyclif definiert als die Gesamtheit der von Gott Vorherbestimmten aller Zeiten unter dem einen Haupt Christus. Die Aussagen der Bibel (zum Beispiel Kirche als Leib Christi) und die traditionellen Attribute der Kirche (eine, heilige, katholische, universale, apostolische, römische; kämpfende, schlafende, triumphierende etc.) werden strikt prädestinatianisch interpretiert, das heißt sie beziehen sich nur auf die Vorherbestimmten. Die vorfindliche „Kirche“ (Kirche im Sprachgebrauch des Volkes) kann nur im uneigentlichen Sinn so heißen; dieser Sprachgebrauch beruht aber auf barem Irrtum. Im strengen, eigentlichen Sinn kann Kirche nur die Bezeichnung für die vorherbestimmten Erwählten sein. Da die Kirche seit Anfang der Welt und bis zum Jüngsten Tag unvermischt existiert,
Einleitung Nr. 27
sind die nichtprädestinierten Vorhergewussten (praesciti) bzw. Verworfenen (reprobati) nicht Glieder der wahren Kirche. Sie sind allenfalls in der (äußeren) Kirche, aber nicht von der (wahren) Kirche (in ecclesia, aber nicht de ecclesia). Zwar lässt sich mit Sicherheit nicht erkennen, wer zu den Erwählten gehört, doch bietet das Verharren in einem Lebenswandel nach den göttlichen Geboten oder aber ein dauerhaft und offenbares sündiges Leben gewisse Anhaltspunkte. Hus lehnt zwar die hierarchisch verfasste Kirche nicht ab, doch werden Autorität und Vollmachten ihrer Amtsträger durch das Kriterium des Lebenswandels relativiert. Gegenüber einem offenkundig sündigenden Höhergestellten – sei es ein Priester, ein Bischof oder der Papst – erlischt die Gehorsamspflicht der Untergebenen. Im Prozess gegen Hus auf dem Konzil in Konstanz spielte der Traktat eine Schlüsselrolle; die meisten der verurteilten Artikel wurden dieser Schrift entnommen. Ihre Brisanz lag weniger darin, dass Hus hier – wie auch in anderen Schriften – hart mit dem moralisch verderbten Klerus ins Gericht ging; vielmehr war es Hussens Kirchenverständnis selbst, das die kirchliche Hierarchie und das kirchliche Handeln der Amtsträger unter den Vorbehalt der Prädestination stellte und dafür das moralische Verhalten zu einem gewissen Indikator machte. Kardinal Pierre d’Ailly erklärte auf dem Konzil, dass Hussens Traktat durch die unendliche Zahl von Argumenten die Autorität und die Gewaltenfülle des Papstes ebenso bekämpfe wie der Koran den christlichen Glauben. Erstmals ist die Schrift 1520 im elsässischen Hagenau gedruckt worden. Als Luther sie von Hussiten aus Böhmen erhielt, schrieb er nach der Lektüre an Spalatin, dass ihm zwar nicht alles gefalle, er aber Hussens Geist und Bildung bewundere. Gegen Eck schrieb er im Oktober 1520 sogar, auf der Leipziger Disputation habe er leider Hus noch nicht gelesen gehabt, sonst hätte er damals nicht nur „etliche“, sondern alle in Konstanz verdammten Artikel für recht gehalten, wie er sie auch noch jetzt halte, nachdem er „des hochverstendigenn Hus edleß, Christlichs buchlin gelesen habe, des gleychen in vier hundert jaren nit ist geschrieben“. Die Neuübersetzung erfolgt unter Verwendung der vorhandenen deutschen und englischen Teil- und Vollübersetzungen. Zum besseren Verständnis des Textes wurden für einige Begriffe feste deutsche Äquivalente festgelegt: ecclesia particularis – Teilkirche; ecclesia universalis – allgemeine Kirche; praedestinatio – die Erwählung; praedestinat(us/i) – der/die Erwählt(e/n); praescit(us/i) – der/die vorhergewusst Verworfen(e/n); reprob(us/i) – der/die Verworfen(e/n).
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Die oft langen Verweise von Hus auf seine Quellen sind durchgängig aus dem Text herausgenommen und in die Fußnoten verlagert worden. Auf Nachweise aus Wyclifs Werken wurde fast ganz verzichtet.
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Kapitel 1 Jeder irdische Pilger muss treu die heilige katholische Kirche glauben, so wie er den Herrn Jesus Christus, den Bräutigam jener Kirche, lieben muss, und auch die Kirche selbst, seine Braut. Aber weil er sie, seine geistliche Mutter, nicht liebt, es sei denn, er erkennt sie durch den Glauben, muss er sie durch den Glauben erkennen und sie dadurch als seine eigentliche Mutter ehren. Um also genaues Wissen von ihr zu erlangen, gilt es zu beachten, dass „Kirche“ erstens „Gotteshaus“ bedeutet: ein Haus, gebaut zu dem Zweck, dass in ihm das Volk seinen Gott verehrt, wie geschrieben steht: Habt ihr nicht Häuser, in denen ihr essen und trinken könnt? Oder schätzt ihr die Kirche Gottes – sie heißt hier nach Augustinus Haus des Gebets1 – gering? 2 Zweitens bedeutet „Kirche“ die Diener, die zu jenem Haus gehören. In diesem Sinn nennen sich die Geistlichen, die zu einem Kirchengebäude gehören, „Kirche“. Weil aber „Kirche“ nach griechischem Verständnis die „Volksversammlung“ meint, die durch einheitliche Herrschaft zusammengehalten wird – Aristoteles sagt: Alle nehmen an der Volksversammlung teil 3 –, nennt man also nach dieser Bedeutung eine Versammlung aller Menschen „Kirche“. Dies geschieht gemäß dem Wort bei Matthäus, wo es heißt: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommen wird und alle seine Engel mit ihm, dann wird er auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen und vor ihm werden alle Völker versammelt werden. Siehe, welch große Versammlung aller Menschen unter der Herrschaft des Königs Christus! Weil aber nicht jene ganze Versammlung die heilige Kirche ist, wird hinzugefügt: und er wird sie voneinander trennen, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.4 Daraus wird deutlich, dass es eine Versammlung der Schafe und eine andere der Böcke gibt: eine Kirche der Heiligen und eine andere der Verworfenen. Ebenso ist die Kirche der Gerechten zum einen katholische, das heißt, allgemeine Kirche – sie ist nicht Teil einer anderen und von ihr ist jetzt zu handeln; zum anderen ist sie Teilkirche, das heißt Teil einer anderen, gemäß dem Wort des Erlösers: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.5 Daraus folgt, dass jeweils schon zwei im Namen Christi versammelte Gerechte mit Christus als Haupt eine heilige Teilkirche sind; ebenso jeweils nur drei oder jeweils nur vier usw. bis hin zur Gesamtzahl der Erwählten. So wird der Begriff „Kirche“ oft in der Heiligen Schrift verAugustinus, Quaestiones in Heptateuchum lib. 3: Quaestiones in Leviticum c. 57 (PL 34,704). 2 1Kor 11,22. 3 Aristoteles, Politica lib. 2 c. 9 (1272a10). 4 Mt 25,31 f. 5 Mt 18,20. 1
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wendet, etwa, wenn der Apostel Paulus sagt: An die Kirche in Korinth, an die Geheiligten in Christus Jesus.6 Ebenso sagt er in der Apostelgeschichte: Gebt Acht auf euch und auf die ganze Herde, in welcher euch der Heilige Geist zu Bischöfen gesetzt hat, um die Kirche Gottes zu regieren, die er durch sein Blut erworben hat.7 Und so sind alle Gerechten, die jetzt unter der Herrschaft Christi im Erzbistum Prag leben, und insbesondere die Erwählten, die heilige Kirche von Prag. Das gleiche Prinzip gilt auch für die anderen einzelnen Gemeinden der Heiligen, von denen Sirach spricht: In den Gemeinden des Höchsten hat die Weisheit ihren Mund geöffnet, und weiter: die ganze Gemeinde der Heiligen wird die Wohltaten des Tüchtigen preisen.8 Aber die heilige katholische, das heißt die allgemeine Kirche, ist die Gesamtheit aller Erwählten, welche alle Erwählten in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in sich begreift. Diese Definition folgt aus dem seligen Augustinus, der zeigt, wie es ein und dieselbe Kirche der Erwählten ist, die von Anfang der Welt bis zu den Aposteln voranschritt und von da an bis zum Tag des Gerichts. Denn er sagt: Die Kirche, die Abel, Henoch, Noah und Abraham hervorgebracht hat, hat auch Moses hervorgebracht und zu einem späteren Zeitpunkt die Propheten vor der Ankunft des Herrn. Und sie, die diese hervorgebracht hat, hat auch die Apostel und unsere Märtyrer hervorgebracht und alle guten Christen. So hat sie alle, die geboren wurden und in verschiedenen Perioden lebten, hervorgebracht, aber sie wurden zusammengefasst in der Gesellschaft eines Volkes. Als Bürger derselben Stadt haben sie die Mühen dieser Pilgerschaft erlebt. Einige erleben sie jetzt; die übrigen werden sie erleben, bis zum Weltende. Wie gut dieser heilige Mann zeigt, was die heilige katholische Kirche ist! – und spricht an gleicher Stelle und in einer ähnlichen Weise von der Kirche der Bösewichter. Diese, sagt er, brachte Kain, Ham, Ismael und Esau, auch Dathan und andere ihresgleichen in diesem Volk hervor. Und sie, die diese hervorgebracht hat, brachte auch Judas, falsche Apostel, Simon Magus und die übrigen falschen Christen hervor bis in diese Tage – alle halsstarrig verhärtet in tierischer Lust, ob sie nun der Einheit untergemischt sind oder durch offensichtliche Trennung abweichen.9 So weit Augustinus. Diese Aussage bedeutet, dass die heilige allgemeine Kirche eine einzige ist. Sie umfasst die Gesamtheit der Erwählten10 und schließt alle gerechten Menschen ein, angefangen vom ersten bis hin zum letzten, 1Kor 1,2. 7 Apg 20,28. 8 Sir 24,2; 31,11. 9 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 11, nach Decr. Grat. II C. 32 q. 4 c. 2: Recurrat (Friedberg 1,1126). 10 Artikel 1 der in Konstanz verurteilten Irrtümer. 6
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der in der Zukunft gerettet wird. Sie umfasst alle, die gerettet werden sollen und enthält ihre gesamte Anzahl. Über diese Anzahl, die voll gemacht werden muss, besaßen die getöteten Heiligen unter dem Altar die göttlichen Weissagung, dass sie noch eine geringe Zeit ausharren sollten, bis die Zahl ihrer Mitknechte und Brüder aufgefüllt sein würde.11 Denn der allwissende Gott, der allen Dingen ihr Gewicht, Maß und Zahl gegeben hat ,12 hat vorbestimmt, wie viele Menschen letztendlich gerettet werden sollen. Daher ist jene allgemeine Kirche auch die Braut Christi, von der das Hohelied durchgängig spricht und über die Jesaja sagt: Wie ein Bräutigam mit einer Krone geschmückt und wie eine Braut mit Juwelen geziert.13 Sie ist die einzigartige Taube, von der Christus sagt: Eine ist meine Taube, meine Vollkommene.14 Sie ist auch die starke Frau, deren Gesinde mit doppelten Kleidern versehen ist.15 Sie ist die Königin, von der der Psalmist sagt: Die Königin steht zu deiner Rechten in Gewändern aus Gold.16 Sie ist Jerusalem, unsere Mutter, der Tempel des Herrn, das Himmelreich und die Stadt des großen Königs. Sie muss, wie Augustinus sagt, als ganze verstanden werden: Nicht nur als der Teil, der vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang wandelt, den Namen des Herrn preist und nach der Gefangenschaft der alten Zeit ein neues Lied singt. Sondern sie muss auch als der Teil verstanden werden, der immer im Himmel ist, aus dem sie hervorging, als der Teil, der Gott anhängt und nie das Übel des eigenen Falles erfahren hat. Dieser Teil dauert in den heiligen Engeln selig fort und hilft, wie es sich geziemt, ihrem Teil, der auf Erden wandelt. Denn was in der Ewigkeit eine Gemeinschaft bilden wird, ist auch jetzt eins durch das Band der Liebe und als ganze eingerichtet, um Gott zu verehren. Daher will weder das Ganze der Kirche noch ein Teil von ihr anstelle Gottes verehrt werden.17 So weit Augustinus. Das ist die heilige katholische Kirche, die die Christen unmittelbar nach dem Glauben an den Heiligen Geist aus drei Gründen bekennen:18 Erstens ist sie, wie Augustinus sagt, das höchste Geschöpf . Deshalb folgt sie unmittelbar nach der unerschaffenen Dreieinigkeit. Zweitens ist sie durch die Liebe des Heiligen Geistes mit Christus in beständiger Ehe verbunden. Und drittens: Der Deieinigkeit auf dem ersten Platz kommt es zu, auch einen Tempel zu haben, in dem sie wohnen kann. Daher kommt Augustinus bei obiger Stelle zu dem Offb 6,11. 12 SapSal 11,21. 13 Jes 61,10. 14 Hhld 6 (Vg. 8),9. 15 Spr 31,21. 16 Ps 45,10. Augustinus, De fide, spe et claritate (Enchiridion ad Laurentium) c. 41 (PL 40,258 f.). 18 Nämlich im Glaubensbekenntnis mit den Worten: „[…] Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche […]“. 11
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Schluss: Gott wohnt also in seinem Tempel – nicht nur der Heilige Geist, sondern auch der Vater und der Sohn. Der sagte auch von seinem Körper, kraft dessen er das Haupt der Kirche Gottes wurde, die unter den Menschen ist, „damit er in allen Dingen den Vorrang hat“: „Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen.“ 19 Aus diesen Worten des Augustinus leiten wir ab: Erstens: Es gibt die eine allgemeine Kirche von Anfang der Welt bis ans Ende und die lobt Gott. Zweitens: die heiligen Engel sind Teil der heiligen katholischen Kirche. Drittens: der Teil jener Kirche, der noch auf dem Weg ist oder kämpft, wird von der triumphierenden Kirche unterstützt. Viertens: die triumphierende Kirche und die kämpfende Kirche sind durch das Band der Liebe vereint. Fünftens: die ganze Kirche und jeder Teil von ihr muss Gott anbeten und weder sie selbst noch ein Teil von ihr will an Gottes statt angebetet werden. Hieraus ist folgerichtig zu schließen, dass die Gläubigen nicht an die Kirche glauben müssen, weil sie nicht Gott ist, sondern das Haus Gottes. So führt es Augustinus in der Erklärung des Bekenntnisses aus.20 Aber sie müssen glauben, dass die heilige katholische Kirche die Braut des Herrn Jesus Christus ist; ich sage: eine Braut, die keusch und unverdorben ist und endlich unfähig, die Ehe zu brechen. Denn der selige Bischof und glorreiche Märtyrer Cyprian sagt: Es ist eine Kirche, die durch zunehmende Fruchtbarkeit weiter zu einer große Menge ausgebreitet wird. Und er schreibt weiter: Doch ist es ein Haupt und ein Ursprung und eine Mutter, reich an Fruchtbarkeit. Die Braut Christi kann die Ehe nicht brechen, ist unverdorben und keusch. Sie kennt nur ein Haus; sie behütet mit unbefleckter Keuschheit die Heiligkeit des einzigen Schlafgemachs.21 So weit Cyprian. Jene heilige Kirche ist auch der Weinberg des Hausvaters, von dem Gregor sagt: Unser Schöpfer hat einen Weinberg, nämlich die allgemeine Kirche, die vom gerechten Abel an bis zum letzten Erwählten, der am Ende der Welt geboren sein wird, sozusagen ebenso viele Weinreben austrieb wie viele Heilige sie hervorgebracht hat.22 Über sie spricht auch der heilige Remigius bei der folgenden Bibelstelle: Die Nineviten werden beim Jüngsten Gericht aufstehen mit diesem Geschlecht und es verdammen , und sagt: Die heilige Kirche ist aus zwei Teilen zusammengesetzt: Der eine Teil hat nicht gesündigt, der andere hat aufgehört zu sündigen.23 So weit Remigius. Über dieselbe Kirche sagt auch der selige Joh 2,19–21. 20 Augustinus, Sermo de symbolo ad catechumenos (PL 40,1196). Cyprianus, nach Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 18: Loquitur (Friedberg 1,972). 22 Gregor d. Gr., Homilia in Ezechielem 19 (PL 76,1154). 23 Remigius von Reims: Homilia 40 zu Mt 12,41. 19 21
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Isidor: Die heilige Kirche wird also „katholisch“ genannt, weil sie allgemein über die ganze Welt ausgebreitet ist.24 In ihrem Hymnus Te deum laudamus sagen auch Augustinus und Ambrosius über sie: Über den ganzen Erdkreis hin bekennt dich die heilige Kirche . Über sie sagt Ambrosius einmal allein: Welches Haus ist seit dem Anfang der apostolischen Predigt würdiger als die heilige Kirche? Und wer scheint unter allen mehr vorzuziehen zu sein als Christus, der seinen Gastfreunden die Füße zu waschen pflegte, und wen auch immer er in sein Haus aufnahm, nicht mit sündigen Spuren dort zu wohnen duldete,25 das heißt mit den Werken? So weit Ambrosius. Über diese Kirche sagt auch der selige Augustinus – und Papst Pelagius beruft sich darauf: Zwei Kirchen kann es nicht geben, und weiter unten: Es steht fest, dass, wie man oft gesagt hat, die eine Kirche der Leib Christi ist und nicht in zwei oder viele Kirchen geteilt werden kann.26 Über sie sagt auch Hieronymus: Die Kirche Christi hat weder Makel noch Runzel oder dergleichen. Wer also ein Sünder ist oder durch irgendein Verbrechen mit Makel behaftet, kann nicht benannt werden als ein Glied der Kirche Christi.27 Auch ist die-selbe allgemeine, heilige Kirche nach Paulus der geheimnisvolle Leib Christi. Er schreibt: Denselben hat er gegeben als ein Haupt über die ganze Kirche, die sein Leib ist,28 sowie: derselbe ist das Haupt des Leibes, der Kirche, und: für seinen Leib, der die Kirche ist ,29 sowie: Christus, der das Haupt der Kirche ist, ist der Erlöser seines Leibes, und danach: Christus hat die Kirche geliebt und – um sie zu heiligen – sich selbst für sie gegeben und reinigte sie in einem Bad lebendigen Wassers im Wort, um sich eine ruhmvolle Kirche zu bereiten, die weder Makel noch Runzel oder irgendetwas dergleichen hat, sondern heilig und ohne Makel ist.30 Auf diesen Text stützen sich die heiligen Lehrer. So sagt Augustinus: Christus ist das Haupt der Kirche, und sie ist mit ihm in unaufhörlicher Ehre sein zukünftiger Körper im Himmelreich.31 Gregor sagt: Denn Christus und die Kirche sind Haupt und Körper in einer Person.32 Und: Die Kirche ist ihrem Wesen nach eins mit ihrem Haupt Christus.33 Und Bernhard sagt: Die Kirche als Leib Christi ist Gott teurer als der Leib Christi, den er dem Tod übergab .34 Und Paschasius sagt: So wie es in der Heiligen Schrift Isidor von Sevilla, De summo bono lib. 1 c. 16: De ecclesia et haeresibus (PL 83,572). Ambrosius, nach Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 26 (Friedberg 1,976). 26 Papst Pelagius I. mit Augustinus, nach Decr. Grat. ebd. c. 34: Schisma (Friedberg 1,980). 27 Hieronymus, nach Decr. Grat. III: De poenitentia dist. 1 c. 70: Ecclesia (Friedberg 1,1179). 28 Eph 1,22 f. 29 Kol 1,18. 24. 30 Eph 5,23. 25–27. 31 Augustinus, De doctrina Christiana lib. 3 c. 37. 55.131 (PL 34,88). 32 Gregor d. Gr., Moralia in Iob 35,14.24 (PL 76,762). 33 Gregor d. Gr., Homilia in Ezechielem 15 (PL 76,785 f.). 34 Bernhard von Clairvaux, Sermones de Cantico canticorum 12 (PL 183,831). 24
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steht, wird die Kirche Christi oder die Braut Gottes der Leib Christi genannt, vor allem, weil die allgemeine Kirche Christi sein Leib ist; und Christus wird als „Haupt“ und alle Erwählten werden als „Glieder“ bezeichnet. Aus diesen wird der eine Leib der Kirche gesammelt zu einem vollkommenen Mann und dem Maß der Fülle Christi. Aber der Leib der 5 Braut Christi wird offenbar nach göttlichem Recht „Kirche“ genannt, was mit den Worten des Apostels übereinstimmt: „Und die zwei werden ein Fleisch sein.“ 35 „Dies“, sagt er, „ist ein großes Sakrament in Christus und der Kirche. Denn wenn Christus und die Kirche ein Fleisch sind, dann gibt es sicherlich einen Leib, ein Haupt, einen Bräutigam, aber ein- 10 zelne Erwählte, die Glieder des einen von dem anderen sind. 36 So weit Paschasius. Die Aussprüche der Heiligen zeigen vollständig: Die heilige allgemeine Kirche ist die Anzahl aller Erwählten und der geheimnisvolle Leib Christi, dessen Haupt er selbst ist. Sie ist die Braut Christi, die er in 15 seiner übergroßen Liebe mit seinem Blut erlöst hat, damit er sie am Ende in Herrlichkeit besitzt: ohne Runzeln der Todsünde oder Flecken von lässlicher Sünde oder von irgendetwas anderem, das sie entweiht, sondern damit sie heilig ist und ohne Makel und in Ewigkeit Christus, 20 den Bräutigam, umarmt. Kapitel 2 Bisher ist gesagt worden, was die allgemeine heilige Kirche ist. Außerdem, dass sie wie die Zahl aller Erwählten nur eine ist, aber über den Erdkreis verstreut, was ihre Glieder betrifft. Hierzu muss man wissen, 25 dass diese heilige allgemeine Kirche dreigeteilt ist: in die triumphierende, die kämpfende und die schlafende Kirche. Die kämpfende Kirche ist die Zahl der Erwählten, solange sie hier auf dem Wege zum Vaterland ist. Sie heißt „kämpfende Kirche“, weil sie sich im Kriegsdienst Christi gegen Fleisch, Welt und Teufel übt. Die schlafende Kirche ist 30 die Zahl der Erwählten, die im Fegefeuer leidet. Sie heißt „schlafende Kirche“, weil sie, wenn sie sich dort befindet, keine Vorleistung für die Seligkeit mehr erbringt. Denn sie hat durch die zuvorkommende und helfende Gnade Gottes bereits das Verdienst erlangt, nach der Genugtuung im Fegefeuer im Vaterland belohnt zu werden. Die triumphie- 35 rende Kirche sind die Seligen, die im Vaterland ruhen. Sie haben gegen Satan den Kriegsdienst Christi durchgehalten und am Ende den Sieg davongetragen. Eine gemeinsame große Kirche entsteht aber aus allen diesen am Tage des Gerichts. Und zum Zeichen dieser Dreiteilung der 35
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Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine domini (PL 120,1284).
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allgemeinen Kirche, sagen die Lehrer, wird das Sakrament des Abendmahls in drei Teile geteilt. Danach soll der erste Teil, eingesenkt in das flüssige Sakrament, die triumphierende Kirche bezeichnen. Versunken und berauscht ist sie von der Durchtränkung mit göttlichem Wesen, so wie es das Haupt der Kirche sagt, wenn es seine Mitbürger und Tischgenossen ermuntert: Werdet trunken, meine teuersten Freunde! 37 Die beiden anderen Teile aber, die durch die Hand des Herrn und durch das Verdienst der Kirche gereinigt werden müssen, bezeichnet man mit jenen zwei Teilen, die der Priester in Händen hält: Der größere, der unten liegt, bezeichnet die kämpfende Kirche, und der kleinere, der auf dem untergelegten liegt,38 bezeichnet die Kirche, die im Fegefeuer wartet. Sie nämlich stützt sich auf die Hilfe der kämpfenden Kirche. Und für diese zwei Teile bitten wir zweimal das Lamm, das das Haupt der Kirche ist, sich unser zu erbarmen. Aber für den dritten Teil, zu dessen Ort und Frieden wir streben, bitten wir, dass dieses Lamm dreifachen Wesens uns endlich schenken möge den ewigen Frieden.39 Und daher hat Christus nach seiner Menschheit die drei Orte der Kirche besucht: nämlich den Nabel unserer bewohnten Erde, indem er 33 Jahre in Judäa und Jerusalem lebte; dann die Vorhölle, wo die Vorväter gereinigt wurden – aus ihr löste er im Geist ein Stückchen seiner Kirche heraus; drittens aber stieg er endlich in den Himmel hinauf und hat, indem er sich zur Rechten Gottes setzte, das Gefängnis gefangen40 und [die ehemals Gefangenen] nach seinem Triumph gekrönt.41 Dies ist also die dreifache Einteilung der einen allgemeinen oder katholischen Kirche, auch wenn es noch so viele Teilkirchen gibt. Die allgemeine Kirche aber ist die Jungfrau, die Braut des jungfräulichen Christus, von der, als der wahren Mutter, wir geistlich geboren werden. Eine vollkommen schöne Jungfrau, sage ich: An ihr ist kein Flecken ,42 sie hat weder Flecken noch Runzel und ist heilig und unsträflich 43 und somit vollkommen keusch in ihrer Ganzheit im Vaterland. Hier aber hat sie gehurt mit dem ehebrecherischen Teufel und mit vielen seiner Glieder und ist durch ihre Schandtaten zum Teil verderbt worden. Sie wird aber niemals im Bett des Bräutigams aufgenommen, um als Braut zur rechten Hand selig umarmt zu werden, Hhld 5,1. 38 Das kleine, vom Priester in den Wein eingetauchte Stück der Hostie, das er einem der beiden, ursprünglich gleich großen Teile der Hostie abbrach, nachdem er sie zuvor in zwei gleiche Teile zerbrochenen hat, die nun ungleich groß sind. 39 Anspielung auf den Gesang des „Agnus dei“ während der Ausspendung des Sakraments. 40 Vgl. Ps 68 (Vg. 67),19 mit Eph 4, 8. 41 Vgl. Ps 103 (Vg. 102), 4. 42 Hhld 4,7. 43 Eph 5,27. 37
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bevor sie keine reine Jungfrau geworden sein wird, die völlig ohne Runzel ist. Denn Christus ist der Bräutigam der Jungfräulichkeit, und da er ewig lebt, ist es der Braut nicht erlaubt, sich von ihm zu trennen durch geistliche Unzucht. Daher sagt man von der Menge der himmlischen Bürger: Denn sie sind Jungfrauen und folgen dem Lamme nach, wohin immer es geht .44 Christus war aber von Anfang dieser Welt an durch die Erwählung der Bräutigam der Kirche. Indem er die Engel bestätigte, gab er der Partei der Braut die Mitgift, so auch, indem er Abel als Gerechten bestätigte und andere Heilige bis zu seiner Menschwerdung. Dieses Verlöbnis dauert ununterbrochen an, auch seit der Kaiser die Mitgift beständig vermehrt. Aber in seiner Menschwerdung stiftete Christus eine zweite Hochzeit, indem er gleichsam einen Teil der gesamten Kirche als eine Königin erschuf, den Teil, den man in Sonderheit die christliche Kirche nennt. Denn damals hat laut Paulus unser Anführer und Gesetzgeber seine Braut wie eine liebe Verwandte angesprochen.45 Indem er Menschheit annimmt, legt er unsere Waffen an, überwältigt die Feinde der Kirche wie ein Held und lehrt, wie sich ihm ein Teil der Kirche wie eine eifersüchtige Braut ergeben soll. Daher steht die ganze christliche Lehre auf dem Gebet der Kirche, mit dem wir den Bräutigam um seiner Ankunft im Fleisch willen bitten: Er möge uns lehren, Irdisches zu verachten und Himmlisches zu lieben. „Irdisches verachten“ meint, sich zurückzuhalten, was die Leidenschaft angeht, aber Christus, den Bräutigam über alle Dinge ehrfürchtig lieb zu haben. Daraus ergibt sich, auf welche Weise die allgemeine heilige Kirche die einzige Braut Christi ist: am Ende die keuscheste Jungfrau, der sich der Sohn Gottes aus ewiger Liebe und dank Annahme an Kindesstatt zur Ehe verbunden hat. An sie glauben wir fest und sprechen im Glaubensbekenntnis: Ich glaube an die eine heilige katholische Kirche ,46 über die im zweiten Glaubensbekenntnis: und apostolische ,47 hinzugefügt wird. Denn man nennt sie deshalb „apostolisch“, weil die Apostel vollkommen im Geist gereinigte Teile derselben Mutter Kirche sind; sie selbst haben sie durch Christi Lehre und ihr eigenes Blut gepflanzt, und durch deren Lehre und Vollmacht leiten seine Stellvertreter noch jetzt die Heranwachsende, die nur den Bräutigam der Kirche sucht. So heißt es im Kirchenrecht bei Papst Leo: Das Vorrecht Petri besteht überall fort, wo nach seiner umfassenden Gerechtigkeit ein Urteil gefällt wird.48 Denn Petrus selbst wohnt im Himmel und sieht und verwaltet, 44 Offb 14,4. 45 Hebr 1,2 mit 2,11–13. 46 Apostolikum. 47 Nizäno-Konstantinopolitanum. 48 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 5 (Friedberg 1,968).
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was Gott bindet und löst. Daher sagt Bonifazius VIII.: Eine heilige katholische Kirche und diese als die apostolische, sind wir gezwungen mit starkem Glauben zu glauben und festzuhalten .49 Die Einheit der katholischen Kirche besteht aber in der Einheit der Erwählung. Denn 5 ihre einzelnen Glieder sind eins in der Erwählung und in der Einheit der Seligkeit, und ihre einzelnen Kinder sind am Ende selig vereint. Auch gegenwärtig besteht ihre Einheit in der Einheit des Glaubens und der Tugenden und in der Einheit der Liebe, wie Augustinus im Johannisevangelium zum Vers: Auf dass sie alle eins seien , darlegt.50 10 Und in einem Brief legt er den Spruch aus: Es ist gut, dass ein Mensch umgebracht werde für das Volk! , und sagt: Kaiphas hat vorausgesagt, dass Gott seine Kinder in eins versammeln wird, nicht, sagt er, an einem leiblichen Ort, sondern er hat sie vereinigt zu einem Geist und einem Leib, dessen alleiniges Haupt Christus ist.51 Und diese Einheit berührt 15 der Apostel, wenn er sagt: Befleißigt euch die Einheit im Geist durch das Band des Friedens zu bewahren; ein Leib, ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater von uns allen.52 Und, wie zuvor gesagt ist, ist ohne diese Einheit zweifellos kein Heil. Kapitel 3 Aber gegen das eben Gesagte lässt sich erstens einwenden: Bliebe dieser Satz bestehen, wäre kein vorhergewusst Verworfener Teil der heiligen Mutter, der allgemeinen Kirche. Eine falsche Folgerung! Denn jeder Christ ist nach folgendem Wort Teil dieser Kirche: Das Himmelreich 25 gleicht einem Netz, das ins Meer geworfen ist und Fische aller Art fängt .53 Darüber sagt der selige Gregor: Die heilige Kirche wird mit einem ins Meer geworfenem Netz verglichen. Denn auch sie ist Fischern anvertraut, und jeder wird durch sie aus den Fluten der gegenwärtigen Welt in das ewige Reich gezogen, damit er nicht versinke in der Tiefe des 30 ewigen Todes.54 Dies wird zweitens bestätigt durch das Wort: Das Himmelreich ist gleich einem König, der für seinen Sohn die Hochzeit ausrichtete. Er sandte seine Knechte aus, um die Gäste zur Hochzeit zu rufen. Sie gingen hinaus und brachten alle zusammen, die sie fanden; Böse und Gute; und die Hochzeit wurde voll von Gästen .55 Dazu sagt 35 Gregor: Seht, schon allein durch die Eigenschaft der Gäste wird offenkundig: Die Hochzeit des Königs bezeichnet die jetzige Kirche, in der 20
Extravagantes decretales tit. 8 c. 1 (Friedberg 2,1245). 50 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus, zu Joh 17,21 (PL 35,1920 u. ö.) 51 Augustinus, Ep. 187, ad Dardanum (PL 38,846), zu Joh 18,24. 52 Eph 4,3–6. 53 Mt 13,47. 54 Gregor d. Gr., Homilia in Evangelia 11 (PL 76,1116). 55 Mt 22,2 f.10. 49
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Böse und Gute zusammen kommen. Durch die Verschiedenheit ihrer Kinder ist sie eine vermischte Kirche .56 Das wird drittens bestätigt durch das Wort: Des Menschen Sohn wird seine Engel senden; und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und diejenigen, die Unrecht tun.57 Ebenso [viertens] durch das Wort: Wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich .58 In beiden Sprüchen aus dem Evangelium wird hier nach Gregor die jetzige Kirche „Himmelreich“ genannt.59 Das wird fünftens bestätigt durch das Wort: Der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen. In seiner Hand ist die Wurfschaufel, und er wird seine Tenne fegen und wird den Weizen in seine Scheuer sammeln, und die Spreu wird er mit ewigem Feuer verbrennen.60 Dort wird, wie die Heiligen erklären, mit „Tenne“ die katholische Kirche bezeichnet, und besonders Augustinus sagt: Halte daran fest und zweifle nicht, dass Gottes Tenne die katholische Kirche ist und in ihr bis ans Ende der Welt die Spreu mit dem Weizen vermischt sein wird.61 Dieser Ausspruch Augustins wird bestätigt durch das Wort Christi: Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte; und später sagt er: Lasst beides miteinander wachsen bis zu der Ernte.62 Um dies und das Folgende zu verstehen, muss man nach den Worten des Apostels voraussetzen: Christus ist das Haupt der heiligen allgemeinen Kirche; sie selbst ist sein Leib, und jeder Erwählte sein Glied und folglich Teil der Kirche, die Christi mystischer Leib ist, das heißt sein geheimnisvoller Leib. Der wird gelenkt und angefügt durch Kraft und Einfluss des Hauptes Christus und ist ihm durch das Band der Erwählung verbunden. Diese Voraussetzung erklärt sich aus dem Ausspruch des Apostels: Denselben hat er zum Haupt über die ganze Kirche gesetzt, die sein Leib ist.63 Weiterhin aus dem Satz, in dem er in der Person der Erwählten spricht: Viele sind wir, ein Leib in Christus.64 Und: Einige hat er selbst zu Aposteln gesetzt, einige aber zu Propheten, einige zu Evangelisten, andere aber zu Hirten und Lehrern: zur Sammlung der Heiligen zum Dienstamt, zur Erbauung des Leibes Christi. Und später: Lasst uns aber in der Liebe wachsen, indem wir die Wahrheit in der Liebe tun, durch alles, was wir tun, in dem, der das Haupt ist, Christus. Von ihm her ist der ganze Leib zusammengefügt und hängt ein Glied am Gregor d. Gr., Homilia in Evangelia 38 (PL 76,1285). 57 Mt 13,41. 58 Mt 5,19. Gregor d. Gr., Homilia in Evangelia 12 (PL 76,1119). 60 Lk 3,16 f. 61 Augustinus incertus, De regula verae fidei c. 43 (PL 40,777). 62 Mt 13,24.30. 63 Eph 1,22 f. 64 Röm 12,5. 56 59
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anderen, durch alle Gelenke, wobei eins das andere unterstützt je nach seiner Wirksamkeit und Ausstattung, und macht, dass der Leib wächst, während er sich in der Liebe auferbaut.65 Weiterhin muss man festhalten: Christus wird deshalb „Haupt der Kirche“ genannt, weil er die würdigste Person ist im Menschengeschlecht und an alle seine Glieder Bewegung und Empfindung überträgt. Es ist nämlich wie beim Menschen: Das Haupt, der wichtigste Teil des Menschen, überträgt an seine Teile Bewegung und Empfindung. Bekanntermaßen kann andernfalls weder der Leib noch irgendeines seiner Glieder auf natürliche Weise leben. Christus ist die Person, die wahrhafter Gott und Mensch ist, überträgt an die Kirche und jedes ihrer Glieder geistliches Leben und Bewegung. Ohne seinen Einfluss kann sie nicht leben und empfinden. Und wie im Kopf des Menschen alle Empfindungen sind, so nach dem Brief an die Kolosser in Christus alle Schätze der Weisheit und des Wissens des verborgenen Gottes.66 Deshalb begreift der Apostel den genannten Satz in folgendem ein: Alle Dinge sind durch ihn und zu ihm geschaffen; und er selbst ist vor allen; und alle bestehen in ihm. Er selbst ist das Haupt des Leibes der Kirche, ist Anfang und Erstgeborener von den Toten, damit er selbst in allen Dingen den Vorrang habe. Denn in ihm hat es Gott wohlgefallen, alle Fülle wohnen zu lassen und alles durch ihn zu versöhnen hin zu Gott selbst.67 Aber die Einheit des Leibes der Kirche zeigt der Apostel zuerst so: Die Verteilung der Gnaden, Ämter und Kräfte geht aus von dem einen geistlichen Herrn, der in allen wirkt. Vorangehen muss nämlich die Begnadung: der Ursprung des Dienstes bei den Geistlichen und des Wirkens bei den Laien. Gnade aber gibt der Geist. Der Herr nimmt den Dienst an, und Gott vollendet den Dienst.68 Einem, sagt Paulus, wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu predigen; einem anderen wird gegeben, von der Erkenntnis nach demselben Geist zu predigen; einem anderen der Glaube in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen in demselben Geist, einem anderen, Wunder zu tun; einem anderen Weissagung; einem anderen, Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Sprachen; einem andern, die Predigten auszulegen.69 Und diese neun Gaben scheint der Apostel bewusst ihrer Ordnung nach an den Menschen, die sie empfangen, aufzuzeigen. Gott, sagt er, hat einige in die Kirche eingesetzt: zuerst die Apostel, zweitens die Propheten, drittens die Lehrer, dann die Tugenden, dann die Gaben, gesund zu machen, Hilfeleistung, Leitung, Sprachen, Auslegung der Pre65 69
Eph 4, 11 f.15 f. 1Kor 12,8–10.
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Vgl. 1Kor 12,4–6.
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digten.70 Diese neun scheinen den vorherigen Gaben vergleichbar. Und an eben derselben Stelle stellt der Apostel den Vergleich des Leibes der Kirche und seiner Glieder mit dem natürlichen Menschenleib her und sagt: Denn gleichwie es ein Leib ist und viele Glieder hat, alle Glieder aber des Leibes, obwohl es viele sind, doch ein Leib sind, also auch Christus.71 Eine dreifache Übereinstimmung und eine dreifache Verschiedenheit zwischen den Gliedern des geheimnisvollen und des menschlichen Leibes muss aber festgehalten werden. [Erstens] bilden nämlich die Glieder einen Leib, dem die Seele verbunden ist. Zweitens: Jedes Glied ist für jedes andere notwendig, weil sie sich gegenseitig bei ihren Aufgaben unterstützen. So ist es bei den Gliedern der Kirche durch die Kraft der Gemeinschaft und das Band der Liebe. Drittens aber: So wie die Glieder sich in ihrer Gewalt haben, so auch die Glieder der Kirche. Denn nach Chrysostomus ist der Mensch ein Buch, in dem die ganze christliche Religion geschrieben steht.72 So wie also eine Beziehung von Haupt und Füßen besteht, so sind Vernunft und Gemütsbewegung miteinander verbunden. So wie aber jedes edle oder unedle Glied ohne Wettstreit dem Geist dient, so dient jedes Glied der Kirche Christus ohne Streit um Vorrang oder Gehorsam. Und wie die hervorragenden Glieder sich nicht wegen ihrer Vornehmheit überheben, sondern ihren Dienst tun nach der Leitung des Geistes zur Unterstützung der Einzelnen, so soll es auch bei den Gliedern der Kirche sein. Und so wie Augen und Gesicht bei ihrer Tätigkeit unbedeckt sind, damit sie ein verhülltes Teil nicht umstürzen und zu Fall bringen, so waren Christus und die Apostel durch die Glut der Liebe und das Fehlen der Glut der Begierde nicht mit Zeitlichem auf irdische Weise in Dunkel gehüllt. Solche Augen müssen alle Geistlichen als ihre Stellvertreter sein. Aber die weniger edlen Glieder, wie die Schamteile, liegen weiter im Innern, sind mehrfach und weicher verhüllt. So ist es mit den verächtlichen Gliedern, durch die der Kot der Kirche ausgeschieden wird. Die Verschiedenheit zwischen den Gliedern dieser Leiber bezeichnet man folgendermaßen. Die erste ist: Da die Teile der Kirche durch die Gnade miteinander verbunden werden, kümmert sie – anders als die Glieder eines Menschen – keine Stellung oder Befindlichkeit, was ihre Lage im Leib angeht. Die zweite Verschiedenheit: Da die Teile der Kirche geheimnisvolle Glieder sind, ist es für ein Glied nicht widersprüchlich, sondern stimmig, verschiedenartige Aufgaben zu haben. 1Kor 12,28. 71 1Kor 12,12. potestate papae.
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Chrysostomus, De opere inperfecto, nach Wyclif, De
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Der Mensch aber ist demgegenüber gleichsam ein Ganzes, weshalb er immer das tun muss, was er kann. Die dritte Verschiedenheit ist: Mögen auch den Gliedern der Kirche ihre Kräfte von Christus eingeflößt sein wie den Gliedern des menschlichen Leibes die Kräfte von der Seele, durch die sie ihr Sein als Glieder erlangen – der Einfluss Christi freilich ist der vorzüglichere, und das Handeln der Glieder der Kirche ist freiwillig und gnadenvoll und verdienstlich. Weiter ist festzuhalten: Im menschlichen Leib gibt es etwas, was nicht Teil dieses Leibes selbst ist (etwa Speichel, Schleim, Kot, Eiter oder Urin). Gehört jenes nicht zum Leib, weil es kein Teil des Leibes ist, so gibt es aber etwas anderes im menschlichen Leib, das ebenso sein Teil ist wie jedes seiner Glieder. Ebenso gibt es etwas im geheimnisvollen Leib Christi, der die Kirche ist, und gehört dennoch nicht zur Kirche, weil es kein Teil von ihr ist. So ist es bei jedem zum Verderben vorhergewussten Christen: Er muss schließlich wie Kot aus dem Leib selbst ausgeschieden werden. Und somit gibt es zweierlei: zur Kirche zu gehören oder in der Kirche zu sein. Und es ist klar, dass daraus nicht folgt: Geht irgendeiner seinen Erdenweg in der Kirche, dann gehört er zur Kirche. Es ist umgekehrt! Denn wir wissen: Das Unkraut wächst unter dem Getreide, der Rabe nährt sich am gleichen Ort wie die Taube und die Spreu wird gemeinsam mit dem Weizen eingefahren. Und doch gibt es zwischen ihnen – am Beispiel des menschlichen Leibes ist es gezeigt worden – keine verallgemeinernde Unterscheidung. So müssen wir es uns bei der heiligen Mutter Kirche vorstellen, und dazu gehört der Text, in dem es heißt: Nun sind viele Antichristen geworden. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns , das heißt sie haben sich aus unserer Gesellschaft zurückgezogen – so eine Glosse zum Kanonischen Recht – gemäß der Gnade der Erwählung zum Leben. Denn wenn sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben.73 So wie Überflüssiges heraustritt aus Speise und aus festen Gliedern, weil es doch nicht zu ihnen gehört, so geht der Unrat der Kirche aus ihr heraus, nämlich die vorausgewusst Verworfenen. Und doch sind sie nicht aus ihr hervorgegangen als ihre Teile, da kein Teil von ihr für immer von ihr abfällt, und zwar deshalb, weil die Liebe der Erwählung, die sie bindet, niemals aufhört, wie der Apostel sagt.74 Und das bestätigt der Apostel mit den Worten: Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach dem Vorsatz , nämlich der Erwählung, als Heilige berufen sind. Denn welche er zuvor ersehen hat, die hat 73
1Joh 2,18 f., verkürzt zitiert.
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Vgl. 1Kor 13,8.
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er auch erwählt, dass sie gleichförmig sein sollten dem Ebenbild seines Sohnes, damit er selbst der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Welche er aber erwählt hat, die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht.75 Und er schließt, indem er nach langer Beweisführung von den Erwählten sagt: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Kräfte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.76 Dazu ist festzuhalten, was viele über die viererlei Art des Verhaltens derer sagen, die auf dem Weg zur heiligen Mutter Kirche sind. Denn einige wie die erwählten Katholiken, die Christus gehorchen, sind sowohl dem Namen als auch der Sache nach in der Kirche. Andere wie die vorausgewusst verworfenen Heiden sind es weder dem Namen noch der Sache nach. Einige wie die vorausgewusst verworfenen Heuchler sind es nur dem Namen nach. Aber einige sind es der Sache nach, obwohl sie dem Namen nach als Außenstehende erscheinen, wie die erwählten Christen, die die Statthalter des Antichrists scheinbar im Angesicht der Kirche verdammen. Denn so haben die Hohenpriester und Pharisäer unseren Erlöser als Gotteslästerer und folglich als Ketzer, welcher der erwählte Sohn Gottes ist ,77 zum schimpflichsten Tod verurteilt. Weiterhin ist zu beachten, dass keine Stellung oder menschliche Wahl jemanden zum Glied der heiligen allgemeinen Kirche macht, sondern die göttliche Erwählung, die jeden berücksichtigt, der Christus unverwandt in der Liebe folgt. Erwählung ist aber nach Augustinus eine Erwählung seitens des göttlichen Willens durch Gnade.78 Oder, wie gewöhnlich gesagt wird: Erwählung ist Vorausgewährung der Gnade in der Gegenwart sowie der Herrlichkeit in der Zukunft. Im Kanonischen Recht wird aber festgestellt: Erwählung geschieht auf zweierlei Art: eine, durch die jemand hier zur Erlangung von Gerechtigkeit und Vergebung der Sünden vorbestimmt wird, aber nicht: zur Erlangung des Lebens der Herrlichkeit. Denn mit dieser Erwählung stimmt die oben erwähnte zweite Definition nicht überein: Eine andere ist die Erwählung, durch die jemand dazu erwählt wird, in Zukunft das ewige Leben zu erlangen, und dieser folgt auch die erstere, nicht aber umgekehrt. Denn wenn jemand zum ewigen Leben erwählt ist, ist er also – das wird folgerichtig hinzugesetzt – zur Gerechtigkeit erwählt. Und wenn er 75 Röm 8,28–30. 76 Röm 8,38 f. tione sanctorum lib. 1,5.10.
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das ewige Leben erlangt, so hat er Gerechtigkeit erlangt. Aber das lässt sich nicht umkehren .79 Denn gegenwärtig sind viele teilhaftig der Gerechtigkeit, aber aus Mangel an Ausdauer werden sie des ewigen Lebens nicht teilhaftig sein. Daher wird gesagt: Viele scheinen durch das Verdienst gegenwärtiger Gerechtigkeit erwählt zu sein, nicht aber durch die Erwählung zur ewigen Herrlichkeit. 80 Diesen Satz begründet Gratian mit jenem Apostelwort: Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christus, so wie er uns in ihm ausgewählt hat vor der Erschaffung der Welt, dass wir Heilige seien und Unbefleckte vor seinem Angesicht in der Liebe; der uns erwählt hat an Kindesstatt durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, durch welche er uns angenehm gemacht hat in dem Geliebten, in dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Sünden.81 Und ferner ist deutlich, dass die Menschen auf zweierlei Art zu der heiligen Mutter Kirche gehören können: entweder nach der Erwählung zum ewigen Leben, so wie alle endgültig Heiligen zur heiligen Mutter Kirche gehören. Oder nach der Erwählung allein zur gegenwärtigen Gerechtigkeit, wie alle, die irgendwann die Gnade der Sündenvergebung erlangen, aber nicht bis zum Ende aushalten. Und weiterhin ist deutlich, dass es zweierlei Gnade gibt: die Gnade nämlich der Erwählung zum ewigen Leben; aus ihr kann der Erwählte nicht endgültig fallen. Die andere Gnade erstreckt sich auf die gegenwärtige Gerechtigkeit, die jetzt da ist und ein andermal nicht, die jetzt zufällt oder fortfällt. Erstere Gnade aber macht zu Kindern der heiligen allgemeinen Kirche und den Menschen gewissermaßen unendlich vollkommener als die zweite. Denn sie gewährt das unendliche Gut zu ewigem Gebrauch. Nicht so die andere Gnade. Die erste macht zu Söhnen der ewigen Erbschaft; die andere aber macht zu Verwaltern, die Gott auf Zeit angenehm sind. Daher erscheint es wahrscheinlich, dass Paulus ein Gotteslästerer gewesen ist gemäß der gegenwärtigen Ungerechtigkeit; zugleich aber gehörte er zur heiligen Mutter Kirche, war somit gläubig und stand in der Gnade gemäß der Erwählung zum ewigen Leben. Ebenso hat Judas Ischarioth in der Gnade gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit gestanden und zugleich gehörte er doch nicht zur heiligen Mutter Kirche gemäß der Erwählung zum ewigen Leben, weil jene ihm fehlte. Und so war Judas Ischarioth, mag er auch ein Apostel 79 80
Decr. Grat. II C. 33 q. 3: De Penitentia dist. 4 c. 11: Hinc propheta (Friedberg 1,1233 f.). Vgl. ebd. c. 12: Hoc ergo (Friedberg 1,1234). 81 Eph 1,2–7.
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oder ein von Christus erwählter Bischof – was eine Amtsbezeichnung ist! – gewesen sein, dennoch niemals ein Teil der heiligen allgemeinen Kirche. Ebenso war Paulus niemals ein Glied des Teufels, mag er er einiges begangen haben, das den Taten der Kirche der Übeltäter ganz ähnlich ist.82 Ähnlich Petrus, bei dem der Herr zuließ, das er einen schweren Meineid beging, damit er sich umso stärker wieder erheben sollte. Denn, wie Augustinus sagt, ist es den Erwählten förderlich, in solche Sünden zu fallen.83 Und daraus ist deutlich, dass es zweierlei Trennung von der heiligen Kirche gibt. Die erste ist unaufhebbar: So sind alle vorhergewusst Verworfenen von der Kirche getrennt. Die zweite jedoch ist aufhebbar: So sind zwar einige Ketzer durch aufhebbare Sünde von der heiligen Kirche getrennt, vermögen aber durch Gottes Gnade wieder zum Schafstall des Herrn Jesus Christus zu kommen. Von solchen nämlich spricht er selbst: Und ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind und die ich herführen muss.84 Er hatte gemäß der Erwählung noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall waren, das heißt aus seiner Kirche gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit, die er durch seine Gnade zum Leben geführt hat. Dieser Unterschied aber zwischen Erwählung und gegenwärtiger Gnade ist genau zu beachten. Denn einige sind Schafe gemäß der Erwählung, aber reißende Wölfe gemäß ihrer gegenwärtigen Ungerechtigkeit. So führt es Augustinus aus. Andere sind in ähnlicher Weise Kinder gemäß der Erwählung, aber noch nicht gemäß der gegenwärtigen Gnade. Diese Unterscheidung berührt Augustinus für beiderlei Teil und sagt: Dass er die Kinder Gottes, die verstreut waren, versammeln werde, hat Kaiphas nur für das jüdische Volk vorausgesagt, in dem sich Schafe befanden, von denen der Herr selbst sagt: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel gesandt.“ 85 Aber der Evangelist wusste, dass es „andere Schafe gab, die nicht aus dem Schafstall waren und die herzugeführt werden sollten“. Deshalb setzt er hinzu: „und nicht nur von dem Volk, sondern dass er die Gotteskinder, die zerstreut waren, in eins versammeln werde.“ Dies aber ist gemäß der Erwählung gesagt. Denn sie waren bisher weder seine Schafe noch Gottes Kinder.86 So weit Augustinus. Deshalb wird dazu im Kirchenrecht gesagt:87 So also sind sie nicht Kinder, wenn sie nicht der ewigen Seligkeit teilhaftig sind, und hinzuge82 Artikel 2 der in Konstanz verurteilten Irrtümer. 83 Wohl nach Wyclif: De fide catholica. 84 Joh 10,16. 85 Mt 15,24. 86 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 11 c. 52 (PL 35,1758). 87 Decr. Grat. II C. 33, De Penitentia dist. 4 c. 11: Hoc ergo (Friedberg 1,1235).
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setzt, dass sie auf dreierlei Weise Kinder genannt werden: Entweder nur durch Erwählung, wie die, von denen Johannes sagt: „Damit er auch die Kinder Gottes, die verstreut waren, versammle.“ 88 Oder durch Erwählung und Hoffnung auf ewige Seligkeit wie die, denen der Herr sagte: 5 „Liebe Kindlein, ich werde nur noch kurze Zeit bei euch sein.“ 89 Oder drittens durch Verdienst des Glaubens und der gegenwärtigen Gerechtigkeit, nicht aber durch Erwählung zur ewigen Herrlichkeit wie die, von denen der Herr sagt: „Wenn seine Söhne mein Gesetz verlassen“ und „in meinem Recht nicht wandeln“.90
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Kapitel 4 Erstens wird zusammengefasst, was bisher festgehalten wurde: Allein Christus ist das Haupt der allgemeinen Kirche, die kein Teil einer anderen ist. Denn offenkundig ist: Ist jemand Haupt jener universalen Kirche, ist er vorzüglicher geworden als die Engel 91 und als jeder selig erschaffene Geist, was allein Christus zusteht. Denn er muss, selbst der Erstgeborene unter vielen Brüdern 92 und folglich durch die Würde des Erstgeborenenrechts so der Anführer sein. Diese Ableitung ist auch durch das Wort des Apostels deutlich, der von Gott sagt, er habe in Christus gewirkt, indem er ihn von den Toten erweckte und im Himmel zu seiner Rechten einsetzte ,93 weit über alle Herrschaft, Gewalt und Kraft und jeden Namen, der nicht nur in diesem, sondern auch im zukünftigen Zeitalter genannt wird. Alles hat er Christi Füßen unterworfen und ihn selbst als Haupt über die gesamte Kirche, die sein Leib ist, eingesetzt. Daraus wird deutlich: Wenn irgendein Christ zusammen mit Christus den Platz des Hauptes der allgemeinen Kirche einnähme, sie selbst aber kein Monster mit gleichermaßen zwei Köpfen sein kann, wie es bei Bonifazius VIII. heißt: Deshalb, so sagt er, gibt es den einen Leib der einen Kirche und ein Haupt, nicht zwei wie bei einem doppelköpfigen Monster,94 dann muss notwendigerweise zugestanden werden, dass eben jener Christ, der das Haupt der Kirche wäre, damit auch Christus selbst wäre. Andernfalls müsste zugestanden werden, dass Christus ihm untergeordnet und nur ein demütiges Glied wäre. Somit ist die Unmöglichkeit einer solchen Annahme offensichtlich. Daher haben sich die heiligen Apostel übereinstimmend dazu bekannt, Sklaven dieses Hauptes und demütige Diener der Kirche, seiner Braut, zu sein. Niemals aber hat sich einer der Apostel angemaßt, für sich zu beanspruchen, das Haupt oder der Bräutigam der Kirche zu 88 94
Joh 11,52. 89 Joh 13,33. 90 Ps 89,31. 91 Hebr 1,4. 92 Röm 8,29. 93 Eph 1,20. Extravagantes decretales lib. 1 tit. 8 c. 1: Unam sanctam (Friedberg 2,1245).
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sein. Dies hätte bedeutet, mit der Himmelskönigin Unzucht zu treiben und sich den Rang ihrer Würde und Stellung anzumaßen: einer Würde hinsichtlich der ewigen Erwählung und einer Stellung, in die Gott Kraft ewiger Anordnung Christus zur obersten Leitung seiner Braut eingesetzt hat. Dies ist ersichtlich auch bei dem seligen Augustinus: Die Kirche selbst nämlich, sagt er, hat nur ein Haupt,95 nämlich denjenigen, der sie lenkt, sie überragt und ihr zugleich ein Beispiel für die Einheit von geistlicher und weltlicher Herrschaft gibt. Daher kann „Haupt der Kirche“ auf zweierlei Weise verstanden werden: Entweder als inneres oder äußeres. Das innere Haupt meint eine Stellung als Vorsteher der Kirche, und zwar wiederum auf doppelte Weise: Entweder verwaltet es die materiellen Güter wie ein König der Kirche oder die geistlichen Güter nach Art eines Bischofs, der sein Amt ausübt. Das äußere Haupt der Kirche ist die Person, welche denjenigen, die ihrer Natur untergeben sind, aber abgesehen von ihrer Anzahl, vorsitzt und die, während sie diese durch ihren Einfluss leitet, von ihnen „Haupt der Kirche“ genannt wird. Und so ist Christus gemäß seiner Gottheit das äußere Haupt einer jeden einzelnen sowie der allgemeinen Kirche. Entsprechend seiner Menschheit ist er das innere Haupt der universalen Kirche. Und jene beiden Naturen, Gottheit und Menschheit, sind der eine Christus. Er ist das einzige Haupt seiner Braut, der allgemeinen Kirche, die die Gesamtheit der Erwählten ist.96 Jene allgemeine Kirche ist nämlich der Mensch, der vom Himmel herab und auch wieder hinaufgestiegen ist, wie gesagt ist.97 Nicht gemäß ihrer Gesamtheit ist sie vollständig, sondern gemäß des Hauptes. Sein Hinabsteigen war keine Bewegung von einem Punkt zum anderen, sondern Menschwerdung oder Entäußerung. Der Aufstieg aber war eine Bewegung von einem Punkt zum anderen, bei der es die anderen Teile des Körpers mit sich zog. Eindeutig gibt es daher keinen Widerspruch, wenn eine einzelne Kirche mehrere Häupter hat. Denn sie kann drei Häupter haben: nämlich die Gottheit, Christi Menschheit sowie den ihr von Gott selbst zur Leitung verordneten Anführer. Aber jene Häupter sind hierarchisch strukturiert: Die Gottheit steht am höchsten, in der Mitte steht Christi Menschheit und auf der niedersten Stufe steht der Anführer. Die allgemeine Kirche jedoch hat, wie zuvor gesagt wurde, zwei Häupter: ein äußeres, das die Gottheit, und ein anderes, das innere, das Christi Menschheit ist. Augustinus, Ep. 187, ad Dardanum (PL 33,846), wohl nach Wyclif zitiert. kel 4 der in Konstanz verurteilten Irrtümer. 97 Joh 3,13.
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Des Weiteren scheint daher, dass Christus vom ersten Anfang der Welt an entsprechend seiner Gottheit bis zur Menschwerdung das äußere Haupt der Kirche war. Vom Zeitpunkt seiner Menschwerdung an aber ist er gemäß seiner Menschheit das innere Haupt der Kirche. Dadurch hatte und hat die gesamte heilige katholische Kirche stets Christus zum Haupt, von dem sie nicht abfallen kann. Denn sie ist als Braut durch ewige Liebe mit diesem Haupt verbunden. Denn bei Jeremia spricht der Bräutigam zu seiner Kirche: In ewiger Liebe habe ich dich geliebt und dich daher erbarmungsvoll zu mir gezogen.98 Folglich war der Bräutigam gemäß seiner Gottheit von Beginn in seiner ganzen Kirche immer gegenwärtig und später gemäß seiner Menschheit den heiligen Vätern. Daher kommentiert Augustinus das Psalmwort: Ich war jung und bin jetzt alt geworden 99 über das oben Ausgeführte folgendermaßen: Der Herr selbst war nämlich in seinem Leib, der die Kirche ist, jünger bei den ersten Menschen und, siehe, schon ist er alt. Ihr wisst dies, erkennt und versteht es. Denn in diesen Leib seid ihr hineingestellt, und so habt ihr geglaubt, weil unser Haupt Christus ist. Wir sind der Leib dieses Hauptes. Sind wir allein dieser Körper oder auch jene, die vor uns lebten? Alle, die von Anbeginn der Zeit Gerechte waren, haben Christus zum Haupt. Sie glaubten nämlich, dass jener, von dem wir glauben, er sei schon gekommen, kommen werde und sind auf diese Weise durch den Glauben an ihn geheilt worden, in dem auch wir geheilt werden. Damit er selbst das Haupt der ganzen Stadt Jerusalem wäre, nachdem alle Gläubigen von Anfang bis zum Ende und auch alle Legionen und Heere der Engel hinzugefügt worden sind, und es damit eine Stadt unter einem König und eine Provinz unter einem Herrscher werde, glücklich durch immerwährenden Frieden und Heil, die Gott lobt und selig ist ohne Ende. Aber Christi Leib, der die Kirche darstellt, war wie ein junger Mann. Und schaut her, nun in einer Zeit, in der die Welt ihr Ende findet, ist die Kirche in reifem Alter, weil über sie gesagt ist: „Bis jetzt, noch im reifen Greisenalter werden sie vermehrt.“ Sie hat sich vermehrt durch alle Völker hindurch und ist seine Stimme.100 Dies sagt Augustinus, dessen Worte darlegen, auf welche Weise Christus das Haupt der heiligen Kirche ist. An ihn glaubten die Väter, dass er gemäß seiner Menschheit kommen werde, damit er, der ihnen auf göttliche Art gegenwärtig war, für sie auf menschliche Art ein Haupt wäre, in dem alle Erwählten mit den heiligen Engeln vereint werden. Zweitens wird als Einwand zusammengefasst, was bisher festge98 Jer 31,3. 36,385).
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Ps 37,25.
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Augustinus, Enarrationes in psalmos zu Ps 37,25 (PL
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halten wurde: Kein vorhergewusst Verworfener ist Glied der heiligen Mutter, der katholischen Kirche. Denn von Anbeginn der Welt an ist allein die heilige Mutter, die katholische Kirche, eine einzige und wird von der Rechten des Bräutigams nach dem Tag des Gerichts unvermischt aus ewiger Liebe umarmt. So wird es aus den oben genannten sowie den unmittelbar vorangehenden, gewichtigen Worten des Augustinus deutlich. Und die Kirche wird nach dem Tag des Gerichts keine anderen Glieder haben als sie hat und haben wird vor dem Tag des Gerichts. Alle aber, die nach dem Tag des Gerichts gerettet werden müssen, sind die Erwählten. Folglich sind unter ihnen vor dem Tag des Gerichts keine vorhergewusst Verworfenen. Notwendigerweise waren also keine vorhergewusst Verworfenen Glieder der Kirche, der Braut Christi. Und weil man bei einem vorhergewusst Verworfenen auf dieselbe Beweisführung wie beim Rest zu achten hat, folgt, dass kein vorhergewusst Verworfener Glied der heiligen katholischen Mutter Kirche ist. Ebenso ist es unmöglich, dass Christus jemals seine Braut oder einen Teil von ihr nicht liebt, weil er sie notwendigerweise so liebt wie sich selbst. Doch ist es ebenso unmöglich, dass er einen vorhergewusst Verworfenen auf dieselbe Weise liebt. Also ist es unmöglich, dass ein vorhergewusst Verworfener Glied jener Kirche ist. Das Vorausgehende wird durch jenen wohlbedachten Grundsatz deutlich, dass Gott – wie Augustinus sagt – ein Etwas nicht von Neuem erkennen oder lieben kann.101 Denn Gott kann weder beginnen noch aufhören, ein Etwas zu erkennen und auch keinen Willensakt hervorbringen. Denn einerseits ist er unveränderlich, aber andererseits hängt göttliches Erkennen und göttliches Wollen mehr als unser Erkennen und Wollen vom Äußeren ab. Daraus ist ersichtlich: Christus liebt die ganze Kirche wie sich selbst. Denn so wird er sie einst lieben, nämlich nach dem Tag des Gerichts, wenn sie zusammen mit ihm herrschen wird, wie es aus dem Verlauf von Salomos Hohelied offenbar ist. Gäbe es denn eine wahre Ehe aus der unendlichen Liebe Christi, der dieser göttlichen Hochzeit zustimmt, wenn der Bräutigam, der eine Person mit der Braut ist, eben diese nicht so lieben würde, wie er sich selbst liebt? Dazu nämlich sagt der Apostel: Christus hat die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben, um sie zu heiligen, im Wasserbad seines lebendigen Wortes zu reinigen und sich schließlich selbst eine ehrenvolle Kirche zu bereiten, die weder Flecken noch Runzel hat noch etwas derartiges, damit sie heilig und vollkommen sei.102 Weshalb auch Bernhard sagt: Die Kirche ist der Leib Christi und wertvoller als jener Körper, den er dem Tod übergeben hat.103 Und aus die101
Vgl. Augustinus, De trinitate lib. 5 c. 10; lib. 11 c. 21 (PL 41,152.334).
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sen Aussagen erschließt sich, dass Christus immer seine Braut, die heilige Kirche, lieben muss, so wie er sie nach dem Tag des Gerichts lieben wird. Aber aus demselben Grund hasst er jeden vorhergewusst Verworfenen, so wie er ihn einmal nach dem Tag des Gerichts hassen wird. Gott weiß voll und ganz, welches Ende ein jeder vorhergewusst Verworfene auf sich selbst gestellt nehmen wird und wieviel Buße alle die Erwählten tun werden, die im Begriff sind, zu fallen, doch späterhin Gott unendlich wohlgefällig sind. Also ist es klar, dass er jeden verbrecherischen Erwählten mehr liebt als irgendeinen vorhergewusst Verworfenen, in welcher Art zeitlicher Gnade er auch zeitlebens gestanden hat. Denn für den Erwählten will er ewige Seligkeit und für den Verdammten das unendliche Feuer. In diesem Sinn sagt der Psalter: Du hasst alle, die Unrecht tun.104 Weil daher der Hochmut der vorhergewusst Verworfenen, je mehr sie Gott bis hin zur endgültigen Reuelosigkeit hassen, stets ansteigt, gehören sie nicht zu Christi Leib. Denn der selige Augustinus sagt: Ein demütiges Haupt und ein hochmütiges Glied? Nein! Wer seinen Hochmut liebt, will nicht zum Leib gehören, dessen Haupt Christus ist.105 Ferner sagt er: Wahr sprach Christus über einige Hirten, da er alle guten Hirten in sich enthält, als er wahrlich sagte: „Ich bin der eine und mit mir in der Einheit sind sie alle.“ 106 Weil der vorhergewusst Verworfene hingegen ein Teufelsglied ist, ist er jenem Haupt der Ordnung nach nicht verbunden. Und nachdem derselbe Augustinus gezeigt hat, dass Christus und sein Leib, der die Kirche ist, eine Person sind,107 tadelte er Tyconius, der in seiner zweiten Regel das gesamte Menschengeschlecht als den zweigeteilten Leib Christi bezeichnet. Augustinus sagt über ihn: So durfte er nicht formulieren. Denn in Wahrheit ist es nämlich nicht der Leib des Herrn, was mit ihm in Ewigkeit nicht bestehen wird. Sondern zu sprechen war über den wahren Leib des Herrn und den vermischten oder über den wahren Leib und den nur vorgeblichen. Denn über die Heuchler muss gesagt werden, dass sie nicht nur in Ewigkeit, sondern auch jetzt nicht bei ihm sind.108 Seht, wie deutlich dieser Heilige darlegt, dass die vorhergewusst Verworfenen wahrhaftig nicht zur Kirche Christi gehören. Und daraus leitet er ab: Niemand gehört zum Reich Christi, das die die Kirche ist, außer in Wahrheit der Sohn, den sich der Vater gegeben hat und über den gesagt ist, es sei nötig, dass er nicht sterbe, sondern das Bernhard von Clairvaux, Sermones de Cantico canticorum 12 (PL 183,831). 104 Ps 5,7. 105 Augustinus, Sermo 354 (PL 39,1568). 106 Augustinus, Sermones de scripturis 138 (PL 38,765). 107 Augustinus, De doctrina christiana lib. 3 cap. 31.44.98 (PL 34,82). 108 Ebd cap. 32.45.100 (PL 34,82).
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ewige Leben habe.109 Dazu sagt er an obengenannter Stelle: Es soll uns nicht beunruhigen, dass Gott einigen seiner Kinder keine solche Ausdauer gibt. Das kann nämlich nicht sein, wenn sie zu jenen Erwählten und gemäß dem Ratschluss zu den Berufenen gehörten, die wahrhaftig Kinder der Verheißung sind. Wenn diese fromm leben, werden sie als „Kinder Gottes“ bezeichnet. Wenn sie hingegen im Begriff sind, gottlos zu leben und in derselben Gottlosigkeit zu sterben, nennt er sie nicht „Kinder“ . Und Augustinus, während er am selben Ort folgendes Bibelwort behandelt: Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns,110 sagt: Sie gehörten nicht zur Zahl der Kinder. Wann nämlich besaßen sie deren Glauben? Denn diejenigen, die wahrhaft Kinder sind, sind Vorhergewusste und Erwählte, sind gleichförmig dem Bildnis des Gottessohnes und als Heilige gemäß dem Ratschluss berufen, um Auserwählte zu sein. Denn kein Kind der Verheißung geht zugrunde, sondern ein Kind des Verderbens. Folglich stammten diese aus der Menge der Berufenen: gehörten jedoch nicht zu den wenigen Auserwählten. Später merkt er dort an: Er wusste nämlich von Anbeginn, wer an ihn glauben und wer im Begriff sein würde, ihn zu verraten. Und sagte: „Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommt, es sei ihm denn von meinem Vater gegeben.“ 111 Daher verließen ihn viele seiner Jünger und begleiteten ihn nicht mehr. Wurden diese denn – nach den Worten des Evangeliums – nicht trotzdem „Jünger“ genannt? Und dennoch waren sie in Wahrheit keine Jünger, weil sie sich nicht an sein Wort hielten, gemäß seinem Spruch: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, werdet ihr meine Jünger sein.“ 112 Weil sie anders als die wahren Jünger Christi keine Ausdauer besaßen, waren sie in Wahrheit auch keine Kinder Gottes, mögen sie auch einst als solche erschienen und so genannt worden sein. Wir bezeichnen also diejenigen als Auserwählte, als Jünger Christi und als Kinder Gottes, die so zu nennen sind und von denen wir glauben, dass sie als Wiedergeborene ein frommes Leben führen. Allerdings sind sie dann erst wirklich das, als was sie bezeichnet werden, wenn sie an einer solchen Lebensführung festhalten, auf Grund derer sie ihre Bezeichnung erworben haben. Wenn es ihnen jedoch an Ausdauer mangelt, was bedeutet, dass sie nicht dabei bleiben, was sie zu sein begonnen haben, werden sie fälschlich mit einem Titel versehen, der auf sie nicht zutrifft. Bei dem, der ihre Zukunft bereits kennt, nämlich eine Wandlung vom Guten zum Schlechten, gibt es keinen solchen Irrtum.113 So weit Augustinus. Siehe! Joh 3,16. 110 1Joh 2,19. 111 Joh 6,44. 112 Joh 8,31. 113 Augustinus, De correctione et gratia in Decr. Grat. II C. 33 q. 3: De Penitentia dist. 4 c. 8: si ex bono (Friedberg 1, 1230–1232); vgl. u. S. 379, vor Anm. 124. 109
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Deutlich legt er dar, auf welche Weise viele in der Kirche sind, die von den Menschen nicht eigentlich als „Kinder“ bezeichnet werden und dennoch nicht zur Kirche gehören, weil sie in Wahrheit keine Kinder Gottes sind und nicht zum Leben der Herrlichkeit erwählt. Dasselbe wird auch von Chrysostomus verdeutlicht: Wer zu Gott gehörte, konnte nicht sterben, weil niemand sie von Gott fortreißen kann . Ableiten lässt sich dies auch aus Johannes: Meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie. Sie folgen mir und ich gebe ihnen das ewige Leben. Sie werden in Ewigkeit nicht sterben und niemand wird sie meiner Hand entreißen.114 Später beweist der Beste aller Lehrer, Christus, im Hinblick auf die Unermesslichkeit des väterlichen Geschenks – dieses Geschenk ist der Heilige Geist –, dass auf Grund der Allmacht seines Vaters niemand in der Lage ist, irgendetwas seiner Hand zu entreißen. Da aber Christus und sein Vater mit dem Heiligen Geist, der sein Geschenk ist und durch das er sich der Kirche vermählt hat, eins sind, kann folglich niemand seine Schafe seiner Hand entreißen. Denn er selbst hat für alle Ewigkeit jedes Glied der Kirche zur Ehe auserwählt. Folglich wird ihm keines verlustig gehen. Denn andernfalls hätte er ohne Voraussicht zur Herrlichkeit ausgewählt. Damit stimmt auch die Schlussfolgerung des großen Philosophen überein, der über die vorhergewusst Verworfenen, die eine Zeit lang in der Gnade geblieben sind, sagt: Wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie wohl bei uns geblieben.115 Denn dieser Bedingungssatz ist weder unmöglich noch häretisch, denn er ist vom Heiligen Geist so formuliert worden gemäß dem Wort: Ihr seid es nämlich nicht, die reden, sondern es ist eures Vaters Geist, der durch euch spricht.116 Dazu sagt auch der Apostel wie oben in der Darlegung, wo er beweist, während er über sich und die Erwählten, also die Glieder der Kirche, spricht, dass sie kein Geschöpf von der Liebe, die in Jesus Christus ist, trennen kann.117 Der sammelt seine Glieder sanft, denn die Liebe der Erwählung hört nicht auf . 118 Daher sagt der Apostel: Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich: vorausgesetzt, dass Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, ist er nicht sein.119 Und er versteht es so, dass er kein Teil seines Leibes ist. Mit folgendem Argument kann dem widersprochen werden: Ein vorhergewusst Verworfener, der auf Zeit in der Liebe steht, lebt in dieser Verbindung und folglich auch in der Einheit mit Christus. Ebenso entbehrt ein Erwählter, der verbrecherisch lebt, dieser Verbindung und folglich der Einheit mit Christus. Offensichtlich ist jedoch: Wie im menschlichen Körper eine fließende und eine grundständige Feuchtig114
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keit anzunehmen ist, so ist auch in Christi geheimnisvollem Leib eine Gnade gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit und eine vollkommene Gnade. Denn wie Geschwüre durch die fließende Feuchtigkeit hinzugekommen sind – auf Grund natürlicher Verschiedenheit nicht mit der grundständigen verbunden –, so ist es auch mit den Anhängern des Teufels, mögen sie auch eine Zeit lang gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit hinzugekommen sein. Aber die Erwählten, mögen sie auch auf Zeit der fließenden Gnade beraubt werden, besitzen dennoch die grundständige Gnade, aus der sie nicht heraus fallen können. Und so sind die Erwählten, bereits Gerechte einschließend, durch ein zweifaches Band verbunden. Aber dem wird widersprochen: Aus dem Gesagten folgt nämlich das Zugeständnis, dass derselbe Mensch zur selben Zeit gerecht und ungerecht ist, gläubig und ungläubig, wahrer Christ und Ketzer, in besonderer Gnade und ohne Gnade, das heißt ohne Liebe – usw. mit weiteren gegensätzlichen Bezeichnungen, aus denen ein offensichtlicher Widerspruch folgt. Hierzu wird gesagt: Es ist einzuräumen, dass derselbe Mensch gleichzeitig gerecht und ungerecht ist. Aber es ist widersprüchlich, dass einer in Bezug auf dieselbe Sache gleichzeitig gerecht und ungerecht ist, so wie es auch widersprüchlich ist, dass demselben Menschen gleichzeitig Gegensätze in Bezug auf die gleiche Sache innewohnen. Doch sind die oben genannten Bezeichnungen auf Grund ihrer Mehrdeutigkeit nicht widersprüchlich, weil nach dem Philosophen120 nur eine Bezeichnung im Gegensatz zu einer anderen stehen kann. Und so ist derselbe Mensch durch die Gnade der Erwählung gerecht und ungerecht durch verderbliche Lasterhaftigkeit. So war es auch um Petrus und Paulus bestellt: Der eine verleugnete Christus, der andere verfolgte ihn. Doch aus der Liebe der Erwählung waren beide damals nicht gefallen, standen folgerichtig hinsichtlich dieser Liebe in der Gnade und waren somit gerecht. Aber zu jener Zeit in verbrecherisches Handeln verstrickt, waren sie sowohl zeitweise der fließenden Gnade beraubt als auch ungerecht. Wird jedoch eingewandt: Damals waren sie also ungerecht und folglich keine Gerechten, dann verneint man die erste Folgerung. Denn die Schlussfolgerung, die aufgrund der Beraubung zur Verneinung führt, ist ungültig, außer mit der Einschränkung, wie sie in nachstehender Aussage folgt: Petrus und Paulus waren ungerecht und demzufolge gemäß der gegenwärtigen Gnade nicht gerecht. Folgender Schluss ist richtig und ebenso richtig die Einwendung: Gemäß der Gnade der 120
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Erwählung waren sie gerecht und gemäß der gegenwärtigen Gnade ungerecht. So war Paulus gleichermaßen gläubig gemäß der Erwählung und ungläubig gemäß des Verfolgungshandelns. Er war ein Israelit gemäß der Erwählung und ein Gotteslästerer gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit. Er stand in der Liebe der Erwählung und war lieblos, das heißt, er stand nicht in der Liebe der gegenwärtigen Gerechtigkeit. Aus Hosea abgeleitete Worte desselben Paulus liefern die gültige Bestätigung. Er sagt: Ich werde das Volk, das nicht meines ist, als mein Volk bezeichnen und welche ich nicht geliebt habe als meine Geliebte und die nicht Begnadete als Begnadete. Und an dem selben Ort, an dem ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, wird es geschehen, dass sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden.121 Daher verstehen nur diejenigen diese und ähnliche Schriftstellen, die wissen, dass es keinen Widerspruch gibt, außer wenn Gegensätzliches bezüglich derselben Sache und für denselben Zeitpunkt in ihm enthalten sind. Deshalb räumen diejenigen, die sich mit der Erörterung eines Themas auskennen, ein, dass Christus während der drei heiligen Tage tot war und lebendig. Ambrosius sagt sogar: Er starb und starb nicht. Denn er lebte im Geist und war tot im Leib: Starb wie ein Mensch und starb nicht wie Gott.122 Auch der Apostel sagt, dass eine Witwe, die ausschweifend lebt, tot ist, weil sie im Fleisch lebt, nicht aber im Geist.123 Und es ist klar, dass aus dem bereits Gesagten weder Gegensätzliches noch Widersprüchliches folgt. Letztendlich ist deutlich: Kein vorhergewusst Verworfener ist in Wahrheit ein Teil der heiligen Mutter Kirche. Denn wenn der heilige Thomas oder irgendein anderer einen vorhergewusst Verworfenen als „Glied der Kirche in der Gnade“ bezeichnet hat, dann unterlegt er Augustinus und der Heiligen Schrift einen anderen Sinn, indem er volkstümliches Sprechen aufnimmt und die kämpfende Kirche in Erwägung zieht. Aus diesem Grund ist oben der Ausspruch des Augustinus angeführt: Wenn es ihnen jedoch an Ausdauer mangelt, was bedeutet, dass sie nicht dabei bleiben, was sie zu sein begonnen haben, werden sie fälschlich mit einem Titel versehen, der auf sie nicht zutrifft. Bei dem, der ihre Zukunft bereits kennt, nämlich eine Wandlung vom Guten zum Schlechten, gibt es keinen solchen Irrtum.124 Diese Aussage des Augustinus muss jeglichen Einwänden entgegenstehen, bei denen Zweideutigkeit festzustellen ist. Röm 9,25 f. 122 Wohl frei nach Ambrosius, De Incarnationis Dominicae Sacramento I c. 5, 37. 123 1Tim 5,6. 124 Augustinus, De correctione et gratia in Decr. Grat. II q. III: De Penitentia dist. 4 can. 8 si ex bono (Friedberg 1,1232); vgl. o. S. 376, vor Anm. 113. 121
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Kapitel 5 Jetzt muss noch etwas zu den Autoritätsbeweisen, die im 3. Kapitel zur Gegenargumentation angeführt worden sind, gesagt werden. Zu ihrem Verständnis ist festzuhalten, dass man die Menschen in der heiligen Kirche auf unterschiedliche Weise benennt. Denn von einigen sagt man, dass sie nur mit einem ungeformten Glauben Glieder der Kirche sind, so wie die vorhergewusst in Sünden verstrickten Christen, von denen der Herr sagt: Was nennt ihr mich „Herr, Herr“ und tut nicht, was ich euch befehle?125 Und: Viele werden an jenem Tag zu mir sagen „Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen Großes gewirkt?“ Dann aber werde ich vor ihnen bekennen: „Ich kenne euch nicht“ , nämlich als Menschen, die gerettet werden. „Weicht alle von mir, die ihr ungerecht handelt.“ 126 Andere aber sind in der Kirche allein nach gegenwärtigem Glauben und gegenwärtiger Gnade, so wie die vorhergewusst verworfenen Gerechten, die nicht aufgrund der Erwählung zum ewigen Leben in der Kirche sind. Andere sind in der Kirche allein nach der Erwählung, so wie die ungetauften Christenkinder und die Heiden oder Juden, die zukünftig Christen werden, andere nach dem ungeformten Glauben und nach der Erwählung, so wie die erwählten Christen: jetzt in Sünden, aber auf dem Rückweg zur Gnade. Andere gehören zur Kirche nach der Erwählung und der gegenwärtigen Gnade, so wie alle erwählten Christen, die Christus in ihrem Lebenswandel nachfolgen, jedoch in diesem Leben aus der wirkenden Gnade herausfallen können. Andere gehören in die bereits triumphierende Kirche und stehen fest in der Gnade. Alle aber sind unterteilt in vorhergewusst Verworfene und Erwählte: Erstere sind am Ende Teufelsglieder, letztere127 Glieder des mystischen Leibes, der die heilige Kirche ist, die Braut Jesu Christi. Darum sind im ersten Autoritätsbeweis (Fischernetz)128 die Erwählten durch gute Fische angezeigt, aber die vorhergewusste Verworfenen durch schlechte Fische, die zukünftig ausgesondert sein werden. So sagt der selige Gregor: Man kann die heilige Kirche mit einem ausgeworfenen Fischernetz vergleichen, weil sie ebenfalls von Fischern zusammen gebracht worden ist. Beachte diese erste Ähnlichkeit! Durch die Kirche wird jedermann aus den Fluten des gegenwärtigen Zeitalters zum ewigen Königreich gezogen, nämlich durch Berufung, damit keiner im ewigen Abgrund des Todes versinkt. Beachte diese zweite Ähnlich125 Lk 6,46. 126 Mt 7,22 f. mit Ps 6,9. 127 S. die Anspielung auf Mt 19,30 und Par: Die Ersten werden die Letzten sein … 128 S. o. S. 363.
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keit! Die Kirche verbindet Fische jeder Art, weil sie Weise und Narren, Freie und Sklaven, Arme und Reiche, Starke und Schwache zur Vergebung der Sünden ruft. Beachte diese dritte Ähnlichkeit! Folglich hüte sich ein Fälscher vor der Folgerung: Die heilige Kirche vereint durch Berufung Menschen aller Art.129 Also sind alle Menschen, die zum Glauben an Christus berufen sind, Glieder der heiligen Kirche, der Braut Christi. Darum zeigt der selige Gregor im Schlussverfahren die Erwählten und die Verworfenen und sagt: Deshalb , nämlich am Ende der Zeit, werden die guten Fische in Gefäßen gesammelt, die schlechten aber weggeworfen. Denn jeder Erwählte wird in die ewigen Hütten aufgenommen; aber die Verworfenen, des Lichts des ewigen Reiches verlustig gegangen, werden in die äußerste Dunkelheit geführt. Jetzt nämlich enthält das Fischernetz des Glaubens gemeinsam gute Fische , d. h. die Erwählten, und schlechte Fische, d. h. die vorhergewusst Verworfenen, gewissermaßen vermischt. Siehe diese vierte Ähnlichkeit! Das Fischernetz aber bezeichnet die Begrenzung der heiligen Kirche, einen Gedanken, den er – wegen der Berufung zum Glauben nämlich – heranzog. Der selige Gregor fügt hinzu: Gewiss können die im Meer gefangenen Fische nicht mehr verbessert werden, wir aber werden als schlechte gefangen, aber grundhaft in Gutsein verändert .130 Damit hat er einen Hinweis gegeben, dass Erwählte, die schlecht sind, am Ende zu guter Beschaffenheit verändert werden. Die Stimme also des seligen Gregor ist die Stimme der Erwählten, die mit schlechter Beschaffenheit geschlagen, von der heiligen Kirche durch die heilige Taufe oder durch die Buße zu guter Beschaffenheit zurückgerufen werden. Aufgrund dieser Überlegungen liegt auch die Auslegung des zweiten Autoritätsbeweises (Hochzeitsfest)131 offen vor Augen. In ihr werden Gute und Schlechte durch den Glauben verbunden, die in der heiligen Kirche vermischt sind. Aber die Schlechten sind keine wahrhaften Kinder, so wie sie auch keine wahrhaften Freunde sind, da sie ja kein Hochzeitsgewand haben, welches die Liebe der Erwählung ist. Darum wird der König des Hochzeitsfestes zu ihnen wie gewissermaßen zu dem einen sagen: Freund, warum bist du hier eingetreten und hast kein Hochzeitsgewand an? 132 Hierzu sagt Gregor: Man muss sich doch sehr wundern, teuerste Brüder, dass er diesen in einem Atemzug „Freund“ nennt und ihn verwirft, so als wenn er angemessener sagte: „Freund und Nicht-Freund zugleich: Freund durch den Glauben, Nicht-Freund durch das Handeln.“ 133 So weit Gregor. 129 132
Ebd. 130 Gregor d. Gr., Homilia in evangelia 11 (PL 76,1116). 131 S. o. S. 363 f. Mt 22,12. 133 Gregor d. Gr., Homilia in evangelia 38 (PL 76,1289).
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Auch die Auslegung des dritten Autoritätsbeweises (der Menschensohn und seine Engel)134 ist deutlich, weil sie aus dem Reich der heiligen Kirche alles Schändliche heraus sammeln, d. h. diejenigen, die Unrecht tun, d. h., die Sünde notorischer Unbußfertigkeit begehen. An dieser Stelle werden auch die vorhergewusst Verworfenen behandelt. Zum vierten Autoritätsbeweis135 – er lautet: Wer also eines von diesen kleinsten Geboten bricht – äußert sich der selige Augustinus in der Johannesauslegung zum Vers: „Simon Petrus zog das Netz voller großer Fische an Land: 153 Stück“,136 der Sache gemäß. Wer also, sagt er, eines von diesen kleinsten Geboten bricht und die Leute entsprechend belehrt, den wird man im Himmelreich „Kleinster“ nennen. Wer sie aber tut und lehrt, den wird man im Himmelreich groß nennen .137 Dieser also wird zur Zahl der großen Fische gehören können. Jener „Kleinste“ aber, der mit Taten zunichte macht, was er mit Worten lehrt, kann in der Kirche sein, wie sie jener erste Fischfang zeigt: eine Kirche, die Gute und Schlechte enthält, und man sie deshalb auch „Himmelreich“ nennt, weil er sagt: „Das Himmelreich gleicht einem Netz, das ins Meer geworfen ist und Fische aller Art vereint.“ Dort will er auch Gute und Schlechte verstanden haben, die er „am Ufer zu unterscheidende“ nennt, d. h. am Ende der Zeit. Dann, damit er zeigte, dass diese Kleinsten Verworfene sind, die mit Worten Gutes lehren, was sie im Leben zunichte machen, zeigte er sie gewissermaßen auch nicht als zukünftig Kleinste im ewigen Leben, sondern als solche, die dort überhaupt keine Zukunft haben. Als er gesagt hatte: „Er wird ,Kleinster‘ im Himmelreich genannt werden“, schärfte er unmittelbar darauf ein: „Ich sage euch jedoch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreichreich eintreten.“ 138 Jene sind sicherlich die Schriftgelehrten und Pharisäer, die auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen und von denen er sagt: „Tut, was sie sagen, tut aber nicht, was sie tun. Sie reden nämlich und tun es nicht.“ 139 Sie lehren in Predigten, was sie durch Gewohnheit brechen. Es folgt also notwendigerweise: Wer der Kleinste im Himmelreich ist, wird, wie es jetzt um die Kirche beschaffen ist, nicht ins Himmelreich eintreten, so wie es dann um die Kirche beschaffen sein wird. Denn durch das Lehren, was er im Leben bricht, wird er nicht zur Gesellschaft derer gehören, die tun, was sie lehren, und wird darum nicht zur Anzahl der großen Fische gehören. Denn „wer die Gebote tut und 134 S. o. S. 364. 135 Ebd. 136 Vgl. Mt 11,11 . (etwas abweichend von Vg.).
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lehrt, den wird man im Himmelreich groß nennen“. Und weil er hier groß war, wird er also dort sein, wo jener Kleinste nicht sein wird. So groß werden sie freilich dort sein, dass, wer dort kleiner ist, größer ist im Vergleich zu denen, die hier groß sind, d. h. im Himmelreich ,140 wo das Fischernetz Gute und Schlechte vereint. Die also das Gute tun, das sie lehren, werden selbst die Größeren sein in der Ewigkeit des Himmelreichs. Sie werden durch jene Fische als die bezeichnet, die zur Rechten und zur Auferstehung des Lebens gehören.141 So weit Augustinus. In seinen Worten wird der gleiche Sinn festgehalten wie aus denen Gregors, weil die Kirche Erwählte und vorhergewusst Verworfene im Glauben sammelt. Zweitens wird festgehalten, dass jene, die in der Kirche lehren – und zwar diejenigen, die einerseits die ehrenvollen Lehrstühle innehaben und andererseits Gottes Gebote brechen –, Verworfene sind. Augustinus redet so, um zu zeigen, dass diese Kleinsten, die mit Worten Gutes lehren, was sie im Leben zunichte machen, Verworfene sind, und dass sie nicht einmal zukünftig die Kleinsten im ewigen Leben sein werden, sondern dort überhaupt keine Zukunft haben. Drittens wird festgehalten, dass die gläubigen Christen, die die Gebote Gottes durch die Tat erfüllen, groß sind in Gottes heiliger Kirche. Die leitenden Prälaten aber, die die Gebote brechen, die Kleinsten. Und sind sie vorhergewusst Verworfene, dann werden sie nicht in Gottes Reich sein. Also mögen die Schüler des Antichrists schamrot werden, die Christus zuwider leben und sagen, dass sie die Größten in der heiligen Kirche sind. Und die überaus Hochmütigen und diejenigen, die in Habgier und Stolz der Welt wirken, und sich öffentlich als Haupt und Körper der heiligen Kirche bezeichnen, die muss man nach dem Evangelium Christi die Kleinsten nennen. Viertens wird festgehalten: Die 153 großen Fische, zur Rechten des Bootes gefangen, bezeichnen die Erwählten, unter welchen die im Vergleich mit den übrigen die größeren sind, die Gottes Gebote gelehrt und gehalten haben. Zur fünften Beweisführung aus dem Evangelium: Er selbst wird euch taufen im Heiligen Geist,142 etc., wird eingeräumt, dass die heilige Kirche die Tenne Gottes ist, auf der jetzt gemäß dem Glauben Gute und Schlechte, Erwählte und vorhergewusst Verworfene vermischt sind: die Erwählten wie der Weizen, die vorhergewusst Verworfenen wie die Spreu. Erstere werden in die Scheune der himmlischen Heimat gesammelt, die anderen in unauslöschlichem Feuer verbrennen, so, wie es das 140 142
Joh 21,11. 141 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 121,9 zu Joh 21,11. Lk 3, 16; s. o. S. 364.
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Evangelium und die Auslegung des Augustinus sagen. Aber wie Spreu immer Spreu bleibt, bleibt ein vorhergewusst Verworfener immer ein vorhergewusst Verworfener. Selbst wenn er zuweilen aus Gnade durch die gegenwärtige Gerechtigkeit lebt, ist er dennoch niemals ein Teil der heiligen Kirche. Und wie Weizen immer Weizen bleibt, so bleibt ein Erwählter immer ein Erwählter und ein Glied der Kirche. Mag er auch einmal aus der äußeren Gnade herausfallen, so doch nicht aus der Gnade der Erwählung. Daher wird im Anschluss an einen Satz des Augustinus festgehalten: Folglich: ob sie nach innen gewendet erscheinen oder nach außen hin offengelegt – weil Fleisch Fleisch ist –, ob sie auf der Tenne in ihrer Unfruchtbarkeit ausharren oder gelegentlich einer Versuchung wie vom Wind nach außen getragen werden – weil Spreu Spreu ist, so ist auch derjenige, der der Versammlung der Heiligen in fleischlichem Verstocktsein beigemischt ist, immer von der Einheit jener Kirche geschieden, die ohne Fehler und Runzel ist. Freilich muss man über niemanden verzweifeln, ob er sich innen so beschaffen zeigt, oder sichtbar nach außen aufgedeckt wird .143 So weit Augustinus. Darauf bezogen sagt Johannes, der Täufer des Herrn, dass dieser Herr – nämlich am Tag des Gerichts – seine Tenne – d. h. die heilige Kirche – selbst reinigen und den Weizen in die Scheune sammeln wird – d. h. die Erwählten in die Heimat. Die Spreu jedoch, d. h. die vorhergewusst Verworfenen, wird er verbrennen in einem unauslöschlichen Feuer.144 Deshalb sagt Augustinus wie hier bereits angeführt: Halte bis auf das Äußerste daran fest und zweifle nicht daran, dass die katholische Kirche die Tenne Gottes ist und dass dem Getreide, das sich auf ihr befindet, bis ans Ende der Zeit Spreu beigemischte ist. Hier mischen sich auch Gute und Schlechte durch die Gemeinschaft der Sakramente; auch gibt es in allen Berufen, ob es sich um Kleriker oder Laien handelt, zugleich Gute und Schlechte. Und weiter: Am Ende der Zeit aber müssen die Guten von den Schlechten auch körperlich getrennt werden, wenn Christus kommt, mit einer Wurfschaufel in seiner Hand, und seine Tenne säubern und den Weizen in die Scheune sammeln wird. Die Spreu jedoch wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen. Denn in einem gerechten Verfahren145 wird er die Gerechten von den Ungerechten absondern, die Guten von den Schlechten, die Geradlinigen von den Verkehrten. Die Guten wird er zur Rechten stellen, die Schlechten zur Linken. Und nachdem aus dem Mund seines ewig gerechten Gerichts ein ewiges und unveränderliches Urteil ergangen ist, gehen alle Ungerechten ins ewige VerAugustinus, In Ioannis evangelium tractatus, nach Decr. Grat. II C. 32 q. 4 c. 2 (Friedberg 1,1127). 144 Lk 3,17. 145 Vgl. Mt 25,33–46.
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brennen, die Gerechten aber ins ewige Leben. Die Ungerechten werden immer mit dem Teufel brennen, die Gerechten aber herrschen ohne Ende.146 So weit Augustinus. Die Auslegung der heiligen Väter zeigt deutlich, wie die vorhergewusst Verworfenen in Christi Gleichnissen dargestellt werden: durch schlechte Fische, schlechte Hochzeitsgäste, durch einen Menschen, der auf einer Hochzeit kein Festgewand trägt, durch Spreu, Unkraut, schlechten Samen, einen schlechten Baum, durch törichte Jungfrauen und durch Böcke. Genau andersherum werden die Erwählten dargestellt: durch gute Fische, gute Gäste, durch einen Menschen, der ein Festgewand trägt, durch Weizen, guten Samen, einen guter Baum, durch kluge Jungfrauen und Schafe. Nach gegenseitiger Abwägung dieser Dinge muss sich der Gläubige vor nachstehender Folgerung hüten: In der heiligen Kirche Gottes gibt es vorhergewusst Verworfene – also sind sie ein Teil von ihr. Denn es ist gesagt, dass das In-derKirche-Sein etwas anderes ist als das Von-der Kirche-Sein bzw. ein Teil der Kirche oder ihr Glied zu sein. Man kann also nicht – wie es der vorangestellte Satz zeigt – folgern: Spreu oder Unkraut sind im Weizen oder dem Weizen beigemischt – also ist Spreu Weizen. Gleichermaßen gilt auch nicht: Dreck oder Geschwür sind im Körper des Menschen – also sind sie ein Teil von ihm. Ebenso nicht: Der vorhergewusst Verworfene ist im geheimnisvollen Leib der Kirche – also ist er ein Teil von ihr. Wiederum gilt auch diese Folgerung nicht: Einer steht in der Gnade gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit – also ist er Teil oder Glied der heiligen katholischen Kirche. Aber das Folgende gilt sehr wohl: Einer steht in der Gnade der Erwählung – also ist er Teil oder Glied der heiligen Kirche. Folgendes gilt wiederum nicht: Petrus ist in ein Verbrechen verstrickt – also ist er kein Teil oder Glied der heiligen Kirche. Aber es folgt sehr wohl daraus, dass er dann gemäß der Gnade, die die gegenwärtige Gerechtigkeit gewährt nicht in der Kirche ist. Auf diese Weise argumentierend erkennt man, indem man unterscheidet, was es heißt, in der Kirche zu sein, bzw. Glied oder Teil der Kirche zu sein. Man erkennt, dass die Erwählung zu einem Glied der heiligen katholischen Kirche macht, welche die Vorbereitung der Gnade in der Gegenwart ist und des Ruhmes in der Zukunft, nicht jedoch eine Art von Würde oder eine Auswahl nach Menschenart oder irgendein sinnlich wahrnehmbares Zeichen. So war der Teufel Judas Ischariot, dessen Wahl Christus nicht hinderte und dem die zeitlichen Begabungen für 146
Augustinus incertus, De regula verae fidei c. 43 (PL 40,777).
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das Apostel- oder Bischofsamt gegeben waren – darum glaubte das Volk, dass er ein wahrer Schüler Christi war – wahrhaft kein Schüler Christi, sondern ein Wolf im Schafspelz , wie Augustinus sagt.147 Folglich war er kein Erwählter und somit auch kein Teil der Kirche, der Braut Christi. Daraus ist offenbar, dass es eine überaus große Vermessenheit wäre, wenn jemand ohne Offenbarung noch Ehrfurcht sich zu behaupten anmaßte, selbst ein Glied jener heiligen Kirche zu sein. Denn niemand außer einem Erlösten, zu seiner Zeit ohne Fehler oder Runzel, ist Glied jener Kirche. Aber niemand ohne Ehrfurcht oder Offenbarung würde sich anmaßen, selbst ein Erwählter und Heiliger zu sein, ohne Fehler oder Runzel. So also die Schlussfolgerung. Deshalb ist es sehr verwunderlich, mit welcher Unverschämtheit sich diese Leute ohne Ehrfurcht zu behaupten anmaßen, sie wären Häupter oder Leib oder hervorragende Glieder der Kirche, der Braut Christi – sie, die eher dem Weltlichem ergeben sind, die eher weltlich und maßlos und weit entfernt von Christi Lebenswandel leben, mehr noch, die unfruchtbar sind, Christi Ratschlag und Gebot zu erfüllen. Wir glauben nicht, dass jene ohne den Fehler einer Todsünde oder die Runzel einer lässlichen Sünde sind, während sie uns durch das Verwüsten von Christi Ratschlag und seines Gebots, durch Müßiggehen im heiligen Amt und ihre Werken lehren, eher das Gegenteil wahrzunehmen. Denn der Bräutigam der Kirche sagt: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen – und – Glaubt den Werken! – und – Handelt nicht nach ihren Werken; sie reden nur, tun aber nichts.148 Doch dagegen wird erstens angeführt: Jeder Geistliche ist durch die unauslöschliche Zeichenhandlung, die ein bischöflicher Vorsteher aufgrund der Erwägung der Kirche an ihm vollzogen hat, ein Teil der heiligen Mutter Kirche. Aber nur die Gesamtzahl solcher Geistlicher ist – nach Art der „Antonomasie“ gesprochen149 – die Kirche: Diese Gruppe müssen wir besonders ehren, weil andernfalls daraus folgen würde, dass die Christen ihre Mutter nicht kennen. Denn gegenüber einer Unbekannten könnten sie ja ihre dinglichen Verbindlichkeiten wie Opfer und Zehnte nicht begleichen, und in der kämpfenden Kirche entstünde riesige Verwirrung.
Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 45, 8 zu Joh 10,1–10 (PL 36,1723). Mt 7,20; Joh 10,38; Mt 23,3. 149 Umschreibung des Begriffs „Kirche“ durch eine Wortverbindung („Gesamtzahl solcher Geistlicher“), auf welche „Kirche“ insbesondere zutrifft. 147 148
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Folgendes, um das Vorangehende zu verneinen: Mit Judas nämlich gibt es ein Beispiel einer Wahl zum Bischofsamt durch Christus, der nicht irren konnte. Judas war nämlich ein vorhergewusst Verworfener und – wie es Augustinus beweist – zu keiner Zeit ein wahrer Jünger Christi. Aber er war ein Wolf im Schafspelz und immer Spreu, war Samenkorn für Schwindelhafer oder Unkraut.150 Auf die gleiche Art wird der zweite Teil des Vorangehenden verneint. Denn die Kirche – nach Art der „Antonomasie“ gesprochen – ist die Braut Christi, die – wie schon gesagt – die Gesamtheit der Erwählten ist.151 Wenn nämlich diese Gesamtheit selbst die vorrangigste Braut Christi ist, dann ist sie – nach Art der „Antonomasie“ gesprochen – die heilige Kirche, weil sie selbst die einzige Taube ist, die Königin, die zur Rechten des Königs steht und der man zarte Jungfrauen zuführt. Daher ist es wie zur Zeit des irdischen Wandels der Geistlichkeit, mit der Christus Umgang pflegte: Dieselbe Geistlichkeit – Hohepriester, Priester und Pharisäer, alle Ränge der Priesterschaft – beachtete die Überlieferungen nicht, die sie selbst mit der Beteuerung festgesetzt hatte, Gott zum Vater zu haben, der Samen Abrahams zu sein und niemandem jemals zu dienen.152 Auch unter Beifall des Volkes sind all diese Dinge nicht geschehen, damit jene Geistlichkeit in Wahrheit die heilige Kirche – nach Art der „Antonomasie“ gesprochen – mit Christus sei. Der sagt bei Matthäus über sie, dass die Jünger aufhören sollten, an ihnen Anstoß zu nehmen, weil sie Blinde sind und Blindenführer. 153 Somit steht fest, dass eine Teilmenge aus der Gesamtzahl der Geistlichkeit nicht deshalb die heilige Kirche – nach Art der „Antonomasie“ gesprochen – ist, weil jene Gesamtzahl behauptet, dass sie jene heilige Kirche sei. Und es ist offenbar, dass drei Folgerungen nicht gelten: In der ersten wurde vorgebracht, weil auf andere Weise gefolgert, dass die Christen ihre Mutter nicht erkennen würden, obwohl wir doch unsere Mutter so wie die triumphierende Kirche im Glauben erkennen müssen. Christus, seine Mutter und seine Apostel mit den seligen Engeln und den vielen Heiligen erkennen wir aus dem Glauben. Aber wir, die wir lebend schlafen, erkennen nur reichlich verwirrt und unvollkommen. Wenn aber kommen wird, was vollkommen ist, wird das Stückwerk abgetan werden .154 Denn in der himmlischen Heimat werden wir mit den anderen unsere Mutter klar schauen. Der Gläubige soll darüber nicht murren, sondern sich mitfreuen an der Wahrheit, dass die heilige Mutter Kirche für ihn nur hier in diesem Leben unsichtbar ist. Denn darauf 150
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Vgl. Mt 7,15; 3,12; 13,25–30.37–40. 154 1Kor 13,10.
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Vgl. Joh 8,41.33.
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beruht das Verdienstliche am christlichen Glauben. Denn nach Paulus ist der Glaube die Grundlage der Dinge, die man hofft, ein Beweisgrund für Dinge, die man nicht sieht ,155 d. h. hier, auf dem Weg sind diese Dinge für uns nicht sinnlich wahrnehmbar. Wir schauen nicht auf sinnliche Weise den Grundsatz der Erwählung oder der Liebe, die nicht verloren geht, die das Hochzeitsgewand ist, das ein Glied der Kirche von einem Teufelsglied unterscheidet. Denn nach Augustinus ist der sich vollziehende Glaube ein Glauben dessen, was du nicht siehst . Das Gegenteil der zweiten Folgerung ist damit auch offenbar: Denn wir erfüllen die Verbindlichkeit gegenüber der heiligen Kirche, indem wir – die wir Christus zum Hohepriester haben – seinen Dienern, die wir aufgrund ihrer Werke unserem verwirrten Glauben nach für Diener halten, für die leibliche Erhaltung zeitliche Güter aufwenden. Gleiches gilt auch für die Armen, von denen wir verwirrt unterstellen, dass sie Glieder Christi sind. Auf den Einwand hin: Jeder Laie sei gehalten, von seinen geistlichen Vorstehern zu glauben, dass sie selbst Häupter der Kirche und Teile der Kirche sind, sowohl nach der Erwählung als auch nach der gegenwärtigen Gerechtigkeit, wird hier gesagt: Ein Laie ist gehalten, von seinem Vorgesetzten nichts als die Wahrheit zu glauben. Es ist klar, dass niemand gehalten ist, etwas zu glauben, außer Gott bewegt ihn dazu. Gott aber bewegt den Menschen nicht zu falschem Glauben, auch wenn gelegentlich aus falschem Glauben irgendwann etwas Gutes hervorgehen, und Gott zum Wesen eines Handelns bewegen mag. Gott bewegt freilich den Menschen nicht so, dass er getäuscht wird. Deshalb wäre der Glaube eines Laien bzw. sein Glauben falsch, wenn der von seinem geistlichen Vorgesetzten glaubte, dieser sei ein heiliges Glied der Kirche, es aber doch nicht wäre. Also ist der Pfarrer gehalten, durch Erweis tugendhafter Werke den Untergebenen daran zu erinnern, dass er ein Glied der Kirche ist. Wenn dann der Untergebene die tugendhaften Werke seines Vorgesetzten nicht erkennt, ist er auch nicht gehalten, zu glauben, dass er es nach der gegenwärtigen Gerechtigkeit ist und – mit Ehrfurcht und gewissem Vorbehalt, dass er es überhaupt ist, gemäß der Erwählung nämlich. Aber wenn er dessen Vergehen offenkundig erkennt, dann muss er aus dem Werk unterstellen, dass der Vorgesetzte kein Gerechter ist, sondern ein Feind Christi. Auch ist offenbar, dass im dritten Schluss falsch gefolgert wurde: Es gibt nämlich keine Verwirrung in der kämpfenden Kirche von daher, dass wir ohne Offenbarung die Glieder des geheimnisvollen Leibes 155
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Christi noch nicht deutlich erkennen, solange der noch auf dem Weg zur Heimat ist. Aber dazu wird noch weiter eingewandt: Weil die Gnade zu Kindern der Kirche macht wie die Sünde zum Teufelsglied oder auch zu Ungläubigen, scheint ein Mensch ein Glied der Kirche werden zu können, nachdem er ein Ungläubiger war, so wie aus einem Glied der Kirche auch ein Teufelsglied werden kann. Denn wer bezweifelt, dass Ischariot, als er ein wahrer Apostel war, auch ein Glied der Kirche war? Oder wie Paulus, der, als er ein Lästerer war, von der heiligen Mutter Kirche getrennt war? Hierzu wird gesagt: „Kirche“ kann im wahren und anrechnenden bzw. vermeintlichen Sinn verstanden werden. Im wahren Sinn ist es, wie gesagt, die Bezeichnung für die Erwählten. Im vermeintlichen Sinn meint „Kirche“ auch die Versammlung der vorhergewusst Verworfenen, sei das auch aufgrund eines baren Irrtums der Erden-Wanderer über die heilige Mutter Kirche geschehen. So werden auch viele nach dem Ruhm der Welt Häupter oder Glieder der Kirche genannt, auch wenn sie nach Gottes Vorherwissen Teufelsglieder sind, die eine Zeit lang glauben und später abfallen oder auch jetzt und immer Ungläubige sind. Von dieser Art waren, wie oben nach Augustinus gesagt worden ist, die Jünger Christi, die nach rückwärts weggingen und nicht mehr mit der Schar wandelten . Gleicherweise Ischariot, der ein erheuchelter Jünger Christi war, von dem Augustinus sagt, als er aufzeigt, wie die Schafe die Stimme Christi hören: Aber was , sagt er, meinen wir? Die sie hörten, waren das Schafe? Siehe, Judas hörte sie und er war ein Wolf. Er stand in der Nachfolge, aber er stellte dem Hirten nach – in einen Schafspelz gehüllt .156 So weit Augustinus. Auf diese Weise zählt man viele im Sinn der Zurechnung oder gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit zur Kirche, aber wahrlich nicht gemäß der Erwählung zur Herrlichkeit. Wer aber diese sind, lehrt Augustinus und sagt: Der Herr kennt, die zu ihm gehören. Er kennt sie, die bis zur Krone und bis zum Höllenfeuer ausharren. Auf der Tenne kennt er seinen Weizen, kennt die Spreu, kennt die Saat, kennt das Unkraut. Den Übrigen aber ist unbekannt, wer die Tauben und wer die Raben sind.157 Kapitel 6 Ich sprach über die heilige katholische Kirche, die den mystischen Körper Christi darstellt und dessen Haupt er selbst ist. Nunmehr muss in aller Kürze über die Kirche der Niederträchtigen gesprochen werden, 156 157
Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 45,8 zu Joh 10,1–10 (PL 35,1723). Ebd.
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die den Leib des Teufels unter seinem Haupt bildet. Der selige Gregor sagt nämlich: Wie unser Erlöser mit der Versammlung der Ehrbaren zusammen eine Person darstellt – denn er selbst ist das Haupt des Körpers und wir sind der Körper dieses Hauptes –, so bildet der Erzfeind zusammen mit der Schar der Verworfenen eine Person, da er diese gleichsam als Haupt zur Sündhaftigkeit leitet .158 Daher ist es offenkundig, dass alle Verworfenen einen Körper bilden.159 Demgemäß sagt Christus zu den Juden, den höchsten Priestern und Pharisäern, die als Dienstherren der Kirche galten: Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt die Gelüste eures Vaters ausleben.160 Dies zeigt deutlich, dass unumgänglich eine menschliche Natur existiert, die schlecht in allgemeinen Dingen, schlechter in weltlicher Verantwortung und am schlechtesten als Prälaten agiert, so wie die Natur der Rechtschaffenen ebenfalls drei unterschiedliche Stufen als jeweilige Gegenstücke zu diesen bildet. Wenn nun dementsprechend eine Schar von Niederträchtigen existiert, ist es unumgänglich, dass es auch einen niederträchtigen Menschen gibt, der alle Teile, die Glieder des Teufels, zusammenhält. Und weil es weder ein Glied noch ein Haupt außer in der Verbindung eines vollständigen Körpers geben kann, existiert eindeutig ein Leib des Teufels. Wenn allerdings Christi Körper auf Grund des Mysteriums der himmlischen Hochzeit zwischen Christus und der Kirche mystisch genannt wird, ist der Körper des Teufels nicht derart mystisch, sondern dunkel, denn mit dem Teufel verbunden zu werden, führt nicht geradewegs zu einem Mysterium, sondern in eine Geißelung. Und so hat der Körper des Teufels ein natürliches Wesen, denn nach Augustinus (De Natura Boni ) wird alles Schlechte zwangsläufig auf etwas Gutes zurückgeführt, da folglich alles Schlechte der Moral seine Wurzeln im Guten der Natur hat. Und neben diesem natürlichen Wesen besitzt der Körper des Teufels das Wesen der Lasterhaftigkeit, so wie der mystische Körper Christi das Wesen der Tugendhaftigkeit besitzt. Und daher bestreitet der selige Augustinus, dass es einen Leib aus Gliedern Christi und aus Gliedern des Teufels gibt.161 Sofern nun die Frage folgt, welche Gestalt die Glieder des Teufels in jenem Körper vereinigt, ist zu erwidern, dass eine äußere Gestalt sowie eine innere Deformierung bestehen. Die äußere Gestalt ist Gottes ewige Voraussicht, auf Grund derer er alle Verworfenen kennt und verfügt, dass sie als Glieder des teuflischen Leibes zu ewiger Strafe gefesselt werden. Die 158 160
Gregor d. Gr., Moralia IV, 9. (PL 75, 647). 159 Zitat aus Wyclif, De Ecclesia. Joh 8,44. 161 Vgl. Augustinus, De doctrina christiana lib. 3, c. 32.45.100 (PL 34,82 f.).
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wahre innere Deformierung ist der endgültige Ungehorsam oder Hochmut, was die Heiligen als Sünde der endgültigen Reuelosigkeit oder als Sünde gegen den Heiligen Geist bezeichnen. Auf diese Weise verbindet und trennt die gleiche Sünde. Sie verbindet nämlich die Glieder des Teufels, vereinigt sie in ihrer Bösartigkeit für den Tartarus und separiert sie von der Gemeinschaft der Seligen, gleichsam der Hitze, die bei der Lösung einer Verbindung das Gleichartige zusammenfügt, indem sie dafür sorgt, dass jedes Element der gelösten Mischung seinen Platz einnimmt. Das Gleichartige trennt sie, indem sie durch die Aufspaltung der Bestandteile einer Mischung in unvermischte und gesonderte Stoffe diese zuvor harmonische Verbindung trennt. So wird zwangsläufig am Tag des Gerichts aus der Gegensätzlichkeit der Kälte des teuflischen Körpers und der Hitze der Liebe des Körpers Christi entsprechend dem Gesetz der letzten Gestalt der zweiteilige Körper gelöst, wenn die leichten Teile zusammen mit ihrem Haupt, der ein verzehrendes Feuer ist, zu ihren rechtmäßigen Wohnungen im Himmel fliegen. Beschwert von Blei steigen die irdischen Teile hingegen zu den Toten hinab. Daher wird gesagt: In einem Augenblick sind sie in die Hölle hinabgestiegen.162 Jedoch wird vom heiligen Thomas widersprochen, wenn er sagt, dass Christus das Haupt aller Menschen sei, sowohl der Gläubigen, die tatsächlich durch die Gnade in ihm vereinigt werden , als auch der Ungläubigen, die nur potentiell seine Glieder sind.163 Später unterscheidet er dann zwischen den Erwählten und den Verworfenen, von denen Letztere aufhören, als vollständige Glieder Christi zu gelten, wenn sie aus dieser Welt scheiden. Dies erklärt [Wyclif] folgendermaßen: Wie sehr erscheint mir bei diesem Zeugnis des heiligen Thomas dessen eigene Widersprüchlichkeit, wenn er tatsächlich sagt, dass Christus kraft seiner Göttlichkeit das äußere Haupt des gesamten Menschengeschlechts sei, das zusammengenommen als ein natürlicher Leib bezeichnet werden kann, dem auch Christus Wohlwollen entgegenbringt, wie auch gemäß seiner Menschlichkeit dem ganzen Erdkreis. Mit der Heilsamkeit der Passion Christi wird eine gewisse zweite Vollkommenheit für den Erdkreis gewonnen, und somit bringt er kraft seiner Menschlichkeit dem gesamten Menschengeschlecht Wohlwollen entgegen, indem er alle bestraft, die entweder aus Unglauben, wie diejenigen, die nicht an den Herrn Jesus Christus glaubten, aus Verzweiflung, die abzulegen und an deren statt den himmlischen 162
Hiob 21,13.
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Thomas von Aquin, Summa Theologica 3,8, 3–7.
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Dingen entgegenzusehen ist, oder drittens aufgrund eines unbedachten Urteils, nach dessen Aufhebung sie sich dem Herrn Jesus Christus in Liebe anzuschließen haben, verdammt wurden. Daher dürfte eindeutig sein, auf welche Weise Christus das Haupt aller Menschen und auf welche Weise er das Haupt der Erwählten ist. Und in ebensolcher Klarheit liegt, warum es eines Widerspruchs entbehrt, im gleichen Atemzug den Leib des Teufels – dieser ist die Synagoge des Satans – und die Kirche Christi auf Grundlage der Schöpfung, des Wohlwollens und der Erhaltung zu nennen, jedoch nicht auf Grundlage einer von Nächstenliebe erfüllten Einheit, durch die sich die Kirche Christi auszeichnet. Diese liebte er, so dass er sie sich als seine in Ewigkeit zu umarmende und makellose Braut bereitete. Was die Kirche Christi oder die Synagoge des Satans nun unter den Menschen oder auch zahlreicher unter den Engeln ist oder sein wird, werden wir erkennen, nachdem Jesus Christus der Herr sein letztes Urteil gefällt haben wird. Er selbst sagt nämlich: Tretet ein durch die schmale Pforte, denn weit ist die Pforte und breit ist der Weg, der zum Verderben führt. Es gibt viele, die diesen beschreiten. Wie schmal ist die Pforte und wie eng der Weg, der zum Leben führt. Doch es gibt Wenige, die ihn finden .164 Diese Verse kommentiert Chrysostomus folgendermaßen: Der Weg Christi wird schmal und eng genannt, weil Christus nur diejenigen zu sich aufnimmt, die sich aller Sünden entledigt und alle Last der Welt abgelegt haben sowie scharfsinnig und geistig wurden.165 So weit Chrysostomus. Allmächtiger Herr, der du der Weg, die Wahrheit und das Leben bist, du weißt, wie wenige in diesen Zeiten zu dir kommen. Wenige treten hinsichtlich Demut, Freundschaft, Armut, Keuschheit, Fleiß und Geduld in deine Nachfolge. Der Pfad Satans steht offen: Viele beschreiten diesen. Hilf deiner schwachen Herde, damit sie dich nicht verlässt, sondern dir letztlich auf dem schmalen Weg folgt.
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Kapitel 7 Weil gesagt wurde, dass Christus das einzige Haupt der heiligen universalen Kirche ist und alle Erwählten, vergangene und zukünftige, sein mystischer Leib sind und jeder von ihnen ein Glied dieses Leibes, 35 bleibt nun kurz zu prüfen, ob die römische Kirche diese universale, heilige Kirche, die Braut Christi, ist. Dies scheint so zu sein, weil die heilige katholische apostolische Kirche eine ist, aber jene ist keine andere als die römische. Also ist das, was bezweifelt wurde, wahr. Der erste Teil 164
Mt 7,13 f.
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Chrysostomus, Opus imperfectum, Hom. 18 (PG 56,734).
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der Aussage erhellt aus Papst Bonifazius, der sagt: Eine heilige katholische und ebenso apostolische Kirche zu glauben und festzuhalten, werden wir auf Drängen des Glaubens gezwungen. Und die zweite Aussage geht aus derselben Dekretale hervor, die sagt: Die eine und einzige Kirche hat also einen Leib und ein Haupt, nicht zwei Häupter wie ein Monstrum, nämlich Christus und den Stellvertreter Christi, Petrus, und den Nachfolger des Petrus; denn der Herr sagt zu Petrus selbst: Weide meine Schafe.166 Meine, sagt er, und zwar allgemein, nicht einzeln diese oder jene. Daraus ersieht man, dass ihm alle anvertraut wurden. Wenn also Griechen oder andere sagen, sie seien Petrus und seinen Nachfolgern nicht anvertraut worden, dann müssen sie zugeben, dass sie nicht zu den Schafen Christi gehören, wie der Herr bei Johannes sagt: Es gibt nur eine Herde und nur einen Hirten. Daran kann man sehen, dass die heilige römische Kirche jene universale heilige Kirche ist, denn alle sind Schafe Christi und eine Herde unter einem Hirten.167 Das ist die Bedeutung der oben genannten Dekretale, die mit den Worten endet: Wir erklären, sagen und definieren nun aber, dass es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein.168 Wenn also jeder Mensch notwendig dem römischen Bischof durch diese Definition unterworfen ist, folgt daraus, dass der Vordersatz wahr ist. Im Gegensatz dazu steht die Annahme, dass die römische Kirche die Kirche ist, deren Haupt der Papst und deren Körper die Kardinäle sind, die jene Kirche bilden. Aber jene Kirche ist nicht die heilige katholische und apostolische Kirche. Also ist das, was bezweifelt wurde, falsch. Der erste Teil geht aus den Aussagen einiger Doktoren hervor, dass der Papst das Haupt der römischen Kirche und das Kardinalskollegium der Körper ist. Der zweite Teil erhellt aus der Tatsache, dass der Papst mit den Kardinälen nicht die Gesamtheit aller Erwählten ist. Für das Verständnis dieses Themas muss jenes Wort des Evangeliums bedacht werden: Simon Petrus sprach: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und Jesus antwortete und sprach: Selig bist du, Simon BarJona; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was du auf Erden binden wirst, wird im Himmel gebunden sein; und was du auf Erden lösen wirst, wird im Himmel gelöst Joh 21,17. 167 Extravagantes lib. 1 tit. 8 c. 1, Bonifazius VIII: Unam Sanctam (Friedberg 2,1245); Joh 10,16. 168 Extravagantes ebd. (Friedberg 2,1246).
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sein .169 In diesem Evangelium werden die Kirche Christi, ihr Glaube, ihr Fundament und ihre Gewalt angezeigt – die Kirche dort, wo es heißt: ich werde meine Kirche bauen ; der Glaube: du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes; das Fundament: auf diesen Felsen will ich bauen; die Gewalt: ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben. Und von diesen vier, nämlich von der Kirche, dem Glauben, dem Fundament und der Gewalt der Kirche soll kurz gehandelt werden. Was den ersten Punkt betrifft, kann zum oben Festgestellten hinzugefügt werden, dass – abgesehen davon, was man üblicherweise Kirche nennt oder dafür hält –, von Kirche in einem dreifachen Sinn die Rede ist: In einem ersten Sinne ist sie die Gemeinde oder Zusammenkunft der Gläubigen hinsichtlich dessen, was für eine gewisse Zeit oder nur hinsichtlich der gegenwärtigen Gerechtigkeit gilt. Und in diesem Sinne sind die vorhergewusst Verworfenen ein Teil der Kirche für die Zeit, in der sie in der Gnade sind. Aber diese Kirche ist nicht der mystische Leib Christi, noch ist sie die heilige katholische Kirche noch ein Teil von ihr. In einem zweiten Sinne wird Kirche vermischt für die Erwählten und die Verworfenen gebraucht, solange sie in der Gnade sind gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit. Und diese Kirche entspricht zum Teil, aber nicht zur Gänze, der heiligen Kirche Gottes. Und diese Kirche wird Himmelreih genannt – Korn und Spreu, Weizen und Unkraut vermischend, wie bei einem Netz, das ins Meer geworfen wurde und Fische aller Art einholt; Himmelreich, wie die bei den zehn Jungfrauen, von denen fünf töricht waren und fünf weise, wie oben gesagt wurde. Diese Kirche nennt Tyconius fälschlicherweise den zweiteiligen Leib des Herrn .170 Denn die vorhergewusst Verlorenen sind nicht der Leib des Herrn oder einen Teil davon. In einem dritten Sinn wird Kirche verstanden als Zusammenkunft der Erwählten, ob sie nun gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit in der Gnade sind oder nicht. Und in diesem Sinne ist die Kirche ein Artikel des Glaubens, über den der Apostel redet, wenn er sagt: Christus hat die Gemeinde geliebt und sich selbst für sie gegeben, auf dass er sie heiligte, indem er sie durch das Wasserbad im Wort des Lebens reinigte, auf dass er sie sich selbst darstellte als eine herrliche Gemeinde, die keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern heilig und makellos sei.171 Diese Kirche nennt der Erlöser im angeführten Evangelium seine Kirche, wenn er sagt: Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.172 169 171
Mt 16,16–19. 170 Augustinus, De doctrina christiana lib. 3, c. 32.45.100 (PL 34,82 f.). Eph 5,26. 172 Mt 16,18.
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Dass er aber sie meint, wird sofort klar aus den hinzugesetzten Worten, die folgen: Und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Wenn Christus nämlich der Fels und das Fundament dieser Kirche ist, auf dem sie in Bezug auf die Erwählung aufgebaut ist, dann kann sie selbst nicht durch die Pforten der Hölle, das heißt durch die Macht von Tyrannen, die sie verfolgen, oder durch Angriffe böser Geister, am Ende überwunden werden. Denn der Himmelskönig Christus, der Bräutigam jener Kirche, ist mächtiger als der Fürst dieser Welt. Um seine Macht, Vorherwissen und Erwählung zu zeigen, durch die er seine Kirche baut, schützt, vorhersieht und erwählt, und um seiner Kirche Hoffnung zu geben hinsichtlich der Beständigkeit, setzte er hinzu: Und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Hier sagt Lyra: Daraus geht hervor, dass die Kirche nicht in Menschen kraft einer geistlichen oder weltlichen Macht oder Würde besteht, weil viele Fürsten und Päpste und andere von geringerem Rang als vom Glauben Abgefallene erfunden worden sind.173 Diese Aussage erhält teilweise Evidenz im Fall des Judas Ischariot, Apostel und Bischof, der anwesend war, als Christus sagte: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Aber er selbst war nicht auf dem Felsen Christus in Bezug auf die Erwählung gebaut. Deswegen haben ihn selbst die Pforten der Hölle letztlich überwunden. Aus den oben genannten Worten des Herrn ist es offensichtlich, dass Kirche in einer speziellen Weise alle diejenigen bezeichnet, die nach seiner Auferstehung auf ihn gegründet werden mussten durch den Glauben und durch die verzehrende Gnade.174 Denn er sprach zu Petrus als demjenigen, der die universale Kirche personifizierte und seinen Glauben mit den Worten bekannte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!, indem er ihn lobte: Selig bist du, Simon, Sohn des Jona, welches Lob Petrus und der ganzen Kirche gebührt, die selig auf dem Weg ist, indem sie zu Beginn demütig, gehorsam, liebend und beständig bekannte, dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist. Diesen Glauben haben aber weder Fleisch , das heißt die Weisheit der Welt, noch Blut , das heißt rein philosophische Wissenschaft, von einem so verborgenen Artikel offenbar gemacht ,175 sondern allein Gott, der Vater. Und wegen dieses so klaren und festen Bekenntnisses sagte Nikolaus von Lyra, Biblia cum postillis, zur Stelle. 174 Der an dieser Stelle verwendete Begriff der „gratia consumans“, der in der spätmittelalterlichen Theologie auch als „gratia cooperans“ begegnet, bezeichnet die Gnade, die Gott dem Menschen schenkt, um seinen Verstand zu erleuchten und seinen Willen zu stärken, damit er gute Werke tun und den Nächsten lieben kann. 175 Mt 16,17.
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der Fels zu Petrus: Und ich sage dir, du bist Petrus , das heißt Bekenner des wahren Felsens, der Christus ist, und auf diesen Felsen , den du bekannt hast, das heißt auf mich, werde ich durch festen Glauben und durch verzehrende Gnade, meine Kirche bauen , das heißt die Zusammenkunft der Erwählten, die nach der Mühe zum Ruhm verordnet sind. Deshalb werden sie die Pforten der Hölle nicht überwinden. Bis zu diesem Punkt wurde aus den Worten des Heilands abgeleitet, dass es erstens eine Kirche gibt (wo er von Kirche spricht), dass es zweitens Christi Kirche ist (wo er von meiner spricht) und dass sie drittens heilig ist (wo er sagt, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können). Die Schlussfolgerung ist daher, dass es eine heilige Kirche Christi gibt, die auf Griechisch „katholisch“ und auf Lateinisch „universell“ genannt wird. Und sie wird „apostolisch“ genannt, weil sie durch die Worte und Taten der Apostel befestigt und auf den Felsen Christus gegründet worden ist, wie Hieronymus im Werk über die Apokalypse im Vorwort sagt.176 Von daher setze ich hinzu, dass jene die heilige römische Kirche genannt wird, wie es im Dekret heißt: Obwohl es nur ein Brautgemach der universalen katholischen Kirche Christi auf der ganzen Welt gibt, ist die heilige römische, katholische und apostolische Kirche durch die Beschlüsse keiner Synoden den übrigen Kirchen vorangestellt .177 Dies erweist sich durch das bereits zitierte Wort: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen .178 Und diese Kirche nennt es später die römische Kirche, den ersten Sitz des Apostels, die weder Runzeln noch Flecken hat. Diese Kirche darf jedoch nicht verstanden werden als der Papst mit den Kardinälen und seinem Haushalt, weil diese gewöhnlich kommen und gehen. Deshalb sagt die Glosse zu diesem Text folgendes: Das Argument ist, dass überall dort, wo die Guten sind, die römische Kirche ist . Und so ist das Dekret zu verstehen, wo im Kanon über die römische Kirche gesagt wird: Diese Kirche Christi ist die heilige und apostolische Mutter aller Kirchen, die erwiesenermaßen durch die Gnade des allmächtigen Gottes vom Pfad der apostolischen Tradition niemals abgewichen ist, noch jemals korrumpiert wurde, indem sie häretischen Neuerungen erlag .179 Hier ist zu anzumerken, dass dies nicht von irgendeinem Papst und seinen Dienern verstanden werden kann. Deshalb sagt die Glosse auch: Ich frage also, von welcher 176 Stelle nicht nachweisbar. 177 Decr. Grat. dist. 21 c. 3 (Friedberg 1,70). Hus zitiert das Dekret allerdings falsch: durch viele Synodalbeschlüsse. Der obige Text folgt dem richtigen Wortlaut des Dekrets. 178 Mt 16,18. 179 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 9 (Friedberg 1,969).
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Kirche meinst du, dass sie nicht irren kann? Es ist aber sicher, dass der Papst irren kann, wie in den Distinktionen 19 und 40 belegt ist.180 Also ist weder er selbst noch seine Familie jene Kirche, von der hier gesagt wird, dass sie nicht irren kann. Deshalb besagt die Glosse: Die Versammlung der Gläubigen selbst wird hier Kirche genannt . Und so ist auch die Aussage des heiligen Hieronymus zu verstehen: Die römische Kirche ist heilig, sagt er, die immer unbefleckt geblieben ist und zukünftig bleiben wird durch Vorsehung des Herrn und Fürsorge des seligen Apostels Petrus, und sie wird für alle Zeiten fest und unbewegt bleiben ohne irgendeine Verhöhnung durch Ketzer .181 Hierunter ist kein Papst mit seinem Kardinalskollegium zu verstehen. Denn diese sind öfter mit ausgestreutem Betrug und Sünde befleckt, wie zur Zeit des englischen Papstes Johannes, einer Frau, die Agnes hieß.182 Wie also blieb jene römische Kirche, wie jene Agnes, Papst Johannes, mit ihrem Kollegium, die ein Kind geboren hat, für immer unbefleckt? Und ähnliches gilt von anderen Päpsten, die Häretiker waren und die wegen vielfältiger ungeheuerlicher Verfehlungen abgesetzt wurden. Da also nach den Dekretalen die römische Kirche den Primat und die Würde, so weit es Gott betrifft, vor allen anderen hat, ist es offensichtlich, dass sie die ganze kämpfende Kirche ist, die Gott mehr liebt als irgendeinen ihrer Teile. Und so folgt daraus aus Glauben, dass nicht jenes Kollegium [der Kardinäle], sondern die ganze Mutter, die unter alle Völker und Sprachen zerstreut ist, jene heilige römische Kirche sei, von der die Gesetze mitsamt den heiligen Doktoren reden. Daher, um uns diesen Satz durch die seligen Augustinus und Ambrosius einzuprägen, ist ebendieser Kirche dieser Hymnus verordnet worden: Dich preist über den Erdkreis die heilige Kirche.183 Und im Messkanon bringen wir zuerst und hauptsächlich unser Gebet für die heilige katholische Kirche dar, dass Gott ihr Frieden geben, sie beschützen und ihr helfen möge auf der ganzen Welt. Deshalb wird zweifellos für die allervornehmste kämpfende Kirche gebetet, von der ich setze, dass sie die römische Kirche sei. Und wirklich sind der Papst und sein Kollegium unter ihren Teilen, wenn wir sie hinsichtlich ihrer Höhe vergleichen, der an Würde herausragende Teil, so lange sie Christus eng nachfolgen, Decr. Grat. dist. 19 c. 9 (Friedberg 1,64) und dist. 40 c. 6 (Friedberg 1,146). 181 Decr. Grat. II C. 24, q. 1, c. 14 (Friedberg 1, 970). 182 In Hussens Zeit wurde die Legende von der Päpstin Johanna, die im Amt ein Kind zur Welt gebracht haben soll, generell für bare Münze genommen. Der Hinweis auf die Päpstin Johanna hatte im Spätmittelalter einen festen Platz im Arsenal der antipapalistischen Argumentation. 183 Aus der 2. Strophe des „Te Deum“. 180
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den Hochmut und den Ehrgeiz des Primats ablegen und ihrer Mutter wirksamer und demütiger dienen. Denn wenn sie das Gegenteil tun, werden sie in ein Abbild des Elends und in ein Kollegium verwandelt, das im Gegensatz steht zum demütigen Kollegium der Apostel und des Herrn Jesus Christus. Es ist aber zu beachten, dass die römische Kirche richtig eine Versammlung der Christgläubigen genannt wird, die unter dem Gehorsam des römischen Bischofs leben, so wie die antiochenische Kirche eine Versammlung der Christgläubigen unter dem Bischof von Antiochia genannt wird, und ähnlich bei den Kirchen von Alexandria und Konstantinopel. Und auf diese Weise bezeichnet Petrus, der Apostel Christi und Bischof von Rom, die Kirche, wenn er zu den Christgläubigen in Pontus, Galatien, Kapadozien, der Landschaft Asien und Bithynien sagt: Es grüßt euch die Kirche, die in Babylon versammelt ist .184 Siehe, hier wird die Kirche für die Christgläubigen genommen, die mit dem seligen Petrus in Rom waren. Auf die gleiche Weise bezeichnet der Apostel Teilkirchen, zum Beispiel als er von Athen185 an die Römer schrieb: Es grüßen euch alle Kirchen Christi,186 und weiter: Ich, Tertius, der ich diesen Brief geschrieben habe, grüße euch im Herrn. Gaius, mein Gastgeber, und die ganze Kirche grüßen euch.187 Hier wird die allgemeine Kirche für alle Christgläubigen genommen, die in Athen mit Paulus zusammen stritten. Ebenso an die Korinther: Die Kirche Gottes zu Korinth an die Geheiligten in Christus Jesus .188 Und an die Thessalonicher sagt er: Paulus und Silvanus und Timotheus an die Kirche der Thessalonicher ,189 und oftmals werden an anderen Stellen die Teilkirchen richtig benannt, die einzelne Teile der universalen Kirche, der Kirche Jesu Christi, sind. Aber die christliche Kirche nahm ihren Anfang in Judäa und hieß zunächst die Kirche von Jerusalem. Deshalb heißt es in der Apostelgeschichte: Zu der Zeit entstand eine große Verfolgung in der Kirche, die in Jerusalem war, und sie wurden alle in die Landschaften von Judäa und Samaria verstreut, ausgenommen die Apostel.190 Die zweite Kirche war die von Antiochia, in der der Apostel Petrus wohnte und wo zum ersten Mal der christliche Name aufkam. Deshalb wurden die Gläubigen zuerst Jünger und Brüder genannt, dann erst wurden sie Christen genannt. Denn wir lesen in der Apostelgeschichte: Es waren aber Apostel und Brüder, die in Judäa waren,191 und am Ende des Kapitels findet 1Petr 5,13. 185 Hus geht offenbar von einer Abfassung des Römerbriefs in Athen aus; tatsächlich wurde er in Korinth geschrieben. 186 Röm 16,16. 187 Röm 16,22 f. 188 1Kor 1,2. 189 1Thess 1,1. 190 Apg 8,1. 191 Apg 11,1. 184
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man, wie Barnabas Paulus nach Antiochia führte und sie hielten sich ein ganzes Jahr lang in der Kirche auf und lehrten eine große Menge Volkes, so dass die Jünger zuerst in Antiochien Christen genannt wurden.192 Im zweiten Sinne wird „römische Kirche“ gebraucht, um einen beliebigen Papst mit den Kardinälen zu bezeichnen, wo immer sie sich gerade befinden und ob sie nun gut oder böse leben. Drittens meint sie den Papst. Aber diese beiden Redeweisen haben sich die Gelehrten abgerungen. Denn es gibt keinen guten Grund, die heilige römische Kirche unsere Mutter zu nennen, weder aufgrund ihres Hochmuts noch aufgrund der milden Güte des Kaisers, der die Kirche mit Besitz ausstattet, noch wegen des Übermuts des Papstes, der damit prahlt, dass das Kaisertum aus seinem Primat oder seiner Herrschaft herkomme. Drittens auch nicht, damit geglaubt werde, dass jeder Christ seine Zuflucht zu ihm nehmen und ihn heilsnotwendig als Haupt und heiligsten Vater anerkennen müsse, sondern aus ganz anderen Gründen. Da nämlich der Bergiff „römische Kirche“ ohne Grundlage in der Heiligen Schrift eingesetzt ist, ist es genug, einen wahrscheinlichen Grund zu haben. Die heilige Kirche Christi blühte zunächst in Jerusalem in den Tagen der Apostel, die mit Christus wohnten, und später in Antiochia, als Petrus dort zum Bischof eingesetzt wurde, und später in Rom zur Zeit der Verkündigung und des Martyriums Petri und Pauli. Und so ist der Ausspruch des Erlösers zu verstehen: Fürwahr ist das Reich Gottes zu euch gekommen 193 und: Das Reich Gottes ist mitten unter euch;194 wo immer ein toter Körper ist, da sammeln sich die Adler.195 Denn obwohl die christliche Kirche in Judäa ihren Anfang nahm und Christus, das Haupt der Kirche, in Jerusalem den Märtyrertod erlitt, wird die Kirche Christi dennoch vernünftiger Weise aufgrund ihrer Vorrangstellung als römische Kirche bezeichnet, und zwar aus drei Ursachen: Erstens, weil Christus wusste, dass die Heiden unter dem Römischen Reich an der Stelle der ungläubigen Juden hineingeholt würden, wie der Apostel sagt.196 Der zweite Grund ist, dass dort eine größere Zahl von Märtyrern triumphierte als in jeder anderen Stadt; und es ist so, dass dort, wo ein Mann aus dem Mutterleib geboren wird und herrlich triumphiert, er von diesem Ort seinen Namen nimmt. Da aber die heilige Kirche hinsichtlich vieler ihrer Teile in Rom geboren wurde, nachdem sie vom Mutterleib der Synagoge abgesondert worden war, und da sie dort triumphierte, indem sie bei den Heiden wuchs, deshalb sollte sie nach einmütiger Meinung ihren Namen von der Hauptstadt der Heiden, nämlich von Rom, nehmen. 192
Apg 11,25 f.
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Mt 12,28.
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Lk 17,21.
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Lk 17,37.
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Röm 9,24 ff.
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Deshalb wird gesagt, dass Petrus und Paulus am selben Tag und zur selben Zeit die ganze römische Kirche weihten und sie durch ihre Gegenwart und durch ihren ehrwürdigen Triumph über alle anderen Städte in der ganzen Welt erhöhten.197 Der dritte Grund ist, wie schon bemerkt wurde, dass nicht der Ort oder das Alter, sondern der geformte Glaube die Kirche Christi begründet. Denn hinsichtlich der Person und der Zeit existierte die Kirche Christi zuerst in ihren früheren Sitzen. Und in diesem Sinne heißt es: Der Herr hat nicht die Menschen wegen des Ortes, sondern den Ort wegen der Menschen erwählt .198 Aus diesem Grund glaube ich, dass es erlaubt ist, die Kirche Christi mit dem Namen eines beliebigen Ortes zu bezeichnen, der von gerechten Gläubigen bewohnt wird. Christus wird der Nazarener genannt, weil seine Empfängnis in Nazareth stattgefunden hat, und er kann als Bethlehemiter bezeichnet werden vom Ort seiner Geburt und als Kapernaiter wegen der Wunder, die er in Kapernaum bewirkte, und als Jerusalemer wegen seines ruhmreichen Leidens. Im Hinblick auf diese Dinge wird klar, was zu der am Anfang dieses Kapitels geäußerten zweifelnden Behauptung gesagt werden sollte. Denn man muss zugeben, dass die römische Kirche die heilige und katholische Mutter Kirche ist, die Braut Christi. Das Gegenargument, wonach die römische Kirche die Kirche ist, deren Haupt der Papst und deren Leib die Kardinäle sind, muss akzeptiert werden, wenn man die Kirche auf die zweite Art versteht, nämlich als irgendeinen Papst mit irgendwelchen Kardinälen, wo auch immer sie wohnen. Aber es muss verneint werden, dass diese Kirche die heilige katholische und apostolische Kirche ist. So werden die Argumente beider Seiten anerkannt, aber die Folge muss negiert werden. Und wenn gesagt wird: Ich nehme an, dass der Papst heilig ist mit allen zwölf Kardinälen, die mit ihm wohnen, wenn dies also angenommen und als sehr gut möglich zugestanden wird, folgt daraus, dass er selbst mit den Kardinälen die heilige katholische und apostolische Kirche sei. Diese Schlussfolgerung wird abgestritten. Aber sehr wohl folgt daraus, dass ein heiliger Papst mit heiligen Kardinälen eine heilige Kirche sind, die Teil der heiligen katholischen und apostolischen Kirche ist. Deshalb müssen die Christgläubigen fest an die erste, aber nicht an die zweite Folgerung glauben. Denn die erste wird durch jenes Wort Christi bestätigt: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden. Die zweite Folgerung ist mir aber zweifelhaft und einem jeden, der auf dem Lebensweg ist, wenn nicht eine göttliche Offenbarung jemanden erleuchtet. Deshalb ist der Papst 197
Decr. Grat. I dist. 22 c. 2 (Friedberg 1,74).
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2Makk 5,19.
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nicht das Haupt und sind die Kardinäle nicht der ganze Leib der heiligen, universalen und katholischen Kirche, denn Christus allein ist das Haupt dieser Kirche und die einzelnen Erwählten sind zugleich der Leib und jeder Einzelne ein Glied, weil seine Braut eine Person mit 5 Jesus Christus ist.
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Kapitel 8 Was das zweite betrifft, nämlich den Glauben, der hier berührt wird: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes,199 ist mit Augustinus zu bemerken, dass Glaube einmal verstanden wird für den Akt des Glaubens, mit dem geglaubt wird, einmal für die Haltung des Glaubens, durch die geglaubt wird, und einmal für die Wahrheit, die geglaubt wird.200 Zweitens ist zu bemerken: Der Glaube ist zum einen die offen ausgedrückte Gläubigkeit des gläubigen Menschen und zum anderen der innerlich bindende Glaube. So glaubt ein katholischer Christ, der den eingegossenen und erworbenen Zustand des Glaubens besitzt, ausdrücklich die katholische Kirche überhaupt, und er glaubt in jenem, allen Christen gemeinsamen Glauben innerlich gebunden, was unter der Heiligen Mutter Kirche auch immer im Einzelnen fest behauptet wird. In gleicher Weise, wenn er glaubt, was Christus von sich geglaubt haben will, und nicht von Christus glaubt, was er nicht von sich geglaubt haben will, glaubt er dabei sowohl jeden bejahenden wie jeden verneinenden Glaubensartikel von Christus. Und jenen innerlich bindenden Glauben hatte Petrus, als er ausdrücklich bekannte, dass Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, indem er sagte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und dennoch hat derselbe Petrus offen Christus und seinem Evangelium widersprochen da er, als Christus sagte: Ihr alle werdet an mir in dieser Nacht Anstoß nehmen, ungläubig sagte: Und wenn alle an dir Anstoß nehmen werden, ich werde es niemals tun.201 So glauben auch viele Gläubige ganz allgemein und innerlich gebunden die ganze Wahrheit der Schrift. Wird ihnen aber eine unbekannte Wahrheit vorgelegt, fragen sie, ob jene in der Heiligen Schrift gegeben ist; und nachdem es ihnen aufgezeigt wurde, fügen sie sich sofort dem Sinn, auf dem der Heilige Geist besteht, auch wenn sie nicht verstehen, welcher Sinn das ist. Wer daher den durch die Liebe geformten Glauben überhaupt besitzt, vermag mit der Tugend der Ausdauer genug zum Heil. Denn Gott, der den ersten Glauben gegeben hat, wird seinem Kämpfer einen deutlicheren geben, wenn der ihm keinen Riegel vorschiebt. Denn Gott 199
Mt 16,16.
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Augustinus, De Trinitate lib. 13 (PL 42,1013)
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Mt 26,31.33.
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verlangt nicht, dass alle seine Kinder während ihrer Wanderschaft beständig durch einzelne Akte des Denkens über jede Einzelheit des Glaubens befinden. Sondern es genügt, dass sie nach abgelegter Trägheit den geformten Glauben als Zustand besitzen. Hierbei muss man wissen, dass der Glaube eine Doppelgestalt hat: In der einen ist er ungeformt – so glauben die Dämonen und zittern vor Furcht; in der anderen ist er der durch die Liebe geformte Glaube. In dieser Gestalt errettet er zusammen mit der Ausdauer, nicht aber in der ersten. Denn in Bezug auf die zweite Gestalt heißt es bei Johannes: Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben.202 Und zu Petrus, der jenen Glauben hatte und bekannte, sagte der Erlöser: Selig bist du, Simon Bar Jona.203 Und jener Glaube ist das Fundament der anderen Tugenden, in denen die Kirche Christi lebt. Weiterhin ist hieraus festzuhalten, dass der Glaube nicht sinnliche Erscheinungen, sondern verborgene Dinge betrifft. Die verborgenen aber sind schwer zu glauben. Daher sind, damit etwas richtig geglaubt wird, zwei Dinge für den Glauben notwendig: Erstens die Wahrheit, die den Geist erleuchtet; zweitens die Autorität, die die Seele stark macht. Daraus rührt die eine Eigenschaft des Glaubens: er allein ist aus der Wahrheit, und Irrtum ist ausgeschlossen. Diese Wahrheit muss der Gläubige bis zum Tod verteidigen. Die zweite Eigenschaft des Glaubens: für die Gläubigen über Veranschaulichung und sinnliche Erkenntnis hinaus ist er dunkel. Denn das, was wir vor Augen sehen, nennen wir nicht Glauben. Und über die Heiligen im Vaterland, die die Glaubensgegenstände deutlich sehen, die wir nur dunkel erkennen, sagt man nicht, dass sie glauben, sondern sehen. Denn anstelle des Glaubens haben sie das deutliche Schauen und anstelle der Hoffnung haben sie den ewigen Genuss. Die dritte Eigenschaft des Glaubens: Er ist für den Wanderer das Fundament, um zum ruhigen Besitz der Dinge zu kommen, die zu glauben sind. So sagt der Apostel, dass der Glaube eine Gewissheit ist, d. h. ein Fundament, der zu erhoffenden Dinge, ein Beweis für die Dinge, die nicht erscheinen ,204 nämlich den Sinnen. Denn wir hoffen auf unsere Seligkeit und glauben sie, aber wir sehen sie nicht mit fleischlichen Augen. Und weil es ohne Glauben unmöglich ist, Gott zu gefallen ,205 deshalb ist es nötig, dass jeder, der gerettet werden soll, zu allererst gläubig ist. Gläubig aber ist, der den von Gott eingegossenen Glauben hat ohne irgendein ihm entgegengesetztes ängstliches Zögern, das seinem Glauben beigemischt wäre. Alle Übeltäter aber nach der gegenwärtigen Ungerechtigkeit sind Ungläubige, da es unmöglich ist, dass 202
Joh 3,15.
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einer Todsünden begeht, außer er versagt weithin im Glauben. Wenn er nämlich die Strafe bedächte, die über die solchermaßen Sündigenden verhängt werden soll, und völlig glaubte und den Glauben der göttlichen Erkenntnis hätte, der alles deutlich erkennt und so den Sündern gegenwärtig ist, dann sündigte er zweifellos nicht auf diese Weise. Es kann aber jemand in dreifacher Weise im Glauben versagen. Erstens durch Schwachheit: So versagt einer, der im Glauben schwankt und nicht bis zum Tod im Verteidigen des Glaubens ausharrt. Zweitens versagt, wer zwar viele Dinge fest glaubt, die man glauben muss, aber bei vielen anderen Dingen, die man glauben muss, gleichsam wie in leeren Löchern im Glauben versagt und somit einen porösen oder löcherigen Schild des Glaubens hat. Drittens, wer im Glauben bei der Anwendung jenes Schildes versagt, und zwar auf diese Weise, dass er wohl eine feste Haltung in Bezug auf die Dinge hat, die man glauben muss, aber in Bezug auf das Tun eines verdienstlichen Werkes versagt, weil er ein ungeordnetes Leben führt. Daher heißt es von ihm im Brief an Titus: Sie bekennen, dass sie Gott kennen, verleugnen ihn aber durch Taten .206 Jedem also, der auf eine dieser Weisen im Glauben versagt, mangelt es an Glaubensfestigkeit. Und man muss bedenken, dass sich der Glaube von der Hoffnung erstens darin unterscheidet, dass Hoffnung nur von dem Lohn her besteht, der künftig erlangt wird. Der Glaube aber handelt von Vergangenem, wie etwa davon, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass Christus Mensch geworden ist. Er handelt ebenfalls von anderen Dingen: von Gegenwärtigem, wie etwa davon, dass Gott ist, dass die Heiligen im Vaterland sind, dass Christus zur Rechten des Vaters sitzt; von Zukünftigen, wie etwa davon, dass Christus kommen wird, um zu richten, dass alle, die noch nicht auferstanden sind, am Tage des Gerichts auferstehen werden, und dass Gott in der Seligkeit schließlich alle Heiligen belohnen wird, die im Zustand der Gnade dieses Leben beenden werden. Zweitens berührt die Hoffnung nicht die Erkenntnis des Glaubens von dem was sie erhofft, sondern sie ist ruhig in einem mittleren Akt zwischen Zweifel und Gläubigkeit. Deshalb sind den Gläubigen viele Dinge vorzulegen, die sie – nachdem die Unterscheidung ausgeschlossen ist – weder bezweifeln, zugestehen oder leugnen dürfen, sondern hoffen müssen. Etwa, wenn mir gesagt wird: Du wirst gerettet werden, darf ich es weder zugestehen, da ich ja nicht weiß, ob es wahr ist, noch darf ich es leugnen, da ich ja nicht weiß, ob es falsch ist, noch darf ich es bezweifeln, sondern muss es erhoffen. Drittens unterscheidet sich die Hoffnung vom Glauben darin, dass Hoffnung 206
Tit 1,16.
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nur bei dem ist, der auf das mögliche Gut des Vaterlandes hofft. Der Glaube aber bezieht sich sowohl auf das Übel wie auf das Gute, denn wir glauben die Vergebung der Sünden, was sehr gut ist für alle, die gerettet werden sollen. Und wir glauben, dass die Sünde der Gotteslästerung allen, die verdammt werden sollen, nicht vergeben wird, weder in dieser Welt noch in der künftigen. Und weil das Glauben ein Akt des Glaubens ist, der ein gläubiges Vertrauen ist, musst du wissen, dass das Glauben – für den Menschen ist das heilsnotwendig – darin besteht, der Wahrheit als einer von Gott bezeichneten ohne Zögern fest anzuhangen. Für diese Wahrheit muss der Mensch hinsichtlich der Gewissheit unter Lebensgefahr sein Leben einsetzen. Und auf diese Weise ist jeder Christ gehalten, nach außen hin oder innerlich gebunden jede Wahrheit zu glauben, die der Heilige Geist in der Schrift dargelegt hat. Und auf diese Weise ist ein Mensch nicht gehalten, den Aussprüchen der Heiligen außerhalb der Heiligen Schrift und auch nicht den päpstlichen Bullen zu glauben, außer sie haben etwas aus der Schrift gesagt oder was inhaltlich in der Schrift begründet ist. Aber ein Mensch kann vermeintlich den Bullen glauben, weil sowohl der Papst als auch seine Kurie sich aus Unkenntnis der Wahrheit irren können. Von der Unkenntnis ist nämlich erwiesen, dass sie trügt und sich irrt. Sie trügt um des eigenen Vorteils willen und sie irrt sich aus Unwissenheit. Wie man aber den Aufträgen der Fürsten, den Dokumenten der Notare und den Erzählungen der Menschen glauben muss, lehrt die Erfahrung, die die Lehrmeisterin der Dinge ist. Sie lehrt nämlich, dass diese drei oft trügen. Also muss man anders an Gott glauben, der sich weder irren noch trügen kann, anders dem Papst, der sich irren und trügen kann; und ebenso muss man anders der Heiligen Schrift glauben und anders den Bullen, die nach Menschenart ausgedacht werden. Denn es ist weder statthaft, der Heiligen Schrift keinen Glauben zu schenken noch ihr zu widersprechen. Aber den Bullen darf man manchmal sowohl keinen Glauben schenken als auch widersprechen, sofern sie Unwürdige empfehlen, sie an die Spitze stellen, nach Geiz riechen oder Ungerechte verherrlichen und Unschuldige unterdrücken oder den Geboten und Ratschlägen Gottes inhaltlich widersprechen. Aus dem schon Gesagten ist deutlich, dass der Glaube das Fundament der Kirche ist, auf dem sie gegründet ist und erbaut ist auf dem Felsen Christus Jesus, weil es jener Glaube ist, mit dem die Kirche bekennt, dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist. Denn Petrus sagte anstelle aller Gläubigen: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Das ist, sagt der erste Johannesbrief, der Sieg, der die Welt besiegt hat, unser Glaube. Wer
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aber ist es, der die Welt besiegt hat, wenn nicht der, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist? 207 Kapitel 9
5 Das Fundament – das war der dritte Punkt in unserer These – wird dort
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erwähnt: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.208 Und weil die Päpste in ihren Aussagen diesen Ausspruch Christi am meisten gebrauchen und daraus herleiten wollen, sie selbst seien der Fels oder das Fundament, auf dem die Kirche steht wie auf Petrus, dem gesagt wurde: Du bist Petrus , muss man also zum Verständnis des Herrenwortes beachten: „Fundament“ der Kirche wird hier in Bezug auf den, der den Grund legt, mit den Worten: Ich werde bauen, erwähnt. Auch wird „Fundament“ hier in Bezug auf die Grundlegung mit den Worten: Auf diesen Felsen, erwähnt. Und „Fundament“ wird hier in Bezug darauf, wodurch die Grundlegung der Kirche besteht, mit den Worten: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ,209 erwähnt. Das Fundament, von dem zuerst, und das Fundament, auf dem zuerst die heilige katholische Kirche grundgelegt ist, ist Christus Jesus. Und das Fundament, durch das sie grundgelegt wird, ist der Glaube, der durch die Liebe wirkt und den Petrus vor Augen stellte, als er sagte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Christus ist also das Fundament der Kirche. Er sagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun.210 Ohne mich als dem ersten und grundlegendsten Fundament! Aber Christus legt den Grund und erbaut seine Kirche auf sich als dem Fels, weil er sie dazu bestimmt, seine Worte zu hören und zu tun. Dann nämlich werden die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen .211 Daher sagt Christus: Ein jeder, der zu mir kommt und meine Worte hört und sie tut – ich werde euch zeigen, wem er gleicht: Er gleicht einem Mann, der sein Haus tief gründete und das Fundament auf einen Felsen setzte. Als aber eine Flut kam und der Fluss an das Haus schlug, konnte er es nicht erschüttern, war es doch auf Fels gegründet .212 Und dieses Fundament zeigt der Apostel, wenn er sagt: Ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, welches ist Christus Jesus.213 Und er sagt auch: Der Fels aber war Christus.214 Also ist auf diesem Fundament und auf diesem Felsen und von diesem Felsen her die heilige Kirche gegründet. Denn er sagt: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.215 Und auf diesem Fundament haben die Apostel die Kirche Christi errichtet. Denn sie haben das Volk nicht zu sich, sondern zu Christus 207 212
Mt 16,16; 1Joh 5,4 f. Lk 6,47. 213 1Kor 3,11.
208
Mt 16,18. 1Kor 10,4.
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209 215
Mt 16,16. Mt 16,18.
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Joh 15,5.
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Mt 16,18.
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gerufen, der das zuallererst notwendige und wirkungsvollste Fundament ist. Darum sagt der Apostel: Ein anderes Fundament kann niemand legen.216 Weshalb er, als er sah, dass die Korinther sich in Bezug auf das Fundament irrten, sie tadelte und sagte: Von euch redet einer so, der andere so: Ich gehöre zu Paulus; aber ich halte mich an Apollos; ich aber halte zu Kephas; ich gehöre aber zu Christus. Ist also Christus geteilt? Ist denn Paulus für euch gekreuzigt worden? Oder seid ihr im Namen des Paulus getauft? 217 So wie er spricht, sagt er: Nein! Also ist außer Christus weder Petrus noch Paulus noch sonst jemand Hauptfundament oder Haupt der Kirche. Deshalb sagt der Apostel weiter unten: Wer denn ist Apollos? Wer Paulus? Diener sind sie desjenigen, dem ihr geglaubt habt; und jeder von ihnen muss der Kirche dienen, so wie es der Herr gegeben hat. Ich, sagt Paulus, habe gepflanzt, nämlich durch die Predigt, Apollos hat begossen durch die Taufe, aber Gott hat das Wachstum gegeben, nämlich durch die Grundlegung von Glaube, Hoffnung und Liebe. Daher ist selbstverständlich weder der, der gepflanzt hat – wie Paulus – noch der, der begossen hat – wie Apollos – ein Etwas, auf dem die Kirche gegründet werden könnte, sondern der ist es, der das Wachstum gegeben hat: Gott. Er selbst ist das Fundament der Kirche. Und er fährt fort: Aber jeder sehe zu, wie er darauf aufbaut. Denn ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, welches ist Christus Jesus.218 Dies Fundament aber ist der Fels der Gerechtigkeit, von dem Christus im Evangelium spricht, wenn er zum seligen Petrus sagt: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.219 Darüber sagt der selige Augustinus Folgendes: Unser Herr Jesus Christus sagte zu Petrus: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“ Auf diesen Felsen, den du bekannt hast, auf diesen Felsen, den du erkannt hast, indem du sagtest: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, werde ich meine Kirche bauen, d. h. auf mich selbst, den Sohn des lebendigen Gottes, werde ich die Kirche bauen. Auf mich werde ich dich bauen, nicht mich auf dich. Denn Menschen, die sich auf Menschen erbauen wollten, sagten: „Ich gehöre zu Paulus, ich zu Apollos, ich halte mich aber an Kephas“ – Petrus selbst. Und andere, die sich nicht auf Petrus erbauen wollten, sondern auf den Felsen, sagten: „Ich aber gehöre zu Christus.“ 220 So weit dort. Und an anderer Stelle sagt Augustinus: Der Apostel Petrus übte wegen des Vorranges seines Apostelamtes ein Amt in sinnbildlicher Allgemeinheit aus. Was ihn nämlich 216 1Kor 3,11. 217 1Kor 1,12 f. de scripturis 76 (PL 38,479 f.).
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1Kor 3,5–11.
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Mt 16,18.
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selbst persönlich betrifft, so war er von Natur ein Mensch, durch Gnade ein Christ, durch reichlichere Gnade ein Apostel, und zwar der erste. Aber als zu ihm gesagt wurde: „Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein, und was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein,“ stand er als Zeichen für die allgemeine Kirche, welche in dieser Welt durch Versuchungen wie durch Regengüsse, Fluten und Stürme erschüttert wird, aber nicht fällt, weil sie auf den Felsen gegründet ist, von dem Petrus den Namen erhalten hat. Denn nicht von Petrus hat der Fels den Namen, sondern Petrus vom Felsen, so wie Christus nicht von Christ, sondern Christ von Christus. Darum nämlich sprach der Herr: „Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“, weil Petrus gesagt hatte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ „Auf diesen Felsen“, sagt er, welchen du bekannt hast, „werde ich meine Kirche bauen“. Der Fels nämlich war Christus.221 Die Kirche also, die auf Christus gegründet ist, hat von ihm in Petrus die Schlüssel des Himmelreichs empfangen, d. h. die Macht, die Sünden zu binden und zu lösen. Denn was im eigentlichen Sinn die Kirche in Christus ist, das ist sinnbildlich Petrus in dem Felsen. In dieser sinnbildlichen Bedeutung ist unter dem Felsen Christus und unter Petrus die Kirche zu verstehen. Solange nun diese Kirche, die Petrus versinnbildlichte, unter Übeln aushält, wird sie durch Liebe und Christusnachfolge von den Übeln befreit. Mehr aber folgt sie ihm in denen nach, die bis zum Tod für die Wahrheit kämpfen.222 So weit im Ganzen Augustinus, der übereinstimmend mit dem Apostel lehrt, dass allein Christus Fundament und Fels ist, auf dem, d. h. auf Christus, die Kirche gegründet ist. Zu dem ruft der Apostel Petrus und sagt: Zu ihm tretet herzu, zu dem lebendigen Stein, der zwar von den Menschen verworfen, aber von Gott erwählt und geehrt ist. Und lasst euch auch selbst wie lebendige Steine aufbauen zu geistlichen Häusern, zu einem heiligen Opfer, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott annehmbar sind durch Jesus Christus. Deswegen enthält die Schrift das Wort: „Siehe, ich lege in Sion einen höchst erlesenen, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.“ Für euch also, die ihr glaubt, ist er ein Ehrentitel. Für die Nichtglaubenden aber gilt: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden“ und „ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses“ für die, die sich an dem Wort stoßen und nicht glauben, wozu sie auch bestimmt sind.223 221 223
1Kor 10,4. 222 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus c. ult. (PL 35,1973). 1Petr 2, 4–8 mit Jes 28,16; Ps 118,22; Jes 8,14.
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Und Paulus sagt: Israel aber, das dem Gesetz der Gerechtigkeit nachfolgte, ist zum Gesetz der Gerechtigkeit nicht gelangt. Warum? Weil nicht aus dem Glauben, sondern aus Werken; sie stießen sich nämlich an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben ist: „Siehe, ich lege in Sion einen Stein des Anstoßes und einen Felsen des Ärgernisses, und jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden.“ 224 Siehe, wie diese zwei römischen Apostel und Bischöfe, Petrus und Paulus, aus der Schrift beweisen, dass derselbe Herr Jesus Christus der grundlegende Stein und Felsen ist. Denn bei Jesaja sagt der Herr: Siehe, ich lege in den Fundamenten Sions einen erprobten kostbaren Eckstein, gegründet im Fundament, und im Psalter: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden .225 Christus selbst ist also das Fundament der Apostel und der ganzen Kirche, auf dem sie errichtet ist. Denn der Apostel sagt: Ihr seid nicht mehr Gäste und Zugereiste, sondern ihr seid Bürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, auferbaut auf das Fundament der Apostel und Propheten, wobei Christus Jesus der oberste Eckstein ist, durch den das ganze errichtete Bauwerk zum heiligen Tempel des Herrn wächst.226 Dazu sagt der heilige Remigius: Das Fundament der Apostel und Propheten und aller Gläubigen ist Christus, denn im Glauben an ihn sind sie befestigt und gegründet, wie er selbst sagte: „Auf diesen Felsen“, d. h. auf mich, „werde ich meine Kirche bauen“, die aus Engeln und gerechten Menschen besteht. Denn jeder, der den Glauben an Christus hat, ist auf ihn gegründet, „wobei er selbst, Jesus Christus, der oberste Eckstein ist“. Wie ist Christus das Fundament und der oberste Stein? Deshalb, weil von ihm der Glaube seinen Anfang nimmt und in ihm und von ihm derselbe Glaube vollendet und erfüllt wird. Daher sind alle Erwählten in ihm gegründet.227 So weit Remigius Haymo. Aus diesen Zeugnissen erhellt, dass allein Christus das vornehmliche Fundament der Kirche ist, und der Apostel dachte dieses Fundament so weitreichend, dass er nichts zu reden wagte, außer was in ihm begründet war. Deshalb sagt er: Denn ich wage nicht etwas davon zu sagen, das nicht Christus durch mich gewirkt hat, im Gehorsam Gottes, in Wort und Taten und in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Heiligen Geistes. So aber habe ich das Evangelium gepredigt, dass ich nicht, wo Christus genannt ist, auf fremdem Fundament baute.228 Siehe, dieser Apostel, der ein Gefäß der Erwählung war, sagt, dass er es nicht wagt, etwas zu reden, außer dem, was Christus durch Röm 9,31–33 mit Jes 28,16. 225 Jes 28,16; Ps 117,22. 226 Eph 2,19–21. 227 Remigius Haymo, d. i. Haimo von Auxerre, Expositio Pauli ad Ephesios c. 2. 228 Vgl. Röm 15, 18–20.
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ihn redet, weil er sich sonst nicht auf Christus, dem wirkungsvollsten Fundament, gründete und erbaute, wenn er etwas sagte, befähle oder täte, das nicht in Christus Jesus das Fundament hätte. Daraus ist deutlich, dass im Evangelium Christi nicht Petrus, sondern der Fels Christus gemeint ist, wenn Christus sagt: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.229 Aber mit Ambrosius erhebt man Einwand: Petrus ist gläubiger geworden, nachdem er beweint hatte, den Glauben verloren zu haben, und so hat er größere Gnade gefunden als verloren. Denn als ein guter Hirte empfing er die zu hütende Herde, damit er, der aus sich selbst heraus ein Schwacher gewesen war, allen eine Stütze würde, und der, als er sich in der Versuchung – der Versuchung der Befragung – verändert hatte, die anderen durch die Festigkeit des Glaubens fest gründete. Schließlich wird er ja zur Bestärkung der Frömmigkeit der Kirchen Fels genannt, wie der Herr sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“ Er wird nämlich deshalb Fels genannt, weil er als erster durch die Nachfolge die Fundamente des Glaubens gelegt hat und gleichsam als unbeweglicher Fels den Zusammenhalt des ganzen Werkes Christi und die Mühe damit umfasst. 230 So weit Ambrosius, der aufzeigt, dass Petrus „Fels“ genannt wird. Hierzu sage ich, dass die Auslegung des Augustinus, des hervorragendsten Auslegers der Schrift treffender erscheint und es auch ist, weil sie im ausdrücklichen Zeugnis der Schrift begründet ist, die sagt, dass Christus der Fels und der Eckstein und das kräftigste Fundament ist. Nirgends aber liest man ausdrücklich in der Schrift, dass Petrus der Fels ist. Christus aber, der es leicht hätte sagen können, sagte nicht: „Du bist der Fels und auf dich, den Felsen, werde ich meine Kirche bauen“, sondern er sagte: Du bist Petrus , d. h. der Bekenner des wahren Felsens, und auf diesen Felsen , den du bekannt hast, werde ich meine Kirche bauen. Christus hat nämlich seine Kirche auf sich gebaut durch Glaube, Hoffnung und Liebe. Denn wir glauben an Christus und hoffen auf ihn, nicht aber auf Petrus, und wir müssen größere Liebe und Zuneigung zu Christus als zu Petrus haben. Wie nämlich die Väter des Alten Testaments weder an den künftigen Petrus glaubten noch auf ihn hofften, sondern auf den Felsen, so glaubten und hofften auch die Heiligen des Neuen Testaments nicht auf Petrus, sondern auf Christus, der wirklich unser Glaube und unsere Hoffnung ist. Dennoch muss man zugeben, dass die Apostel Fundamente der Kirche sind, aber nicht in der Weise, in der Christus das Fundament ist. Denn er ist das Fun229
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Decr. Grat. I dist. 50 c. 54 (Friedberg 1,198).
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dament der Fundamente, wie er auch der Heilige der Heiligen ist. Denn Augustinus zeigt in der Psalterauslegung zu Ihre Fundamente auf den heiligen Bergen,231 dass das hauptsächlichste Fundament und der Eckstein der Stadt des neuen Jerusalem, der Stadt Sion, Christus ist, und die Berge die Propheten und Apostel, auf denen die Fundamente der Kirche liegen, und sagt: Ihr wisst, dass Christus sowohl das erste als auch das größte Fundament ist. „Ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, das Christus Jesus ist“, sagt der Apostel. Wie sind also Propheten und Apostel Fundamente und wie ist Christus Jesus Fundament, über den hinaus nichts ist? Wie meinen wir das? Denn so wie man ihn offenkundig „Heiliger der Heiligen“ nennt, so nennt man ihn in übertragenem Sinn „Fundament der Fundamente“. Wenn du also die Glaubensgeheimnisse betrachtest, ist Christus der Heilige der Heiligen; wenn du die untergebene Herde betrachtest, ist Christus der Hirte der Hirten; wenn du den Bau betrachtest, ist Christus das Fundament der Fundamente. 232 Und später zeigt er den Grund auf, warum man Propheten und Apostel die Fundamente der Bauhütte der Stadt Jerusalem nennt, und sagt: Warum sind die Propheten und Apostel Fundamente? Weil ihre Autorität unsere Schwachheit trägt. Warum sind sie Pforten? Weil wir durch sie eintreten. Durch Christus treten wir ein. Er selbst ist die Tür, und man nennt sowohl die Zwölf die „Pforten Jerusalems“ als auch die „eine Pforte“ Christus wie auch die zwölf Pforten „Christus“, weil Christus in zwölf Pforten da ist.233 So weit Augustinus. Und die Glosse über das Wort aus der Offenbarung: Die Mauer der Stadt hat zwölf Fundamente, sagt: Das bedeutet die Propheten, auf deren Glaube die Apostel gegründet sind; von ihnen ging nämlich der Glaube auf die Apostel über und dieselbe Predigt der Apostel hatte auch ihre Glaubwürdigkeit aus den Propheten, die auch dasselbe gesagt haben, und als Fundamente nehmen wir die Apostel an, auf denen das ganze Bollwerk der Kirche gegründet ist. Ebenso sagt die Glosse über das Wort: Die Fundamente der Mauer der Stadt sind je mit einem kostbaren Stein geschmückt: Fundamente, d. h. die Propheten und Apostel, die an sich selbst geschmückt sind durch jede Art von Tugenden.234 Siehe, aus diesen Zeugnissen erhellt, wie Christus das Fundament der Kirche ist und wie die Apostel Fundamente sind. Christus steht in rhetorischer Vertauschung235 stellvertretend für Fundament, weil der Bau der Kirche von ihm her beginnt und sowohl in ihm als auch durch ihn vollendet wird. Die Propheten aber und die Apostel sind FundaPs 87,1. 232 Augustinus, Enarrationes in Psalmos 86,4 (PL 37,1102). 233 A. a. O., 86,6 (PL 37,1105) 234 Glossa ordinaria zu Offb 21,14.19. 235 Antonomasie.
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mente, weil ihre Autorität unsere Schwäche trägt. Und jene Art beabsichtigt auch Ambrosius in seinem Ausspruch auszudrücken, wenn er sagt, dass Petrus deshalb Fels genannt wird, weil er als erster von den Nachfolgern Christi die Fundamente des Glaubens gelegt hat und gleichsam wie ein unbeweglicher Fels, natürlich von seiner Standhaftigkeit am Ende her geurteilt, den Zusammenhalt des ganzen Werkes Christi und die Mühe damit umfasste.236 Das Fundament aber, auf dem die Kirche in Christus gegründet ist, ist der Glaube, den Petrus bekannt hat, als er sagte: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und von diesem Fundament sagt Paulus: Gemäß der Gnade, die mir gegeben ist, damit ich als ein weiser Baumeister ein Fundament lege , nämlich indem er den Glauben an Christus lehrt, und setzt hinzu: Ein anderer baut darauf weiter, d. h. er setzt auf den Glauben gute Werke. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf weiterbaut, nämlich das geistliche Leben in Christus, denn er fährt fort: Denn ein anderes Fundament kann niemand legen, außer dem, das gelegt ist, welches Christus Jesus ist. Wenn aber jemand auf diesem Fundament Gold , d. h. die Lehre von der Gottheit und der himmlischen Dinge, Silber , d. h. die Lehre von der Menschheit Christi und von den Geschöpfen, kostbare Steine ,237 d. h. Tugenden, die die Seele und ihre Kräfte zieren, aufbaut, dann ist er zweifellos auf Christus Jesus gegründet. So haben die Apostel auferbaut, als sie brennend und deutlich die Lehre von der Gottheit, der Menschheit und den Tugenden lehrten und im Fleisch lebend durch ihr Blut die Kirche Christi pflanzten. Wer aber von ihnen hat in Christus mehr auferbaut und die Kirche in Christus gepflanzt? Wenn wir mit des Herrn Hilfe zum Vaterland gekommen sein werden, dann werden wir es zweifellos erkennen. Zugestanden wird aber, dass Petrus von dem Felsen der Kirche, der Christus ist, die Demut, die Armut, die Festigkeit des Glaubens und folglich die Seligkeit hatte. Aber dass aufgrund dieses Wortes des Evangeliums: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, Christus beabsichtigt hätte, auf die Person des Petrus die ganze kämpfende Kirche zu bauen, steht im Widerspruch zum Glauben an das Evangelium mit der Auslegung des Augustinsus und zur Vernunft. Denn auf den Felsen, der Christus ist, von dem Petrus die Festigkeit empfing, wollte Christus seine Kirche bauen, weil Christus Haupt und Fundament der ganzen Kirche ist, nicht aber Petrus. Aber dagegen nennt der selige Dionysius den seligen Petrus den Scheitelpunkt, d. h. die Hauptperson bzw. den Anführer. Und im Büch236
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Vgl. 1Kor 3,10–12.
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lein, das er über den Tod der Apostel Petrus und Paulus schrieb, tröstete er Titus: Als sie voneinander getrennt wurden und zu den Orten der Hinrichtung geführt wurden, redete Paulus den Petrus mit folgenden Worten an: Friede sei mit dir, Fundament der Kirchen und Hirte der Schafe und Lämmer Christi.238 Ferner sagt Augustinus, dass Petrus der erste der Apostel war .239 Ferner spricht Papst Marcellus so: Wir bitten euch, Brüder, dass ihr nicht etwas anderes lehren mögt, als was ihr vom seligen Petrus und von den übrigen Aposteln empfangen habt. Der ist nämlich das Haupt der ganzen Kirche, zu dem der Herr sagt: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“240 Ferner sagt Papst Anaklet: Im Neuen Testament begann nach dem Herrn Christus von Petrus an die priesterliche Weihe, denn ihm ist als erstem das Bischofsamt in der Kirche Christi gegeben worden, als der Herr zu ihm sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.“ Dieser empfing also als erster die Macht zu binden und zu lösen vom Herrn und als erster führte er das Volk durch die Kraft seiner Predigt zum Glauben. Die übrigen Apostel aber empfingen Ehre und Vollmacht in gleicher Gemeinschaft mit Petrus.241 Ferner wird gemeinhin gesagt, dass Petrus das Haupt der Kirche war, weil er „Kephas“ genannt wird, was man mit „Haupt“ übersetzt. Setzt man voraus, was weiter oben im ersten, zweiten, dritten und vierten Kapitel gesagt worden ist, nämlich dass die allgemeine heilige Kirche eine einzige ist, und zwar aller Erwählten, die gerettet werden müssen, und dass allein Christus das Haupt jener Kirche ist, so wie er selbst allein die würdigste Person in jener Kirche ist, die ihr und ihren Gliedern Bewegung und Empfindung im Leben der Gnade verleiht, dann ist offenkundig, dass Petrus weder das Haupt der heiligen katholischen Kirche war noch ist. Und vorausgesetzt, der Ausspruch des seligen Dionysius ist wahr, dass Petrus der Anführer unter den Aposteln und – wie im nachfolgenden Wort über die Apostel gesagt wurde – das Fundament der Kirchen war. Und vorausgesetzt, der Ausspruch des Augustinus ist auch wahr, dass er der erste unter den Aposteln hinsichtlich eines gewissen Vorrangs war. Und vorausgesetzt, der Ausspruch des Marcellus ist wahr, dass Petrus das Haupt der ganzen Kirche war, die er durch Lehre und Beispiel leitete. Andererseits war er weder eine würdigere Person als die Mutter Christi, noch Christus 238 Ps.-Dionysius Areopagita: De divinis nominibus, c. 3; Epistola ad Titum episcopum. 239 Augustinus incertus, Quaestiones in Veteris et Novi testamenti c. 75 (PL 35,2269). 240 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 15: Rogamus (Friedberg 1,970). 241 Decr. Grat. I dist. 21 c. 2: In novo (Friedberg 1,69).
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gleich, noch der Leiter der Engel, der damals als die triumphierende Kirche eingesetzt war. Daher ist es für einen einfachen Gläubigen wenig zweifelhaft, dass es Petrus nicht gewagt hätte zu behaupten, er sei das Haupt der heiligen katholischen Kirche. Denn er hat weder die ganze Kirche geleitet, noch die ganze Kirche an Würde übertroffen, noch ist er der Bräutigam derselben katholischen Kirche gewesen. Johannes der Täufer, mit dem nach dem Zeugnis der Wahrheit verglichen kein Größerer unter den von Frauen Geborenen aufgestanden ist ,242 hat nicht gewagt, sich als den „Bräutigam der Kirche“ zu bezeichnen, sondern sich bescheiden als ein Freund bekannt. Denn seine Jünger eiferten für ihn und sagten: „Rabbi, der mit dir war jenseits des Jordans, dem du ein Zeugnis gegeben hast, siehe, dieser tauft, und alle kommen zu ihm.“ Johannes antwortete und sprach: „Ein Mensch kann nicht etwas empfangen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben wurde.“ Ihr selbst gebt mir das Zeugnis, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht Christus, sondern ich bin vor ihm her gesandt. Wer die Braut hat, ist der Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, freut sich mit Freude wegen der Stimme des Bräutigams .243 Was wollte Johannes ausdrücken, als er sagte ihr gebt Zeugnis, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht Christus? Also nicht ich bin der Bräutigam, sondern Christus selbst, der die Braut hat, der ist der Bräutigam. Es genügt mir, dass ich der Freund des Bräutigams bin, stehe da und höre mit Freude die Stimme des Bräutigams, der sagt: Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete .244 Und es ist deutlich, dass es eine allzu große Anmaßung und Torheit für einen Menschen – abgesehen von Christus – wäre, sich Haupt oder Bräutigam der heiligen katholischen Kirche zu nennen. Der Grund, weshalb aber Christus den Petrus nach sich zum Anführer und Hirten einsetzte, war der Vorrang an Tugenden zur Leitung der Kirche. Andernfalls hätte ihn die Weisheit des Vaters unbedacht zum Bischof seiner Kirche eingesetzt. Und da alle sittlichen Tugenden im Allgemeinen verbunden sind, ist deutlich, dass Petrus einen gewissen Vorrang in jeder Art von Tugenden hatte. Drei Tugenden aber waren es, in denen Petrus herausragte: Glaube, Demut und Liebe. Der Glaube, der das Fundament der Kirche sein muss, ragte zuerst in Petrus heraus, weswegen ihn der beste Lehrer einsetzte. Denn auf die Frage, die er über sich stellte: Wer sagen die Menschen, ist der Menschensohn?, antwortete Petrus für alle: Du bist der Sohn des lebendigen Gottes .245 Da bekennt er die Menschheit in Christus, wodurch er anzeigte, dass Christus der den 242
Mt 11,11.
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Joh 3,26–29.
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Mt 16,15 f.
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Vätern verheißene Messias ist. Und der zweite Teil der Antwort bekennt Christus als wirklichen Sohn. Und so bekennt Petrus, dass Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Und unter allen Artikeln des Glaubens gehört dieser besonders zur Auferbauung der Kirche. Denn nach dem seligen Johannes besiegt der Sohn Gottes die Welt: Wer ist es, der die Welt besiegt, wenn nicht der, der glaubt, dass Christus der Sohn Gottes ist? 246 Denn nachdem dieses Fundament festgehalten ist, wird in der Folge geglaubt, dass alle Dinge, die Christus tat oder lehrte, ohne mögliche Verdrehung von der ganzen Kirche anzunehmen sind. Daher hörte Petrus vom Herrn: Selig bist du, Simon BarJona, denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist . Und aufgrund dieses Glaubens empfing Petrus das Unterpfand für die Leitung der Kirche: Ich sage dir das auch, sprach der Fels: weil du der Petrus bist, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen .247 Aus diesem Grund sind die Statthalter Petri und Vorsteher der Kirche gehalten, den Glauben der Kirche zu predigen. Denn der Erlöser sagt: Ich habe aber für dich gebetet, dass dein Glaube nicht versagt, und wenn du dich einst bekehrt hast, stärke deine Brüder . Denn der für seinen Glauben betete, ist erhört worden um seiner Andacht willen.248 Und zweitens trug er ihm den Amtsvorrang auf, indem er sagte: Dir werde ich nach meinem Tod die Schlüssel des Himmelreichs, d. h. der Kirche, geben, die ich befestigen werde oberhalb der Kirche der Übeltäter. Ich tue das, indem ich dir die Vollmacht gebe, zu binden und zu lösen, damit du die Schlüssel der Kirche nicht unnötigerweise innehast, die ich dir aufgrund des verdienstlichen Bekenntnisses meiner Menschheit und Gottheit gegeben habe. Denn gelehrt von meinem himmlischen Vater hast du gesagt: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes . Denn aufgrund des so festen und tiefen Bekenntnisses wird er „Kephas“ genannt, was übersetzt „Fels“ heißt.249 Daher sagt der sprachkundige Hieronymus, dass „Kephas“ mit Petrus oder „Festigkeit“ übersetzt wird. Und es ist syrisch, nicht hebräisch. Und „Petrus“ heißt übersetzt der Erkennende oder barfuß Gehende bzw. der Erkannte oder der Lösende;250 Petrus als „Festigkeit“ kommt von dem festen und klaren Bekenntnis des Glaubens her. Und daraus erhellt die Auflösung zum letzten Einwand. Denn das Evangelium und Hieronymus übersetzen „Kephas“ nicht mit „Haupt“, sondern „Ke1Joh 5,5. 247 Mt 16,17 f. 248 Lk 22,32; Hebr 5,7. 249 Vgl. Mt 16,18.16; Joh 1,42. Vgl. Hieronymus, De interpretationibus nominum Hebraicorum (PL 23,851–903 passim).
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phas“ wird mit „Petrus“, „Fels“, übersetzt. Was die zweite Tugend, die Demut, betrifft, so hatte Petrus von seinem Meister gehört: Lernt von mir, denn ich bin mild und von Herzen demütig, und von demselben: Wer unter euch groß werden will, der sei euer Diener, und wer unter euch der erste sein will, der sei euer Knecht. Und dasselbe hörte er an anderer Stelle.251 Wie sollte er nicht gewissermaßen mehr als die anderen demütig gewesen sein, da er doch ein gewisses Vorrecht von dem Herrn Jesus Christus hatte? Daher sagt man glaubwürdig, dass Petrus demütig fragte und antwortete, so wie er sich demütig dazu erbot, vor anderen den Dienst an der Kirche auszuüben. Denn als er von den Aposteln nach Samaria gesandt wurde, ging er demütig mit Johannes hin.252 Ferner, als er nach Joppe gerufen wurde, ging er demütig hin und hier blieb er viele Tage bei Simon, dem Gerber.253 Ferner, als er von Cornelius von Joppe nach Caesarea gerufen wurde, ging er demütig hin.254 Ferner, als Jakobus nach der Predigt des Petrus auf dem Konzil der Apostel und der Kirche erklärte und sagte: Hört mich! Simon hat erzählt usw., folgt: Deswegen urteile ich, dass man die nicht beschweren soll, die sich aus den Heiden zu Gott bekehren.255 Ferner findet sich, dass Petrus bei allen umherzog, indem er nämlich demütig das Wort Gottes predigte.256 Ferner, als er von Paulus scharf zurechtgewiesen wurde, erduldete er es demütig.257 Alles dies tat er nicht dank weltlicher Ehre oder des Vorteils wegen, sondern demütig, gehorsam und dienstbar, um die Last des Gesetzes Christi zu tragen. Daher tragen wir in diesen Beispielen die hohe Stellung des Apostels Petrus zusammen, die nach der Demut des Dienstes bemessen werden muss, wie aus der Feststellung des Meisters erhellt, der sagt: Wer sich demütigt, wird erhöht werden.258 Was die dritte Tugend, die Liebe, betrifft, ist deutlich, dass Petrus sie in gewisser Weise über andere hinaus hatte. Das offenbart die Kraft für die guten Werke, die aus recht großer Liebe hervorgehen muss. Und das wird dadurch bestätigt, dass Petrus sonst allzu undankbar gewesen wäre, wenn er nicht seinen Meister entsprechend stark geliebt hätte, der ihn in so einzigartiger Weise liebte, ihn aus schwerer Gotteslästerung trieb und gnädig seinen Schafen voran stellte. Und drittens wird es dadurch bestätigt, dass sonst der Meister ohne Zweck gefragt hätte: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?“ , aber ihm unmittelbar danach seine Schafe zum Weiden anvertraute.259 Und hier wäre zu beachten, wie vielfältig der Grund ist, Christus zu lieben. Einige Mt 11,29; 20,26 f., mit Mt 23,11, Mk 10,43 und Lk 22,26. 38 f.43. 254 Apg 10,17 f.23. 255 Apg 15,14.19. 256 Apg 9,32. mit LK 14,7–11; 18,9–14. 259 Joh 21,15. 251
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lieben ihn nämlich mehr als andere: Sie lieben Christus aufgrund seiner Menschheit, wie man von Philippus glaubt,260 einige aufgrund seines Leibes, der Kirche, und ebenso aus vielen anderen Gründen, derentwegen sie über einen Heiligen sagen, dass sich jenes Wort bewahrheitet: Nicht einer wurde gefunden, der jenem gleicht, der das Gesetz des Höchsten bewahrt e.261 Und es verdeutlicht die Vorrangstellung des Petrus aufgrund der Demut, des Glaubens, der Liebe, ja der Armut und der Armut in Geduld. Denn er sagte zu dem, der ein Almosen erbat: Silber und Gold habe ich nicht. Was ich aber habe, das gebe ich dir. Und weil er vom Meister gehört hat: Durch eure Geduld werdet ihr eure Seelen gewinnen ,262 scheint es wahrscheinlich, dass Petrus wegen der Verleugnung des Meisters zum Erdulden des Martyriums eher bereit war. Denn er erkannte in der Verleugnung des Meisters seine eigene Schwachheit und besaß eine frischere Erinnerung an die eigene Gebrechlichkeit. Wegen der ließ er sich demütig zu anderen herab und war eher bereit, für den verleugneten Herrn bis zum Tod den Kerker zu erleiden. Und es besteht kein Zweifel, dass er die Kerker des Herodes in Jerusalem, die Kerker des Theophilus in Antiochien und die Kerker Neros in Rom263 demütig erduldet hat. Wenn nun ein berufener Statthalter des Petrus seinen Weg in den genannten Tugendweisen dahinzieht, glauben wir, dass er sein wahrer Statthalter und der oberste Bischof der Kirche ist, so weit er sie so leitet. Wenn er aber auf entgegengesetzten Wegen geht, dann ist er ein Gesandter des Antichrists, ein Widersacher des Petrus und des Herrn Jesus Christus. Daher schreibt der selige Bernhard: Dazwischen schreitest du als Hirte, geschmückt und so sehr mit viel bunter Vielfalt umgeben. Was verstehen die Schafe? Wenn ich es zu sagen wagte: diese Weiden sind mehr für Dämonen als für Schafe. Petrus handelte nicht so und Paulus spielte nicht herum. Und später: Gegenüber dem Volk verleugne dich entweder als Hirte oder stelle dich ihm als ein solcher dar. Du wirst dich nicht verleugnen, damit nicht der, dessen Stuhl du einnimmst, dich als Erbe verleugnet. Petrus ist der, der es nicht kannte, in Prozession in Seidengewändern einherzugehen, geschmückt mit Edelsteinen und bekleidet mit Gold oder als Reiter auf einem weißen Pferd, von Soldaten umgeben und umringt von Dienern. Jenseits dessen hat er dennoch geglaubt, hinlänglich das heilsame Gebot erfüllen zu können: „Wenn du mich liebst, weide meine Schafe.“ In diesen Dingen hast du nicht die Nachfolge des Petrus, sondern Konstantins angetreten.264 So weit Bernhard. DieJoh 1,45. 261 Sir 44,20. 262 Apg 3,6; Lk 21,19. 263 Vgl. Apg 12; Gal 2,11; kirchliche Überlieferung vom Martyrium des Petrus unter Nero. 264 Bernhard von Clairvaux,
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ser Heilige wusste, dass Papst Eugen ein Statthalter in Armut und Demut sein musste und nicht in Hochmut, sondern im Weiden der Schafe, dem Petrus nachfolgen sollte. Denn ein Mensch ist der wahre Statthalter dessen, dessen Stelle er vertritt und von dem er die Vertretungsvollmacht rechtmäßig empfängt. Aber niemand vertritt wahrhaft und in für Christus annehmbarer Weise die Stelle Christi bzw. des Petrus, wenn er ihm nicht im Lebenswandel nachfolgt. Denn keine andere Nachfolge ist statthaft, und er erhält nur unter jener Bedingung von Gott die Vertretungsvollmacht. Und somit wird zu solchem Statthalteramt sowohl die Gleichförmigkeit des Lebenswandels als auch die Autorität des Bevollmächtigenden erfordert. Und daher sagte der Erlöser, als er beim letzten Abendmahl die Einsetzung des ehrwürdigen Sakraments stiftete und dazu die Jünger zu seinen Statthaltern einsetzte, dass sie so zu seinem Gedächtnis tun sollten: Ein Beispiel habe ich euch gegeben, dass, wie ich euch getan habe, auch ihr in gleicher Weise tun sollt. Und: Wer es tun und lehren wird, der wird im Himmelreich groß genannt werden.265 Aufgezeichnet im kanonischen Recht sagt der selige Hieronymus in diesem Zusammenhang: Es ist nicht leicht, anstelle der Heiligen Petrus und Paulus den Stuhl derer innezuhaben, die mit Christus herrschen. Denn hierüber heißt es: Es sind nicht die Kinder der Heiligen, die die Plätze der Heiligen innehaben, aber sie vollbringen ihre Werke. Und dort sagt auch der selige Gregor: Nicht die Plätze und Rangstufen bringen uns unserem Schöpfer nahe, sondern mit ihm verbinden uns entweder die guten Verdienste oder das Schlechte trennt uns von ihm. Ferner auch Chrysostomus: Viele Priester und doch wenige Priester ; viele dem Namen nach, aber wenige, was das Tun angeht. Seht also zu, wie ihr auf dem Stuhl sitzt! Denn nicht der Stuhl macht den Priester, d. h. heilig, sondern der Priester den Stuhl zu einer heiligen Würde. Nicht der Platz heiligt den Menschen, sondern der Mensch den Platz. Nicht jeder Priester ist heilig, aber jeder Heilige ist Priester, d. h. er opfert Christus und sich selbst auf. Wer recht auf dem Stuhl sitzt, macht dem Stuhl Ehre. Wer schlecht sitzt, fügt dem Stuhl Unrecht zu. Und so ist er ein schlechter Priester und erwirbt Missetat statt Würde von seinem Priestertum. So weit jener. Ferner heißt es dort aus den „Taten des Märtyrers Bonifazius“: Wenn der Papst, der sein Heil und das der Brüder vernachlässigt, als unnütz und nachlässig in seinem Tun überführt wird und vor allem als einer, der vom Guten schweigt und so mehr sich und den Schafen im Wege steht, d. h. schadet, nichtsdestoDe consideratione ad Eugenium papam lib. 4 c. 2 f. (PL 182,775 f.). Mt 5,19.
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weniger unzählige Leute scharenweise mit sich führt, wird er auf ewig mit vielen Plagen gepeinigt werden und die Höllenteufel mit ihm .266 Doch ist es nicht nötig, viele Heilige heranzuziehen, da der höchste Bischof, der Allerheiligste, sagt: Alle, die wann auch immer gekommen sind, sind Diebe und Räuber. Und zu den Jüngern sagt er: Ihr seid das 5 Salz der Erde. Wenn aber das Salz kraftlos wird, womit soll man salzen? Zu nichts taugt es mehr, außer man wirft es hinaus und lässt es von den Menschen zertreten. Und: Das Salz ist etwas Gutes. Wenn aber das Salz kraftlos wird, womit soll es kräftig gemacht werden? Es ist weder für die Erde noch für den Misthaufen nützlich, sondern man soll es hinauswer- 10 fen . Und weil der allerfrömmste Erlöser und beste Meister diesen Satz den Köpfen der Menschen einprägen will, fügt er sogleich hinzu: Wer Ohren hat zu hören, der höre.267 Also möge jeder Priester zusehen, ob er gut eingetreten ist und von Missetat rein, mit ernstem Vorsatz zur Ehre Gottes und zum Dienst an der Kirche, und ob er würdig reine 15 Ehren bekleidet und den Vorteil der Welt gering achtet. Sonst ist er nämlich ein Lügner, ein Antichrist. Und je höher er im Amt steht, ein desto größerer Antichrist ist er. Ein demütiger Erdenwanderer möge Christus ansehen, der sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben .268 Siehe, hier hat er einen Weg, auf dem er gehen will – denn 20 Christus ist der Weg –, wohin er gehen will – Christus ist die Wahrheit – und wo er bleiben will – Christus ist das Leben. Kapitel 10 Nun muss von der Vollmacht gesprochen werden, die den Statthaltern 25 Christi von ihm verliehenen wurde und die hier erwähnt wird: Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreichs geben, d. h. die Vollmacht, die Sünden zu binden und zu lösen. Augustinus sagt, von wem die Wirkung der Vollmacht aufgezeigt wird, wenn Christus hinzufügt: Und was du auf Erden binden wirst, wird im Himmel gebunden sein. Und was 30 du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.269 Und weil die genannte Vollmacht eine geistliche Vollmacht ist, muss man also beachten, dass eine geistliche Vollmacht eine Macht des Geistes und von sich aus unmittelbar verordnet ist, damit das vernünftige Geschöpf von den Gnadengütern her geleitet und zusammengehalten 35 Hieronymus, Epistula ad Eliodorum, nach Decr. Grat. I dist. 40 c. 2 (Friedberg 1,145); Gregor d. Gr., nach a. a. O., c. 4 (Friedberg 1,146); Chrysostomus, nach a. a. O., c. 12 (Friedberg 1,147 f.); Gesta Bonifacii martyris, nach a. a. O., c. 6 (Friedberg 1,146). 267 Joh 10,8; Mt 5,13; Lk 14,34 f. 268 Joh 14,6. 269 Mt 16,19; das Augustinuszitat s. o. S. 407. 266
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wird sowohl vom Subjekt als auch vom Objekt her. Jeder Mensch aber ist Geist, obwohl er von zweierlei Naturen ist, wie der Erlöser sagt, als er zu den Jüngern spricht: Wisst ihr nicht wessen Geistes ihr seid? Und: Jeder Geist, der Jesus aus Gott heraus löst, ist nicht aus Gott.270 Der hier genannte Geist ist ein scharfsinniger Ketzer: Er leugnet, dass Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Und es ist offenkundig wahr, dass alle geistliche Vollmacht eine Macht des Geistes ist, wobei es gleich ist, ob die Macht zu Gott und den vernünftigen Geschöpfen in Analogie gesetzt oder auf die Gewalt der Menschen und der Engel beschränkt wird. Und obwohl der Mensch nicht die Gnade gibt, verwaltet er dennoch die Sakramente, damit der Untergebene gemäß den Gnadengütern geleitet wird. Die leibliche Gewalt aber, obwohl sie um der Gnadengüter willen existiert, ist dennoch unmittelbar, um Gottes Schöpfung gemäß den natürlichen Gütern bzw. denen des Glücks zu ordnen. Und so scheint jeder Mensch eine zweifache Macht zu haben. Denn jeder Mensch muss über die Handlungen der Körperglieder Macht haben und hat außerdem Macht, in der Gnade zu leben. So umfasst auch die geistliche Vollmacht eine vielfältige Unterteilung: Einerseits ist sie Weihevollmacht und andererseits allgemeine Vollmacht. „Weihevollmacht“ nennt man die geistliche Macht, die der Geistliche zur Verwaltung der Sakramente der Kirche hat, damit er sich und den Laien geistlich nützt: die Vollmacht, die Wandlung zu vollziehen, zu absolvieren und die anderen Sakramente zu verwalten. Denn die Vollmacht die Wandlung zu vollziehen wird für sich und unmittelbar übertragen, damit der Priester die Wandlung vollzieht, so wie die Haltung der sittlichen Tugend übertragen wird, um durch die Haltung bessere Handlungen zu ermöglichen. Und da der Priester, damit er die Wandlung würdig vollzieht, gemäß den Gnadengütern geleitet wird, ist die obengenannte Beschreibung offensichtlich. Die allgemeine geistliche Vollmacht aber ist die Macht, die jeder Christ in der Ausübung der geistlichen Werke der Barmherzigkeit für sich und für andere besitzt. An sie erinnert jener Vers: Lehre, rate, reinige, tröste, vergib, bringe, bete .271 Denn wie viele ihn aufnahmen, denen gab Christus durch den geformten Glauben Macht, Gottes Kinder zu werden, damit es ihnen möglich sei, sich und ihre Brüder auf dem Weg seines, des Vaters Christi, zu leiten und auch liebevoll zurechtzuweisen, wie erhellt: Wenn dein Bruder 270 Lk 9,55; 1Joh 4,3 (Vg., Personeinheit der göttlichen und menschlichen Natur Christi). 271 Oft benutzter und variierter Merkvers für die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit (z. B. in den Sentenzenkommentaren von Albertus Magnus und Bonaventura).
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gegen dich gesündigt hat , sagt Christus, weise ihn allein zwischen dir und ihm zurecht.272 Die weltliche Gewalt ist zweifach, nämlich bürgerlich und allgemein. Die bürgerliche, gebietende Gewalt steht nur dem bürgerlichen Herrn zu, aber die stellvertretende bürgerliche Gewalt steht seinen Beamten und Bediensteten zu. Die allgemeine weltliche Gewalt ist die Macht, durch die der Mensch sich und die Seinen gemäß den Gütern der Natur und des Glücks leiten kann. Und so, wie der Mensch ohne Seele und Leib nicht ein ganzer sein kann und ohne die Güter der Natur und der Gnade auch nicht ein angenommenes Kind Gottes, so steht nicht fest, dass er ein Erdenwanderer ist, wenn er nicht sowohl allgemeine weltliche wie auch geistliche Gewalt hat, obgleich diese an die Kinder und die Toten gebunden ist. Die geistliche Gewalt ist überall vollkommener, und die priesterliche Vollmacht selbst übersteigt, was die Würde angeht, die königliche Gewalt. Denn nach dem Apostel ist der größer, der segnet, und der geringer, der gesegnet wird.273 Daher übersteigt die geistliche priesterliche Gewalt die königliche an Alter, Würde und Nutzen: an Alter, weil das Priestertum nach dem zweiten Mosebuch auf Gottes Befehl hin eingesetzt wurde274 und später, nach dem fünften Mose- und ersten Samuelisbuch durch das Priestertum auf Gottes Befehl hin die königliche Gewalt.275 Die geistliche Gewalt übersteigt – wie gesagt – die weltliche an Würde, weil der Priester als der Größere den König weiht und salbt. Der Nutzen aber erweist sich deswegen als größer, weil die geistliche Gewalt an sich zur Herrschaft über das Volk ausreicht, wie an Israel deutlich wird: Bis zu den Zeiten Sauls wurde es ohne königliche Macht heilsam geleitet. Daher übersteigt die geistliche Gewalt, da sie den besten Gütern vorsteht und für sich ausreicht, die irdische, da diese ohne die geistliche Gewalt, die grundsätzlich lenkt, nichts vermag. Dagegen kann aber die geistliche Gewalt an sich ohne die weltliche ausreichend sein. Und daher kommt es, dass die Priester, die eben diese, so hohe Gewalt durch Hochmut oder durch ein anderes Vergehen missbrauchen, umso tiefer mit dem Teufel in die Hölle fahren. So die Regel des heiligen Gregor und anderer Heiliger: je höher der Stand, desto schwerer der Fall. Und es ist festzuhalten, dass Gewalt ohne nähere Bestimmung, die Macht zum Leiten meint, und ein andermal, mit einer Beifügung versehen, diese und jene Macht mit einer deutlichen Kennzeichnung oder zuverlässigen Erläuterung. 272
Joh 1,12; Mt 18,15.
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Hebr 7,7.
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Nach Ex 28.
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Nach Dtn 17; 1Sam 12.
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Und da die Bedeutungen billigerweise bekannt sind, ist deutlich: Es ist kein Widerspruch, dass es keine Gewalt gibt, außer von Gott, aber dass es dennoch etwas gibt, das von Gott her Gewalt verleiht, d. h. die zuverlässige Erläuterung im Angesicht der Kirche, dass eine erschaffene Person von Gott eine derartige Gewalt hat. Eine solche beigefügte Gewalt wird zwar zu einem Teil von einem Menschen gegeben, aber nur, wenn Gott es grundsätzlich bewilligt. Und daraus kann weiter verstanden werden: Die Gewalt wird nicht gelockert noch angezogen, vermehrt oder vermindert, was ihr Wesen angeht, sondern was die Ausübung des Werks, das von ihr ausgeht, betrifft. Und das darf sie tun, aber nur wenn ein vernünftiger Grund im Hinblick auf Gott vorhanden ist. Und diesen Sinn lehrt das kanonische Recht: Eines ist die Amtsvollmacht, etwas anderes die Ausübung. Doch wie man meist bei den Mönchen und anderen die Amtsvollmacht beschränkt, wird wie auch bei den Amtsenthobenen, denen die Ausübung untersagt ist, die Vollmacht nicht weggenommen .276 Und zum übereinstimmenden Sinn passt, dass die natürliche Macht, der freie Wille, einmal durch die Gnade gelockert und ein andermal verengt werden kann. Und so werden durch die Mehrdeutigkeit des Begriffs die scheinbaren Uneinigkeiten der Lehrer gelöst, von denen einige, wie Anselm, sagen, dass der freie Wille nicht verloren gehen, weder vermehrt noch vermindert werden kann. Andere aber, wie Augustinus, sagen, dass der freie Wille durch die Sünde verloren gehen und durch die Gnade vermehrt werden kann.277 Daher gibt es in der Kirche einen großen Streit um die Vollmacht, was die Übertragung, den Entzug oder die Beschränkung von Ämtern betrifft. Gleichwohl ist bekannt: Wenn Gott und die Vernunft dazu nötigen, dass etwas zum Nutzen der Kirche so und so durch den Menschen geschehen soll, dann und nicht anders gibt, entzieht oder beschränkt Gott eine derartige Vollmacht. Wenn daher Christus dem Petrus sagte: Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreichs geben, d. h., die Macht zu binden und zu lösen, sagte er das in der Person des Petrus der ganzen kämpfenden Kirche. Er sagte nicht, dass jede beliebige Person jener Kirche unterschiedslos diese Schlüssel haben sollte, sondern dass die ganze Kirche entsprechend ihren einzelnen, dazu fähigen Teilen jene Schlüssel haben soll. Aber jene Schlüssel sind keine dinglichen, sondern die geistliche Gewalt und die Kenntnis des evangelischen Wissens. Und wegen dieser Gewalt und Kenntnis glaubt man, dass Christus von Schlüsseln in der Mehrzahl Decr. Grat. II C. 24 q. 1, c. 37: Miramur (Friedberg 1,981). 277 Vgl. Augustinus, De fide spe et charitate (Enchiridion ad Laurentium), c. 30 (PL 40,246).
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spricht. Daher sagt der Magister der Sentenzen: „Schlüssel“ sagt er in der Mehrzahl, weil einer nicht genügt. Diese Schlüssel sind das Wissen des Unterscheidens und die Vollmacht des Urteilens, womit der kirchliche Richter die Würdigen aufnehmen, die Unwürdigen vom Himmelreich ausschließen muss. 278 Aber man muss beachten: Wenngleich allein die Trinität eine derartige zuverlässige und grundsätzliche Macht hat, hat allein Christus in seiner Menschheit aus sich selbst heraus eine derartige untergeordnete zuverlässige persönliche Macht, weil Christus zugleich Gott und Mensch ist. Dennoch haben die Vorsteher der Kirche eine ihnen anvertraute, Hilfs- oder Dienst-Vollmacht, die die richterliche Vollmacht ist und grundsätzlich in zweierlei besteht, nämlich in der Vollmacht, unterscheidend zu erkennen, und der Vollmacht, richterlich zu entscheiden. Und deren erste wird in der Instanz der Buße der Schlüssel des Gewissens genannt und ist als einordnende der zweiten vorgeordnet. Denn niemand hat zu Recht die Vollmacht, endgültig zu entscheiden, wenn er nicht zuvor die Vollmacht zur Erkenntnis in der Sache hat, in der er eine Entscheidung fällen soll. Daher ist der erste Schlüssel nicht ein Handeln oder ein Zustand des Wissens, sondern die Vollmacht, solchermaßen vorhergehend zu erkennen. Jede priesterliche Amtsvollmacht also, die dazu dient, dem Menschen die Tür, d. h. Christus, zu öffnen oder vor dem Untergebenen das genannte Himmelreich zu verschließen, ist der Schlüssel der Kirche, der dem Petrus und anderen gegeben ist. Das geht aus der Stelle hervor, wo der Erlöser sagt: Wahrlich, ich sage euch, was ihr auf der Erde binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf der Erde lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein. Und: Empfangt den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden erlassen werdet, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten. Und es wird sowohl dem Petrus als auch in seiner Person der Kirche gesagt: Was du binden wirst.279 Aber diese Worte erschrecken aus Mangel an rechtem Verständnis viele Christen, sodass sie sich unterwürfig fürchten, und andere werden durch die Worte getäuscht und fassen Vorurteile über die Fülle der Vollmacht. Somit ist zuerst vorauszusetzen: Der Ausspruch des Erlösers über die Kraft dieses Wortes ist deswegen notwendig, weil es nicht möglich ist, dass ein Priester etwas löst oder bindet, wenn dieses Lösen oder Binden nicht im Himmel geschieht. Gemeint ist nicht „im Himmelsraum“, der die unter dem Mond befindliche Welt und alles was darin 278 Vgl. Petrus Lombardus: In quatuor sententiarum lib. 4 dist. 18 c. 2. Joh 20,22 f.; Mt 16,19.
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ist, enthält, sondern vermöge göttlicher Billigung und die der Engelwesen, die den Himmel bilden. Hier ist anzumerken: In der Seele, die eine Todsünde begeht, ist eine Schuld vorhanden und die Gnade wird verdorben oder hört auf vorhanden zu sein. Das ist deshalb so, weil derjenige, der eine Todsünde begeht, mit der Schuld ewiger Verdammnis belastet wird, wenn er nicht Buße tut, und in dieser andauernden Schuld von der Gemeinschaft derer getrennt ist, die in der Gnade leben. Aber er kann das Heilmittel der Buße erlangen, durch die die Schuld gelöscht, die Gnade übertragen, die Fessel der Verdammnis gebrochen und der Mensch durch die Gnade mit der Kirche wieder vereint wird. Diese Buße wird durch Reue, Beichte und Genugtuung vollbracht. Die Reue ist Traurigkeit oder vollkommener Schmerz über die begangene Sünde und muss das Missfallen sowohl über die begangene Sünde einschließen als auch über die, die begangen werden könnte. Auch würde diese Reue dem Menschen im Fall der letzten Not zur Errettung genügen. Daher trug der Erlöser der Ehebrecherin, als er erkannte, dass ihr Gemüt von Trauer gezeichnet war, eine zweite Pflicht auf und sagte: Geh und sündige weiterhin nicht mehr.280 Und daher sagen die Heiligen Augustinus, Ambrosius und Gregor übereinstimmend: „Bereuen“ heißt die begangenen und zu beklagenden bösen Taten nicht mehr begehen zu wollen. Zweitens ist anzumerken: Zur Gerechtmachung des Gottlosen ist eine unendliche Macht erforderlich, durch die Gott die Seele vom Makel reinigt und Gnade gewährt. Zweitens ist Gottes Barmherzigkeit erforderlich, die die Beleidigung seiner Majestät und die ewige Strafe für die Schuld nachlässt, wenn der Sünder dazu bereit ist. Und daher betet die Kirche häufig so: Allmächtiger und barmherziger Gott, wobei sie die unendliche Macht und Barmherzigkeit Gottes anfleht. Dass aber eine unendliche Macht zur Gerechtmachung des Gottlosen erforderlich ist, geht daraus hervor, dass es nach Augustinus leichter ist, die Welt zu erschaffen als einen Gottlosen gerecht zu machen. Als ein Erstes aber erfordert unendliche Macht folglich auch ein Zweites. Und der Grund dafür ist: Bei der Gerechtmachung des Gottlosen ist die tätige Gabe des Heiligen Geistes erforderlich, die nur von Gott erlangt werden kann, wie Augustinus an vielen Stellen beweist, wie ich in meinem genannten Traktat Über die Ablässe dargelegt habe. Und der Magister der Sentenzen folgert aus den Aussprüchen des Augustinus: Also können Menschen, wie heilig sie auch sein mögen, 280
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nicht den Heiligen Geist geben.281 Und die gleiche Begründung gilt für die tätige Vergebung der Sünden. Daher sagt Johannes der Täufer ausschließlich über Christus: Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt.282 Dazu sagt Augustinus: Niemand soll sich anmaßen und sagen, dass er die Sünden der Welt wegtrage.283 Nun, beachtet, auf welche Hochmütigen Johannes mit dem Finger zeigt. Noch waren sie keine Ketzer, aber schon wurden sie als solche aufgezeigt, und gegen sie zeugte er laut vom Fluss her.284 Daher beschuldigten die Juden Christus oft der Blasphemie, weil sie ihn für einen bloßen Menschen hielten. Aber fälschlicherweise sagten sie, dass er nicht einfach Sünden erlassen könne, weil eine Sünde nicht einfach erlassen wird außer deswegen, dass die Beleidigung gegenüber Gott gelöst wird. Aber wer erlässt ein Unrecht, außer es wurde entweder einem selbst oder seinem Untergebenen angetan? Gott, der solche Vollmacht gibt, erlässt zuerst das Unrecht, das ihm angetan wurde, bevor sein Statthalter es vergibt. Daher sagt Ambrosius hierzu: Der allein erlässt die Sünden, der für uns allein gestorben ist . Ebenso: Das Wort Gottes erlässt die Sünden; der Priester ist der Richter. Der Priester übt zwar sein Amt aus, handhabt aber die Rechte nicht in eigener Vollmacht.285 Hierher gehören ein Zitat aus Hieronymus, das der Magister der Sentenzen weiter oben anführt, und eins von Gregor. Und der Grund bezüglich des Behaltens und Bindens der Sünden ist der gleiche. Daher folgert der Magister der Sentenzen aus den angeführten Autoritäten und Gründen: Allein Gott reinigt daher von dem Makel der Sünde und von der Schuld der ewigen Strafe. Und danach beschließt er das Kapitel so: Durch diese und die meisten anderen Zeugnisse wird gelehrt, dass Gott allein und von sich aus die Sünden nachlässt; und so, wie er sie einigen nachlässt, so behält er sie einigen anderen.286 Fragt aber jemand: „Wenn allein Gott die Sünden erlassen oder behalten kann, wozu hat er dann den Aposteln und ihren Statthaltern gesagt: Was ihr auf der Erde lösen werdet usw., und wiederum: Denen ihr die Sünden vergebt“? – Was also heißt es: Der Priester löst oder bindet, vergibt oder behält die Sünden? Auf den ersten Einwand antwortet der Magister der Sentenzen: Die Priester binden tatsächlich, wenn sie dem Beichtenden die Genugtuungsleistung der Buße auferlegen. Sie lösen, wenn sie von ihr etwas nachlas-
Petrus Lombardus, In quatuor sententiarum lib. 1 dist. 14 c. 6. 282 Joh 1,29. Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 4 (PL 35,1410). 284 Vgl. Mt 3,7–10. 285 Decr. Grat. II C. 33 q. 3: De poenitentia, dist 1 c. 51: Verbum domini (Friedberg 1,1170 f.). 286 Petrus Lombardus, In quatuor sententiarum lib. 4 dist. 18 c. 4. 281 283
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sen oder diejenigen, die durch Genugtuung gereinigt wurden, zur Gemeinschaft der Sakramente zulassen. 287 Zum zweiten Einwand sagt Richard von St. Viktor schön: Denn was heißt Sünden vergeben als das Unterscheidungsurteil, welche Sünden man durch Nachlassen lossprechen und durch Lossprechen nachlassen soll? Und was heißt Sünden behalten anders als die nicht wahrhaftig Bußfertigen nicht lossprechen zu wollen. Denn viele Beichtende suchen die Lossprechung, die dennoch ihre Vergehen nicht gänzlich aufgeben wollen. Viele versprechen für künftig Vorsicht, aber wollen keine Genugtuung leisten. Alle solche dürfen zweifellos deshalb nicht losgesprochen werden, weil sie nicht wahrhaft bußfertig sind. Wahrhaft Buße tun heißt nämlich: mit dem festen Vorsatz zu beichten über die vergangenen Übertretungen Schmerz empfinden, Genugtuung zu leisten und sich mit aller Vorsicht künftig vor Sünden zu hüten. Die so Bußfertigen, muss man lossprechen, sie andernfalls ohne Lossprechung zurückschicken, d. h. ihnen „die Sünden behalten“. Und: Siehe, aus dem, was wir schon gesagt haben, werden wir deutlich erkennen können, was der Herr bei der Sündenvergebung durch sich selbst tut, was durch seinen Diener, aber auch, was er zugleich durch sich selbst und durch das Amt seiner Diener tut. Durch sich selbst freilich löst er die Fessel der Verstockung, durch sich und seinen Diener die Schuld der ewigen Verdammnis, durch den Diener hingegen die Schuld der künftigen Reinigung. Denn die Gewalt zur ersten Vergebung hat er sich allein vorbehalten, die zweite hingegen vollbringt er zugleich durch sich und den Diener, die dritte aber pflegt der Herr nicht sowohl durch sich selbst als vielmehr durch den Diener zu vollbringen. Zwar sagt man zurecht, dass der Herr den wahrhaft Bußfertigen von der Fessel der Verdammnis losspricht. Zurecht sagt man nichtsdestoweniger auch, dass dies der Priester vollbringt und der Herr: der Herr nämlich bezogen auf die Bekehrung des Herzens, der Priester aber bezogen auf die mündliche Beichte. Dem Bußfertigen freilich genügt allein die Herzensbeichte wahrhaftig zum Seelenheil, sooft der Fall letzter Not die mündliche Beichte und die Lossprechung des Priesters ausschließt .288 So weit Richard. Aus dem schon Gesagten geht hervor, dass Gott von Ewigkeit her erwählt und zeitlich eher die Lossprechung dessen, der gerettet werden soll, und die Vergebung seiner Sünde vollzieht, als er von einem Diener der Kirche hier auf Erden losgesprochen wird. Und zweitens ist klar, dass ein Diener der Kirche als Statthalter Christi nicht irgendjemanden lossprechen oder binden, ihm die Sünden nachlassen oder behalten 287
A. a. O., c. 7.
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kann, wenn Gott das nicht zuvor tut. Das ist klar durch das Wort: Ohne mich könnt ihr nichts tun.289 Paulus, das Gefäß der Erwählung, hat das gewusst. Daher sagt er, dass wir nicht fähig sind, aus uns selbst heraus, angeblich aus uns selbst heraus, etwas zu erdenken, sondern unsere Fähigkeit ist aus Gott .290 Wenn wir also nicht fähig sind zu denken, wenn Gott nicht den Gedanken zuvor gemacht hat, wie sind wir dann fähig, zu binden oder zu lösen, wenn er nicht selbst zuvor gebunden oder gelöst hat? Und dies wissen die Philosophen und sagen, dass nichts als zweite Ursache wirken kann ohne die Mitwirkung der ersten Ursache. Und es ist weiter klar, dass der Mensch nicht von einer Sünde gelöst werden noch die Vergebung der Sünden empfangen kann, wenn Gott ihn nicht gelöst und die Vergebung gegeben hat. Daher hat Johannes der Täufer gesagt: Ein Mensch kann nicht etwas empfangen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben wird.291 Wie daher ein irdischer Herr eher im Geist eine irdische Sünde vergibt, die gegen ihn begangen wurde, bevor er es durch sich oder durch einen anderen verkünden lässt, so tut das notwendigerweise auch Gott. Daher sind die Priester völlig verrückt, die meinen und sagen, dass sie auf ihr Wort hin lösen oder binden, ohne dass Jesus Christus zuvor gelöst oder gebunden hat. Denn das Binden oder Lösen Gottes ist schlechthin das erste. Daher sagt das Evangelium, dass das auf Erden Gebundene auch im Himmel gebunden sein wird . Aber es hat nicht gesagt, dass im Himmel danach und nicht zuvor gebunden wird. Daher meinen die Unwissenden, dass der Priester zuerst zeitlich und gegenwärtig bindet und löst, und Gott es danach tut. Es ist eine Dummheit, dies zu meinen. Aber die Logiker wissen gut, dass es eine doppelte Priorität gibt, nämlich die Priorität des Ursprungs, die von der materiellen Ursache her verstanden wird, und die Priorität der Würde, die vom Endzweck her verstanden wird. Diese beiden Prioritäten treffen zur gleichen Zeit zusammen, und so geht das Binden und Lösen der kämpfenden Kirche in gewisser Weise dem Binden und Lösen der triumphierenden Kirche voraus und umgekehrt. Aber Gottes Binden und Lösen ist schlechthin das erste. Und klar ist, dass es eine Gotteslästerung wäre, an der Annahme festzuhalten, der Mensch könne eine Übeltat vergeben, die gegen einen solchen Herrn begangen wurde, ohne dass der Herr das billigt. Denn weil dieser Herr der alles Umfassende ist, muss er selbst zuerst lossprechen oder binden, wenn irgendein Stellvertreter dies tut. Und kein Glaubensartikel darf uns gewisser sein, als der: Ein Glied der kämpfenden Kirche kann nur lossprechen 289
Joh 15,5.
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2Kor 3,5.
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Joh 3,27.
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oder binden, der er sich mit dem Haupt der Kirche, unserem Herrn Jesus Christus, im Einklang befindet. Daher muss sich ein Glaubender vor diesem Ausspruch hüten: Wenn der Papst oder ein anderer vorgibt, dass er durch irgendein Zeichen löst oder bindet, dann wird dadurch ohne weiteres gelöst oder gebunden. Ja, es zuzugestehen hat zur Folge, dem Papst zuzugestehen, dass er nicht sündigen kann und somit Gott ist. Sonst könnte er nämlich irren und nicht im Einklang mit dem Schlüssel Christi handeln. Aber es steht fest: So, wie es unmöglich ist, dass die Figur eines Schlüssels etwas öffnet, wenn gar kein wirklicher Schlüssel aus Metall da ist, so ist es auch unmöglich, dass ein Statthalter Christi öffnet oder schließt, außer er entspricht dem Schlüssel Christi, der zuvor öffnet oder schließt. Wie nämlich Christus als der Erstgeborene von vielen Brüdern und Erstlingsfrucht der Schlafenden292 zuerst in das Himmelreich eingedrungen ist, so konnte allein er, das Haupt, das geistliche Reich erwerben, das seit der Verfehlung der Ureltern bis zu ihm allgemein verschlossen war. Und solches gilt für jedes Öffnen und Schließen in Hinsicht auf das himmlische Vaterland. Und es ist klar, dass jeder Statthalter Christi, solange er in dieser Welt lebt, auch in den Dingen irren kann, die den Glauben und die Schlüssel der Kirche betreffen, wie die Kenner der Chroniken wissen, da auch Petrus als erster Statthalter Christi so gesündigt hat. Ferner ist es Gott, der nicht ohne Kenntnis davon sein kann, wem die Sünde zu vergeben ist, und er allein ist es, der nicht durch eine verkehrte Neigung bewegt werden kann, auch ungerecht zu urteilen. Aber jeder Statthalter kann in Unkenntnis sein, wem die Sünde zu vergeben ist und kann durch verkehrte Neigung zum Binden oder Lösen bewegt werden. Also: Wenn er aber – bewegt von Zorn oder Habsucht – einen wahrhaft Bußfertigen und Beichtenden nicht lossprechen wollte, kann er nicht ohne weiteres jenen in Schuld binden. Ähnlich verhält es sich, wenn einer verlogen zur Beichte kommt, wie es sehr oft geschieht, und der Priester die Heuchelei nicht erkennt und mit Worten die Lossprechung erteilt, dann hat er ihn ohne Zweifel nicht losgesprochen. Denn es heißt: Der Heilige Geist der Zucht wird die Lüge meiden.293 Siehe, im ersten Fall gab der Statthalter vor, dass er bindet bzw. die Sünden behält – und macht es nicht; und im zweiten Fall gab er vor, dass er löst bzw. nachlässt – und macht es nicht. Und es zeigt sich, wie groß die Täuschung ist, die umläuft, sowohl seitens derjenigen, die die Schlüssel handhaben als auch seitens jener, die nicht wahrhaft bußfertig sind. Jemand, der losgesprochen werden will, muss nämlich zuerst 292
Röm 8,29; 1Kor 15,20.
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SapSal 1,5.
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in seinem Willen beabsichtigen, dass er unter der Schuld leidet und beabsichtigt, weiterhin nicht mehr zu sündigen. Daher können alle Priester als Statthalter zugleich einen nicht von seinem Vergehen lossprechen, der weiterhin frevlerisch sündigen und nicht unter der Sünde leiden will. Ähnlich können alle zugleich nicht einen Gerechten binden und ihm die Sünden behalten, wenn er sich von ganzem Herzen vor dem Herrn demütigt und ein zerknirschtes Herz hat, was Gott nicht verachtet. Daher sagt der heilige Hieronymus über jenes Wort: Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreichs geben. Diese Stelle haben einige, die nichts verstehen, so aufgefasst, dass sie vom Stolz, d. h. Hochmut, der Pharisäer handelt: wie diese meinen, die Unschuldigen zu verdammen oder die Schuldigen zu lösen, wenngleich Gott nicht das Urteil der Priester, sondern das Leben der Beklagten erforscht.294 Diesen Worten fügt der Magister der Sentenzen hinzu: So zeigt sich auch hier offenkundig, dass Gott nicht dem Urteil der Kirche folgt, die durch Betrug und Unkenntnis urteilt . Und er fügt weiter hinzu: Manchmal ist jemand, der hinausgeschickt wird, d. h., der durch den Priester das Urteil erhält, außerhalb der heiligen Kirche zu sein, in ihr, und jemand der in Wahrheit draußen ist, scheint drinnen gehalten zu werden – durch das falsche Urteil der Priester.295 Und weiter heißt es dort: Ein Priester, der andere bindet und löst, muss verständig und gerecht sein, da er ansonsten häufig die Seelen tötet, die nicht sterben, und lebendig macht, die nicht leben, und so dem Urteil der Verdammung verfällt: Ich werde eure Segnungen verfluchen und eure Fluchsprüche segnen.296 Also müssen sich die Statthalter Christi hüten, dass sie sich nicht unbesonnen anmaßen, wen immer sie wollen zu lösen und zu binden. Aber es wird ein Einwand erhoben durch Papst Innozenz, der sagt: Der Herr sprach zu Petrus und in [der Person des] Petrus sprach er zu dessen Nachfolgern: Was du binden wirst auf der Erde usw. Nichts nahm er aus, der sagte: Was auch immer.297 Hier ist zu festzuhalten, dass nach jenem Ausspruch: Was du lösen wirst, Petrus die Schrift nicht auflösen konnte, weil der Erlöser sagte: Die Schrift kann nicht aufgelöst werden. Zweitens konnte er nicht den Unbußfertigen lösen und sagte daher zu Simon dem Zauberer: Tue doch Buße über diese deine Bosheit und bitte Gott, ob dir vielleicht vergeben wird. Drittens konnte er nicht die Ehe auflösen, weil der Erlöser sagte: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden . Nach Petrus Lombardus, In quatuor sententiarum lib. 4 dist. 18 c. 6 zu Mt 16,9 A. a. O., c. 6.8. 296 A. a O., dist. 19 c. 4 mit Ez 13,19; Mal 2,2. 297 Decr. Greg. IX. lib. 1 tit. 23: De maioritate et obedientia, c. 6: Solitae (Friedberg 2,198). 294 295
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Viertens konnte er Judas nicht von der Sünde lösen, weil der Erlöser sagte: Keiner von diesen geht verloren, als nur der Sohn des Verderbens, auf dass die Schrift erfüllt werde.298 Wenn also Petrus aufgrund dieses Ausspruchs: Was du auf der Erde lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein, beanspruchte, er könne in den vier oben genannten Fällen lösen, wäre das dann auch im Himmel so gelöst? Gewiss nicht! Denn der Wille Gottes stünde dem entgegen in Bezug auf die Heilige Schrift, auf die Ehe, auf Judas; und in Bezug auf den anderen, der nicht Buße tun will, stünden dessen Hartnäckigkeit und der Wille Gottes entgegen. Denn aus dem Ausspruch folgt nicht: Dieser Statthalter meint, er könnte lösen und binden, wen er nur wollte, und es daher auch tut. Und dazu sagt der heilige Augustinus Folgendes: Gott stellte den Lazarus, der schon tot war, und den er aus der Gruft wiedererweckt hatte, seinen Jüngern als zu lösenden 299 dar und zeigte dadurch die den Priestern gewährte Löse-Vollmacht an. Er sagte: „Was ihr auf der Erde lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein, d. h., ich, Gott, und alle Ordnungen des himmlischen Heeres und alle Heiligen, die in dieser Glorie loben, bestätigen euch, dass ihr bindet und löst.“ Er sagte nicht: „die ihr zu binden und zu lösen meint“, sondern: „gegenüber denen ihr die Werke der Gerechtigkeit oder der Barmherzigkeit ausübt. Aber andere Werke gegenüber den Sündern, die ihr tun könntet, kenne ich nicht.“ 300 So weit Augustinus, der diese Vorstellung über die Geistlichen in Bezug auf das Lösen und Binden vorhersah. Ebenso sagt Richard von St. Viktor: Aber bisher folgst du meiner Argumentation und sagst: Wenn ich nicht die Sünden – was immer es sei, und wer immer sie begangen hat – binden und gleichermaßen lösen, vergeben und behalten kann, was bedeutet es dann, dass zu Petrus ganz allgemein gesagt ist: „Was auch immer du binden wirst auf der Erde, was auch immer du lösen wirst“? Ähnlich und ganz allgemein wird dargetan, was allen Aposteln insgesamt gesagt ist: „Welchen ihr vergebt, denen sind sie vergeben, welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“ Aus gutem Grund würde dir diese Frage zu denken geben, wenn der Herr dem Petrus gesagt hätte: „Was auch immer du binden willst, wird gebunden sein, und was auch immer du lösen willst, wird gelöst sein.“ Aber das sagte er nicht, noch wollte er es so verstanden wissen. Wenn jemand binden will, was er nicht binden kann, wird es etwa deswegen gebunden sein? Wer würde das sagen? Er sagt also nicht: „Was auch immer du binden willst“, sondern: „Was auch immer du binden wirst, wird im Himmel gebunden Joh 10,35; Apg 8,22; Mt 19,6; Joh 17,12. et falsa paenitentia, c. 6 (PL 40,1122).
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Vgl. Joh 11,44.
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sein“. Jener wird schlechterdings wahrhaft gebunden, der entsprechend dem Verlauf seiner Beichte zu einer gerechten Verbindlichkeit von Genugtuung verpflichtet wird. Jener wird durch das priesterliche Amt wahrhaftig absolviert, dessen Sünde auf eine würdige Genugtuung hin zu Recht vergeben wird. Es bindet daher und absolviert diejenigen, die zu Recht verdienen, durch das Votum des Priesters losgesprochen zu werden. Aber die Sünden jener werden ohne Zweifel behalten, denen nicht zu Unrecht, sondern zu Recht die Lossprechung von den Sünden verweigert wird. Was daher der Herr zu Petrus sagt, bedeutet dasselbe, als wenn er mit anderen Worten gesagt hätte: „Was von dir gebunden und gelöst werden wird, wird bei mir gebunden und gelöst sein. Wer bei dir mittels Auferlegung schuldiger Genugtuung gebunden wird, wird von mir für den Schuldner derselben Genugtuung gehalten. Und wer von dir die geschuldete Lossprechung seiner Sünden verdient hat, wird nach meinem Urteil für dieses Teil ferner nicht gebunden werden können.“ Auf diese Art ist auch jenes Wort zu verstehen, das er zu allen Aposteln sagt: „Welchen ihr die Sünden vergebt, denen werden sie vergeben, und welchen ihr die Sünden behaltet, sind sie behalten.“ Sofern ja die Sünden derer, die sich vergangen haben, bei dem Herrn vergeben oder behalten sein werden, die durch seine Diener, die Priester, zu Recht entweder vergeben oder behalten worden sind, was beides von ihnen wahrhaftig geschieht, wenn sie das, was immer vollzogen werden soll, nach kanonischer Vorschrift angehen. Keines von beiden aber können sie aufgrund eigenen Verlangens tun, sondern nur nach Verdienst des Beichtenden und nach der eingesetzten Ordnung. 301 So weit Richard. Und aus Augustins und Richards Erklärung ist deutlich, da nicht zu folgern ist: Christus hat dem Petrus oder jedem beliebigen seiner Statthalter gesagt: Was auch immer du lösen wirst auf der Erde, d. h. in der kämpfenden Kirche, wird auch im Himmel gelöst sein, d. h. in der triumphierenden Kirche – also: was immer du auf der Erde lösen willst, wird im Himmel gelöst sein. Doch es ist klar, dass bei dieser Wendung die Beziehung auf jeden wahrhaft Bußfertigen zutrifft. Und bei der Wendung: Was auch immer du binden wirst , trifft die Beziehung auf den Unbußfertigen zu. Denn das Lösen gehört zu jedem wahrhaft Bußfertigen, und das Binden zum Unbußfertigen. Und die gleiche Begründung gilt für das Behalten und Vergeben. Hüten muss sich also ein Jünger Christi vor der Betrügerei des Antichrist, wenn er behauptet: „Was auch immer ein Statthalter Christi auf der Erde binden wird, wird auch im Himmel gebunden sein.“ Doch auch den gläubigen 301
Richard von St. Victor, De potestate ligandi vel solvendi, c. 11 f. (PL 196,1167).
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Laien, der ihm für die Lossprechung kein Geld geben will, bindet er auf der Erde – also ist er auch im Himmel gebunden! Ähnlich, wenn er behauptet: „Was auch immer ein Stellvertreter Christi lösen wird auf der Erde, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Doch auch den Reuelosen, der Geld geben will, löst er auf der Erde – also wird er auch im Himmel gelöst sein! Ähnlich, wenn er behauptet: „Was auch immer ein Stellvertreter Christi löst auf der Erde, wird auch im Himmel gelöst sein.“ Doch auch einen, obwohl er als vorhergewusst Verworfener erwiesen ist, löst er im Todeskampf auf Erden – also ist er auch im Himmel gelöst! Bei diesen Argumenten fehlt es dem jeweils untergeordneten Argument an Gehalt. Wenn sich nämlich der angegebene Mensch in dem untergeordneten Argument nicht selbst durch seinen bösen Willen binden wird oder wenn er sich durch wahre Reue lösen wird, ist das untergeordnete Argument falsch. Und nach Richard würde das Argument so gerechtfertigt: Was auch immer ein Statthalter Christi zu Recht auf Erden binden wird, wird auch im Himmel gebunden sein. Doch auch einen gläubigen Laien, der ihm das Geld nicht geben will, bindet er auf Erden zu Recht. Siehe, das untergeordnete Argument ist falsch! Und ähnlich werden die anderen Argumente richtig behandelt. Und wenn eingewandt wird, dass ein Christ zweifeln muss, wann ein Priester ordnungsgemäß bindet oder löst, wird gesagt, dass das Gegenteil folgt, weil wir glauben müssen, dass er allein dann bindet oder löst, wenn er seinen Dienst nach den Regeln des Gesetzes Christi verrichtet. Aber wenn er abweicht, dann gibt er vor, dass er bindet oder löst – aber es nicht tut. Dann zum Ausspruch von Innozenz: Der Herr sagte zu Petrus und nahm dabei nichts aus: „Was auch immer .“ Wenn Innozenz in Beziehung auf „was auch immer“ versteht, dass Petrus oder sein Stellvertreter vorgeben würde, dass er es löst, dann wäre die Deutung des Innozenz falsch, denn dann würde durch die Annahme aus der Behauptung Ungeziemendes folgen: Was auch immer Petrus oder sein Statthalter auf der Erde binden wird, wird auch im Himmel gebunden sein . Aber wenn er vorgibt, dass er einen heiligen Menschen auf der Erde bindet, und der also auch im Himmel gebunden ist, dann ist die Folgerung falsch und unmöglich. Doch ist die untergeordnete wahr oder könnte sie wahr sein, wäre also die übergeordnete in der Deutung von Innozenz falsch. Wenn aber Innozenz mit Richard, Augustinus und Gregor die Beziehung auf den, über den das Lösen und Binden geschieht, auffasst, dann ist es wahr, dass der Herr, wenn er sagt: „Was auch immer“, nichts ausnimmt. Denn es bedeutet dies: Was auch immer wahrhaft Bußfertiges du auf der Erde lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst
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sein. Ähnlich wird, was immer Unbußfertiges du auf der Erde binden wirst, auch im Himmel gebunden sein. Und dazu geben die kleinen Glossen zu den Dekreten einen Hinweis, die sagen „wenn der Schlüssel nicht irrt“. Wenn etwas auf Erden unter dieser Bedingung getan wird, wird es im Himmel bestätigt werden. So wie der, der glauben und getauft sein wird, wird der gerettet werden, der endlich in tätiger Liebe gläubig sein wird. Hier wird nämlich „glauben“ so verstanden, wie auch in dem Vers: Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben.302 Wenn daher behauptet wird: Wer auch immer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben. – Jeder Christ glaubt an den Sohn Gottes. – Also hat jeder Christ das ewige Leben. Oder wiederum: Wer auch immer an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben. Aber der vorhergewusst Verworfene, der in der Gnade ist, glaubt an Gottes Sohn. – Also hat der vorhergewusst Verworfene, der in der Gnade ist, das ewige Leben. Falsch gefolgert! Beide Folgerungen sind deshalb nicht gültig, weil „glauben“ im Obersatz und im Untersatz jeweils anders aufgefasst wird. Um daher das Verständnis richtigzustellen, muss man das Argument so darlegen: Wer auch immer in tätiger Liebe beständig an den Sohn Gottes glaubt, hat das ewige Leben. Aber jeder Christ glaubt in tätiger Liebe beständig an Christus. Dann wird gut gefolgert! Aber den Untersatz muss der Gegner beweisen. Ähnlich soll in der zweiten Folgerung folgende Voraussetzung gemacht werden: Aber der vorhergewusst Verworfene, der in der Gnade ist, glaubt in tätiger Liebe beständig an den Sohn Gottes. Nur ist diese Voraussetzung falsch! Aus dem schon Gesagten geht hervor, was die Schlüsselvollmacht der Kirche ist, und was man nach katholischer Art glauben muss: Jeder ordnungsgemäß geweihte Priester Christi besitzt die hinreichende Vollmacht, alle ihm zustehenden Sakramente303 zu spenden und folglich einen wahrhaft Bereuenden von der Sünde loszusprechen. Hinsichtlich ihrer Ausübung ist solche Vollmacht allerdings in vielerlei Hinsicht vernünftigerweise gebunden, wie am Anfang dieses Kapitels deutlich ist. Wie aber diese Vollmacht unter den Aposteln gleich war, findet sich im Kirchenrecht, wo es heißt: Die übrigen Apostel aber haben mit ihm, nämlich mit Petrus, die Ehre und Vollmacht gleicher Teilhaberschaft empfangen. Und weiter unten: Als sie gestorben waren, traten an ihre Stelle Bischöfe,304 wozu die Glosse Argumentum sagt, dass Joh 3,26. 303 Taufe, Abendmahl, Buße, Krankensalbung – Firmung und Priesterweihe werden nur vom Bischof gespendet; das Ehesakrament spenden sich die Brautleute gegenseitig. 304 Decr. Grat. I dist. 21 c. 2: In novo (Friedberg 1,69 f.). 302
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jeder Bischof in Hinsicht auf den Rang und die Beschaffenheit der Weihe gleich apostolisch ist. Und der heilige Cyprian sagt: Allen seinen Aposteln hat er nach seiner Auferstehung gleiche Vollmacht gegeben.305 Daher wäre es töricht zu glauben, dass die Apostel nur die geistlichen 5 Gaben von Christus empfangen hatten, die ihnen ausschließlich von Petrus zugeleitet worden waren. Denn allen hat er gesagt: Was ihr auf der Erde lösen werdet usw. Und: Empfangt den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden vergeben werdet. Und: Tut dies zu meinem Gedächtnis. Und: Mir ist alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben. Geht also 10 und lehrt alle Völker und tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles bewahren, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch an allen Tagen bis an die Vollendung der Welt.306 15
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Kapitel 11 Nachdem sie die Nachfolge Jesu Christi, des höchsten Bischofs, aus den Augen verloren haben, brüsten sich viele Priester mit der Vollmacht, die der Kirche übertragen wurde, handeln aber nicht entsprechend. Also muss jetzt über solcherlei Vollmacht gesprochen werden. Mit dem Wort: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein,307 täuschen sie nämlich vor, dass jeder Mensch all das vollständig billigen muss, was sie selbst tun. Und mit jenem Ausspruch Christi: Auf den Lehrstuhl des Mose haben sich die Schriftgelehrten und Pharisäer gesetzt. Alles nun, was sie euch sagen, das tut ,308 täuschen sie gleichermaßen vor, dass ihnen jeder Untergebene in allen Dingen gehorchen muss. Somit aber schreiben sich diese Priester selbst zu ihrem Ruhm lautstark alles zu, was im Evangelium Christi nach ihrem Belieben klingt, ohne, dass damit der Dienst der Liebe einhergeht. Aber was nach Arbeit, nach Absage an die Welt und Nachfolge Christi klingt, das verschmähen sie, als ob das eine Widrigkeit gegen sie wäre, oder tun so, als ob sie es hielten und halten es nicht. Um ihre Macht zu erhöhen nehmen sie darum sehr gern in Anspruch, was Jesus zu Petrus gesagt hat: Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreichs geben und was du auf Erden binden wirst. Aber wie Gift meiden sie, was der Herr zu Petrus gesagt hat: Folge mir nach und weide meine Schafe.309 Gleichermaßen nehmen sie dankbar das Wort auf, das der Herr den Jüngern gesagt hat, und prahlen damit: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, aber das Wort: Ihr sollt nicht Gold und Decr. Grat. II C. 24, q. 1 c. 18: Loquitur (Friedberg 1,971). 306 Mt 18,18; Joh 20, 22 f.; Lk 22,19;Mt 28,18–20. 307 Mt 16,19. 308 Mt 23,2 f. 309 Mt 16,19; Joh 21, 17.19.
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Silber besitzen ,310 fliehen sie wie etwas Schädliches. Gleichermaßen, was er den Jüngern gesagt hat: Nehmet hin den heiligen Geist! Wem ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, und wem ihr sie behaltet, denen sind sie behalten, nehmen sie ruhig an. Aber was er gesagt hat: Lernt von mir, denn ich bin mild und von Herzen demütig 311 – die Milde und Demut, die dem Heiligen Geist den Platz bereiten, lassen sie in ihren Herzen nicht zu. Ebenso, was der Herr den Jüngern gesagt hat: Wer euch hört, hört mich, fassen sie auf als Gehorsam gegenüber sich selbst. Aber den höchst gewichtigen Ausspruch: Ihr wisst, dass die Fürsten der Völker über sie herrschen und die Großen Macht ausüben. So soll es unter euch nicht sein. Sondern wer unter euch groß werden will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, gleichwie des Menschen Sohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene ,312 bekämpfen sie mit Wort und Tat; mit dem Wort, indem sie sagen, dass sie herrschen müssen, und mit der Tat, weil sie nicht in der Art Jesu Christi, des Herrn der Kirche, dienen wollen. Und damit ich es kurz zusammenfasse: Jeden Ausspruch der Schrift und zumal des Evangeliums, der ihnen danach zu klingen scheint, dass sie reich, verwöhnt, der Welt geneigt sein und nichts Unangenehmes für Christus erdulden sollen, den käuen sie wieder, verkünden ihn und dehnen ihn möglichst weit aus. Was aber nach Nachfolge Jesu Christi, wie Armut, Milde, Demut, Duldung, Keuschheit, Mühe und Erleiden klingt, das unterdrücken sie oder legen es nach ihrem Belieben aus oder verwerfen es ausdrücklich, als ob es nicht zum Heil gehöre. Und der Teufel, der der schlimmste Sophist ist, der verführt sie durch Unkenntnis der Folgen, indem er erklärt: Christus hat solche Gewalt dem Petrus und den übrigen Aposteln gegeben, also auch ihnen. Somit unterstellen sie, dass ihnen erlaubt sei zu handeln, wie auch immer sie wollen, und dann mit gleicher Eindeutigkeit, dass sie allerseligste Väter sind, die mit Christus die Kirche richten und danach auf immer gekrönt werden sollen. Aber gepriesen sei der allwissende Christus, der jene Worte seinen Aposteln gesagt hat, weil er wusste, dass sie die ihnen übertragene Vollmacht im Dienst an seiner Braut nach seinem Wohlgefallen ausüben würden. Was also die Gewalt betrifft, mit der sich die Geistlichen rühmen, muss man beachten, dass „Gewalt“ nach dem Wort: Jede Seele sei den höheren Machthabern untertan ,313 einmal für Oberherrschaft oder wahre Macht gebraucht 310 313
Mt 18,18; Mt 10,9. Röm 13,1.
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Joh 20,22 f.; Mt 11,29.
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Lk 10,16; Mt 20,25–28.
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wird. Ein andermal wird „Gewalt“ gleichlautend für angebliche oder verdeckte Macht gebraucht, so wie Christus zu seinen Häschern sagt, die von der Macht der Hohepriester geschickt waren: Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.314 Und es heißt: Siehe, ein fahles Pferd, und auf ihm saß, dessen Name war Tod, und die Hölle folgte ihm nach, und ihm wurde Macht gegeben über die vier Teile der Erde, mit dem Schwert und dem Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere der Erde zu töten. Und in einem Wort findet sich, wie der Drache dem Tier die Macht gab; und sie beteten das Tier an und sagten: „Wer ist dem Tier gleich, und wer kann mit ihm kämpfen?“ Und weiter unten: Es wurde ihm gegeben, Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu besiegen; und ihm wurde Macht über jeden Stamm und Volk und Sprache und Nation gegeben, und alle, die auf der Erde wohnten, beten es an, deren Namen nicht im Buch des Lebens und des Lammes, das getötet wurde, geschrieben stehen.315 Wer ist dieses Tier, das die Menschen anbeten und seine Macht fürchten? Wer das liest, soll es erkennen und solcherart vorgeblichen Macht widerstehen und es nicht knechtisch fürchten, weil ihm die Macht gegeben ist, mit den Heiligen Krieg zu führen und sie durch die Tötung des Körpers zu besiegen, die es doch mit dem Sterben für das Gesetz Christi schließlich besiegen. Denn zu ihnen sagt der Erlöser: Fürchtet nicht die, die den Leib töten, und: In der Welt habt ihr Angst, aber habt Vertrauen, denn ich habe die Welt besiegt .316 Hierzu sagt Augustinus: Sie haben vertraut und gesiegt. In wem, wenn nicht in ihm? Denn jener hätte die Welt nicht besiegt, wenn die Welt seine Glieder besiegen würde. Daher sagt der Apostel: „Dank sei Gott, der uns den Sieg gibt“, und fügt fortfahrend hinzu: „durch unseren Herrn Jesus Christus“, der den Seinen gesagt hat: „Habt Vertrauen, denn ich habe die Welt besiegt.“317 So weit Augustinus. Aber die Macht des Drachen und des Tieres besiegen jene, die die Macht zur Erlösung besitzen, welches die vornehmlichste Macht ist. Über sie heißt es: Er gab ihnen Macht, Gottes Kinder zu werden.318 Auf diese Macht folgt die vollkommene Macht. Das aber ist die Macht, die Gott dem Seligen im Vaterland gibt, um völlig den Herrn zu genießen und in ihm jedes Geschöpf. Daher müssen die wahrhaftigen Christusverehrer, die diese Macht erreichen wollen, jeder vorgeblichen Macht widerstehen, die danach drängt, sie von der Nachahmung Christi gewaltsam oder hinterlistig abzuhalten. Auf diese Weise widersteht sie nämlich nicht der Macht, die von Gott bestätigt ist, sondern ihrem Missbrauch. In diesem MissLk 22,53. 315 Offb 6,8; 13,4–8. 316 Mt 10,28; Joh 16,33. evangelium tractatus 103 (PL 35,1901). 318 Joh 1,12.
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brauch aber üben sich hinsichtlich der Schlüsselgewalt die Simonisten, die es vorziehen, Unverdiente zu verdammen oder Gebundene zu lösen, und das wegen der Ablehnung des Gehorsams ihnen gegenüber oder wegen ihres Gewinns. Von ihnen sagt der Herr: Ihr habt mich bei meinem Volk wegen einer Handvoll Gerste und eines Bissen Brot entweiht, damit ihr die Seelen tötetet, die nicht sterben, und Seelen lebendig gemacht, die nicht leben, indem ihr mein Volk belogen habt, das den Lügen glaubt.319 Darüber findet sich bei Gregor: Zu Recht wird durch den Propheten gesagt: Sie haben die Seelen getötet, die nicht sterben, und die Seelen lebendig gemacht, die nicht leben; denn einen, der nicht stirbt, tötet, wer einen Gerechten verdammt, und einen, der nicht lebt, bemüht sich der zu beleben, der einen Schuldigen versucht von Strafe zu befreien.320 In diesem Machtmissbrauch üben sich auch, die die heiligen Weihen verkaufen und kaufen, die Bistümer, Kanonikate, Pfarrstellen simonistisch erwerben und verkaufen, die für die Sakramente unverschämt Gebühren nehmen, die habgierig, genusssüchtig, schwelgerisch oder irgendwie schändlich leben und damit die priesterliche Gewalt beflecken. Diese nämlich, wenn sie auch bekennen, dass sie Gott kennen, verleugnen ihn dennoch mit den Taten .321 Und folglich glauben sie nicht an Gott und haben so als ungläubige Kinder ungläubige Ansichten über die sieben Sakramente der Kirche, die Schlüssel, Ämter und Strafen, Sitten, Zeremonien und die heiligen Dinge der Kirche: die Reliquienverehrung, Ablässe und Weihegrade. Es ist deutlich, dass diese Leute Gottes Namen verachten. Daher heißt es: Zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet und gesagt habt: Womit haben wir deinen Namen verachtet? Ihr opfert auf meinem Altar unreines Brot. Wer ist unter euch, der die Tür verschlösse und umsonst auf meinem Altar das Feuer anzündete? Ich habe keinen Gefallen an euch, spricht der Herr der Heerscharen, und das Opfer von eurer Hand werde ich nicht annehmen.322 Siehe, das sagt der Herr den bösen Priestern, weil sie seinen Namen verachten und beflecktes Brot opfern. Daher sagt Gregor, nach der Erklärung der Sakramente und der Vollmacht: Wir beflecken also das Brot, d. h. den Leib Christi, wenn wir unwürdig vor den Altar treten und als Schmutzige das reine Blut trinken.323 Und der Apostel sagt: Wenn jemand das Gesetz des Mose bricht, stirbt er ohne Erbarmen durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen. Wieviel mehr, meint ihr, verdient der eine schrecklichere Strafe, der den Ez 13,19. 320 Gregor d. Gr. nach Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 88: Plerumque (Friedberg 1,668). 321 Tit 1,16. 322 Mal 1,6 f.10. 323 Gregor d. Gr. nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1, c. 86: Multi saecularium (Friedberg 1,388).
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Sohn Gottes mit Füßen getreten und das Blut des Testaments befleckt hat, durch das er geheiligt ist? 324 Zweitens kreuzigen diese Leute den Sohn Gottes. Denn der Apostel sagt: Sie kreuzigen den Sohn Gottes noch einmal für sich selbst und geben ihn der Schande preis.325 Drittens handeln diese Leute unfromm gegenüber dem Gesetz Christi, wie der selige Hieronymus sagt: Die Priester, die die Eucharistie halten und das Blut des Herrn deinem Volk austeilen, handeln unfromm gegen das Gesetz Christi, wenn sie meinen, die Worte des Betenden machten die Eucharistie, nicht sein Lebenswandel, und nur das feierliche Gebet sei notwendig, nicht die Verdienste der Priester, von denen es heißt: Ein Priester mit irgendeinem Flecken – die Glosse erläutert: einer Todsünde – soll nicht hinzutreten, um dem Herrn die Opfergaben darzubringen.326 Viertens lästern die oben genannten Leute die Majestät des Herrn. Weshalb es heißt: Die nach dem Fleisch in der Begierde der Unreinheit wandeln und die Herrschaft verachten. Weiter unten: Die aber wie das unvernünftige Vieh sind, das von Natur zum Gefangenwerden und Umkommen da ist, lästern über die Dinge, von denen sie nichts wissen. 327 Und dazu sagt der selige Augustinus: Wenn du das natürliche Maß durch maßlose Gefräßigkeit überschreitest und dich durch Trunksucht berauschst, dann lästert dein Leben Gott, wieviel Gotteslob auch auf deiner Zunge ist.328 So weit jener. Wie können also die Habgierigen, Simonisten, Schwelger und solche, die anderer Missetaten schuldig sind, gute Ansichten vom Herrn und seinen Sakramenten haben, wenn sie ungläubig den Namen Gottes verachten, sein Brot beflecken, den Sohn Gottes für sich selbst erneut kreuzigen und zum Spott machen, unfromm gegenüber Gottes Gesetz handeln und seine Herrschaft verachten und lästern? Und es ist deutlich, dass solche Leute eine Geistlichkeit sind, die die Pest bringt und ungläubig von den sieben Sakramenten der Kirche, von der Schlüsselgewalt und anderen Dingen denkt, die zum Gesetz Christi gehören. Deutlich ist auch: Der Ausspruch der Doktoren, deren Anführer damals Stefan Pálecˇ und Stanislaus von Znaim waren und Peter von Znaim, Johannes Elias, Andreas Brod, Johannes Holdesen, Matthäus Monachus, Hermann Eremita, Georg Bora und Simon Merda nach sich zogen, ist zum Gegenstand der Auseinandersetzung geworden und kann an der Geistlichkeit als wahr erwiesen werden, die einen schändHebr 10,28 f. 325 Hebr 6,6. 326 Hieronymus, In Sophoniam prophetam, c. 3, nach Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 90: Sacerdotes (Friedberg 1,391). 327 2Petr 2,10.12. 328 Augustinus, Enarrationes in psalmos, zu Ps 146,1: Laudate dominum (PL 37,1900). 324
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lichen Lebenswandel führt: Denn sie sagen am Anfang ihrer Schrift: Der Gegenstand dieser Auseinandersetzung vonseiten einiger aus der Geistlichkeit, die die Pest verbreitet, ist offenkundig .329 Weil nämlich Priester Christi gegen die Missetaten der Pest verbreitenden Geistlichkeit predigten, ist der Streit entstanden: Die Geistlichkeit, die dem Volk 5 die Pest des Ärgernisses brachte, wollte keine Predigt dulden, die sich ihrer Pest entgegengesetzte. Sie erhob sich und predigte gegen das Evangelium und gegen diejenigen, die ihre Pest durch Gottes Wort heilen wollten, und wollte diese Predigt boshaft unterdrücken. Aber der Grund für die Sätze der genannten Doktoren hatte darin bestanden zu 10 beweisen: Diejenigen, die gegen die Bosheit der Pest bringenden Geistlichkeit evangelisieren, denken ketzerisch von den Schlüsseln der Kirche. Mit Gottes Hilfe wird das zu ihren Lebzeiten nicht zu beweisen sein. Kapitel 12 Zur Ehre unseres Herrn Jesus Christus – diese Ehre und Christus erwähnen die oben genannten Doktoren in ihrer Schrift an keiner Stelle – wird folgender Schlusssatz vorgelegt: Dem römischen Bischof untertan zu sein, ist für jedes menschliche Geschöpf heilsnotwendig.330 Das geht klar aus folgendem Satz hervor: Nur der kann gerettet werden, der sich Jesus Christus auf dessen Verdienst hin unterwirft. Aber derselbe Christus ist der römische Bischof, so wie der auch das Haupt der allgemeinen Kirche und jeder Teilkirche ist. Also ist der Schlusssatz wahr. Die Schlussfolgerung geht aus dem Obersatz hervor, und der Untersatz geht aus dem zuvor Gesagten und aus jenem Wort hervor: Denn einst wart ihr wie irrende Schafe, aber nun seid ihr bekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen, und: Insofern ist Jesus eines besseren Bundes Bürge geworden. Und mehrere andere sind zwar Priester geworden nach dem Gesetz, deshalb, weil sie durch den Tod verhindert waren zu bleiben; dieser aber, weil er in Ewigkeit bleibt, hat ein immerwährendes Priestertum. Daher kann er auch auf immer erretten, indem er sich Gott naht und immer lebt, um für uns Fürsprache einzulegen. So nämlich musste beschaffen sein, der für uns der Hohepriester wäre: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von Sündern und höher geworden als die Himmel, einer, der es nicht Tag für Tag nötig hat, wie die Hohenpriester zuerst für die eigenen Sünden Schlachtopfer darzubringen, sodann für Vgl. Consilium doctorum facultatis theologicae Pragensis, 1413 (Palacky´, Documenta, 475). 330 Extravagantes decretales lib. 1 tit. 8 c. 1, Bonifazius VIII.: Unam Sanctam (Friedberg 2,1245). 329
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die des Volkes. Denn das hat er einmal getan und opferte sich selbst.331 Siehe, dieser ist der allerheiligste und höchste römische Bischof, einer, der sowohl als Hoherpriester bei Gott dem Vater als auch bei uns ist, wenn er sagt: Siehe, ich bin bei euch an allen Tagen bis zur Vollendung der Welt.332 Denn Christus ist in jener Person überall gegenwärtig, da er wahrer Gott ist und die Eigenschaft hat, nirgendwo begrenzbar zu sein. Er selbst ist der Bischof, der tauft und der die Sünden der Welt trägt . Er selbst ist es, der die Ehen so zusammenfügt, dass der Mensch sie nicht trennen soll: Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht trennen. Er selbst macht die Priester: Er hat uns zu einem Königreich und zu Priestern gemacht. Er selbst hat das Sakrament der Eucharistie bewirkt, indem er sagte: Dies ist mein Leib . Er selbst firmt seine Gläubigen, indem er sagt: Ich werde euch Mund und Weisheit geben, und der werden alle eure Widersacher nicht widerstehen noch widersprechen können.333 Er selbst weidet seine Schafe mit Wort, mit Beispiel und der Speise seines Leibes. Aber alles dies macht er von sich aus ohne jeden Fehler. Denn er ist der Hohepriester: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von Sündern und höhergeworden als der Himmel. Er selbst ist der Bischof, der von höchster Stelle her Wacht hält über seiner Herde, denn es schläft noch schlummert nicht, der Israel bewacht.334 Er selbst ist der Hohepriester, der uns einen leichten Weg zum Vaterland bereitet. Er selbst ist der Papst, weil: Wunderrat, Friedefürst, Ewig-Vater.335 Siehe, so musste einer beschaffen sein, damit er der Hohepriester für uns wäre, der, obwohl er in Gottes Gestalt war, es nicht als einen Raub betrachtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte, die Gestalt eines Knechtes annahm, sich selbst erniedrigte und gehorsam wurde bis zum Tod, ja bis zum Kreuzestod. Deshalb hat ihn Gott auch erhöht und ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist, damit im Namen Jesu jedes Knie gebeugt wird: von den Himmlischen, den Irdischen und den Unterirdischen.336 Darauf folgt der Schlusssatz: Dem römischen Bischof untertan zu sein, ist für jedes menschliche Geschöpf heilsnotwendig .337 Aber es ist kein anderer solcher Bischof als der Herr Jesus Christus selbst, der unser Bischof ist. Ferner ist keinem anderen Bischof die Menschheit Christi heilsnotwendig untertan, denn Gott hat ihn erhöht und ihm einen Namen geschenkt, der sein allerwürdigster Name über jeden anderen Namen ist, damit sich im Namen Jesu jedes Knie, d. h. jede Gewalt gehorsam gegen ihn beugt, von den Engeln der Himmel, von allen irdi331 1Petr 2,25; Hebr 7,22–27. 332 Mt 28,20. 333 Joh 1,29; Mt 19,6; Offb 1,6; Lk 22,19; 21,15. 334 Ps 120,4. 335 Vgl. Jes 9,5. 336 Phil 2,6–10. 337 Siehe Anm. 330.
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schen Menschen und von den Unterirdischen, d. h. von den Teufeln. Ferner gilt nämlich: Da die Mutter Christi ein menschliches Geschöpf ist, da gleicherweise Johannes der Täufer, der Apostel Petrus zusammen mit den anderen Heiligen im himmlischen Vaterland sind, ist es dennoch für keinen von ihnen heilsnotwendig, einem anderen römischen Bischof außer Christus untertan zu sein, da sie schon errettet sind und der römische Bischof sie nicht lösen oder binden kann. Allzu sehr hat also Papst Clemens seine Gewalt ausgedehnt, als er in seiner Bulle den Engeln des Paradieses gebot, dass sie die vom Fegfeuer befreite Seele eines Rompilgers, der um der Ablässe willen nach Rom geht und dabei stirbt, zu den ewigen Freuden geleiten sollen. Er wollte nämlich, dass sich auf sein Gebot hin die Knie der himmlischen Engel beugen sollten. Und wenn er hinzufügte: Wir wollen nicht, dass dem Rompilger irgendwann die Höllenstrafe auferlegt wird , befahl er auch hier – ganz ein Herrscher –, dass sich die Gewalt bzw. das Knie der Höllenbewohner auf sein Gebot hin beugte. So etwas haben sich die Apostel nicht herausgenommen, denn Johannes wollte dem Engel nicht gebieten, sondern zu Füßen des Engels anbeten, weshalb es heißt: Ich, Johannes, fiel nieder, um anzubeten die Füße des Engels. Und er sprach zu mir: Siehe zu, tue es nicht. Ich bin dein Mitknecht und der deiner Brüder, der Propheten, und derer, welche die Worte der Prophezeiung dieses Buches bewahren. Bete Gott an.338 Siehe, dieser große Apostel und geliebte Prophet Gottes, der ohne Zweifel die heutigen Päpste überragte und besonders den Clemens, der den Engel gebietet, wollte einem Engel nicht gebieten, sondern fiel ihm zu Füßen und wollte ihn anbeten. Doch der heilige Engel verbot es und zeigte ihm, vor wem er so niederfallen und wen er anbeten muss, nämlich Gott, und er sagte: Bete Gott an. Anzumerken ist aber aus dem angeführten Text des Apostels: Mehrere sind Priester geworden nach dem Gesetz, dass jeder Hohepriester des alten Gesetzes Christus in all seinen gesetzlichen Handlungen im Voraus abbildete. Daher wird er mittels rhetorischer Vertauschung, aber einzigartig, der Hohepriester oder der Bischof der Seelen genannt. Und daher war die Menge der Priester und ihrer Ämter in Christus auf einzigartige Weise zusammengefasst, wie der Apostel ebendort lehrt.339 Und das ist der Grund, warum sich die Apostel nicht „allerheiligste Päpste“, „Häupter der allgemeinen Kirche“ und „allgemeine Bischöfe“ genannt haben. Doch weil sie den höchsten Bischof bis zur Vollendung der Welt bei sich haben, nannten sie sich „Knechte Christi“, „Genossen 338
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in Trübsal“ und „Diener der Kirche“. Daher ist zur Zeit des seligen Gregor jene heilige Gewohnheit befolgt worden, die hier aus seinem Erlass dargelegt wird: Siehe, in der Vorrede des Briefs, den Du an mich, der ich verhindert war, gerichtet hast, warst Du bedacht, ein Wort des höchsten Titels zu gebrauchen und nanntest mich „allgemeinen Papst“. Ich bitte, dass Eure allerlieblichste Heiligkeit das nicht weiterhin tut, weil Euch entzogen wird, was mehr als die Vernunft erfordert, einem anderen gewährt wird. Ich suche nicht durch Worte reich zu werden, sondern durch guten Lebenswandel, noch halte ich das für eine Ehre, bei der ich bemerke, dass meine Brüder ihre Ehre verlieren. Meine Ehre ist freilich die der allgemeinen Kirche. Meine Ehre ist die starke Tatkraft meiner Brüder. Dann bin ich geehrt, wenn allen Einzelnen die schuldige Ehre nicht versagt wird. Wenn nämlich Eure Heiligkeit mich „allgemeinen Papst“ nennt, verneint Sie, dass Sie das sei, weil sie mich als das „Ganze“ bezeichnet. Aber das sei ferne! Mögen doch die Worte verschwinden, welche die Eitelkeit aufblähen, die Liebe verletzen.340 Aus den Worten dieses heiligen Papstes erhellt: Leicht wird aufgebläht, der „Heiligster Vater“ genannt wird und vielleicht im Laster lebt. Aber wer ihn aus Habsucht so nennt, wird von Schmeichelei durchlöchert oder lügt aus Unwissenheit. Daher sagt der selige Gregor bedeutsam: Ich suche nicht mit Worten reich zu werden, sondern mit gutem Lebenswandel . Wehe! Danach trachten nicht die heutigen Päpste, die sich ohne tugendhaften Lebenswandel eines bloßen Titels rühmen und erdichten, dass ihnen um des Amtes oder der kirchlichen Würde willen der Titel „Heiligkeit“ zusteht. Aber wenn das begründet wäre, dann hätte Judas „heiliger Apostel“ genannt werden müssen. Aber gepriesen sei der Herr! Um diese Bemäntelung zu entfernen, hat er zu den Jüngern gesagt: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt, doch einer von euch ist ein Teufel? 341 Und dies sagte er, bevor Ischariot seinen Meister verriet. Daher haben sich die heiligen Männer, je mehr sie von Menschen gelobt wurden, desto mehr gedemütigt und desto mehr ihren Geist mit Furcht beschwert, damit kein Lob sie von einem würdigeren Verdienst abbringe. Daher ging Petrus, der Apostel Christi, als er durch Boten zu dem Heiden Cornelius gerufen wurde, demütig zu ihm hin. Und als er zu Cornelius gekommen war, kam Cornelius ihm entgegen, fiel zu seinen Füßen nieder und betete ihn an. Petrus aber richtete ihn auf und sagte zu ihm: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch . Siehe, Cornelius, den der Engel der Heiligkeit des Petrus versichert hatte, betete zu Füßen des Petrus. Und Petrus, den Gott über Cornelius belehrt hatte 340
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und aufgrund einer Offenbarung seiner Seligkeit gewiss war, erlaubte nicht, dass Cornelius zu seinen Füßen niederfiel.342 So aber halten es die heutigen Päpste, in denen man nicht einmal ein Fünkchen an Heiligkeit erkennt. Ja, oft sogar wissen sie, dass sie mit der ihnen dargebrachten Verehrung ein Verbrechen begehen und prunken umso 5 mehr. Aber wenn man den Titel „Prunksucht“ weglässt, werden sie bald vor Zorn geschüttelt. Diesen Hochmut aber wollte das afrikanische Konzil auslöschen und sagte: Der Bischof des ersten Sitzes soll nicht „Rangerster der Priester“ oder „höchster Priester“ oder etwas in dieser Art genannt werden, 10 sondern nur „Bischof des ersten Sitzes“. Aber auch der römische Bischof soll nicht „Allgemeiner“ genannt werden.343 Verboten sind so alle diese Dinge, die aus Prunk, Schmeichelei und Habgier und bei den Einfältigen aus blinder Verführung hervorgehen. Lasst uns also zu unserem höchsten Bischof, dem demütigsten Christus Jesus, zurückkehren, der 15 dem zur Hochzeit Geladenen befiehlt, sich an den untersten Platz zu setzen. Lasst uns ihm gemäß seinem Befehl bekennen: Wir sind nutzlose Knechte. Er sagt nämlich: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, sagt: Wir sind nutzlose Knechte.344 Wenn wir nämlich ihm, dem höchsten Bischof, die Gebote erfüllt und unsere Seelen gedemütigt 20 haben, und die Möglichkeit besteht, dass unsere Bischöfe Diebe und Räuber sind, wird er selbst, der Bischof unserer Seelen, uns in den heilsnotwendigen Dingen nicht im Stich lassen, sondern wie ein frommer Hirte seine Schafe weiden, behüten und ernähren. 25
Kapitel 13 Weiter behaupten genannte Doktoren in ihrem Schriftstück: Der Papst ist das Haupt der römischen Kirche, ihr Leib aber ist das Kardinalskollegium. Sie sind dazu da, um als wahre Nachfolger des Apostelfürsten Petrus und des Kollegiums der anderen heiligen Apostel Christi im kirch- 30 lichen Amt die gesamten katholischen und kirchlichen Angelegenheiten zu erkennen und festzustellen. Sie müssen damit zusammenhängende Irrtümer korrigieren und bereinigen und überhaupt in allen jenen Angelegenheiten Sorge tragen für alle jene Kirchen und die gesamten Gläubigen Christi. Weil es für die Leitung der Kirche über die ganze Welt hin 35 nötig ist, dass immer solche offenkundig wahren Nachfolger in diesem Amt des Apostelfürsten Petrus und des Kollegiums der anderen Apostel Christi bleiben, kann man auch auf Erden keine anderen solchen Nach342 Apg 10, bes. 26. 343 Decr. Grat. I dist. 99 c. 3: Primae sedis und a. a. O. der Zusatz nach Papst Pelagius (Friedberg 1,350 f.). 344 Lk 14,9; 17,10
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folger finden und bestimmen als den Papst, der das Haupt ist, und das Kollegium der Kardinäle, die der Leib der oben genannten römischen Kirche sind .345 Diese sehr lange Aneinanderreihung verwickelt viele Einzelthemen miteinander. Ich meine, sie ist zum größeren Teil dem Kopf des Stanislaus entsprungen, der von der römischen Kurie erschüttert und verschreckt ist. Im Hinblick darauf bemerke ich, dass in ihrem Schriftstück unter „Kirche“ alle christlichen Erdenpilger verstanden werden. Darauf scheinen sie anzuspielen, wenn sie sagen: Die Gemeinschaft der Geistlichen im Königreich Böhmen fühlt und glaubt nicht bloß mit der Gemeinschaft aller Geistlichen in der Welt, sondern wie die römische Kirche immer getreulich auch mit der Gemeinschaft der ganzen Christenheit. 346 Doch zweitens nennen dieselben Doktoren, wenn sie sagen, dass sie so und nicht anders glauben als die römische Kirche, allein den Papst und die Kardinäle die römische Kirche, deren Haupt der Papst der römischen Kirche ist und deren Leib die Kardinäle sind. Auf diese Art allein, schätze ich, haben die Doktoren in ihrem Schriftstück die Kirche bezeichnet. Ich bemerke auch, dass dieser Papst-Titel nicht in der Heiligen Schrift vorkommt, sondern von dem Ausruf „Papa“ genommen ist und Bewunderung ausdrückt. Daher kommt er insbesondere denen zu, die im Umgang bewundernswürdig an Heiligkeit sind. In diesem Sinn ist Jesus Christus unser höchster Papst, da über ihn geschrieben steht: Und sein Name wird genannt werden: „Wunderbar“, „Rat“, „Starker Gott“, „Friedensfürst“.347 Andererseits nannte man einst manche heiligen Bischöfe „Päpste“. Hieronymus schreibt so an Augustinus: Dem wahrhaft heiligen Herrn und seligsten Papst Augustinus entbietet Hieronymus den Gruß .348 Ebenso schreibt Augustinus an Paulinus so: Ich glaube, dass deine Heiligkeit die Bücher des seligsten Papstes Ambrosius besitzt.349 Ebenso schreiben Alpius und Augustinus an Aurelius: Dem seligsten Herrn Papst Aurelius.350 Und dieser Papst Aurelius war nicht römischer Bischof. Ebenso Bonifazius, der Comes Africae, in einem Brief an Augustinus: Bete, ehrwürdiger Papst, dass solche Rache über die Feinde häufig Erfolg hat.351 Daher nennen auch die Griechen alle Priester Päpste. Weil aber in der Bedeutung des Begriffs kein eindeutiger Sinn steckt, unterstelle ich, dass „Papst“ insbesondere jenen Bischof meint, der in höchster, ähnlichster und nächster Weise die Stelle Chris345 Consilium doctorum […], wie oben Anm. 329 (Palacky´ , Documenta, 475). 346 Palacky´ , Documenta, 476. 347 Jes 9,16. 348 Hieronymus, Epistulae 112 (PL 22,916). 349 Augustinus, Epistulae 31 (PL 33,125). 350 Augustinus, Epistulae 41 (PL 33,158). 351 Bonifatius, comes Africae; Augustinus incertus, Epistula 14 (PL 33,1098).
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ti vertritt, so wie es Petrus nach Christi Himmelfahrt getan hat. Wenn aber irgendeine Person „Papst“ genannt wird, welche die westliche Kirche als römischen Bischof annimmt, damit er hauptsächlich die kirchlichen Streitfälle entscheidet, den Gläubigen befiehlt, was er will, ist das ein Missbrauch des eingebürgerten Begriffs. Denn sonst müsste man gegebenenfalls zugestehen, dass ein ganz ungebildeter Laie oder ein Weiblein oder ein Ketzer und Antichrist Papst wäre. Das ist deutlich, denn Konstantin II. war ein ungebildeter Laie, der plötzlich zum Priester geweiht wurde, und nachdem er durch ehrgeiziges Bemühen Papst geworden war, abgesetzt und geblendet wurde. Und alles, was er selbst geweiht hatte, wurde im Jahr des Herrn 707 wieder für ungeweiht erklärt. Und genauso war es bei Gregor: Weil er in den Wissenschaften ungebildet war, weihte er mit sich einen zweiten. Als das Volk darüber Missfallen zeigte, wurde ein dritter Papst hinzugefügt. Und als sie sich untereinander abwechselten, kam der römische Kaiser, setzte sie ab und verordnete einen anderen als einzigen. Was das „Weiblein“ betrifft, ist es deutlich bei Agnes, die Johannes Angelicus genannt wurde. Über sie schreibt der Mönch aus Cestria: Eine gewisse Frau saß nach Leo zwei Jahre und fünf Monate lang auf dem Papstthron. Sie soll ein Mädchen namens Agnes, aus Mainz stammend, gewesen sein, von ihrem Liebhaber in Männerkleidung nach Athen geführt und Johannes Angelicus genannt. Sie war in verschiedenen Wissenschaften so hervorragend, dass, als sie nach Rom kam, große Magister als Hörer hatte, Vorlesungen über das Trivium hielt, schließlich zum Papst gewählt wurde, durch ihren Geliebten schwanger wurde und, während sie auf dem Weg zur Laterankirche des Petrus war, von Geburtswehen bedrängt zwischen dem Kolosseum und der Kirche St. Clemens gebar und später hier starb und begraben wurde.352 Und daher sagt man, dass der Papst diesen Weg gewöhnlich links liegen lasse. Daher wird sie im Verzeichnis der Päpste nicht aufgeführt. Was einen ketzerischen Papst angeht, so ist das deutlich bei Papst Liberius, über den der Mönch aus Cestria schreibt, dass er auf Befehl des Constantius für drei Jahre ins Exil ging, weil er die Arianer begünstigen wollte. Auf Rat dieses Constantius weihte die römische Geistlichkeit unterdessen den Papst Felix . Nachdem der ein Konzil gehalten hatte, verdammte er zwei arianische Priester und stieß sie aus. Als man dies hörte, wurde Liberius aus dem Exil zurückgerufen . Der – er hatte sich siegreich durch das langandauernde Exil gekämpft und war durch die Wiedererlangung des Papsttums fröhlich gestimmt – machte sich 352
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mit ketzerischer Verworfenheit gemein und nahm, nachdem Felix abgesetzt worden war, mit Gewalt die Kirche Peter, Paul und Lorenz ein, so dass die Geistlichen und Priester in der Kirche gekreuzigt wurden, die Parteigänger von Felix waren und Liberius nicht beschützen wollten. Felix aber starb als Märtyrer.353 Und dann, was den „Antichrist“ betrifft, ist deutlich, dass jeder Papst, der im Gegensatz zu Christus lebt, wie auch jeder verkehrte Mensch, gewöhnlich Antichrist genannt wird, entsprechend jenem Wort: Viele sind Antichristen geworden . Und auch ein Glaubender wird nicht wagen, hartnäckig die Möglichkeit zu bestreiten, dass ein Mensch der Sünde an heiligem Ort sitzen kann. Darüber hat der Erlöser prophezeit: Wenn ihr den Gräuel der Verwüstung sehen werdet, der – wie es der Prophet Daniel gesagt hat – an heiligem Ort steht, und hinzugefügt wird: wo er nicht soll (wer das liest, möge es verstehen!) .354 Und der Apostel sagt: Lasst euch nicht von irgendjemandem auf irgendeine Weise verführen. Denn indes wird zuerst der Abfall kommen und der Mensch der Sünde wird geoffenbart sein, der Sohn des Verderbens, der widersteht und sich selbst erhebt über alles, was Gott heißt oder was verehrt wird, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich darstellt, als ob er selbst Gott sei .355 Und in den erwähnten Geschichtsdaten wird deutlich, wie sich die päpstliche Würde eingepflanzt hat. Denn Kaiser Konstantin hat um das Jahr des Herrn 301 angeraten und befohlen, dass sein Bischof von allen „Papst“ genannt werden sollte, und mit einer Schenkung ist dieser Titel nachgewachsen. Kaiser Phokas hat dieselbe sogar um das Jahr des Herrn 600 auf Bitten der Geistlichkeit bestätigt, wie man in seinen Annalen liest. Daher erzählt der Mönch von Cestria, wie er aufgrund der hervorragenden Stellung der römischen Macht das Papsttum ihres Bischofs über die anderen erdichtete. Das Nicänische Konzil übertrug dieses Privileg dem römischen Bischof, damit, ebenso wie Augustus vor den übrigen Königen, so auch der römische Bischof vor den Bischöfen Geltung haben und gleichsam als erster Vater „Papst“ genannt werden sollte. Aber der Ursprung dieses Titels und seine hervorgehobene Stellung lag an der Ausstattung der Kirche, wie sie das kanonische Recht im Einzelnen aufführt.356 Nachdem diese Dinge angemerkt worden sind, gehe ich, um Zweideutigkeit aus dem Weg zu räumen, davon aus, dass die Doktoren in A. a. O., lib. 4 c. 27. 354 1Joh 2,18; Mt 24,15; Mk 13,14. 355 2Thess, 2,3 f. 356 Monachus Cestrensis, Polychronicon lib. 4 c. 26; lib 5 c. 10 und Decr. Grat. I dist. 96 c. 13: Constantinus; vgl. c. 14: Constantinus (Friedberg 1,342–345). 353
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ihrem Schriftstück mit „römische Kirche“ die Kirche meinen, von welcher der Erlöser zu Petrus sagte: Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen. Wie in Kapitel 7 gesagt wurde, benennen nämlich die Heiligen und die Dekrete des Kirchenrechts die heilige römische Kirche so.357 Und weiter heißt es dort: Römer, Fürsten, Bekenner des rechten Glaubens verehren mit Glaubensglut und der Entschlossenheit klarer Frömmigkeit die allerheiligste römische Kirche, deren Haupt Christus unser Erlöser ist, und den römischen Bischof, den Statthalter desselben Erlösers.358 So steht es auch in anderen Aussprüchen und solchen, die anderswo stehen und weiter oben angeführt worden sind.359 Zur so verstandenen Kirche in der Aneinanderreihung der Doktoren stelle ich folgende Punkte zusammen: 1. Der Papst ist das Haupt der heiligen römischen Kirche. 2. Das Kollegium der Kardinäle ist der Leib der heiligen römischen Kirche. 3. Der Papst ist der offenkundige und wahre Nachfolger des Apostelfürsten Petrus. 4. Die Kardinäle sind die offenkundigen und wahren Nachfolger des Kollegiums der anderen Apostel Christi. 5. Zur Leitung der Kirche durch die ganze Welt hin ist es erforderlich, dass immer solche offenkundigen wahren Nachfolger in solchem Amt des Apostelfürsten Petrus und der anderen Apostel Christi bleiben. 6. Es können auf Erden nicht solche Nachfolger gefunden und bestimmt werden, wie es der Papst als das Haupt der römischen Kirche ist und die Kardinäle als deren Leib. Gegen alle schon dargelegten sechs Punkte wird zusammenfassend erwiesen: Jede Wahrheit, die in der christlichen Religion zu befolgen ist, und sie allein, ist entweder eine Wahrheit, die von körperlichen Sinnen erkannt oder von einer unfehlbaren Erkenntniskraft gefunden oder durch eine Offenbarung erkannt wird oder in der göttlichen Schrift niedergelegt ist. Aber keiner der sechs Punkte ist eine Wahrheit, die von den körperlichen Sinnen erkannt oder von einer unfehlbaren Erkenntniskraft entdeckt oder durch eine Offenbarung erkannt oder in der göttlichen Schrift niedergelegt ist. Daher ist keiner der sechs Punkte eine Wahrheit, der in der Religion Christi Folge zu leisten ist. Die Folgerung hält sich an das Camestres .360 Der Obersatz ist deutlich durch den heiligen Augustin: Diese Dinge sind nämlich meist, ja sogar 357 Decr. Grat. dist. 21 c. 3: Quamvis (Friedberg 1,70); Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 9: A recta; c. 14: Haec est fides (Friedberg 1,969 f.). 358 Clementinae, lib. 2 tit. 9: De iureiurando (Friedberg 2,1147). 359 Liber sextus, lib. 5 tit. 11 c. 24: Alma mater ecclesia; Extravagantes communes, lib. 1 tit. 3 c. 3: Sancta Romana ecclesia (Friedberg 2, 1106 f.; 1239 f.). 360 Eine Figur des Syllogismus, bei dem der Obersatz allgemein bejahend, der Untersatz und die Folgerung allgemein verneinend sind.
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in Wahrheit allein in der Religion zu befolgen; wer ihnen widerspricht, steht entweder Christi Namen gänzlich fern oder ist ein Ketzer. Und es folgt: Es handelt sich um die Dinge, die mit dem Verstand zu verteidigen oder von den Sinnen des Körpers zu erfassen oder von der Erkenntniskraft des Geistes zu entdecken sind. Dinge aber, die wir weder durch körperliche Sinne erfahren noch durch den Geist erfassen konnten noch können, denen ist zweifellos mit den Zeugen zu glauben, die bereits das, was es schon verdiente, göttlich genannt zu werden, in der Heiligen Schrift zusammengebracht haben. Sie konnten diese Dinge mit göttlicher Hilfe – sei es leiblich, sei es durch den Geist – entweder sehen oder gar vorhersehen.361 So weit Augustinus. Den Untersatz aber können die Doktoren nicht missbilligen, außer wenn ihnen irgendeiner der sechs Punkte göttlich offenbart worden wäre. Denn weder aus den körperlichen Sinnen, noch aus der Vernunft, noch aus der göttlichen Schrift werden diese Punkte einsichtig. Vielmehr scheinen die Doktoren, indem sie diese Punkte zu einer Autorität erheben, sodass ihnen geglaubt werden soll, dem Verdammungsurteil verfallen durch jene Autorität des Augustinus, den sie selbst in ihrem Schriftstück anführen. Wer irgendwelche Schriften außer denen, welche die katholische Kirche angenommen hat, entweder als solche überliefert oder verehrt hat und als Autorität gelten lassen will, der sei verdammt.362 Das ist deutlich, denn sie haben jene Schriften zu einer Autorität gemacht, damit ihnen geglaubt werden soll; die katholische Kirche aber hat jene Schriften nicht angenommen, da sie weder im göttlichen Gesetz noch im kanonischen Recht grundgelegt sind. Daher folgt, dass dieselben Doktoren ebenso verdammt sind. Und es ist deutlich: Ihnen ist in Bezug auf diese Punkte kein gottesfürchtiger Glaube zu schenken, wenn sie dieselben nicht einsichtig beweisen, sie entweder aufgrund der Heiligen Schrift oder mit kräftiger Vernunft begründen. Denn Augustinus sagt zu Hieronymus in einem Brief: Ich habe gelernt, allein den Schreibern diese Ehre und Ehrfurcht zu erweisen, die schon „kanonisch“ genannt werden, sodass ich wage zu glauben, dass keiner von ihnen beim Schreiben geirrt hat. Die anderen aber will ich so lesen, dass ich sie, wieviel an Heiligkeit, wieviel an Lehre sie auch besitzen mögen, nicht für gleich wahr halte, weil sie selbst so urteilen, sondern weil sie mich durch andere Autoren oder durch kanonische oder wahrscheinliche Gründe, die vom Wahren nicht zurückschrecken, überzeugen können.363 Da also dieAugustinus, De fide spe et charitate (Enchiridion ad Laurentium) c. 4 (PL 40,232). Consilium doctorum […], wie oben Anm. 329 (Palacky´ , Documenta, 476), verba Augustini. 363 Augustinus, Epistula 82 (PL 33,277) nach Decr. Grat. I dist. 9 c. 5 361
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selben Doktoren nicht Autoren der Heiligen Schrift sind, sie sich aber – einmal angenommen – durch Heiligkeit auszeichnen, dürfen es die Gläubigen also nicht für wahr halten, was jene meinen, wenn sie nicht durch andere Autoren der Schrift oder kanonische oder wahrscheinliche Gründe davon überzeugen könnten, dass jene Punkte nicht von der Wahrheit abweichen. Sodann wird im Einzelnen zu jenem ersten Punkt: Der Papst ist das Haupt der römischen Kirche ,364 dergestalt der Gegenbeweis geführt – wobei durchgehend immer festgehalten wird, dass die römische Kirche die Braut Christi ist, erbaut auf Christus, gegen welche die Pforten der Hölle nicht die Oberhand gewinnen: Kein Papst ist die würdigste Person dieser katholischen Kirche außer Christus. Also ist kein Papst das Haupt dieser katholischen Kirche außer Christus. Die Folgerung führt von der Beschreibung zum Beschriebenen, da das Haupt der Kirche die hauptsächliche oder vornehmlichste Person der Kirche ist. Ja, vielmehr, weil „Haupt“ ein Würde- und Amtstitel ist – ein Würdetitel, was die Erwählung betrifft, und ein Amtstitel, was den Dienst an der ganzen heiligen Kirche angeht –, folgt, dass niemand ohne Offenbarung vernünftigerweise von sich oder einem anderen behaupten kann, er sei das Haupt einer heiligen Teilkirche, obwohl er hoffen darf, ein Glied der heiligen katholischen Kirche, der Braut Christi, zu sein, sofern er einen guten Lebenswandel führt. Daher müssen wir nicht über das Darin-Sein streiten: Jeder beliebige, der mit uns lebt, ist das Haupt einer heiligen Teilkirche. Sondern wir müssen aufgrund der Werke unterstellen: Wenn einer ein Oberer ist und eine heilige Teilkirche leitet, dann ist er ein Oberer in dieser Teilkirche – was man von einem römischen Bischof annehmen muss –, wenn nicht die Werke im Widerspruch dazu stehen. Denn der Erlöser sagt: Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Und: Glaubt den Werken.365 Ferner ist es nicht nötig zu glauben: Dieser oder jener römische Bischof ist Haupt jeder heiligen Teilkirche, wenn Gott ihn nicht erwählt hat. Das ist deutlich, weil man sonst annehmen müsste, der christliche Glaube täusche sich und ein Christ müsse eine Lüge einräumen, weil die Kirche in Agnes getäuscht wurde, und Gott es wegen der Seinen zugelassen hat – zweifellos zum Besseren –, dass, wer zum Papst gewählt wird, nicht sogleich für einen Heiligen gehalten werden (Friedberg 1,17). 364 Consilium doctorum […], wie oben Anm. 329 (Palacky´ , Documenta, 475). 365 Mt 7,15 f.; Joh 10,38.
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soll, oder dass man gegenüber einem, der so zu sein vorgibt, ohne heiligen Schauder handeln soll. Daher hätte ich gewünscht, die Doktoren hätten vor dem Volk öffentlich so gelehrt: Wenn die ganze damals lebende Geistlichkeit der Meinung war, einen rechten Papst zu haben, dann war diese Agnes das Haupt der römischen Kirche. Oder wenn damals die Kirche ohne Haupt war, dann gab es während zweier Jahre und fünf Monaten keinen Papst in der kämpfenden Kirche. Daher können sich die Gläubigen zu Folgendem verstehen: Ebenso wie es nicht zum Wesen des katholischen Glaubens gehört, zu glauben, ein Liberius, ein Johannes, ein Bonifazius, ein Clemens oder Urban sei erwählt oder sei gemäß der oben gesagten Meinung Glied der heiligen Mutter Kirche, so ist es für alle Christen, die mit dem Betreffenden leben, auch nicht heilsnotwendig, ausdrücklich zu glauben, er sei das Haupt irgendeiner Kirche, wenn nicht die Taten und ein evangelisches Leben ganz offensichtlich dazu veranlassen, dies glauben zu müssen. Zu groß nämlich wäre die Vermessenheit zu behaupten, dass wir Häupter einer jeden beliebigen Teilkirche sind, die ein Teil der heiligen Mutter Kirche wäre. Wie also sollte irgendjemand von uns ohne Offenbarung von sich oder einem anderen behaupten, dass er Haupt der Kirche ist. Wird doch Pred 91 zu Recht gesagt, dass niemand von solch einem weiß, ob er – was die Erwählung angeht – der Liebe oder des Hasses würdig ist .366 Ferner: Wenn wir die Empfindung und die Bewegung ansehen, mit denen wir auf Untergebene einwirken und auf der anderen Seite den Spiegel der Schrift betrachten, durch die wir unser ganzes Leben regeln sollten, dann würden wir es eher vorziehen, Knechte und Diener der Kirche genannt zu werden als Häupter. Denn es ist deutlich: Wenn wir nicht das Amt eines Hauptes verrichten, sind wir keine Häupter. Denn nach Augustinus ist ein schlechter Ehemann nicht das Haupt seiner Frau. Wie viel mehr ist dann ein Vorsteher der Kirche, der nur von Gott eine solche Würde empfinge, nicht Haupt dieser Teilkirche, wenn er von Christus abirrt. Nachdem daher Augustinus aufgezeigt hat, dass eine wahrhaft christliche Frau über die Hurerei des Mannes Schmerzen empfinden muss, nicht um des Fleisches, sondern um der Liebe und der dem Mann Christus geschuldeten Keuschheit willen , sagt er folgerichtig: Christus redet in den Herzen der guten Frauen, wo es der Mann nicht hört, und sagt: „Leide an dem Unrecht deines Mannes, aber ahme es nicht nach, damit er dich eher im Guten nachahmt. Denn in dem, was er übel tut, betrachte ihn nicht als einen, der dein Haupt ist, sondern sieh 366
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auf mich, der dein Gott ist.“ Und er beweist, dass dies geschehen soll: Wenn in dem, was er übel tut, er das Haupt ist und der Leib seinem Haupt Folge leistet, stürzen beide in die Tiefe. Damit aber ein Christ nicht seinem bösen Haupt Folge leistet, soll er sich an Christus, das Haupt der Kirche, halten, ihm seine Keuschheit schulden, ihm seine Ehre erweisen. Fern sei der Mann als solcher, anwesend sei der Mann, welcher der Mutter Kirche angetraut ist .367 Gepriesen sei also Christus, das Haupt der Kirche, der von seiner Braut, die sein geheimnisvoller Leib ist, nicht so getrennt werden kann, wie Päpste öfter durch Ketzerei von der Kirche getrennt gewesen sind. Aber einige der oben genannten Doktoren sagen, dass der Papst das leibliche Haupt der kämpfenden Kirche ist, das es immer hier bei der Kirche geben muss. Christus aber ist nicht auf diese Weise leibliches Haupt. Hierzu wird gesagt: Ihnen bleibt dieselbe Schwierigkeit, um den ersten Teil zu beweisen. Denn es bleibt ihnen zu beweisen, dass der Papst das Haupt der heiligen Kirche ist, was sie nicht bewiesen haben. Und dann bleibt danach zu beweisen, dass Christus nicht das leibliche Haupt der kämpfenden Kirche ist. Wenn Christus eine leibliche Person ist, weil er Mensch ist, dann ist er das Haupt der kämpfenden Kirche. Es ist der Christus, der an allen Tagen bei seiner Kirche bis zur Vollendung der Welt gegenwärtig ist gemäß der Tatsache, dass er eine göttliche Person ist. Ähnlich verhält es sich damit, dass er aus Gnade der Kirche auf sakramentale und geistliche Weise seinen Leib zu essen gibt. Ist uns dieser Bräutigam, der das Haupt der Kirche ist, nicht viel näher als der Papst, der von uns hunderte von Meilen entfernt ist und aus sich heraus nicht fähig, in uns Empfindung und Bewegung zu beeinflussen, was das Amt des Hauptes ist? Es würde also genügen zu sagen, der Papst wäre ein Statthalter Christi, und für ihn wäre es gut, wenn er ein getreuer Diener wäre und erwählt ist zur Ehre des Hauptes Jesus Christus.
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Kapitel 14 Der zweite Punkt ist der: Das Kollegium der Kardinäle ist der Leib der heiligen römischen Kirche.368 Falls das so ist, ist also das Kollegium der Kardinäle die heilige römische Kirche. Die Folgerung ist abgeleitet aus 35 dem Wort des Apostels: Ihn hat er zum Haupt über die ganze Kirche gegeben, die sein Leib ist. Und da die Kirche, die der geheimnisvolle Leib Christi ist, nicht verdammt werden kann, weil Christus sagt: Auf diesen 367 Vgl. Augustinus, Sermones de scripturis, sermo 9: De decem chordis, c. 3.3; 9.12 (PL 38,77.82). 368 Palacky´, Documenta, 475.
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Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden gegen sie nicht die Oberhand gewinnen,369 folgt: Das Kollegium der Kardinäle kann nicht verdammt werden. Doch weil diese Folgerung falsch ist oder sie zumindest bei den Doktoren angezweifelt werden muss, folgt: Sie haben in diesem Punkt Falsches oder Zweifelhaftes lehrmäßig gleichsam als Wahres dargelegt. Aber was für eine Frucht bringt es, die Verehrer Christi so zu lehren? Ferner ist das Kollegium der Kardinäle entweder der wahre Leib der heiligen römischen Kirche oder ein erdichteter Leib. Die Doktoren meinen, er sei nicht erdichtet, sondern der wahre Leib. Und folglich ist jenes Kollegium zur himmlischen Herrlichkeit erwählt. Aber weil die Doktoren keine Offenbarung über dieses Kollegium haben, folgt: Sie durften nicht behaupten, das dasselbe Kollegium der Leib der heiligen römischen Kirche ist. Ferner sind alle Erwählten der Leib der heiligen römischen Kirche und gehören nicht allein diesem Kollegium an. Der erste Teil ist deutlich durch jenes Wort des Apostels, der in der Person der Erwählten sagt: Wir, die wir viele sind, sind ein Leib in Christus. Doch wenn er die Einheit des Leibes der Kirche aufzeigt, legt er nicht dar, dass das Apostelkollegium der Leib der Kirche ist, sondern sagt: die Gott aufgestellt hat in der Kirche, erstens als Apostel, zweitens als Propheten, drittens als Lehrer, darauf die Tugenden, sodann die Gnadengaben der Heilungen usw. Aber er stellt einen Vergleich her zwischen dem Leib der Kirche und seiner Glieder und dem natürlichen Leib des Menschen und sagt so: Wie nämlich der Leib einer ist und viele Glieder hat, so sind alle Glieder des Leibes, obwohl sie viele sind, ein Leib: so auch Christus,370 der nämlich ein Körper ist, weil er eine Person mit der heiligen Kirche ist, die sein Leib ist, wie im ersten Kapitel gesagt wurde. Und der zweite Teil versteht sich von selbst: Alle jene Erwählten sind nicht jenes Kollegium. Die Doktoren hätten also besser formuliert: Christus ist das Haupt der Heiligen Römischen Kirche, und sowohl die einzelnen erwählten Glieder als auch alle zusammen bilden einen Körper, der die Kirche ist. Stattdessen haben sie den Papst zum Haupt der Kirche und das Kollegium der Kardinäle zum seinem Leib erklärt. Sie hätten nämlich mit dem Apostel und den schon im ersten Kapitel erwähnten Heiligen sowie besonders mit dem seligen Augustinus übereingestimmt, der sagt: Das nämlich ist nicht wirklich „Leib des Herrn“, was nicht mit ihm in Ewigkeit bleiben wird.371 Wenn also das Kardinalskollegium nicht mit Christus in Ewigkeit bleiben wird, was Eph 1,22 f.; Mt 16,18. 370 Röm 12,5; 1Kor 12,28.12. Christiana lib. 3 c. 32. 45.100 (PL 34,82).
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mir verborgen ist, wie ist es dann der Leib der heiligen römischen Kirche bzw. der Leib Christi? Und ähnlich gefragt: Wie ist der Papst mit dem zuvor genannten Kollegium die heilige römische Kirche, die von den Pforten der Hölle nicht überwältigt werden kann? Lasst uns also sicherer mit dem seligen Augustinus sprechen, der über das Psalmwort: Höre, der du Israel lenkst, schreibt: In diesem Zeugnis wird schließlich sowohl Christus als auch der Weinstock bekannt, d. h. Haupt und Leib, König und Volk, Hirt und Herde und das ganze Geheimnis aller Christen: Christus und die Kirche.372 Siehe, der allergenaueste Lehrer der heiligen Kirche zeigt uns eine andere heilige Kirche mit ihrem Haupt als die Doktoren, die ohne Schriftbeleg behaupten, dass der Leib der Heiligen Römischen Kirche das Kardinalskollegium ist – wobei es dem Kollegium gut täte, wenn seine Teile Glieder der Heiligen Kirche Jesu Christi wären. Wir aber sollten bedenken, wie derselbe selige Augustinus deshalb davor zurückschreckte, Christus als „herrscherlichen Menschen“ zu bezeichnen, weil solch eine Wortbedeutung nicht klar aus der Schrift hervorgeht. Um wie viel mehr muss man davor zurückschrecken, irgendeinen Christen als „Haupt“ der heiligen kämpfenden Kirche zu bezeichnen, damit nicht etwa Christus gelästert wird. Dem nämlich – gleichsam ihm zu eigen – ist dieser Titel nach dem Ratschluss der Dreifaltigkeit vorbehalten. Wie lehren also die Doktoren ohne Nachweis aus der Schrift, dass der Papst das Haupt jener heiligen Kirche und das Kollegium der Leib ist? Reicht es denn für einen gläubigen Christen nicht, mit geformtem Glauben und Ausdauer den Glaubensartikel bezüglich der katholischen Kirche zu glauben, dass sie die eine Gesamtheit der erwählten Gläubigen ist und kraft des Verdienstes Christi gerettet werden soll? Ist er nicht das Haupt der heiligen katholischen Kirche? Und hat er sich denn ausdrücklich zu irgendeinem seiner Statthalter herabgelassen, den er als herausgehoben anerkannt hätte? Viele sind in Judäa, in Asien und Äthiopien gerettet worden, weil sie gemäß der Lehre der Apostel an Christus glaubten. An Petrus dachten sie ausdrücklich nicht, ja sie glaubten sogar ausdrücklich nichts von Petrus, denn sie hatten überhaupt nichts von ihm gehört. Der dritte Punkt ist dieser: Der Papst ist der offenkundige und wahre Nachfolger des Apostelfürsten Petrus .373 Behandelt wurde dies bereits gegen Ende des siebten Kapitels. Hinzugefügt wird nun freilich, dass die Doktoren diesen Punkt nicht beweisen. Ein Statthalter muss die Augustinus, Enarratio in psalmos: In psalmum 79 enarratio c. 2, zu Ps 80,1 (PL 36,1020). 373 Palacky´, Documenta, 475.
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Vertretung des Höhergestellten, von dem er die stellvertreterische Vollmacht empfängt, ganz auf dessen Weise ausüben. Also ist es nötig, dass er sich in seinen Werken eng an den angleicht, dessen Vertretung er ausübt. Denn andernfalls brächte die ihm erteilte Vollmacht keinen Nutzen. Daraus wird nun folgendes Argument aufgestellt: Ein Mensch ist Statthalter von jenem, dessen Vertretung er ausübt und von dem er rechtmäßig die verwalterische Vollmacht empfängt. Aber niemand übt wahrhaftig die Vertretung von Christus bzw. Petrus aus, wenn er ihm nicht im Lebenswandel nachfolgt. Denn keine andere Nachfolge ist zweckdienlicher und empfängt von Gott die verwalterische Vollmacht auf andere Weise. Daher erfordert dieses Statthalteramt sowohl die Übereinstimmung im Lebenswandel als auch mit der Autorität des Einsetzenden. Wenn also ein Papst ein äußerst demütiger Mensch ist und die weltlichen Ehren und den Reichtum der Welt gering schätzt, wenn er ein Hirte ist, der vom Weiden gemäß Gottes Wort den Titel herleitet, von dem der Herr zu Petrus gesagt hat: Weide meine Schafe, wenn er die Schafe mit dem Wort und dem Beispiel der Tugenden weidet und der Herde aus dem Geist heraus ein Vorbild geworden ist, wie Petrus lehrt, wenn er milde, geduldig und keusch ist und im Dienst der Kirche behutsam und fürsorglich arbeitet und alle zeitlichen Güter der Welt wie Dreck bewertet,374 dann ist er ohne Zweifel ein wahrer Statthalter Jesus Christi, offenbar vor Gott und vor den Menschen nach dem äußeren Urteil der Sinne. Wenn er aber diesen Tugenden zuwider lebt, wie ist er dann ein wahrer und offenkundiger Statthalter Christi bzw. des Petrus – gibt es doch keine Gemeinschaft Christi mit dem Teufel , weil Christus selbst sagt: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich375 – und nicht eher der Statthalter des Antichrist, der sich Christus im sittlichen Verhalten und in der Lebensführung widersetzt? Daher hat Christus den Petrus, als der sich ihm im Wollen und Wort widersetzte, nach der Verheißung der Schlüssel-Gabe „Satan“, d. h. Widersacher, genannt und gesagt: Geh fort, hinter mich, Satan, du bist mir ein Ärgernis, denn du bedenkst nicht, was Gottes Sache ist, sondern der Menschen .376 Wenn also Petrus, der erste Statthalter Christi, der sowohl von ihm selbst ausgewählt als auch der Kirche in besonderer Weise zugewiesen war, von Christus „Satan“ genannt wurde, der aus einer Regung fleischlicher Liebe zu Christus ihm abriet, sich der Todesstrafe zu unterziehen, warum sollte dann ein anderer, der Christus im Leben weitaus mehr widerstrebt, nicht wahrhaft „Satan“ 374
Joh 21,17; 1Petr 5,3; vgl. Phil 3,8.
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genannt werden und folglich „Antichrist“ oder „Statthalter des Antichrist“ oder „vorzüglichster Diener des Antichrist“? Daher sagt der selige Bernhard: Die Bosheit ist von deinen Ältesten ausgegangen, Herr, die dein Volk zu leiten scheinen. Wehe, wehe, Herr Gott, denn diese sind die ersten bei deiner Verfolgung, die in deiner Kirche den Vorrang festzuhalten und die höchste Stellung innezuhaben scheinen .377 Und dann: Alle sind Freunde und alle Feinde, alle Verwandten und alle Gegner und alle Hausgenossen, aber niemand stiftet Frieden; alle sind Nächste und alle suchen das Ihre, sie sind Diener Christi und dienen dem Antichrist.378 Siehe, wie klar dieser Heilige aufzeigt, wie die bösen Vorsteher vermeintliche Freunde, Hausgenossen und Diener Christi sind, aber in Wahrheit Feinde Christi und Diener des Antichrist. Ebenso zeigt Augustinus auf, welche keine wahren Hirten, sondern Mietlinge sind, und sagt, wie es im Kirchenrecht niedergelegt ist: Es gibt in der Kirche einige Vorgesetzte, über die der Apostel Paulus sagt: „Sie suchen das Ihre und nicht das, was Jesu Christi ist“. Was also bedeutet „sie suchen das Ihre“? Weder lieben sie Christus ohne Berechnung, noch suchen sie Gott um Gottes willen. Sie trachten nach angenehmen zeitlichen Gütern, gieren nach Reichtümern und erstreben Ehrbezeigungen von Menschen. Werden diese Dinge von einem Vorgesetzten geliebt und dient er Gott ihretwegen, dann ist er, wer immer er auch ist, ein Mietling und soll sich nicht zu den Söhnen zählen.379 Über solche sagt nämlich auch der Herr: „Amen, Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon empfangen .“380 So wie der Apostel Petrus den Typus aller Guten und besonders der guten Bischöfe darstellt – sagt Augustin daher öfter –, so stellt Judas die Gestalt der Bösen und besonders der bösen Priester dar. Daher sagt er über jenes Wort: Arme werdet ihr immer bei euch haben, mich aber werdet ihr nicht immer haben381: Was wünscht er für sich? Wie ist das zu verstehen: „Mich aber werdet ihr nicht immer haben“? Habt keine Angst. Das ist dem Judas gesagt. Warum sagte er nicht „du hast“, sondern „ihr werdet haben“? Weil es nicht nur einen Judas gibt. Ein Böser repräsentiert die Körperschaft der Bösen, so wie Petrus die Körperschaft der Guten repräsentiert. Und weiter unten sagt er: Wenn in der Person des Petrus die Guten in der Kirche repräsentiert sind, sind in der Person des Judas die Bösen in der Kirche repräsen377 Bernhard von Clairvaux, In conversione St. Pauli sermo 1 c. 3 (PL 183,361 f.) mit Dan 13,5. 378 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica canticorum sermo 33 c. 15 (PL 183,959). 379 Decr. Grat. II dist. 8 q. 1 c. 19 (Friedberg 1,596). 380 Bis hierher, einschließlich des Kirchenrechtstextes sowie Mt 6,2: Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 46,5 (PL 35,1729). 381 Joh 12,8.
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tiert. Dem Judas wird gesagt: „Mich aber werdet ihr nicht immer haben.“ Was heißt „nicht immer“ und was heißt „immer“? Wenn du ein Guter bist, wenn du zu Christus gehörst – was die Person des Petrus repräsentiert – hast du Christus sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft: in der Gegenwart durch den Glauben, in der Gegenwart durch das Kreuzeszeichen, in der Gegenwart durch das Sakrament der Taufe, in der Gegenwart durch die Speise und den Trank des Altarsakraments. Du hast Christus in der Gegenwart, aber du hast ihn freilich immer. Denn wenn du von hier hinweggehst, wirst du zu Christus kommen, der zu dem Räuber gesagt hat: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ 382 Führst du aber einen bösen Lebenswandel, magst du zusehen, Christus in der Gegenwart zu haben. Weil du in die Kirche gehst, dich mit dem Kreuzeszeichen Christi bezeichnest, mit dem Kreuzeszeichen Christi getauft bist und dich unter die Glieder Christi mischst, hast du Christus in der Gegenwart, aber wenn du einen bösen Lebenswandel führst, wirst du ihn nicht immer haben .383 Soweit Augustinus, der aufweist, dass die wahren Statthalter des Petrus die Gerechten, die Statthalter aber des Judas Ischariot die Bösen sind, besonders die geizigen, heuchlerischen und lästerlichen Priester. Und dasselbe zeigt er an jenem Psalm: Gott, mein Lob, schweige nicht.385 Und Ambrosius sagt: Hütet euch, Brüder, vor der Lüge. Weiter unten: Es ist eine Lüge, sich einen Christen zu nennen und die Werke Christi nicht zu tun. Es ist eine Lüge, sich als Bischof, Priester oder Geistlicher zu bekennen und entgegen diesem Amt zu handeln .385 Und weiter im Kirchenrecht: Nicht alle Vorsteher werden als Vorsteher betrachtet. Der Titel macht nämlich nicht den Bischof aus, sondern das Leben.386 Und ebenfalls dort, unter der Überschrift: Nicht der ist schon wahrhaft ein Priester, der Priester genannt wird, sagt Chrysostomus: Viele Priester und doch wenige wirkliche Priester.387 Siehe, aus diesen und den an anderer Stelle dargelegten Argumenten wird aufgezeigt: Keiner ist offensichtlich Papst und wahrer Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, der dem Lebenswandel des Petrus zuwider lebt. Giert er aber nach Geld, dann ist er ein Statthalter des Judas Ischariot, der den Lohn der Bosheit liebte und den Herrn Jesus Christus verkaufte. Und mit gleicher Beweiskraft sind die Kardinäle nicht offenkundige und wahre Nachfolger des Kollegiums der anderen Apostel Christi, wenn sie nicht nach Art der Apostel leben und die Lk 23,43. 383 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus 50,12 (PL 35,1762 f.). Augustinus, Enarrationes in Psalmos, zu Ps 109/Vulg. 108 (PL 37,1431–1445). 385 Decr. Grat. II C. 22 q. 5 c. 20 (Friedberg 1,888). 386 Decr. Grat. II C. 2 q. 7 c. 27, Zusatz Gratians, §7 (Friedberg 1,491). 387 Decr. Grat. I dist. 40 c. 11 (Friedberg 1,148). 382
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Gebote und Ratschläge unseres Herrn Jesus Christus befolgen. Wenn sie nämlich anderswo einsteigen als durch die erste Tür, den Herrn Jesus Christus, dann sind sie Diebe und Räuber, wie der Erlöser selbst von all solchen Leuten geurteilt hat, indem er sagte: Alle, die gekommen sind, sind Diebe und Mörder .388 Die also sagen, sie seien wahre und offenkundige Statthalter Christi, aber wissen, dass sie im Laster leben, sind allesamt Lügner. Daher sagt der Heilige Geist: Auf solche Weise sagen jene von der Synagoge Satans, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern lügen.389 Daher: Wenn Kardinäle kirchliche Güter aufhäufen und tauschen und für ihren Verkauf Geld für sich oder andere annehmen und so die Güter, die für die Armen bestimmt sind, vergnügt und allzu hochmütig verschlingen und verbrauchen, aber weder Wunder vollbringen, noch dem Volk das Wort Gottes predigen, noch Messe feiern oder andächtig beten und auch nicht das Amt der Diakone ausfüllen, welche die Apostel eingesetzt haben,390 weil sie weder deren Ämter verrichten, noch deren Leben führen – inwiefern, frage ich, sind sie dann Statthalter der Apostel? Etwa darin, dass sie Güter sammeln oder gleichsam nach den Geschenken des Gehasi391 Jagd machen? Oder dass sie lernen, sich sehr früh morgens in äußerst hochmütiger Ausstattung mit aufwändigem Hofstaat zu Pferde zum Papst zu begeben? Tun sie das etwa wegen der örtlichen Entfernung oder eines schwierigen Weges oder nicht doch, um der Welt ihre Herrlichkeit zu zeigen? Und steht das nicht im Gegensatz zu Christus mit seinen Aposteln, die zu Fuß in demütiger Kleidung Städte, Dörfer und Burgen besuchten und das Reich Gottes verkündigten? Sind sie etwa auch darin wahre und offenkundige Statthalter der Apostel, dass sie es erlauben, sich von Menschen durch Kniefall verehren zu lassen? Oder darin, auswärtigen Besuchern des Papstes aufzuerlegen, darum zu bitten, dem Papst – während er hoch erhaben dasitzt: in glänzendem Ornat, der sogar bis zu den Füßen, vielmehr über den Sitz hinaus reicht – kniefällig und demütig die seligen Füße küssen zu dürfen, als sprudele die Heiligkeit dieses Vaters, des Papstes, selbst aus den Fußsohlen hervor? Aber erhalten von diesen Füßen etwa die Schwachen Gesundheit? Christus hat nämlich geduldet, aber nicht verlangt, dass seine Füße von einer Frau geküsst wurden,392 weil die gottergebene Reue und die körperliche Berührung der Glieder Christi die Vergehen eines Erdenpilgers tilgen. Vgl. Joh 10,1–9, bes. 10,8. 389 Offb 2,9, vgl. 2,2. pheten Elisa; vgl. 2Kön 5,20–27. 392 Lk 7,38.
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Daher wollte er, als er vor seinem Tod umherzog, um vielfältige Gesundheit zu schenken, von Frauen berührt werden, wie aus Lukas hervorgeht.393 Aber da der Papst dies nicht vermag, besteht kein vernünftiger Grund für den Fußkuss, außer sich über Christus zu überheben. Keiner von beiden Seiten dient dieser Kuss nämlich zum Heil. Denn wer aus Habgier, die man tadeln muss, oder aus Furcht oder Schmeichelei oder durch blinde Frömmigkeit irregeleitet küsst, wird gänzlich beschuldigt werden, furchtsamer, ängstlicher oder ehrerbietiger die Knie zu beugen und sich den Füßen des Papstes zu nähern, als er es vor dem Sakrament des Leibes des Erlösers täte. Durch das Empfangen des Kusses aber macht sich der Papst gänzlich schuldig, kann er sich doch nicht mit Christus gleichstellen, um eine so große Würde entgegenzunehmen. Wenn man ihn in Anbetracht dessen, aber freilich nicht leicht, den Aposteln gleichstellt, soll er zur Vermehrung seines Verdienstes aufgrund demütigen Bekennens und zum Nutzen des Ehre erweisenden Volkes nicht über solche Ehren hinausgehen, die die Apostel empfangen hatten. Daher haben jene begonnen, ganz nach Christi Beispiel Gutes zu tun, und haben sich Würde durch Werke verschafft, nicht aber durch empfangene Küsse wie ein Gott. Denn weltliche Ehrungen verschmähten sie und verboten daher den Menschen vor ihnen die Knie zu beugen. Sie erinnerten sich nämlich an jenes Wort Christi: Wenn du zu einer Hochzeit eingeladen bist, lass dich nicht auf dem ersten Platz nieder, damit nicht – falls zufällig einer eingeladen wurde, der mehr Ehre als du verdient – derjenige, der euch beide eingeladen hat, kommt und zu dir sagt: „Gib ihm den Platz!“, und du dann beschämt aufstehst, um den letzten Platz einzunehmen.394 Aber aufgrund der Aussprüche der Heiligen steht fest, dass Christus über eine geistliche Einladung, einen geistlichen Ort und ein geistliches Mahl spricht, nicht aber in leiblichem Sinn. Denn unter „Hochzeitsfeier“ versteht man die Vermählung Christi und der Kirche, die in ewiger Dauer im himmlischen Abendmahl vollendet wird. Zu dieser Hochzeitsfeier sind viele berufen, aber nur wenige auserwählt , wie Christus sagt.395 Der aber wird sich auf dem letzten Platz niederlassen, der sich fromm für den Geringsten der Auserwählten hält, so wie sich der Apostel Christi, der die Geheimnisse gesehen hat, die ein Mensch nicht aussprechen darf, für den Geringsten der Apostel gehalten hat.396 Wenn der Papst sich also für den allerheiligsten Vater hält oder von den Untergebenen wohlgefällig dieses Eigenschaftswort entgegennimmt, 393
Vgl. Lk 7 f.
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Lk 14,8 f.
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Mt 22,14.
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Vgl. 2Kor 12,4; 1Kor 15,9.
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wie erwählt er sich dann nicht anmaßend den ersten Platz? Daher, wenn in ihm die gleiche Demut wohnte wie im seligen Gregor, würde er schleunigst diese Ausdrucksweise beseitigen oder beseitigen lassen. Denn nicht schon deshalb, weil er die Vertretung des Petrus hat und weil er eine große Schenkung besitzt, ist er der „Allerheiligste“, son- 5 dern wenn er Christus in Demut, Milde, Geduld und Arbeit aus dem großen Band der Liebe heraus nachfolgt, dann ist er heilig. Aber es sei ferne, dass er der Allerheiligste ist, denn dann wäre er der allmächtige Gott und folglich nicht der Statthalter Jesu Christi. Denn der wollte nicht, dass ihm nach der Auferstehung eine Frau seine Füße küsste, die 10 doch zweifellos unsterblich und selig waren, damit er den Elenden die angemaßte Gotteslästerung entzöge, die mittlerweile fälschlich erdichtet hatten, dass sie die Statthalter Christi sind. Aber die Füße Christi und derer, die mit Christus in den Himmel auffahren, sind selig und kein Fraß der Würmer, kein faulendes Glied und kein stin- 15 kender Schweiß weltlicher Leidenschaften. Aus diesen Darlegungen kann man sich überzeugen, ob der vierte Punkt: Kardinäle sind offenkundige und wahre Nachfolger der Apostel Christi , wahr ist. Denn an den Früchten, die ein Baum trägt, erkennt man ihn.397 20
Kapitel 15 Der fünfte Punkt ist dieser: Für die Leitung der Kirche durch die ganze Welt hin ist es nötig, dass immer solche Leute , nämlich Kardinäle, als offensichtliche und wahre Nachfolger in solchem Amt des Apostelfürsten und der anderen Apostel Christi bleiben .398 In diesem Punkt 25 benennt jenes Wort „es ist nötig“ weder von Seiten Gottes, der die Kirche leitet, eine Zweckmäßigkeit: Gott kann auch ohne solche Nachfolger die über den ganzen Erdkreis verstreute Kirche leiten. Noch benennt es eine Zweckmäßigkeit von Seiten der Kirche: Die kann ebenso gut von heiligen Priestern geleitet werden, wie sie nach der Him- 30 melfahrt Christi – und nachdem jene zwölf Türangeln nicht mehr da waren399 – dreihundert und mehr Jahre lang geleitet wurde. Es sei denn, man sagt, dass dieses Wort „es ist nötig“ eine Notwendigkeit ausdrückt, die unser Erlöser kennzeichnet, wenn er sagt: Es ist notwendig, dass Ärgernisse kommen. Wehe aber jenem Menschen, durch den ein 35 Ärgernis kommt! Diese Worte sagte der Erlöser nämlich nachdem er seine Jünger gescholten hatte, die untereinander stritten, wer der Vgl. Mt 7,16–20. 398 Palacky´, Documenta, 475 f. 399 Etymologisches Spiel mit „Kardinal“, abgeleitet von „cardo“, „Türangel“ und den wirklichen Dreh- und Angelpunkten: die Apostel und Apostelschüler. 397
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Größte sei, wobei er beschwörend sagte: Amen, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und wie Kinder werdet, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Und damit nicht die, die an Christus glauben, durch Hochmut Ärgernis böten, fügte er hinzu: Wer einen von diesen Kleinsten, die an mich glauben, ärgern wird, dem ist es heilsam, dass ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde .400 Dieses Wort behandelt Gregor so: Die Hirten, die in ihrem sittlichen Verhalten verkehrt sind, bekämpfen das, was sie predigen, durch ihr sittliches Verhalten. Daher geschieht Folgendes: Wenn ein Hirte dem Abgrund zuschreitet, folgt die Herde auf dem abschüssigen Weg. Weil denn die Laien die Aussagen der Vorsteher kennengelernt haben, werden sie durch Werke zugrunde gerichtet. Daher wird durch den Propheten geschrieben: Die Ursache für den Ruin des Volkes sind die bösen Priester, über die der Herr durch den Propheten Ezechiel sagt: „Sie sind dem Haus Israel einen Anstoß zur Sünde geworden.“ 401 Niemand schadet freilich in der Kirche mehr, als wer verkehrt handelt und dabei Titel oder Stand der Heiligkeit innehat. Denn diesen Missetäter wagt niemand zu beschuldigen. Aber die Schuld wird kräftig zu einem Beispiel ausgeweitet, wenn der Sünder wegen der Würde seines Standes geehrt wird. Freilich würden die Unwürdigen die Gefahren so großer Last fliehen, wenn sie das Urteil der Wahrheit genau bedächten: „Wer einen von diesen Kleinsten, die an mich glauben, ärgern wird, dem ist es heilsam, dass ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“ Durch den Mühlstein wird die Eselsmühle des weltlichen Lebens, das Im-Kreis-Herumlaufen, und der Schmerz ausgedrückt und durch die Tiefe des Meeres die äußerste Verdammnis bezeichnet. Wer also dazu berufen ist, dem heiligen Leben Ansehen zu verleihen, aber die Übrigen entweder durch Wort oder Beispiel zugrunde richtet, dem wäre wirklich besser damit gedient, dass ihm irdisches Tun in weltlichem Stand den Tod brächte, als dass er mit heiligen Amtshandlungen, die er im Stand der Schuld vollzieht, den Übrigen als Vorbild diente. Denn zweifellos würde ihn eine erträglichere Höllenstrafe peinigen, käme er allein zu Fall.402 Dieser heilige Papst kannte die Bedingungen und naheliegenden Gefahren für einen Vorgesetzten und besonders für den römischen Bischof, da seine Sünde, die im Begehen oder Unterlassen bestehen kann, ein Ärgernis für das ganze christliche Volk wäre. Denn im Kirchenrecht heißt es sinngemäß: Die Güte des Papstes ist sozusagen das Mt 18,7.3.6. 77,15).
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Heil aller, und seine Verkehrtheit führt zur Verdammnis unzähliger Personen.403 Wenn also der Papst und die Kardinäle durch prächtige Reittiere, Prunk der Kleider, auserlesene und wunderbare Einrichtung, durch allzu große Sorge, Benefizien oder Gelder zu erwerben, und durch offenkundige Ehrsucht – mehr als weltliche Laien – den an Christus Glaubenden Ärgernis bieten, wie könnten sie dann für die Leitung der allgemeinen Kirche als offenkundige und wahre Nachfolger immer im notwendigen Amt des Apostels Petrus und der anderen Apostel Christi bestehen? Was war denn das Amt der Apostel anderes, als Christus im Lebenswandel nachzufolgen, die Kirche zu lehren, Menschen zu taufen, Schwache zu heilen, Dämonen auszutreiben, das Opfer des Leibes Christi darzubringen und die aufgetragene Vollmacht zur Vervollkommnung der Kirche überall auszuüben? Wenn also der Papst mit seinen Kardinälen dieses Amt ausübt, nimmt er das Amt des Petrus wahr. Wenn er mit den Kardinälen von diesem Amt abweicht, wer zweifelt dann, dass er von der wahren Statthalterschaft Christi und seiner Apostel abgewichen ist? Und mit gleicher Klarheit wird jener sechste Punkt erklärt, der lautet: Auf Erden können keine anderen solchen Nachfolger bestimmt werden oder sich finden lassen als der Papst, der das Haupt ist, und die Kardinäle, die der Leib der römischen Kirche sind.404 Dazu stelle ich zuerst fest: Christus ist als Haupt vollkommen ausreichend. So hat er es über dreihundert Jahre hindurch erwiesen: Seine Kirche gedieh, und sein Gesetz, das Gott ja zu diesem Zweck gegeben hatte, war äußerst wirksam, um kirchliche Streitfälle zu beenden. Christus mit seinem Gesetz ist nämlich nicht zu schwach, die Kirche zu leiten. Nur müssen fromme Priester dieses Gesetz entsprechend der Deutung der heiligen Lehrer, die sie durch Eingebung des Heiligen Geistes hervorbrachten, dem Volk darreichen. So ist es ja auch an den Heiligen Augustinus, Hieronymus, Gregor, Ambrosius deutlich, die im Anschluss an die Apostel der Kirche zur Lehre bestimmt worden sind. Daher besteht kein Zweifel, dass der selige Augustinus der Kirche nützlicher war als viele Päpste und in der Lehre vielleicht mehr als alle Kardinäle, angefangen bei den ersten bis zu den jetzigen. In Bezug auf kirchenleitendes Handeln kannte er nämlich die Schrift Christi besser, erklärte aus ihr den katholischen Glauben und entfernte die ketzerischen Irrtümer aus der Kirche und berichtigte sie. Wie also waren diese vier heiligen Lehrer nicht Statthalter der Apostel und ihre offenkundige Nachfolger? Ja, waren sie, was das Volk betrifft, nicht vielmehr wahrhaftigere und gewissere 403
Decr. Grat. I dist. 40 c. 6: Si papa (Friedberg 1,146).
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Palacky´, Documenta, 476.
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Statthalter als ein heutiger Papst mit seinen Kardinälen, die sich vor dem Volk weder durch heiliges Leben noch durch Lehre hervortun? Ich wage daher fest zu behaupten: Der Papst kann mit seinen Kardinälen für das Volk erlaubterweise nicht das Gegenteil von dem als Glaubenssatz definieren, worin diese vier heiligen Lehrer einhellig in jedem Punkt übereinstimmen. Und ähnlich verhält es sich mit anderen Heiligen, etwa mit Johannes Chrysostomus, Johannes Damaszenus und Dionysius Areopagita, die vom Heiligen Geist gelehrt, die Kirche Christi mit Wissen und sittlichem Verhalten erleuchtet haben. Gegen diesen Punkt wird hauptsächlich so argumentiert: Gott ist allmächtig. Also kann Gott andere wahre Nachfolger der Apostel bestimmen als es Papst und Kardinäle sind. Also können andere wahre Nachfolger der Apostel gefunden oder bestimmt werden, die nicht Papst oder Kardinäle sind. Folglich ist dieser Punkt falsch. Die erste Folgerung wird so bewiesen: Könnte nämlich Gott nicht andere wahre Nachfolger bestimmen, als es Papst und Kardinäle sind, folgt, dass die Macht des Kaisers, eines Menschen, nicht Gottes, wenn er einen Papst und Kardinäle einsetzt, die Macht Gottes begrenzte. Dieser Schluss ist falsch, und die Folgerung ist bewiesen. Denn Kaiser Konstantin hat nach dreihundert Jahren einen Papst eingesetzt. Der römische Bischof war nämlich bis zur Schenkung des Kaisers den anderen Bischöfen nur ein Mitgenosse. Erst aufgrund kaiserlicher Autorität fing er an, das Oberhaupt zu spielen. Daher heißt es im Kirchenrecht, und das können wir aus Ehrfurcht nicht leugnen: Kaiser Konstantin übertrug am dritten Tag nach seiner Taufe dem Bischof der römischen Kirche das Privileg, dass im ganzen Erdkreis die Bischöfe ihn so als Haupt haben sollten, wie die Richter den König. In diesem Privileg liest man unter anderem auch Folgendes: Wir erteilen ihm kaiserliche Macht und dazu Gestaltungskraft und Ehrerweisung, indem wir bestimmen: Er soll die Vorrangstellung über die vier Sitze von Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel erhalten und soll unter allen Priestern der ganzen Welt erhabener und als vornehmster hervortreten 405 usw. Siehe, Vorrangstellung und Einsetzung des Papstes ist der Macht des Kaisers entflossen, die Gottes Macht nicht begrenzen kann. Daher fürchteten die späteren Bischöfe Roms, diese Vorrangstellung zu verlieren und verlangten von den anderen Kaisern eine Bestätigung. Daher sagt das Kirchenrecht: Ich, Ludwig, Römischer Kaiser, Mehrer des Reichs, stelle fest und bewillige durch diesen Vertrag unserer gemeinsamen Vergewisserung dir, dem seligen Petrus, dem Fürsten der Apostel, und durch dich 405
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deinem Statthalter, dem Herrn Paschalis, dem höchsten Bischof und seinen Nachfolgern auf immer die Stadt Rom, so wie du sie von unseren Vorgängern bis jetzt aufgrund unserer Machtstellung und Botmäßigkeit innegehabt und verwaltet hast.406 Aber verwunderlich ist in diesen Worten die Bewilligung, wenn der Kaiser sagt: Ich, Ludwig, bewillige dir, dem heiligen Petrus . Bedurfte etwa Petrus, der doch damals ein Besitzer des Himmelreichs war, eines bürgerlichen römischen Besitzes oder war Ludwig etwa größer als Petrus und gegenüber Petrus der eigentliche Besitzer? O hätte doch Petrus, wenn das der Wille Gottes gewesen wäre, gesagt: „Ich nehme deine Bewilligung nicht an, denn als ich römischer Bischof war, gab ich alles auf und habe von Nero die Herrschaft über Rom nicht erbeten, und auch jetzt bedarf ich ihrer nicht und sehe, dass sie denen, die nach mir kommen, sehr schadet.“ Sie hindert sie nämlich bei der Verkündigung des Evangeliums, beim heilsamen Gebet und bei der Erfüllung der Gebote und Ratschläge Gottes und bewirkt, dass die meisten überheblich werden. Da also der allmächtige Gott das Privileg dieser Kaiser aufheben und seine Kirche zur Gleichheit unter den Bischöfen zurückführen kann, wie es vor der Konstantinischen Schenkung war, folgt: Gott kann andere als den Papst und die Kardinäle als wahre Nachfolger zum Dienst an seiner Kirche bestimmen, die so dienen, wie es die heiligen Apostel taten. Doch dagegen wird eingewandt: Der Papst hat solche Einsetzung vom Herrn. Im Kirchenrecht sagt Papst Anaklet so: Die hochheilige römische Kirche hat ihren Vorrang nicht von den Aposteln, sondern vom Herrn selbst erhalten .407 Daraus folgt: Der Papst ist nicht vom Kaiser oder einem Menschen, sondern unmittelbar von Gott so herausragend eingesetzt worden. Und dasselbe ist zweitens deutlich aus der Unterordnung der Königreiche und drittens aus dem Zeugnis der Lehrer, die über die Vollmacht des Papstes sprechen. Erstens muss angenommen werden: Papst Anaklet hat unter der hochheiligen römischen Kirche nicht die steinerne oder hölzerne Basilika verstanden, sondern die Heiligen Petrus und Paulus und die übrigen, die diesen Ort bewohnt hatten. So sagt er im selben Erlass, dass Petrus und Paulus Genossen in der Stadt Rom waren. Daher heißt es bezeichnenderweise, dass Rom den Vorrang erhielt. Zweitens muss angenommen werden: Anaklet spricht vom Vorrang der Menschen in Beziehung zu Gott aufgrund der Erstlingsfrucht der Tugenden und 406 Decr. Grat. dist. 63 c. 30: Ego Lodoicus (Friedberg 1,244 f.). c. 2: Sacrosancta (Friedberg 1,73).
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der Auferbauung der Kirche, nicht aber von einem Vorrang zeitlicher Reichtümer und menschlichen Ruhms, einen Vorrang, den die Apostel Christi missbilligt haben. Und es ist deutlich, wie schwach die Beweisführung ist: Die römische Kirche hat nicht von den Aposteln, sondern von dem Herrn selbst den Vorrang erhalten , derentwegen jeder römische Bischof durch weltlichen Ruhm hervorragen und weltlich herrschen muss. Vielmehr folgt aus dem Dekret eher, dass der römische Bischof gehalten ist, dem Volk zu dienen, nicht indem er es mit Herrschaft ausstattet oder dasselbe zu Ehren bringt, sondern wirkungsvoll für es betet, wie Paulus es nach dem Zitat im Kirchenrecht getan hat: Wenngleich das Gebet aller Heiligen vor dem Herrn für alle ausgegossen wird, verheißt es der allerseligste Paulus den Römern dennoch mit diesen Worten in einem eigenen Rundschreiben: „Denn Gott ist mein Zeuge, dem ich in meinem Geist im Evangelium seines Sohnes diene, dass ich euch ununterbrochen in meinen Gebeten erwähne.“ 408 Aus diesem Erlass ist ersichtlich: Papst Anaklet wollte nicht behaupten, es nötig zu haben, über alle anderen bürgerlich zu herrschen oder, was die Beziehung zu Gott betrifft, einen Vorrang über alle anderen Personen der kämpfenden Kirche zu haben. Denn hätte er nach Johannes den eigenen Ruhm auf diese Weise gesucht, dann hätte er das offensichtlichste Zeichen des Antichrist gehabt.409 Ja selbst Bonifazius VIII. wagte es in Unam sanctam 410 nicht, dies ausdrücklich fest zu behaupten, weil er dann als einziger Zeugnis davon gegeben hätte, dass er selbst ein allerheiligster Mensch ist. Und dann könnten ihm sowohl Gläubige als auch Ungläubige füglich entgegnen: „Du gibst von dir selbst Zeugnis; deshalb ist dein Zeugnis nicht wahr.“ Daher sind die römischen Bischöfe in diese Verwirrung aus der Schenkung und der Erhebung durch den Kaiser verwickelt. Denn wenn der Kaiser von ihnen erfragt, ob sie an Vollmacht, im Vorrang und in der Würde in Bezug auf Gott alle Sterblichen, die noch leben, übertreffen, müssen sie dies zugestehen. Andernfalls müsste nämlich, wie sie sagen, niemand glauben, dass sie Päpste sind. Aber Petrus und Paulus haben das ihrethalben nicht zugestanden, weil sie keine Vollmacht hatten, die ihnen der Kaiser gegeben hatte. So hat Paulus wahrhaftig und demütig bekannt: Ich bin der geringste der Apostel und bin nicht würdig, „Apostel“ genannt zu werden.411 Warum also bekennt das der römische Bischof nicht so, wenn die kaiserliche Würde es nicht hinRöm 1,8 f.; Decr. Grat. I dist. 22 c. 2: Sacrosancta Romana , Abschnitt: Et licet (Friedberg 1,74). 409 Joh 5,31.41. 410 Extravagantes decretales lib. 1 tit. 8 c. 1 (Friedberg 1,1246 f.). 411 1Kor 15,9. 408
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dert? Als wahr wird also geschlossen: Der Papst hat seine herausragende Würde unmittelbar von Gott, nicht aber von einem Menschen, der nicht Gott ist, bzw. nicht von einem bloßen Menschen. Aber es ist nötig, dass er diese Würde demütig ohne Pracht verdient. Aber wenn die kaiserliche Würde den Papst gegenüber der Welt ohne Demut und heiligem Leben erhebt, wie passt dann dies zu Leben und Ruhm Christi, wenn so der Antichrist auf weltliche Weise erhoben wird? Zweitens wird über die Unterordnung der Königreiche gesagt: Erstens war sie unfreiwillig – gewissermaßen aus Furcht vor dem Gebot des Kaisers – und zweitens darf er sich nicht so das ganze Volk unterwerfen, dass er es in weltlicher Weise beherrscht. Und also beweist diese Unterwerfung nicht die Notwendigkeit, dass der römische Bischof so bis zur Vollendung der Welt mit den Kardinälen herrscht. Drittens wird über das Zeugnis der Doktoren, die über die Vollmacht des Papstes reden, gesagt: Alle, die so die Macht des Papstes rühmen und sagen, dass er schuldlos machen kann, was immer er will, und es keinen gibt, der ihm sagen kann: „Warum tust du das?“, sind Lügenredner und verführen das Volk des Herrn Jesus Christus. Aber ihnen darf man nicht glauben, außer sie hätten sich insofern auf der Schrift gegründet. So hat nämlich der große Lehrer Augustinus oft versichert, dass man ihm nicht glauben dürfe, außer er hätte sich insofern auf der Schrift gegründet. Und es ist deutlich, dass Gott andere wahre Nachfolger der Apostel als Papst und Kardinäle bestimmen kann, so wie er andere bestimmen konnte als es die Hohenpriester des alten Gesetzes, die Schriftgelehrten und Pharisäer mit ihren Überlieferungen waren, die das Gesetz des Herrn nicht beachteten und zu denen der Herr sagte: Ich sage euch, dass das Reich Gottes von euch weggenommen und einem Volke gegeben werden wird, das seine Früchte bringt. Diese Worte sagte der Erlöser zu den Priestern, als sie allein gegen sich selbst gerichtet das Urteil fällten und sagten: Er wird die Übeltäter übel umbringen und seinen Weinberg wird er anderen Weinbauern verpachten, die ihm die Früchte abgeben werden zu ihrer Zeit.412 Wie, ist denn also die Hand des Herrn zu kurz geworden,413 dass er nicht Papst und Kardinäle absetzen und andere einsetzen könnte, die ohne diese Titel die Kirche auferbauen würden, wie er es bei den Aposteln gemacht hat? Ferner: Alle Bischöfe der Kirche Christi, die Christus im Lebenswandel nachfolgen, die sind wahre Statthalter der Apostel, aber das sind nicht der Papst und die Kardinäle. Also können andere wahre 412
Mt 21,43.41.
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Vgl. Jes 50,2;59,1.
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Nachfolger der Apostel als der Papst und die Kardinäle gefunden und bestimmt werden. Die Folgerung ist mit dem Untersatz angezeigt, und der erste Teil erhellt aus dem Kirchenrecht, wo Papst Anaklet sagt, dass die übrigen Apostel mit Petrus Ehre und Vollmacht in gleicher Teilhaberschaft empfangen haben . Und danach sagt er: Als diese starben, erstanden an ihrer Stelle Bischöfe,414 wobei die Glosse Argumentum sagt, dass jeder Bischof in gleicher Weise apostolisch ist in Hinsicht auf die Ordination und gemäß der Weihe. Dasselbe ist deutlich aus dem Kirchenrecht, wo der Bischof und Märtyrer Cyprian sagt, dass Christus allen Aposteln nach seiner Auferstehung gleiche Vollmacht zuteilte, und durch den heiligen Hieronymus, der sagt: Einst war derselbe Mann zugleich Priester und Bischof, sowohl bevor auf Antrieb des Teufels Rivalitäten entstanden als auch bevor unter den Leuten gesagt wurde: „Ich gehöre zu Paulus, ich gehöre zu Apollos.“ 415 Ferner: Alle Erzbischöfe, Patriarchen und Bischöfe auf dem Konzil von Pisa, die Papst Gregor XII. als ketzerisch erkannten, definierten und verdammten, waren und sind jetzt wahre Nachfolger der Apostel und sie sind anders als der Papst und die Kardinäle. Also ist der sechste Punkt falsch. Die Folgerung ist deutlich aus dem zweiten Teil, den ersten aber werden die Doktoren nicht zu verneinen wagen. Ferner sollte es evangelische Weisheit sein, dass alle Priester heilig sein sollten, unmittelbar geleitet von dem einzigen Bischof, dem Herrn Jesus Christus. Denn so war es zur Zeit der Apostel, als die Kirche wuchs und dieser Kernsatz mit der Schrift im Einklang war. Deshalb kann Gott in der Weise seine Kirche zu dem früheren Zustand zurückführen und die Vorrangstellung des Papstes und der Kardinäle aufheben. Also können andere als sie Statthalter der Apostel sein. Ferner: der Begriff der Vollmacht und des Amtes „Diener der Kirche“ soll bezeichnen, dass er nicht auf einen Abweg abschweift, aber keinen außer demjenigen meint, den Christus einsetzt. Ist nämlich Christus allmächtig, allwissend und höchst wohlwollend, dann erfordert es deutlich die Vernunft, dass er unabänderlich anordnet und besonders, da es in der Urkirche größere Ernte und reichlicher Arbeit gab, dass Gott eine deutlich größere Vielfalt von Dienern angeordnet hätte. Aber damals hat er aber nur Diakone und Priester verordnet. Damals waren sogar Priester und Bischof dasselbe. So sagt es Hieronymus, und so geht aus den Texten des Paulus an Timotheus und Titus hervor, aus denen Hieronymus in seinem Schreiben an den Priester Decr. Grat. I dist. 21 c. 2: In novo (Friedberg 1,69 f.). 415 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 18: Loquitur ad Petrum; 1 dist. 95 c. 5: Olim (Friedberg 1,971.332).
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Euagrius folgert und daher sagt: Was tut denn der Bischof, abgesehen von der Priesterweihe, was nicht auch der Priester tut? Und ist nicht die Kirche der Stadt Rom als die eine und die des ganzen Erdkreises als eine andere zu betrachten? Sowohl die Kirche von Gallien und die von Britannien, als auch Afrika, Persien, der Orient, Indien und alle Barbarenvölker beten den einen Christus an, beachten die eine Richtschnur der Wahrheit. Sucht man die Autorität, dann ist der Erdkreis größer als die Stadt Rom. Wo immer ein Bischof war – sei es in Rom, in Gubbio, in Konstantinopel, in Reggio, in Alexandria oder in Theben –, ist er in Hinsicht auf Verdienst und Priestertum gleich. Die Macht des Reichtums und die Demut der Armut machen entweder einen niedrigeren oder einen höheren Bischof. Und er folgert daraus für das Vorgestellte: Im Übrigen sind sie alle Nachfolger der Apostel.416 Siehe, nicht allein der Papst mit den Kardinälen ist Nachfolger der Apostel. Und dasselbe ist deutlich aus Beda Venerabilis, der über jenes Wort: Es bestimmte der Herr auch andere Zweiundsiebzig, sagt: So wie es niemanden gibt, der bezweifelt, dass die zwölf Apostel die Ordnung der Bischöfe im Voraus anzeigen, so auch niemanden, der bezweifelt, dass diese Zweiundsiebzig die Vorausabbildung der Priester, d. h., der zweiten Weiheordnung der Priester, darstellen sollen .417 Siehe, aus dem schon Gesagten ist aufgezeigt, dass andere als der Papst und die Kardinäle als wahre Nachfolger der Apostel bestimmt und gefunden werden können. Wenn somit aufgrund der Anordnung Christi zur Zeit der Apostel zwei Weiheordnungen der Geistlichkeit für seine Kirche genügten, nämlich Diakon und Priester, wie die Heiligen sagen und es im Kirchenrecht heißt: Apostel, Bischöfe und Vorgesetzte, hat der Herr erwählt. Diakone haben die Apostel nach der Himmelfahrt des Herrn bei sich als Diener ihres Bischofsamtes und der Kirche eingesetzt.418 Wäre es ein Wunder, wenn der allmächtige Gott, den Papst mit den Kardinälen sterben ließe und ihnen sogar das ewige Leben gäbe – vorausgesetzt, sie hätten es verdient – und erlauben würde, dass seine Kirche in der ganzen Welt ohne die Kardinäle nach derselben Ordnung wie früher geistlich kämpft? Wäre es ein Wunder, wenn er nach seinem unverbrüchlichen Gesetz verfügte, dass die Kirche regiert würde, wie sie einst regiert wurde, und er ihr Bischöfe und Priester geben würde, die durch Verkündigung, Gebet und das Beispiel heiligen Lebens unablässig die Schafe Christi weiden? Dies nämlich war das Amt, das Christus dem Decr. Grat. I dist. 93 c. 24: Legimus (Friedberg 1,328 f.). 417 Beda Venerabilis, In evangelium S. Lucae lib. 3 c. 10 (PL 92,461) zu Lk 10,1. 418 Decr. Grat. I dist. 93 c. 25: Dominus noster Iesus Christus (Friedberg 1,329). 416
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Petrus bestimmt hatte wie es bei Johannes beschrieben ist.419 Daher stellt Augustinus fest, wie bei Paulus das Amt des Hirten und das Amt des Lehrers miteinander verbunden sind: Ich meine, dass die Hirten und die Lehrer, die du am meisten unterscheiden wolltest, dieselben sind und nicht die einen die Hirten und die anderen die Lehrer. Und deswegen, weil Paulus zuerst die Hirten erwähnt hatte, fügte er die Lehrer hinzu, damit die Hirten erkennen sollten, dass die Lehre zu ihrem Amt gehört. Deshalb sagt er nicht entsprechend dem Sprachgebrauch der vorangehenden Worte: „einige zu Hirten und einige zu Lehrern“, sondern sagt: „einige zu Hirten und Lehrern“. Er umfasste gleichsam ein Amt mit zwei Namen und betonte: „einige zu Hirten und Lehrern“.420 Deshalb: Wären die überflüssigen Dinge hinweggeschafft, würde deutlich, wer – Papst, Kardinal oder Bischof – als wahrer Hirte aus dem Schatz des Herrn übrig bliebe, und vielleicht würde eine große Menge als Unnütze, Diebe und Räuber erscheinen, denn als wahre Stellvertreter des Herrn Jesus Christi. Aber gegen das Gesagte wird Folgendes eingewendet: Wenn der Papst und die Kardinäle nicht wahre und offenkundige Nachfolger der Apostel sind, dann aus gleichem Grund auch nicht andere. Denn es kann deshalb keine Unterscheidung angegeben werden, weil sie in Schafskleidern, innerlich aber reißende Wölfe sein können, wie aus Matthäus deutlich ist.421 Hier muss man die zweifache Gruppierung der Geistlichkeit bedenken, nämlich die Geistlichkeit Christi und die Geistlichkeit des Antichrist. Die Geistlichkeit Christi ruht in ihrem Haupt Christus und seinen Gesetzen. Die Geistlichkeit des Antichrist aber stützt sich entweder völlig oder vorwiegend auf menschliche Gesetze und die Gesetze des Antichrist und tarnt sich ganz als Geistlichkeit Christi und der Kirche, damit das Volk durch große Verstellung verführt wird. Und diese so gegensätzlichen Gruppen müssen sich auf zwei gegensätzliche Häupter mit ihren Gesetzen stützen, und der tatsächliche Augenschein zeigt die Abgrenzungen bei den Gliedern. Es steht unstrittig fest, dass die Geistlichkeit der Kirche auf zwei Seiten hinkt 422, weshalb die mitgezogenen Laien durch die Geistlichkeit, die in ihrer Meinung und ihrem Leben so ungleich ist, mit Notwendigkeit hin und her schwanken. Die beiden Seiten können aber aufgrund sachlicher Klärung durch Folgendes sehr wirksam unterschieden werden: Die Geistlichkeit des Antichrist ist mit gespannter Aufmerksamkeit dahinter her, menschJoh 21,15–18. 420 Augustinus, Epistola 149 ad Paulinum cap. 2,11 (PL 35,635) mit Eph 4,11.10. 421 Mt 7,15. 422 Vgl. 1Kön 18,21.
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liche Überlieferungen und Privilegien, die nach Hochmut und Reichtum der Welt schmecken, zu verteidigen. Sie will genusssüchtig, wolllüstig und Christus entgegen leben und missachtet dabei gänzlich die Nachahmung Christi im Lebenswandel. Aber die Geistlichkeit Christi arbeitet beständig für die Gesetze Christi und die Vorrechte, die er gegeben hat. Durch sie wird geistliches Gut erworben, das sich vorweisen lassen muss. Und sie flieht Hochmut und Vergnügen der Welt, bemüht sich, übereinstimmend mit Christus zu leben und mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Herrn Jesus Christus zu achten. Und ein Glaubender muss nach göttlicher Satzung glauben, dass dieser Teil der Geistlichkeit der richtige und der erstere der irrige ist. Und obwohl ein Mensch als Erdenpilger ohne eine besondere Offenbarung nicht völlig einen wahren heiligen Hirten erkennen kann, muss er dennoch aufgrund der mit dem Gesetz Christi übereinstimmenden Werke annehmen, dass er ein solcher ist. Aber wenn er sieht, dass der Hirte Christus zuwider lebt, wie kann er dann anders urteilen, als dass er ein Statthalter des Antichrist ist? Sagt doch Christus: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, und: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.423 Hierzu sagt die Glossa ordinaria : „Wer nicht mit mir ist, d. h., wer Werke tut, die den meinen unähnlich sind, der steht mir entgegen.424 Wenn also ein Vorsteher hochmütig ist, üppig lebt, der Habgier frönt, ungeduldig ist, die Schafe nicht weidet, sondern bedrückt oder zerstreut, wie ist er nicht der Antichrist? Daher können die Menschen die Bösen leicht erkennen an den äußeren Werken, die Christus entgegen sind. Die Guten aber lassen sich nicht so leicht erkennen, weil sich Heuchelei versteckt halten kann.
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Kapitel 16 Es behaupten weiterhin die genannten Doktoren, dass gewisse Leute aus der Geistlichkeit Böhmens den Papst und das Kollegium der Kardi- 30 näle geringschätzen und sich mit den Doktoren nicht darüber einigen wollen. Allein die Heilige Schrift wollen sie in diesen Fragen zum Richter haben. Sie deuten die Heilige Schrift nach ihren Köpfen und wollen sie deuten, indem sie sich um die Deutung der Gemeinschaft der Gelehrten in der Kirche nicht kümmern und auch folgende Aussage der Heiligen 35 Schrift nicht beachten: „Wenn du ein Urteil als schwierig und zweifelhaft betrachtest zwischen Blut und Blut, zwischen Rechtssache und Rechtssache und zwischen Aussatz und nicht Aussatz, und dir ein Urteil 423 Mt 7,15;12,30. 424 Glossa ordinaria: Evangelium secundum Matthaeum c. 12, zu Vers 30 (PL 114,126).
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innerhalb deiner Tore schwankend erscheint, so mache dich auf und steige hinauf zu dem Ort, den der Herr, dein Gott, ausgewählt hat. Und du sollst zu den Priestern vom Geschlecht der Leviten kommen und zu dem Richter, der es zu jener Zeit sein wird, und dich bei ihnen erkundigen. Sie werden dir den wahren Urteilsspruch verkünden. Und was immer die Vorsteher des Ortes, den der Herr erwählt hat, sagen und dich entsprechend seinem Gesetz lehren, sollst du tun, ihrer Bestimmung sollst du folgen und weder zur Rechten noch zur Linken abweichen. Derjenige aber, der vermessen handeln wird und dem Befehl des Priesters, der zu dieser Zeit deinem Gott dient, und der Entscheidung des Richters nicht gehorchen will, jener Mensch soll sterben, und du sollst das Böse aus Israel wegschaffen. Und das ganze Volk, das davon hört, soll sich fürchten, damit sich fortan keiner hochmütig überhebt.“ 425 Es steht aber für jeden Gläubigen fest, dass die Kirche von Rom der Ort ist, den der Herr erwählt hat. An ihm hat der Herr die oberste Stelle der ganzen Kirche eingerichtet. An ihr ist der höchste Priester, der dem Ort vorsteht, der Papst, der wahre und offenkundige Nachfolger des Petrus. Die Kardinäle aber sind die Priester vom Geschlecht der Leviten, die dem Herrn Papst in der Ausübung des priesterlichen Amtes verbunden sind. An sie muss man sich in Zweifelsfällen und bei Schwierigkeiten entsprechend der Setzung Gottes in katholischen und kirchlichen Angelegenheiten wenden. Daher drückt Hieronymus im Brief an den Papst eben dies aus, wenn er sagt: „Dies ist der Glaube, seligster Papst, den wir in der katholischen Kirche gelernt haben und den wir immer festhalten. Wird diesen Glauben betreffend irgendetwas wenig erfahren oder unvorsichtig behauptet, begehren wir von dir, der du den Stuhl und den Glauben des Petrus innehast, es zu verbessern. Wenn sich aber dieses unser Bekenntnis durch das Urteil deines Apostolats als richtig erweist, dann wird sich jeder, der mich beschuldigen will, entweder als unerfahren, böswillig, gar als unkatholisch oder ketzerisch erweisen.“ 426 Ich schätze, dass diese Erklärung hinsichtlich der Grundsätze hauptsächlich aus dem Kopf des Stefan Pálecˇ geflossen ist. In ihr stützt er sich erstens darauf, den Papst und die Kardinäle gegen die Partei aufzuwiegeln, die ihm entgegensteht, wenn er sagt: Gewisse Leute aber aus der Geistlichkeit Böhmens schätzen den Papst und das Kollegium der Kardinäle gering und wollen sich nicht mit den Doktoren darüber einigen – darüber nämlich, dass der Papst das Haupt der römischen Kirche ist und die Kardinäle der Leib, und dass sie wahre und offenkundige 425 Dtn 17,8–13. 426 Palacky´, Documenta, 476 f.; Decr. Grat. I C. 24 q. 1 c. 14, Hieronymus an Papst Damasus (Friedberg 1,970).
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Statthalter der Apostel sind usw. Hinsichtlich dieser Dinge ist schon das Nötige gesagt. Über die Geringschätzung sage ich jedoch, dass man den Papst mit den Kardinälen hinsichtlich ihrer Habsucht, Eitelkeit und rechtswidrigen Gebote geringschätzen muss. So schätzt nämlich der Erlöser das geschmacklose Salz gering, das zu nichts taugt, als dass es von den Menschen mit Füßen getreten wird , und er fügt hinzu: Es nützt nicht einmal für den Misthaufen. Und den Judas Ischariot schätzte er so sehr gering, dass er ihn „Teufel“ nannte und Sohn des Verderbens. Und Petrus nannte er „Satan“, als der sich gegen ihn stellte.427 Danach häuft jener Doktor mehrere Lügen gegen unsere Partei auf. Die erste Lüge besteht darin, dass wir allein die Heilige Schrift in diesen Fragen zum Richter haben wollen. In dieser Aussage behauptet er, wir wollten weder Gott, noch die Apostel, noch die heiligen Lehrer, noch die heilige allgemeine Kirche zum Richter haben. Aber diese Lüge hat er aus einer Disputation gezogen, die wir wechselseitig hielten. Dort wurde gesagt, dass er Schriftbelege für seine Sätze aufzeigen sollte. Aber wir haben uns deswegen nicht einigen wollen, weil diese ihm selbst entgegenstanden. Dies jedoch soll der Doktor wissen: Weder ihm noch allen seinen Anhängern wollen wir in einer Glaubensfrage beistimmen, sofern sie sich nicht auf Schrift oder Vernunft gründen. Dass ihnen aber eine besondere Offenbarung zuteil würde, damit wir anders denken, als die Schrift gelehrt hat, erwarte ich von ihnen nicht. Die zweite Lüge, die er unserer Partei zuschreibt, besteht darin, dass wir die Heilige Schrift nach unseren Köpfen deuten , d. h., dass er mit den andern Doktoren vorgibt, wir legten die Heilige Schrift nach unserem irrigen Verständnis oder Willen aus. Dabei unterstellt er uns eine Vermessenheit des Verstandes und Ketzerei. Aber er lügt, denn wir wollen mit Gottes Hilfe die Schrift nicht anders auslegen, als es der Heilige Geist fordert, und als die heiligen Lehrer sie auslegen, denen der Heilige Geist Einsicht gegeben hat. Und ich wünschte, dass jener Doktor mit seinen Kollegen aufzeigte, welche Schriftstellen wir schlecht auslegen. Daher ist er umso mehr der Lüge verdächtig, weil er hinzufügt: und deuten wollen. Denn, wenn er nicht der Kenner der Herzen ist, wie wagt er zu sagen, dass wir die Schrift anders deuten wollen als wir müssen? Aber er ist deswegen verärgert, weil wir nicht ihm zu Gefallen mit seinem Kollegen Stanislaus als diejenigen aufgestellt sind, die sich mit den ihnen anhängenden Doktoren für die Gelehrten in der Kirche halten. Und umso mehr sind sie der Lüge verdächtig, weil sie nicht gewagt haben darzulegen, dass wir uns um die Deutung der heiligen Lehrer 427
Mt 5,13; Lk 14,35; Joh 6,71;17,12; Mt 16,23.
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nicht kümmern. Sondern sie fügen eine völlige Lüge hinzu und sagen: [...] und sie beachten nicht die Heilige Schrift: Wenn es schwierig ist usw.428 Dazu müssen diese Doktoren wissen, dass wir die Heilige Schrift beachten und zugestehen, dass sie das wahre Wort Gottes ist, das unseren Grundsatz bestätigt. Denn der eifrige Ausleger der Schrift, Nikolaus Lyra, sagt über den angeführten Text: Der Satz keines Menschen, von welcher Autorität auch immer er sei, ist als verbindlich festzuhalten, wenn er offenkundig eine Unwahrheit oder einen Irrtum enthält. Und dies ist deutlich aus dem, was im Text vorausgeschickt ist: „Sie werden dir die Wahrheit des Urteils anzeigen.“ Wonach folgt: „und dich lehren gemäß seinem Gesetz“. Daraus erhellt, das nicht auf sie gehört werden darf, wenn sie Falsches sagen oder vom Gesetz Gottes offensichtlich abweichen.429 Soweit Lyra. Zu dessen Bestätigung kommt noch jenes Wort des Herrn hinzu: Du sollst der Menge nicht zum Tun des Bösen folgen noch sollst du dich mit dem Urteil der Meisten beruhigen, sodass du vom Wahren abweichst .430 Darüber sagt derselbe Lyra: Das heißt auf Hebräisch: Du sollst nicht abweichen im Gefolge der „rabim“, d. h., der Magister oder Großen, zum Sündigen, und weiter unten: Weil ebenso, wie man nicht von der Wahrheit abweichen soll wegen des größeren Teils der Urteilenden, der hier abweicht, so soll man auch nicht abweichen wegen jenen, die größere Autorität beim Urteilen haben.431 Soweit Lyra. Siehe, diesem Ausleger traue ich in Hinsicht auf diesen Satz mehr als allen zuvor genannten Doktoren. Denn er hat erstens angemessen aus der Schrift ermittelt, dass die Aussage keines Menschen, von welcher Autorität auch immer und somit auch nicht des Papstes, für verbindlich zu halten ist, wenn sie offensichtlich Unwahrheit und Irrtum enthält. Mir scheint es sicher, dass Pálecˇ und Stanislaus aus Furcht vor dem Papst und den Kardinälen nicht gewagt haben, diesen heiligen Ausspruch öffentlich zu bekennen. Zweitens hat er erwiesen, dass das Gesetz Gottes das Maß ist, nach dem und nicht anders die einzelnen Richter und besonders die kirchlichen urteilen müssen, denn es zeigt auf, was als Wahrheit angenommen werden muss. Daher sagt er, was durch dieses Wort deutlich ist: Sie werden dir die Wahrheit des Urteils zeigen , wonach folgt: und dich nach seinem Gesetz lehren.432 O, ihr Doktoren, warum haltet ihr euch nicht an diese Schriftstelle? Man hat euch ersucht und um Gottes willen öffentlich in der Versammlung der Universität gebeten, dass ihr die Wahrheit gemäß dem 428 430
Dtn 17,8–13. 429 Nicolaus von Lyra, Biblia cum postillis zu Dtn 17,9–11. Ex 23,2. 431 Nicolaus von Lyra, Biblia cum postillis zu Ex 23,2. 432 Dtn 17,9.
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Gesetz Gottes anzeigtet, ob die Bulle über die Aufrichtung des Kreuzes die Universitätsangehörigen verpflichtet, von den angesammelten Gütern der Universität dem Papst auf Befehl Hilfsgelder gegen Ladislaus und gegen seine Bundesgenossen zu geben. Und ihr habt geantwortet, dass ihr sie nicht unterrichten wollt, auch nicht die Bullen des Papstes beurteilen oder deuten wollt. Aber in den Winkeln habt ihr anders gedacht, und besonders habe ich Pálecˇ über die Artikel, die ihm von den Legaten des Papstes überreicht worden waren, sagen hören, dass sie offenkundige handgreifliche Irrtümer enthielten. Das waren jedoch aus der Bulle entnommene Artikel. Und sie waren von denselben Legaten als den mit päpstlicher Vollmacht ausgestatteten, gleichsam ersten Kommissaren den Predigern zum Verkünden übergeben worden. Daher hatte, wie ich gehört habe, der Magister Briccius im Kolleg vor den Magistern gesagt, er wollte eher sterben, als sie zu verkünden. Doch als Pálecˇ mit den anderen einen Rückzieher machte, wich auch Briccius zurück. Denn ein Brief des königlichen Herrn, den die Legaten als Rückhalt hatten, hatte sie eingeschüchtert. Drittens hat Lyra aus der oben genannten Schriftstelle des Herrn erwiesen: Wenn die Richter die Unwahrheit sagen oder vom Gesetz Gottes offenkundig abweichen, soll man nicht auf sie hören, weil Gott sagt, wie ich angeführt habe: Du sollst der Menge nicht zum Tun des Bösen folgen noch sollst du dich mit dem Urteil der Meisten beruhigen, sodass du vom Wahren abweichst. Wie durften wir also gegen dieses allerheiligste Gebot Gottes den tobenden Haufen folgen, welche die versammelten Doktoren zum Palast geführt haben, damit sie diejenigen, die sie mit Schrift und Vernunft nicht besiegen konnten, durch Schrecken unterdrückten? Um sich nicht zu verunreinigen wagten es die Hohepriester, Schriftgelehrten und Pharisäer nicht, in den Palast des Pilatus einzutreten, als sie Jesus anklagten.433 Diese aber frohlockten, nachdem sie Schriftgelehrte und Pharisäer und Älteste des Volkes versammelt hatten, traten ein, und einer von ihnen – Pálecˇ heißt er – las vor, während alle zuhörten: Wenn ein schwieriges usw., und weiter: Wer aber mit Vermessenheit dem Erlass des Richters nicht gehorchen will, dieser Mensch soll sterben. Er fürchtete sich nicht, dass sich eine Unregelmäßigkeit einstellen könnte. Wäre er bei den Juden gewesen, als sie Jesus anklagten, hätte er vielleicht gesagt: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder, denn wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben.434 Daher wird Pilatus nicht entschuldigt, weil er auf den Hohepriester mit den Oberen, den Schriftgelehrten und Ältesten 433
Vgl. Joh 18,28.
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Vgl. Mt 27,25; Joh 19,7.
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des Volkes hörte. Denn Gott sagt: Du sollst der Menge nicht zum Tun des Bösen folgen noch sollst du dich mit dem Urteil der Meisten beruhigen, sodass du vom Wahren abweichst . Hierzu Lyra: Das heißt im Hebräischen: Du sollst nicht zum Sündigen abweichen im Gefolge der „rabim“, „der Magister“ oder „der Großen“. Solche „Große“ und „Magister“ waren im Palast. Vieles verurteilten sie und stellten Dinge fest, von denen sie bis heute nicht erwiesen haben, dass sie nach ihrem Belieben verdammenswert gewesen wären. Auch könnten nach der Absicht der Doktoren an der angeführten Schriftstelle einige wie die Juden sagen: Auf Befehl des Hohepriesters Kaiphas oder Hannas, der damals an dem heiligen Ort, den der Herr erwählt hat, den Vorsitz führte, und durch die Entscheidung des Richters Pilatus sei Christus Jesus zu Recht verurteilt worden – entgegen jener Aussage des Apostels Paulus: Die in Jerusalem wohnten und ihre Obersten, haben, weil sie ihn nicht erkannten, auch die Worte der Propheten erfüllt, die an jedem Sabbat gelesen werden, indem sie über ihn Gericht hielten. Und obschon sie keine todeswürdige Schuld fanden, baten sie den Pilatus, dass man ihn tötete. 435 Und es ist deutlich: Der Hohepriester war bei der Verurteilung Christi dabei. Die Priester vom Geschlecht der Leviten waren dabei an dem Ort, den der Herr erwählt hat. Der Richter Pilatus war dabei. Ihnen wollte Christus Jesus im Bösen nicht gehorchen, obwohl er Gott dem Vater gehorchte und dem Pilatus, indem er den Tod demütig auf sich nahm. Haben also etwa der Hohepriester mit den Priestern aus dem Geschlecht der Leviten, mit den Oberen und Ältesten des Volkes, mit Pilatus und den Soldaten, ja sogar mit der Menge, die rief: Kreuzige, kreuzige ihn!,435a den Herrn Christus zu Recht verurteilt? In Wirklichkeit haben sie schwer geirrt, weil sie – durch die Unkenntnis von Gottes Gesetz verführt – nicht Liebe, sondern Hass, nicht Wahrheit, sondern Lüge angetrieben hat. Die gleiche Verführung kann sich auch bei Papst und Kardinälen ereignen, auch bei unseren Doktoren, die sich ihnen angeschlossen haben, sodass sie die Wahrheit verurteilen. Denn wenn die von Christus erwählten Apostel, die den Heiligen Geist empfangen hatten, nach Augustinus und Beda in Ketzerei verfielen, wie haben dann der Papst mit den Kardinälen größere Erstlingsgaben des Geistes empfangen, sodass sie nicht auf gleiche Weise oder noch weit mehr irren könnten? Kein Zweifel, dass dem Papst und den Kardinälen zu gehorchen ist, wenn sie die Wahrheit gemäß dem Gesetz Gottes lehren, wie die Autorität der Bibel sagt: Sie werden dir die Wahrheit des Urteils anzeigen, 435
Apg 13,27 f.
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Lk23,21.
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und du sollst alles tun, was sie dir sagen, und sollst lehren gemäß seinem Gesetz.436 Wenn aber, wie Lyra sagt, Päpste und Kardinäle „rabim“, d. h. „Magister“ oder „Große“ sind und – sogar mit der ganzen römischen Kurie – etwas außer der Wahrheit gebieten und lehren, dann darf ein Gläubiger nicht gehorchen, wenn er die Wahrheit erkannt hat. Denn Gott sagt: Du sollst der Menge nicht zum Tun des Bösen folgen noch sollst du dich mit dem Urteil der Meisten beruhigen, sodass du vom Wahren abweichst. Diese Regel haben Daniel, Nikodemus und der am Kreuz hängende Räuber angewandt, die der tobenden Volksmenge bei der Verurteilung der Wahrheit nicht zustimmen wollten, wie die Schrift sagt. Denn Daniel verdammte die Nichtswürdigkeit der Ältesten der Israeliten, indem er Susanna befreite und die Ältesten verurteilte, von denen die Ungerechtigkeit ausging.437 Als Nikodemus im Rat der Hohepriester und Pharisäer war und sie Diener schickten, damit sie Jesus verhafteten, weil sie ihn dem Tod überantworten wollten, und zu den Dienern sagten: Seid ihr etwa auch verführt? Glaubt etwa jemand von den Obersten an ihn oder von den Pharisäern? Diese Volksmenge aber, die das Gesetz nicht kennt, tut es. Sie ist verflucht! Nikodemus sagte zu ihnen: „Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, ehe es nicht zuvor von ihm selbst gehört hat, was er tut? “ 438 Oh gesegneter Nikodemus, du hast dem Gesetz Gottes solch große Kraft beigemessen! Du hast dem Gesetz das Zeugnis gegeben, dass es der Richter des Menschen ist! Siehe, unsere Doktoren urteilen in ihren Aussprüchen unpassend. Denn unsere Partei will das Gesetz als Richter haben, das doch als Richter am gerechtesten urteilt, das nicht anders urteilt als Gott der gerechteste Richter. Du sagst: Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, ehe es nicht zuvor von ihm selbst gehört hat, was er tut? Darauf würde der Richter gewissermaßen sagen: Nein, weil es gerecht urteilt. An diesen Richter verwies Christus die Hohenpriester und Pharisäer, Schriftgelehrten und Juden, die Christus der Sünde beschuldigten, dass er den Sabbat nicht halten und Gott seinen Vater nennen würde, indem er sagte: Erforscht die Schriften; sie sind es, die von mir Zeugnis ablegen .439 Wollte also Christus nicht, dass die Schrift die Juden verurteilte, die nicht an Christus glaubten? Gewiss wollte er es. Was also wollen die Doktoren? Dass die Schrift kein Richter ist! Sie wollen, dass ihnen geglaubt wird, dass alles, was sie verdammen, verdammt sei, und alles, was sie billigen, gebilligt sei. Denn danach haben sie im Palast nachgesucht und es erbeten. Dazu erbaten sie die Unterschrift von den Magis436
Vgl. Dtn 17,9–11.
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Dan 13,5 Vg.
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Joh 7,47–51.
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Joh 5,39.
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tern, die widersprachen. Aber der Ratschlag der Pharisäer und Schriftgelehrten wurde zunichte, weil die Gläubigen widersprachen und nicht zustimmen wollten, wenn sie nicht einen Beweis aus dem Gesetz gehört hätten, das die ganze glaubwürdige Wahrheit umfasst. Wenn die Hohepriester und Pharisäer, Priester und Ältesten des Volkes dieses Gesetz gekannt hätten, hätten sie Christus nicht verurteilt. Aber sie haben ihn verurteilt und Gott gelästert! Klüger als sie war der Räuber, der am Kreuz hing und Christus das Zeugnis gab, indem er sagte: Dieser hat nichts Böses getan.440 Und was die, wie ich meine, hauptsächliche Absicht der Doktoren angeht: Mit ihr bezwecken sie, dass der Papst der Richter über alle Rechtsfälle sein soll, und dass der, der ihm nicht gehorcht, des leiblichen Todes sterben soll. Erschauern müssten sie angesichts der übereinstimmenden und grausamen Ähnlichkeit, besonders da der Hohepriester beider Testamente, der Herr Christus, weder bürgerlich urteilen noch einen Ungehorsamen zur leiblichen Todstrafe verurteilen wollte. Denn, was das erste betrifft, hat er gesagt: O Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch eingesetzt? Und was das zweite betrifft, so hat er zu der Ehebrecherin gesagt, welche die Pharisäer nach dem Gesetz des Todes schuldig sprachen: Ich werde dich auch nicht verurteilen. Geh, sündige künftig nicht mehr! 441 Aber weil vielleicht von den Doktoren gesagt würde: „Dies gehört nicht zur vorgelegten Behauptung, weil das Gesetz sagt: Wer übermütig ist und dem Befehl des Priesters nicht gehorchen will, werde ich einen Fall in aller Form darlegen: Denn Christus sagt: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, geh hin und weise ihn zwischen dir und ihm allein zurecht! Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm einen oder zwei mit dir, damit jedes Wort auf dem Mund zweier oder dreier Zeugen steht. Wenn er aber nicht auf sie hört, sage es der Kirche! Wenn er aber nicht auf die Kirche hört, sei er dir wie ein Heide und Zöllner! 442 Siehe, wem sagt das der oberste Herr des Gesetzes und Hohepriester? Gewiss dem künftigen Petrus, dem römischen Bischof nach ihm, dass er einen Irrenden zurechtweisen, einen Ungehorsamen vor Zeugen zur Rede stellen und einen im Ungehorsam Verharrenden der Kirche, d. h. der Volksmenge, öffentlich bekannt machen und einen hartnäckig Ungehorsamen nicht leiblich töten, aber wie einen Zöllner und Heiden meiden sollte. Welchen Anschein gibt es also, von der Entsprechung her zu behaupten: Im Alten Gesetz musste ein Ungehorsamer getötet werden, daher auch im 440
Lk 23,41.
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Lk 12,14; Joh 8,11.
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Dtn 17,12; Mt 18,15 f.
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Gesetz der Gnade? Daher täuschten sich die Jünger Christi durch diese Beweisführung von einer Entsprechung her. Denn als sie nach der Art des Propheten Elia die Samariter, die Christus nicht aufnehmen wollten, mit himmlischem Feuer vertilgen wollten, sagten sie: Herr, willst du, dann sagen wir, dass Feuer vom Himmel herunterkommt und sie vertilgt. Der allerfrömmste Hohepriester und beste Lehrer wies sie zurück. Denn es folgt: Und er wandte sich um und herrschte sie an und sagte: „Wisst ihr nicht, wes Geistes ihr seid? Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um die Seelen“ , d. h. die Menschen, „zu verderben,“ d. h. zu töten, „sondern zu erretten“ , d. h. gesund zu machen.443 Dieses gütige Evangelium haben die Doktoren nicht beachtet. Also haben sie ihren Aussagen folgenden blutrünstigen Zusatz angefügt: Wenn in Böhmen einer von der Geistlichkeit gefunden wird, der in den zuvor genannten Dingen oder irgendeinem davon ablehnend entgegensteht, ist ein solcher durch kirchliche Strafe zurechtzubringen; wenn er sich nicht korrigieren lassen will ist er dem weltlichen Gericht zu übergeben. 444 Gewiss folgen sie darin den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Pharisäern, die Christus, der ihnen nicht in allem gehorchen wollte, mit den Worten: Uns ist es nicht erlaubt jemanden zu töten , dem weltlichen Gericht übergaben. Sind sie etwa nicht Mörder? Wahrlich, sie sind schlimmer als Pilatus. Der Erlöser bezeugt es, indem er dem Pilatus sagt: Wer mich dir überstellt, hat größere Sünde .445 Sie sind es nämlich, zu denen Petrus sagte: Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und habt verlangt, dass euch ein Mörder begnadigt würde. Den Urheber des Lebens aber habt ihr getötet.446 Dann fügen die Doktoren hinzu und sagen: Es steht aber für jeden Gläubigen fest, dass die römische Kirche der Ort ist, den der Herr erwählt hat, wo der Herr die Vorrangstellung für die ganze Kirche eingerichtet hat, an dem der höchste Priester, der dem Ort vorsteht, der Papst ist, der wahre und offenkundige Nachfolger des Petrus, die Kardinäle aber die Priester vom levitischen Geschlecht sind .447 In diesem Ausspruch häufen die Doktoren viele Dinge auf, die sie nicht beweisen. Denn wann werden sie beweisen, dass es für jeden Gläubigen aus ihrer ganzen Brotsuppe feststeht – obwohl viele Gläubige ihnen gegenüber wankend sind, die nichts über Rom, den Papst, die Kardinäle wissen, und vor allem nicht –, dass der Papst der wahre Nachfolger des Petrus ist und die Kardinäle die Priester levitischen Geschlechtes sind? Vielleicht benennen die Doktoren aber die römische Kirche als jenen Ort, über den der Erlöser geweissagt Lk 9,54 f. 444 Palacky´, Documenta, 479. Documenta, 477.
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hat, indem er sagte: Wenn ihr den Gräuel der Zerstörung sehen werdet an der heiligen Stätte stehen – wer es liest, der beachte es! 448 Denn entweder nennen die Doktoren die römische Kirche einen Ort: die Basilika des heiligen Petrus, oder die apostolische Würdestellung. Denn auf diese zwei Weisen kann hier der Begriff „Ort“ verstanden werden, an dem der Herr die Vorrangstellung für die ganze Kirche eingesetzt hat. Denn er hat gewollt, dass hier hauptsächlich die Apostel Petrus und Paulus das Martyrium erleiden, die dem Psalmisten zufolge als geistliche Fürsten über die ganze Erde eingesetzt sind,449 auf denen nach Christus der geistliche Vorrang in der Kirche hauptsächlich beruht. In dieser Kirche ist nicht der Papst, sondern Christus der höchste Priester, der dem Ort, d. h. der Basilika oder der apostolischen Würde, vorsteht, und der die Kirche, seine Braut, leitet. Wenn nun am Papst ein Lebenswandel sichtbar wird, der Christus entgegensteht, nämlich ein Leben in Hochmut, in Habgier, in Unduldsamkeit, in Ehrsucht, in Herrschsucht, ein Leben, in dem mehr Gewicht auf sein eigenes Gesetz gelegt wird als auf das Gesetz Christi, dann wird der Gräuel der Zerstörung der Tugenden Christi, an dem heiligen Ort stehen gesehen, an dem er nicht stehen soll, wie Christus sagt.450 Wenn daher die gläubigen Seelen auf beiden Seiten den geistlichen Zustand der Kirche ansehen würden, wie in ihr gewöhnlich ein Hausvater den Vorsitz innezuhaben pflegte, der alle seine Hausgenossen freundlich einladend aufnahm, sie erquickend ernährte und hilfreich verteidigte, man aber jetzt in demselben Haus einen fände, der von einer gänzlich entgegengesetzter Beschaffenheit den Vorsitz führt, dann ist es kein Wunder, wenn die meisten „verstört“ werden – so als wenn ein Reisender gewöhnlich bei einem Hausvater von hochherziger Großzügigkeit, Frömmigkeit, Güte und ganz tugendhaftem Umgang beherbergt wurde und nachher ein scheußliches Untier vorfindet, das die Gäste hungrig, heimtückisch, grausam, anmaßend und verräterisch tyrannisiert. Aber wenn der Reisende in das Haus eintritt und einen solchen auf dem Stuhl des frommen Hausvaters sitzen sieht, würde er sich wundern, wäre bestürzt und bei dessen Anblick nicht wenig „verstört“. Insofern kann der Gräuel der Zerstörung gemäß jenem Wort verstanden werden: Nimm dir außerdem Gefäße eines törichten Hirten, denn siehe, ich will einen Hirten im Land erwecken, der das Verlassene nicht suchen, nach dem Zerstreuten nicht fragen und das Zerriebene nicht heilen wird, der nicht versorgen wird, was aufrecht steht, der das Fleisch der Fetten töten und ihre Hufe abrei448
Mt 24,15.
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Vgl. Ps 45,17.
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ßen wird. Wehe dir Hirte und Götze, der du die Herde vernachlässigst! 451 Wenn also diese Beschreibung des Götzen und die Vernachlässigung der Herde auf den Papst zutrifft, wie kann da künftig noch die Aussage der Doktoren hinsichtlich jeden Papstes als wahr erwiesen werden, dass er der höchste Priester und der wahre und offenkundige Nachfolger des Petrus ist, der in der Kirche, der Braut Christi, den Vorsitz innehat? Denn es gilt nicht die Folgerung: Jener ist der Götze, der die Herde vernachlässigt: Also ist er der höchste Priester und wahre und offenkundige Nachfolger des Petrus. Ebenso wenig wie die Folgerung gilt: Jener ist der falsche Christus: Also ist er der wahre und offenkundige Christus. Denn der wahre Christus sagt: Wenn dann einer zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus oder dort, so glaubt es nicht! Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen.452 Die Gläubigen müssen sich also hüten, dass sie nicht den falschen Christus aus Schmeichelei den Allerheiligsten nennen und den Götzen den höchsten Priester und wahren Nachfolger des Apostels Petrus. Denn als sie Agnes, die ein Kind gebar, auf diese Weise den heiligsten Vater und höchsten Priester nannten, der in der römischen Kirche den Vorsitz innehat, sind sie in Wirklichkeit getäuscht worden. Sodann wird zu dem Ausspruch des seligen Hieronymus, der im Kirchenrecht angeführt wird: Dies ist der Glaube, allerheiligster Vater usw.453 gesagt, dass er nach dem äußerlichen Augenschein aufgrund der apostolischen Werke des Papstes Damasus geredet hat, so wie Hieronymus auch an den heiligen Augustinus in seinen Briefen schrieb und sagte: An den wahrhaft heiligen Herrn und allerseligsten Papst Augustinus. Ebenso reden die Heiligen auch von den Vorstehern nach dem äußerlichen Augenschein, wenn sie diese von den Spuren Christi abweichen sehen, indem sie sagen, dass sie zu verdammen oder Glieder des Teufels sind. Aber wehe jenen, die den Papst den „allerheiligsten Vater“ nennen, wenn sie an ihm Werke sehen, die Christus geradewegs zuwider sind. Denn es heißt: Wehe euch, die ihr das Böse gut nennt. Solche täuschen nämlich durch ihre lügenhafte Schmeichelei sowohl sich selbst als auch ihn. Denn es heißt: Mein Volk! Die dich selig preisen, die täuschen dich, und den Gang deiner Schritte zerstören sie. Der Herr steht da zum Gericht.454 Denn wenn die Gesetzeskundigen dem Papst und den Kardinälen mutig die Wahrheit sagten und ihnen nicht aus Furcht oder wegen ihrer Beförderung zu Benefizien schmeichelten, würden sie vielleicht irgendwann sich selbst erkennen und nicht erlauben, dass sie 451 Sach 11,15–17. 452 Mt 24,23 f. 453 Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 14, Hieronymus an Papst Damasus (Friedberg 1,970); s. den Kapitelanfang. 454 Jes 5,20; 3,12 f.
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wie Götter verehrt werden. Aber weil beide Seiten in dieser Hinsicht sündigen – jene Seite, indem sie sich in heuchlerischer Weise über die Ehrerbietung und die Seligpreisung freut, und diese Seite, indem sie durch lügenhafte Schmeichelei hofiert –, werden unvermeidlich beide Seiten zu Fall kommen. Denn Jesaja sagt: Sowohl die, die das Volk selig preisen und es verführen, als auch die, die seliggepriesen werden, werden zu Fall kommen. Und wer jene sind, zeigt der Prophet unmittelbar vorher, wenn er sagt: Der Herr wird von Israel den Kopf und den Schwanz, der sich krümmt und sträubt, an einem Tage verderben. Der Hochbetagte und Ehrenvolle, er ist das Haupt; und der Prophet, der die Lüge lehrt, er ist der Schwanz .455 Siehe, allein der Prophet beschreibt Kopf und Schwanz. Wer es will, der beachte, wer „ehrenwerter und hochbetagter Vater“ genannt wird. Aber man wird wahrscheinlich sagen können, dass jeder Papst, vom ersten bis zum letzten, der Christus zuwider lebt und den sie „Haupt“ und „allerheiligster Vater“ genannt haben oder nennen werden, jener Ehrenvolle und Hochbetagte ist, weil ein solcher vor langer Zeit gemäß der Nachfolge seinen Anfang genommen hat. Der Schwanz aber, der durch Schmeichelei oder erdichtete Darlegung oder Entschuldigung die Werke jenes hochbetagten Vaters verbirgt, und der Prophet, der Lüge lehrt, ist die gelehrte Geistlichkeit. Sie lehrt, dass der Papst weder Gott noch Mensch ist, sondern ein vermischter Gott oder irdischer Gott. Und sie lehrt, dass der Papst mir fremdes Gut geben kann und dass ich sicher sein werde, dass der Papst ohne Grund einen Bischof absetzen kann, dass er Dispens erteilen kann – entgegen dem Apostel, entgegen einem Eid, entgegen einem Gelübde, entgegen dem Naturrecht – und dass ihn niemand fragen dürfe: „Warum tust du das?“ Denn er selbst kann zurecht antworten: „So will ich es, so gebiete ich es, es sei so aufgrund meines Willens!“ Und so ist er ohne Sünde. Und weil er keine Simonie begehen kann, weil alles sein ist, kann er mit jenen Dingen tun, wie es ihm gefällt. Denn er kann sogar den Engeln befehlen und Menschen retten oder verdammen, die er will. Und was noch mehr ist: Die Lügen lehrende Geistlichkeit kann sowohl den Papst als auch das untergebene Volk „krümmen“ und jene, die vor dem Haupte und Ehrenvollen auf weltliche und heuchlerische Weise verneigend die Knie „krümmen“. Denn die solche Lügen aussäen, die führen Papst, Volk und sich selbst auf Abwege. Aber von jenen hat, wie es scheint, Christus vermutlich gesagt: Es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen, und sie werden große Zeichen und Wunder 455
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tun, sodass, wenn es möglich ist, auch die Erwählten zum Irrtum verleitet würden.456 Um aber auf die Ausführungen des heiligen Hieronymus zurückzukommen: Er soll zu jenem Papst nach dem äußerlichen Augenschein aufgrund seiner guter Werke gesprochen haben. Ob aber Hieronymus eine besondere Offenbarung hatte hinsichtlich der Erwählung dieses Papstes und der Gerechtigkeit seiner Werke, weiß man nicht. Zweitens wird gesagt, dass der heilige Hieronymus so zu dem Papst spricht, weil er hinsichtlich des Glaubens, von dem er schrieb, unbesorgt war. Denn in jenem Briefe schrieb er ausdrücklich, was in der Schrift und in den Bekenntnissen der Kirche enthalten ist. So kann es dem, der den Brief lesen will, deutlich werden. Und daher hat Hieronymus gesagt: Dies ist der Glaube, den wir in der katholischen Kirche gelernt und den wir immer festgehalten haben. Und es ist klar, wie der Bedingungssatz457 in der Aussage des Hieronymus verstanden werden muss: Wenn dieses sein Bekenntnis durch das Urteil jenes Papstes bestätigt wird, so wäre jeder ein Ketzer, der es angreifen wollte. Denn er hat nach dem Augenschein oder aufgrund einer Offenbarung oder aus der Gewissheit des Glaubens, den er dargelegt hat, so gesprochen und behauptet, dass jener Papst nichts bestätigen würde außer dem, was wahr ist, und dass er nicht verbessern würde, was in der Kirche schon längst angemessen festgehalten worden ist. Aber es wäre unsinnig zu glauben, dass dies als Schlussfolgerung hinsichtlich jeden römischen Bischofs gezogen werden muss. Denn es ist sicher, dass viele von ihnen Irrtümer und Ketzereien in Geltung gesetzt haben, weil sie selbst Ketzer waren. Daher erwähnt das Kirchenrecht, wie der Papst beklagt, dass durch wiederholte Schläge der simonistischen Ketzerei jener päpstliche Stuhl öfter erschüttert worden ist. Daher ordnete er an, weil er sich für die Zukunft um ein Heilmittel kümmern wollte: Nach dem Tode eines Papstes sollten die Kardinäle, Ordensleute, Geistlichen und Laien zusammenkommen, um einen geeigneten Papst zu wählen aus dem Schoße jener Kirche 458 oder einer anderen Kirche, wo ein besser geeigneter sein würde, immer unbeschadet des Privilegs des Kaisers Heinrich459, dass er mit seinen Erben das Recht habe, bei der Papstwahl anwesend zu sein. Der Gewählte aber sollte als wahrer Papst schon vor seiner Weihe, ganz so wie der heilige Gregor, Verfügungsgewalt über die Güter der Kirche haben. Und wer immer diese Ordnung verhindern würde, den verflucht er als den schlimmsten Antichrist.460 Dazu sagt die Glossa ordiMt 24,24. 457 S. o. S. 469, 23–30; 478, 20–23. 458 Der Kirche von Rom. 459 Heinrich III. 460 Papst Nikolaus II., Papstwahldekret, 1059; Decr. Grat. I dist. 23 c. 1: In nomi-
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naria , dass hier versteckt berührt wird, was man in den Chroniken liest, nämlich wie Papst Benedikt 461, der auf Stephan folgte,462 aus dem Pontifikat vertrieben und Johannes, Bischof von Salona, gegen Geldzahlung zum Papst gemacht worden ist, dem der Name Sylvester 463 beigelegt wurde. Aber auch dieser ist vertrieben worden, und Benedikt wurde wieder eingesetzt. Der ist dann abermals vertrieben worden, worauf das Papstamt an Johannes, Erzpriester vor der Porta Latina, gegeben wurde, dem der Name Gregor 464 beigelegt wurde. Und dieser ist von Kaiser Heinrich vertrieben und nach jenseits der Alpen verbracht worden; und dies alles ist in einem Jahr geschehen. Und deswegen ist Heinrich dieses Privileg verliehen worden. Soweit die Glosse des Dekrets. Und, wie es sich aus den Chroniken des Martin von Troppau, des Mönchs aus Cestria und des Radulf Glaber ergibt, hatte im Jahre des Herrn 420 in Rom der Papst Bonifazius465 den Vorsitz inne. Und als gegen diesen Eulalius eingesetzt worden war und die Kirche dadurch in Zwietracht geriet, verließen beide auf Befehl des Kaisers Honorius Augustus die Stadt. Und nachdem Eulalius auf Befehl des Augustus als Papst nicht anerkannt worden war, wurde Bonifazius, der als erster eingesetzt worden war, wieder auf dem apostolischen Stuhl eingesetzt. Zweitens: Im Jahre des Herrn 493466 wurde Laurentius gegen den Papst Symmachus durch einen Kampf eingesetzt. Drittens: Im Jahre des Herrn 768 wurde, nachdem der schismatische Papst Konstantin seines Augenlichtes beraubt worden war, Papst Stephan eingesetzt.467 Dieser versammelte eine Synode in Rom und ordinierte die von dem Schismatiker Konstantin Geweihten noch einmal. Viertens: Im Jahre des Herrn 853 bemächtigte sich Anastasius im Kampf gegen Papst Benedikt 468 des Vorsteheramtes. Fünftens: Im Jahre des Herrn 907 hatte Papst Leo den Vorsitz inne, gegen den sich Christophorus erhob.469 Sechstens: Im Jahre des Herrn 968 wurde Papst Johannes, nachdem eine Synode von Bischöfe aus ganz Italien versammelt worden war, aus frevelhaften Gründen verleumdet. Während er zögerte zu kommen, um sich zu entschuldigen, wurde Leo, der bis dahin ein Laie gewesen ne domini (Friedberg 1,77–79). 461 Benedikt IX. 462 Verwechslung Benedikts IX. (1032–1048) mit Benedikt X. (1058–1060), dem Nachfolger Stephans IX. und Gegenpapst zu Nikolaus II. 463 Johannes, Bischof von S. Sabina, Sylvester III. 464 Gregor VI. 465 Bonifazius I. 466 Im Jahre 498. 467 Konstantin II., Stephan III. 468 Im Jahre 855, Benedikt III. 469 Im Jahre 903, Leo V.
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war, durch die Wahl aller und mit Zustimmung des Kaisers als Papst eingesetzt.470 So nahm Leo Weihen und andere apostolische Handlungen vor. Doch nicht lange danach brachen die Römer ihren Eid gegenüber dem Kaiser und nahmen wieder Johannes als Papst an. Aber jener versammelte eine Synode, setzte Leo ab und erklärte dessen Handlungen für ungültig. Und die von Leo angeordnete Synode sollte nicht als Synode bezeichnet werden, sondern als eine Dirne, die Ehebrecher begünstigt. Allen, die demnach auf Leos Anordnung hin verurteilt worden waren, wurde befohlen, ihre von ihm ausgestellte urkundliche Ächtung abzugeben, die diese Worte enthielt: „Mein Vater hatte nichts Eigenes für sich und hat mir nichts gegeben.“ Und somit verblieben die Abgesetzten in jenen Weihegraden, die sie hatten, als Leo noch nicht ordiniert war. Dieser Papst Johannes, der sich mit einer fremden Ehefrau ergötzte, wurde vom Satan während eines Beischlafes geschlagen und starb ohne die die letzte Ölung des Herrn. Siebentens: Es geschah, dass die Römer gegen den Eid, den sie dem Kaiser geschworen hatten – nämlich dass sie niemals einen Papst wählen würden ohne seine und seines Sohnes Otto Zustimmung –, Benedikt als Papst einsetzten. Aber als Rom belagert wurde, demütigte der Kaiser die Römer so sehr, dass sie versprachen, Leo wieder als Papst aufzunehmen, und so wurde Benedikt 471 abgesetzt. Achtens: Im Jahre des Herrn 1045 ließ Benedikt, der auf simonistische Weise sich des Papstamts bemächtigt hatte, obwohl er wissenschaftlich ungebildet war, einen zweiten als Papst Sylvester, mit sich zum Papst weihen, um an seiner Stelle das kirchliche Amt zu verrichten. Weil dies aber vielen nicht gefiel, wurde als dritter Gregor eingeführt, der allein die Aufgaben der beiden anderen erfüllte.472 Neuntens: Als sich im Jahre des Herrn 1046 in Rom ein Papst mit zwei anderen und zwei mit einem um das Papstamt stritten, zog König Heinrich473 gegen sie nach Rom. Und nachdem sie abgesetzt worden waren, hatte Clemens474 den Vorsitz inne. Und von ihm ist König Heinrich zum Kaiser gesalbt worden, wobei die Römer den Eid schworen, dass sie ohne dessen Zustimmung niemals einen Papst wählen würden. Denn damals ist das Gesetz angewandt worden, dass der König – ganz wie Salomo – den Hohepriester im Notfall absetzen muss.475 Damals empfing der König sogar demütig von Clemens den Segen, und danach ist dann die Bestätigung vollzogen worden, ohne die niemand Kaiser wird. Aber ist dies nach Gottes Gesetz notwendig? Und man 470 Im Jahre 963, Johannes XII., Leo VIII. 471 Benedikt V. 472 Benedikt IX., Sylvester III., Gregor VI. 473 Heinrich III. 474 Clemens II. 475 1Kön 2,35.
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liest, dass vor der Einführung des Amtes der Kardinäle der Papst vom römischen Volk gewählt wurde. Zehntens: Als im Jahre des Herrn 1068 in Rom zwei um das Papstamt kämpften, wurde Alexander als Papst angenommen,476 nachdem er seine Unschuld in Bezug auf den Vorwurf der Simonie bewiesen und sich gereinigt hatte. Cadalus, der Bischof von Parma,477 wurde verworfen. Daher hat man gesagt: Cadalus war in Parma Bogen und Schild der Stadt ja, Cadalus sank tot dahin, Parma war nun im Ruin. Elftens: Im Jahre des Herrn 1083 drang Heinrich478 in die Stadt Rom ein und setzte Wibert479 auf dem apostolischen Stuhl ein. Hildebrand480 aber ging nach Benevent, wo er sich bis zu seinem Tod aufhielt. Zwölftens: Im Jahre des Herrn 1087 wurde Desiderius, der auch Viktor genannt wurde,481 gegen Clemens zum Papst gemacht. Dreizehntens: Es wird berichtet, dass es im Jahre des Herrn 1091 zwei gab, die als römische Bischöfe bezeichnet wurden und untereinander uneins waren und die zwischen ihnen entzweite Kirche Gottes hin und her zerrten: Urban, der zuerst Bischof von Ostia war,482 und Clemens, der Wigbert hieß, der Erzbischof von Ravenna. Vierzehntens: Im Jahre des Herrn 1130, als Papst Innozenz483 regierte, drang Petrus Leonis ein und wurde Anaklet484 genannt. Und Innozenz ging nach Frankreich. Daher heißt es: Petrus hat Rom, Gregor den ganzen Erdkreis. Fünfzehntens: Im Jahre des Herrn 1159 regierte Papst Alexander,485 gegen den Oktavian486 eindrang. Aber er starb während der Kirchenspaltung, wie auch Guido von Crema.487 Aber der eingedrungene Johannes488 wurde mit der Kirche versöhnt. Und so hat in jedem Jahrhundert seit der Zeit der Schenkung Konstantins an die Kirche ein beachtlicher Streit unter den Päpsten bestanden. Auch zu unseren Zeiten hat eine Auseinandersetzung zwischen Urban VI., der in Rom residierte, und Robert von Genf, der seinen Sitz in Avignon hatte,489 begonnen. Und diese Auseinandersetzung dauerte unter ihren Nachfolgern fort bis zum Jahr des Herrn 1409. In diesem Jahr wurde auf dem Konzil von Pisa, nachdem zwei als Ketzer verurteilt wurden, nämlich Gregor und Benedikt,490 Alexander491 aus dem Franziskanerorden zum Papst gewählt. Jedoch verblieben nach seinem Alexander II. 477 Gegenpapst Honorius. 478 Heinrich IV. 479 Clemens III. Gregor VII. 481 Viktor III. 482 Urban II. 483 Innozenz II. 484 Petrus Pierleoni, Anaklet II. 485 Alexander III. 486 Viktor IV. 487 Paschalis III. 488 Johannes von Struma, Calixt III. 489 Clemens VII. 490 Gregor XII; Benedikt XIII. 491 Alexander V. 476 480
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Tode drei, die miteinander im Streite lagen: Papst Johannes XXIII., Gregor in Sizilien und Benedikt in Spanien. Woher aber dieser teuflische Streit ursprünglich kam und aus welcher Ursache er veranlasst wurde, kann sogar ein Blinder ertasten, nämlich durch die Schenkung Konstantins. Und daher schrieb der selige Hieronymus in den Lebens- 5 geschichten der Väter: Soviel die Kirche an Besitz zunahm, nahm sie an Tugenden ab . Und die Glaubhaftigkeit der Chroniknotiz, die der Mönch aus Cestria erzählt, tritt klar zutage, die davon spricht, wie zur Zeit der Schenkung an die Kirche eine Engelsstimme in der Luft gehört worden ist, dass heute in der heiligen Kirche Gottes Gift ausge- 10 gossen worden ist.492 Denn wie auch immer es gewesen sein mag, ist doch dies wahr: Entweder hat ein guter Engel oder der Teufel gerufen. Denn es ist sicher, dass die Dämonen, die sich freuen, wenn sie Böses getan haben, Gott dienen und Boten der Wahrheit sein müssen. Und es geziemt sich, dass Gott die Gefahr für das Volk vorher ankündigt, 15 die durch den Mammon der Ungerechtigkeit entsteht. Aus dem Gesagten kann ein Gläubiger erkennen, ob jemand nur dadurch, dass er Papst genannt wird, auch wirklich der höchste Bischof der Kirche ist: der allerheiligste Vater, der über alle Christusverehrer hinaus im Glauben der Gelehrteste und das Haupt der heiligen katholischen Kir- 20 che Gottes ist. Kapitel 17 Ferner behaupten die genannten Doktoren – getreu dem Grundsatz, nach dem sie glauben, alle ihre Aussagen für zwingend oder wahr hal- 25 ten zu sollen –, dass dem apostolischen Stuhl, der römischen Kirche und den Vorstehern seitens der Untergebenen in allen beliebigen Dingen zu gehorchen ist, solange nicht das reine Gute verhindert oder das reine Böse befördert wird, sondern in Bezug auf das Mittlere, das je nach Art, Ort, Zeit oder Person sowohl gut als auch böse sein kann, gemäß dem Aus- 30 spruch des Erlösers: „Alles, was sie euch sagen werden, das befolgt und tut!“ Und sie fügen hinzu: Und gemäß Bernhard von Clairvaux im Brief an den Mönch Adam, der so beginnt: Wenn du in der Liebe bliebest usw.493 Das Gesetz des Gehorsams ist aufgestellt wie beim Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, der in der Mitte des Paradieses 35 war.494 In diesen Dingen, bei denen überhaupt weder Gebot noch Verbot der Vorsteher verachtet werden darf, ist es sicherlich nicht recht, Monachus Cestrensis, Polychronicon lib. 4 c. 26, unter Verweis auf Hieronymus: Vitae patrum. 493 Palacky´, Documenta, 478, mit Mt 23,3 und Bernhard von Clairvaux, Epistola III ad Adam Monachum (PL 182,93). 494 Vgl. Gen 2,9. 492
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unsere Auffassung dem Urteil der Magister vorzuschreiben. Und sie fügen hinzu: Einige aber aus der Geistlichkeit im Königreich Böhmen wollen nicht zustimmen und versuchen, soviel an ihnen liegt, das gläubige Volk zum Ungehorsam gegenüber den Vorstehern und zu Unehrerbietigkeit gegen die päpstliche, bischöfliche, priesterliche und geistliche Würde zu verleiten, wobei sie jenes Wort des Augustinus nicht bedenken, der Folgendes sagt: „Wenn du gefastet und Tage und Nächte lang gebetet hast, wenn du in Sack und Asche gegangen bist, wenn du nichts anderes getan hast, als was dir im Gesetz geboten ist, und dir selbst als weise erschienen bist, und du doch deinem Vater nicht gehorcht hast (verstehe recht: nicht dem leiblichen, sondern dem geistlichen Vater), hast du alle Tugenden verloren. Daher ist der Gehorsam mehr wert als alle übrigen sittlichen Tugenden.“ 495 Soweit jener. Durch die Verbindung der obengenannten Dinge vermischen die Doktoren Falsches, Schmeichelei und Einschüchterung mit Wahrem. Diese drei Dinge sind nämlich in diesen Worten enthalten: Einige aber aus der Geistlichkeit – damit spielen sie auf unsere Partei an – wollen nicht zustimmen und versuchen, soviel an ihnen liegt, das gläubige Volk zum Ungehorsam zu verleiten. Siehe, eine schlimme Lüge, mit der sie vorgeben, dass wir Verführer des Volkes wären, obwohl es doch nicht die Absicht unserer Partei ist, das Volk vom wahren Gehorsam wegzuführen, sondern zu bewirken, dass das Volk eins sei, vom Gesetz Christi einträchtig geleitet. Zweitens ist es das Bestreben unserer Partei: Die antichristlichen Bestimmungen sollen das Volk nicht verdummen oder von Christus trennen, sondern das Gesetz Christi soll es unverletzt regieren, zusammen mit dem aus dem Gesetz des Herrn bestätigten Herkommen unseres Volkes. Und drittens ist es das Bestreben unserer Partei: Die Geistlichkeit soll unter Ablegung von Prunk, Habsucht und Schwelgerei ernsthaft nach dem Evangelium Jesu Christi leben. Und viertens wünscht und predigt unsere Partei: Die kämpfende Kirche soll wirklich aus ihren Teilen, die der Herr bestimmt hat, zusammengesetzt sein: nämlich aus Priestern, die in reiner Weise sein Gesetz halten, aus weltlichen Adligen, die zur Befolgung der Anordnungen Christi anhalten, und aus gewöhnlichen Leuten, die jedem dieser beiden Teile dienen. Die Doktoren mögen daher unserer Partei dieses Unrecht zuschreiben. Die Schmeichelei aber, die sie den Vorstehern erweisen, und die Einschüchterung, mit der sie unsere Partei Palacky´, Documenta, 478, mit Auctor incertus: De oboedientia et humilitate, c. 1 (PL 40,1223).
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erschrecken, sind in diesen Worten enthalten: Sie versuchen, das gläubige Volk zum Ungehorsam gegenüber den Vorstehern und zu Unehrerbietigkeit gegen päpstliche, bischöfliche, priesterliche und andere geistliche Würdenträger zu verleiten. Gelobt sei Christus Jesus, dass sie nicht zu behaupten gewagt haben – oder es vergessen haben – uns die Verleumdung des Ungehorsams gegenüber Jesus Christus aufzubürden. Ihm zu dienen heißt ein Herr zu sein, und ihm gehorsam zu sein heißt, dazu überaus kräftig zu sein. Denn keiner ist kräftig genug, zu gehorchen, außer dem, der sich darüber im Gehorsam gegenüber unserem Gott rühmt. Daher muss in Anbetracht jener Aussage der Doktoren: Dem apostolischen Stuhl, der römischen Kirche und den Vorstehern ist von den Untergebenen in allen Dingen zu gehorchen usw., über den Gehorsam gesprochen werden. Zu bemerken ist also, dass „Gehorsam“ zuerst analog oder sehr allgemein aufgefasst wird: So gesehen ist er die Folgsamkeit eines jeden Geschöpfs hinsichtlich des göttlichen Willens, dem alle Geschöpfe sogar ohne Widerstreben gehorchen: wie ein Stein gehorcht, indem er zu Boden fällt oder nach unten strebt, das Feuer aber, indem es emporlodert, und die Sonne, indem sie leuchtet. Von anderen Geschöpfen könnte man weitere Beispiele geben. Oder es gehorcht mit Widerstreben auch der Teufel oder ein verdammter Mensch, der gehorchen muss, indem er erleidet, was er erleiden muss. Und auf diese Weise sprechen die Heiligen, wenn sie sagen, dass alle Dinge ihrem Schöpfer gehorchen. Allein der Mensch als Sünder gehorcht nicht, d. h. er befolgt das Gebot des Schöpfers nicht ohne Widerstreben des eigenen Willens. Aber dann wird „Gehorsam“, insofern er eine tugendhafte Handlung oder eine Tugend ist, von einigen so beschrieben: Gehorsam ist die Unterwerfung des eigenen Willens unter das Urteil eines Oberen in erlaubten und ehrenwerten Dingen. Oder: Gehorsam meint die Haltung, in erlaubten und ehrenwerten Dingen das Gebot eines Oberen willentlich auszuführen. Und die erste Beschreibung des Begriffs wird durch das Tun gegeben, die zweite aber durch die Haltung. Und aus diesen Beschreibungen folgt, dass es keinen Gehorsam in unerlaubten Dingen gibt. Und so klingt Gehorsam nach Gutem, wie Ungehorsam nach Bösem klingt. Aber die erste Beschreibung scheint mir darin mangelhaft zu sein, dass der Gehorsam allgemeiner ist als die Unterwerfung. Denn Gehorsam gehört zu Gott, nicht aber die Unterwerfung. Gott hat nämlich der Stimme eines Menschen gehorcht, denn es heißt: Weder vorher noch nachher gab es einen so langen Tag, da Gott der Stimme eines Menschen gehorchte und für Israel kämpfte. Und dennoch ist der dreifaltige Gott dem Menschen nicht wie ein Geringerer unter-
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worfen oder untergeben gewesen, noch bezieht sich jeder Gehorsam auf das Urteil eines Oberen, da Christus seinen Eltern untertan war .496 Und es ist gewiss: Wie unter den übrigen, die von Frauen geboren sind, kein Größerer aufgestanden ist als Johannes der Täufer,497 so war Christus unendlich größer als Joseph oder Maria. Da also Christus nur getan hat, das er zu tun schuldig war, ist deutlich, dass ein Größerer einem Geringeren untertan oder gehorsam sein muss. Denn was immer die Quelle der Religion lehrt, muss als Grundsatz festgehalten werden. Daher war Christus, der von zweifacher Natur war, auf zweifache Weise gehorsam, denn er gehorchte Gott, dem Vater, in allem, wie er gemäß seiner Menschheit geringer als der Vater war. Er selbst hat nämlich gesagt: Der Vater ist größer als ich.498 Zweitens gehorchte er, wie gesagt worden ist, seinen Eltern als den Geringeren, und war sogar anderen gehorsam, indem er willig von ihnen sein Leiden auf sich nahm. Und er ist den wahren und heiligen Christen gehorsam, indem er ihre Bedürftigkeit ausgleicht und ihr Verlangen sättigt. Und es ist deutlich, dass daraus nicht folgt: Dieser gehorcht jenem, also ist er ein Geringerer als jener. Ebenso folgt nicht: Dieser dient jenem, also ist er ein Geringerer als jener: Denn Christus hat einem anderen Menschen gehorcht und gedient. Daher sagt er: Du hast mich durch deine Sünden veranlasst zu dienen und hast mir Mühe bereitet mit deinen Ungerechtigkeiten. Ich bin es, der ich um meinetwillen deine Ungerechtigkeiten tilge, und deiner Sünden werde ich nicht gedenken. Erinnere dich an mich, damit wir miteinander rechten. Und: Der Menschensohn ist nicht gekommen, damit er sich dienen lasse, sondern damit er diene. Und von ihm sagt der Apostel: Christus entäußerte sich selbst und nahm die Gestalt eines Dieners an. Und es heißt: Er umgürtete sich mit einem Leinentuch, goss Wasser in ein Becken und wusch die Füße der Jünger .499 Daher ist er selbst nicht auf lügenhafte Weise, sondern in Wahrheit Bischof, Knecht der Knechte Gottes 500, nicht allein ein römischer, sondern allgemein aller Kirchen. Derselbe ist Bischof von Prag. Aber so wie er Knecht oder Diener ist, nicht aufgrund öffentlicher Erhebung, da für ihn ein vollkommenes, tätiges Leben nicht angemessen war, so ist er der Bischof der Seelen, nicht von weltlichen Reichtümern oder Besitz. Denn nach Sacharja bestieg er als Bischof nur einmal das Füllen einer Eselin, selbst arm und sanftmütig. Und es heißt: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels haben Nester; der Menschensohn aber hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Warum das? Den Grund gibt der Jos 10,14; Lk 2,51. 497 Mt 11,11. 498 Joh 14,28. 499 Jes 43,24–26; Mt 20,28; Phil 2,7; Joh 13,4 f. 500 Anspielung auf die Demutsformel in Papsturkunden.
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Apostel an, wenn er sagt: Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, der um unseretwillen arm wurde, damit wir durch seine Armut reich wären.501 Die zweite Beschreibung ist aufgrund des bereits Gesagten auch mangelhaft. Denn sie besagt, dass der Gehorsam die Haltung meint, das Gebot eines Oberen auszuführen. Nicht aller Gehorsam geschieht nämlich im Hinblick auf einen Oberen, dem gehorcht wird, oder im Hinblick auf ein Gebot. Denn manchmal geschieht er – wie gesagt wurde – im Hinblick auf einen Untergeordneten. Und der Gehorsam geschieht auch in Bezug auf einen Rat, wie wenn ein Mensch den Räten Gottes gehorcht, denen zu gehorchen er nicht unter Strafe der Todsünde verpflichtet ist. Und er geschieht auch in Bezug auf eine Bitte, wie Gott in Bezug auf die Bitte Josuas gehorcht hat, indem er der Sonne in Gibeon befahl, stillzustehen und sich nicht zu bewegen hin zu ihrem Untergang.502 Daher sagt Hieronymus: Den Bitten der Heiligen scheint Gott zuweilen zu gehorchen .503 Und es ist deutlich, dass Gehorsam manchmal die Erfüllung eines Gebotes meint, manchmal eines Rates und manchmal einer Bitte, die weder Gebot noch Rat ist. Und manchmal ist er die Einlassung auf eine Überredung, wie der Teufel Christus überredete, mit ihm in die heilige Stadt Jerusalem und auf einen sehr hohen Berg zu gehen.504 Und Christus willigte ihm auf sehr tugendhafte Weise darin ein und erfüllte seinen Willen. Und daher würde gemäß dieser Unterscheidung gesagt, dass Gehorchen heißt, den Willen eines anderen wirklich zu erfüllen. Daher meint Gehorsam immer die Beziehung von einem zu einem anderen. Nicht so aber verhält es sich im Hinblick auf die anderen Tugenden, wie es bei der Enthaltsamkeit und der Mäßigung deutlich ist. Aufgrund dieser Ausführungen wird zusammengefasst: Der Gehorsam wie auch die Demut ist dreifach: eines Höhergestellten in Bezug auf einen Geringeren – dies ist der höchste Gehorsam. Eines Gleichgestellten in Bezug auf einen Gleichgestellten – dies ist der mittlere Gehorsam. Eines Geringeren in Bezug auf einen Höhergestellten – dies ist der unterste Gehorsam; und mit ihm stimmt jene erste Beschreibung überein: Gehorsam ist die Unterwerfung des eigenen Willens unter das Urteil eines Oberen in erlaubten und ehrenwerten Dingen. Und er kann auch so beschrieben werden: Gehorsam ist der Willensakt eines vernunftbegabten Geschöpfes, durch den es sich willentlich und unterscheidungsfähig seinem Vorgesetzten unterwirft. 501 Sach 9,9; Mt 8,20; 2Kor 8,9. (PL 30,141). 504 Mt 4,5.
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Und er klingt nach Gutem, wie das Ungehorsam-Sein nach Bösem. Dennoch bestimmen beide Beschreibungen das vernunftbegabte Geschöpf als das Untergebene. Und zweitens bestimmen beide ein Tun, ein Erleiden, ein Stillschweigen oder etwas Anderes derartiges in Bezug auf die Grundlage, auf die das Gebot trifft. Wie daher jede Sünde Ungehorsam ist oder mit ihr einhergeht – denn jeder Tugendhafte gehorcht Gott –, so ist jeder Sünder ungehorsam. Der Gehorsam aber geschieht durch die Vernunft und den Willen: durch die Vernunft, die entscheidet, worin gehorcht werden muss, und durch den Willen, der dem zustimmt, der das Gebot erteilt. Seine Wirkungen aber bestehen in anderen Kräften und äußerlich in der Wirkung. Und da sich in der Schrift ein guter Gehorsam und ein schlechter Gehorsam findet – hinsichtlich des guten liegt es klar zutage, hinsichtlich des schlechten wird zu Adam gesagt: Dafür, dass du der Stimme deiner Frau mehr gehorcht hast als der meinigen, sei der Erdboden verflucht bei deinem Werk! Und es heißt: Warum übertretet ihr Gottes Gebote um eurer Überlieferungen willen? Und: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.505 Wann immer daher einem Menschen mehr gehorcht wird als Gott, wie Adam Eva gehorcht hat, dann ist es immer schlechter Gehorsam. Daher ist jeder, der auf schlechte Weise gehorsam ist, Gott ungehorsam. Und so steht fest, dass derselbe Mensch im Hinblick auf verschiedene Gebietende oder Gebote zugleich gehorsam und ungehorsam ist. Und es folgt nicht: Sortes506 ist ungehorsam, folglich ist Sortes nicht gehorsam. Sondern es folgt: Sortes ist jenem nicht gehorsam, im Hinblick auf den er ungehorsam ist oder im Hinblick auf dessen Gebot er ungehorsam ist. Und es ist deutlich: „Gehorchen“ heißt in seiner Gemeinschaft, den Willen eines Gebietenden zu erfüllen, und dies auf gute Weise – wie wenn ein Mensch oder geschaffener Geist, der in der Gnade lebt, den Willen dessen erfüllt, der etwas Erlaubtes gebietet –, aber auf schlechte Weise, wenn er in Schuld lebt und den Willen des Gebietenden bezüglich einem gegebenen Gebot erfüllt, z. B. wenn er in Genusssucht lebt und aufgrund eines Gebots fastet, oder zweitens, wenn er ein schlechtes Gebot, das gegen Gott gerichtet ist, erfüllt. Aus diesen Darlegungen wird deutlich, dass es unmöglich ist, dass ein vernunftbegabtes Geschöpf sittlich tugendhaft ist, wenn es nicht seinem Gott gegenüber gehorsam ist. Außerdem muss man wissen, dass der Gehorsam gemäß dem heiligen Thomas ein dreifacher ist, nämlich ausreichender, vollkommener und unterschiedsloser GehorGen 3,17; Mt 15,3; Apg 5,29. beispielhaft guten Mannes.
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sam.507 Der ausreichende Gehorsam ist jener, der nur in den Dingen gehorsam ist, zu denen er aufgrund des Naturrechtes und des positiven Rechtes verpflichtet ist, ohne seine Grenzen zu überschreiten, d. h. ausreichender Gehorsam, durch den jemand in den Dingen gehorcht, zu denen er ausdrücklich verpflichtet ist. Und dafür treten Beispiele aus der Heiligen Schrift klar zutage, denn Kinder sind gehalten, den Eltern zu gehorchen gemäß jenem Apostelwort: Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allen Dingen! , was man nur für die Dinge verstehen darf, die zur äußeren Lebensführung und zur häuslichen Sorge gehören, wie Thomas an oben genannter Stelle sagt. Ähnlich sind die Knechte gehalten, den Herren zu gehorchen, gemäß jenem Apostelwort: Gehorcht den leiblichen Herren in allen Dingen!, und jenem Wort: Ihr Knechte, seid mit aller Furcht den Herren untertan, nicht nur den guten und besonnenen, sondern auch den verdrehten! 508 Das ist so zu verstehen: nur in den Dingen, die zu den rechtmäßig zu verrichtenden Diensten eines Knechts gehören, wie Thomas an der obengenannten Stelle sagt. Die Ehefrauen sind gemäß jenem oben genannten Text des Paulus und dem des Petrus an der gleichen Stelle gehalten, ihren Ehemännern zu gehorchen: Ihr Frauen, seid den Männern untertan im Herrn! Das ist nur von den Dingen zu verstehen, die zum rechtmäßigen äußerlichen ehelichen Umgang miteinander gehören. Ähnlich sind alle Christen – jeder in seiner gesellschaftlichen Stellung – gehalten, den weltlichen Machthabern zu gehorchen, gemäß jenem Wort des Apostels: Ermahne sie, den Fürsten und Machthabern untertan zu sein! Und: Jede Seele sei untertan den höheren Machthabern 509 usw., wobei der Apostel erweist, dass jeder Mensch den Oberen sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Dingen gehorsam sein muss, da sie ja als Diener Gottes zum Schutz, zur Läuterung und zum Lob für die Guten eingesetzt worden sind, für die Bösen aber zur Besserung, zur Züchtigung und Bestrafung. Denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott, und wer sich der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich der Ordnung Gottes. Damit stimmt Thomas überein. Und diese ganze Unterwerfung bzw. den Gehorsam nimmt man in jenen gesellschaftlichen Rängen wahr, denen die Obrigkeiten auf gerechte Weise vorstehen und sofern sie gerechte Dinge gebieten, und nicht anders. Damit stimmt die Glossa ordinaria in Bezug auf jenes Wort: die nämlich von Gott sind, überein und auch der Magister der Sentenzen.510 Thomas von Aquino, Summa theologica 2 II q. 104 c. 5. 508 Kol 3,20.22; 1Petr 2,18. 509 Tit 3,1; Röm 13,1. 510 Thomas von Aquin: Summa theologica 2 II q. 104 c. 6; Glossa ordinaria zu Röm. 13,1 (PL 114,513); Petrus Lombardus, In quatuor 507
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Der vollkommene Gehorsam ist jener, bei dem der Gehorsamspflichtige sein ganzes Wollen und Nichtwollen hinsichtlich der Werke, die er tun soll, dem Urteil seines Vorgesetzten anheimstellt, jedoch nur sofern das Gebot nicht dem göttlichen Willen, einem heiligem Lebenswandel oder den Lebensnotwendigkeiten entgegensteht oder sofern es nicht zu den Geboten oder Räten des Herrn Jesus Christus gehört. Und weil der Gehorsam sich auf die Gebote und die Räte bezieht, daher ist der Unterschied zwischen einem Gebot und einem evangelischen Rat zu beachten, so wie sie aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit unterschieden werden. Denn das Gebot ist die allgemeine Lehre Gottes, die jeden Menschen immer mit Strafe für die Todsünde verpflichtet, eben dadurch, wenn er jeweils von dieser Lehre abgefallen ist. Daher haben die Heiligen, die zeitweilig vom geraden Weg abgekommen sind, zu derselben Zeit eine Todsünde begangen, so wie die Verdammten aufgrund von fortdauernder Übertretung der Gebote fortdauernd in der Hölle sündigen. Der evangelische Rat aber ist die besondere Lehre Gottes und verpflichtet bei Strafe für die lässliche Sünde allein für die Zeit dieses Weges auf Erden. Daher sagen die Lehrer, dass das Gebot den Unvollkommenen gilt und sie hinsichtlich ihres Knechtseins verpflichtet. Der Rat aber gilt den Vollkommenen und verpflichtet sie auch darüber hinaus – beachte das! – im Allgemeinen und für immer bei Strafe für die Todsünde. Damit sie aber die Gelegenheit zur Sünde vermeiden, rät er ihnen wie Freunden. Wenn daher ein Heiliger aufgrund von Undankbarkeit gegenüber Gott anlässlich eines Rates in eine Todsünde fällt, geschieht das aufgrund der Übertretung des ersten Gebotes und nicht aufgrund von Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Rat. Im himmlischen Vaterland aber, wo es keine Gefahr oder Gelegenheit zu sündigen gibt, besteht so ein ausgesprochener Rat nicht. Denn im Vaterland gibt es keine freiwillige Armut, wie Christus die Besitzlosigkeit versteht, die er rät: Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe alles, was du hast! 511 Der zweite ist der Gehorsam gegenüber einem aufgezwungenen Vorgesetzten, worüber es heißt: Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst 512 – ergänze: wie ein sehr lieber Jünger. Auch gibt es im Himmel kein Sträuben gegen Keuschheit, wovon es heißt: Es gibt Eunuchen, die sich um des Himmelreiches willen haben kastrieren lassen.513 Und es gibt dort keine wirksame Vergeltung gegenüber Widersachern, wovon es heißt: Tut wohl denen, die euch hassen.514 Auch gibt sententiarum lib. 2 dist. 44 (PL 191,156 f.). Mt 5,44.
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Mt 19,21.
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Lk 9,23.
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Mt 19,12.
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es dort kein demütiges Leiden unter denen, die gewaltsam prügeln, wovon es heißt: Wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin! 515 Und es gibt keinen Überschuss an Werken der Barmherzigkeit, wovon gesagt wird: Jedem, der dich bittet, dem gib! 516 Auch gibt es da keine Beschränkung von Worten oder des Eides, worüber es heißt: Von jedem achtlosen Wort, das die Menschen geredet haben, werden sie Rechenschaft ablegen am Tage des Gerichts , und: Ich heiße euch überhaupt nicht zu schwören.517 Und es gibt da keine Gelegenheit zu sündigen, wovon gesagt ist: Wenn dein Auge oder dein Fuß oder deine Hand dir Ärgernis gibt, reiße sie heraus, schneide sie ab und wirf sie weg! 518 Auch gibt es dort keine Mäßigung des Handelns, damit wir nicht aufgrund eines Mangels an ehrlicher Absicht in Heuchelei verfallen, worüber es heißt: Nehmt euch in Acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Leuten übt.519 Auch führt Christus kein Beispiel dafür an, dass sich dort Tun und Reden entsprechen, wovon gesagt wird, dass die Pharisäer etwas sagen und es nicht tun. Daher rät er dem Heuchler, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge herauszuziehen.520 Auch gibt es dort nicht die weltliche Sorge, die das Wort erstickt, worüber es heißt: Seid nicht besorgt und sprecht: Was werden wir essen usw.521 Und es gibt keine brüderliche Zurechtweisung, wovon gesagt ist: Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat, gehe hin und weise ihn zwischen dir und ihm allein zurecht.522 Im himmlischen Vaterland werden alle diese zwölf Räte in ihrer ersten Gestalt kein Sein im Wirken haben, sondern sie werden sich in ihrer Frucht zeigen. Doch in diesem zweiten Sinn wird man sie wie ewige Gebote befolgen. Aber auf dem irdischen Weg sind sie sehr heilsam zum ewigen Leben. Und dass doch die Geistlichen – besonders auch die Ordensleute –, die die Ratschläge der Menschen schätzen, und alle anderen, die sich auf menschlichen Rat stützen, diese Räte des himmlischen Arztes beachten würden! Denn zweifellos sind sie vorbeugender Schutz vor möglichen Sünden, Reinigung von begangenen Sünden und Bewahrung der erlangten Gesundheit! Daher sind alle Erdenpilger diesen Räten oder zumindest einigen von ihnen bei Strafe der lässlichen Sünde verpflichtet. Um das zu beurteilen, wird der beste Richter bei sich selbst sorgsam unterscheiden, indem er beachtet, wann jemand aufgrund eines Mangels an Befolgung eines dieser Räte in Sünde fällt, was nicht rasch geschieht, außer durch Verachtung des göttlichen Rates. Mt 5,39. 516 Lk 6,30. 517 Mt 12,36; 5, 34. Lk 6,42. 521 Mt 6,31 mit 13,22. 522 Mt 18,15.
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Mt 23,3;
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Und es muss bemerkt werden, dass der zwölfte Rat, nämlich die brüderliche Zurechtweisung, einmal ein Rat ist, nämlich wenn es um lässliche Sünden geht, ein andermal ein Gebot, wie das Zurechtweisen in Bezug auf Todsünden. Und diese zweite Art betrifft alle Christen und ist immer verpflichtend, jedoch nicht ständig, denn es kommt auf Ort und Gelegenheit an, wann eine Zurechtweisung nützlich erscheint. Bis hierher ist zu bemerken, dass der menschliche Gehorsam dreifach ist, nämlich geistlich, weltlich und kirchlich. Unter dem geistlichen Gehorsam, der einzig gemäß dem Gesetz Gottes geschuldet wird, haben Christus und die Apostel gelebt und müssen die einzelnen Christen leben. Der weltliche Gehorsam ist der Gehorsam, der gemäß den bürgerlichen Gesetzen geschuldet wird. Der kirchliche Gehorsam ist der Gehorsam gemäß den Erfindungen der Priester der Kirche, an der ausdrücklichen Autorität der Schrift vorbei. Der erste, der geistliche Gehorsam schließt immer das, was von sich aus böse ist, aus, sowohl seitens dessen, der gebietet, als auch seitens dessen, der gehorcht. Denn der, der gemäß dem Gesetz Gottes gebietet und der gehorcht, verfährt hinsichtlich des Gehorsams richtig. Und so heißt es sowohl hinsichtlich des Gebietenden, als auch hinsichtlich dessen, der zum Gehorsam verpflichtet ist: Du sollst alles tun, was dich die Priester levitischen Geschlechts lehren, gemäß dem, was ich ihnen geboten habe.523 Hier wird berührt, dass der Gebieter nur gebieten darf, was mit dem Gesetz im Einklang steht. Und der zum Gehorsam Verpflichtete muss in jenen Dingen nur entsprechend gehorchen, doch niemals gegen den Willen des allmächtigen Gottes. Dafür habe ich an anderer Stelle Augustinus, Gregor, Hieronymus, Isidor von Sevilla, Bernhard und Beda zusammen mit der Heiligen Schrift und dem Kirchenrecht angeführt, was ich hier um der Kürze willen auslasse. Allein ein Wort Isidors sei dazu erwähnt: Wenn der, der die Leitung innehat, außer dem Willen Gottes oder außer dem, was in den Heiligen Schriften offensichtlich geboten wird, irgendetwas sagt oder befiehlt, soll er als ein falscher Zeuge Gottes oder ein Frevler betrachtet werden.524 Kapitel 18
35 Nachdem einige Aussprüche über den Gehorsam angeführt worden
sind, will ich wieder auf den Ausspruch der Doktoren zurückkommen, in dem behauptet wird: dem apostolischen Stuhl der römischen Kirche und den Vorgesetzten müssen die Untergebenen in allen Dingen gehorchen, solange dadurch nicht das rein Gute verboten bzw. das rein Böse
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Dtn 24,8.
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Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 100 (Friedberg 1,672).
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geboten wird, sondern ein Mittleres usw.525 Hier ist eine Feststellung zum apostolischen Stuhl zu treffen. Viele und vor allem die Kanonisten predigen Vieles von ihm, wissen aber nicht, was der apostolische Stuhl ist. Denn einige meinen, er ist der Stuhl des Papstes, der aus Holz, Stein oder aus einem anderen Material besteht, auf dem der Papst leiblich zu sitzen pflegt. Andere erachten ihn als die römische Kurie. Wieder andere glauben, dass er der Stuhl des heiligen Petrus ist, auf dem er leiblich gesessen hat. Andere schätzen: Rom ist damit gemeint. Wieder andere erachten ihn als die Macht des Papstes und andere als die Kirche oder Basilika des heiligen Petrus. Es ist aber zu beachten: „apostolischer“ Stuhl kommt von „apostolisch“ her, „apostolisch“ aber von „Apostel“. „Apostel“ aber heißt: „von Gott gesandt“. Aber wen Gott gesandt hat , sagt der Erlöser, der redet Gottes Worte . Daher sagt er auch zu den Jüngern: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch ,526 nämlich: zum Zeugnis der Wahrheit, zur Predigt des Wortes vom Heil und um durch Leben und Lehre dem Volk den Weg zur Seligkeit zu zeigen. Daher hat jeder Priester die Zeichen, die aufweisen, dass Gott ihn gesandt hat: Er sucht nicht den eigenen Ruhm, sondern Gottes Ehre; er trachtet nach der Förderung der Kirche und dem Heil des Volkes, tut auch Gottes Willen, deckt die Listen des Antichrist auf und predigt das Gesetz Christi. Daher sagt Christus hinsichtlich des Ruhms: Ich nehme nicht Herrlichkeit von Menschen . Und: Ich suche nicht meinen Ruhm . Was das zweite anlangt, sagt er: Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr habt mich nicht angenommen. Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommen wird, den werdet ihr annehmen. Vom dritten sagt er: Ich bin vom Himmel gekommen, nicht um meinen, sondern um den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat . Christus hat den Willen des Vaters getan, weil er die Vollendung der Kirche und das Heil des Volkes gesucht hat. Vom vierten sagt er: Die Welt hasst mich, weil ich von ihr zeuge, dass ihre Werke böse sind. Und weil er die Werke des Vaters tat, hat Christus vollends gezeigt, dass er von Gott gesandt ist. Daher spricht er: Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, glaubt ihr mir nicht. Wenn ich sie aber tue und ihr mir nicht glauben wollt, glaubt den Werken.527 Und es ist klar, dass eines Priesters heiliger Lebenswandel und seine fruchtbare Arbeit am Wort Christi dem Volk zeigen, dass er auf diese Weise von Gott gesandt ist. Und keiner darf Papst, Bischof, Priester oder Prediger sein, der nicht so von Gott gesandt wird. Und dazu sagt der Apostel: Wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt 525 Palacky´, Documenta, 478. 10,37.
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Joh 3,34; 20,21.
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Joh 5,41; 8,50; 5,43; 6,38; 7,8;
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werden? 528 Deshalb antwortet der selige Augustinus, als Orosius fragt, wie wir wissen können, wer von Gott gesandt ist, folgendermaßen: Erkenne den als gottgesandt, den nicht das Lob oder vielmehr die Schmeichelei weniger Menschen erwählt hat, sondern den, den der Lebenswandel und beste Sitten und die Prüfung seitens apostolischer Priester oder das Urteil der gesamten Volksmenge empfehlen; der nicht bestrebt ist, an der Spitze zu stehen, der nicht Geld gibt, um die Bischofswürde zu erlangen. Denn es steht fest: Wer vorzustehen bestrebt ist, wie einer der Väter sich gewandt ausgedrückt hat, ist ein Bischof, der nur vorstehen, nicht nützen will.529 Soweit Augustinus. Steht also fest, was ein Apostel ist, so kann folglich auch festgestellt werden, was apostolisch ist. Denn „apostolisch“ heißt der, der den Weg eines Apostels bewahrt. So wie man also jemanden einen wahren Christen nennt, der Christus in der Lebensführung nachahmt, so ist der Priester wahrhaft apostolisch, der die Lehre der Apostel befolgt, das Leben eines Apostels lebt und seine Lehre lehrt. Darum wird jeder Papst insofern „apostolisch“ genannt, soweit er die Lehre der Apostel lehrt und im Werk ausführt. Aber wenn er die Lehre der Apostel hintanstellt und etwas Gegenteiliges in Wort oder Tat lehrt, dann wird er wahrlich pseudoapostolisch oder abtrünnig genannt. Daher heißt es im Kirchenrecht: Wenn jemand durch Geld oder menschliche Gunst oder durch Volks- bzw. militärischen Aufruhr ohne einmütige und kanonische Wahl auf dem apostolischen Stuhl inthronisiert wird, soll er nicht für apostolisch, sondern für abtrünnig 530 gehalten werden.531 Besteht also ein größerer Irrtum bei der aktiven Wahl, weil die Wähler vom Teufel gezwungen worden sind, eine Person zu wählen, die Gott verwirft, weil aus dem Werk und der Vernachlässigung des geistlichen Amtes offenbar wird, dass er dem Leben der Apostel entgegengesetzt lebt, so folgt noch viel mehr, dass man einen solchen nicht für apostolisch, sondern für abtrünnig halten muss. „Apostolischer Stuhl“ kann nach dem Gesagten also das Leben eines Priesters heißen, der in wirksamer Weise das Leben eines Apostels beachtet, wie in der Tat der Stuhl des Apostels das Leben des Apostels ist. Daher sagt Chrysostomus: Der Thron eines jeden Apostels ist die Tugend, in der er vollkommener als die anderen gewesen ist. Der eine Stuhl Christi aber sind gleichsam alle Tugenden zusammen, weil er allein in jeder Tugend gleichermaßen vollkommen Röm 10,15. 529 Augustinus incertus: Dialogus quaestionum q. 65, responsio (PL 40,752). 530 Wortspiel: apostolisch – apostatisch. 531 Decr. Grat. I dist. 79 c. 9 (Friedberg 1,278). 528
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ist. 532 Seht, dieser Heilige empfindet trefflich, dass das Leben jedes Apostels Christi sein besonderer Stuhl ist, auf dem er sich niedergelassen hat, indem er hier Verdienste erworben hat. Und aufgrund dieses so verstandenen Stuhles thront er bereits in der Herrlichkeit Jesu Christi, nach jenem Wort: Auch ihr werdet auf zwölf Stühlen sitzen .533 Dort wird nach Augustinus unter „zwölf Stühlen“ die Stellung der Apostel und aller heiligen erwählten Vorsteher verstanden, die, weil sie eine Stellung in der Seligkeit ist, nicht aufhören oder von Tyrannen zerstört werden kann. Die Zwölfzahl aber, die die Zahl der Gesamtheit ist, bezeichnet hier nicht im Einzelnen die zwölf Apostel, denn dann würde Ischariot herrschen und Paulus ihm untergeben sein. Der Stuhl aber der Majestät Christi wird verstanden als Einsetzung zur ewigen Herrschaft, von der er nicht abgesetzt werden kann. Und dieser Stuhl Christi ist sein innerer Stuhl. Sein äußerer Stuhl aber, auf dem er durch die Gnade sitzt, wohnt oder thront, sind alle Heiligen, so wie umgekehrt der Stuhl Satans, auf dem er sitzt, wohnt oder thront, alle Bösen sind. Daher heißt es: An den Engel, d. h. den Bischof, der Kirche zu Pergamon: Der, der dem Menschensohn gleich ist, der das zweischneidig scharfe Schwert hat, hat gesagt: Ich weiß, wo du wohnst: dort, wo Satans Stuhl ist – hierzu sagt die Interlinearglosse: d. h. in denen Satan ruht –, aber du hältst meinen Namen und hast meinen Glauben nicht verleugnet bei euch, wo der Satan wohnt.534 Aber nun zur Hauptthese. Der apostolische Stuhl ist dasselbe wie der Stuhl des Mose, über den der Erlöser sagt: Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer.535 Der Stuhl des Mose ist aber nicht Mose, noch ist er der erhöhte hölzerne oder steinerne Stuhl des Mose als des vorsitzenden Richters, noch ist er die Synagoge, sondern dieser Stuhl ist die Vollmacht, das Volk zu lehren und zu richten. Und dies wird in den Worten Christi gezeigt, wenn er sagt: auf Moses Stuhl ; und es folgt: was sie sagen, d. h. lehren aus der Vollmacht und Lehre Moses, das tut.536 Also ist der apostolische Stuhl die Vollmacht zu lehren und zu richten nach dem Gesetz Christi, das die Apostel gelehrt haben. Auf ihm sollen Männer thronen, die weise sind und den Herrn fürchten, in denen Wahrheit ist und die die Habsucht hassen.537 So heißt es nämlich in der Bibel, als Mose zu seinem Verwandten Jethro sagte: Das Volk kommt zu mir und erbittet einen Spruch Gottes. Wenn sich bei ihnen irgendein Streitfall ereignet, kommen sie zu mir, damit ich zwischen ihnen richte und ihnen Gottes Gebote und seine 532 533
Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homilia 33 zu Mt 19,28 (PG 6,814). Mt 19,28. 534 Offb 2,12 f mit 1,13. 535 Mt 23,2. 536 Mt 23,3. 537 Ex 18,21.
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Gesetze aufzeige. Siehe, das ist die Vollmacht zu richten und das Gesetz Gottes zu lehren. Jethro sagte zu ihm: Besorge dir aber aus dem ganzen Volk tüchtige Männer, die Gott fürchten, in denen die Wahrheit ist und die die Habsucht hassen.538 Und so hat es Mose getan. Hierzu sagt Lyra: Tüchtige, um durch Weisheit und Erfahrung zu richten. Daher hat auch eine andere Übersetzung: „Weise“, wo wir haben „Tüchtige und die Gott fürchten“ – mehr als die Menschen –, „in denen Wahrheit sei“, nämlich des Lebens, der Lehre und der Gerechtigkeit, „und die die Habsucht hassen“, weil gierige Menschen leicht durch Geschenke von der Gerechtigkeit abgebracht werden .539 Soweit Lyra. O, dass doch dieser apostolische Stuhl jetzt solche Männer hätte! Und wo kann man sie sehen? Gewiss in der römischen Kurie, wo sie auf dem Lehrstuhl des heiligen Petrus den Vorsitz haben, d.h. in der Vollmacht der Apostel sitzen, welche die Vollmacht ist, geistliche Dinge zu richten und das Gesetz des Herrn Jesu Christi zu lehren, sofern hier jene Habgier, Ungerechtigkeit und Überheblichkeit ausgeschlossen ist und ein heiliges Leben in Blüte steht. Der Erlöser selbst bezeugt es mit den Worten: Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das haltet und tut, aber nach ihren Werken handelt nicht. Denn sie reden und tun es nicht. Siehe, hier wird das Leben berührt, dem es an Werken des Gesetzes mangelt. Sie binden aber schwere und unerträgliche Bürden und legen sie auf die Schultern der Menschen. Siehe, das ist die unvernünftige Lehre und Ungerechtigkeit. Aber sie selbst wollen dafür keinen Finger krümmen. Siehe, das ist das verweichlichte Leben. Alle ihre Werke tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Siehe, das ist der eitle Ruhm. Sie dehnen ihre Gebotszettel aus in Bullen über die ganze Welt, als ob sie die ersten sind, die Gottes Gesetz befolgen. Hier ist die Heuchelei. Sie machen die Säume groß mit denen sie die Maultiere bedecken. Sie lieben die ersten Plätze bei den Mahlzeiten, zum Vergnügen und zur Auszeichnung, und die ersten Lehrstühle in den Synagogen , d. h. in den Versammlungen der Kirchen; denn einer will Kardinal sein, einer Patriarch, einer Erzbischof, und Grußbezeugungen mit Kniefall auf dem Markt, d. h. in der Öffentlichkeit, und von den Menschen Rabbi genannt zu werden,540 d. h. Lehrer, die die ganze Kirche Christi regieren. Darum nennen sie auch die römische Kurie die Lehrerin der Kirchen. Unter diesen Voraussetzungen sind sie möglicherweise Stühle, nicht Christi, sondern des Satans, und sitzen ihrer eigenen Lebensweise gemäß auf dem Stuhl der Pestilenz. Von dem sagt der Psalmist, indem 538
Ex 18,15 f.21.
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Nicolaus von Lyra, Biblia cum postillis zur Stelle.
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er von Christus Jesus spricht: Selig der Mann, der nicht in den Rat der Gottlosen geht und nicht auf der Straße der Sünder steht und auf dem Stuhl der Pestilenz nicht sitzt.541 Dazu sagt Augustinus: Das Wort: „Der auf dem Stuhl der Pestilenz nicht sitzt“, ist von unserem Herrn Jesus Christus, dem herrschaftlichen Menschen, zu verstehen. Er wollte nicht eine irdische Herrschaft mit Hochmut, der somit als Stuhl der Pestilenz recht verstanden wird, weil es fast niemanden gibt, der frei von Herrschsucht ist und menschlichen Ruhm nicht begehrt. Pestilenz ist nämlich eine weit verbreitete und alle oder fast alle erfassende Krankheit. Weiter unten: Gleichwohl wird „Stuhl“ passender als verderbliche Lehre verstanden, deren Rede wie ein Krebs schleicht.542 Soweit Augustinus, der den Stuhl der Pestilenz „Herrschlust“ und „verderbliche Lehre“ nennt. Auf diesem Stuhl sitzen die Oberen der Kirche und wollen weltlich herrschen und lehren, ihre eigenen Gebote und Lehren stärker als Gottes Gebote zu befolgen. Auf dem Stuhl aber, d. h. in der Vollmacht des Gesetzes und in der Lehre sitzt in Wahrheit, wer das Gesetz lehrt und die Gebote des Gesetzes tut. Daher sagt Augustinus über jenes Wort: Im Gesetz des Herrn ist sein Wille: Eines ist es im Gesetz zu sein, etwas anderes unter dem Gesetz zu sein. Wer im Gesetz ist, handelt nach dem Gesetz; wer unter dem Gesetz ist, wird nach dem Gesetz behandelt. 543 Siehe, wie deutlich die Erläuterung des Heiligen ist! Wer aber tut und lehrt, der ist groß im Himmelreich, sagt der Erlöser.544 Wahrhaftig sitzt also auf dem Lehrstuhl des Mose oder des Petrus, wer in der Vollmacht der Heiligen Schrift sowohl gut lebt als auch gut lehrt, wer nichts Fremdes zum Gesetz hinzufügt und von dem Stuhl nicht Gewinn und Geltung sucht. Dagegen sitzt auf unrechte Weise auf dem Stuhl, wer schlecht lehrt und schlecht lebt oder wer Gutes lehrt und schlecht lebt oder wer weder Gutes lehrt noch gut lebt. Und so sind leider viele, die suchen, was das Ihre ist, und nicht, was Jesu Christi ist. Von denen sagt unser Erlöser: Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Denn sie sagen und tun nicht danach . Siehe, so ist der eine Teil von ihnen! Und ebendort sagt er später: Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr vor den Menschen das Himmelreich verschließt! Ihr kommt nicht hinein vor den Menschen, und die eintreten wollen, lasst ihr nicht eintreten .545 Siehe, so ist der andere Teil von ihnen! Und er sagt: Ihr habt Gottes Gebot um eurer Überlieferungen willen ungültig gemacht. Ihr Heuchler, Jesaja hat recht über euch prophezeit, als er sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz 541 543
Vgl. Ps 1,1. 542 Augustinus, Enarrationes in psalmos 1,1 (PL 36,67) mit 2Tim 2,17. Ebd. 1,2 (PL 36,67). 544 Mt 5,19. 545 Mt 23,2–3.13.
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ist fern von mir. Umsonst verehren sie mich, wenn sie Lehren und Gebote von Menschen lehren.546 Nicht recht sitzen also auf dem Stuhl des Mose und des Petrus oder Christi, die Gutes lehren und es nicht tun; noch schlimmer die, die es weder lehren noch tun, am schlimmsten die, die das Gute zu lehren verhindern, am allerschlimmsten die, die schlecht leben, Gutes zu lehren verbieten und das Ihre lehren. Alle, die so sind, sind Diebe und Mörder, wie der wahre Hirte der Seelen sagt: Wie viele auch immer gekommen sind, die sind Diebe und Mörder.547 Alle solche Obengenannten – außer Christus –, die in den Schafstall gekommen sind, sind von woanders her auf den Stuhl gestiegen, suchen das Ihre, können somit Mietlinge genannt werden, nicht Hirten. Daher sagt der Erlöser, indem er aufzeigt, wer ein Mietling und kein Hirt ist: Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt und zerstreut die Schafe .548 Daher sagt Augustinus: Der Mietling spielt hier keine gute Rolle und ist doch in einer Hinsicht nützlich. Auch wird er nicht Mietling genannt, wenn er nicht von dem, der ihn mietet, Lohn erhielte. Wer ist also dieser Mietling, der sowohl tadelnswert als auch notwendig ist? Hier aber, meine Brüder, soll euch der Herr selbst leuchten, damit wir den Mietling erkennen und selbst nicht Mietlinge sind. Was also ist ein Mietling? Es sind gewisse Vorgesetzte innerhalb der Kirche, von denen der Apostel Paulus sagt: Sie suchen das Ihre, nicht, was Jesu Christi ist. Was heißt also: „das Ihre suchen“? Sie lieben Christum nicht ohne Gegenleistung, suchen nicht Gott um Gottes willen, streben nach weltlichen Vorteilen, gieren nach Gewinn und Ehren von Menschen. Wenn solche Dinge von einem Vorsteher geliebt werden und um derentwillen Gott gedient wird, so ist ein solcher ein Mietling und soll sich nicht zu den Söhnen rechnen. Von solchen nämlich sagt der Herr: Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin.549 So Augustinus. Dass aber solche Mietlinge auf dem Stuhl sitzen, sagt er nach einigen Zwischensätzen an derselben Stelle: Vernehmt aber, dass die Mietlinge notwendig sind; denn viele, die in der Kirche irdische Vorteile suchen, predigen doch Christum, und durch sie wird die Stimme Christi gehört, und die Schafe folgen nicht den Mietlingen, sondern der Stimme des Hirten durch den Mietling. Hört, wie die Mietlinge vom Herrn selbst dargestellt werden: „Die Schriftgelehrten und Pharisäer sitzen auf Moses Stuhl. Was sie sagen, das tut, aber was sie tun, das tut nicht.“ Was hat er 546 Mt 15,6–9; Jes 29,13. 547 Joh 10,8. gelium tractatus 46,5 (PL 35,1729).
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Joh 10,12.
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Augustinus, In Ioannis evan-
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anderes gesagt als: Hört durch die Mietlinge die Stimme des Hirten. Denn da sie auf dem Stuhl Moses sitzen, lehren sie das Gesetz Gottes, also lehrt Gott durch sie. Wenn sie aber ihre eigenen Lehren lehren wollen, sollt ihr nicht hören und nicht danach handeln; denn solche suchen wirklich das Ihre, nicht, was Jesu Christi ist. Kein Mietling aber hat es gewagt, zum Volk Gottes zu sagen: Ich suche das Deine, nicht, was Jesu Christi ist. So Augustinus. Und am Ende dieser Auslegung schließt er mit den Worten: Seht, weshalb vom Mietling gesagt wird, er flieht, wenn er den Wolf sieht. Warum? Weil er keine Sorge um die Schafe hat. Warum hat er keine Sorge um die Schafe? Weil er ein Mietling ist. Was ist ein Mietling? Einer, der zeitlichen Lohn sucht; er wird nicht in Ewigkeit im Hause wohnen.550 Dies sagt Augustinus und zeigt, dass es Mietlinge sind, die jetzt in der Kirche auf dem Stuhl sitzen, d. h. in der Vollmacht, das Gesetz Gottes zu lehren. Und ein weiteres Mal sagt er in der Johannesauslegung über jenes Wort im letzten Kapitel: Simon Petrus zog das Netz auf das Land voll großer Fische: „Der Geringste ist der, der durch Taten zunichtemacht, was er durch Worte lehrt.“ Und später: Um schließlich zu zeigen, dass diese Geringsten Verworfene sind, die mit dem Wort lehren und Gutes reden, was sie durch schlechtes Leben wieder zunichtemachen, und dass sie nicht nur gleichsam die Geringsten im ewigen Leben, sondern überhaupt nicht dort sein werden, fährt er, unmittelbar nachdem er gesagt hatte: „Der wird der Kleinste heißen im Himmelreich“, fort: „Denn ich sage euch: Wenn es um eure Gerechtigkeit nicht besser bestellt sein wird als um die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Jene sind gewiss Schriftgelehrte und Pharisäer, die auf Moses Stuhl sitzen. Und von ihnen sagt er: „Was sie euch sagen, das tut, aber was sie tun, das tut nicht“. Sie lehren durch Predigen, lösen aber die Sitten auf. 551 Und ähnlich spricht er über den Psalm: „Wohl denen, die ohne Tadel leben“, über den Vers: Wohl denen, die seine Zeugnisse halten, die ihn von ganzem Herzen suchen.552 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Stuhl Moses oder der apostolische Stuhl die Vollmacht ist, das Gesetz Gottes zu lehren. Oder er ist ein Geschlecht aufeinander folgender heiliger Päpste oder Bischöfe, das darauf bedacht ist, vorzüglicher zur Ehre Gottes zu urteilen, nützlicher für die heilige Kirche und heilsamer für Vorgesetzten wie Untergebenen, indem es keinen Unwürdigen befördert, nicht den Geeigneteren zurücksetzt und nicht ungeprüft jemanden aufgrund von Gewinn, Ebd. 46,6 (PL 35,1730) mit Mt 23,2; ebd. 46,8 (PL 35,1732). 551 Ebd. 122,9 (PL 35, 1964), mit Joh 21,11; Mt 5,19 f.; 23,3. 552 Augustinus, Enarrationes in psalmos 118,2 (PL 37,1502), mit Ps 119/Vg. 118,2.
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Blutsverwandtschaft oder irgendeiner persönlichen Vorliebe zu einem kirchlichen Amt zulässt. Und was apostolische Gebote sind, wird darüber hinaus daraus deutlich: Der Bischof von Lincoln antwortet in Erwiderung eines Briefes des römischen Bischofs bezüglich der Beförderung eines seiner Verwandten zum Kanonikus der Lincolner Kirche Folgendes: Den Geboten, die apostolisch sind, gehorche ich aus kindlicher Liebe völlig, ergeben und ehrerbietig. Denen aber, die den apostolischen Geboten entgegen sind, widerstehe ich, besorgt um die väterliche Ehre, und stelle mich ihnen entgegen. Zu beidem bin ich in Hinblick auf meine Sohnschaft durch göttliches Gebot verpflichtet. Apostolische Gebote sind nicht und können nicht andere sein als die der apostolischen Lehre und der Lehre unseres Herrn Jesu Christi selbst, des Lehrers der Apostel.553 So der Lincolner Bischof. Erwägen soll also jeder gläubige Jünger Christi, auf welche Weise ein Gebot vom Papst ausgeht, ob es ausdrücklich das Gebot eines Apostels oder des Gesetzes Christi ist oder seine Begründung in Christi Gesetz hat. Und wenn er dies erkennt, so soll er ehrfürchtig und demütig diesem Gebot gehorchen. Wenn er aber wirklich erkennt, dass ein päpstliches Gebot dem Gebot oder Rat Christi widerspricht oder der Kirche zum Schaden gereicht, so soll er ihm kühn entgegentreten, damit er nicht durch Zustimmung Teilnehmer an einem Verbrechen wird. Daher habe ich, vertrauend auf den Herrn und auf Christus Jesus, der mächtig und weise die Bekenner seiner Wahrheit schützt und sie mit dem Preis der ewigen Herrlichkeit belohnt, der Bulle des Papstes Alexander V. widerstanden, die im Jahre des Herrn 1409 Herr Zbyneˇ k, Erzbischof von Prag, erwirkt hat. In ihr gebietet der Papst, dass von keinem, wäre er auch durch apostolische oder sonstige Erlaubnis dazu befugt, Predigten oder Reden vor dem Volk gehalten werden dürfen außer in Bischofs-, Stifts-, Pfarr- oder Klosterkirchen oder den dazugehörigen Friedhöfen.554 Auch dieses Gebot, das den Werken und Worten Christi und seiner Apostel widerspricht, ist nicht apostolisch. Denn Christus hat auf dem Meer, in der Wüste, auf dem Feld, in Häusern, in Synagogen, in Ortschaften, auf Straßen zum Volk gepredigt und dies seinen Jüngern befohlen und gesagt: Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.555 Sie aber sind gegangen und haben überall gepredigt, Robert Grosseteste, Epistola 128 an Papst Innocenz IV. anlässlich einer Pfründenvergabe an einen Papstneffen an der Lincolner Kathedrale, 1253 (nach Wyclif). 554 Palacky´, Documenta, 378 f. 555 Mk 15,15. 553
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d. h. überall, wo ihnen durch Gottes Mithilfe das Volk zuhören wollte. Dieses Gebot also dient der Kirche zum Schaden, zum Anbinden des Wortes Gottes, dass es nicht mehr frei laufen kann, und drittens zum Vorurteil gegen die erbauten Kapellen, die von den Bischöfen bestätigt und vom apostolischen Stuhl rechtmäßig mit dem Vorrecht ausgestattet sind, dass das Wort Gottes in ihnen gepredigt werden kann. Man sieht, dass aus diesem Gebot keinerlei Förderung entspringt, sondern eine trügerische, unbeständige Täuschung. Sie besteht darin, dass Plätze, die dem Gottesdienst geweiht und rechtmäßig ermächtigt worden sind zum Zweck des Wortes Gottes, wegen persönlicher Bestrebungen oder ungerechter Bitten oder aus Rücksichtslosigkeit oder um zeitlicher Vorteile willen ihrer erlaubten Freiheiten beraubt werden. Daher habe ich in Bezug auf dieses Gebot den Papst Alexander selbst um eine genauere Erklärung desselben ersucht. Aber während ich meine Appellation betrieb, ist der Herr Papst bald darauf gestorben. Und während ich kein Gehör in der römischen Kurie fand, hat Herr Zbyneˇ k, der Erzbischof von Prag, Prozesse angestrebt, die mich belasten.556 Ihretwegen habe ich im Jahre des Herrn 1410 an den Papst Johannes XXIII. appelliert, der zwei Jahre hindurch meinen Anwälten und Beauftragten keinerlei Gehör gab. In der Zwischenzeit wurde ich immer mehr durch Prozesse bedrängt. Da mir also die Appellation von einem Papst an seinen Nachfolger nicht genützt hat, die Appellation über den Papst an das Konzil Verzögerung bedeutet und es eine unsichere Sache ist, Hilfe in Bedrängnis zu fordern, habe ich endlich an das Haupt der Kirche, den Herrn Jesus Christus, appelliert.557 Der ist nämlich jedem Papst im Entscheiden eines Rechtsstreits überlegen, weil er nicht irren und dem, der rechtmäßig Gerechtigkeit anstrebt, diese nicht verweigern kann. Auch kann er einen Menschen unter Zugrundelegung seines Gesetzes nicht unverdient verurteilen. Außerdem leistete ich Widerstand gegenüber der Fehlanordnung über die Ablässe, die im Jahre des Herrn 1412 durch Bullen des Papstes Johannes XXIII. erlassen bzw. veröffentlicht wurden, wovon ich an anderer Stelle genug gesagt habe. Der Papst kann rechtmäßig nur etwas als allgemein einzuhalten gebieten, was zur Vernichtung des Bösen und zum Aufbau der Kirche dient. Dies bezeugt der Apostel mit den Worten: Denn die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern mächtig vor Gott, um Befestigungen zu zerstören. Wir zerstören damit die Ratschläge und alles Hohe, das sich gegen die Erkenntnis Got556
Vgl. Palacky´, Documenta, 387–396.
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Vgl. Palacky´, Documenta, 464–466.
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tes erhebt. Und er sagt: Damit ich nicht Schärfe brauchen muss nach der Macht, welche mir der Herr gegeben hat zum Auferbauen und nicht zum Zerstören.558 Daher schreibt der Lincolner Bischof im Brief an den Papst Folgendes: Der apostolische Stuhl kann keine Kirchenspaltung veranlassen. Denn ihm ist – wie der Apostel bezeugt – vom Heiligsten der Heiligen, dem Herrn Jesus Christus, alle Art von Macht zum Aufbauen und nicht zum Zerstören übergeben worden. Und später: Darum kann Eure Weisheit auch nicht gegen mich hart urteilen, weil alle meine Rede oder Handlung auf diesem Gebiet nicht Widerrede oder Empörung ist, sondern die schuldige Ehrerbietung eines Sohnes gegen Vater und Mutter , nämlich gegenüber Christus und der Kirche, weil sie Befolgung des göttlichen Gebotes sind. Dies kurz zusammenfassend, sage ich, dass die Heiligkeit des apostolischen Stuhles nur etwas hinsichtlich des Auferbauens, nicht aber des Zerstörens vermag. Das nämlich ist die Fülle der Macht: alles zum Auferbauen zu vermögen. Das aber, was man „Amtsübertragungen“ nennt, dient nicht zum Auferbauen, sondern zur offensichtlichen Zerstörung. Also kann sie der überaus gesegnete apostolische Stuhl nicht vornehmen .559 Dies sagt der Bischof von Lincoln, der von Papst Innozenz an den Richterstuhl Christi appelliert hat. In diesem Zusammenhang erzählt der Mönch von Cestria, dass man beim Tode des Robert von Lincoln eine Stimme am Hofe des Papst gehört hat: „Komm, du Elender, zum Gericht!“ Und am Morgen wurde der Papst, wie mit der Spitze eines Stabes in die Seite gestochen, tot aufgefunden. Obwohl der Lincolner offenkundig durch Wunderzeichen glänzte, wurde dennoch seitens der Kurie nicht erlaubt, ihn in das Verzeichnis der Heiligen aufzunehmen.560 Und offensichtlich kann der Papst irren, und zwar umso schwerer, als sich im gegebenen Fall seine Sünde reichlicher, nachhaltiger und unüberwindbarer vervielfacht, wie Bernhard im Buch an Papst Eugen sagt: Reichlicher, wenn sie über die ganze Christenheit verbreitet ist; nachhaltiger, wenn sie sich auf die Entziehung der geistlichen Güter bezieht, die die Seelsorge betrifft; und unüberwindlicher, wenn niemand ihm zu widersprechen wagt, entweder wegen seines Bündnisses mit dem weltlichen Arm, dann wegen der versteckten Strafen, die gegen die Söhne des Gehorsams geschleudert werden, dann wegen der Beförderungen und geistlichen Würden, die er seinen Mithelfern vorbehält.561 Darum, wie die Stellung des Papstes, wenn er der Kirche 2Kor 10,4 f.; 13,10. 559 Robert Grosseteste, Epistola 128 (nach Wyclif). 560 Monachus Cestrensis: Polychronicon lib. 7 c. 36. 561 Vgl. Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenium papam lib. 4 c. 2 f. (PL 182,764–777).
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nützt, mehr Verdienst erwirbt, so verliert die verkehrte Stellung des Papstes in der Person eines Menschen, der die Stellung missbraucht, mehr an Verdienst, weil er der Kirche weit mehr schadet. Zeichen aber des Versagens eines Papstes ist es, wenn er das Gesetz Gottes und die frommen Bekenntnisse des Evangeliums hintansetzt und menschlichen Überlieferungen anhängt. Deshalb beschuldigte Bernhard Papst Eugen, weil der erlaubt hatte, menschliche Gesetze im Palast zu schwatzen und das Gesetz Christi – das unbefleckte Gesetz, das die Seelen bekehrt – zu verschweigen. Ein zweites Zeichen ist es, wenn Papst und kirchliche Vorgesetzte die Lebensführung Christi verlassen und auf weltliche Weise in die Welt verstrickt sind. Ein drittes Zeichen ist, wenn er weltliche Kaufleute über Christi Amt setzt und sich eifrig bemüht, arme Kirche mit Abgaben zu belasten – vor allem, um sein weltliches Leben weiterzuführen. Ein viertes Zeichen ist es, wenn er durch sein eigenes Gebot oder das Einsetzen ungeeigneter Leute in die Seelsorge die Seelen, die er retten soll, des Wortes Gottes beraubt. Das erwog der Lincolner Bischof, der keinen Verwandten des Papstes als Kanonikus der Lincolner Kirche zulassen wollte, und gab dafür unter anderem eine taugliche Begründung: Nach der Sünde des Luzifer, welche auch am Ende der Zeit die Sünde des Sohnes der Verderbnis, des Antichrist, sein wird – ihn wird der Herr Jesus mit dem Hauch seines Mundes töten –, ist und kann nicht etwas Anderes der apostolischen oder evangelischen Lehre so zuwider oder gerade entgegengesetzt sein – dem Herrn Jesus Christus selbst so verhasst, verabscheuungswürdig und verwünschenswert sowie dem menschlichen Geschlecht so verderblich –, als die Seelen durch Betrug am Hirtendienst zu töten und zu verderben, die durch Dienst und Amt der Seelsorge lebendig gemacht und gerettet werden sollen. Diese Sünde begehen nach den überdeutlichen Zeugnissen der Heiligen Schrift diejenigen, die im Besitz der Vollmacht der Seelsorge ihren fleischlichen Begierden an Milch und Wolle der Schafe Christi Genüge tun und die Pflichten des Seelsorgeamtes nicht ausüben, die sie schuldig sind, um das ewige Heils für die Schafe Christi zu bewirken. Dieses Nichtausüben des Hirtendienstes ist nach dem Zeugnis der Schrift gleichbedeutend mit dem Töten und Verderben der Schafe Christi. Dass aber diese zwei Arten von Sünden, wenn auch auf verschiedene Art, die schlimmsten sind und jede andere Art der Sünde unermesslich übertreffen, wird daraus offenkundig, dass sie zwei anderen genannten besten Dingen – freilich auf ungleiche und verschiedene Weise – unmittelbar entgegengesetzt sind: Das Schlechteste nämlich ist, was dem Besten entgegengesetzt ist. Wie schwer wiegt doch schon diese eine Art von Sünde bei den genannten Sündern: die Verachtung der Gottheit
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selbst als des allüberragend und übernatürlich Besten. Die zweite Art von Sünde aber ist die Vernichtung der Gottähnlichkeit und der Vergöttlichung als des wesentlich und natürlich Besten, das aus der gnädig gewährten Teilhabe am göttlichen Lichtglanz entsteht. Bei guten Dingen ist die Ursache des Guten besser als das Verursachte, und bei bösen Dingen ist die Ursache des Bösen schlechter als das Verursachte. Deshalb sind diejenigen, die solche schlimmsten Mörder der Gottähnlichkeit und Vergöttlichung unter den Schafen Christi in die Kirche Christi einführen, offenkundig schlimmer als die schlimmsten Mörder selbst. Sie stehen dem Luzifer und Antichrist näher als die Eingeführten und übertreffen sich in dieser Schlechtigkeit lediglich stufenweise. Sie, die aus größerer und göttlicherer Vollmacht, die ihnen zum Auferbauen, nicht aber zum Zerstören gegeben ist, sollten eher gehalten sein, von der Kirche Gottes solche schlimmsten Mörder auszuschließen und auszurotten .562 So der Lincolner Bischof. So kurz gefasst will er ausdrücken, dass das Töten und Verderben der Schafe Christi zwei schlimmste Sünden sind, obgleich in verschiedener Weise. Sie sind das aus dem Grunde, weil das Lebendigmachen der Schafe durch die Gnade und das Führen zur Herrlichkeit für die Schafe zwei beste Güter sind, denen jene zwei, Töten und Verderben, obgleich in verschiedener Weise, entgegengesetzt sind. Und weil das Lebendigmachen durch Gnade Sache der Gottheit ist, die das höchste Gut ist, ist die gewisse Teilhabe und Verherrlichung eine gewisse Vergöttlichung des Menschen. Weil also das Töten der Gegensatz von Lebendigmachen und Vernichten der Gegensatz von Verherrlichen ist, folgt, dass diese beiden Sünden in dem Maße schwerer sind, in welchem Maße jene Güter wichtiger sind, denen sie entgegengesetzt sind. Und da Gott von sich aus die Ursache dieser Güter ist, folgt, dass in dem Maße die Mörder und Verderber der Schafe um so viel schlechter als die anderen sind, wie Töten und Verderben der Schafe schlimmere Verbrechen sind. Und offensichtlich sind das die schlimmsten Diener des Antichrist und Satans, die die Seelen töten. Aus diesen Schlüssen lässt sich festhalten, dass sich das Auflehnen gegen einen vom rechten Weg abweichenden Papst heißt, dem Herrn Christus zu gehorchen. Das trifft besonders für die Ämtervergaben zu, die den Eindruck persönlicher Begünstigung machen. Darum rufe ich die Welt zum Zeugen an, dass die päpstliche Pfründenausteilung in der Kirche weit und breit Mietlinge aussät und von Seiten der Päpste Gelegenheit gibt, die statthalterische Macht allzu sehr emporzuheben, 562
Robert Grosseteste, Epistola 128 (nach Wyclif).
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allzu sehr auf weltliche Würde Wert zu legen und allzu sehr nach einer Heiligkeit zu trachten, die auf Einbildung beruht. Jene Doktoren aber, die weltlichen Lohn vom Papst erwarten oder knechtisch seine Macht fürchten und darum sagen, dass seine Macht unbeschränkt ist, er nicht sündigen kann und keiner Kritik unterworfen ist, dass ihm erlaubt ist, alles zu tun, was er will, sind falsche Propheten und falsche Apostel des Antichrist. Aus dem Gesagten ist „Apostolischer Stuhl“ offenbar die Vollmacht, zu richten und das Gesetz Christi zu lehren. Oder zweitens ein Geschlecht heiliger Päpste, die aufeinander folgen, wie gesagt ist. Und „Apostolischer Stuhl“ wird auf diese Weise entsprechend der Stelle im Kirchenrecht verstanden, wo Papst Anaklet sagt: Dieser apostolische Stuhl aber ist als Haupt und Türangel, wie bereits gesagt ist, vom Herrn und keinem anderen bestellt worden. Und wie die Tür mittels Türangel gelenkt wird, so werden durch die Vollmacht dieses heiligen apostolischen Stuhles aufgrund göttlicher Anordnung alle anderen Kirchen regiert.563 Jener Papst zielte auf sich selbst als höchste Autorität ab und dass er von niemandem regiert werden dürfte, dass er selbst Haupt und Türangel wäre: Haupt im Vorsitz, Türangel im Regieren. Aber er hat ein ziemlich schwaches Argument, seine Absicht zu beweisen. Denn er führt den Beweis durch einen Vergleich und sagt: Wie die Tür mittels Türangel gelenkt wird, so werden durch die Vollmacht dieses heiligen apostolischen Stuhles aufgrund göttlicher Anordnung alle Kirchen regiert . Das hätte ausgereicht zu beweisen, dass Papst und Kardinäle sich selbst gut regierten. Denn wie mittels einer Angel nur eine Tür gelenkt wird, so wäre es nach ihrer Lehre und Vollmacht gut, dass sie selbst sich gut regierten, und danach, dass auch andere Kirchen so regiert würden. Denn wie regieren jene unsere Prager Kirche, wenn nicht dadurch, dass sie den Habgierigen Pfründen austeilen und Gelder einsammeln? Wo aber bleibt die Lehre oder eine andere Ausübung der geistlichen Vollmacht? Drittens wird „Stuhl“ für Macht gebraucht, und so wird es im Kirchenrecht verstanden, wozu Papst Nikolaus sagt: Der geringere Stuhl , d. h. ein Mensch mit niederer Macht, kann den höheren nicht lossprechen. Und dies schließt er, reichlich unverschämt, aus Jes 10,15: Kann sich denn eine Sense rühmen gegen den, der sich an ihr schneidet, oder eine Säge trotzen gegen den, der sie zieht?, und behauptet: Wenn wir dies aus der Heiligen Schrift als sehr taugliches Argument zitieren, haben wir damit sonnenklar dargestellt, d. h. bewiesen, dass keiner, der geringere 563
Decr. Grat I dist. 22 c. 2: Sacrosancta (Friedberg 1,73).
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Vollmacht hat, den, der größere Macht hat, seinem Rechtsspruch unterstellen oder eigenen Entscheidungen unterwerfen kann .564 Seht, dort nennt er „niederen Stuhl“ einen Menschen mit geringerer Vollmacht und „höheren“ Stuhl einen Menschen mit größerer Vollmacht. Wie aber wird „Stuhl“ verstanden, wenn Pelagius sagt: Der erste Stuhl des Apostels Petrus ist die römische Kirche, die nicht Fleck noch Runzel noch etwas derartiges hat.565 Seht, dort wird gesagt, dass der Stuhl Petri die römische Kirche ist. Aber wie lässt sich als wahr erweisen, dass sie ohne Fleck und Runzel ist, weil weder der Papst jener Stuhl ohne die Kirche ist, noch der Papst mit den Kardinälen, die nicht ohne Flecken sind, und auch eine steinerne Kirche es nicht ist? Wahrlich, ich kann es nicht anders auffassen, als dass dieser Stuhl alle diejenigen sind, die das Leben des Petrus gemäß dem Gesetz Christi bis zum Ende nachahmen. Diese nämlich werden zuerst im himmlischen Vaterland ohne Flecken und Runzel sein. Ob das aber die Meinung dieses Papstes gewesen ist, weiß ich nicht. Daher sagt Augustinus, über den Psalm: Ich freute mich über die, die mir sagten, über den Vers: Denn dort saßen die Stühle zum Gericht, zum Thema Folgendes: Auf welche Weise haben dort die Stühle zum Gericht gesessen? Ein seltsames Rätsel, eine seltsame Frage, wenn als „Stuhl“ nicht das verstanden wird, was die Griechen „Thron“ nennen. „Throne“ nennen die Griechen „Sessel“, gleichsam „Ehrensessel“. Also, meine Brüder, es ist nicht seltsam, wenn Menschen auf Stühlen, auf Sesseln sitzen. Aber dass Stühle selbst sitzen, wie können wir das erklären? Als ob jemand sagte: Hier sollen Lehrstühle sitzen, oder: Hier sollen Sessel sitzen. Im Sessel kann man sitzen, auf Stühlen oder Lehrstühlen ebenso. Stühle selbst sitzen nicht. Was ist das also, was dort steht: „Die Stühle saßen zum Gericht?“ Sicher seid ihr gewohnt zu hören, dass Gott sagt: „Der Himmel ist mein Thron, die Erde ist der Schemel für meine Füße.“ 566 Im Lateinischen aber wird dies so genannt: „Der Himmel aber ist mein Stuhl.“ Welche sind des Himmels „Stuhl“, wenn nicht die Gerechten? Welche sind „die Himmel“, wenn nicht die Gerechten? Welche sind „Himmel“, wenn nicht die „Stühle“ des Himmels selbst? Denn was ist die Kirche, wenn nicht die Gerechten selbst in der Kirche? So wie es viele einzelne Kirchen gibt, so wahr gibt es die eine Kirche. So also sind auch die Gerechten „der Himmel“, so wahr sie „Stühle des Himmels“ sind. Auf ihnen aber sitzt Gott, und von ihnen her richtet Gott. Und nicht ohne Grund ist gesagt worden: „Die Himmel erzählen die Ehre Decr. Grat. I dist. 21 c. 4: Inferior (Friedberg 1,70). Quamvis (Friedberg 1,70). 566 Vgl. Apg 7,49.
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Gottes.“ 567 Die Apostel aber sind Himmel geworden, weil sie gerecht gemacht worden sind. Wie ist der Sünder zu Erde geworden? Ihm ward gesagt: „Erde bist du, und zur Erde wirst du zurückkehren“ 568: So sind die Gerechtgewordenen Himmel geworden. Sie haben Gott getragen, und von ihnen aus leuchtete Gott Wunder, donnerte Schrecken und regnete Tröstungen. Sie waren also der Himmel und erzählten die Ehre Gottes. Denn, damit ihr wisst, dass sie „die Himmel“ genannt sind, spricht er dort im selben Psalm: „Ihre Stimme geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende.“ 569 Du fragst: „Wessen?“ Und du wirst als Antwort finden: „die der Himmel“. Wenn also der Himmel der Stuhl Gottes ist, die Apostel aber der Himmel und sie zu Gottes Stuhl geworden sind, sind sie Gottes Thron. An anderer Stelle ist gesagt worden: „Die Seele des Gerechten ist der Thron der Weisheit.“ Eine große Sache ist dieser Ausspruch: „Eines Gerechten Seele ist der Weisheit Thron“, d. h. in der Seele eines Gerechten sitzt die Weisheit wie auf ihrem Thron und fällt ihre Urteile von dort aus; also sind sie die Throne der Weisheit und darum hat der Herr zu ihnen gesagt: „Ihr werdet auf zwölf Stühlen sitzen und die zwölf Geschlechter Israel richten.“ 570 So wie sie selbst auf zwölf Stühlen sitzen werden, so sind sie auch selbst Gottes Stuhl. Von ihnen ist also jenes oben erörterte Wort gesagt: „Hier nämlich haben die Stühle gesessen.“ Wie werden hier die Stühle sitzen, die Stühle, die gesessen haben? Und wer sind die Stühle, von denen gesagt ist: „Die Seele der Gerechten ist der Weisheit Stuhl.“ Wer sind die Stühle des Himmels? Die Himmel. Wer sind die Himmel? Der Himmel. Was ist der Himmel? Das ist der Himmel, von dem der Herr sagt: „Der Himmel ist mein Stuhl.“ Und die Gerechten selbst sind Stühle und haben Stühle, und als Stühle werden sie im himmlischen Jerusalem sitzen. Wozu? Zum Gericht. „Ihr werdet sitzen“, sagt er, „auf zwölf Stühlen und die zwölf Geschlechter Israel richten.“ Wen werden sie richten? Nach unten hin: „Die, die auf Erden sind.“ Wer wird richten? Die Himmel geworden sind.571 So spricht Augustinus und zeigt aus der Schrift, dass die Gerechten der Stuhl Gottes sind und die, die richten werden. Viertens wird „Stuhl“ gebraucht für den Ort, an dem sich ein Apostel eine Zeitlang aufgehalten und das Volk nach dem Gesetz Christi gelenkt hat. Und auf diese Weise war Jerusalem nicht die bloße Stadt, sondern mit der Bevölkerung zusammen der Stuhl des Apostels Jakobus, der dort, von den Aposteln erwählt, als erster Bischof vom Herrn eingesetzt worden ist. Und Antiochia war der erste Stuhl des Apostels 567 Vgl. Ps 19,2. 568 Vgl. Gen 3,19. 569 Ps 19,5. 570 Vgl. Mt 19,5. Enarrationes in Psalmos, zu Ps 122,5/Vg. 121 (PL 37,1625 f.).
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Petrus. Und so sagt Papst Marcellus: Wir bitten euch, ihr Brüder, nichts anderes zu lehren oder zu denken, als was ihr vom seligen Apostel Petrus und den übrigen Aposteln und Vätern empfangen habt. Und später: Sein Stuhl, nämlich der Stuhl des Petrus, war zuerst bei euch, ist aber später auf Befehl des Herrn nach Rom übertragen worden. Ihm stehen wir durch den Beistand der göttlichen Gnade heute vor. Wenn aber eure Kirche von Antiochia, die einst die erste war, hinter dem römischen Stuhl zurückgetreten ist, so gibt es keine, die nicht seiner Gerichtsbarkeit unterworfen wäre .572 Seht, dieser Papst hat sehr schön begonnen, aber er schließt sehr verfänglich. Zuerst bittet er: Die Priester sollten nichts anderes in Antiochia lehren, als was sie von Petrus und den anderen Aposteln und von den heiligen Vätern empfangen hätten. O, wenn dies doch alle Geistlichen täten! Dann sagt er, dass Petri Stuhl bei ihnen gewesen sei, d. h. der erste bekannte Ort seines Aufenthalts, an dem er wie ein Bischof das Gesetz Christi gelehrt hat. Und dies ist wahr. Aber wenn er sagt: Später aber ist er nach Rom übertragen worden , nämlich der Stuhl Petri, weiß ich schon nicht mehr genau, welcher Stuhl das ist, der so übertragen worden sein soll. Denn die Kirche ist nicht übertragen worden, der Ort nicht und das Volk nicht. Sagt man, der Stuhl ist die Vollmacht des Petrus, das Gesetz zu lehren, dann war diese Vollmacht zur Zeit des Petrus in Antiochia und in Rom. Was ist also übertragen worden, außer Petrus, als er von Antiochia nach Rom kam? Aber dem Petrus hat Papst Marcellus nicht vorgestanden, noch ist Petrus jetzt der römische Stuhl. Was also hat es dort mit jenem Pronomen dem auf sich, wenn er sagt: dem wir vorstehen ? Wahrlich, sehr verfänglich spricht dieser Papst. Denn er war nach der Schenkung als Bischof von Rom bestrebt, dass durch die Vollmacht des Kaisers die römischen Kirche der „erste“, d.h. der „würdigste Stuhl“ genannt wurde. Dem stand er selbst vor. Und so strebte er danach, dass die Priester von Antiochia ihm unterstellt würden. Ob das Petrus, als er in Rom wohnte, beabsichtigt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass er in seinen Briefen wünschte, dass sie den Fußspuren Christi nachfolgen sollten. Wie bis heute viele Päpste und Kanonisten unklar vom apostolischen Stuhl reden, will ich übergeben. Aber ich behaupte freilich nicht, dass die Stadt Rom mit solcher Notwendigkeit der apostolische Stuhl sei, dass ohne sie die Kirche Jesu Christi nicht bestehen könnte. Denn wenn möglicherweise Rom zerstört wäre wie Sodom, könnte doch noch die christliche Kirche bestehen. Auch ist nicht wahr, dass überall dort, wo der Papst ist, Rom 572
Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 15: Rogamus (Friedberg 1,970).
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sei. Wahr ist allerdings: Überall, wo der Papst ist, solange er hier auf der Erde ist, dort ist die Vollmacht Petri im Papst, solange er nicht vom Gesetz unseres Herrn Jesu Christi abweicht. Und so viel möchte ich für den Moment vom apostolischen Stuhl gesagt haben. Kapitel 19 Nachdem gesagt ist, was der Apostolische Stuhl ist, muss gesagt werden, in welchen Dingen dem apostolischen Stuhl zu gehorchen ist. Die genannten Doktoren sagen, dass die Untergebenen in all den Dingen Gehorsam leisten müssen, bei denen nicht das reine Gute verboten oder das reine Böse geboten wird, was nach Art, Ort, Zeit oder Person sowohl gut als auch böse sein kann. Und das beweisen sie durch vier geeignete Zeugen, nämlich durch den Erlöser, Bernhard, Augustinus und Hieronymus. Und weil die Doktoren die Unterscheidung Bernhards vom reinen Guten und reinen Bösen angenommen haben, ist festzustellen, dass Bernhard, nachdem er gezeigt hat, dass man niemandem im Bösen gehorchen darf, den Schluss zieht: Also steht fest, dass Böses zu tun, auf wessen Menschen Befehl es auch sei, nicht Gehorsam, sondern vielmehr Ungehorsam ist. Allerdings muss man dabei beachten, dass einige Dinge rein gut und einige rein böse sind, und dass in Letzteren die Menschen nicht gehorchen dürfen. Wie jene guten nicht unterlassen werden dürfen, wenn sie auch verboten würden, so dürfen die bösen nicht getan werden, auch wenn sie befohlen würden. Ferner gibt es zwischen diesen einige mittlere Dinge, die ja nach Art, Ort, Zeit oder Person sowohl gut als auch böse sein können. Und in diesen Dingen ist ein Gesetz des Gehorsam aufgestellt, gleichwie beim Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der mitten im Paradies stand. Bei diesen Dingen ist es in der Tat nicht recht, unsere Ansicht der der Magister vorzuziehen, und keineswegs dürfen bei ihnen Befehl oder Verbot der Vorgesetzten missachtet werden. Später sagt er: Glaube, Hoffnung und Liebe und ähnliche Dinge sind rein gute Dinge und können weder auf böse Weise ausgeübt, noch auf gute Weise verboten oder nicht unterlassen werden. Rein böse sind: Diebstahl, Sakrileg, Ehebruch und sonstige ähnliche Dinge, die auf gute Weise keineswegs befohlen oder vollbracht werden, noch auf schlechte Weise weder verboten noch unterlassen werden können. Gegen solche Art guter Dinge gibt es kein Gesetz. Denn niemandes Verbot kann den Geboten zuwider laufen, niemandes Befehl ein Vorrecht auf Verbotenes geben. Außerdem gibt es mittlere Dinge, die bekanntlich von sich aus weder gut noch böse sind. Sie können aber ohne Unterschied gleichermaßen sowohl auf gute als auch auf böse Weise befohlen wie auch verboten werden. Von den Untergebenen aber kann in diesen Dingen nicht auf
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böse Weise gehorcht werden. Darunter zählen, um als Beispiel anzuführen: Fasten, Wachen, Lesen und derartiges. Man muss aber wissen, dass einige mittlere Dinge die Beschaffenheit reiner, zumeist aber böser Dinge annehmen. Denn während eine Ehe geschlossen werden kann oder nicht, so darf doch eine vollzogene nicht mehr aufgelöst werden. Was also vor der Hochzeit ein Mittleres sein konnte, erlangt bei den Vermählten die Kraft eines rein Guten. Ebenso ist Eigentum zu besitzen für einen Menschen in der Welt ein Mittleres, weil es erlaubt ist, nicht zu besitzen. Für einen Mönch aber, weil ihm Besitz zu haben nicht erlaubt ist, ist es ein rein Böses.573 Soweit Bernhard. Festzuhalten ist auch, dass man im Sprachgebrauch derer, die über die menschlichen Handlungen sprechen, ein Werk „neutral“ nennt, das wie Bauen oder Weben in seiner ursprünglichen Zielsetzung weder ein sittlich Gutes noch ein lasterhaft Böses genannt wird. Man nennt aber Werke ihrer Art nach „gut“ oder „schlecht“, die das Wesen oder die Natur eines in sittlicher Hinsicht guten oder bösen Werkes bezeichnen. Aber sie schließen in sich nicht die äußeren Umstände ein, die die Natur solcher Handlungen der Gattung der Tugend oder des Lasters zuordnen, wie z. B. Almosengeben oder einen Menschen töten. Beides kann nämlich auf gute wie auf böse Art geschehen, je nach der Verschiedenheit der Ursache oder der Absicht des Handelnden. Denn Almosen aus eitlem Ruhm zu geben ist böse, ebenso wie es gut ist, einen Menschen kraft der Vollmacht Gottes zu töten, damit er die Kirche nicht verderbe. Einige Werke aber sind hinzugefügt, die schlechthin „sittlich gut“ oder „böse“ genannt werden, z. B. Ehebrechen und Stehlen als Laster bzw. aus reiner Liebe Gott und den Nächsten lieben als Tugend. Kurz gesagt: Eine Handlung ist schlechthin gut, z. B. Gott aus reiner Liebe lieben, eine andere schlechthin böse, z. B. Gott hassen. Ebenso gibt es etwas, was seiner Art nach gut ist, was nämlich den Menschen eher geneigt macht zu urteilen, dass es gut sei, als zu urteilen, dass es schlecht sei, z. B. Fasten, Almosen geben. Ein anderes ist seiner Art nach böse, was nämlich den Menschen eher geneigt macht zu urteilen, dass es schlecht sei, als zu urteilen, dass es gut sei, obwohl es auf gute Art geschehen kann, z. B. einen Menschen töten. Aber ein „neutrales Werk“ wird die Handlung genannt, die den Menschen nicht dazu geneigt macht zu urteilen, dass sie eher gut als eher schlecht sei, auch nicht umgekehrt, z. B. Weben, Essen, Pflügen oder Laufen. Daher nimmt das schlechthin gute Werk die erste Stelle ein, das der Art nach gute Werk gleichsam die Mittelstellung und das neutrale Werk die 573
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unterste Stellung. Je ein Beispiel zu dieser dreifachen Unterscheidung: Gott lieben, Fasten und Weben. Ähnlich ist es in ihren Gegensätzen. Denn eine Handlung ist schlechthin böse, z. B. Gott hassen, oder der Art nach böse, z. B. einen Menschen töten. Aber ein drittes, nämlich ein neutrales Böses, gibt es nicht, weil es dann nicht neutral wäre. Man nennt es nämlich „neutral“, weil es nicht mehr zur Tugend als zum Laster neigt oder umgekehrt. Weiter ist festzuhalten, dass eine unmittelbare Zweiteilung der menschlichen Handlungen besteht: Entweder sind sie tugendhaft oder lasterhaft. Dies ist offenkundig. Wenn nämlich ein Mensch lasterhaft ist und irgendetwas tut, dann handelt er lasterhaft. Und wenn er tugendhaft ist und irgendetwas tut, dann handelt er tugendhaft. Denn wie das Laster, das man „Verbrechen“ oder „Todsünde“ nennt, insgesamt die Handlungen des Subjekts bzw. des Menschen vergiftet, so belebt die Tugend alle Handlungen des tugendhaften Menschen in dem Maße, dass er, wenn er im Gnadenstand lebt, sogar, wie es heißt, im Schlaf Verdienst erwirbt und betet und in allem, was auch immer er tut, wie es der heilige Augustinus, Gregor und andere sagen. Und dieser Ausspruch gründet sich auf jenes Wort des Erlösers bei Lukas: Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib hell sein.574 D. h., wenn in der Gnade die Absicht zum Werk gut ist, dann ist dein ganzer Leib – die ganze Ansammlung deiner Werke – hell, weil sie rein ist vor Gott. Wenn aber dein Auge, d. h. deine Gesinnung, ein Schalk ist , vom Laster verkrümmt, so wird dein ganzer Leib, nämlich der Werke, finster, d. h. lasterhaft sein. Von daher befiehlt der Apostel Paulus etwas Gutes, wenn er sagt: Tut alles zur Ehre Gottes und an anderer Stelle: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen .575 Darum ist die gesamte Lebensführung in der Liebe tugendhaft und die ganze Lebensführung eines Menschen außerhalb der Liebe lasterhaft. Daraus wird klar: So wie niemand neutral sein kann in Hinsicht auf Tugend oder Laster, weil er notwendigerweise entweder in der Gnade oder außerhalb der Gnade Gottes sein muss, so kann keine Lebensführung eines Menschen neutral sein. In tugendhaften Dingen also muss man einem geistlichen Vorgesetzten gehorchen, ihm in lasterhaften aber kühn widerstehen. Nachdem dies festgehalten ist und so auch in Kapitel 17 über den Gehorsam steht,576 soll sich jeder Gläubige hüten zu glauben, man müsse, was immer es sei, wie ein Gebot Gottes befolgen, das der Papst oder ein geistlicher Vorgesetzter befehlen, als ob jener Vorgesetzte nicht irren könnte, so wie Christus nicht irren kann. Zweitens soll er 574
Lk 11,34.
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1Kor 10,31; 16,14.
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S. o. S. 493, 7–25.
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von den Geboten im Gesetz des Herrn begreifen, dass uns einige Dinge auf unklare Weise befohlen werden, einige klar und bestimmt. Auf unklare Weise werden die Dinge vorgeschrieben, die wir beständig verdienstlich tun sollen in der Weise, wie Augustinus sagt, dass die ganze Wahrheit in der Schrift enthalten ist. Ein befohlenes Werk aber, für das kein Grund vorliegt oder kein Nutzen für die Kirche Christi, ist weder ausdrücklich noch inhaltlich in der Heiligen Schrift enthalten. Und wenn ein solches vom Papst oder von einem anderen geistlichen Vorgesetzten befohlen würde, ist der Untergebene nicht verpflichtet, es zu tun, um dadurch nicht gegen die Freiheit des Gesetzes des Herrn zu verstoßen. Da wir es als Glaubenssache annehmen müssen, dass Gott uns nichts zu tun befiehlt, als was für uns verdienstlich und vernünftig ist und uns folglich zum Heil dient, ergibt sich die Schlussfolgerung: Den tugendhaften Vorgesetzten, sogar den ungelehrten, sind die Untergebenen verpflichtet, willig und freudig zu gehorchen, wenn sie befehlen, die Gebote des Herrn Jesu Christi zu erfüllen. Diese Schlussfolgerung ist klar. Denn Christus sagt: Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut,577 alles, nämlich alle meine Gebote. Dazu sagt Augustinus, wie im vorangehenden Kapitel gesagt worden ist: Indem sie auf dem Stuhl des Mose sitzen, lehren sie Gottes Gesetz, also lehrt Gott durch sie; wenn sie aber ihre eigenen Dinge lehren wollen, so hört nicht darauf und tut es nicht .578 So Augustinus. Und im Hinblick darauf sagt auch Christus: Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich ,579 und folglich Gott den Vater, denn es wird ihnen nicht gehorcht als Menschen, sondern als Dienern Gottes, dem eigentlich der Gehorsam gilt. Daher darf niemand einem Menschen auch nur in einer geringsten Angelegenheit gehorchen, die dem göttlichen Gebot widerspricht. Das wird vom seligen Bernhard „göttlicher Ratschlag“ genannt. Denn Petrus sagt: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen .580 Darum, wie uns befohlen wird, den Vorgesetzten in erlaubten und ehrbaren Dingen unter Berücksichtigung der Umstände zu gehorchen, so wird uns befohlen, ihnen ins Angesicht zu widerstehen, wenn sie den göttlichen Ratschlägen oder Geboten entgegengesetzt wandeln. Wenn Paulus, der befiehlt, dass wir seine Nachahmer sein sollen, wegen einer leichten Schuld dem Petrus ins Angesicht widerstand,581 so sind wir umso mehr gehalten, in mittleren oder neutralen Werken dem Paulus 577
14.
Mt 23, 2 f.
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S. o. S. 500, 2–5.
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Lk 10,16.
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Apg 5,29.
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1Kor 4,16; Gal 2, 11–
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zu gehorchen und jedem anderen Autor der Heiligen Schrift als diesem römischen Bischof. Und da wir nicht gehalten sind, irgendeinem Apostel zu folgen, soweit er nicht dem Herrn Jesu Christus folgt, wie es sich aus der Definition eines Apostels ergibt, so müssen wir offensichtlich keinem geistlichen Vorgesetzten, der doch im Rang nach den heiligen Aposteln kommt, gehorchen, soweit er nicht Christi Ratschläge oder Gebote befiehlt oder rät. Deshalb nennt der heilige Apostel, als er rät, dass wir seine Nachahmer sein sollen, sofort die Form der Nachfolge, indem er hinzufügt: gleichwie ich Nachahmer Christi bin.582 Deshalb muss ein urteilsfähiger Untergebener das Gebot des geistlichen Vorgesetzten prüfen, wenn er vom Gesetz Christi oder seiner Regel abzuweichen scheint. Denn nicht jeder geistliche Vorgesetzte ist untadelig. Und daher hat Christus öfter befohlen, bei den Werken wachsam zu sein, und sagt deshalb: Allen sage ich: Wachet! 583 Und der Apostel sagt: Ihr Liebsten, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind, denn es sind viele falsche Propheten in die Welt ausgegangen.584 Und der Heiland spricht: Es werden sich viele falsche Propheten erheben und viele verführen.585 Und dazu redet sehr schön der heilige Bernhard im Brief an den Mönch Adam, indem er ihn tadelt, dass er seinem Abt gegen die Regel seines Gelübdes unüberlegt gehorcht hat. Daher ruft er laut, aber spöttisch aus: Welch ein gehorsamer Mönch, dem aus allen – überlegten wie unüberlegten – Wörtchen seiner Vorgesetzten auch nicht ein erlaubtes oder unerlaubtes Jota entfällt! Er beachtet nicht, wie das beschaffen ist, was befohlen wird, gibt sich allein damit zufrieden, dass es befohlen wird; und das ist sein unverzüglicher Gehorsam. Wenn das richtig ist, müsste schon der Satz aus dem Evangelienbuch: „Seid klug wie die Schlangen“ getilgt werden, und es würde, was folgt, genügen: „und einfältig wie die Tauben“. Ich sage euch nicht, dass von den Untergebenen die Gebote der Vorgesetzten beurteilt werden sollen, wenn nichts gefunden wird, das befohlen wird und den göttlichen Ordnungen entgegensteht. Aber für notwendig erkläre ich auch die Klugheit, mit der beobachtet wird, ob sich ein Widerspruch findet, und die Freiheit, mit der dann etwas verständig zurückgewiesen wird. Im Übrigen sagt jener Mönch: „Nichts habe ich zu fragen; soll der doch zusehen, der den Befehl gegeben hat!“ Sage mir bitte, wenn er dir nun ein Schwert in die Hand gegeben hätte, damit du ihm an die Kehle gehst, würdest du ruhig geblieben sein? Wird das nicht von anderen, da du es verhindern kannst, dir als Tötungsverbrechen zugerechnet? Wohlan also, sieh zu, dass du 582
1Kor 4,16; 11,1.
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Mk 13,37.
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1Joh 4,1.
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Mt 24,11.
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nicht vielleicht unter dem Vorwand des Gehorsams einer schlimmeren Sache dienst .586 So Bernhard. Er führt viele Zeugnisse der Heiligen Schrift an und schließt: Du hast also gemeint, gegen alle diese und andere derartige zahllose Zeugnisse der Wahrheit müsse jemandem gehorcht werden? Eine widerwärtige Verdrehung! Die Tugend des Gehorsams, die immer für Wahrheit kämpft, wird gegen die Wahrheit ins Feld geführt.587 So Bernhard. Daher stellt Bernhard selbst in der Predigt Über die Ankunft des Herrn fünf Bedingungen auf, die den Gehorsam rechtfertigen: Erstens, wenn das befohlene Werk ein heiliges ist, weil man nicht gehorchen darf Gott zuwider; zweitens, wenn es freiwillig ist, weil es als abgenötigtes Werk nicht verdienstlich ist; drittens, wenn es rein ist, entsprechend einer heiligen Absicht, nach der Lehre des Erlösers: Wenn dein Auge einfältig ist, so wirst du insgesamt hell sein;588 viertens, wenn es ausgewogen ist, denn Überfluss und Mangel schaden, und fünftens, wenn es, einmal festgelegt, bis zum geschuldeten Ziel durchgehalten wird.589 Daraus ergibt sich, dass ein Untergebener einem Vorgesetzten Widerstand leisten muss, wenn er sieht, wie ein unvernünftiges Gebot des Vorgesetzten, von dem bekannt ist oder bekannt sein sollte, dass es der Kirche zum Schaden gereicht, indem es dem Dienst Gottes und dem Gewinn des Seelenheils abträglich ist. Denn solch ein Widerstand ist wahrer Gehorsam, der nicht nur Gott erwiesen wird hinsichtlich des Gebots der höchsten Tadels, sondern auch dem Vorgesetzten selbst. Denn kein Vorgesetzter soll etwas anderes befehlen als etwas Gutes. Wenn also ein Untergebener auf Grund des Gehorsams vom Vorgesetzten grundsätzlich zum Guten verpflichtet wird, so folgt, dass er ihm gehorcht, wenn er ihm so widersteht, wie er muss, weil er tut, was gut ist und ihn vom Bösen abbringt. Daraus folgt, dass ein Untergebener, der seinem Vorgesetzten im Bösen gehorcht, nicht von der Sünde freigesprochen wird. Denn der Erlöser sagt: Wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen sie beide in die Grube.590 Das bedeutet: Wenn ein blinder, d. h. ein unerfahrener oder böser Vorgesetzter, einen blinden, d. h. einen unerfahrenen oder bösen Untergebenen durch Befehle zu einem Werk führt, fallen sie beide in die Grube des Irrtums. Darum gehört hierzu, was Christus zu seinen Jüngern über die Schriftgelehrten und Pharisäer sagte, die gelehrt haben, dass es Sünde sei, das Brot mit ungewaschenen Händen zu essen, obwohl es doch keine Sünde ist: Lasst sie! Sie Bernhard von Clairvaux: Epistola III ad Adam Monachum (PL 182,100). 587 A. a.O. (PL 182,101 f.). 588 Mt 6,22. 589 In Bernhards von Clairvaux „Sermones de adventu Domini“ so nicht nachweisbar. 590 Mt 15,14. 586
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sind blinde Blindenführer. Was heißt das: Lasst sie? Die Bibel mit Erklärungen besagt: Das heißt: Überlasst sie ihrer Meinung; sie sind blind, d. h. verdunkelt von den Überlieferungen .591 Und diese Regel Christi befolgen auch die unvernünftigen Tiere. Denn ein Pferd oder Esel, die vor sich eine Grube bemerken, versuchen, selbst wenn man ihnen die Sporen gibt, den Absturz möglichst zu vermeiden. Das ist auch von der Eselin bekannt, die den Engel erkannte, der verhinderte, dass sie den Weg, den Bileam reisen wollte, fortsetzte, und mit menschlicher Stimme die Unvernunft des Propheten tadelte.592 Daher sagt Bernhard zum Mönch Adam in seinem Brief in spöttischem Ton: Du, der gehorsamste Sohn, du, der ergebenste Schüler, der nicht geduldet hat, dass dein Vater und Lehrer, solange er lebte, einen Augenblick lang oder, wie man sagt, einen Fuß breit, sich von dir entfernte, sodass du nicht gezaudert hast, hinter ihm her nicht mit blinden, sondern wie Bileam mit offenen Augen in die Grube zu fallen.593 Soweit Bernhard. Aus diesen Wahrheiten folgt aber weiter, dass es den untergebenen Geistlichen, ja sogar auch den Laien erlaubt ist, über die Werke ihrer Vorgesetzten zu urteilen. Das geht aus Folgendem hervor: Es gibt ein Urteil der überlegten und verborgenen Beurteilung vor dem Gerichtshof des Gewissens und ein anderes Urteil der mit Vollmacht ausgestatten Rechtsprechung im Gerichtshof der Kirche. Auf die erste Art soll der Untergebene hauptsächlich sich selbst beurteilen, nach dem Wort: Wenn wir selber über uns urteilten, so würden wir nicht verurteilt .594 Und auf die zweite Art soll er alles beurteilen, was gemeinhin sein Seelenheil angeht, gemäß dem Wort: Der geistliche Mensch aber richtet alles.595 Aber der Laie soll die Werke seines Vorgesetzten so beurteilen, wie der Apostel die Werke des Petrus beurteilt hat, indem er ihn tadelte: Aber als ich sah, dass sie nicht richtig nach der Wahrheit des Evangeliums lebten, sprach ich öffentlich zu Petrus vor allen: „Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, wieso zwingst du die Heiden, jüdisch zu leben?“ 596 Zum zweiten soll der Laie den Vorgesetzten beurteilen, ob er zu meiden sei. Denn Christus spricht: Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind.597 Aber der Laie muss urteilen, um ihn in geistlicher Hinsicht als Vorgesetzten einzusetzen, ihn leiblich zu ernähren oder ihm sonst Gutes zu erweisen. Anders nämlich würden die Kleriker niemals von den Laien zu Pfarrern, Beichtvätern oder Glossa ordinaria et interlinearis zur Stelle. 592 2Petr 2,15–17; vgl. Num 22,21–30. Bernhard von Clairvaux: Epistola III ad Adam Monachum (PL 182,101). 594 1Kor 11,31. 595 1Kor 2,15. 596 Gal 2,14. 597 Mt 7,15.
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Almosenverwaltern gewählt werden. So ist es also den Reichen dieser Welt erlaubt, mit sorgfältigem Urteil zu prüfen, welchen geistlichen Vorgesetzten und auf welche Weise sie Almosen übergeben wollen, und sich zu hüten vor reißenden Wölfen, was nach dem Apostel und nach Chrysostomus598 deutlich daran zu erkennen ist, dass sie mehr das Geld als das Seelenheil der Untergebenen suchen, entgegen dem Wort des Apostels: Ich suche nicht das Eure, sondern euch .599 Daher sagt Paulus und sieht in prophetischer Weise diese falschen Apostel voraus: Ich weiß, dass nach meinem Abschied reißende Wölfe unter euch kommen und die Herde nicht verschonen werden.600 Und weil dieser Wolfscharakter deutlich erkennbar wird durch Raub zeitlicher Güter und durch Auferlegen von Strafen, um noch mehr zeitliche Güter an sich zu reißen, erklärt er, die entgegengesetzte Regel zu haben: Silber und Gold oder ein Kleid habe ich von keinem begehrt. Das wisst ihr selbst. Denn für das, was ich und die, die bei mir waren, nötig hatten, haben mir diese Hände gedient.601 Also sollen die Untergebenen, die fromm in Christus leben, das Leben der Apostel beachten und bedenken, ob ihre geistlichen Vorgesetzten in Übereinstimmung mit ihnen leben. Wenn die nämlich im geistlichen Dienst nachlässig sind, aber Sorgfalt aufwenden, um Geld einzutreiben, die evangelische Armut verachten und der Welt zuneigen und auch noch andere Schändlichkeiten deutlich erkennbar aussäen, dann werden die Untergebenen aufgrund solcher Praxis zur Erkenntnis gelangen, dass jene von der Religion unseres Herrn Jesus Christus abgewichen sind. Also, ihr beherzten Liebhaber des Gesetzes Christi, glaubt zuerst ihren Werken, ob sie dem Weltlichen zuneigen. Zweitens, achtet auf ihre Gebote, ob sie nach Habsucht oder weltlichem Gewinn schmecken. Und drittens: Zieht die Heilige Schrift zu Rate, ob sie dem Ratschlag Christi entsprechend Befehle geben. Und gemäß dem glaubt ihnen oder glaubt ihnen nicht, wenn das Gegenteil der Fall ist. Denn die Pfarrer sollen nicht zu den Laien sagen: „Was steht es euch zu, unser Leben und Werk zu beurteilen?“, obgleich unser Heiland sagt: Nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln . Und danach zieht er die Werke aufgrund der Umtriebe der geistlichen Vorgesetzten ans Licht,602 damit sie sie erkennen und auf heilsame Weise zu vermeiden wissen. Ja, sogar, wenn die Geistlichen sagen: „Was steht es euch zu, über unser Leben und Werk zu urteilen?“, soll denen seitens der Laien entsprechend entgegnet werden: „Was steht es euch zu, unsere Almosen zu 598 599
Chrysostomus, De opere imperfecto, Homilie 20 (PG 56,743 f.), unklares Zitat. 2Kor 12,14. 600 Apg 20,29. 601 Apg 20,33 f. 602 Mt 23,3.4–26.
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empfangen?“ Denn der Apostel sagt: Wir gebieten euch im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr euch zurückzieht von jedem Bruder, der unordentlich lebt und nicht nach der Satzung, die sie von uns empfangen haben. Denn ihr wisst, wie ihr uns nachahmen sollt. Denn wir sind nicht unordentlich unter euch gewesen, haben auch von niemandem umsonst das Brot genommen, sondern mit Arbeit und Mühe. Und weiter: Denn als wir bei euch waren, befahlen wir euch, dass, wenn jemand nicht arbeiten will, er auch nicht essen soll.603 Und es ist klar, wie die Untergebenen die Gebote und Werke ihrer Vorgesetzten vernünftig beurteilen sollen. Denn andernfalls wären sie in Gefahr des ewigen Todes, wenn sie nicht sorgfältig beurteilten, in welchen Dingen sie ihnen glauben, in welchen ihnen folgen sollen und in welchen sie ihnen vernünftigerweise nach dem Gesetz der Herrn gehorchen müssen. Denn im Voraus hat uns der beste Meister ermahnt: Hütet euch vor den falschen Propheten, und: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, und: Glaubt nicht, geht nicht hinaus, und: Nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln.604 Er selbst hat auch Priester und Volksmenge ermahnt, seine Werke zu beurteilen, als er sagte: Wer von euch kann mich einer Sünde beschuldigen?, und: Wenn ihr mir nicht glauben wollt, glaubt den Werken .605 Und wie schlimm ist das für die Kirche Christi, dass unsere geistlichen Vorgesetzten eher fordern, ihrer Zustimmung oder Ablehnung in allen ihren Urteilen zu glauben, als dass sie fordern, den Glauben der Heiligen Schrift zu glauben, der der katholische Glaube ist. Und sie bestrafen mehr das Übertreten ihrer eigenen Satzungen als die Lästerer des eigentlichen Glaubens Christi. Daher kann man über sie das Psalmwort sprechen: Der mein Brot aß, hat mich unter die Füße getreten.606 Dieselben nämlich, wie sie selbst behaupten, verzehren das Erbteil Christi und schätzen doch ihre Gebote höher als die unseres Herrn Jesu Christi selbst.
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Kapitel 20 Dazu kommt, dass die Doktoren mit ihrer zwiefachen Behauptung besser verstanden werden, wenn sie sagen: Der römischen Kirche und den Vorstehern ist seitens der Untergebenen in allen Dingen Gehorsam zu leisten usw., und wiederum: Also ist ihnen zu gehorchen und Folge zu 35 leisten.607 Ich setze entsprechend der richtigen Grammatik voraus, dass die Wortverbindung: es muss Gehorsam geleistet werden , dasselbe bedeutet wie die Wortverbindung: „man muss Gehorsam leisten“. Und 603 607
2Thess 3,6–8.10. 604 Mt 7,15; 10,6; 24,23.26; 23,3. Palacky´ , Documenta, 478.480.
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Joh 8,46; 10,38.
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Ps 40,10.
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weiter, dass der Ausdruck „man muss“ die Schuld der Verpflichtung zum Gehorsam bei Strafe der Todsünde bezeichnet. Diese vorausgesetzte Wortbedeutung ergibt sich aus der Berufung der Doktoren auf das Wort des Erlösers: Alles, was sie euch sagen, das haltet und tut .608 Dieses Herrenwort ist nämlich ein Gebot. Zweitens ergibt sich die Voraussetzung aus den Worten der Doktoren, wenn sie sagen: Aber einige aus der Geistlichkeit im Königreich Böhmen wollen nicht zustimmen und versuchen, soviel an ihnen liegt, das gläubige Volk zum Ungehorsam gegenüber den Vorstehern und zur Unehrerbietigkeit gegen die päpstliche, bischöfliche, priesterliche und geistliche Würde zu verleiten .609 Jetzt ist festgestellt: Der Ungehorsam und die Unehrerbietigkeit, die die Doktoren erwähnen, wäre eine Todsünde. Drittens ergibt sich diese Voraussetzung aus ihrer Berufung auf eine Stelle des seligen Augustinus, wo er sagt: Wenn du deinem Vater nicht gehorsam bist (verstehe: nicht dem leiblichen Vater, sondern dem geistlichen), hast du alle Tugenden verloren.610 Jetzt ist klar: Ein tugendhafter Mensch kann nur durch Todsünde alle seine Tugenden verlieren. Und somit trägt aufgrund der Autorität des Augustinus jener Ungehorsam den Abdruck eines Verbrechens. Dieser Ausspruch der Doktoren bedeutet also unter der Voraussetzung, dass der römischen Kirche und den Vorstehern seitens der Untergebenen in allen Dingen Gehorsam zu leisten ist usw. soviel: Bei Strafe der Todsünde muss man Gehorsam leisten. Entsprechend dieser Ansicht schreien sie deshalb jetzt, ich sei der römischen Kirche ungehorsam und exkommunizieren mich deswegen. Und aus dem Gesetz Gottes und dem Kirchenrecht ist klar, dass jemand nur wegen einer Todsünde exkommuniziert werden darf, wie ich an anderer Stelle gesagt habe. Obgleich diese Voraussetzung unerschütterlich feststeht, ziehe ich folgende Schlussfolgerung: Keinem apostolischem Stuhl der römischen Kirche, d. h. – nach Auffassung der Doktoren – keinem Papst mit seinen Kardinälen und keinem Vorsteher muss von den Untergebenen in all den Dingen Gehorsam geleistet werden, die weder rein böse noch rein gut sind. Das wird folgendermaßen bewiesen: Keiner römischen Kirche und den Vorstehern ist bei Strafe der Todsünde ein König, Markgraf, Fürst, Baron, Ritter, Bürger oder Bauer so zum Gehorsam verpflichtet, dass er kein Eigentum besitzen oder eine Ehe eingehen soll (Obersatz). Und diese Dinge, nämlich Eigentum besitzen, eine Ehe eingehen, sind für jene Personen weder rein gut noch rein böse (Untersatz). Daher meine obige Schlussfolgerung. Die Folge ist 608
Mt 23,3.
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Palacky´ , 478.
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Palacky´ , 478, mit Auctor incertus, s. o. S. 485, 1–10.
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bekannt. Und der Untersatz wird durch den seligen Bernhard im Brief an den Mönch Adam bewiesen, wenn er sagt: Man muss aber wissen, dass einige mittlere Dinge die Beschaffenheit reiner, zumeist aber böser Dinge annehmen. Denn während eine Ehe geschlossen werden kann oder nicht, so darf doch eine vollzogene nicht mehr aufgelöst werden. Was also vor der Hochzeit ein Mittleres sein konnte, erlangt bei den Vermählten die Kraft eines rein Guten. Ebenso ist Eigentum zu besitzen für einen Menschen in der Welt ein Mittleres, weil es erlaubt ist, nicht zu besitzen. Für einen Mönch aber, weil ihm Besitz zu haben nicht erlaubt ist, ist es ein rein Böses.611 So Bernhard. Der Obersatz wird so bewiesen: Keiner römischen Kirche ist es erlaubt, bei Strafe der Todsünde zu befehlen, dass ein König, Markgraf, Fürst, Baron, Ritter, Bürger oder Bauer eine Ehe eingeht oder kein Eigentum besitzt; also ist auch keiner der genannten bei Strafe der Todsünde verpflichtet Gehorsam zu leisten. Die Folge ist bekannt, und die Ursache ist klar: weil es der römischen Kirche nicht erlaubt ist, ihr Gebot über den bloßen Ratschlag Christi zu stellen. Aber gesetzt den Fall, die römische Kirche befiehlt, dass ein König, Markgraf, Fürst, Baron oder Ritter nichts Eigenes besitzt, würde sie ihre Vorschrift über einen Ratschlag Christi stellen, welcher der erste Rat unter den zwölf hauptsächlichen Ratschlägen des Evangeliums ist, nämlich die freiwillige Armut, die darin besteht, sich vom Eigentum loszusagen und Geschmack zu finden an Bedürftigkeit. Christus rät zu ihr; er befiehlt nicht und sagt zu jenem vornehmen jungen Mann: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen und folge mir nach.612 Ähnlich würde die römische Kirche, würde sie befehlen, dass ein König, Markgraf, Fürst oder anderer Mensch in der Welt eine Ehe eingehen soll, gegen Christi Rat befehlen. Wie also würde sie nicht gegen Christus handeln? Die Bewahrung jungfräulicher Keuschheit bis zum Tod ist nämlich der dritte evangelische Rat Christi: Es gibt Eunuchen, die sich selbst um des Himmelreichs willen kastriert haben. Das befiehlt Christus nicht, sondern rät dazu, dass der, dem es möglich ist, es freiwillig einhalten soll, indem er sagt: Wer es begreifen kann, der begreife es.613 Also wäre es eine große Anmaßung der römischen Kirche, jemandem bei Strafe der Todsünde die Ratschläge seines Gottes zusätzlich aufzunötigen. Das nämlich wäre, wie es der Heiland sagt, ein Auferlegen unerträglicher Lasten auf die Schultern der Menschen , welche die Bernhard von Clairvaux, Epistola III ad Adam Monachum (PL 182,96), s. o. S. 511, 2–10. 612 Mt 19,21. 613 Mt 19,12.
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Schriftgelehrten und Pharisäer, die auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen, nicht tragen, sondern sie anderen auflegen, wie Christus an gleicher Stelle sagt.614 Der Apostel Christi, der die Geheimnisse Gottes geschaut hat, welche die römische Kirche nicht gesehen hat, wagte es daher nicht zu befehlen, zu heiraten oder enthaltsam zu bleiben. Also sagte er: Jeder hat seine eigene Gabe von Gott, einer so, der andere so . Der Apostel wollte nur befehlen, was der Herr durch ihn befahl, und so befahl er, was dem Gehorsamspflichtigen von Nutzen war. Denn es gibt für andere viele Ratschläge, die für uns wegen unserer Schwäche und Unkenntnis keine Ratschläge sind. So heiratet z. B. einer in Gottes Namen, ohne Sünde zu begehen, obwohl er freilich besser daran getan hätte, sich seine jungfräuliche Keuschheit zu bewahren. Das weiß er aber nicht und glaubt das Gegenteil. Darum sagt der Apostel: Jeder hat seine eigene Gabe von Gott, einer so, der andere so. Darauf folgt: Wenn sie sich aber nicht enthalten, mögen sie heiraten; es ist besser zu heiraten als von Begierde verbrannt zu werden .615 Manche Dinge sind also für manche nützlicher, die für andere weniger nützlich wären. Daher wäre es ein beachtlicher Irrtum zu glauben, dass alle Ratschläge Christi für jedermann nützlich wären, sodass man sie buchstabengetreu erfüllen müsste. Und daher ist ein Sohn seinem Vater nicht bei Strafe der Todsünde verpflichtet, Gehorsam zu leisten, wenn der ihm befiehlt, nichts zu besitzen oder zu heiraten. Ähnlich verhält es sich auch mit einer Tochter, die er nicht rechtmäßig zwingen kann, bis zum Tod keusch zu bleiben oder zu heiraten, Ferner: Wäre jener Satz der Doktoren wahr, dass dem apostolischen Stuhl der römischen Kirche seitens der Untergebenen in allen Dingen Gehorsam zu leisten ist usw., dann folgt: König Wenzel, König der Römer und König von Böhmen, und ähnlich König Sigismund, König von Ungarn begingen fortwährend Todsünde, und zwar deshalb, weil sie dem Gebot der römischen Kirche, nämlich des Papstes Bonifazius mit seinen Kardinälen, nicht gehorchten, als sie nicht auf die Königreiche verzichteten,616 jener auf das Königreich der Römer, dieser auf das Königreich Ungarn. Und es ist klar, dass ein Herrschaftsverzicht für beide kein rein Böses ist, wie sich aus den Worten Bernhards ergibt. Und weil die genannten Könige dieses Gebot noch nicht erfüllt haben und von Bonifazius selbst noch nicht losgesprochen worden sind, folgt, dass sie bis jetzt im Ungehorsam verharren. Aber wer wollte so etwas mit klarem Verstand behaupten? Denn Bonifazius selbst durfte sich Mt 23,4. 615 1Kor 7,7.9. 616 Bonifazius IX. hatte 1403 Wenzel und Sigismund zugunsten anderer Herrscher für abgesetzt erklärt und ihre Abdankung gefordert.
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doch nach Gottes Gesetz gar nicht dazu erdreisten! Ferner folgt, dass einige der genannten Doktoren, wie z. B. Stanislaus, Petrus von Znaim, Johannes Eliae und noch mehr, fortwährend unter päpstlicher Exkommunikation stehen. Denn offensichtlich haben sie der apostolischen römischen Kirche bis heute nicht Gehorsam geleistet. Oder wenn sie wegen der Streitigkeiten insgeheim schon gehorcht haben, so wurden sie dennoch nicht von der Entheiligung losgesprochen. Denn ihnen ist durch Papst Innozenz bei Strafe der Exkommunikation, der Entziehung der Pfründen und der Degradierung befohlen worden, dem Magister Mauritius die Stelle, die er wünschte, auch wirklich zu geben und zuzuweisen. Aber sie, durch einen Notar vor Zeugen ernsthaft dazu ermahnt, haben bis heute diesem Gebot nicht gehorcht, obschon die Einweisung des Magisters Mauritius in die Stelle nicht ein rein Böses ist, das befohlen wird. Obgleich es vielleicht für den Magister Mauritius selbst ein Böses ist, diese Stelle so unverschämt zu verlangen, aber auch für die Doktoren selbst es vielleicht ein Böses ist – weil sie als die, die den ersten Platz in der Versammlung lieben – den Mauritius nicht zulassen. Hoffentlich sind nicht beide Seiten in jenem Grußwort Christi, des demütigsten Magisters, gemeint: Wehe euch Pharisäern, die ihr die ersten Lehrstühle in den Synagogen liebt, und es wird hinzugefügt: und euch von den Menschen „Rabbi“ nennen lasst.617 Ferner ist in den von Haus aus guten Handlungen wie Fasten und Gebet, die nicht rein böse sind, der römischen Kirche oder den Vorgesetzten außer in einem von der Vernunft abgewogenen Maß nicht zu gehorchen. Denn offensichtlich kommt es vor, dass ein Untergebener das Beten und Fasten in einem solchen Maß ununterbrochen fortsetzt, dass er schwach wird und sich und der Kirche schadet. Aber dies muss sowohl vom Befehlenden als auch vom Gehorchenden vermieden werden. Also ist das Vorhergehende wahr. Denn es steht fest, dass es ein Versuchen Gottes wäre, einem Vorgesetzten zu gehorchen oder ihm zu geloben: „Ich will immer nur so und so viel essen oder trinken; immer nur so und so viel an Kleidung oder Bedeckung haben.“ Und so ist es mit anderen falsch verstandenen Ratschlägen. Und eine noch größere Torheit beginge der Vorgesetzte, wollte er eine Gemeinschaft zu einer solchen einheitlichen Form verpflichten. Denn nach Verschiedenheit der Zeiten, Krankheit oder Gesundheit, Jugend oder Alter, Wärme oder Kälte, gebührt es sich, bei ein und derselben Person solche Dinge zu variieren. Und noch viel mehr müssen in einer Gemeinschaft den unterschiedlichen Personen unterschiedliche Mittel angepasst werden. 617
Lk 11,43; Mt 23,7.
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Denn nach Aristoteles gibt es nicht bei allen Dingen dasselbe Mittlere . Denn ein Mittleres an Speisen, das einem Milon entspricht,618 der imstande war, täglich einen Ochsen zu essen, wäre nicht ein entsprechendes Mittlere für einen jungen oder altersschwachen, einen gesunden oder kranken Mann. Und daher hat der Erlöser seine Jünger, die wegen Nichtfastens angefeindet wurden, in der Tat entschuldigt. Denn es heißt: Es traten die Jünger des Johannes zu Jesus und sprachen: Warum fasten wir und die Pharisäer häufig, deine Jünger aber fasten nicht? Anstelle seiner Jünger antwortet der Erlöser diesen Verleumdern, die sich mit den Pharisäern zum Tadeln Christi verbündet haben, und sagt: Können etwa die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es wird aber der Tag kommen, dass der Bräutigam von ihnen weggenommen werden wird, und dann werden sie fasten. Aber niemand fügt einen Lappen von neuem Tuch auf ein altes Kleidungsstück, denn er reißt doch wieder gänzlich vom Kleid, und es entsteht ein schlimmerer Riss. Man gießt auch nicht neuen Wein in alte Schläuche. Denn dann zerreißen die Schläuche, der Wein fließt heraus, und die Schläuche sind unbrauchbar. Sondern man gießt neuen Wein in neue Schläuche, und beide bleiben erhalten .619 Hierdurch entschuldigt der Erlöser die Jünger wegen der Nichtbeachtung des Fastens: Erstens, weil er selbst als Bräutigam der Kirche, der damals bei seinen Kindern war,620 vom Fasten dispensierte. Zweitens, weil ihnen jenes körperliche Fasten damals nicht geziemte, wie Lyra sagt: Daher sagt der Bräutigam: „Können die Kinder des Bräutigams trauern“, d. h. traurig sein, indem sie sich durch Fasten grämen? Er sagt gleichsam: Nein, weil ihnen jetzt das Fasten nicht ziemt. „Es wird aber ein Tag kommen“, nämlich der Passion, „wenn der Bräutigam von ihnen weggenommen werden wird“ durch den Tod, was seine körperliche Gegenwart angeht, „und dann werden sie fasten“, nämlich mit dem Fasten der Trauer, gemäß dem Wort: Ihr werdet weinen und heulen.621 Und dann werden sie fasten, nämlich, wenn ihnen solches Fasten ziemt.622 Und dann beweist der Erlöser durch das genannte, doppelte Beispiel, dass ihnen damals das leibliche Fasten nicht ziemte. Aber bei Lukas werden auch die Gebete berührt, daher heißt es hier: Warum fasten die Jünger des Johannes häufig und verrichten Gebete, ähnlich auch die Jünger der Pharisäer, aber deine Jünger essen und trinken? Er sagte 618 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea lib. 2 c. 5 (1106ab) mit dem Hinweis auf den Ringkämpfer Milon, der als Vielfraß galt. 619 Mt 9,14–17. 620 Jünger, Hochzeitsgäste und Kinder entsprechen einander in ihrem Verhältnis gegenüber Christus. 621 Joh 16,20. 622 Nicolaus von Lyra, Biblia cum postillis zu Mt 9,14.
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aber zu ihnen: Könnt ihr etwa die Kinder des Bräutigams veranlassen zu fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist?,623 als wollte er sagen: Entgegen dem Willen des Bräutigams könnt ihr seine Kinder nicht zu Recht veranlassen, zu fasten. Wahrlich ein gütiger Prior und Abt ist Christus, der seine Jünger nicht beschwert, sondern ihnen ein sanftes Joch und eine leichte Last auferlegt, während er über die Pharisäer und Schriftgelehrten sagt, die auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen, dass sie schwere und unerträgliche Lasten auf die Schultern der Menschen legen, aber diese selbst nicht mit einem Finger anrühren wollen.624 So nämlich legen die jetzigen Vorgesetzten und Beichtväter viele Fasten auf, viele Gebete und andere Dinge, die das Volk belasten, tun davon aber selbst nicht das Geringste. Daher sagen sie öfter: Lasst uns essen und zusehen, dass der Pöbel für uns fastet. Da also der Erlöser solche Gebote der Pharisäer und Schriftgelehrten „unerträgliche Lasten“ nennt, weil sie über die Gebote und Ratschläge Christi hinaus die Menschen belasten – welcher vernünftige Mensch würde dann sagen, dass in solchen Fällen ein Untergebener gehalten ist, bei Strafe der Todsünde seinem Vorgesetzten zu gehorchen? Ferner ist mit ungewaschenen Händen zu essen ein neutrales Werk, weder rein gut noch rein böse. Und so waren die Jünger Christi nach dem Gebot derer, die auf Moses Stuhl saßen, nicht dazu verpflichtet – also ist es auch jetzt so. Die Folgerung ist bekannt, weil die Voraussetzung gleich ist bei derartigen Satzungen, die nicht im Gesetz des Herrn begründet sind. Der zweite Teil ist klar: Als die Pharisäer und Schriftgelehrten zu Jesus sagten: Warum übertreten deine Jünger die Überlieferungen der Ältesten? Sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen, hat er jene selbst wegen Übertretung der Gebote Gottes getadelt und gezeigt, dass seine Jünger in diesem Fall nicht gesündigt haben, als sie deren Gebot nicht hielten und gesagt: Mit ungewaschenen Händen zu essen verunreinigt den Menschen nicht .625 Was ist also nun das Argument dafür, dass jeder Untergebener in Bezug auf jede neutrale oder mittlere Handlung seinem Vorgesetzten zu gehorchen verpflichtet ist, wo doch feststeht, dass es einen törichten Vorgesetzten geben kann, der allzu unüberlegt seinen Untergebenen mit solch neutraler Handlung belastet? Daher hat Bernhard, wie oben gesagt, trefflich die Bedingungen für den Gehorsam festgesetzt. Eine davon beinhaltet, dass ein Befehl notwendigerweise ausgewogen sein muss, da Übertreibung und Mangel schaden. Daher ist kein menschliches Befehlen oder Anraten gültig oder zu befolgen, außer es ist durch göttliches Beispiel begründet. 623
Lk 5,33 f.
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Vgl. Mt 11,28–30 mit 23,1–4.
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Mt 15,2.20.
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Und daher kommt es, dass kein einem Vorgesetzten erwiesener Gehorsam zum Verdienst gereicht außer in dem Maße, in dem er sich an die Gebote und Ratschläge des Herrn Jesu Christi anlehnt. Offensichtlich ist der Christus geschuldete und erwiesene Gehorsam von sich aus verdienstlich und wie er wächst oder abnimmt, so auch das Verdienst. Daher ist nichts frömmer, als der Gott erwiesene Gehorsam, so das Kirchenrecht, wo angemerkt wird, was der Prophet Samuel sagt: Besser ist Gehorsam als Opfer; und zu widerstreben ist gleichsam die Sünde der Wahrsagerei; und nicht beizupflichten ist gleichsam ein Verbrechen. Der Gehorsam allein, sagt das Kirchenrecht, ist die Tugend, die das Verdienst des Glaubens besitzt, ohne den jeder überführt wird, ein Ungläubiger zu sein, selbst wenn er gläubig zu sein scheint. Bei Opfern, sagt es, wird fremdes Fleisch geschlachtet, aber durch Gehorsam wird der eigene Wille geschlachtet .626 Dort ist es sonnenklar, dass vom Gott geschuldeten Gehorsam die Rede ist. Denn Samuel spricht zu Saul: Darum also, weil du das Wort des Herrn verworfen hast, hat dich der Herr verworfen, dass du nicht König seist. Und Saul sprach zu Samuel: Ich habe gesündigt, dass ich das Wort des Herrn und deine Worte übertreten habe; ich fürchtete das Volk und gehorchte seiner Stimme.627 Und es ist klar, in welchem Maße die Vorgesetzten des Volkes lästern, die aus der Schrift oder dem Kirchenrecht diesen Gehorsam für sich beanspruchen. Es ist zweitens klar, was das Zeugnis des Augustinus ist, das die Doktoren für sich anführen: Wenn du gefastet und Tage und Nächte lang gebetet hast, wenn du in Sack und Asche gegangen bist, wenn du nichts anderes getan hast, als was dir im Gesetz geboten ist, und dir selbst als weise erschienen bist, und du doch deinem Vater nicht gehorcht hast (verstehe recht: nicht dem leiblichen, sondern dem geistlichen Vater), hast du alle Tugenden verloren. Dies ist deutlich, weil wer Gott, seinem geistlichen Vater, nicht gehorcht, alle Tugenden verliert. Und daher fügt Augustinus hinzu: Darum gilt der Gehorsam mehr als alle übrigen sittlichen Tugenden.628 Zurückgewiesen wird also die Beweisführung der Doktoren, aus diesem Zeugnis des Augustinus herzuleiten, was sie behaupten wollen. Ferner stelle ich folgende Behauptung auf: Unbeschadet einer angeblichen Exkommunikation, die angedroht oder schon ausgesprochen worden ist, muss ein Christ Christi Gebote ausführen. Das ergibt
Vgl. Decr. Grat. II C. 8 q. 1 c. 10: Sciendum (Friedberg 1,593), mit 1Sam15,22 f. 1Sam 15,23 f. 628 Palacky´ , Documenta, 478, mit Auctor incertus, De oboedientia et humilitate c. 1 (PL 40,1223); s. o. S. 485, 7–13.
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sich aus der Behauptung des seligen Petrus und anderer Apostel: Man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen .629 Daraus ergibt sich folgerichtig, dass ein Priester Christi, der nach dessen Gesetz lebt, Kenntnis der Schrift und das Verlangen hat, das Volk zu erbauen, unbeschadet einer angeblichen Exkommunikation predigen muss. Das ergibt sich daraus, weil nach dem Zeugnis des Apostels Petrus den Priestern befohlen worden ist, das Wort Gottes zu predigen: Uns, sagt er, hat Gott geboten, dem Volk zu predigen und Zeugnis abzulegen. Und bei Matthäus: Diese zwölf sandte Jesus, gebot ihnen und sprach: Gehet nicht auf den Weg der Heiden. Und später: Geht aber und predigt und sagt: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen .630 Und aus Lukas ergibt sich dasselbe.631 Und es ergibt sich auch aus Augustinus, der sagt: Wenige Priester gibt es, die das Wort Gottes auf rechte Weise predigen, aber viele gibt es, die auf verdammungswürdige Weise schweigen: einige aus Unkenntnis, die sich weigern, sich belehren zu lassen, andere aus Nachlässigkeit, die das Wort Gottes geringschätzen. Aber weder jene noch diese können von schuldhafter Schweigsamkeit freigesprochen werden, denn weder dürfen die einer Gemeinde vorstehen, die nicht predigen können, noch dürfen die schweigen, die predigen können, wenn sie auch nicht Vorsteher sind.632 So jener. Ebenso wird es deutlich durch den heiligen Hieronymus: Wenn ich dem Gottlosen sage: Du musst des Todes sterben, und du verkündest es ihm nicht und sagst es ihm nicht, damit sich der Gottlose vor seinem gottlosen Weg abwendet und am Leben bleibt, so wird der Gottlose in seiner Sünde sterben, aber sein Blut werde ich von deiner Hand fordern. Dort sagt Hieronymus: Der Priester ist verpflichtet zu predigen, er sehe zu, dass ihn nicht Menschenfurcht schweigen lässt. Eine große Gefahr bringt es, Gottes Worte zu verschweigen, aus dreifachem Grund: nämlich aus Furcht, aus Trägheit oder Unterwürfigkeit.633 Ebenso steht es im Kirchenrecht nach Gregor, der sehr feierlich durch viele Schriftzeugnisse den Beweis führt und unter anderem sagt: Es steht ja geschrieben, „dass man einen Klang 634 hört, wenn er das Heiligtum im Angesicht Gottes betritt, damit er nicht stirbt“. Denn ein Priester, der hinein- oder hinausgeht, stirbt, wenn man bei ihm den Klang nicht hört. Denn er fordert den Zorn des geheimen Richters gegen sich heraus, wenn er ohne Klang der Predigt eintritt.635 So jener. Dasselbe ergibt sich durch der seligen Isidor: Die Priester werden für die Apg 5,29. 630 Apg 10,42; Mt 10,5.7. 631 Lk 9 f. 632 Traditionell überliefert. Hieronymus, Commentaria in Ezechielem lib. 1 zu Hes 3,18 f. 634 Vom Schmuck des Priestergewandes. 635 Decr. Grat. I dist. 43 c. 1: Sit rector (Friedberg 1,154); Gregor d. Gr., Liber regulae pastoralis pars 2 c. 4 (PL 77,31), mit Ex 28,35. 629 633
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Schlechtigkeit der Leute verdammt, wenn sie die Unwissenden nicht erziehen oder die Sünder nicht tadeln.636 Nach dem Gesagten nimmt also jeder, der dem Priesterstand beitritt, das Amt des Predigers auf ein Gebot hin an. Deshalb ist klar, dass er dieses Gebot ausführen muss, ungeachtet einer vorgeblichen Exkommunikation. Ebenso kann es keinem wahren Katholiken zweifelhaft sein, dass ein in der Lehre befähigter Mensch eher dazu verpflichtet ist, die Unwissenden zu lehren, die Zweifelnden zu beraten, die Ungehorsamen zu bestrafen und denen, die Unrecht tun, zu vergeben, als sich um Werke der Barmherzigkeit zu kümmern. Ist also einer befähigt und bei Strafe der Verdammnis verpflichtet, leibliche Almosen zu verteilen, wie es nach dem Matthäusevangelium klar ist,637 umso mehr einer, der zu geistlichen Almosen befähigt ist. Daraus ist deutlich, dass zu predigen für den Priester und Almosen zu geben für den Reichen keine mittleren Werke sind, sondern Gebote. Darüber hinaus ist klar: Wenn ein Papst oder ein anderer Vorgesetzter einem Priester mit der genannten Voraussetzung befiehlt, nicht zu predigen, oder einem Reichen befiehlt, keine Almosen zu geben, dann darf der Untergebene nicht gehorchen. Gestützt auf dieses Gebot des Herrn habe ich daher das Gebot Papst Alexanders bezüglich des Predigtverbotes nicht angenommen. Und von daher ertrage ich demütig die Exkommunikation und vertraue darauf, dass ich damit den Segen meines Gottes erlangen werde, zu dem der Psalmist spricht: Mögen sie fluchen, du aber segnest. Der auch segnet und spricht: Selig seid ihr, wenn Lügner euch wegen mir schmähen und alles Böse gegen euch reden. Seid fröhlich und getrost! Denn im Himmel ist euer Lohn groß.638
Kapitel 21 Nun ist noch kurz über die Autoritäten zu sprechen, die die Doktoren 30 zur Bestärkung des menschlichen Gehorsams angeführt haben. Denn zuerst sagen sie: Der römischen Kirche und den Vorstehern ist seitens der Untergebenen in allen Dingen Gehorsam zu leisten usw., gemäß dem Ausspruch des Heilands: Alles nun, was sie euch sagen, das haltet und tut.639 Hier wundere ich mich, warum die Doktoren die Worte des Erlö35 sers vorne und hinten beschnitten haben. Sie haben nämlich nicht davorgesetzt: Auf Moses Lehrstuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer, noch hinten angefügt: Aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln , sondern sie haben nur das Mittelstück vorgelegt und gesagt: 636 637
Isidor von Sevilla, Sententiae lib. 3 c. 46: De disciplina sacerdotum (PL 83,714). Mt 25,30.41–43. 638 Ps 108,28; Mt 5,11 f. 639 Palacky´ , Documenta, 478; Mt 23,3.
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Alles, was sie euch sagen, das haltet und tut .640 Hier scheint mir, sie haben das deshalb getan, weil Papst und andere Vorgesetzte der Kirche nicht mit Schriftgelehrten und Pharisäern verglichen werden wollen und sind empört, wenn etwas von ihren bösen Werken gesagt wird. Aber andererseits schmeicheln die Doktoren und Magister solchen Leuten. Und so umgaben sie sich mit vielen Lehrern, die ihnen die Ohren kitzelten und ihr Gehör von der Wahrheit ablenkten. Es sind die Magister, die ihnen schmeicheln! Deshalb wird die Weissagung des Apostels an ihnen beiden erfüllt. Denn der Apostel beschwört Timotheus mit den Worten: Ich bezeuge vor Gott und Jesus Christus, der die Lebenden und die Toten richten wird, sein Kommen und sein Reich: Predige das Wort! Lass nicht ab, ob es gerade passt oder nicht! Rüge, flehe und ermahne mit aller Geduld und Lehre! Denn es kommt eine Zeit, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen, sondern sich zu ihren sonstigen Begehrlichkeiten mit vielen Lehrern umgeben werden, die ihnen die Ohren kitzeln. Und sie werden das Gehör von der Wahrheit abwenden, aber sich Fabeln zuwenden .641 Also ist es kein Wunder, dass die Vorgesetzten gern die Sprüche der genannten Doktoren aufnehmen. Denn die haben all jene Sprüche mit dem Öl der Schmeichelei beschmiert und keinerlei Rüge gebraucht, um deren Bosheit zu dämpfen. Aber es wird kommen der gerechteste Lehrer, Bischof und Richter, der das Streicheln der Doktoren und die Bosheit der Vorgesetzten auf gerechteste Weise abwägen wird. Der hat gesagt: Auf Moses Lehrstuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das haltet und tut; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln – denn sie reden, aber handeln nicht.642 Wahrlich, dieser Lehrer hat die Bosheit der Vorgesetzten und Doktoren nicht gestreichelt. Er hat das Wahre gesagt und gelehrt, dass auf dem Lehrstuhl des Mose , von dem oben Kapitel 18 gehandelt wurde,643 bedeutet: in der Vollmacht zu richten und das Gesetz zu lehren, in dem Mose gesagt hat: Sie kommen zu mir, damit ich unter ihnen richte und Gottes Gebote und seine Gesetze aufzeige.644 „Alles nun, was sie euch sagen“ – die Interlinearglosse erläutert: was den Lehrstuhl betrifft – „das haltet“, nämlich im Herzen, und „tut es“ im Werk. „Aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln“ – die Interlinearglosse erläutert: Befolgt die Lehre, nicht ihren Lebenswandel. – „Sie sagen es nämlich und tun es nicht.“ Chrysostomus sagt dazu: Sie predigen den Glauben, handeln aber wie Ungläubige. Sie geben anderen den Frieden, haben ihn aber selbst nicht; sie rufen die Wahrheit Mt 23,2 f. 18,16.
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aus, lieben aber die Lüge, sie strafen die Habgier, aber schätzen das Begehren.645 Augustinus sagt, wie oben im 18. Kapitel zitiert ist: Denn da sie auf dem Stuhl Moses sitzen, lehren sie das Gesetz Gottes, also lehrt Gott durch sie. Wenn sie aber ihre eigenen Lehren lehren wollen, sollt ihr nicht hören und nicht danach handeln.646 Klar ist also dieses allerwahrhaftigste Wort und Gebot Christi, durch das deutlich ist: Er befiehlt nicht, alle Gebote derer, die auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen, zu halten und zu tun, weil er sonst nicht danach gesagt hätte: Sie legen nämlich schwere und unerträgliche Lasten auf , folglich solche, die nicht getragen werden müssen. Und es wird im nächsten Kapitel deutlich, wie er seine Jünger wegen des Gebots über das Essen mit ungewaschenen Händen und wegen des Fastens entschuldigt hat. Sodann ist zum Zeugnis des Augustinus, das die Doktoren unmittelbar anschließen, gegen Ende des vorigen Kapitels bereits das Nötige gesagt worden.647 Zum Ausspruch des seligen Hieronymus, über die Erklärung des Glaubens, ist im 16. Kapitel gesprochen worden,648 wobei unterstellt wurde, dass er zu Papst Damasus geredet hat. Aber nachdem wir viele alte Bücher eingesehen haben, erfuhren wir, dass er an den seligen Augustinus geschrieben hat, den er in seinen Briefen häufig „Papst“ nennt. Augustinus war ein wahrer Papst in der Bedeutung, dass er Stuhl und den Glauben des Petrus hatte, wie zu Beginn von Kapitel 13 klar wird.649 Zum Brief des seligen Bernhard, in dem er vom rein Guten, rein Bösen und vom Mittleren spricht, ist oben im 19. Kapitel gesprochen worden.650 Und es wird angefügt: Und in diesen mittleren Dingen „ist ein Gesetz des Gehorsam aufgestellt, gleichwie beim Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der mitten im Paradies stand“. Bei diesen Dingen ist es in der Tat nicht recht, unsere Ansicht der Entscheidung der Magister vorzuziehen, und keineswegs dürfen bei ihnen Befehl oder Verbot der Vorgesetzten missachtet werden . Hier ist anzumerken, dass das Adverb der Ähnlichkeit „gleichwie“ eine gewisse, nicht aber eine völlige Ähnlichkeit bezeichnet. Denn in dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse war von Gott, der nicht täuschen oder getäuscht werden kann, ein Gesetz aufgestellt worden, und zwar unter Androhung der Todesstrafe. Denn Gott sprach zu Adam: Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, an dem du davon isst, wirst du auch sterben.651 Zu bedenken ist also hier der Gebieter, zu bedenken ist das Gebot, Johannes Chrysostomos: In Matthaeum homilia 43 zu Mt 23,3 (PG 6,878). S. o. S. 500, 2–4. 647 S. o. S. 525, 22–33. 648 S. o. S. 478, 20–23; 480, 2–22. 649 S. o. S. 443, 19–444, 2. 650 S. o. S. 510, 17–511, 10. 651 Gen 2,17. 645 646
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zu bedenken auch die Lage des zum Gehorsam verpflichteten Menschen. Der Gebieter war Gott, der nicht irren kann. Das Gebot war ein sehr nützliches. Und der Mensch war einer, der Gott selbst so gebieten hörte. Es war also rein böse, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nach dem abschlägigen Gebot zu essen. Demgemäß soll einmal angenommen werden, dass ein Vorsteher namens Petrus seinem Untergebenen Johannes befiehlt, Erdbeeren zu sammeln. Und es soll erwogen werden, ob der Gebietende dabei nicht irren kann, in welchem Maße das Werk für den Gehorchenden nützlich ist und ob der Gehorchende zu diesem Werk so fähig ist wie Adam zum Befolgen von Gottes Gebot. Offensichtlich besteht hinsichtlich der Vergleichbarkeit bei allen drei Erwägungen keine Ähnlichkeit. Denn sowohl der Vorsteher kann irren, als auch das Werk nicht so nützlich sein, und vom Gehorchenden steht auch fest, dass er zu jenem Werk nicht ebenso befähigt ist wie Adam zum Befolgen von Gottes Gebot. Daher sagt Bernhard, dass ein Werk ein Mittleres ist, das nach Art und Weise, Ort, Zeit oder Person sowohl gut als auch böse ist.652 Dort benennt dieser Heilige die Umstände jeweils von Seiten des Befehlenden, des Werkes und des Gehorchenden. Wenn er also sagt, ein Werk ist ein Mittleres der Art und Weise nach, so meint er dort ein gebührendes Maß an Überlegung, so dass der Befehlende nicht von den göttlichen Ratschlägen abweicht. Wenn nämlich ein Vorgesetzter dem Petrus als dem Untergebenen, der ein in Gottes Gesetz ausgebildeter Priester ist, befiehlt, am Sonntag die Schweine zu füttern, aber Gott ihm rät, an demselben Tag ein über die Pflicht hinausgehendes gutes Werk zu tun, das mit jenem Handeln unvereinbar ist, dann ist der Priester Petrus eher verpflichtet, Gott mit seinem Rat zu gehorchen als dem Vorgesetzten mit seinem Befehl. Das ist offensichtlich: Denn der Vorgesetzte ist zwar sehr ehrwürdig, jeder ihm Untergebene sehr zum Gehorsam verpflichtet und die auferlegte Handlung ist sehr nützlich. Doch die vom Vorgesetzten auferlegte Handlung, nämlich am Sonntag die Schweine zu füttern, ist hinsichtlich des Verdienstes gleichgültig; aber die von Gott auferlegte Handlung besitzt den Grund des Verdienstes in sich selbst. Daher möchte ich, dass der heilige Bernhard in Bezug auf folgenden Falle geantwortet hätte. Hätte der selige Benedikt ihm geboten, die Schweine zu füttern, und Gott ihm für die gleiche Zeit geraten, Leuten, die in der Kirche Rat suchen, solchen Rat zum Heil ihrer Seelen zu erteilen, so schätze ich, dass die Autorität des Ratgebenden und die gröBernhard von Clairvaux, Epistola ad Adam Monachum (PL 182,95); s. o. S. 510, 23–25.38–41.
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ßere Nützlichkeit des Rates – sie war größer als die Nützlichkeit des Gebotes des heiligen Benedikt – den Bernhard gezwungen hätten, eher dem göttlichen Rat als dem Gebot Benedikts zu gehorchen: zur Ehre Gottes und zum Heil der Ratsuchenden. Anscheinend folgt daraus: Wir sind jedwedem göttlichen Rat mehr verpflichtet, als einem damit unvereinbarem menschlichen Befehl. Zweitens scheint zu folgen, dass niemand gehalten ist einem persönlichen Befehl eines Vorgesetzten zu gehorchen, außer er ermutigt zu einem göttlichen Rat oder Gebot. Und es ergibt sich, dass in der „Art und Weise“ das gebührende Maß an Vernunft und die Eigenart des Befehls inbegriffen sind, welche der Gehorchende wie der Befehlende erwägen sollen. Welchen Sinn hätte es denn, dass auf Befehl eines dummen und fetten Bischofs ein Priester Schweine füttert, aber die Schafe Christi, die dieser mit seinem eigenen Blut erlöst hat, ohne Nahrung zu lassen? In ähnlicher Weise ist der Umstand des Ortes zu erwägen. Denn würde ein Vorgesetzter dem Untergebenen befehlen, sich einem Gericht am Ort seiner Feinde zu stellen, die für den Untergebenen das Todesurteil erwirken wollen, so ist der Untergebene nicht gehalten zu gehorchen. Daher sagt Papst, Clemens V.: Wer sollte es denn wagen und aus welchem Grund sollte jemand zu dem Wagnis verpflichtet sein, sich dem Urteil eines solchen Gerichtshofs zu unterwerfen: sich an den Bußen der Feinde zu legen und sich freiwillig dem Tod durch gewaltsames Unrecht darzubieten, nicht aber durch Vollstreckung eines Rechtsspruches? Das fürchtet man laut Gesetz, solche Vorgänge werden nach altem Herkommen vermieden. Das scheut die menschliche Vernunft, das verabscheut das natürliche Empfinden. Unvernünftig ist folglich, wer annimmt, dass eine solche Vorladung den Vorgeladenen in die Enge treiben kann. Auch die Möglichkeit zur Verteidigung, die vom Naturrecht ausgeht, darf nicht entzogen werden. Denn was zum natürlichen Recht gehört, darf nicht einmal der Kaiser aufheben.653 Ferner sagt Papst Nikolaus dem Kaiser Michael: Dass Verdächtige und Gegner nicht Richter sein dürfen, schreibt die Vernunft von selbst vor und wird auch durch viele Beispiele bewiesen. Denn was kann jemand seinem Gegner Angenehmeres und Lieberes geben, als wenn er sich demjenigen zum Beschuldigen überlassen hat, d. h. zum Anzeigen, Strafen, Anklagen, den er vielleicht schädigen wollte? Das hat daher das Konzil von Konstantinopel im sechsten Kapitel seiner Canones weise als zu verbieten erkannt. In demselben Kapitel sagt Papst Gelasius, der strengste Bekämpfer der Ketzer: „Ich frage, wo kann das Gericht, das sie vorschütConstitutiones lib. 2 tit. 11: De sententia et re iudicanda, c. 2: Pastoralis (Friedberg 2,1152).
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zen, betrieben werden? Etwa sogar bei ihnen? Sodass dieselben die Gegner, Zeugen und Richter sind? Aber einem solchen Gericht dürfen nicht einmal menschliche, d. h. weltliche Rechtsgeschäfte anvertraut werden.“ Wenn aber einem Gericht, wo dieselben die Gegner sind, die die Richter sind, nicht einmal menschliche Urteile überlassen werden dürfen, wieviel weniger göttliche, d. h. kirchliche. Wer weise ist, sieht dies ein. Und daher hat wahrlich der fromme Kaiser Justinian bekanntlich in seinen Gesetzen verkündet: „Dem, der einen Richter für verdächtig hält, sei es erlaubt, ihn bevor der Prozess beginnt, abzulehnen und sich an einen anderen zu wenden.“ Denn es ist gewissermaßen natürlich, den Nachstellungen der Richter ausweichen und dem Rechtsspruch von Feinden entfliehen zu wollen. So hat sich der heilige Johannes Chrysostomus, der „Goldmund“, geweigert, die Versammlung eines gegen ihn zusammengetretenen Konzils zu betreten . Soweit hier das Zitat. An dieser Stelle schließt Gratian: Ein Angeklagter ist keinesfalls zur Aburteilung aus seiner Provinz zu führen. Daher sagt Papst Fabian: Dort aber soll immer der Fall verhandelt werden, wo das Verbrechen begangen wird; und wer nicht beweisen kann, was er einem anderen vorgeworfen hat, soll die Strafe, die er beantragt hat, selbst erleiden. Ferner Papst Stephanus: Die Erlaubnis, jemanden anzuklagen, soll nicht über die Grenze der Provinz hinausgehen, sondern jede Anklage soll innerhalb der Provinz gehört werden . Dasselbe erhellt aus einer römischen Synode.654 Welchen Anschein oder welchen Sinn soll dieser Gehorsam haben, dass eine vorgeladene Person, die dem Papst selbst unbekannt und von Feinden angezeigt ist, 300 Meilen weit so verängstigt durch feindliches Gebiet reist und zu feindlichen Richtern und Zeugen kommt, dass sie die Habe der Armen verschwenderisch verbraucht oder, wenn sie keine Mittel hat, auf erbärmliche Weise unter Durst und Hunger reist? Und was ist die Frucht ihres Erscheinens? Mit Gewissheit die Vernachlässigung der Arbeit, die ihr in Bezug auf das eigene Heil und das der anderen von Gott auferlegt ist. Auch wird sie dort nicht gelehrt, recht zu glauben, sondern zu streiten, was einem Diener Gottes nicht ziemt. Dort wird sie im Konsistorium ihrer Mittel beraubt werden, wird im heiligen Lebenswandel erkalten, durch Pressionen zur Ungeduld aufgestachelt werden und, wenn sie nichts zu geben hat, verurteilt werden, auch wenn sie die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat, und, was noch schlimmer ist: gezwungen werden, den Papst wie Gott kniefällig anzubeten. 654 Decr. Grat. II C. 3 q. 5 c. 15; q. 6 pars 1; a. a. O.. c. 1.4.16: Neminem (Friedberg 1,518 f.523).
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Gelobt sei also Gott, der gesagt hat: Darum will ich hinabsteigen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Schreien entspricht, das zu mir gedrungen ist. Ich will wissen, ob es so ist oder nicht . Gelobt sei Gottes Sohn, der vom Himmel herabgestiegen ist, damit er suchte und heil machte, was verloren gegangen war, der umherging in alle Städte und Dörfer, in ihren Synagogen lehrte und das Evangelium von dem Reich predigte und jede Seuche und Krankheit heilte. Und als er das Volk sah, empfand er Erbarmen mit ihnen, weil sie ermattet waren und dalagen wie Schafe, die keinen Hirten haben . Gelobt sei Christus selbst, der Petrus befohlen hat: Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein . Daher wird der Papst keine Schriftstellen finden – außer solchen, die das Gegenteil besagen –, dass Christus solche Vorladungen befolgte. Wenn nämlich Päpste jenes Gesetz Christi abwägten: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten,655 so nehme ich an, dass sie vernünftigerweise nicht wollten, dass sie von anderen Menschen vorgeladen und genötigt würden, solch einen gefahrvollen und unbekannten Weg zurückzulegen. Warum sollten sie also andere ohne ersichtlichen und vernünftigen Grund zwingen, sich solchermaßen abzumühen? Würden sie doch nur das vorbildliche Leben des Bischofs Christus bedenken, der die Irrenden und vom Teufel Bedrängten gütig aufgesucht hat, nicht durch Vorladen, nicht durch Exkommunizieren, Einkerkern oder Verbrennen, der auch Petrus und in ihm jedem von dessen Statthalter geboten hat: Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und weise ihn zurecht usw. Dabei sollte ein Statthalter Petri bemerken: Erstens, dass, wenn er einen Bruder zurechtweisen will, er sich selbst zuerst untadelig verhalten muss, denn die Nächstenliebe muss bei sich selbst beginnen. Wie kann also ein Vorgesetzter, der ganz erfüllt ist von simonistischer Ketzerei, Hochmut, Verschwendung oder Habsucht zu Recht einen Bruder zurechtweisen? Zu ihm spricht der Herr: Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und siehe dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst. Oder wie kann er jemand zum Tode verurteilen, wenn der Erlöser spricht: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.656 Wahrlich, wenn dieses Gesetz Christi bedacht wird, wird sich in diesen Zeiten selten ein Vorgesetzter finden, der zu Recht jemanden zurechtweisen oder wegen Ketzerei verdammen könnte. Zweitens sollte ein Statthalter Christi bemerken, dass der Erlöser befiehlt: Gehe hin! , wobei er befiehlt, dass die Richter, um die 655
Gen 18,21; Lk 19,10; Mt 9,35 f.; 18,15; 7,12.
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Untergebenen zurechtzuweisen, die Orte aufsuchen müssen, an denen ein Verbrechen begangen worden sein soll, wie auch die Gesetze besagen. Denn Christus hat so gehandelt, ähnlich auch die Apostel. Und so wird es Christus im letzten Gericht tun, wie er es allein vorhersagt.657 Drittens soll ein Statthalter des Petrus oder Vorgesetzter bemerken, dass er in der Art des Zurechtweisens klug, beharrlich und eifrig sein muss, dass er nicht vor dem Ende der dritten Zurechtweisung exkommuniziert. Viertens soll er sich die Menge der zuverlässigen Zeugen merken, durch die das Vergehen des Bruders festgestellt wird. Und fünftens soll er es der Gemeinde als der höheren Instanz sagen. So nämlich befahl der Herr dem Petrus: Sage es der Gemeinde.658 Aus dem Gesagten folgere ich, dass die vorgebliche Exkommunikation mich nicht betrifft und mich nicht bindet. Denn meine Feinde sitzen als Richter und Zeugen in Rom, und der Fall hauptsächlich den Richter betrifft. Der Weg ist mir zu weit, auf allen Seiten von feindlichen Deutschen umgeben. Ich sehe nicht, dass mein Erscheinen Frucht bringt, sondern die Vernachlässigung des Volks im Wort Gottes. Ich hoffe, dass mir Christus Schutz gegeben hat, indem er sprach: Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben. Hütet euch aber vor den Menschen; denn sie werden euch überantworten vor ihre Ratsversammlungen und werden euch geißeln in ihren Synagogen . Und: Siehe, ich habe es euch vorhergesagt. Darum, wenn sie sagen werden: „Siehe, er ist in der Wüste“, so gehet nicht hinaus! „Siehe, er ist im Hausinneren!“, so glaubt es nicht. „Siehe, hier ist Christus oder da!“, so sollt ihr es nicht glauben .659 Christus selbst habe ich mich daher anvertraut, damit er entweder durch die vorgebliche Exkommunikation der Menschen oder ohne sie durch einen natürlichen oder einen gewaltsamen Tod, mein Leben zum Ziel führen möge. Hinsichtlich des Umstandes der Zeit ist es nicht zweifelhaft, dass es erforderlich ist, dass sowohl der Gebietende wie der Gehorchende weiß, wann eine der Beschaffenheit nach gute oder neutrale Handlung geschehen soll. Wenn nämlich der Vorgesetzte dem Untergebenen am Osterfest zu fasten geböte oder, obwohl er gesund ist, am Karfreitag nicht zu fasten, wäre es dann etwa dem Untergebenen erlaubt, entgegen dem anerkannten Brauch der Kirche zu gehorchen und entgegen dem widerstrebenden Gewissen des Untergebenen selbst? Oder wenn er ihm geböte, mitten in der Nacht ohne Notwendigkeit im Walde unter wilden Tieren herumzuschweifen? Und es gibt es noch viele solcher Gebote, die der Vernunft wider657
Mt 25,31–45.
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Mt 10,16 f.; 24, 25 f.; vgl. 23.
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sprechen. Auch darf daraus keine Folgerung gezogen werden, wenn irgendwo in den Lebensbeschreibungen der heiligen Väter zu finden ist, dass die Untergebenen in solchen unangebrachten Werken oder neutralen Dingen gehorcht hätten. So wie einige der heiligen Väter, wie Hugo von Sankt Victor sagt: So wie wir lesen, dass einige der heiligen Väter viele Dinge, die man als mit der menschlichen Vernunft unvereinbar bezeichnet, zur Erprobung der Kraft des Gehorsams den Untergebenen geboten haben: etwa trockene Strümpfe zu begießen, bis sie Sprossen hervortrieben, harte Felsen mit darüber fließendem Wasser zu erweichen, wilde Tiere mit einem Befehlswort zu zähmen.660 Was dem Umstand der Person betrifft, ist klar, dass die Vernunft die Lenkerin sein muss sowohl in dem nach seiner Beschaffenheit guten als auch im neutralen Werk. In dem nach seiner Beschaffenheit guten Werk: Wenn ein Vorgesetzter seinem Untergebenen gebietet, Almosen zu verteilen und dabei die Kinder zu berauben oder eine Buße in der Fastenzeit auf sich zu nehmen, die er nicht in angemessener Weise aushalten kann, oder viele Gebete zu verrichten, je nachdem, wie die Beichtväter den Menschen Beschwernisse machen. In solchen Fällen ist auch gewiss nicht einmal auf den Papst zu hören. Denn ein Vater ist eher gehalten, die Kinder zu ernähren, als anderen Almosen zu geben. Und unerträgliche Lasten auf sich zu nehmen, ist er nicht verpflichtet. Und genauso verhält es sich bei den neutralen Werken. Wenn der Papst mir befehlen würde, Flöte zu spielen, Türme zu bauen, Kleider zu flicken oder zu weben und Würste zu stopfen, müsste da nicht meine Vernunft urteilen, dass der Papst mir töricht geboten hätte? Warum sollte ich das, was ich darüber empfinde, nicht einem Spruch des Papstes vorziehen? Ja, wenn er mir solche Dinge zusammen mit allen unseren Doktoren geböte, würde die Vernunft urteilen, dass ihre Meinung töricht wäre. Ebenso, wenn ein Papst aus eigenem Antrieb, sogar in Befehlsform einem aufträgt, ein Bistum zu übernehmen, der aber dazu ungeeignet ist, weil er ein lasterhaftes Leben führt, das Gesetz Gottes nicht kennt und auch die Sprache des Volkes nicht beherrscht, das er leiten soll, sollte der etwa gehorchen und es annehmen? Offensichtlich sollte er das nicht. Gleichermaßen dürfte auch das Volk ihn nicht annehmen, denn sie würden auch niemanden als Schweine- oder Ziegenhirt einstellen, der nicht zum Hüten des Viehs taugte. Und es erhellt, dass ein treuer Schüler Christi zuerst auf Christi Beispiel blicken und in dem Maße auf den Vorgesetzten hören muss, 660
Nach Wyclif.
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insofern der seinem Untergebenen Christi Gesetz gebietet sowie Dinge, die vernünftig sind und auferbauend und somit erlaubt. Denn Cyprian, der glorreiche Märtyrer Gottes, sagt: Wenn Christus allein gehört werden soll, so dürfen wir nicht darauf achten, was irgendein anderer vor uns zu tun für richtig gehalten hat, sondern was der zuvor getan hat, der vor allen ist: Christus.661 Diese allerfesteste Regel setzen die Statthalter des Antichrist hintan, die sagen, der Ungehorsam gegen die päpstlichen Erlasse sei aufs schwerste zu bestrafen. Und somit wird Christus mit seinem Gesetz hintangesetzt. Also angenommen, dem Papst und den Vorgesetzten muss in allen neutralen Dingen gehorcht werden. Dann könnte der Papst das Gesetz Christi erschweren und entscheiden, dass kein Christ irgendein neutrales Werk tun dürfte, wenn er es nicht selbst nachträglich durch Billigung bestätigt. Und folglich könnte er seine Statthalter einsetzen, um jeden Beliebigen vorzuladen, vor seinem Gericht zu erscheinen, um sich zu verantworten. Sie könnten dann nach Wunsch das Volk quälen und strafen, wie sie es bei den Lossprechungen, Reservationen und Dispensen machen. Wie man glauben kann, würden sie es aber noch weiter treiben, wenn sie nicht fürchteten, dass das Volk sich empörte, wenn es ihre Hinterhältigkeit durchschaut. Denn schon jetzt erleuchtet Gott das Volk, damit es nicht als Volk des Antichrist von Christi Wegen weggeführt wird. Denn Daniel hat vorhergesagt: Und Arme werden aus ihm herausstehen und das Heiligtum beflecken. Und sie werden den Gräuel zur Zerstörung verursachen. Und die Gottlosen werden frevlerisch gegen den Bund heucheln, aber das Volk, das seinen Herrn kennt, wird festhalten und vollbringen.662 Die Arme des Antichrist, die aus ihm herausstehen und das Heiligtum Gottes beflecken, sind die bösen Vorsteher, die wegen der Verbrechen Gräuel sind und Zerstörung durch die Verachtung der Nachfolge Christi. Von diesem Gräuel spricht Christus: Wenn ihr sehen werdet, dass der Gräuel der Zerstörung an der heiligen Stätte steht. Und: Dass er steht, wo er nicht soll, was von dem Propheten Daniel gesagt ist. Und wenn der Prophet hinzu setzt: Und die Gottlosen werden frevlerisch gegen den Bund heucheln, so bedeutet das: Sie werden sagen, dass sie den Bund Christi halten werden. Aber sie werden ihn nicht halten, weil sie ihn zu ihrer Selbsterhöhung und um ihre Sünden zu entschuldigen, verkehrt auslegen. Das Volk aber, das seinen Herrn kennt, d. h. ihn durch die Gnadengabe Gottes durch Nachahmung als den Christus erkennt, wird festhalten und vollbringen die Gebote des Bundes unseres Herrn Jesus Christus. Aber weil denen, die das lehren, Verfolgung 661
Decr. Grat. I dist. 8 c. 9 (Friedberg 1,15).
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Dan 11,31 f.
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und Todesstrafe droht, sagt Daniel weiter: Und die Gelehrten im Volk werden sehr viele lehren und sie werden eine Zeit lang dem Schwert und dem Feuer, dem Gefängnis und der Verwüstung verfallen. Und wenn sie so fallen, werden sie durch eine kleine Hilfe aufgerichtet, aber sehr viele werden sich ihnen nur zum Schein anschließen .663 Die tatsächliche Erfahrung entfaltet das Verständnis dieses Textes: Denn die Gelehrten durch Gottes Gnade – einfache Laien und Priester – belehren sehr viele durch das Vorbild eines guten Lebens. Und indem sie öffentlich dem lügnerischen Wort des Antichrist widersprechen, verfallen sie dem Schwert, wie es offenkundig auf die Laien Johann, Martin und Staschek zutrifft, die dem Schwert verfallen sind, als sie den lügnerischen Jüngern des Antichrist widersprachen. Wiederum sind andere, die ihren Hals für die Wahrheit hingehalten haben, zu Märtyrern geworden. Sowohl Priester als auch Laien und Frauen sind gefangen, eingekerkert und hingerichtet worden und haben dennoch die Wahrheit Christi nicht verleugnet. Aber die sich ihnen nur zum Schein angeschlossen hatten, sind wieder weggegangen. Denn erschreckt durch die Strafen des Antichrist und die Gefangennahmen haben sie sich dem entgegengesetzten Weg zugewandt. Aber bisher vermehrt der Herr die Söhne der Kirche, die gut sind im Erleiden und die Wahrheit des Herrn Christus verkünden. Gelobt sei also Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der den Weg der Wahrheit vor den Weisen und Klugen verborgen und ihn den einfachen Laien und kleinen Priestern offenbart hat, die es vorziehen, mehr Gott als den Menschen zu gehorchen,664 die auch nach ihrer Beschaffenheit in guten und in neutralen Werken – indem sie Christi Leben vor Augen haben – nur insoweit den Vorgesetzten gehorchen, als diese durch ihre Umstände näher bestimmten Handlungen sich vernünftig auf die Beförderung der Nachahmung Jesu Christi zurückführen lassen. Denn diese begreifen wirklich, dass acht Umstände rechtfertigen, dass eine Handlung tugendhaft ist. Sie finden sich in dieser Zeile: Wer, was, wo, wieviel, wie oft, wozu, wie und wann. Wer bezieht sich auf die Person, die gehorchen soll. Was soll die Person tun, wenn es geboten wird? Wo, weil es an dem einen Orte geziemt, in einer nach der Beschaffenheit guten oder neutralen Handlung zu gehorchen, nicht aber so an einem anderen oder an jedem. Wieviel soll die Person gehorchen? Nur insoweit als etwas geboten wird, das auferbaut und sich auf ein Gebot oder einen Rat Christi zurückführen lässt. 663
Dan 11,33 f.
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Vgl. Mt 11,25; Apg 5,29.
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Denn nicht unbegrenzt ist jemand seinem persönlichen Vorgesetzten gehalten zu gehorchen, wie die Unvernünftigen schwatzen, die sagen, dass die Macht des Papstes zu gebieten sich unbegrenzt erstrecke und ihm alle Christen insoweit gehorchen müssten. Wie oft kann eine Handlung – erlaubterweise, versteht sich! – geschehen? Indem es sich nicht ziemt, wenn ein Untergebener auf das Gebot eines Priesters hin, der ihm eine Buße auferlegt, zwei Grossi oder Denare gibt oder wöchentlich drei Tage fastet, er folglich so oft Grossi geben oder so oft tagelang fasten soll, so oft das ein Stümper gebietet oder festsetzt. Dass er, wenn er nicht den Geldbeutel des Beichtvaters füllt, so viel für den Bau der Peterskirche geben soll, wie er opfern würde, wenn er dort wäre, und so viel für die Kasse des Papstes, wie er auf der Reise verbraucht hätte. Und so gilt es von den anderen Steuern, die vom Teufel erfunden worden sind. Der Gläubige muss auch den Umstand des Zweckes erwägen. Wozu, d. h. nämlich: zu welchem Zweck, soll einer bei einer Handlung, die geboten wird, gehorchen? Denn wenn es unmittelbar zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Kirche führt, so ist es ein guter Zweck. Wenn aber ein anderer Zweck vorgegeben wird, dann ist es gegen das Wort des Apostels: Alles, was ihr tut, das tut im Namen Jesu Christi.665 Denn der Zweck bemisst alle Mittel, die sich um seinetwillen ereignen. Daher schlussfolgert Aristoteles und sagt: Es ist recht, alles von seinem Zweck her abzuleiten, sodass, wenn der Zweck gut ist, das Mittel dazu auch gut ist.666 Ein weiterer Umstand wird hinzugefügt, wenn Wie gesagt wird. Denn es genügt nicht, etwas der Art nach Gutes zu tun, sondern es ist erforderlich, dass es auf gute Art geschieht. Nichts aber geschieht auf gute Art durch einen Menschen, wenn es nicht in der Liebe geschieht. Daher sagt der Apostel: Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen. Und dass vom Menschen ohne Liebe nichts gut getan wird, beweist der Apostel Paulus mit den Worten: Und wenn ich alle meine Besitztümer als Nahrung für die Armen verteilte, aber keine Liebe hätte, so würde es mir nichts nützen. Und der Grund ist, dass eine Rebe nicht Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt , wie der Erlöser sagt: Ihr könnt nicht Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt,667 nämlich durch die Liebe. Daher wird allgemein gesagt, wie ein Philosoph mit Namen Phantasma behauptet hat, dass Gott kein Vergelter der Substantive, sondern der Adverbien sei.668 Und es ist deutlich, dass zum wahren Gehorsam Gnade oder Liebe erforderKol 3,17. 666 Hus gibt Aristoteles: De anima lib. 2 an, wo sich das Zitat nicht findet; traditionell überliefert, so z. B. auch bei Baldus de Ubaldis. 667 1Kor 16,14; 13,3; Joh 15,4. 668 Traditionell überliefert, z. B. auch bei Wyclif. 665
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lich ist, und dann die anderen Umstände, die in dem Adverb inbegriffen sind, dem Wie. Denn der zu Gehorsam Verpflichtete soll das gebotene Werk liebevoll, demütig, klug, verborgen669, eifrig und bereitwillig ausführen. Die letzte Bedingung ist: Wann. Wann nämlich ist es passend, ein gebotenes Werk auszuführen zu der Zeit, die zuvor genannt worden ist? Denn ohne Zweifel gibt es viele Werke, die der Art nach gut und neutral sind, die zu gebieten nicht zu jeder beliebigen Zeit zuträglich ist und denen zu gehorchen folglich auch nicht zu jeder beliebigen Zeit zuträglich ist. Aber dafür lässt sich auch so der Beweis führen: Angenommen, der Papst auferlege irgendeinem ihm unterstellten Geistlichen kraft des heiligen Gehorsams und unter Verheißung der Lossprechung von Strafe und Schuld oder eines andern geistlichen Gunsterweises, dass er als erstem einem begegnen solle, der dem Papst völlig gehorsam ist. Und angenommen, er auferlege irgendeinem Laien in ähnlicher Form, dass er als erstem einem begegnen soll, der dem Papst ungehorsam ist, und dieser Auftrag erfolge unter schwerster Banndrohung. Und dazu soll angenommen sein, dass jeder – Kleriker wie Laie – der diesem Papst untertan war, ihm zuerst völlig gehorsam gewesen sei, und dass jeder Kleriker als erstem einzeln einem Laien begegnete und umgekehrt. So scheint ein Widerspruch die Folge zu sein, denn es wird vorausgesetzt, was nicht vom Kleriker Petrus und vom Laien Paulus zutrifft, die einander jeweils als erstem begegnen. Und ich frage, ob Petrus im Augenblick der Begegnung dem Papst gehorsam ist. Wenn ja, dann muss man in dem Fall sagen, dass Paulus in diesem Moment ungehorsam ist. Denn wenn er als erstem Petrus begegnet, der dem Papst ganz gehorsam ist, ihm aber doch auferlegt worden ist, als erstem einem zu begegnen, der dem Papst ungehorsam ist, so folgt: Paulus verfällt dem Kennzeichen des Ungehorsams. Und so auch Petrus. Wenn in diesem Fall Petrus aber im Moment der Begegnung dem Papst ungehorsam ist, dann muss man zugestehen, dass Paulus gehorsam ist und folglich auch Petrus. Denn vor der Begegnung war jeder von beiden gehorsam, und Petrus wird durch die Begegnung nicht ungehorsam, sondern sein Gehorsam wird nach dem Gesagten bestätigt. Auch kann man wegen solcher Widersprüche aus drei Gründen den Beispielfall nicht bestreiten: Erstens, weil das Gebot nur neutral oder möglich ist. Zweitens, weil der Vorgesetzte etwas einfach Unmögliches und gänzlich Unvernünftiges gebieten kann – also kann er eben darum oder wegen des ersten Grundes dies gebieten. Darum bleibt keine 669
Vgl. Mt 6,18.
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Antwort übrig als die Wahrheit: Wegen des Gebietens des Vorgesetzten erlangt weder der Kleriker noch der Laie in geringerem oder höherem Maße Strafe oder Lohn. Denn es ist notwendig, dass ein Gebot, dem gehorcht werden soll, zuerst vor Gott vernünftig ist. Und dann soll es getan werden, auch wenn es niemand kraft menschlichen Gehorsams geböte. Andernfalls würde der Mensch ungehorsam gegenüber der Vernunft. Und es ist klar: Wie man in diesem Falle nur erwarten kann, völlig freigesprochen oder verdammt zu werden, außer in dem Maße, in dem sich das irgendjemand zuerst vor Gott verdient hat, so auch allgemein nicht in einem päpstlichen Urteil. So muss nämlich dieser logische Einwurf aufgelöst werden. Ähnlich, wenn angenommen wird, dass ein Prior namens Petrus zwei klösterliche Zwölfergruppen hat, die ihm alle gehorsam sind, und der standhafteren Gruppe befiehlt, nicht mit der anderen zu sprechen, es sei denn, wenn sie ungehorsam ist, um sie zum Gehorsam zurückzuführen. Und es ist klar, dass die zweite Zwölfergruppe nicht mit der anderen spricht, außer wenn sie dem Petrus gehorsam ist, um den Gehorsam zu bestärken. Aber wenn Paulus aus der ersten Gruppe mit Linus von der zweiten Gruppe zu reden beginnt, und beide dafür einstehen, den Gehorsam zu bewahren, sodass fortwährend vor jenem Gespräch jeder von ihnen Petrus rechtmäßig gehorsam war, wird auch der Widerspruch offenbar. Ebenso, wie Bernhard im Brief an den Mönch Adam sagt, können die mittleren Dinge ohne Unterschied gleichermaßen sowohl auf gute als auch auf böse Weise befohlen oder verboten werden .670 Wenn also ein Vorgesetzter böse befiehlt oder verbietet, so muss der Untergebene, wenn er erkennt, dass dieser böse befiehlt oder verbietet, ihn aufgrund des Gesetzes der Liebe wie einen Bruder ermahnen, denn wenn er so befiehlt oder verbietet, sündigt er gegen Gott und seinen Bruder. Das wird deutlich aus jener Regel Christi: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, so gehe hin und weise ihn zwischen dir und ihm allein zurecht.671 Und es steht dem nicht entgegen, dass der an Tugend Überragende den, der ihm im Lebenswandel unterlegen ist, zurechtweist, wenn er auch höheren Standes ist. Denn sonst würde dies Gesetz Christi zunichte, das anordnet, dass jeder christliche Vorgesetzte, wenn er sündigt, von einem anderen zurechtgewiesen werden soll. Denn dies Gesetz sagt ganz allgemein: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, so weise ihn zurecht. Wenn daher, was unmöglich ist, Christus sündigte, so wäre er, weil er unser Bruder ist,672 von der Kirche zurechtzuweisen. 670
S. o. S. 510, 38–41.
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Mt 18,15.
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Hebr 2,17.
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Darum hat er dies gemeint, als er zur Volksmenge sagte: Wer unter euch kann mich einer Sünde beschuldigen? 673 Daher singt die Kirche dementsprechend in der Person Christi: Mein Volk, was habe ich dir getan oder womit habe ich dich betrübt? Antworte mir! – nämlich: indem du mir etwas vorwirfst. Und Jesaja sagt: Hört auf, Verkehrtes zu tun, lernt, Gutes zu tun, trachtet nach Recht, kommt dem Unterdrückten zu Hilfe, schafft den Waisen Recht, verteidigt die Sache der Witwe und kommt und streitet mit mir, spricht der Herr.674 Es ist also klar, dass jeder Erdenpilger, wenn er sündigt, vom Mitbruder zurechtgewiesen werden soll. Denn sonst würde das Gesetz Christi, der ein Heilmittel gegen die Flecken seiner Braut verordnet, in Verfall kommen. Dem hat Paulus widersprochen,675 als er für eine leichte Schuld dem Papst Petrus ins Angesicht Widerstand leistete, und er hat es der Nachwelt schriftlich hinterlassen, dass sie gegebenenfalls einen Bruder ähnlich behandeln solle. Daher ist es unredlich zu behaupten, dass der Ranghöhere nicht von einem dem Höheren Untergebenen hinsichtlich des Lebenswandels zurechtgewiesen werden kann. Es kann also gegebenenfalls der Sohn den Vater, die Tochter die Mutter, der Untergebene den Vorgesetzten, der Schüler den Lehrer aufgrund des Gesetzes der Liebe zurechtweisen. Aber dagegen wird Einwand erhoben mit dem Argument, dass der Papst auf Erden die Stelle des Herrn Jesu Christi vertritt. Ihn zurechtzuweisen war aber keinem gestattet, wie sich aus Matthäus ergibt, wo Petrus, weil er Christus zurechtweist, „Satan“ genannt wird.676 Daher ist auch nicht erlaubt, seinen Statthalter zurechtzuweisen. Aber dieser Beweis hinkt allzu sehr, denn dann müsste man auch sagen, dass jeder Statthalter Christi sündlos wie Christus sei. Aber richtig folgt daraus, dass weder der Papst noch ein anderer getadelt oder zurechtgewiesen werden darf, insoweit er dem Haupt Christus folgt. Aber wenn ein Bischof oder Beichtvater, der Christi Stelle vertritt, einen Akt der Ausschweifung an einer Jungfrau oder keuschen Ehefrau zu begehen versucht, muss man ihn dann nicht etwa heftig zurechtweisen als einen Antichrist und einen treulosen Feind seiner eigenen Seele? Denn bei dieser unerlaubten Handlung vertritt er nicht die Stelle Christi, sondern eher die des Antichrist und Teufels, der die Frau auf schändlichste Weise versucht.677 Und es ergibt sich, dass jenes Wort Bernhards, das die Doktoren anführen, dass es in diesen, nämlich mittleren Dingen in der Tat nicht recht ist, unsere Ansicht der Entscheidung der Magister vorzuziehen, und 673
Joh 8,46.
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Jes 1,16–18.
675
Gal 2,11.
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Mt 16,23.
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Vgl. Gen 3.
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keinesfalls dürfen in diesen Dingen Befehl oder Verbot der Vorgesetzten missachtet werden,678 so verstanden werden muss, dass die Umstände zur Ausführung des geschuldeten Gehorsams hinzugefügt werden müssen, wie gesagt worden ist: hinsichtlich der Art und Weise, des Ortes, der Zeit und der Person. Denn oft gehorcht vernünftigerweise ein Schüler bei einem unbestimmten oder neutralen Werk oder auch bei einem seiner Art nach gutem Werk besser nicht und zeigt den Grund dafür auf, warum es sich so nicht geziemt zu gehorchen. So wie es mir schon oft ergangen ist, wenn ich etwas befohlen habe und, eines Besseren belehrt, sogar dankbar die Belehrung angenommen und dem Schüler gehorcht habe. Und ganz genauso verhält es sich mit einem Vorgesetzten. Denn in unseren Zeiten sind die Vorgesetzten, die recht oft aus Unkenntnis in ihren Geboten irren, von den Untergebenen liebevoll zum Wohl der Kirche zurechtzuweisen. Aber weiter wird dagegen mit dem Argument Einspruch erhoben: Der Gleichrangige hat nämlich über einen Gleichrangigen keine Befehlsgewalt. Da also der Papst jede Person, die auf dem irdischen Pilgerweg ist, überragt und jeder Höherstehende seinen Untergebenen, scheint es, dass es keinem Erdenpilger zusteht, den Papst, oder einem Untergebenen seinen Vorgesetzten zurechtzuweisen. Hierzu wird von mir gesagt, dass, wenn das Vorhergehende notwendigerweise Bestand hat, wenn Gott Vater notwendigerweise keine Befehlsgewalt über den Heiligen Geist hat und dennoch beide gleichrangige Personen sind, die Folgerung nicht gilt: Gott Vater hat notwendigerweise die Befehlsgewalt über den Sohn gemäß dessen angenommener Menschheit und beide sind dennoch absolut gleichrangig. Folglich würde, wenn kein Gleicher Befehlsgewalt über einen Gleichen hätte, die katholische Glaubenslehre Schaden erleiden. Und wiederum gibt es eine stellvertretende Befehlsgewalt, welcher Art jede menschliche Befehlsgewalt ist, wie der Apostel sagt: Den Reichen von dieser Welt gebiete, nicht stolz zu sein.679 Eine andere Befehlsgewalt aber besteht aus sich selbst heraus oder ursprünglich begründet über jedes Geschöpf. Und es ist klar, wie dürftig jener Gegenbeweis hinsichtlich Materie und Form ist. Man erkennt nämlich nach diesem Grundsatz, dass der Gleiche deshalb nicht die maßgebliche Befehlsgewalt über Seinesgleichen hat, weil er dem Befehlenden gleichgestellt ist. Aber was steht dem entgegen, dass der an Tugend Überragende den ihm Unterlegenen hinsichtlich seines Lebenswandels zurechtweist, wenn er auch hinsichtlich des Ranges der Höhere ist? 678
S. o. S. 484, 36–486, 10.
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1Tim 6,17.
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Aber dazu wird ein Einwand erhoben aufgrund des Kirchenrechts, wo gesagt wird, dass keiner der heiligen Bischöfe es gewagt hat, über Papst Marcellinus einen Urteilsspruch zu fällen, sondern dass sie gesagt haben: „Mit deinem eigenen Munde entscheide deine Sache, du sollst dich nicht unserem Urteil unterwerfen .“ Hierzu wird von mir gesagt, dass diese Äußerung der Bischöfe nicht Gottes Gesetz aufheben kann, wonach er durch Paulus den Papst Petrus zurechtgewiesen hat. Zweitens wird von mir gesagt, dass es sehr überflüssig gewesen wäre, wenn die Bischöfe Marcellinus in diesem Falle zurechtgewiesen hätten, denn sie sahen an seiner Zerknirschung, dass er schon ganz und gar von Gott zurechtgewiesen war. Drittens wird gesagt, dass er ausreichend von ihnen zurechtgewiesen worden ist, als sie sagten: Mit deinem Munde entscheide deine Sache, nicht durch unser Urteil, und wiederum: Lass dich nicht vor unserem Gericht verhören, sondern nimm dir deine Sache zu Herzen . Und wiederum sagten sie: Denn du wirst aus dir selbst gerechtfertigt oder durch deinen eigenen Mund verurteilt werden .680 Gewiss, sehr hart ist diese Zurechtweisung, denn die Zurechtweisenden überlassen den zurechtweisenden Urteilsspruch dem Papst selber. Daher hat Marcellinus, als er dieses hörte, über sich den Urteilsspruch der Absetzung gefällt. Und es ist offenkundig, dass ein Untergebener mit Klugheit aufgrund des Gesetzes der Liebe einen irrenden Vorgesetzten zurechtweisen und auf den Weg der Wahrheit zurückführen kann. Wenn nämlich ein Vorgesetzter durch Abirren vom Weg in einen Überfall von Räubern oder in Todesgefahr geraten würde, so wäre es dem Untergebenen erlaubt, ihn zurückzuhalten und somit vor der Gefahr zu bewahren. Also ist es doch wohl nach dem Obersatz erlaubt, wenn der Vorgesetzte auf einem sittlichen Irrweg ein Raub von Dämonen wird und in die Gefahr des schlimmsten Todes der Sünder gerät? Wenn sich der Vorgesetzte im ersten Fall freute, warum sollte er sich nicht noch mehr im zweiten freuen? Wenn er im ersten Fall den Wächter zulässt, warum nicht im zweiten? Auch steht dem nicht jener Ausspruch des heiligen Augustinus entgegen: Wie beschaffen die sein sollen, die befehlen, soll von den Untergebenen nicht erörtert werden . Das ist wahr und offensichtlich, dass sie nicht willkürlich darüber Erörterungen anstellen dürfen, wie beschaffen sie sein sollen; die Vernunft aber schreibt ihnen vor, dass sie gut sein sollen, dass sie nicht unmäßig leben sollen; und wenn sie böse leben, sollen die Untergebenen dies in Augenschein nehmen und ihren bösen Werken einen Riegel vorschieben. Daher sagt Augustinus: Wenn 680
Decr. Grat. I dist. 21 c. 7: Nunc autem (Friedberg 1,71).
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man dem Befehl eines Menschen gehorchen soll, so muss man sich dem göttlichen Lehramt unterwerfen. Christus selbst sagt nämlich: „Wer euch hört, der hört mich; wer euch verachtet, der verachtet mich.“ Und danach setzt er hinzu: Aber weil er vorhergesehen hat, dass in Zukunft nicht alle so sein würden, mahnt er dennoch, indem er mit seinen Jüngern die Per- 5 sonen aller Untertanen begreift, im Voraus: „Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Was sie euch sagen, das tut; was sie aber tun, tut nicht.“ 681 Und es ist klar, dass mit dem Eifer der guten Absicht die Untergebenen das Leben der Vorgesetzten erörtern und erwägen sollen, damit sie, wenn sie gut sind, sie nachahmen; 10 wenn sie schlecht sind, ihre Werke nicht befolgen, sondern in demütigem Geist für sie beten und ihnen gehorchen, wenn sie Gutes gebieten. Andernfalls, wenn sie es nicht erörterten, würden sie mit dem blinden Führer in die Grube fallen,682 und es könnte leicht geschehen, dass sie den Antichrist als Gott verehren und wie die Menge der Juden, die sei- 15 nen Vorgesetzten zustimmte, sich gegen den Herrn Christum verschwören. Kapitel 22 Schließlich behaupten die Doktoren in ihrer Schrift Folgendes: Weil endlich die Anklageschriften gegen den Magister Johannes Hus durch die Gemeinschaft der Geistlichkeit in Prag entgegengenommen worden sind und sie ihnen rechtens erschienen, daher ist ihnen zu gehorchen. Und dies doch besonders, weil darin nicht etwas reines Gutes verhindert wird noch rein Böses geboten wird, sondern gemäß dem seit der Zeit unserer Vorväter gewohnten und befolgten Stil der Kirche und der römischen Kurie werden hierin allein mittlere Dinge geboten, die zwischen den reinen guten und zwischen den reinen bösen Dingen liegen, die nach Art und Weise, Ort und Zeit sowohl gut als auch böse sein können. Und in diesen mittleren Dingen muss gemäß der evangelischen Lehre und gemäß dem seligen Bernhard gehorcht werden usw. Und sie fügen hinzu: Aber es ist nicht Sache der Geistlichkeit in Prag zu beurteilen, ob die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus unrecht ist 683 usw. Deswegen nehme ich im Blick auf die Anklagen gegenwärtig drei Dinge in Augenschein, nämlich die Exkommunikation, die Amtsenthebung und das Interdikt. Über diese drei will ich kurz sprechen, zuvor jedoch dies erörtern, nämlich dass folgende Schlussfolgerung der Doktoren sehr schlecht ist: Weil die Anklageschriften gegen den Magister Mt 23, 2 f.; zitiert wird: Leo IX.: De conflictu vitiorum atque virtutum c. 4 (PL 143,563). 682 Vgl. Mt 1514. 683 Palacky´ , Documenta, 480.
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Johannes Hus durch die Gemeinschaft der Geistlichkeit in Prag entgegengenommen worden sind und sie ihnen rechtens erschienen, daher ist ihnen zu gehorchen. Das ist so, wie wenn behauptet würde: Weil die Anklagen gegen Christus durch die Gemeinschaft der Geistlichkeit in Jerusalem entgegengenommen worden sind und sie ihnen rechtens erschienen, ist ihnen zu gehorchen. Und weil die Anklagen in Jerusalem gegen Christus entgegengenommen worden sind, dass er ein Verführer, ein Übeltäter und Gotteslästerer, exkommuniziert und des Todes schuldig ist, daher muss durch dieselben Doktoren jenen Anklagen gegenüber Gehorsam erzeigt werden. Man erhält diese Schlussfolgerung aufgrund der Vergleichbarkeit infolge jenes Mittels der Rechtssache, denn jene Anklagen sind beide von der Geistlichkeit entgegengenommen worden, und die Doktoren der Theologie – und vor allem Stanislaus von Znaim, weil er unter ihnen der bessere Logiker ist – müssten sich über jene Schlussfolgerung schämen. Vielleicht haben sie jene Schlussfolgerung von den Hohepriestern, von den Schriftgelehrten und Pharisäern gelernt, die eine ähnliche Schlussfolgerung gezogen haben. Denn als Pilatus zu ihnen sagte: Was für eine Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor?, antworteten sie und sprachen, indem sie folgende Schlussfolgerung zogen: Wenn dieser kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert . Und als Pilatus sagte: Ich finde keine Schuld an ihm, führen sie folgende Begründung an: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben; denn er hat sich zu Gottes Sohn gemacht. In der ersten Schlussfolgerung implizierten die Lehrer der Juden, dass sie nicht irrten, wenn sie sagten: Wenn dieser kein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.684 Das heißt: Weil dieser ein Übeltäter ist, daher haben wir ihn dir ausgeliefert. Ähnlich implizieren unsere Doktoren in ihrer Schlussfolgerung, dass die Gemeinschaft der Geistlichkeit in Prag nicht irren kann. Andernfalls, wenn sie es könnte, dann würde ihre Schlussfolgerung nicht gültig sein. Und weil jene Gemeinschaft irren kann, indem sie Anklagen entgegennimmt, wie sie auch irrt, indem sie jene Anklagen annimmt und auf arglistige Weise durchführt, daher ist jene Schlussfolgerung der Doktoren nicht richtig. Und ich wundere mich, wie dieser ungeheure Schwanz von einer Schlussfolgerung der Doktoren, mit dem sie ihre Scham verbergen wollen durch den Ausspruch: „Den gegen Hus entgegengenommenen Anklagen ist zu gehorchen“, nicht dazu im Widerspruch steht, wenn folgender Schwanz hinzugefügt wird: Aber es ist nicht Sache der Geist684
Joh 18,29 f.; 19,6 f.
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lichkeit in Prag zu beurteilen, ob die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus recht oder unrecht ist. Denn wenn jenen Anklagen hinsichtlich der Exkommunikation zu gehorchen ist, so ist ihnen zu gehorchen, wenn sie recht sind, und nicht, wenn sie unrecht sind. Und weil die Geistlichkeit mit den Doktoren ihnen gehorcht und sie diese Anklagen gebilligt haben, daher gehorcht er ihnen als rechtmäßigen und billigt sie als rechtmäßige; und demzufolge haben die Doktoren zusammen mit der Geistlichkeit geurteilt, dass die Anklagen rechtens sind. Und dennoch sagt ihr Schwanz von einer Schlussfolgerung, dass es nicht Sache der Geistlichkeit in Prag ist zu beurteilen, ob die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus recht oder unrecht ist. Und es ist der offensichtliche Widerspruch deutlich. Das wird von mir wie folgt bekräftigt: Die Geistlichkeit in Prag verkündet, bestätigt und erklärt, dass die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus rechtens ist. Also urteilt die Geistlichkeit in Prag, dass jene Exkommunikation rechtmäßig ist, und der Schwanz von einer Schlussfolgerung der Doktoren sagt, dass es nicht Sache der Geistlichkeit in Prag zu beurteilen, ob die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus recht oder unrecht ist. Daraus geht äußerst klar hervor, dass dieser Schwanz von einer Schlussfolgerung der Tatsache, dass die Geistlichkeit geurteilt hat und dem Urteil der Geistlichkeit in Prag widerspricht. Ferner: Wenn es nicht Sache der Geistlichkeit in Prag ist, zu beurteilen, ob jene Exkommunikation recht oder unrecht ist, und die Geistlichkeit billigt sie und handelt entsprechend den Anklagen, so weiß die Geistlichkeit in Prag nicht, ob sie rechtmäßig oder unrechtmäßig handelt, noch hofft sie, dass sie rechtmäßig handelt. Denn die Hoffnung muss dem Urteil vorausgehen. Ferner urteilen die Doktoren selbst, dass die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus rechtens ist. Das ist deutlich, weil sie selbst urteilen, dass den Anklagen gegenüber gehorcht werden muss, und zwar nicht als unrechtmäßigen, folglich als rechtmäßigen. Und folgerichtig urteilen die Doktoren, dass die in den Anklagen gebotene Exkommunikation rechtmäßig ist. Desgleichen sagen die Doktoren, dass den Anklagen gehorcht werden muss, und dies vor allem, weil in ihnen nicht das rein Gute verhindert noch das rein Böse geboten wird, sondern allein mittlere Dinge, in denen gemäß der evangelischen Lehre und gemäß dem heiligen Bernhard zu gehorchen ist. Daher urteilen die Doktoren, dass das in den Anklagen Gebotene rechtens ist, worunter sich die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus befindet. Daher urteilen die Doktoren selbst, dass die Exkommunikation des Johannes Hus rechtmäßig
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ist. Und sie selbst sind Teil der Geistlichkeit in Prag, also widerlegt jener Schwanz der Schlussfolgerung die Doktoren selbst. Ferner urteilen sie selbst, dass die Exkommunikation, die in den Anklagen geboten wird, ein Mittleres zwischen einem rein Guten und einem rein Bösen ist; und wenn es entsprechend der Art und Weise, dem Orte, der Zeit und der Person geboten wird, dann geht es in ein rein Gutes über, weil es in ein Gebot des Papstes und der Vorgesetzten übergeht. Wenn die Doktoren also auf diese Weise über die Exkommunikation urteilen, urteilen sie, dass sie rechtmäßig ist. Und dennoch dürfen sie aufgrund ihres Schwanzes der Schlussfolgerung nicht urteilen, dass sie rechtmäßig ist. Und so tun sie, was sie nicht dürfen, ja vielmehr wissen sie nicht, was sie tun, denn sie sagen, dass es nicht Sache der Geistlichkeit in Prag ist zu beurteilen, ob die Exkommunikation des Magisters Johannes Hus recht ist, und doch urteilen sie, dass sie rechtmäßig ist. Und es ist des Gelächters wert, wie die Doktoren der Rechtsgelehrtheit jenem Schwanz der Schlussfolgerung beigepflichtet haben, sie, die über Dekrete, Dekretalen und Anklagen urteilen, ob sie rechtmäßig sind, deswegen weil sie Dekrete und Dekretalen vernünftig auslegen und Anklagen prüfen müssen, ob sie rechtmäßig oder unrechtmäßig sind, und weil sie nach Bedarf andere beraten müssen, ob Anklagen zugelassen und aufrecht erhalten werden müssen oder ob sie nicht zugelassen und nicht aufrecht erhalten werden dürfen oder ob es verpflichtend oder erlaubt ist, gegen sie zu appellieren. Und es ist deutlich, dass die Doktoren des weltlichen und des Kirchenrechts sich in unvernünftiger Weise selbst einem vernünftigen Urteil verschlossen haben. Wie aber die als Blitze gegen mich geschleuderten Anklagen nichtig und irrig sind, hat der ehrwürdige Magister Johannes von Jessenitz, Doktor des kanonischen Rechtes der Universität Bologna, an der Hochschule durch öffentliche Erörterung auf das Deutlichste klargestellt.685 Und weil, wie ich gesagt habe, Anklagen dieser Art hauptsächlich die Exkommunikation, die Amtsenthebung und das Interdikt anordnen, daher will ich kurz über diese Dinge sprechen, indem ich erstens anmerke, dass Exkommunikation gemäß dem Kirchenrecht gleichsam die „Versetzung außerhalb der Gemeinschaft“ genannt wird.686 Und weil die Exkommunikation besser mit Hilfe ihres Gegensatzes verstan-
Vgl. Palacky´ , Documenta, 495–499. 686 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 33: Nichil; a. a. O. c. 107: Canonica; a. a. O. C. 27 q. 1 c. 2: Viduas; a. a. O. C. 24 q. 3 c. 14: Tam sacerdos; a. a. O. C. 11 q. 3 c. 32: Omnis christianus (Friedberg 1,653.674.1047 f. 994.653).
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den wird, der der gemeinsame Austausch untereinander bzw. die Gemeinschaft ist – denn mit Hilfe des Gegensatzes wird jedes Gute erkannt und ebenso umgekehrt –, so ist zu bemerken, dass die rechte Gemeinschaft eine dreifache ist: Die erste ist die Teilhabe an der göttlichen Gnade, die vor Gott angenehm macht. Diese wünscht der Apostel Paulus den Korinthern, wenn er sagt: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.687 Und diese Gemeinschaft ist die Gemeinde der Heiligen, die der geheimnisvolle Leib Christi sind, dessen Haupt Christus ist. Diese Gemeinschaft glauben wir, wenn wir sprechen: Ich glaube die Gemeinschaft der Heiligen. Die zweite Gemeinschaft ist die Teilhabe an den Sakramenten: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe .688 In besonderer Weise wird sie jedoch als die Teilhabe an Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus verstanden: Der Segenskelch, den wir segnen, ist der etwa nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Und das Brot, das wir brechen, ist das etwa nicht die Teilhabe am Leib des Herrn? Da es ein Brot ist, sind wir viele ein Leib, die wir an dem einen Brot und an dem einen Kelch teilhaben.689 Die dritte Gemeinschaft ist die Teilhabe an den Fürbitten. Ihrer rühmt sich der Gerechte, wenn er im Psalm spricht: Ich bin Teil all derer, die dich fürchten und deine Gebote beachten.690 Und nebst dieser dreifachen Gemeinschaft gibt es die Gemeinschaft, die der gemeinschaftliche Umgang aller guten und bösen Christen miteinander ist. So wie die ersten drei Arten allein von den guten Menschen gelten, so denken die Weltmenschen eher an diese vierte. Zweitens ist anzumerken, dass ich in der Darlegung über die Exkommunikation entsprechend zu der hier schon erwähnten vierfachen Gemeinschaft spreche, die erstens Trennung von der Teilhabe an der göttlichen Gnade ist, die vor Gott angenehm macht, zweitens Trennung von der würdigen Teilhabe an den Sakramenten und drittens Trennung von der Teilhabe an den Fürbitten, soweit sie auf das ewige Leben vorbereiten – und dies alles im Gegensatz zu der dreifachen Gemeinschaft. Und viertens bedeutet die Exkommunikation den öffentlichen Ausschluss aus dem Verkehr unter Christen durch das Urteil eines geistlichen oder weltlichen Richters. Daraus folgt erstens, dass niemals eine Exkommunikation von den ersten drei Arten von Gemeinschaft geschieht oder geschehen kann, es sei denn durch eine Todsünde. Das ist deutlich, weil niemals jemand von der Gemeinschaft der Heiligen, die Teilhabe an der Gnade Gottes und an den Sakramenten und an den auf das ewige Leben vorbereiten687
2Kor 13,17.
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Eph 4,5.
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den Fürbitten ist, getrennt wird außer durch eine Todsünde, die allein einen Menschen von solcher Gemeinschaft scheidet und trennt, wie sie von Gott selbst trennt. Und es kann auch deshalb nicht außer wegen einer Todsünde geschehen, weil der Mensch, solange er in der Gnade ist, solange Teilhaber an der obengenannten dreifachen Gemeinschaft ist gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit. Und weil Gott der allergerechteste Richter ist, kann er keinen Menschen verdammen, außer in Ermangelung seiner Verdienste bei solcher Art Teilhabe. Mithin ist der Folgesatz wahr. Zweitens folgt, dass ein Richter niemals jemanden auf diese Weise exkommunizieren kann, es sei denn dieser exkommuniziere sich durch ein Verbrechen zuvor selbst. Drittens folgt, dass ein Richter niemals jemanden exkommunizieren darf, außer wegen eines Verbrechens oder wegen einer Todsünde. Und dies erhellt aus dem Kirchenrecht, wo es heißt: Keiner von den Bischöfen soll irgendjemanden ohne sicheren und offenkundigen Grund einer Sünde der kirchlichen Gemeinschaft unter Verhängung des Bannfluchs berauben. Denn der Bannfluch ist die ewige Verdammnis zum Tode, und er darf nur für ein tödliches Verbrechen auferlegt werden und nur einem, der auf andere Weise nicht hatte zurechtgewiesen werden können. Und es heißt: Bei Gott wird nicht nach dem Urteil der Priester, sondern nach dem Lebenswandel der Angeklagten gefragt. Denn es darf keiner durch ein Urteil gebrandmarkt werden, den der Makel der Sünde nicht befleckt hat .691 Ebenso sagt Nikolaus von Lyra in seinem Kommentar über den Propheten Hosea: Du Juda, schicke Israel fort, um seiner Bosheit willen, denn ihre Lebensgemeinschaft ist getrennt , d. h. exkommuniziert.692 Und im Kirchenrecht wird durch Augustinus gesagt: Keiner soll exkommuniziert werden, außer um eines Verbrechens willen .693 Es wird aber gemeinhin gesagt, dass es eine zweifache Exkommunikation gibt, nämlich die große und die kleine, wie aus den Texten über die kleinere Exkommunikation der Geistlichkeit hervorgeht. Dort heißt es, dass die kleine Exkommunikation vom Empfang der Sakramente ausschließt, die große Exkommunikation aber von der Gemeinschaft der Gläubigen trennt.694 Die kleine Exkommunikation ist eine Trennung von der Teilhabe an den geistlichen Gütern durch eine Todsünde, insofern sich ein Mensch durch ein Verbrechen unwürdig Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 41; a. a. O. C. 24 q. 3 pars 1 (Friedberg 1,655. 988). Nikolaus von Lyra, Biblia cum postillis, zu Hos 4,14 f. 693 Decr. Grat. II C. 2 q. 1 c. 18: Multi (Friedberg 1,446). 694 Vgl. Decr. Grat. II C. 23 q. 4 c. 27; a. a. O. C. 1 q. 1 pars c. 39 (Friedberg 1,912.374); bessere Überlieferung: Decretales Gregorii IX lib. 5 tit. 39 c. 59; ebd. lib. 2 tit. 25: De exceptionibus, c. 2 (Friedberg 2,912.374).
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macht, an der Gnade weiterhin teilzunehmen. Und diese Exkommunikation kann niemand über einen Menschen verhängen, der in der Gnade Gottes feststeht. Die große Exkommunikation ist eine Trennung, die die Vorgesetzten der Kirche gegen einen Menschen als einen öffentlichen Sünder verkünden, durch die sie ihn vom Verkehr der Christen und von der Teilhabe an den Sakramenten abtrennen. Und mit dieser Exkommunikation brandmarken sie mich jetzt in den Anklagen und Denunziationen, indem sie mich von aller menschlichen Verbindung abtrennen. Aber gelobt sei Gott, der dieser Exkommunikation keine so große Macht gegeben hat, dass sie einem gerechten Menschen die Tugend oder die Gerechtigkeit entziehen könnte, wenn er es nur demütig erduldet. Auch vermag sie nicht, ihm Sünde anzulasten. Sondern vielmehr, wenn er sie nur geduldig erträgt, vermag sie ihn zu läutern wie die Säge das Eisen, wie Feuer das Gold, und sie vermag den Lohn der Seligkeit zu vermehren, wie der Herr sagt: Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausgrenzen und euch beschuldigen und euren Namen als böse verwerfen um des Menschensohnes willen. Freut euch aber an jenem Tag und frohlockt. Denn siehe, euer Lohn im Himmel ist groß. Entsprechend handelten nämlich schon ihre Väter an den Propheten.695 Diese große Exkommunikation aber muss heilsam sein, d. h. sie muss gleichsam eine Arznei sein, die verordnet wird, um den Menschen im Geiste gesund zu machen und in den Schafstall Christi und zum ewigen Leben als dem letzten Ziel zurückzuführen. Daher sagt der heilige Augustinus in der Homilie über die Buße, die im Kirchenrecht zitiert wird: Die Exkommunikation soll nicht zum Tode führen, sondern heilsam sein . Und einem anderen Gesetz zufolge muss ein offenkundiger Sünder, wenn er nach dreimaliger Ermahnung oder öffentlicher Vorladung sich nicht hat zurechtweisen lassen wollen, wegen des Verbrechens von der Gemeinschaft gemieden werden, gemäß dem Gebot des Erlösers,696 wo er zu Petrus sagte: Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat, so gehe hin und weise ihn zwischen dir und ihm allein zurecht. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen. Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm einen oder zwei mit dir, damit jedes Wort durch den Mund zweier oder dreier feststehe. Wenn er nun nicht hört, so sage es der Kirche. Wenn er aber nicht auf die Kirche hört, sei er für dich wie ein Heide und Zöllner.697 Das ist oben in Kapitel 21 erörtert worden, in dem die Beschaf695 Lk 6,22 f. 696 Decr. Grat. II C. 2 q. 1 c. 18: Multi ; Sexti Decretales lib. 5 tit. 11: De sententia excomminicationis c. 1 (Friedberg 1,446; 2,1093 f.). 697 Mt 18,15–17.
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fenheit eines Vorgesetzten gekennzeichnet wird. Dennoch ist außerdem dies zu beachten, dass Christus gesagt hat: Wenn er gesündigt hat, d. h. die Sünde eines Verbrechens begangen hat, dass er deswegen der Zurechtweisung würdig ist, aber nicht wegen irgendetwas Derartigem exkommuniziert werden soll. Aber wenn er sich nach dreimaliger Zurechtweisung als unverbesserlich erweist, dann nämlich muss er wie ein Heide, d. h. aus einem heidnischen Volk, und wie ein Zöllner klugerweise gemieden werden, ansonsten nicht. Daher sollen die Vorgesetzten zusehen, dass sie mit Vorsicht handeln, damit sie die Untergebenen nicht um zeitlichen Gewinns willen so leicht exkommunizieren. Daher sagt der heilige Augustin: Wir können nicht irgendjemanden der Gemeinschaft berauben, wenngleich dieses Verbot noch nicht zum ewigen Tod führt oder heilsam ist, es sei denn, dass der Betreffende freiwillig ein Schuldbekenntnis abgelegt hat oder in einem weltlichen oder kirchlichen Gerichtsverfahren angeklagt und überführt worden ist . Und Augustinus sagt über ein Pauluswort: Aber wenn der, der unter euch Bruder genannt wird, ein Unzüchtiger oder ein Habgieriger oder ein Götzendiener ist oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber – mit einem solchen sollt ihr auch nicht zusammen essen.698 Desgleichen muss man wissen, dass jeder, der eine Todsünde begeht, von Gott exkommuniziert ist, gemäß jenem Wort: Verflucht sind, die von deinen Geboten weichen, und: Wenn jemand unseren Herrn Jesus Christus nicht liebt, sei er verflucht! 699 Und obgleich diese Exkommunikation die kleine genannt wird, deswegen weil sie nicht feierlich öffentlich von einem Vorgesetzten verkündet wird, fürchte ich dieselbe mehr als die große Exkommunikation, mit der mich jetzt die Vorgesetzten belegen. Aber darüber hinaus fürchte ich mehr noch die größte Exkommunikation, mit welcher der oberste Hohepriester, der vor allen Engeln und Menschen zu Gericht sitzt, die zu Verdammenden von der Teilhabe an der ewigen Seligkeit exkommunizierten wird, wenn er sagt: Geht hin, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet ist! 700 Diese Exkommunikation muss ein Richter bedenken und sich hüten, dass er nicht zu Unrecht exkommuniziert. Denn jeder, der einen anderen hauptsächlich wegen zeitlichen Gewinns, der eigenen Ehre oder um eigenes erlittenes Unrecht zu rächen oder wissentlich ohne kriminellen Grund exkommuniziert, der exkommuniziert sich selbst. Denn er muss jenen exkommunizieren, den Gott wegen 698 Augustinus, Sermo 341: De utilitate agendae paenitentiae (PL 39,1546). 21; 1Kor 16,22 700 Mt 25,41.
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eines Verbrechens exkommuniziert, von dem er weiß, dass der Exkommunizierte selbst es begangen hat. Und dies muss er nach dreimaliger Ermahnung und aus Liebe tun, zur Ehre Gottes und zum Heil jenes Menschen, den er exkommuniziert, sowie zum Nutzen der anderen, damit sie sich fürchten und er sie nicht ansteckt, wie es Paulus tat, als er gebot, den öffentlichen Unzüchtigen auszusondern, damit er nicht die anderen anstecke und damit der Geist gerettet würde.701 Und nachdem diese Dinge bedacht worden sind, sollte ein Gläubiger erkennen, dass viele – Vorsteher, Geistliche und Laien – von Gott exkommuniziert sind, weil alle, die von Gottes Geboten abweichen, und wie auch viele sich selbst exkommunizieren, wenn sie über andere die Exkommunikation verhängen und verkündigen, und besonders die Geistlichen, die gleichsam täglich in der Prim beten und sprechen: Verflucht sind, die von deinen Geboten abweichen.702 Soweit in Kürze über die Exkommunikation, über die Magister Friedrich von Eppingen, ein frommer Christ seligen Gedenkens sowie ein großer Eiferer und Erforscher des Gesetzes Christi, Baccalaureus des kanonischen Rechtes, eine feierliche Darstellung gegeben hat, als er den folgenden Artikel behandelte: Kein Vorgesetzter darf jemand anderen exkommunizieren, es sei denn er wisse zuvor, dass derselbe von Gott exkommuniziert ist , worüber ich auch an anderer Stelle geschrieben habe. Und wenn du es nicht glauben willst, so lerne es an der Wand in der Prager Bethlehemskapelle. Da wirst du geschrieben finden, wie einem Gerechten die Exkommunikation nicht schadet, sondern nützt, und warum auch ein Gerechter eine unrechte, von einem Vorgesetzten oder von einem Pilatus verhängte Exkommunikation fürchten muss. Dies nämlich deswegen, dass er anderswo angeklagt werde; zweitens wegen der Gefahr für den, der zu Unrecht die Exkommunikation verhängt; drittens wegen des Schadens für die Brüder, der aus den törichten Anwendungen kirchlicher Strafgewalt entstehen könnte; viertens, dass die Unkundigen Anstoß erregt bekommen und von der Wahrheit zurückweichen; fünftens, dass sie durch die Lästerung, die der Exkommunizierte möglicherweise begeht, Unrecht erleiden; sechstens, dass er durch Unduldsamkeit seine Verdienste verliert oder von der Gerechtigkeit abweicht, und ebenso aus anderen an anderer Stelle ausführlicher und angemessener erläuterten Gründen. Dann wäre noch über die Exkommunikation zu sprechen, durch welche die Bösen die Guten von sich trennen. Denn offensichtlich haben die Bösartigen Christus und den Blindgeborenen exkommuniziert. Und sie könnte auch von 701
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ihrem Gegenteil her bestimmt werden, dass sie die Gemeinschaft im Bösen ist, von der es heißt: Habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis! Und: Wer zu ihm – nämlich zu dem, der die Lehre Christi nicht verkündet – sagt: Sei gegrüßt!, der hat Gemeinschaft mit seinen bösartigen Werken. Und: Welche Gemeinschaft gibt es zwischen einem heiligen Menschen und einem Hund,703 d. h. einem Verbrecher? Als sollte gesagt werden: keine. Daher ist jeder, der in der Gnade gemäß der gegenwärtigen Gerechtigkeit steht von selbst von den Ungerechten durch Exkommunikation geschieden. Und diese ist die heilige passive Exkommunikation, durch die ein Gerechter als Exkommunizierter bezeichnet wird, das heißt als einer, der außerhalb der Gemeinschaft oder der Teilhabe an der Schlechtigkeit gestellt ist. Daher sagt Johannes: Und ich hörte eine andere Stimme vom Himmel, die sprach: Geht hinaus aus ihr, nämlich aus der Stadt Babylon, das heißt der bösen Versammlung, die durch die Sünde aus der Gnade Gottes gefallen ist, mein Volk, und damit ihr nicht Teilhaber ihrer Vergehen seid und nichts von ihren Plagen empfangt! Denn ihre Sünden sind bis zum Himmel gelangt. 704 Lasst uns Gott bitten, dass er uns würdigt, uns in seiner Gemeinschaft und vor unerlaubter Gemeinschaft zu bewahren.
Kapitel 23 Nun muss von der Amtsenthebung geredet werden, wobei festzustellen ist, dass „Entheben“ in dieser Abhandlung bedeutet: ein Amt oder 25 irgendein Gut für ein Vergehen zu entziehen. Daher bezeichnen das, was die alten Bestimmungen „entheben“ nennen, die neuen Kirchengesetze und Erlasse als „verbieten“ und nennen eine kirchliche Amtsoder Pfründenenthebung ein kirchliches „Verbot der Ausübung eines kirchlichen Amtes“. 30 Wenn man die Definition der eben genannten Amtsenthebung zugrunde legt, so ist festzustellen, dass so, wie es Gott gebührt, den Menschen von sich aus zuerst zu exkommunizieren, so auch, ihn seines Amtes zu entheben. Daher ist es unmöglich, dass ein Papst oder Bischof jemanden rechtmäßig seines Amtes entsetzt, wenn ihn nicht 35 Gott zuvor entsetzt hat. So wie es unmöglich ist, dass ein Papst etwas Rechtes denkt, wenn nicht Gott zuvor diesen Gedankengang verursacht hat. Darum sagt der Apostel zu Recht: Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott. Und der höchste Bischof selbst sagt: Ohne mich 703
Joh 9,22.34; Eph 5,11; 2Joh 11; Koh 13,22.
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könnt ihr nichts tun.705 Daraus ergibt sich, dass die vom Vorgesetzten ausgesprochene Amtsenthebung nur insofern gilt, als der allmächtige Gott sie selbst bewirkt. Daher erstreckt sich die von Gott ausgehende Amtsenthebung auf Priester, Könige und jede Art von Höherstehenden, die er des Amtes entsetzt oder durch Strafe aus dem Leben scheiden lässt. Daher hat er jemand von der Priesterwürde abgesetzt, wie geschrieben steht: Denn du verwirfst Gottes Wort; darum will ich dich auch verwerfen, dass du nicht mein Priester sein sollst. Und: Bringt nicht mehr Speisopfer so vergeblich! Und: Ich habe kein Gefallen an euch, und das Speisopfer von euren Händen ist mir nicht angenehm .706 Und der Apostel Christi enthebt alle, die in Sünden sind, des Dienstes am Leibe und Blute Christi mit den Worten: Welcher nun unwürdig von diesem Brot isst oder von dem Kelch des Herrn trinkt, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn.707 Ebenso liest man von der harten Amtsenthebung des Eli und seines Geschlechts, weil er seine Söhne nicht in gebührender Weise gestraft hatte. Daher sagte Gott zu Eli: Warum tretet ihr denn mit Füßen meine Schlachtopfer und Speisopfer, die ich geboten habe in der Wohnung? Und du ehrst deine Söhne mehr denn mich, dass ihr euch mästet von dem Besten aller Speisopfer meines Volks Israel. Darum spricht der Herr, der Gott Israels: Ich habe geredet, dein Haus und deines Vaters Haus sollten wandeln vor mir ewiglich. Aber nun spricht der Herr: Es sei fern von mir, sondern wer mich ehrt, den will ich auch ehren; wer aber mich verachtet, der soll wieder verachtet werden. Siehe, es wird die Zeit kommen, dass ich will entzweibrechen deinen Arm und den Arm deines Vaterhauses. Und später: Und das soll dir ein Zeichen sein, das über deine zwei Söhne, Hophni und Pinehas, kommen wird: Auf einen Tag werden sie beide sterben. Ich aber will mir einen treuen Priester erwecken, der soll tun, wie es meinem Herzen und meiner Seele gefällt.708 Ebenso liest man von der Amtsenthebung eines Königs, von Saul, der gegen das Gebot Gottes die Feinde seines Gottes verschont hat: Weil du nun des Herrn Wort verworfen hast, hat er dich auch verworfen, dass du nicht König seist.709 Und es ist offensichtlich, wie verschiedenartig die Amtsenthebung sein kann, denn es gibt eine Enthebung vom Amt, eine vom Einkommen oder von irgendeinem Gut, von dem der Sünder rechtmäßig enthoben wird wegen seines Vergehens. Ebenso gibt es eine Enthebung nach Lage der Dinge und eine Enthebung nach Gesetz mit weiteren Unterteilungen. Enthebung nach Gesetz muss Gott, wie gesagt wurde, 2Kor 3,5; Joh 15,5. 706 Hos 4,6; Jes 1,13; Mal 1,10. 31.34 f. 709 1Sam 15,23.
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zuerst verursachen und lenken. Die Enthebung nach Lage der Dinge bewirkt Gott zuweilen durch gute Diener, zuweilen durch böse Diener; von sich aus aber enthebt er jeden verbrecherischen Vorgesetzten von seinem Amt oder Dienst, solange er der Tatsache nach in Sünde ist. Weil er durch den Tatbestand, dass er in Todsünde gefallen ist, in allem, was er tut, sündigt; und folglich wird ihm von Gott verboten, dies zu tun, und folglich wird er von Gott von diesem Amte entsetzt. Daher sagt der Prophet: Aber zum Gottlosen spricht Gott: „Was verkündigst du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich? Wenn du einen Dieb siehst, so läufst du mit ihm und hast Gemeinschaft mit den Ehebrechern. Deinen Mund lässt du Böses reden, und deine Zunge treibt Falschheit. Du sitzt und redest wider deinen Bruder; deiner Mutter Sohn verleumdest du.“710 Dort zählt Gott die Sünden auf, wegen derer er den Sünder der Verkündigung seines Bundes, das ist das Gesetz der Wahrheit, enthebt: Die erste Sünde ist der Ungehorsam gegen Gott. Die zweite das Verwerfen der Predigt. Die dritte der Diebstahl. Die vierte der Ehebruch. Die fünfte die Boshaftigkeit des Mundes, die sich teilt in Lüge, Lästerung, falsches Zeugnis, Meineid, Tücke, Herabsetzung anderer, Eigenlob, Schmähung, schändliche Redeweise usw. Die sechste Sünde kommt durch das Ärgernis an Christus. Nach diesem kann man zusammenfassen: dass es wenige Richter, Prediger und andere, die Gottes Bund dem Volk verkünden, gibt, die nicht von Gott ihres Amtes, von der Verkündigung seines Testaments enthoben sind. Feststellen mag also der Gläubige an der genannten Entsetzung vom Amt der Verkündigung des Testamentes Gottes und nach dem oben angeführten dreifachen Beispiel, ob unsere Vorgesetzten und Kleriker vom Amt enthoben würden: Zuerst, ob sie die Kenntnis der Heiligen Schrift und die Evangelisation verhindern. Dann werden sie nämlich vom Herrn ihres Amtes enthoben, wie man in einer kleineren Geschichte liest.711 Denn unsere Vorgesetzten haben in jeder Weise die größere Menge an Stoff und Form zur Predigt und zahlreiche Anlässe. Derenthalben sollten sie mehr predigen als die Priester im alten Bund, aber sie üben dieses Amt im geringeren Maße aus. Da nun der größere Grund vorhanden und derselbe Herr zugegen ist, der die Strafe für das größere Vergehen schließlich nicht verringern kann, so ergibt sich nach Erfordernis seiner Gerechtigkeit: Unsere Vorgesetzten, wenn sie so beschaffen sind, sind härter des Amtes zu entheben und wiederum umso härter, als sie in den hochgefährlichen Zeiten des 710
Ps 50,16–20.
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Hos 4,1.4–6.
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Antichrist für das Gesetz Christi hätten eintreten müssen. Was die zweite Amtsenthebung betrifft, die vom Herrn an Eli vollzogen worden ist, soll der Gläubige Folgendes feststellen: Ob etwa unsere Vorgesetzten entweder gar nicht oder in noch schuldhafterer Weise ihre geistlichen Söhne strafen, als die leiblichen Söhne des Eli von ihm gestraft worden sind. Und um zu erkennen, dass diese Schuld größer ist, soll der Gläubige diese zwei Dinge beachten: Erstens, dass ein Vorgesetzter seinem geistlichen Sohn in höherem Maße verpflichtet ist als aus dem Grund, nach dem er seinem leiblichen Sohne verpflichtet ist. Und zweitens, dass eine Strafe viel verwerflicher ist, die um des damit gewonnenen Geldes willen verhängt wurde, mit dem die Sünde verkauft wird, als eine Strafe, die zur Wiedergutmachung des an Gott begangenen Unrechts aus natürlicher Liebe erlassen worden ist, so wie Eli seine Söhne geschont zu haben scheint. Was die dritte Art der Enthebung sowohl von Priestern als auch Königen und anderen weltlichen Herren betrifft, soll der Gläubige beachten, ob diese Leute wegen ihres persönlichen Vorteils den offenkundigen Feinden des Herrn mehr wegnehmen, als Saul dem Amalek aus Begierde nach dessen zeitlichen Gütern weggenommen hat.712 Wenn es so ist, ist es nicht zweifelhaft, dass derselbe Herr, der dieselbe Gerechtigkeit nicht übergehen kann, die Übeltäter schwerer bestraft. Darum ist es ein deutliches Zeichen für die Schwere der Strafe, dass Gott die Bestrafung bis nach dem Tode aufschiebt und sie nicht auf andere Weise in diesem Leben bestraft, sondern sie im weltlichen Wohlleben gleichsam als unverbesserlich Verworfene herumschweifen lässt. Aber ach, diese dreifache Amtsenthebung bemerken die Menschen nicht; und besonders die Höherstehenden in der Welt sollten wahrlich öfter erwägen, wie sie sowohl vom Amt als auch von der Pfründe auf immer enthoben werden. Daher sagt Origenes über das Schriftwort: Da sprach der Herr ergrimmt zu Mose: „Nimm alle Führer des Volkes und hänge sie im Licht der Sonne in Halsblöcken auf “ Folgendes: Der Herr hat zu Moses gesagt, er soll alle Führer nehmen und sie im Licht der Sonne dem Herrn zur Schau stellen. Das Volk sündigt, und die Führer werden im Licht der Sonne gezeigt, das heißt zur Untersuchung vorgeführt, damit sie vom Licht beurteilt werden. Du siehst, was die Stellung der Führer des Volkes ist. Sie werden nicht nur für ihre eigenen Vergehen beschuldigt, sondern sie werden auch gezwungen, für die Sünden des Volkes Rechenschaft zu geben: Ob es nicht vielleicht ihre Schuld sei, dass das Volk sich vernach712
Vgl. 1Sam 15.
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lässigt; ob sie vielleicht nicht gelehrt haben, ob sie vielleicht nicht ermahnt haben, oder nicht dafür gesorgt haben, die zu verurteilen, die den Anstoß zur Schuld gegeben haben, sodass die Ansteckung sich auf viele ausbreitete. Dies alles nämlich zu tun droht den Führern und Lehrern; wenn nämlich dadurch, dass sie dies nicht ausführen und nicht Sorge tragen für das Volk, das Volk sündigt, so werden sie selbst zur Schau gestellt und selbst zum Urteil vorgeführt. Es klagt sie Mose an, d. h. das Gesetz Gottes, als Nachlässige und Müßiggänger, und der Zorn Gottes wird sich gegen sie wenden und vom Volk ablassen. Wenn dies die Menschen bedächten, würden sie niemals die Herrschaft über das Volk begehren oder erstreben. Es genügt mir nämlich, wenn ich für meine eigenen Sünden und Verfehlungen angeklagt werde, es genügt mir, über mich selbst und über meine Sünden Rechenschaft zu geben. Was habe ich es nötig, auch noch für die Sünden des Volkes ins Licht der Sonne gestellt zu werden, vor der nichts verborgen, verdunkelt oder verheimlicht werden kann? Und er setzt hinzu: Mögen also die Führer zur Schau gestellt werden, und wenn die Schuld bei ihnen liegt, lässt der Zorn Gottes vom Volk ab .713 Soweit Origenes, der aufzeigt, wie die Führer für die Sünde der Schwelgerei, die das Volk begangen hat, schwer verklagt worden sind. Wehe also den heutigen geistlichen und weltlichen Führern, die selbst in Schwelgerei leben und damit ihren Untergebenen ein schlechtes Beispiel geben und die Untergebenen nicht zurechtweisen oder, falls sie sie zurechtweisen, es aus Habgier tun: Solche sind zweifellos vom Herrn ihres Amtes enthoben. Denn geschrieben steht im päpstlichen Gesetz „Über Leben und Ehrbarkeit der Geistlichen“: Wir gebieten deiner Brüderlichkeit, dass ihr dafür sorgt, die unserer Gerichtsbarkeit unterstehenden Geistlichen im Subdiakonat und in den höheren Weihegraden, die Huren haben, eifrig zu ermahnen, sich ihrer zu entledigen und sie fernerhin keineswegs zu sich lassen. Wenn sie aber verschmähen, sich zu fügen, sollt ihr sie bis zur angemessenen Genugtuung ihrer kirchlichen Pfründen entheben. Und wenn sie als Amtsenthobene es vorziehen sollten, jene bei sich zu behalten, so sollt ihr dafür sorgen, sie für immer aus diesen Pfründen zu entfernen. Weil es also kein Versagen des Gesetzes, sondern bei den Vorgesetzten gibt, die es anwenden, deshalb sagt der Papst zuvor im selben Abschnitt: Die Vorgesetzten aber, die es in ihrer Bosheit vorziehen sollten, solche Huren zu behalten, vornehmlich unter Annahme von Geld oder eines anderen zeitlichen Vorteils, die wollen wir der gleichen Bestrafung unterwerfen.714 Und es heißt Origenes, In Numeros homelia 20 (PG 12,735 f.), zu Num 25,24. Gregorii IX lib. 3 tit. 2 c. 4; tit. 1 c. 13 (Friedberg 2,455.452).
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unter der Autorität des heiligen Gregor: Stimmt ein Bischof der Hurerei seiner Geistlichen zu und bekämpft sie nicht kraft seines Amtes aufgrund einer Bitte oder Bestechung, soll er seines Amtes enthoben werden .715 Diese Amtsenthebung soll gemäß dem Archidiakonus716 eine immerwährende sein und der Absetzung gleichkommen, wegen der Schwierigkeit, die Bischöfe zu versammeln, um solche Bischöfe oder solch einen Bischof abzusetzen, der auf simonistische Weise die Gerechtigkeit verkauft hat oder verkauft. Und weil ein Metropolit, wie der Bischof von Rom einer ist, hinsichtlich seiner Kardinäle nachlässig sein kann in der Durchführung dieser heiligen Bestimmung, deshalb verordnen die Kirchengesetze drittens als Mittel gegen die Verwirrung, dass die Messe des Priesters nicht gehört werden soll von dem, dem bekannt ist, dass jener Priester solche Hurerei treibt; auch sollen ihm keine Kirchengüter dienen, damit er sein schandbares Leben weiterführt. Denn Papst Nikolaus spricht so: Keiner soll die Messe eines Priesters hören, von dem er unzweifelhaft weiß, dass er eine Beischläferin unterhält oder eine heimliche Ehefrau. Daher sagt Alexander II.: Wir geben den ausdrücklichen Befehl, dass niemand die Messe eines Priesters hören soll, von dem er unzweifelhaft weiß, dass er eine Beischläferin hat. Und es folgt: Daher hat auch die heilige Synode dies unter die Androhung der Exkommunikation gestellt mit den Worten: „Wer von den Priestern, Diakonen und Subdiakonen, nach dem Erlass unseres Vorgängers seligen Angedenkens, des heiligen Papstes Leo oder Nikolaus, über die Keuschheit der Kleriker, sich offenkundig eine Beischläferin ins Haus nimmt, oder, wenn er eine hat, sie nicht verlässt, dem gebieten wir von Seiten des allmächtigen Gottes und kraft der Vollmacht des Petrus und Paulus und verbieten ihm gänzlich, dass er eine Messe singt noch das Evangelium liest noch die Epistel bei der Messe noch im Altarraum mit denen, die der genannten Bestimmung gehorsam sind, zum Zwecke des Gottesdienstes weilt, noch Einkünfte von der Kirche erhält.“717 Darüber sagt der Archidiakonus, dass das Volk einem solchen den freiwilligen Zehnten entziehen soll, weil die Pfründe nur wegen des Amtes gegeben wird. Und da das Urteil das gleiche oder ein noch schwereres ist für jegliche größere geistliche Hurerei, so scheint es recht, dass der Untergebene vom höhergestellten Vorgesetzten wegen jeder schwereren geistlichen Sünde des Amtes enthoben werden soll. Und da es sicher ist, dass ein Hochmut nach Art des Luzifer bei einem Vorgesetzten, Nachlässigkeit bei der Verkündigung des Evangeliums und die Habgier des IschaDecr. Grat. I dist. 83 c. 1 (Friedberg 1,293). dist. 32 c. 5 f (Friedberg 1,117 f.).
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Guido de Baysio.
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riot schwerere Sünden sind als leibliche Hurerei, so ist es offenkundig, dass der höchste Vorgesetzte Jesus Christus, dem diese schwereren Sünden insgesamt bekannt sind, von der verschuldeten Enthebung nicht wegen irgendeiner Entschuldigung abgehalten wird. Daraus lässt sich, wenn nach dem Zustand der Kirche gefragt wird, entnehmen, dass vom Papst bis zum geringsten Priester selten einer in der jetzigen Zeit von Amtsenthebung ausgenommen ist, außer dem, der dem Herrn Jesus Christus untadelig nachfolgt. Es ist ja schon gesagt worden, auf welche Weise die Hurer amtsenthoben werden, ferner die Simonisten durch ein Wort Gregors und ein Wort des Ambrosius. Ebenso werden die Kleriker des Amtes enthoben, die schimpflichen Erwerb und Wucher treiben.718 Und da alle solche gemäß dem Gesetz Christi der Kirche unwürdig dienen, ist klar, wie vielfältig Regelwidrigkeiten und Entweihungen in der Geistlichkeit der Kirche vorhanden sind. Über die Entweihung habe ich in dem Traktat „Gegen einen anonymen Gegner“ gesprochen und aufgezeigt, wie jeder unwürdige Priester den geistlichen Tempel Gottes entweiht, d. h. schändet, entheiligt und verunreinigt, der nach den Worten der Heiligen seiner Natur nach zweifellos ehrwürdiger ist als alle materiellen Tempel, die nach dem Tag des Gerichts nicht fortbestehen werden. Und wehe mir, wenn ich schweige und die Habsucht oder die offensichtliche Ausschweifung der Geistlichkeit nicht bekämpfte. Denn im Kirchenrecht heißt es: Ein Irrtum, dem nicht entgegengetreten wird, wird gebilligt, und die Wahrheit wird, wenn sie nicht wenigstens verteidigt wird, unterdrückt. Es also zu unterlassen, wenn du die Verderbten zur Rede stellen kannst, ist nichts anderes, als sie zu begünstigen. Auch ist der nicht frei vom Verdacht heimlicher Anteilnahme, der aufhört, sich einer offenkundigen Missetat entgegenzustellen. Ebendort: Was nützt es denn jenem, in seinen Irrtum nicht verletzt zu werden, der mit einem Irrenden Übereinstimmung zeigt. Ebendort: Der scheint einem Irrenden zuzustimmen, der nicht hinzueilt, um die Dinge zu beschneiden, die berichtigt werden müssen .719 Daher spricht der heilige Gregor, indem er den Spruch anführt: Deine Propheten haben für dich törichte und falsche Dinge geschaut und dir deine Missetaten nicht eröffnet, um dich zur Buße herauszufordern, folgendermaßen: Die Propheten werden ja im heiligen Wort Gottes manchmal Lehrer genannt, die, während sie Flüchtiges, d. h. Vorübergehendes, als gegenwärtig beurteilen, offenbaren, was kommen wird. Die klagt Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 2: Quicumque; a. a. O. c. 7: Reperiuntur; a. a. O. 1 dist. 88 c. 2: Consequens (Friedberg 1,358.359.307). 719 Decr. Grat. I dist. 83 c. 3–5 (Friedberg 1,293 f.).
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Gottes Wort an, falsche Dinge zu schauen, denn während sie sich scheuen, Schuld zu rügen, sie den Missetätern vergeblich mit versprochener Sicherheit schmeicheln, weil sie das Unrecht der Sünder nicht aufdecken. Denn sie sind, anstatt zu tadeln, verstummt. Der Schlüssel aber der Aufdeckung ist die zurechtweisende Predigt. Denn durch Schelten deckt man die Schuld auf, von der oft nicht einmal der weiß, der sie begangen hat. Soweit jener. Und das findet sich im Kirchenrecht.720 Und dass doch unsere Doktoren dies bedenken möchten, dann würden sie nicht die Lebensführung der Vorgesetzten liebkosen und nicht müßig sein, ihnen das Unrecht aufzudecken, um sie zur Buße herauszufordern. Sie sollen selbst zusehen, auf wie viele Arten jemand einem anderen bei einem Verbrechen zustimmt. Denn er stimmt zu (nämlich der Sünde), wenn er (mit dem Sünder) zusammenwirkt, (den Sünder in der Sünde) verteidigt, Rat gibt und ermächtigt, (bestärkt,) nicht wirklich hilft (d. h. ihm die Unterstützung entzieht, wodurch er Sünde verhindern könnte, noch ihn tadelt). Nun noch vom Interdikt, womit die Kleriker wegen eines Menschen oder wegen mehrerer das Volk Christi ausbeuten. Durch diese drei Kirchenstrafen nämlich, Exkommunikation, Amtsenthebung und Interdikt, tritt zu ihrer eigenen Erhöhung die Geistlichkeit das Laienvolk unter ihre Füße, vermehrt die Habsucht, schützt die Bosheit und bereitet den Weg des Antichrist. Alle diese drei Strafen häufen sie nämlich auf den Ungehorsam in der Weise, dass sie jeden, der ihnen nicht nach ihrem Willen gehorcht, exkommunizieren und seines Amtes entheben und, wenn er ihrem Willen standhaft widersteht, das Interdikt über das Volk verhängen, indem sie die Ausübung des Gottesdienstes, die Spendung der Sakramente und das Begräbnis verbieten, sogar für alle gerechten Menschen, auf dass sie durch diese ausgeklügelte Beschwerung ihren Willen erlangen. Ein offenkundiges Zeichen aber dafür, dass diese Kirchenstrafen, die sie in ihren Prozessen Blitzstrahle nennen, vom Antichrist ausgehen, ist es, wenn sie gegen die geschleudert werden, die das Gesetz Christi predigen und die Bosheit der Kleriker anprangern. Das zweite Zeichen ist, dass diese Kirchenstrafen stärker vermehrt werden wegen Ungehorsams gegen sie selbst als wegen Ungehorsams gegen Gott und somit mehr wegen eines persönlichen Unrechts als wegen eines Unrechts gegen unseren Gott. Auf diese Weise geht nämlich der alte Feind vor, der in Listen geübt ist,721 dass er Gregor d. Gr., Liber regulae pastoralis pars 2 c. 15 (PL 77,30), mit Klgl 2,14, in: Decr. Grat. I dist. 43 c. 1: Sit rector (Friedberg 1,153). 721 Der Teufel; vgl. Mt 13,28; Offb 12,9; 20,2; Gen 3,1; Eph 6,11. 720
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über den Gehorsam gegen Christus den Gehorsam gegen den Antichrist stellt und sich so die Exkommunikation anmaßt wegen des Ungehorsams gegen sich, die Christus doch eingesetzt hat wegen des gegen Gott begangenen Ungehorsams. Er geht aber in folgender Weise vor: Zuerst verleumdet er einen Jünger Christi, dann klagt er ihn an, dann lädt er ihn vor, exkommuniziert ihn, enthebt ihn des Amtes und, wenn er ihn nicht ins Gefängnis oder dem Tode ausliefern kann, dann ruft er den weltlichen Arm um Hilfe an und, wenn er ihn auch so nicht bezwingen kann, überhäuft er ihn aus Bosheit mit dem Interdikt. Hauptsächlich aber geht er so vor gegen die, die das Unrecht des Antichrist bloßstellen, der vor allem die Geistlichkeit in Anspruch genommen hat. Daher dehnt er auch jene Kirchenstrafen zugunsten seiner Geistlichkeit aus, wie etwa für die, die aus Habsucht um Pfründen streiten, und wenn das Volk nicht die gewünschten Zehnten gibt, wenn ein Fürst die weltlichen Güter der Geistlichkeit beschlagnahmt oder an sich nimmt, wenn irgendein Geistlicher von Weltlichen, sogar wenn er ein niederträchtiger Dieb oder sonst ein Verbrecher ist, gefangen und im Gewahrsam gehalten wird oder wenn ein Priester so verletzt wird, dass Blut vergossen wird, oder auch wenn das Volk einmal berechtigterweise den Vorgesetzten den Gehorsam versagt. Christus aber, der höchste Hohepriester, hat, als der Prophet Johannes ins Gefängnis geworfen wurde – kein Größerer als er ist unter den von Frauen Geborenen aufgetreten722 – kein Interdikt verordnet, auch nicht, als Herodes Johannes enthaupten ließ. Ja, als er selbst ausgezogen, gegeißelt und verspottet wurde von den Soldaten, Schriftgelehrten, Pharisäern, Oberen und Hohepriestern, nicht einmal da hat er einen Fluch ausgesprochen, sondern hat für sie gebetet und gesagt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Und diese Lehre hat er seinen Gliedern weitergegeben, indem er sagte: Liebet eure Feinde und tut wohl denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und beleidigen, damit ihr Kinder eures Vaters seid, der im Himmel ist, der seine Sonne aufgehen lässt über die Guten und die Bösen und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.723 Daher lehrt Petrus, der erste Statthalter Christi und Bischof von Rom, in der Befolgung dieser Lehre mit Wort und Tat die Gläubigen mit den Worten: Dazu seid ihr berufen, weil Christus für uns gelitten und uns ein Beispiel hinterlassen hat, dass wir seinen Spuren nachfolgen sollen; er, der keine Sünde getan hat, auch kein Betrug in seinem Munde gefunden wurde; der nicht schmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt. Und Paulus, der denselben 722
Vgl. Mt 11,11.
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Lk 23,34; Mt 5,44 f.
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Weg beschritt, sagt: Segnet, die euch verfolgen, segnet, und verflucht nicht.724 Diese Lehre haben auch die anderen Heiligen befolgt, die bei ihrer Verfolgung keine Exkommunikation oder Amtsenthebung als Blitze geschleudert und auch kein Interdikt ausgesprochen haben, sondern sie haben sich umso mehr für den göttlichen Dienst eingesetzt, je schwerer die Verfolgung wurde. Als aber nach einem Jahrtausend der Satan los geworden war725 und die Geistlichkeit den Kot der Welt auf dem Hals hatte und überheblich geworden war in Wollust, Hochmut und Unduldsamkeit, da hat das Interdikt seinen Anfang genommen. Denn Papst Hadrian, der im Jahre des Herrn 1154 zu regieren begann, hat wegen der Verwundung eines einzigen Kardinals ganz Rom unter das Interdikt gestellt. O, wie duldsam war noch dieser Papst, allerdings nicht so wie Christus, Petrus oder Paulus oder der Apostel Andreas! Später hat Alexander III., der 1159 zu regieren begann, das Königreich England mit dem Interdikt belegt.726 Papst Cölestin III., der im Jahre 1082 zu regieren begann, sagt auch etwas über das Interdikt.727 Später hat Innozenz III., der im Jahre des Herrn 1199 zu regieren begann, das Interdikt öffentlich durch viele Dekretalen verkündet, wie z. B. auf dem IV. Laterankonzil.728 Später haben Bonifazius VIII., Innozenz IV. und Clemens V. derartige Interdikte weiter ausgedehnt.729 Und so vermehren sich fortwährend diese Interdikte, weil die Geistlichkeit immer mehr in Habgier, weltlichem Prunk und Unduldsamkeit entbrennt. Daher suche ich ständig nach der Begründung und dem Sinn des allgemeinen Interdikts, durch das Gerechte unverdientermaßen der Sakramente wie Kommunion und Beichte und so auch anderer Dinge beraubt werden und unterdessen die Kinder der Taufe. Ähnlich suche ich zu ergründen, warum Gott der Dienst seitens gerechter Männer durch das Interdikt entzogen wird, das um eines einzigen Menschen willen verhängt worden ist. Sehr verwunderlich wäre es, wenn einem irdischen König der Dienst aller seiner guten Diener entzogen würde wegen eines seiner Diener, der ihm feindlich gesinnt wäre. Und ganz und gar erst, wenn wegen eines Dieners, der ein guter, treuer Diener des Königs wäre, ein Lehnsmann, der jenen unter seinen Willen beugen wollte, allen Dienern des Königs verbieten würde, dem König den 724 1Petr 2,21–23; Röm 12,14. 725 Offb 20,7. 726 Decretales Gregorii IX lib. 4 tit. 1: De sponsalibus , c. 11: Non est vobis (Friedberg 2,664 f.). 727 A. a. O. lib. 3 tit. 11 c. 1: Quaesivit (Friedberg 2,506). 728 A. a. O. tit. 5: De praebendis , c. 31: In Lateranensi concilio (Friedberg 2,479). 729 Vgl. Sexti Decretales lib. 5 tit. 11: De sententia excomminicationis, c. 1–24 (Friedberg 2,1093–1107).
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Dienst zu leisten. Wie kann also ein Papst oder Bischof so unüberlegt, ohne ein Schriftzeugnis oder eine Offenbarung zu haben, so leichtfertig den Dienst für den König Christus verbieten? Denn wenn ein allgemeines Interdikt über eine Stadt oder ein Bistum verhängt worden ist, wird die Sünde nicht vermindert, sondern vermehrt. Denn Gerechten wird das Begräbnis verweigert entgegen der Schriftstelle: Dem Toten sollst du deine Gnade nicht verwehren . Wer wollte zweifeln, dass die gerechten Toten zu bestatten ein Werk der Barmherzigkeit ist? Denn der Engel Raphael redet so zu Tobias: Als du unter Tränen gebetet und die Toten begraben hast und deine Mahlzeit verlassen hast und die Toten tagsüber im Haus verborgen und sie in der Nacht begraben hast, brachte ich dein Gebet vor den Herrn.730 Wer wird auch bezweifeln, dass Beichte zu hören, zu raten, das Wort Gottes zum Heil zu predigen, Werke der Barmherzigkeit sind? Ebenso, das Sakrament der Eucharistie dem frommen Volk darzureichen und zu taufen. Welchen Sinn hat es also, diese Dinge dem Volk Gottes unverdient zu entziehen? Daher schreibt der heilige Augustinus an Bischof Auxilius, und das steht im Kirchenrecht: Wenn du über diese Angelegenheit eine Meinung hast, die sich durch vernünftige Gründe oder Zeugnisse heiliger Schriften erklären lässt, so würdige uns, uns zu belehren, wie gerechterweise für die Sünde des Vaters der Sohn verdammt werden kann oder die Ehefrau für die ihres Ehemannes oder der Knecht für die seines Herrn oder irgendjemand in seinem Haushalt und selbst ein Ungeborener, wenn er zu der Zeit, da das gesamte Haus mit dem Bann belegt ist, geboren wird, so dass man ihm nicht einmal in Todesgefahr durch das Bad der Wiedergeburt zu Hilfe kommen kann. Es war nämlich eine leibliche Strafe, durch die, wie wir lesen, einige Gottesverächter mit allen den Ihren, die derselben Gottlosigkeit teilhaftig waren, auf gleiche Weise getötet wurden. Damals sind allerdings zum Schrecken der Lebenden sterbliche Körper umgekommen, die doch einmal gestorben wären. Eine geistliche Strafe ist es aber, die so, wie geschrieben steht: „Was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein“, die Seelen bindet, von denen gesagt ist: „So wie die Seele des Vaters, ist auch die Seele des Sohnes mein. Die Seele, die sündigt, wird sterben.“ 731 Ihr habt vielleicht gehört, dass einige Priester, die einen großen Namen hatten, einen Sünder mitsamt seinem Hause gebannt haben. Aber vielleicht wären sie, wenn sie gefragt worden wären, nicht in der Lage gewesen, dafür eine angemessene Begründung zu geben. Ich jedenfalls finde, wenn mich jemand fragte, ob dies zu Recht geschieht, keine Antwort. Ich habe niemals gewagt, dies bei Vergehen zu 730
Sir 7,37; Tob 12,12.
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Mt 16,18; Hes 18,4.
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tun, die von einigen gemeinsam gegen die Kirche begangen worden sind, wenn ich nicht aufs eindringlichste dazu bewegt wurde – wie: als wenn sich alle binden, einem Exkommunizierten im Bösen Gunst zu erweisen. Aber wenn dir Gott offenbart hat, auf welche Art dies rechtmäßig geschehen kann, so verachte ich keineswegs dein jugendliches Alter und deine erst anfängliche Erfahrung mit kirchlichen Aufgaben. Ich bin bereit, als Älterer vom Jüngeren, als langjähriger Bischof von einem Kollegen, der noch nicht ein Jährchen im Amt ist, mich belehren zu lassen, wie ich Gott oder Menschen eine wahre Rechenschaft geben kann, wenn wir unschuldige Seelen für ein fremdes Verbrechen, das sie nicht von Adam her bekommen haben – d. h. außer der Erbsünde –, in dem alle gesündigt haben, mit dem geistlichem Tode bestrafen. Denn selbst wenn Clazianus, der Sohn, vom Vater zwar den Schaden des ersten Menschen bekommen hat, d. h. die Erbsünde, die durch den heiligen Brunnen der Taufe abgewaschen werden muss, so hat sich sein Vater, nachdem er ihn zeugte, dennoch etwas an Sünde zuschulden kommen lassen, woran er selbst nicht teilnahm. Wer bezweifelt, dass ihn das auch nicht betrifft? Was soll ich von der Ehefrau sagen? Was von so vielen Seelen des gesamten Haushalts? Denn wenn davon eine Seele durch diese Härte, d. h. der Exkommunikation, mit der dieses ganze Haus gebannt worden ist, ohne Taufe den Körper verlässt und zugrunde geht, so kann der Tod unzähliger Körper, wenn aus der Kirche unschuldige Menschen, nämlich Märtyrer, gewaltsam hinweggerafft und getötet werden, mit diesem Schaden nicht verglichen werden. Wenn du also für diese Sache einen Grund angeben kannst, so teile ihn bitte auch uns schriftlich mit, dass auch wir [danach handeln] können. Wenn du es aber nicht kannst, was steht es dir zu, einer unüberlegten Gemütsbewegung Raum zu geben? Denn wenn du gefragt wirst, kannst du eine richtige Antwort nicht finden .732 Soweit Augustin. Aus diesen Ausführungen schließt Gratian folgendermaßen: Wie also aus dem Zeugnis des Augustinus aufs deutlichste hervorgeht, wird einer ungerechterweise für die Sünde eines anderen exkommuniziert, haben auch diejenigen keinen vernünftigen Grund, die wegen der Sünde eines einzelnen das Urteil der Exkommunikation über seinen ganzen Haushalt aussprechen. Aber die ungerechte Exkommunikation schadet nicht dem, dem sie gelten soll, sondern dem, der exkommuniziert .733 Dabei ist zu bemerken, dass die Glosse zum Kirchenrecht im zusammenfassenden Kapitel über die Worte des Augustinus sagt, dass dieser Decr. Grat. II C. 24 q. 3 c. 1 (Friedberg 1,988 f). 1,989).
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Bischof wegen der Sünde des Clazianus dessen ganzen Haushalt exkommuniziert hatte. Dies aber schien ihm rechtmäßig geschehen zu können, weil einerseits gelegentlich jemand mit leiblicher Strafe für die Sünde eines anderen bestraft wird, sodann, weil gewisse Priester mit großem Namen einige um fremder Sünden willen exkommuniziert haben. Im ersten Teil des Kapitels bittet Augustinus ihn um die Begründung und den Sinn seiner Meinung; im Folgenden lehrt er, dass keine der genannten Begründungen zur Bekräftigung seines Urteils ausreicht. Im dritten geht er auf den besonderen Tatbestand ein und erweist das gegen die Familie des Clazianus ausgesprochene Urteil als ungerecht. Schließlich rät er dem Bischof, er solle, wenn er für seine Meinung keine Begründung liefern kann, von diesem Irrtum ablassen und der Wahrheit nacheifern . Soweit die Glosse. O, dass doch das Wort des heiligen Augustinus zusammen mit der Glosse diejenigen erwägen möchten, die exkommunizieren und wegen eines Menschen ein allgemeines Interdikt über eine Kirche oder Stadt verhängen! Warum treffen sie durch Bann und Interdikt die Gemeinschaft, die nicht schuldig ist? Und überhaupt, warum berauben sie die guten und frommen Priester des Gottesdienstes und das fromme Gottesvolk des Empfangs der Sakramente und Gott selbst seiner Ehre, die ihm dabei zuteilwird, und die Toten des Begräbnisses und öfters Kinder der Taufe, die ohne dieselbe sterben und nach der Meinung des Augustinus verdammt sind? Daher sagt die Glosse zum Kirchenrecht über jenes Wort: Wenn eine Seele durch diese Härte, mit der das ganze Haus gebannt worden ist, ohne Taufe den Körper verlässt und zugrunde geht, so ist der Tod zahlloser Körper, wenn unschuldige Menschen aus der Kirche gewaltsam entfernt werden, diesem Schaden nicht zu vergleichen. Die Glosse nennt die Begründung: Eine größere Sünde ist, wenn eine Seele durch die Sünde des Unglaubens zugrunde geht, als wenn die Körper unzähliger Märtyrer für Gott getötet würden . Und das scheint der buchstäbliche Sinn zu sein: Wenn Unschuldige aus der Kirche entfernt werden und wenn die Körper der Märtyrer zugrunde gehen, ist es kein Schaden, aber in der Umgangssprache nennt man das hier Mord. Ebenso sagt die Glosse: Schwerer sündigt der, durch dessen Schuld die Seele eines Kindes ohne Taufe aus diesem Leben scheidet, als wer viele Unschuldige getötet hat, indem er sie von der Kirche trennte. Aber ach, alles dies bemerkt die von Bosheit verblendete Geistlichkeit gar nicht, die wegen gelegentlicher Nichtzahlung einer kleinen Geldsumme, sogar seitens eines armen Menschen, der nicht zahlen kann, das Volk durch das Interdikt der Sakramente der Kirche, wie gesagt ist, beraubt. Das hat Christus nicht gelehrt, der vor allem die
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Geistlichkeit gelehrt hat, nicht vor Gericht zu streiten, indem er sagte: Und wer dich auf eine Wange schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wer dir den Mantel wegnimmt, dem verwehre auch nicht das Untergewand. Wer dich bittet, dem gib. Und wer dir das Deine nimmt, dem fordere es nicht wieder ab. 734 Aber die habgierige und unduldsame Geistlichkeit wird diese höchst heilsame Lehre Christi, wenn sie sie hört, verlachen. Und das ist nicht verwunderlich, denn der Erlöser sagt später: Wer diese meine Worte hört und sie nicht tut, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat.735 Welcher Mann, sage ich, ist törichter als die Geistlichkeit, die sich auf den Dreck dieser Welt gründet und das Leben und die Lehre Christi zum Gespött macht? Soweit nämlich ist die Geistlichkeit schon verderbt, dass sie diejenigen hasst, die häufig predigen und den Herrn Jesus Christus nennen. Und wenn jemand Christus für sich anführt, reißen sie sofort den Mund auf und sagen mit gehässiger Miene: Bist du Christus? Und so entehren und exkommunizieren sie nach Art der Pharisäer diejenigen, die Christum bekennen. Daher haben die Vorgesetzten, weil ich Christus und sein Evangelium gepredigt und den Antichrist entlarvt habe und wollte, dass die Geistlichkeit nach dem Gesetz Christi lebte, zusammen mit Herrn Zbyneˇ k, dem Prager Erzbischof, zuerst vom Papst Alexander eine Bulle erwirkt, dass in den Kapellen das Wort Gottes dem Volk nicht mehr gepredigt werden soll. Von dieser Bulle habe ich appelliert und habe niemals eine Anhörung erhalten können. Darum habe ich, als ich vorgeladen wurde, aus vernünftigen Gründen nicht Folge geleistet, weswegen die Vorgesetzten nach erzielter Übereinkunft meine Exkommunikation durch Michael de Causis angeordnet haben. Und zuletzt haben sie nun das Interdikt bewirkt, mit dem sie das Volk Christi schuldlos ängstigen. Ich wünschte also, dass die Doktoren dies auch bewiesen, was sie sagen, nämlich: dass in den Prozessen nicht das rein Gute verhindert und das rein Böse befohlen wird, sondern nur ein Mittleres. Und dass sie zuerst bewiesen, dass ein so allgemeines Interdikt ein mittleres Ding zwischen dem rein Guten und rein Bösen sei, das Unschuldige der Sakramente und des Begräbnisses beraubt, den Gottesdienst verhindert und außer Ärgernissen, Verleumdung und Hass nichts Gutes mit sich bringt. Und wie werden die Doktoren aufzeigen können, dass es erlaubt sei, das Volk von den Sakramenten, vom Begräbnis und vom Gottesdienst zu exkommunizieren, weswegen, wie gesagt wurde, der hervorragendste Kirchenlehrer, der selige Augustinus, den Bischof Auxilius 734
Lk 6,29 f.
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Mt 7,26.
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getadelt hat? Die Beweisführung der Doktoren, zusammengesetzt aus heuchlerischer Verschleierung und Bauernschläue, würde den Augustinus als Begründung nicht zufriedenstellen. Denn die Doktoren sagen: Es geschieht aber gemäß dem üblichen und beachteten Stil der römischen Kirche und Kurie . Seht die heuchlerische Verschleierung: schon vor der Zeit unserer Vorväter. Seht die Bauernschläue: Es werden hier nur mittlere Dinge befohlen .736 O, ihr Doktoren, der Stil welcher Kirche ist das? Etwa der apostolischen? Sagt, der Stil welchen Apostels ist das, oder von welchem Heiligen nach den Aposteln? Niemals ist es der Stil Christi, jenes Hauptes der heiligen Kirche, in dessen Stil die ganze für die Kirche nutzbringende Wahrheit enthalten ist. Aber ich frage, worin ist dieser Ausspruch enthalten: Jeden Ort, jede Stadt, Landstadt, Dorf oder Flecken, von der Gerichtsbarkeit ausgenommen oder nicht, zu dem oder zu denen dieser Johannes Hus sich begeben und solange er sich dort aufhalten und verweilen wird und nach seiner Abreise von dort für die Dauer von drei aufeinanderfolgenden Tagen, unterwerfen wir mit diesem Schreiben insoweit dem kirchlichen Interdikt und wollen, dass in ihnen der Gottesdienst unterbleibt.737 Vielleicht gründet sich jener Stil hierauf: Es ist nötig, immer zu beten und nicht aufzuhören , oder hierauf: Lobt Gott, alle Völker, und hierauf: Lobt Gott an jedem Ort.738 Aber was würden die Urheber des Stils sagen, wenn es geschähe, dass Jaohannes Hus zur heiligen Stadt Jerusalem käme, in der die Cherubim und Seraphim nicht aufhören, täglich einträchtig zu rufen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Gott Zebaoth? Werden sie etwa wegen des Bannstrahls dort mit dem Gottesdienst aufhören, sodass Christus, der gerechte Anwalt, nicht mehr bei Gott dem Vater für seine treuen Glieder eintritt oder der Engelchor nicht mehr ruft: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Gott Zebaoth? Wird diese Stimme aufhören, von der Johannes spricht: Ich hörte die Stimme vieler Engel in der Umgebung des Thrones und der Tiere und der Ältesten, und ihre Zahl war tausendmal tausend, und sie sprachen mit großer Stimme: „Würdig ist das Lamm, das getötet ist, zu empfangen Kraft und Göttlichkeit und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Lob. Und alle Kreatur, die im Himmel ist und auf der Erde und unter der Erde und im Meer und in ihm.“ Und die Doktoren können nicht sagen, dass dies nicht zutreffend ist, denn alle vernünftigen Geschöpfe unterstehen dem Stil der römischen Kurie zufolge dem Gebot eben dieser Kurie. Denn jedes menschliche Geschöpf untersteht dem römischen 736 Vgl. Palacky´ , Documenta, 480. 117,1; Ps 103,22.
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Vgl. Palacky´ , Documenta, 462.
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Lk 18,1; Ps
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Bischof. Und in desselben Stil spricht Bonifaz VIII.: Ferner erklären, sagen und bestimmen wir, dass es für jedes menschliche Geschöpf heilsnotwendig ist, dem römischen Bischof untertan zu sein .739 Ähnlich untersteht ein Engelsgeschöpf demselben römischen Bischof, wie der Kurienstil in der Bulle des Papstes Clemens sagt: Wir gebieten den Engeln des Paradieses, dass sie die Seele jenes Menschen, nämlich eines Rompilgers, der unterwegs stirbt, sofort aus dem Fegfeuer, von dem er gänzlich befreit ist, in die Herrlichkeit des Paradieses führen. Da also nach jenem Stil der Kurie jedes vernunftbegabte Geschöpf, sowohl die Engel wie die Menschen, dem römischen Bischof im Befehl untersteht und da der Stil in einem Prozess derselben Kurie sagt, dass wir jeden – von der Gerichtsbarkeit ausgenommenen oder nicht ausgenommenen – Ort, zu dem sich Jan Hus wenden und solange er dort sein wird, dem kirchlichen Interdikt unterwerfen, so folgt, dass im äußersten Fall, wenn sich Johannes Hus auf die unumschränkte Macht Gottes hin durch den Tod zum himmlischen Jerusalem wenden wird, diee Stadt selbst dem kirchlichen Interdikt unterliegen muss. Aber gelobt sei der allmächtige Gott, der geboten hat, dass die Engel mit allen Heiligen in diesem himmlischen Jerusalem nicht einem solchen Interdikt unterliegen! Gelobt sei auch Christus, der höchste römische Bischof, der seinen Gläubigen die Gnade gegeben hat, dass sie, wenn zur gegebenen Zeit kein römischer Bischof vorhanden ist, unter Führung des Herrn Christus ins himmlische Vaterland gelangen können! Wer nämlich wollte sagen, dass zu der Zeit, da eine Frau namens Agnes offensichtlich zwei Jahre und fünf Monate lang allein Papst war, kein Mensch gerettet worden wäre, oder in der Zwischenzeit zwischen dem Tode eines Papstes und der Wahl eines Nachfolgers keiner der dann sterbenden Menschen gerettet würde? Gelobt sei der allmächtige Gott auch, dass er seiner kämpfenden Kirche geboten hat, so zu leben, dass sie beim Tode des Papstes nicht dadurch ohne Haupt oder tot ist! Denn nicht vom Papst, sondern von ihrem Haupte Christus hängt ihr Leben ab und davon, dass, wenn der Papst zum Narren und zum Ketzer wird, die kämpfende Kirche die getreue Braut des Herrn Jesus Christus bleibt. Gelobt sei der Herr auch, der das eine Haupt der Kirche ist und sie so wirksam in der Einheit erhält, dass sie, wenn von einem dreigeteilten Haupt unter den Päpsten gesprochen wird, doch eine einzige Braut des Herrn Jesus Christi bleibt! Jetzt nämlich ist Balthasar Cossa, genannt Johannes XXIII., in Rom, Angelus Correr, genannt Gregor XII., in Rimini und Petrus de Luna, 739
Extravagantes decretales lib. 1 tit. 8 c. 1 (Friedberg 1,1246).
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genannt Benedikt XIII., in Aragon. Warum zwingt nun nicht einer von ihnen, der „heiligster Vater“ genannt wird, mit der Vollmacht die übrigen mit ihren Anhängern, dass sie sich seiner Gerichtsbarkeit unterwerfen? Woher sagt der Stil der römischen Kurie, dass er über jeden Menschen auf Erden die Vollmacht habe? Also ist die Grundlage schwach als Grundlage und als Beweis, dass irgendetwas gehalten sein soll, den Stil der römischen Kurie unverbrüchlich anzunehmen. Denn im Kirchenrecht gibt es eine Regel: Wenn zwei Priester über dieselbe Versorgung eine Urkunde vom Papst haben, die an einem Tag ausgestellt wurde, ist der, dem der Papst das Kanonikat übertragen hat, dem vorzuziehen, dem er das Kanonikat nicht verliehen hat, wenn der Bevollmächtigte nicht mehr weiß, wer die Urkunde zuerst erwirkt hat. Wenn sie aber in der Gnadenverleihung gleich sind, was die Form des päpstlichen Stils angeht, soll der, der zuerst das Bittgesuch eingereicht hat, bei der Pfründe den Vorrang haben. Und drittens: Wenn sie in diesen drei Dingen gleich sind, dann sollen die Kanoniker, denen die Vergabe zusteht oder der größere Teil derselben, verpflichtet sein auszuwählen, wobei der unberücksichtigt Gebliebene die Frucht der Gnadenverleihung nicht erhält, wenn nicht etwa aus dem Wortlaut der päpstlichen Urkunde ausdrücklich hervorgeht, dass der Papst jeden der beiden versorgen wollte.740 Diese dreigliedrige Maxime des Kurienstils scheint ein Grundsatz gegen Christus zu sein. Denn angenommen, wie es in der Mehrzahl der Fälle vorkommt, dass der Vorgezogene im Kanonikat entweder beim Zeitpunkt der Bewerbung oder beim Vorlegen des Gnadenerweises oder drittens in der Wahl des Kapitels soweit es Gott betrifft weit unwürdiger ist als der unberücksichtigt Gebliebene, dann muss aufgrund der Maxime jenes Stils gegen das Urteil Christi entschieden werden. Daraus folgt, dass die Maxime dieses Stils gegen das Gewissen und folglich gegen Christus ist. Was ist das also für ein Beweis der römischen Kurie: Der übliche und beachtete Stil gestattet oder behauptet dies, also ist es mit dem Gesetz Christi in Übereinstimmung und als katholisch anzuerkennen. Jene Bauernschläue aber, welche die Doktoren gebrauchen, nämlich dass es so schon vor der Zeit unserer Vorväter geglaubt und beachtet worden ist,741 würde hinlänglich den Schluss erlauben, dass die Doktoren selbst irrige Gewohnheiten der Heiden und Juden glauben und beachten; ja, dass sie noch den Baal verehren müssten, wie ihn die Böhmen, solange sie Heiden waren, verehrt haben. Sie haben für sich das Wort: Ihr sollt nicht nach den 740 Vgl. Decretales Gregorii IX lib. 1 tit. 2 c. 9: Cum Martinus (Friedberg 2,11). Palacky´ , Documenta, 480.
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Vgl.
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Geboten eurer Väter einhergehen und ihre Rechte nicht halten.742 Was ist das also für eine unverschämte Beweisführung von ihnen: Schon vor der Zeit unserer Vorväter ist dies geglaubt, beachtet und gehalten worden, also muss es auch von uns geglaubt, beachtet und gehalten werden. Solche albernen Beweise bringen ungehobelte Menschen vor, um Entschuldigungen für ihre Sünden vorzubringen. Aus der Schar jener ist der nicht, der sagt: Wir haben gesündigt, Herr, samt unseren Vätern; wir haben unrecht gehandelt und sind gottlos gewesen. Unsere Väter in Ägypten haben deine Wunder nicht begriffen; sie waren der Menge deiner Barmherzigkeit nicht eingedenk.743 Und wenn vielleicht die Doktoren sagen wollten, dass ihr Ausspruch die Vorväter, die heiligen Propheten oder Apostel oder die späteren Heiligen meint, dann hätten sie ausdrücklich ihre Schriften anführen sollen, gegen die es niemandem erlaubt gewesen wäre sich zu widersetzen; und dann hätte ihr Anspruch aufgehört, der dem Scharfsinn und der Vernunft Abbruch tut, wenn sie sagen, dass in den Prozessen nach dem Stil der römischen Kirche und Kurie, der schon vor der Zeit unserer Vorväter gebraucht und beachtet wurde, nur mittlere Dinge zwischen dem rein Guten und rein Bösen befohlen werden. Denn wer von den heiligen Vätern, den Propheten, Aposteln und anderen Heiligen befiehlt, dass überall dort, wohin sich ein Mensch wendet, mag er auch sehr schlecht sein, man auf Gottesdienste verzichten soll? Christus jedenfalls hat, als er den höchst ungehorsamen Judas, seinen Verräter, sah, nicht auf den Gottesdienst verzichtet bei seinem großen Abendmahl. Im Gegenteil, er hat in seinem Beisein die heiligen Handlungen ausgeführt und ihm seinen allerheiligsten, göttlichsten Leib zu essen gegeben und die Jünger beständig ermahnt, mit ihm zu wachen und zu beten, damit sie nicht bei dem gewaltsamen Überfall der Schriftgelehrten, Pharisäer und Hohepriester in Anfechtung fielen. Auch hat der gütigste Bischof mit seinem göttlichsten Gebet nicht aufgehört, als er gelästert und gekreuzigt wurde, sondern hat für die, die ihn kreuzigten, gebetet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Daher hat er mit Geschrei und Tränen gebetet und ist auch aufgrund seiner Ehrerbietung erhört worden . Daher haben auch seine wahren und offenkundigen Statthalter, die Apostel und andere Heilige, ihn darin nachgeahmt, zuerst Stephanus, der sprach: Herr Jesus, lass ihnen diese Sünde nicht stehen, denn sie wissen nicht, was sie tun.744 Und es ist verwunderlich, warum sie wegen der Juden, die leugnen, dass Christus Gott ist, und somit sein ganzes Gesetz ablehnen, kein 742
Hes 20,18.
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Ps 106,6 f.
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Luk 23,43; Hebr 5,7; Apg, 7,59.
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Interdikt verhängen oder wegen der offenkundigen Simonisten, die die vornehmlichsten Ketzer sind und durch die Schriften der heiligen Apostel und anderer Heiligen verdammt, exkommuniziert, des Amtes enthoben und mit Interdikt belegt und aus dem heiligen Priesterstand ausgestoßen. Der Grund ist, dass jene Simonisten die Exkommunikationen, Amtsenthebungen und Interdikte verkaufen und kaufen und mit diesen sozusagen stärksten Waffen ihre eigene Simonie unterhalten und verteidigen. Und ein Beweis dafür ist nicht notwendig, denn solcher simonistische Handel steht sogar den Bauern deutlich vor Augen, die von den Simonisten geängstigt, gequält, unterdrückt und ausgeplündert werden. Denn so sehr hat die Ketzerei des Simon und Gehasi745 zugenommen, dass sie nicht allmählich, sondern bei jeder passenden und unpassenden Kaufgelegenheit auch wider Willen die Menschen zu dieser Art von Verbrechen zwingt. Und dieser ganze Kaufhandel entspringt dem Stil der römischen Kurie, der sich auch die anderen Bischofskurien im simonistischen und gehasitischen Stil unterordnen. Das erhellt aus Bewilligungsbriefen von Bestätigungen, Befreiungen, Zulassungen und aus anderen, die erfunden worden sind, um Gelder auszuschöpfen. Es wäre noch von der Verdammung der 45 Artikel zu sprechen. Aber ich will es kurz sagen: Bis heute haben die Doktoren des Gerichtshofes nicht bewiesen, dass einer davon ketzerisch, irrig oder anstößig ist. Aber ich wundere mich, warum die Doktoren noch nicht im Gerichtshof lehren, dass der Artikel von dem Entzug der zeitlichen Güter nicht angewendet werden soll. Zum Beispiel dieser: Die weltlichen Herren können nach ihrem Ermessen kirchlichen Amtsträgern, die sich in ihrem Verhalten etwas haben zuschulden kommen lassen, die zeitlichen Güter entziehen.746 Da schweigen sie mit den Hohepriestern und Pharisäern und versammeln sich nicht im Gerichtshof, um jene, die diesen Artikel anwenden, zu verdammen. Wahrlich, was sie befürchteten, ist bei ihnen eingetroffen und wird noch in Zukunft eintreffen. Sie werden nämlich ihre zeitlichen Güter verlieren. Aber gebe Gott, dass sie ihre Seelen bewahren. Die Doktoren sagten, dass dann, wenn die Verdammung der Artikel erfolgt wäre, Frieden und Eintracht sein werde. Aber ihre Prophezeiung ist in das Gegenteil verkehrt worden. Denn es freuten sich die Verdammenden, aber es trauern die, die Steuern zahlen. Sie haben diesen Artikel verdammt: Die Zehnten sind reine Almosen .747 Und viele kamen zum Gerichtshof und baten, dass 745 Knecht des Propheten Elisa; vgl. 2Kön 5,20–27. Art. 16. 747 Palacky´ , Documenta, 453, Art. 18.
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Palacky´ , Documenta, 453,
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ihre Steuern, die doch Almosen seien, nicht erhoben würden. Aber einige Herren vom Gerichtshof antworteten: „Seht, ihr habt zuvor verworfen, dass die Zehnten reine Almosen seien, und jetzt sagt ihr, sie seien Almosen. Warum richtet ihr euch nun gegen die Verdammung?“ Und so viel für jetzt. Andere übrig gebliebene Dinge sollen später erörtert werden.
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28 HUSSENS ERKLÄRUNG SEINES GLAUBENS FÜR KONSTANZ [Sommer 1414]
Übersetzungsgrundlage: Opera omnia (1558) Bd. 1, 48b–51b. Dort unter der Überschrift „Rede des Johannes Hus zur Erklärung seines Glaubens, welche er auf dem Konstanzer Konzil vorzutragen beabsichtigte, gemeinsam mit jener anderen über die Worte: ,Friede diesem Haus!‘“ abgedruckt.
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Einleitung Nr. 28
Die Erklärung des Glaubens für Konstanz entstand im Zusammenhang der Vorbereitungen, die Hus vor seiner Abreise zum Konstanzer Konzil am 11. Oktober 1414 auf der Veste Krakovec traf. Gemeinsam mit dem befreundeten Juristen Johann von Jessenitz erarbeitete er eine Strategie für seine Verteidigung auf dem Konzil, deren Bestandteil drei große Reden sein sollten. Neben dem vorliegenden Text, in dem Hus anhand des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses seine Rechtgläubigkeit darzustellen versuchte, entstanden in diesem Zusammenhang die Reden „Vom Frieden“ und „Von der Genügsamkeit des Gesetzes Christi“. Da man Hus in Konstanz die Möglichkeit der Verteidigung verweigerte, kam allerdings keine der drei Reden tatsächlich zum Vortrag.
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Weil es ohne Glauben unmöglich ist, Gott zu gefallen, muss, wer zu Gott kommen will, glauben, dass es ihn gibt und dass er denen, die ihn suchen, ihren Lohn zuteilt,1 sagt der Apostel Hebr 11. Und alle Menschen sollen den Herrn Jesus Christus in ihren Herzen heiligen und jedem, der es fordert, bereitwillig Rechenschaft von ihrem Glauben ablegen, wie der Apostel Petrus im 1. Brief, Kapitel 3 sagt: Heiligt den Herrn Jesus Christus in euren Herzen und seid immer bereit zur Rechtfertigung gegenüber jedem, der von euch Rechenschaft darüber fordert, welcher Glauben und welche Hoffnung in euch ist.2 So stehe ich, der geringste Priester Christi, in der Hoffnung aber sein Diener, wenn auch ein unnützer, so doch unterstützt durch die Hilfe Gottes, bis zu diesem Tag und bezeuge Großes ebenso wie Kleines und sage nichts über den Glauben, als das, was das Gesetz unseres Herrn Jesu Christi lehrt. Und weil ich zum Lob der heiligsten Dreifaltigkeit wie auch dieses unseres Herrn Jesu Christi, des wahren Gottes und Menschen, des wahren Erlösers und Retters des Menschengeschlechts, vor allem wünsche, ein treues Mitglied der heiligen allgemeinen Kirche zu sein, deswegen gebe ich, wie ich es zuvor oft getan habe, auch jetzt dieses Zeugnis, dass ich niemals bewusst oder hartnäckig etwas gesagt habe noch in Zukunft irgendetwas sagen will, das der glaubwürdigen Wahrheit entgegen wäre, und schließlich, dass ich an jeder Glaubenswahrheit festgehalten habe, festhalte und festzuhalten beabsichtige und wünsche. Im Übrigen war und ist es mein Wunsch, für das Gesetz Christi das elende Leben preiszugeben,von welchem Gesetz ich glaube, dass es in Allem und in jedem seiner Teile durch den Ratschluss der Heiligen Dreifaltigkeit gegeben ist und dass es wahr ist und zur Rettung des Menschengeschlechts ausreicht, so wie es durch heilige Menschen Gottes verkündet wurde. Ich glaube überdies alle Artikel dieses Gesetzes nach jenem Verständnis, das die gesegnete Dreifaltigkeit zu glauben aufgetragen hat, und habe mich daher in Antworten, scholastischen Werken und öffentlichen Predigten sehr oft unterworfen, unterwerfe mich auch jetzt und will mich auch künftig freudig und demütig der Ordnung, Wiederherstellung und dem Gehorsam des heiligsten Gesetzes unterwerfen. Ferner stimme ich allen Aussprüchen der heiligen Lehrer zu, die dieses Gesetz getreu erklären. Ich ehre auch alle allgemeinen und besonderen Konzilien, Dekrete und Dekretalen sowie alle Gesetze, Kanones und Konstitutionen, sofern sie dem Gesetz Gottes offensichtlich oder verborgen zustimmen. Und um den Glauben, an dem ich festgehalten habe, festhalte und auch ferner bis zum Tod (der Herr ist mein Bürge!) festhal1
Hebr 11,6.
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1Petr 3,15.
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ten werde, denen, die es hören wollen, konkreter und deutlicher zu erklären, nehme ich aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis folgendes Thema: Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen. Da3 mit dem Herzen geglaubt wird zur [Erlangung der] Gerechtigkeit, mit dem Mund aber Bekenntnis abgelegt wird zum Heil (sagt der Apostel Röm 104), ist es recht, dass der innere Mensch nach dem Verstande Gott diene, weshalb es nötig ist, dass er vor allem den Glauben erlangt. Daher sagt der Apostel: Der Glauben kommt aus dem Hören.5 Und da der Glaube ohne Werke tot ist (Jak 26), ist es notwendig, dass der Mensch sowohl durch seine Stimme als auch durch seine Werke den Herrn Christus und seine Worte bekennt. Darum sagt der Apostel, dass mit dem Mund Bekenntnis abgelegt werde zum Heil, welches Bekenntnis der Herr Christus selbst in Mk 8 so erklärt: Wer mich und meine Worte bekennt in diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, den wird auch der Menschensohn bekennen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln.7 Somit ist die Grundlage aller Tugenden, durch die wir Gott mit Gewinn dienen, der Glaube, ohne den es unmöglich ist, Gott zu gefallen, und8 aus dem das mündlich gegebene Bekenntnis und die Erfüllung des göttlichen Willens in jedem Menschen hervorgehen muss, weil9 alle Menschen nur Schüler Gottes oder Schüler des Teufels sein können. Und das Alphabet oder der Grundlagenunterricht, bei dem man in jeder der beiden Schulen ansetzen muss, ist der Glaube oder der Unglaube. Der erste Buchstabe aber, dem Herzen am nächsten, ist der, dass eine Dreifaltigkeit sei, nämlich der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, drei Personen, von denen jede ihrer Essenz, Substanz oder auch Natur nach wahrer ewiger Gott ist, und somit sind die drei Personen allmächtig, ewig, unendlich usw. und haben auch sonst alle Eigenschaften, die Gott als Gott zukommen. Sie werden jedoch nicht die drei Ewigen genannt, weil es nicht viele Götter sind, sondern ein Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, aus dem alles, durch den alles und in dem alles ist.10 Aus ihm, wie der Apostel sagt, ist alles im Hinblick auf die schöpferische Kraft, die dem Vater zugestanden wird. Durch ihn ist alles im Hinblick auf die beispielhafte Weisheit, die dem Sohn zugestanden wird. Und in ihm ist alles schließlich bewahrt in der Güte, die dem Heiligen Geist zugestanden wird. Von
Hier beginnt ein erster längerer Auszug aus Wyclif, Serm. I 44. 4 Röm 10,10. Röm 10,17. 6 Vgl. Jak 2,17. 7 Hus kontaminiert Mk 8,38 mit Lk 12,8. 8 Einschub von Hus. 9 Fortsetzung des Wyclif-Auszugs. 10 Röm 11,36. 3 5
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diesem Geist sagt Thomas: Ich glaube an den Heiligen Geist ;11 so singt es die Kirche im Apostolischen Glaubensbekenntnis, welches das erste unter den Glaubensbekenntnissen ist. Denn es sind drei solche Glaubensbekenntnisse, die in der heiligen Kirche Gottes in Gebrauch sind. Das erste ist das Apostolische, das zweite das des Konzils von Nicäa, und das dritte das des Athanasius.12 Das erste ist für die Unterrichtung des Glaubens gemacht, das zweite für die Erläuterung des Glaubens, das dritte zur Verteidigung des Glaubens, damit jeder wahre Schüler Christi, vor allem aber der Kleriker und am meisten der Priester oder Prälat, weiß, was, wem und an wen er glauben muss, und dadurch versteht, jenes dem Volk zu erklären, und wagt, bis zum Tod den Glauben Christi zu verteidigen. Hier ist, gemäß der Aussagen der Heiligen, anzumerken,13 dass es Unterschiede zwischen diesen Dreien gibt: an Gott glauben, Gott glauben und einen Gott glauben. An Gott glauben, welches unter diesen dreien das Beste ist, heißt, Gott aus Liebe fest anzuhängen. Gott glauben heißt, zu glauben, dass Gott wahrhaftig ist; aber einen Gott glauben heißt, einfach zu glauben, dass Gott ist .14 Diese Unterscheidung wird deutlich aus der Erklärung des ehrwürdigen Beda zu jenem Apostelwort im Römerbrief: Aber dem, der glaubt an den, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet .15 Dazu sagt Beda: Eines ist es, an Gott zu glauben, ein anderes, Gott zu glauben, und wieder ein anderes, einen Gott zu glauben. An Gott zu glauben heißt, ihn im Glauben zu lieben, im Glauben an ihn zu wandeln, ihm im Glauben anzuhängen und seinen Gliedern einverleibt zu werden. Gott zu glauben heißt, zu glauben, dass wahr sei, was er sagt, wie auch die Bösen tun und wie wir auch dem Menschen glauben, aber nicht an den Menschen glauben. Einen Gott zu glauben heißt, zu glauben, dass Gott an sich sei.16 In diesem Sinn äußert sich auch Augustinus im Johanneskommentar, und zwar über die Worte des Herrn17 [Das ist ein Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat]; er sagt dort: Wer ihm, also Christus, glaubt, glaubt nicht sogleich an ihn, und auch Dämonen glauben ihm und nicht an ihn. Ebenso sagen wir auch von seinen AposHus bezieht sich vermutlich auf Thomas von Aquin, Expositio in Symbolum Apostolorum, VIII (Ders.: Opuscula theologica 2, hrsg. v. R. M. Spiazzi, Turin 21954, 18 f.). 12 Vgl. Irene Dingel (Hrsg.), Die Bekenntnisschriften der Ev.-Luth. Kirche. Göttingen 2014, 35–60. 13 Auch die folgende Unterscheidung dreier Glaubensarten aus Wyclif, Serm. I 44. 14 Ende des Wyclif-Auszugs. 15 Röm 4,5. 16 Hus zitiert hier offensichtlich nach Petrus Lombardus, Sententiae III 22, 4 (PL 192,805). 17 Stelle und Worte (hier essentiell) fehlen im Text: Joh 6,29 (Zitat oben in eckiger Klammer). 11
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teln: Wir glauben Paulus, aber wir glauben nicht an Paulus. „Denn dem, der an den glaubt, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet.“ 18 Folglich heißt an ihn zu glauben so viel wie ihn im Glauben zu lieben, ihn im Glauben hochzuschätzen, im Glauben an ihn zu wandeln und seinen Gliedern einverleibt zu werden. Dies ist also der Glaube, den Gott von uns verlangt.19 Aus obigen Worten erwähnter Heiliger wird erstens deutlich, dass man nicht an einen Menschen glauben soll, der nicht Gott ist. Denn Beda sagt: Wir glauben dem Menschen, aber wir glauben nicht an den Menschen, und Augustinus sagt: Wir glauben Paulus, aber wir glauben nicht an Paulus. Wir glauben Petrus, aber wir glauben nicht an Petrus. Und daraus wird außerdem deutlich, dass wir nicht einmal schuldig sind, an die selige Jungfrau Maria, die Mutter des Erlösers, noch an irgendeinen anderen Heiligen zu glauben, sondern an den einzigen Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist und folglich an die heiligste Dreifaltigkeit. Drittens wird deutlich, dass jeder, der Gott nicht über alles liebt, nicht an ihn glaubt, und somit glaubt keiner, der nur zum Schein ein Christ ist, aber im Laster lebt, an Gott, auch wenn er durch einen formlosen Glaubensakt, so wie ein Dämon, einen Gott und Gott glaubt. Denn dem Glauben des lasterhaften Menschen fehlt die Form der Caritas oder Liebe Gottes, und somit ist er tot,20 wie Jakobus, der Apostel Christi, im 2. Kapitel sagt. Deshalb sagt auch Augustinus: Wer ihm glaubt, glaubt nicht sogleich auch an ihn. Denn auch Dämonen glauben ihm und doch nicht an ihn. Weiter muss man wissen, dass, da Glauben ein Akt des Verstandes ist, der durch den Willen bewegt wird, Augustinus im Johanneskommentar sagt,21 dass niemand glaubt außer willentlich, da jener Akt, der Glauben heißt, aus dem Glauben22 hervorgehen muss. Glaube23 ist aber nach allgemeiner Unterscheidung dreierlei, nämlich der Glaube, der geglaubt wird, wie alle glaubwürdige Wahrheit, gemäß dem Athanasianischen Bekenntnis: Dies ist der katholische Glaube ; der zweite Glaube ist der, mit dem geglaubt wird, nämlich die Handlung, mit welcher der Gläubige der glaubwürdigen Wahrheit anhängt; der dritte
Röm 4,5. 19 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus XXIX 6 (PL 35,1631). Hus nimmt hier nochmals Bezug auf Jak 2,17 (vgl. Anm. 6). 21 Augustinus, In Ioannis ev. XXVI 2 (PL 35,1607). 22 Statt des tautologischen fide möchte man corde lesen (vgl. Augustinus ebd.: De radice cordis surgit ista confessio – „Von der Wurzel des Herzens erhebt sich jenes Bekenntnis“); im Blick auf die Fortsezung (Est autem fides [...]) scheint jedoch fide bewusst gewählt. 23 Fortsetzung des Wyclif-Auszugs. 18 20
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Glaube ist der, durch den geglaubt wird, nämlich die Haltung, durch die sich der Gläubige eine Zeit lang geneigt findet, tatsächlich zu glauben, was er sollte. Und somit kann der Schild des Glaubens auf dreierlei Weise versagen: erstens durch Perforation, nämlich durch völliges Schwinden des Glaubens an irgendeinen Artikel, der zum Heil notwendig ist; zweitens durch Ausdünnung, wenn der Glaube nachlässt, so wie nach den Philosophen jeder Schlechte unwissend ist in der Wahrheit des Glaubens24; und drittens, wenn der Glaube deutlich entfaltet ist, aber25 der Glaubensschild umgekehrt ist und nicht durch die Liebe geformt, wie26 bei den Dämonen. Der Teufel nämlich glaubt und zittert,27 und so28 verführt der Teufel seine Jünger zu dreifacher Treulosigkeit: erstens durch falsche Lehre; zweitens durch stärkere Gewichtung des Kleineren vor dem Größeren; drittens durch Entziehung dessen, was zum Glauben notwendig ist. Durch das Erste verführt er die Häretiker, durch das Zweite die Christen und durch das Dritte die Sarazenen und Juden. Der Glaube der Heiligen Schrift aber hält die Mitte, der man nichts hinzufügen und die29 man nicht verringern darf;30 diese Schrift lehrt, an den Heiligen Geist zu glauben, woraus jenes Thema gezogen wird: Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche. Dazu ist in Kürze bis hierher zu wissen, dass „glauben“31 in dreifachem Sinn äquivok ist. Denn auf eine Weise heißt glauben, irgendeinem Ausspruch oder Lehrsatz mit Zweifel anzuhängen; auf eine andere heißt glauben, solch einem Ausspruch oder Lehrsatz ohne Zweifel, doch nur vermutungsweise anzuhängen; auf eine dritte heißt glauben, einem Ausspruch oder Lehrsatz so anzuhängen wie dem Glauben, von dem man mit Blick auf die erste Wahrheit spricht. Auf die erste Weise glauben wir unseren Gefährten, menschlichen Schriften und Werkzeugen, die nicht die Heilige Schrift zur Grundlage haben und den Gläubigen irreführen können; auf die zweite glauben wir den Aussprüchen der Heiligen, die nicht offensichtlich aus der Schrift abgeleitet worden sind; auf die dritte haben wir der Heiligen Schrift zu glauben, denn diese gibt unfehlbare Gewissheit, für welche der Gläubige verpflichtet ist, sich der Todesgefahr auszusetzen. Auf 32 diese dritte Weise muss Mit „den Philosophen“ ist „der Philosoph“ gemeint, d. h. Aristoteles. 25 Text und Interpunktion hier falsch: Satz geht weiter; statt secundum ist mit Wyclif sed zu lesen. 26 Mit Wyclif ut statt et. 27 Vgl. Jak 2,19. 28 Mit Wyclif sic zu ergänzen. 29 Gegen Hus (ab ipsa) und Wyclif ([ab] ipsa) ist ipsam zu lesen. 30 Ende des letzten größeren Wyclif-Auszugs. 31 Die folgende Spezifizierung des Glaubensbegriffs nach Wyclif, Dialogus 12. 32 Die folgenden zweieinhalb Sätze (bis kurz vor Absatzschluss) kombiniert aus Hus, De ecclesia 8, und Wyclif, sermo I 44 Schluss. 24
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jeder Pilger33 einer jeden Glaubenswahrheit der Heiligen Schrift, ausdrücklich oder unausdrücklich, glauben, je nach dem Fassungsvermögen seines Geistes, so wie die göttliche Milde ihn zu erleuchten geruht. Wieviel indes der Gläubige für das notwendige Heil ausdrücklich glauben muss, habe ich derzeit nicht zu erörtern, denn der allmächtige Gott zieht seine Auserwählten in vielen Abstufungen des Glaubens zu sich. Ich begnüge mich aber damit, für mich die Erklärung jenes Glaubens wiederzugeben, den ich vertrete, und diese Erklärung kann sich den Verständigen aus dem offenbaren, was ich bisher gesagt habe. Doch damit der Glaube, den ich vertrete, den Hörern noch deutlicher wird, komme ich nun zum Satz des Themas, der lautet: Ich glaube an den heiligen Geist, die heilige allgemeine Kirche usw . So ist es Eurer Liebenswürdigkeit zu Beginn vorgestellt worden. Aber weil das Thema drei Glaubensartikel enthält, so will ich sie, ohne Erwähnung der anderen, so kurz als möglich besprechen. Der erste besagt, dass der Heilige Geist die dritte unerschaffene Person ist, in allem gleich dem Vater und dem Sohn, und somit führt das Apostolische Glaubensbekenntnis deutlich aus, in welcher Weise an die Dreifaltigkeit zu glauben ist. Die anderen Glaubensartikel aber glauben wir, jedoch glauben wir nicht an sie, weshalb sie von der Gottheit sprachlich formell unterschieden werden. Weshalb der Erlöser, indem er diesen Lehrsatz und Unterschied andeuten wollte, Martha diesen glaubwürdigen Artikel vortrug: Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt .34 Zweitens trug er ihr diesen Artikel vor: Jeder der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit,35 und fügte an: Glaubst du dies? 36 – nicht etwa: „Glaubst du an dies?“ Daher wird diese Präposition an im Apostolischen Glaubensbekenntnis keinem Artikel vorangestellt außer den Personen, wie hier: Ich glaube an Gott den Vater, und hier: Und an Jesus Christus, seinen Sohn, und hier: Ich glaube an den Heiligen Geist. Glauben müssen wir also an Jesus Christus, den Sohn, an Gott, den Vater, und an den Heiligen Geist, nicht an irgendetwas bloß Geschaffenes. Wenn man nämlich an irgendetwas glauben könnte, das nicht Gott ist, wäre die Folgerung unseres Erlösers ungültig, die er Joh 14 zieht: Glaubt an Gott und glaubt an mich.37 Wozu Augustin im Johanneskommentar sagt: Damit sie nicht den Tod fürchteten und deshalb verwirrt würden, tröstete er sie, indem er ihnen bekannt machte, dass er Gott sei. „Glaubt“, sagte er, „an Gott und glaubt an mich.“ Denn es ist 33 37
Der Begriff des viator von Wyclif. Joh 14,1.
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Joh 11,26a.
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folgerichtig, dass ihr, wenn ihr an Gott glaubt, auch an mich glauben müsst, was nicht folgen würde, wenn Christus nicht Gott wäre. „Glaubt an Gott und glaubt an mich“, der es seiner Natur gemäß nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst erniedrigte, ohne darum die Gottesgestalt zu verlieren, sondern indem er Knechtsgestalt annahm.38 Siehe, wie deutlich und schön dieser Heilige zeigt, dass die Folgerung Christi korrekt ist, die so zu verstehen ist: Ihr glaubt an Gott, also glaubt ihr auch an mich , was nicht gelten würde, wenn Christus Jesus nicht Gott wäre. Daher würde jeder beliebige bloße Mensch, der wohlüberlegt jene Folgerung auf sich selbst bezöge, in der Absicht, dass man an ihn glaubt, Gott lästern, indem er – wenn auch fälschlich – beanspruchen würde, Gott gleich zu sein, also Gott der Ehre berauben wollte, entgegen dem Wort: Meine Ehre gebe ich keinem anderen.39 Daher wiesen die Apostel jene göttliche Ehre zurück: Es geschah, als Petrus eintrat, dass Cornelius zu ihm kam und vor seinen Füßen niederfiel und ihn anbetete. Petrus aber hob ihn auf und sprach: „Erhebe dich, auch ich selbst bin ein Mensch“.40 Und: Sogleich zerrissen Paulus und Barnabas ihre Gewänder, sprangen in die Volksmenge, klagten und sprachen: Männer was tut ihr da? Wir sind sterbliche Menschen, ganz so wie ihr.41 Denn jene Menschen wollten den Aposteln Opfer darbringen und verehrten sie wie Götter. Und so ist deutlich, dass man das Volk unterweisen soll, an den einen Gott zu glauben und nicht an die selige Jungfrau, noch an die Heiligen und vor allem nicht an den Papst oder die anderen Prälaten, da sie nicht Gott sind, und auch nicht an die Kirche. Daher sagte auch der selige Augustinus über jenen Artikel: Die heilige allgemeine Kirche: Es ist anzumerken, dass man nicht an die Kirche glauben soll, da sie nicht Gott ist, sondern das Haus Gottes .42 Woraus erhellt, dass, wenn gesagt wird: Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige allgemeine Kirche , die Präposition43 an – trotz zweier Akkusative – allein jener erste: den Heiligen Geist, verdient. Darum spricht und singt die Kirche zu Recht, soweit es den ersten Artikel des Themas betrifft: Ich glaube an den Heiligen Geist. Ich glaube, das heißt, durch den Glauben strecke ich mich in Liebe nach dem Heiligen Geist aus, durch den Glauben liebe ich den Heiligen Geist, durch den Glauben hänge ich dem Heiligen Geist an. Und wer so an den Heiligen Geist glaubt, hat endlich ewiges Leben, so wie einer, Augustinus, In Ioannis evangelium 67.1 (PL 35,1812); der letzte Satz nach Phil. 2,6 f. Jes 42,8. 40 Apg 10,25 f. 41 Apg 14,14 f. (Vg. Apg 13,13 f.) 42 Augustinus (zugeschrieben), De symbolo XII (PL 40,1196). 43 Zu lesen ist praepositio.
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der an Christus glaubt, das ewige Leben hat, wie er selbst Joh 6 sagt: Amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt, hat ewiges Leben.44 Und so ist deutlich, dass demnach keiner, der in Todsünde ist, ohne schuldig zu werden an den Heiligen Geist glauben kann. Und folglich spricht er unwürdig das Glaubensbekenntnis. Und er lügt, ebenso als wenn er sagte: Ich liebe Gott , und seine Gebote nicht hält. Daher schreibt Johannes: So einer spricht: „Ich liebe Gott“, und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner.45 Daher muss jeder darum besorgt sein, dass er den Heiligen Geist über alles liebe und nicht lügenhaft, sondern wahrhaft und verdienstlich spreche: Ich glaube an den Heiligen Geist, der wahrer Gott ist. Desgleichen soll er würdig sprechen: Ich glaube an den Heiligen Geist . Das heißt: ich halte unbeirrt und ohne Zweifel daran fest, dass der Heilige Geist die dritte ungeschaffene Person ist, in allem gleich dem Vater und dem Sohn. Und zweitens heißt es: Ich glaube dem Heiligen Geist, d. h. ich glaube fest und halte ohne Zweifel für wahr, was immer der Heilige Geist sagt. Und so viel zum ersten Artikel, den unser Thema enthält. Der zweite Artikel des Themas ist, zu glauben, dass eine heilige, katholische, das heißt allgemeine, Kirche sei, welche die Braut Christi ist, die aus beständiger Liebe, jenem liebenden Wesens des Heiligen Geistes, durch die ganze Dreieinigkeit mit Christus vermählt wird. Jene allgemeine Kirche aber ist die Gesamtheit aller Erwählten, das heißt, es sind alle Erwählten der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. Deutlich wird dies durch den seligen Augustinus im Johanneskommentar, unter dessen Lehrsatz in Causa 33, Quaestio 4, Kapitel Recurrat 46 ausgeführt ist, inwiefern die Kirche der Erwählten vom Anfang der Welt bis zu den Aposteln fortschreitet und von dort weiter bis zum Tag des Gerichts, weshalb Augustin sagt: Die Kirche, die Abel, Henoch, Noah und Abraham gebar, diese gebar später vor der Ankunft des Herrn Mose und die Propheten, und sie war es, die die Apostel, unsere Märtyrer und alle guten Christen gebar, alle nämlich, die zwar zu verschiedenen Zeiten geboren und erschienen, aber zur Gemeinschaft eines Volkes verbunden sind und als Bürger ebendieses Staates die Mühen der Pilgerschaft durchgemacht haben, und einige machen sie jetzt durch, und bis ans Ende werden andre sie durchmachen.47 Seht, wie klar dieser Heilige, der vorzügliche Ausleger der Heiligen Schrift und 44 Joh 6,47. 45 1Joh 4,20. 46 Decr. Grat. II C. 32 q. 4 c. 2 (unter dem Augustinuszitat Sicut bonorum ministerio boni et mali, ita ministerio malorum boni et mali in fide generantur – „Wie durch den Dienst der Guten, so werden auch durch den Dienst der Schlechten sowohl Gute als Schlechte im Glauben gezeugt“). 47 Decr. Grat. II C.
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Lehrer der Kirche zeigt, was die katholische Kirche sei. Und übereinstimmend spricht er dann ebendort von der Kirche der Böswilligen, von der er sagt: Sie gebar Kain, Ismael und Esau, ebenso wie sie Dathan gebar und andere ähnliche von diesem Volk, und es war jene, die auch diesen falschen Apostel Judas, Simon den Zauberer und andere sowie auch bis zu dieser Zeit falsche Christen, die in ihrem tierischen Streben beharren, gebar, sei es nun, dass sie in der Einheit vermischt sind oder in offenem Streit von ihr abweichen .48 Soweit Augustinus. Aus diesem Satz wird deutlich, dass es nur eine einzige allgemeine Kirche gibt, die nicht Teil einer anderen heiligen Kirche ist, und diese ist die Gesamtheit der Erwählten, einschließlich des ersten Gerechten bis hin zum Letzten der zukünftig Erretteten, einschließlich aller geretteten Menschen, von denen nämlich der selige Gregor in der Homilie sagt: Der Schöpfer hat einen Weingarten, die allgemeine Kirche, die von dem gerechten Abel bis zu dem letzten Erwählten, der am Ende der Welt geboren wird, ebenso viele Heilige hervorgebracht hat wie schlechte Reben.49 Auch der selige Isidor sagt in der Schrift Vom höchsten Gut, Kap. 14: Die heilige Kirche wird deswegen katholisch genannt, weil sie allgemein durch die ganze Welt verbreitet ist.50 Und ebenso äußern sich auch die Heiligen Ambrosius, Hieronymus, Remigius, Bernhard, Paschalis, Cyprian und viele andere heilige Lehrer über die Kirche, die anzuführen zu weitläufig wäre und für die Zuhörer ermüdend. Diese allgemeine Kirche aber ist die Braut Christi, von der das Hohelied handelt. Von ihr sagt der Bräutigam Hhl 6: Eine ist meine Taube.51 Das ist auch die starke Frau in Spr 31, deren Hausgenossen zweifach bekleidet sind.52 Das ist die Königin, von der der Psalm sagt: Die Königin stand zu deiner Rechten in vergoldetem Gewand.53 Sie ist das Haus Christi, von dem der Apostel Hebr 3 sagt: Christus war in seinem Haus, dieses Haus sind wir, wenn wir das Vertrauen und die rühmliche Hoffnung bis ans Ende festhalten.54 Sie ist endlich der Tempel des Herrn, das Königreich der Himmel, die heilige Stadt Jerusalem, von der Offb 21 der Seher der göttlichen Dinge sagt: Ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, herabkommen aus dem Himmel, von Gott zubereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.55 Das ist natürlich die Stadt des großen Königs, die man, wie Augustinus Enchiridion 41 sagt, als ganze sich nicht nur in dem 32 q. 4 c. 2,3 (PL 187,1477C) = De baptismo contra Donatistas I 16,25 (PL 43,123). Der von Hus zitierte Kapitelbeginn samt §§ 1f. stammt tatsächlich aus dem Johanneskommentar, der längere Passus indes aus De baptismo. 48 Ebd. 49 Greg. d. Gr., Homiliae in evangelia, 19.1 (PL 76,1154 C). 50 Isidor von Sevilla, Sent. I 16, 6 (PL 83,572a). 51 Hld 6,9. 52 Vgl. Spr 31,21. 53 Ps 45,10. 54 Hebr 3,6. 55 Offb 21,2.
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Teil, der pilgert, vorstellen muss, in dem sie „vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang den Namen des Herrn lobt“ 56 und nach der Gefangenschaft des Alten Bundes ein neues Lied singt, sondern auch [in dem Teil, der] 57 im Himmel, in dem sie gegründet ist, immerfort Gott anhängt und nie das Übel ihres Falls erlebt hat. Sie besteht in der Seligkeit der heiligen Engel weiter, und ihren pilgernden Teil unterstützt sie, wie es sich gebührt, weil beide 58 eine Gemeinschaft der Ewigkeit sein werden und jetzt schon durchs Band der Liebe eine sind, die als ganze zur Verehrung Gottes eingerichtet ist. Darum will sie weder als ganze noch als eines ihrer Teile anstelle Gottes verehrt werden .59 Soweit Augustinus. Das also ist die bereits genannte heilige katholische Kirche, die die Christen glauben und bekennen, gleich nach dem Glauben an den Heiligen Geist, und das aus dreierlei Gründen. Erstens, weil sie nach Augustin an obiger Stelle das höchste Geschöpf ist, 60 ja gleich nach der ungeschaffenen Dreifaltigkeit kommt. Zweitens, weil sie in der Liebe des Heiligen Geistes mit Christus beständig ehelich verbunden ist. Drittens deshalb, weil es bei Voraussetzung der Dreifaltigkeit angemessen ist, dass diese einen Tempel hat, in dem sie durch ihre Gnade wohnt. Weshalb Augustinus an obiger Stelle hinzufügt: Gott also wohnt in seinem Tempel, nicht allein der Heilige Geist, sondern auch der Vater und der Sohn, der auch von seinem Leib, durch den er das Haupt der aus Menschen 61 bestehenden Kirche Gottes, geworden ist, auf dass er selbst in allem den Vorrang behalte, sagt: „Reißt diesen Tempel ab, und in drei Tagen richte ich ihn wieder auf. 62 Soweit Augustin. Diese heilige katholische Kirche nämlich ist der mystische Leib Christi, wie der Apostel Eph 1 sagt: Diesen hat er gesetzt als Haupt über die ganze Kirche, die sein Leib ist.63 Und Kol 1: Dieser ist das Haupt des Leibes, der Kirche.64 Und Eph 5: Christus ist das Haupt der Kirche, er selbst ist der Heiland seines Leibes .65 Daher hat Christus jene Kirche geliebt, zu deren Erlösung er Fleisch geworden ist, für die er sich selbst erniedrigt hat, Knechtsgestalt annahm, für die er Blut schwitzte, Qualen, Verunglimpfungen und den schmählichsten Tod erlitt, auf dass er sie heilige, indem er sie von allen Makeln reinigt. Weshalb der Apostel Eph 5 sagt: Christus hat die Kirche geliebt und sich selbst für sie hingegeben, um sie zu heiligen, indem er sie reinigt durch das Wasserbad im Wort des Lebens, auf dass er sich eine herrliche Kirche bereite, die keinen Makel Ps 113 (Vg.112),3. 57 Aus Augustinus zu ergänzen. 58 Für enim quae mit Augustinus utraque. 59 Augustinus, Enchiridion de fide, spe et charit. 56,15 (PL 40,258 f.). 60 Ebd. (PL 40,259). 61 Statt omnibus mit Augustinus hominibus . 62 Ebd. (vorletzte Anm.); das Zitat Joh 2,19. 63 Eph 1,22 f. 64 Kol 1,18. 65 Eph 5,23. 56
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hat noch eine Falte noch irgend dergleichen, sondern heilig und makellos ist. 66 Diese allgemeine Kirche wird hauptsächlich in drei Teile eingeteilt: in die triumphierende, die streitende und die schlafende Kirche. Die triumphierende Kirche sind die selig Entschlafenen im Vaterland, die gegen den Satan den Kampf Christi geführt haben, durch dessen Beistand sie am Ende triumphierten. Die streitende Kirche ist die Zahl der Erwählten, die noch nicht in diesem Vaterland angekommen sind. Sie wird streitend genannt, weil sie den Kampf Christi gegen das Fleisch, die Welt und den Teufel führt. Die heilige schlafende Kirche ist die Zahl der Erwählten, die im Fegefeuer ausharren. Sie wird schlafend genannt, weil sie dort noch in Erwartung der Seligkeit besteht, in die sie durch die Gnade Gottes und den Beistand der streitenden Kirche eingehen soll. Und so ist deutlich, auf welche Weise wir die heilige katholische Kirche glauben sollen, die im zweiten Titel des Themas enthalten ist. Der dritte Artikel des Themas ist, die Gemeinschaft der Heiligen zu glauben, und zwar so, dass jene heilige Kirche nach ihren zwei Teilen, nämlich dem triumphierenden und dem streitenden, Gemeinschaft in Hilfe und Liebe hat. Daher spricht man von der Gemeinschaft der Heiligen, weil alle Heiligen, die zum ewigen Leben erwählt sind, Gemeinschaft haben in einem Leib, in einem Geist, in einem Herrn, in einem göttlichen Vater, in der Taufe und Hoffnung, in den Sakramenten und in dem Band und der gegenseitigen Hilfe der Liebe. Daher sagt der Apostel Eph 4: [...] bemüht, die Einigkeit des Geistes durchs Band des Friedens zu bewahren, ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung kraft eurer Berufung, ein Gott, ein Glaube, eine Taufe, ein Herr und Vater aller, der über allen ist und durch alle und in uns allen.67 Und weiter unten: Lasst uns vielmehr, indem wir die Wahrheit in Liebe tun, wachsen durch alles in dem,68 der das Haupt ist, Christus, aus dem heraus der ganze Leib, zusammengefügt und verbunden durch jedes unterstützende Gelenk, gemäß der jedem Gliede zugemessenen Wirksamkeit das Wachstum des Leibes bewirkt 69 zum eigenen Aufbau in Liebe.70 Und 1Kor 3 beruhigt der Apostel den Streit der Korinther, die sich der Menschen rühmten, indem der eine sprach: Ich bin des Paulus , ein anderer: Ich bin des Kephas, ein dritter: Ich bin des Apollon,71 und sagt abschließend: Daher rühme sich niemand der Menschen, denn alles ist euer, es sei Paulus oder Apollon oder Kephas oder diese Welt oder Leben 66 Eph 5,25–27. 67 Eph 4,3–6. 4,15 f. 71 Nach 1Kor 3,4.
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Bei Hus in illo.
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Zu lesen facit statt fiat.
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oder Sterben oder Gegenwart oder Zukunft, alles ist euer, ihr aber Christi, Christus aber Gottes.72 Seht, wie klar der Apostel die Gemeinschaft der Heiligen lehrt, welche die streitende Kirche mit dem Herzen glaubt, mit dem Munde bekennt und aufrechterhält durch die Tat. Diese Gemeinschaft der Heiligen ist die Teilhabe an den Gütern, die allen Gliedern des mystischen Leibes Christi, solange sie in der Gnade sind, zukommt, so dass jeder erwählte Gerechte in der Demut des Geistes mit dem Psalmisten sagen kann: Ich bin der Genosse aller, die dich fürchten und deine Gebote halten.73 Daraus folgt, dass die Heiligen im Vaterland die Erwählten in der streitenden Kirche unterstützen und sich an ihrer Buße und ihrem verdienstlichen Leben erfreuen. Die Seligen, die jetzt wandern, unterstützen durch ihre Gebete, Fasten, Almosen und andere heilige Werke die Heiligen der schlafende Kirche, damit sie aus den Strafen des Fegefeuers herauskommen und eher ins Vaterland gelangen. Daraus erhellt, in welchem Sinne ich die Gemeinschaft der Heiligen glaube und auch zuvor geglaubt habe, bezüglich des zweiten Artikels im Thema. Und indem ich diesen Glauben von der Gemeinschaft der Heiligen im Herzen habe und mit dem Munde öffentlich bekenne, bitte ich gewissenhaft Jesus Christus, der dem wahrhaft Bußfertigen die Gnade nicht verweigert, er möge jenen die Schuld vergeben, die von mir sagen oder gesagt haben, privat oder öffentlich, dass ich die Fürbitte der Heiligen leugne, sowohl mit Rücksicht auf die Pilgernden, als auch auf die in der Gnade Verstorbenen. Ich weiß nämlich, dass Christus lehrt, dass jedes einzelne Glied jedem anderen Glied nützt, als er den Knecht des Zenturio auf seine Bitte von der Lähmung heilt, bevor er nach Hause kommt. Denn Mt 8 sagt er: Geh hin, und wie du geglaubt hast, geschehe dir! 74 Und auf den Glauben des kanaanäischen Weibes hin, deren Tochter er heilte: Geh hin, und wie du geglaubt hast, geschehe dir! 75 Wenn also ein heiliger Mensch, der noch sterblich und in verzeihliche Sünden verstrickt ist, durch fromme Gebete bei Christus als Gott für den anderen, ja für die ganze streitende Kirche Unterstützung erwirken kann, welcher Narr würde sich erdreisten zu sagen, dass der, welcher sich bei Christus in der Herrlichkeit befindet, es nicht könnte? Er hätte ja dann in der Herrlichkeit weniger Kraft und Anerkennung bei dem König der Herrlichkeit, als da er noch auf der Wanderschaft im Elend war. Ich bitte für diese meine Ankläger auch die reinste Jungfrau, Erzeugerin des Erlösers, Erneuerin des Menschengeschlechts, Königin des Himmels, die aufgrund der Gnade, die ihrer Natur noch hinzugefügt wurde, die Natur der Engel übertrifft und die 72
1Kor 3,21–23.
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Ps 119,63.
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Mt 15,28.
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unter allen Seligen, ausgenommen ihren Sohn, die Seligste ist, herrlicher durch das einzigartige Vorrecht, fruchtbarer in der Gnade und den Gaben der Herrlichkeit. Von ihrer Fülle nehmen, wie Bernhard sagt, alle Kranken Heilung, Traurige Trost, Sünder Vergebung, Gerechte Gnade, Engel Freude, der Sohn Gottes das Wesen des menschlichen Fleisches und die ganze Dreifaltigkeit die Herrlichkeit.76 Es mögen also die Feinde verstummen und erröten, Feinde nicht nur gegen mich, sondern Feinde ihrer selbst und ihrer eigenen Seelen, die lügenhaft von mir wiedergeben, dass ich gesagt oder jemals dafür gehalten hätte, dass die Mutter Maria nicht Jungfrau geblieben wäre, sondern wie jede andere Frau geboren hätte, wenn doch die wahrhaftigste Schrift, wie ich oft und vor vielen tausend Menschen gepredigt habe, bei Mt im ersten Kapitel sagt, dass der Engel des Herrn dem Josef im Traum erschien und sprach: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria zu deiner Ehefrau zu nehmen, denn das Kind, das in ihr ist, ist vom Heiligen Geist, sie wird einen Sohn gebären, und du sollst ihn Jesus nennen. Denn er wird sein Volk von seinen Sünden erretten. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was von dem Herrn durch den Propheten gesagt worden ist, der spricht: Seht, eine Jungfrau wird einen Sohn empfangen etc.77 Und nicht allein diese Schrift von der Empfängnis und Niederkunft der herrlichen Jungfrau habe ich gepredigt, sondern das Volk das Glaubensbekenntnis gelehrt und dieses an die Wand der Kapelle, in der ich gepredigt habe, in der Muttersprache anschreiben lassen, in dem gesagt und von allen Gläubigen geglaubt wird, dass der alleinige Sohn Gottes des Vaters, Jesus Christus, durch den Heiligen Geist empfangen und von der Jungfrau Maria geboren wurde, einer Jungfrau, sage ich, die Anwältin, Mittlerin und gewissermaßen Ursache der Fleischwerdung, Passion und Auferstehung Christi ist und folglich auch Ursache des gesamten Heils aller zu Heilenden. Darum singt die Kirche: Die Pforte zum Paradies ist durch Eva allen verschlossen, und durch die Jungfrau Maria wurde sie wiederum geöffnet .78 Lasst uns also durch diese reinste Jungfrau und Mittlerin, hauptsächlich aber durch den Mittler, ihren Sohn Jesus Christus, glauben und auf die Vergebung der Sünden hoffen und unsere Auferstehung mit Freuden und nach diesem das ewige Leben erwarten, welches klare unverlierbare Erkenntnis der Dreifaltigkeit ist und die Seligen im Vaterland endlich sättigt. Zu solcher Erkenntnis leite uns der allmächtige Vater und der Sohn und der Heilige Geist in aller Ewigkeit. Amen. Wohl nach Bernhard von Clairvaux, In festo Pentecostes II 4 (PL 183,328 B). 20–23. 78 Gregor d. Gr., Liber responsalis, 240 (PL 78,799 D).
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Mt 1,
Abb. 15: Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen. Illustration aus Opera omnia (1558) Bd. 1.
29 HUS FORDERT SEINE PRAGER ANHÄNGER ZUR STANDHAFTIGKEIT AUF [August/September 1414]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 191 (Nr. 74); Ryba, Sto listu°, 137 (Nr. 41); Císárˇ ová-Kolárˇ ová/Danˇhelka, 98 f.
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Einleitung Nr. 29
Mitte Juli 1414 begab sich Hus von Sezimovo Ústí aus auf die Burg Krakovec, wo ihm der führende Vertraute König Wenzels IV., Heinrich Lefl von Lazˇ any, Schutz bot. Von dieser neuen Zufluchtstätte aus sandte er seinen Anhängern in Prag ein weiteres Schreiben in tschechischer Sprache, in dem er sie aufforderte, standhaft im rechten Glauben zu verharren und immerfort bußfertig zu bleiben. Es handelt sich um den letzten Brief Hussens an die Prager aus seinem selbstgewählten böhmischen Exil.
Aufforderung zur Standhaftigkeit
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Die Gnade und der Friede unseres Herrn Jesus Christus sei mit Euch! Amen. Diese Worte spricht Gott der Herr im sechsten Kapitel des heiligen Jeremias: Tretet auf die Wege und hört 1 und fraget nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei, und wandelt auf diesem, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele.2 Tretet auf die Wege Gottes, die da sind die große Demut unseres Herrn Jesus Christus, seine Barmherzigkeit, seine Geduld, sein mühe- und leidvolles, schmerzensreiches Leben, und dies bis zu seinem schmählichen Tode; denn der mildtätige Erlöser selbst spricht: Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig .3 Und an anderer Stelle spricht er: Ein Beispiel habe ich euch gegeben, dass auch ihr tut, wie ich getan habe. 4 Und Herr Jesus war seinem lieben Vater gehorsam bis in den Tod ;5 umso mehr obliegt dies uns Sündern. Tretet auf die Wege , indem Ihr eifrig fragt, welche vom ewigen Tod zum ewigen Leben führen, und von allem Leid zu ewiger Freude. Und dieser Weg ist das Evangelium des allmächtigen Herrn und die Briefe der Apostel, das Alte Testament wie auch die Lebensgeschichten der heiligen Menschen, die im göttlichen Testament berichtet sind und die durch ihr Leben leuchten wie Sonne und Mond und andere Sterne. Daher, allerliebste Brüder und liebe Schwestern in Gott dem Herrn, bitte ich Euch um der Marterqualen des Gottessohns willen, dass Ihr frohgemut zur Predigt geht, und wenn Ihr geht, auch eifrig zuhört, das Gehörte versteht, das Verstandene bewahrt, und indem Ihr es bewahrt, Euch selbst erkennt, und indem Ihr Euch selbst ganz recht erkennt, Euren allerliebsten Erlöser erkennt, denn Gott zu erkennen ist die höchste Gerechtigkeit, und indem Ihr ihn erkennt, ihn von ganzem Herzen und mit Eurem ganzen Willen liebt, und Euren Nächsten wie Euch selbst,6 und indem ihr ihn liebt, Euch mit ihm freut ohne Ende. Amen. Denn in diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz,7 das Alte wie das Neue. Tretet auf diesen Pfad und hört, damit Ihr ernsthaft Buße tut, denn hierin nähert sich Euch das himmlische Königreich. Denn rechte Buße ist die Gesundheit der Seele, die Rückkehr der Tugend, wie der heilige Bernhard bezeugt: O Buße, Gesundheit der Seele, Rückkehr der Tugend, Zerstreuung der Sünden,Vernichtung der Hölle, Tor zum Himmel, Weg der Gerechten, Sättigung der Seligen! Überglücklich der Mensch, der die heilige Buße liebt und bis zum Ende Hus schreibt slysˇ te, liest also in seinem Vulgatatext audite statt videte, oder er memoriert. 2 Jer 6,16. 3 Mt 11,29. 4 Joh 13,15. 5 Vgl. Phil 2,8. 6 Vgl. Mt 22,37.39. 7 Mt 22,40. 1
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Aufforderung zur Standhaftigkeit
seines Lebens bewahrt! Tretet auf den Weg Gottes, meine lieben Brüder, immerfort wachsend in heiligem Wandel, und hört niemals auf, Gutes zu tun, denn mit dem Antritt Eurer Zeit wird auch Euer Leben im Himmel nicht aufhören. Amen.
30 HUS AN KÖNIG WENZEL [etwa 30. August 1414]
Übersetzungsgrundlage: Alttschechischer Text: Palacky´ , Documenta, 68–69 (Nr. 35). Moderne tschechische Übersetzungen: Maresˇ , Listy Husovy, 130–132 (Nr. 47); Flajsˇ hans, Listy z vyhnanství, 104–107 (Nr. 29); Císarˇ ová-Kolarˇ ová/Danheˇ lka, 102–103. Deutsche Übersetzung: Bujnoch, Hus in Konstanz, 49 f. (auf den 26. August 1414 datiert).
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Einleitung Nr. 30
Ende August/Anfang September 1414 verfasste Hus mehrere Briefe aus dem Exil an unterschiedliche Adressaten: Während er seine Prager Anhänger zu einem frommen Leben ermahnte (vgl. diese Ausgabe Nr. 29), wandte er sich an König Wenzel und seinen Hof sowie zweimal an den römisch-deutschen König Sigismund von Luxemburg, dem gegenüber er seine Bereitschaft signalisierte, unter Schutz nach Konstanz zu reisen, wobei er ausführlicher seine diesbezüglichen Reisevorbereitungen sowie seine Absichten erläuterte (Novotny´, Korespondence, 197 [Nr. 80 – Brief verloren] und 197–199 [Nr. 81]). Wenige Tage vor Abfassung des hier wiedergegebenen Schreibens ließ Hus in deutscher Sprache eine öffentliche Erklärung verbreiten (Novotny´, Korespondence, 194f. [Nr. 77]), in der er seine Kontrahenten aufforderte, den gegen ihn gerichteten Vorwurf der Ketzerei öffentlich auf einer Zusammenkunft der Geistlichkeit vor dem Prager Erzbischof oder aber vor dem künftigen Konzil vorzutragen. Im vorliegenden Schreiben, das eher den Charakter eines Bekenntnisses aufweist, schildert Hus diejenigen Schritte, die er zu seiner Reinwaschung unternommen hat, und er verkündet zugleich erneut seine Absicht, sich zum Konstanzer Konzil zu begeben.
Hus an König Wenzel
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Seiner königlichen Gnaden und der Königin, ihrem Rat und dem königlichen Hofmeister sowie dem ganzen königlichen Hof. Ich, Magister Johannes Hus, zeige an und gebe kund, dass ich von gewissen Leuten wohlunterrichtet bin, dass Eurer königlichen Gnaden Briefe vom Papst zugegangen sind – von wem ausgefertigt, weiß ich nicht –, in denen geschrieben steht, Eure Königliche Gnaden mögen dafür Sorge tragen, in Eurem böhmischen Lande die zahlreich gewordenen Ketzer auszurotten.1 Und da sich gegen mich – ohne meine Schuld, bei Gott! – ein Geschrei erhoben hat und eine Hetze geführt wird, habe ich, damit Eure Königlichen Gnaden meinetwegen keine Verleumdung und das Land Böhmen keine Schmähung mehr leide, zahlreiche Schreiben versandt und zum Anschlag gebracht, dass ich mich an den Hof des Erzbischofs begebe und hier zuerst einer Untersuchung meiner Wahrheit mich stelle; und sollte es jemanden in diesem ganzen Königreich Böhmen geben, der von irgendeiner Ketzerei wüsste, dann möge er sich am erzbischöflichen Hof melden und dort persönlich gegen mich antreten. Und da sich keiner hier eingefunden hat und der Herr Erzbischof mich und meine Vertreter nicht vorgelassen hat, bitte ich um der Gerechtigkeit willen Eure königliche Majestät, die Königin, ihre Räte sowie den Hofmeister, sie mögen geruhen, mir darüber ein gerechtes Zeugnis auszustellen, dass ich mich nämlich dazu bereitgefunden und diesbezüglich öffentlich Schriftstücke angeschlagen habe und dass niemand in diesem Lande gegen mich angetreten ist. Und darüber hinaus erkläre ich dem ganzen Land Böhmen und tue den anderen einst ruhmvollen Ländern kund, dass ich in Konstanz auf dem einberufenen Konzil erscheinen will, und sollte der Papst anwesend sein, auch vor diesem und dem gesamten Konzil. Und sollte mich irgendjemand einer Ketzerei bezichtigen, dann möge er sich zum Konzil begeben, um dort vor dem Papst und vor dem ganzen Konzil in seinem Namen vorzubringen, wann er welche Ketzereien von mir vernommen habe. Und sollte ich einer Ketzerei überführt werden, weigere ich mich nicht, wie ein Ketzer zu leiden. Darin vertraue ich ganz auf den lieben Gott, dass er Verleumdern und Feinden der Wahrheit nicht gestatten wird, über die Wahrheit zu siegen.
König Wenzel erhielt von Papst Johannes XXIII. einen Brief, in dem er aufgefordert wurde, strenger gegen Hus vorzugehen; vgl. Soukup, Jan Hus, 188.
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Abb. 16: Hussenstein Konstanz - Findling mit Inschriften (Name, Sterbedatum), die an den tschechischen Kirchenreformer Jan Hus und seinen Gefährten Hieronymus von Prag erinnern (Foto Sven Jaenecke).
31 BRIEFE AN DIE FREUNDE VOR UND NACH DER ABREISE
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AN MARTIN VON VOLYNEˇ [Anfang Oktober 1414] [II]
AN DIE FREUNDE UND ANHÄNGER [zwischen 28. September und 11. Oktober 1414] [III]
AN DIE FREUNDE IN BÖHMEN [20. Oktober 1414|]
Übersetzungsgrundlage: [I] Tschechischer Text: Novotny´, Korespondence, 204 f. (Nr. 86); die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, Jan Hus, 137–139 (Nr. 1). [II] Tschechischer Text: Novotny´, Korespondence, 206– 209 (Nr. 87); die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, Jan Hus, 139–141 (Nr. 2). [III] Tschechischer Text: Novotny´, Korespondence, 212–214 (Nr. 93); die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, Jan Hus, 141–143 (Nr. 3).
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Einleitung Nr. 31
[I] Martin von Volyneˇ , Magister seit 1412, war der Lieblingsschüler von Hus und Prediger an der Bethlehemskapelle. Hussens Brief wurde ihm versiegelt übergeben mit der daraufgeschriebenen Bestimmung: „Ich bitte Dich, diesen Brief erst zu öffnen, wenn Du dessen sicher bist, dass ich tot bin.“ [II] Der Brief Hussens an seine Anhänger ist wichtig als Zeugnis für den Realismus, mit dem er nach Konstanz aufbrach. Er rechnete schon beim Aufbruch nach Konstanz mit einer Leidenszeit und mit der Möglichkeit, von dieser Reise nicht mehr lebend nach Hause zurückzukehren. Die von Mladoniowitz stammende lateinische Aufschrift, die die Bedeutung des Briefes im Konstanzer Prozess hervorhebt (vgl. Novotny´, Korespondence, 209), ist bei Dachsel, dem die deutsche Übersetzung weitgehend folgt, nicht berücksichtigt. Sie lautet: Dieser Brief, den er dem Volk zurückließ nach seiner Abreise nach Konstanz, wurde auf dem Konzil wundersam ins Lateinische übersetzt, aber in betrügerischer Weise, weil sie sagten, er selbst habe diesen Brief in folgender Form hinterlassen: „Wenn es sich zutragen sollte, dass ich abschwöre, sollt ihr wissen, dass ich dies nur mit dem Mund tue und nicht mit dem Herzen.“ Dies dürfte sich zeigen, wenn ihre Lüge durch diesen Brief, den er zurückließ und der in der Volkssprache Wort für Wort folgt, zunichte gemacht wird. Hus kommt selbst mehrfach auf die fehlerhafte Übersetzung dieses Briefes zu sprechen, z. B. in einem Brief vom 19. Januar 1415 (Dachsel, Jan Hus, 158), in dem es heißt: Wisst: Den Brief, den ich Euch hinterließ, haben meine Gegner ganz falsch ins Lateinische übersetzt und stellen so viele Artikel und Stücke gegen mich auf, dass ich genug Schreibarbeit habe mit den Antworten im Gefängnis. [III] Das dritte hier übersetze Schreiben stellt eine wichtige Quelle für Hussens Reise nach Konstanz und seine Aufnahme an den einzelnen Reisestationen dar.
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[I] An Martin von Volyneˇ (Prag, Anfang Oktober 1414) 5
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Magister Martin, liebster Bruder in Christo! Ich ermahne Dich im Herrn, dass Du Gott fürchtest, seine Gebote hältst, den Umgang mit Frauen meidest und auf der Hut bist, wenn Du Frauen die Beichte hörst, damit Dich nicht der Satan durch die Heuchelei eines Weibes täuscht; denn Augustinus sagt: Traue ihrer Frömmigkeit nicht; denn je scheinheiliger, desto unzüchtiger, und unter der frommen Tarnung verbirgt sich der Leim der Lüsternheit.1 Daher gib Acht, dass Du nicht verlierst, was nicht wiederzuerlangen ist und was Du Dir hoffentlich bewahrt hast: die Unschuld! Denke daran, dass ich Dich von Deiner Jugend an gelehrt habe, Jesus Christus zu dienen, und wie ich gern an einem einzigen Tage, wenn ich's nur vermocht hätte, Dir alles übermittelt hätte, was ich wusste. Du weißt auch, dass ich die Habsucht und das unordentliche Leben der Kleriker verdammt habe. Deshalb erleide ich aus Gottes Gnade Verfolgung, die bald ihren Höhepunkt mir gegenüber erreichen wird. Aber ich scheue mich nicht, um des Namens Jesu Christi willen verworfen zu werden. Ich bitte Dich auch herzlich: Sei nicht hinter einer Pfründe her! Wirst Du dennoch in ein Pfarramt berufen, dann kümmere Dich um Gottes Ehre, um das Heil der Seelen und um die Arbeit, nicht um Schweinezucht oder Grundbesitz! Und bist Du Pfarrer, so hüte Dich, eine junge Köchin zu nehmen! Sonst erbaust Du mehr das Haus als die Seele. Siehe zu, dass Du ein Baumeister des geistlichen Baues seist, gütig gegen die Armen und demütig; und vergeude Deine Habe nicht bei Tafeleien! Ich fürchte auch, wenn Du Dein Leben nicht besserst und nicht von den schönen, überflüssigen Kleidern lässt, wirst Du vom Herrn hart gezüchtigt werden, wie auch ich Elender gezüchtigt werde, weil ich mich durch die schlimme Gewohnheit der Menschen und den Beifall zu solchen Dingen verleiten ließ, in denen ich nicht unversehrt bin vom Geiste der Hoffart gegen Gott. Und da Du von Jugend auf meine Predigt wie meinen äußeren Lebenswandel gut kennst, habe ich nicht nötig, Dir mehr zu schreiben. Sondern ich bitte Dich um der Barmherzigkeit Jesu Christi willen, dass Du mir in keinerlei Leichtsinn folgst, den Du an mir gesehen hast. Du weißt, dass ich leider, bevor ich Priester wurde, gern und oft Schach gespielt, die Zeit vergessen und die anderen wie auch mich selbst durch 1
Das angebliche Augustinus-Zitat ließ sich nicht nachweisen.
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Briefe an die Freunde
dieses Spiel unheilvoll zum Zorn gereizt habe. Deshalb und meiner unzähligen anderen Vergehen wegen befehle ich mich Deinen Gebeten zum allergnädigsten Herrn um Vergebung. Lass es Dich nicht verdrießen, sein Erbarmen anzurufen, dass er sich herablässt, mein Leben zu lenken, und dass er mich am Tage des Gerichtes wenigstens aufneh- 5 men möge in das himmlische Vaterland, wenn die Schlechtigkeit dieser Zeit, Fleisch, Welt und Teufel überwunden sind. Lebe wohl in Christus mit allen, die sein Gesetz bewahren! Wenn Du willst, behalte den grauen Rock für Dich zum Andenken! Aber Du hast ja, soviel ich weiß, eine Abneigung gegen die graue Farbe. Gib ihn 10 also einem, für den er Dir besser geeignet erscheint! Den weißen Rock gib dem „Pfarrer“2, meinem Schüler! Auch dem Georg oder Jirˇ ik gib einen Schock Groschen oder den grauen Rock; denn er hat mir treu gedient! 15
[II] An die Freunde und Anhänger (Prag, zwischen 28. September und 11. Oktober 1414) Magister Jan Hus, in der Hoffnung Priester und Diener des Herrn Jesus Christus, allen treuen und lieben Brüdern und Schwestern im Herrn Jesus, die das Wort Gottes von mir gehört und empfangen haben, Gnade und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Heiligen Geist, dass sie makellos in seiner Wahrheit leben mögen. Treue und liebe Freunde. Ihr wisst, dass ich mit Euch lange Zeit treu gearbeitet habe, indem ich Euch Gottes Wort ohne Ketzerei und ohne Irrtümer gepredigt habe, wie Ihr wisst. Und mein Bestreben war, ist und bleibt bis zu meinem Tode Euer Heil. Ich hatte mir vorgenommen, zu Euch noch vor meiner Reise zu predigen, ehe ich zum Konzil nach Konstanz aufbreche, und Euch die falschen Zeugnisse und die Zeugen namentlich zu bezeichnen, die gegen mich gezeugt haben und die ich allesamt ihren Aussagen aufgeschrieben habe. Dies alles gebe ich Euch deshalb bekannt, damit Ihr, wenn sie mich schmähen oder zum Tode verurteilen, Bescheid wisst und nicht fürchtet, ich sei verurteilt worden wegen einer Ketzerei, die ich gehegt hätte; auch deshalb, damit Ihr ohne Furcht und Wanken in der Wahrheit verharrt, die Euch Gott der Herr durch treue Prediger und durch mich unzulänglichen Menschen erkennen ließ; und drit„Der Pfarrer“ ist ein Spitzname für einen Mann aus Hussens Schüler- und Freundeskreis.
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tens, damit Ihr Euch vor arglistigen und heuchlerischen Predigern in Acht nehmen könnt. Und jetzt habe ich mich schon ohne Geleitbrief zur Reise gerüstet mitten unter sehr mächtige und zahlreiche Feinde, unter denen die schlimmsten meine einheimischen Gegner sind, wie Ihr aus den Zeugenaussagen und nach Schluss des Konzils erkennen werdet. Es werden noch viel mehr sein als die, die gegen unseren barmherzigen Erlöser gestanden haben, auch Bischöfe und Magister, weltliche Fürsten und Schriftgelehrte. Aber ich hoffe auf meinen gnädigen, weisen und mächtigen Heiland, er werde mir nach seiner Verheißung und auf Euer treues Gebet hin Weisheit und Tapferkeit des Heiligen Geistes geben, dass ich ausharren kann und sie mich nicht auf die falsche Seite ziehen können, auch wenn er mich Versuchung, Schmähung, Gefängnis oder Tod erleiden läßt, wie er ja selbst gelitten hat und es seinen liebsten Dienern auferlegt. Er gab uns das Beispiel, damit wir für ihn wie für unser Heil leiden könnten – er, Gott, und wir, seine Geschöpfe; er, der Herr, und wir, seine Diener; er, der König der ganzen Welt, und wir wankelmütigen Menschen; er, der Sündlose, und wir Sünder; er, der nichts bedarf, und wir Bedürftigen. Er hat für uns Sünder gelitten – warum sollten wir nicht auch leiden? Unser Leiden in Gnaden aber ist unsere Reinigung von Sünden und Befreiung von ewigen Qualen, und unser Tod ist unser Sieg. Sein treuer Diener kann gewiss nicht verlorengehen, wenn er mit seiner Hilfe ausharrt. Daher, liebe Brüder und liebe Schwestern, betet eifrig, er möge mir Standhaftigkeit verleihen und mich vor Befleckung behüten! Und wenn mein Tod zu seiner Ehre und zu unserem Nutzen dienen soll, so lasse er mich ihn ohne böse Furcht erdulden. Will er mich aber zu unserem Guten oder Besseren zu Euch zurückkehren lassen, dann führe er mich unbefleckt dorthin zurück, damit wir noch gemeinsam in seinem Gesetz Belehrung finden, die Netze des Antichrist zerstören und den künftigen Brüdern nach uns ein gutes Beispiel geben. Vielleicht werdet Ihr mich in Prag vor meinem Tode nicht mehr sehen. Wenn mich aber der mächtige Gott heimkehren läßt, werden wir einander mit Freuden wiedersehen – auf jeden Fall jedoch, wenn wir in der himmlischen Freude zusammentreffen. Der barmherzige Gott, der den Seinen reinen Frieden schenkt hier wie nach dem Tode und der den großen Hirten durch Vergießen seines Blutes von den Toten heraufgeführt hat, der unseres Heiles ewiges Zeugnis ist: der rüste Euch aus zu allem Guten, damit Ihr seinen Willen erfüllt in Eintracht ohne Streit und mit Frieden in Tugenden den ewigen Frieden erlangt durch unseren Herrn Jesus Christus, welcher
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ewiger Gott ist und wahrer Mensch, von der Jungfrau Maria geboren. Ihm ist die Ehre und wird sie in Ewigkeit sein samt allen Erwählten. Mit ihnen werden wir in der Freude leben, wenn wir mit ihnen in der Wahrheit beharren.3 Amen. Gegeben im Jahre des Herrn 1414 nach dem Tage des heiligen Wenzel4 bei der Abreise nach Konstanz. Diesen Brief hinterließ Magister Johannes Hus bei seiner Abreise nach Konstanz. Er brach auf feria quinta ante Galli im Jahr 1414.5 [III] An die Freunde in Böhmen (Nürnberg, 20. Oktober 1414) Heil von Christus Jesus! Wisst, dass ich nie mit übers Gesicht gezogener Kapuze, sondern immer frei, mit unverhülltem Angesicht gereist bin. Als ich Böhmen verließ, wartete gleich zu Anfang, noch ehe ich nach Bärnau kam, schon der Pfarrer mit den Vikaren auf mich. Und als ich in die Stube trat, schenkte er mir sofort einen großen Humpen Wein ein, nahm mit seinen Gefährten meine ganze Lehre freundlich auf und erklärte, er sei immer mein Freund gewesen. Dann in Neustadt sahen mich alle Deutschen sehr gern. Wir kamen durch Weiden, wo wir bei einer großen Volksmenge Aufsehen erregten. Als wir nach Sulzbach gelangten, gingen wir dort in eine Herberge, wo gerade „lantricht“, Gericht gehalten wurde. Dort sagte ich im Saal zu den Schöffen und Ältesten: „Seht, ich bin der Magister Jan Hus, über den ihr vermutlich viel Schlimmes gehört habt. Stellt also eure Fragen an mich!“ Und als wir vieles besprochen hatten, nahmen sie alles sehr dankbar auf. Dann kamen wir durch Hirschfeld6, wo wir wiederum sehr freundlich aufgenommen wurden. Nachher durchzogen wir die Stadt Hersbruck und übernachteten dann in der Stadt Lauf. Hier kam der Pfarrer, ein sehr bewanderter Jurist, mit den Vikaren. Ich unterhielt mich mit ihm, und auch er nahm alles dankbar auf. Und siehe, wir gelangten nach Nürnberg, wo Kaufleute, die uns vorangeeilt waren, unsere Ankunft schon gemeldet hatten. Daher Der Schlussabschnitt in Anlehnung an Hebr 13,20. 4 Der Wenzelstag war der 28. September. 5 Der Donnerstag vor dem Gallustag 1414 fiel auf den 11. Oktober. 6 Hier ist Hus eine Verwechslung unterlaufen, denn ein Hirschfeld gibt es zwischen Sulzbach und Hersbruck nicht. Sein Weg führte ihn mit großer Wahrscheinlichkeit von Weiden über Hirschau nach Sulzbach und weiter nach Hersbruck und Nürnberg. „Hirschfeld“ ist demnach mit Hirschau verwechselt, das außerdem nicht nach, sondern vor Sulzbach passiert wurde. 3
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stand hier Volk auf den Straßen, hielt Ausschau und erkundigte sich, welcher der Magister Hus sei. Vor dem Mittagessen schickte mir der Magister Johannes Helwel, Pfarrer an St. Lorenz, einen Brief, dass er schon seit langem gern mit mir sprechen wolle. Ich antwortete ihm auf demselben Blatt, er möge kommen, und er kam. Und als ich schon die Bekanntmachung geschrieben hatte und sie anschlagen wollte, schickte zu mir Herr Václav [von Dubá], dass Bürger und Magister zusammengekommen seien, um mich zu sehen und mit mir zu sprechen. Da stand ich gleich vom Tisch auf und ging hinaus. Und die Magister ließen sagen, sie wollten im Geheimen mit mir sprechen. Da antwortete ich ihnen: „Ich predige öffentlich und will, dass mich alle hören können, die das wollen.“ Und sofort von dieser Stunde an unterredeten wir uns vor den Schöffen und Bürgern bis zum Anbruch der Nacht. Da war ein Doktor, ein Kartäuser, der brachte wunderliche Einwände vor. Und ich merkte, dem Magister Albert, Pfarrer von St. Sebald, gefiel es nicht recht, dass die Bürger meiner Meinung zustimmten. Schließlich waren alle Magister und Bürger zufriedengestellt. Wisst auch, dass ich bisher noch keinen Feind entdeckt habe. In jeder Gaststube hinterlasse ich zum Abschied die Zehn Gebote, und irgendwo klebe ich sie mit Mehl an. Alle Wirtinnen samt ihren Männern nehmen mich sehr gastfreundlich auf. Nirgends macht man den Bann bekannt, und alle loben meine deutsche Kundmachung.7 Ich gestehe also, dass gegen mich keine größere Feindschaft besteht als bei den Bewohnern des Königreiches Böhmen. Was soll ich noch schreiben? Herr Václav und desgleichen Herr Jan [von Chlum] behandeln mich sehr gütig und freundlich. Sie sind gleichsam die Herolde der Wahrheit oder – richtiger gesagt – die Beschützer der Wahrheit. Mit ihnen geht unter Gottes Beistand alles glücklich vonstatten. Das heißt: die deutsche Fassung der Erklärung, die Hus auf seiner Reise anschlagen ließ. Sie lautete in Anlehnung an die Übersetzung von Lüders, Johann Hus, 122 f., wie folgt: Der Magister Johannes Hus ist im Begriff, nach Konstanz zu reisen, um dort den Glauben kund zu tun, den er bisher bekannt hat, den er noch bekennt und mit der Hilfe des Herrn Christus auch fernerhin zu bekennen gedenkt. Wie er nun im ganzen böhmischen Reich durch seine öffentlichen Anschläge und Briefe bekannt gemacht hat, er sei bereit, vor der Synode im erzbischöflichen Palast zu Prag Rechenschaft abzulegen von seinem Glauben und einem jeden, der ihm etwas vorwerfen würde, Rede zu stehen, so tut er auch in dieser kaiserlichen Stadt zu wissen, dass, wenn jemand ihm Irrtum oder Ketzerei aufbürden will, dieser sich auf dem Konzil einfinden möge. Denn der Magister Johannes Hus ist bereit, jedem Gegner auf dem Konzil Rechenschaft abzulegen von seinem Glauben.
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Der König ist am Rhein. Herr Václav von [Dubá auf] Léstno zieht ihm nach, und wir werden in der Nacht nach Konstanz abreisen, wohin auch Papst Johannes auf dem Weg ist. Wir halten es nämlich für unnütz, zuerst an die sechzig Meilen hinter dem König herzureisen und dann nach Konstanz umzukehren. Geschrieben zu Nürnberg am Sonnabend vor dem Tag der Elftausend Jungfrauen.8
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20. Oktober 1414. Novotny´ und Dachsel datieren falsch auf den 24. Oktober.
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32 GELEITBRIEF KÖNIG SIGISMUNDS FÜR JOHANNES HUS AUF SEINER REISE ZUM KONSTANZER KONZIL [18. Oktober 1414]
Übersetzungsgrundlage: Novotny´, Korespondence, 209 f. (Nr. 88); die deutsche Übersetzung bei Vischer, Jan Hus, 358, wurde vergleichend herangezogen.
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Einleitung Nr. 32
Im Vorfeld der Konzilseröffnung erhielt Hus mehrfach die Versicherung König Sigismunds, dass er ihn für die Reise zum Konzil in seinen Schutz nehmen werde. Ohne den Geleitsbrief in Händen zu haben, machte sich Hus am 11. Oktober 1414 auf den Weg und traf am 3. November in Konstanz ein. Erst am übernächsten Tag (5. November) überbrachte ihm der an den Hof Sigismunds vorausgereiste Wenzel von Dubá das vorliegende Schriftstück. Das Geleit des Königs galt ausdrücklich nicht nur für die Hinreise, sondern auch für den Weg zurück nach Böhmen. Die Gefangennahme des Johannes Hus in Konstanz verstieß gegen das freie königliche Geleit. Dies sahen nicht nur Hus und seine Anhänger in Konstanz und Böhmen so, sondern auch der König selbst. Aber vor die Wahl gestellt, Hus zu retten oder das Konzil scheitern zu lassen, gab Sigismund den in Konstanz versammelten Gegnern des böhmischen Theologen nach, die der Auffassung waren, dass das einem Ketzer gegebene Wort nicht gehalten werden müsse. Auch als er die Gelegenheit dazu hatte, Hus aus seinem Gefängnis zu befreien, machte der König keinen Gebrauch von ihr, sondern überstellte ihn in den Gewahrsam des Konstanzer Bischofs. Hus kommt in seinen Gefangenschaftsbriefen mehrfach auf den Wortbruch des Königs zu sprechen (vgl. diese Ausgabe Nr. 33).
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Sigismund,1 von Gottes Gnaden römischer König, allzeit Erhabener römischer König, König von Ungarn, Dalmatien und Kroatien etc., entbietet allen und jedem Fürsten, den geistlichen wie den weltlichen, Herzögen, Markgrafen, Grafen, Baronen, Adligen, Edelleuten, Beamten, Rittern, Dienst- und Hauptleuten, Machthabern, Regenten, Vorstehern, Zoll- und Steuereinnehmern und Amtsträgern in jeder Art von Gemeinwesen, Städten, Dörfern, Flecken, Orten und Gemeinschaften sowie deren Regenten, auch allen anderen unserer und des heiligen Reiches Untertanen und Getreuen, zu denen dieser Brief gelangt, königliche Gnade und alles Heil. Verehrte, Erlauchte, Edle und geliebte Getreue. Wir befehlen den ehrwürdigen Magister Johannes Hus, Baccalaureus formatus 2 der heiligen Theologie und Magister der freien Künste, der sich durch diesen Brief ausweist, der auf dem Weg aus dem Königreich Böhmen auf das allgemeine Konzil, das in der Stadt Konstanz abgehalten wird, in eurer Nähe vorüberzieht und den wir in unseren und des heiligen Reiches Schutz und Schirm genommen haben, auch eurer und eurer Untergebenen ganzer Fürsorge an. Wir wünschen, dass ihr, wenn er zu euch kommen wird, ihn unentgeltlich aufnehmt, ihn freundlich behandelt und in allen Dingen, die die Geschwindigkeit und Sicherheit seiner Reise betreffen, ob zu Lande oder zu Wasser, ihm einen förderlichen Willen erzeigen möget und sollt. Auch sollt ihr ihn selbst mitsamt seinen Dienern, Pferden, Reisegepäck, Ausrüstung und anderen Besitztümern durch sämtliche Wege, Häfen, Brücken, Länder, Herrschaften, Distrikte, Rechtsbezirke, Gemeinwesen, Städte, Burgen, Dörfer, oder irgendwelche anderen Orte, die euch zugehörig sind, ohne irgendeine Zahlung, Leistung, Brücken- oder Wegezoll, Tribut oder sonst irgendeine Abgabenlast, ohne alle Behinderung durchziehen, bleiben, sich aufhalten und frei zurückkehren lassen,3 und ihr sollt ihn und die Seinen bei Bedarf mit sicherem und freiem Geleit versehen zur Ehre und Achtung unserer königlichen Majestät.
Sigismund von Luxemburg (1368–1437), König von Ungarn seit 1387, römischer König seit 1411, König von Böhmen seit 1419, Kaiser seit 1433. 2 Den Titel eines Baccalaureus formatus erwarb man an der Theologischen Fakultät, wenn man die vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen über das dritte und vierte Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus abgehalten hatte. 3 Zur Gültigkeit des Geleitbriefs auch für den Rückweg vgl. die Einleitung zum vorliegenden Text. 1
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Geleitbrief König Sigismunds
Gegeben zu Speyer im Jahr des Herrn 1414, am 18. Tag des Oktober, im 33. Jahr unserer Herrschaft in Ungarn etc.,4 im 5. Jahr unserer Herrschaft im römischen Reich. Auf Befehl des Herrn Königs: Michael von Prziest, Kanoniker zu Breslau.5
4 Tatsächlich war das Jahr 1414 das 28. Jahr der Regierung Sigismunds in Ungarn. Der Fehler erklärt sich leicht durch Verschreibung von „XXVIII“ in „XXXIII“. 5 In der von Vischer benutzten Textversion ist Michael von Prziest als Kanoniker zu Prag und Breslau und Notar des römischen und ungarischen Königs bezeichnet.
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33 AUSGEWÄHLTE BRIEFE AUS KONSTANZ [1414/1415]
Übersetzungsgrundlage: [I] Novotny´, Korespondence, 217–339 (Nr. 96– 165), deutsche Übersetzungen: Dachsel, Jan Hus, 144–224 (Nr. 4–52); Schamschula reproduziert die Übersetzungen Dachsels wörtlich, ohne die Vorlage anzugeben; [II|] Novotny´, 223–225 (Nr. 100, tschechisch), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 147–149 (Nr. 6); [III] Novotny´, 236– 238 (Nr. 104), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 151– 152 (Nr. 8); [IV] Novotny´, 239–241 (Nr. 106), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 153–156 (Nr. 9); [V] Novotny´, 260–262 (Nr. 124), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 171 f. (Nr. 20), [VI]| Novotny´, 263–266 (Nr. 126), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 173–175 (Nr. 22); [VII]| Novotny´, 269–273 (Nr. 129, tschechisch), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 177–180 (Nr. 25), die Übersetzung bei Vischer, 376–378 wurde vergleichend herangezogen; [VIII]| Novotny´, 275 f. (Nr. 131), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 181 f. (Nr. 27); [IX]| Novotny´, 279 f. (Nr. 133), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 184 f. (Nr. 29); [X]| Novotny´, 281–283 (Nr. 136), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 185 f. (Nr. 30); [XI]| Novotny´, 286–289 (Nr. 139), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 187–190 (Nr. 32); [XII]| Novotny´, 292–294 (Nr. 140), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 190–192 (Nr. 33); [XIII]| Novotny´, 296–299 (Nr. 143); die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 194–196 (Nr. 36); [XIV]| Novotny´, 316–321 (Nr. 153, tschechisch), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 206–209 (Nr. 41); [XV]| Novotny´, 334 f. (Nr. 163), die deutsche Übersetzung folgt weitgehend Dachsel, 219 (Nr. 50); [XVI]| Novotny´, 337–339 (Nr. 165), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 220–222 (Nr. 51); [XVII]| Novotny´, 335–337 (Nr. 164, tschechisch), die deutsche Übersetzung folgt Dachsel, 223 f. (Nr. 52).
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Einleitung Nr. 33
Die Briefe aus Konstanz, insbesondere die aus dem Gefängnis geschriebenen, zählen zu Hussens bekanntesten Schriften. Die schon im 16. Jahrhundert einsetzende Tradition der Verbreitung der Konstanzer „Gefangenschaftsbriefe“ im Druck blühte insbesondere im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Briefe bieten nicht nur wertvolle Details zum Verlauf des Konstanzer Hus-Prozesses, sondern erlauben auch einen Blick in das Innere eines Menschen, der sich seines bevorstehenden Todes bewusst war. Sie zeigen Hus als einen Theologen, der seine Anhänger und Freunde in paulinischer Manier ermahnt und tröstet, dabei sein Vermächtnis an sie weiterreichend. Die Konstanzer Briefe, die knapp die Hälfte der erhaltenen Hus-Briefe ausmachen, galten in der evangelischen Tradition als Zeugnisse eines christlichen Martyriums. Für die Übersetzung ausgewählt wurden die folgenden Briefe: 33.I 33.II 33.III 33.IV 33.V 33.VI 33.VII 33.VIII 33.IX 33.X 33.XI 33.XII 33.XIII 33.XIV 33.XV 33.XVI 33.XVII
An die Freunde in Böhmen (4. November 1414) An die Brüder und Schwestern in Konstanz (16. November 1414) An die Freunde in Konstanz (3. Januar 1415) An Jan von Chlum (4. Januar 1415) An die Freunde in Konstanz (5. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (9. Juni 1415) An die Freunde in Böhmen (9./10. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (etwa 13. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (etwa 20. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (etwa 20. Juni 1415) An Václav von Dubá und Jan von Chlum (etwa 20. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (21. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (22. Juni 1415) An die treuen Böhmen (26. Juni 1415) An die Freunde in Konstanz (5. Juli 1415) An die treuen Christen (5. Juli 1415) An die Freunde in Böhmen (5. Juli 1415)
Der erste nach seiner Verlegung in den Kerker des Franziskanerklosters geschriebene Brief (Nr. 33.V) wurde noch am Tag der ersten Anhörung vor dem Konzil abgefasst. Die Stimmung war Hus gegenüber scharf ablehnend, nicht zuletzt, nachdem der Hus-Brief (vgl. die Einleitung zu Nr. 31.II) mit dem verfälschten Satz, er werde nur mit den Lippen widerrufen, verlesen worden war. Hussens Anhänger versuchten, eine sofortige Verurteilung der aus den Hus-Schriften exzerpierten Artikel zu verhindern, indem sie den König anriefen und zum Nachweis der Verfälschung von Hus-Artikeln mehrere Schriften Hussens vorlegten, darunter den Traktat „Über die Kirche“ (diese Ausgabe Nr. 27) und „Gegen einen anonymen Gegner“ (diese Ausgabe Nr. 17).
Ausgewählte Briefe aus Konstanz
[I] An die Freunde in Böhmen (Konstanz, 4. November 1414) 5
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Heil von Christus Jesus! Wir sind am Sonnabend nach Allerheiligen1 in Konstanz angelangt ohne jeden Schaden, nachdem wir alle Städte durchzogen und die lateinischen wie deutschen Bekanntmachungen angeklebt haben,2 und wir wohnen in Konstanz in einer Straße nahe dem päpstlichen Quartier. Und wir sind ohne den Geleitbrief angekommen. Am nächsten Tage klebte Michael de Causis an einer Kirche die Anklagen gegen mich an und setzte mit großen Buchstaben eine Einleitung darüber, dies seien Anklagen gegen den gebannten, verstockten und der Ketzerei verdächtigen Jan Hus, und vieles andere. Dies beachte ich jedoch mit Gottes Hilfe nicht; denn ich weiß: Gott hat ihn gegen mich gesandt, damit er mir wegen meiner Sünden fluchen soll zur Probe, ob ich etwas erleiden kann und will um Seines Namens willen. Die Herren Lacembok3 und Jan Kepka4 waren beim Papst und haben mit ihm über mich gesprochen. Er antwortete, er wolle nichts mit Gewalt tun. Nach einem unbestimmten Gerücht fährt auch Benedikt, der spanische Papst,5 zum Konzil. Heute erhielten wir die Nachricht, dass der Herzog von Burgund und der Herzog von Brabant aus dem Felde abgezogen sind,6 dass König Sigismund in drei Tagen zur Krönung nach Aachen7 komme und Papst samt Konzil auf ihn warten müssen. Da Aachen von Konstanz siebzig Meilen entfernt ist, denke ich, der König wird kaum vor Weihnachten eintreffen. Demnach rechne ich, dass das Ende des Konzils, falls es nicht vorher aufgelöst wird, etwa um Ostern sein wird.8 – Der Unterhalt ist hier sehr teuer. Ein Nachtlager für eine Woche kostet einen halben Gulden. Pferde sind billig: für eins, das in Böhmen sechs Schock9 kostet, gibt man hier sieben Gulden. Wir haben mit Herrn Jan unsere Pferde in eine Stadt vier Meilen von hier gesandt, nämlich nach Ravensburg. Meines Erachtens wird es mir bald am Nötigen fehlen. Bemüht Euch doch deshalb, bei Das heißt am 3. November 1414. 2 Zu den Anschlägen, die Hus auf seiner Reise machte, vgl. die Anm. zu Nr. 32.III. 3 Jindrˇ ich Lacembok von Chlum, der dritte Geleitsmann. 4 Jan von Chlum. 5 Papst Benedikt XIII. 6 Möglicherweise Anspielung auf den Anfang September 1414 geschlossenen Frieden von Arras im Bürgerkrieg zwischen Armagnacs und Bourguignons; Herzog von Burgund war Johann Ohnefurcht (1371–1419), Herzog von Brabant war Anton (1384–1415), der mit einer Nichte König Wenzels von Böhmen verheiratet war. 7 Sigismund von Luxemburg wurde am 8. November 1414 in Aachen zum König gekrönt. 8 Ostern fiel im Jahr 1415 auf den 31. März. 9 Sechs Schock Groschen entsprechen zwölf Gulden. 1
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Ausgewählte Briefe aus Konstanz
den Freunden etwas zu bekommen, die mit Namen zu nennen zu lang, ja sie auch nur ins Gedächtnis zu rufen zu schwierig wäre. Herr Lacembok fährt heute zum König und hat mir befohlen, in meinen Angelegenheiten vor des Königs Ankunft nichts zu unternehmen. Ich hoffe, in öffentlichem Gehör Rede stehen zu können. – Es gibt 5 hier viele Pariser und Italiener, aber erst wenige Erzbischöfe und auch wenige Bischöfe. Die Kardinäle sind zahlreich. Sie reiten auf Mauleseln, aber gierig sind sie.10 Als ich zu Pferd in Konstanz einritt, hörte ich sie gleich reiten, eine sehr große Reiterschar. Es lief da aber eine große Menschenmenge zusammen. Viele von unseren Tschechen haben auf 10 der Reise alles ausgegeben, was sie an Geld hatten, und leiden schon Not. Sie tun mir sehr leid, aber ich kann nicht allen geben. Das Pferd des Herrn Pribyslav hat Herr Lacembok übernommen. Rabstyns Pferd jedoch übertrifft alle an Ausdauer und Mut. Ich habe nur dieses eine 15 bei mir, wenn ich einmal aus der Stadt zum König reiten müsste. Grüßt alle Freunde ohne Ausnahme etc. Das ist der vierte Brief aus fremdem Lande, gegeben am Sonntag in der Nacht nach Allerheiligen in Konstanz. Es gibt in Konstanz keinen böhmischen Ritter außer Herrn Jan Kepka, der mich wirklich ritterlich geleitet hat und beschirmt. Überall predigt er mehr als ich und erklärt meine Unschuld. 20 Gegeben in Konstanz. Betet zu Gott um Beständigkeit in der Wahrheit! [II] An die Brüder und Schwestern in Konstanz (Konstanz, 16. November 1414)
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Allen getreuen und in Gott dem Herrn lieben Brüdern und Schwestern, die die Wahrheit des Herrn Jesus Christus liebhaben. Friede sei mit Euch von Gott dem Herrn und von Jesus Christus, auf dass Ihr die Sünden meidet, in seiner Gnade lebt, in den Tugenden wachst und nach 30 dem Tod eingeht in die ewige Freude. Liebste, ich bitte Euch, lebt nach dem Gesetz Gottes, sorgt für Euer Heil und hört achtsam Gottes Wort, damit Ihr nicht von den Boten des Antichrist verführt werdet, die die Sünden des Volkes verkleinern, die Sünden nicht strafen, ihren Oberen schmeicheln, die Sünden des Vol- 35 kes nicht aufdecken, sich selbst verherrlichen, sich ihrer eigenen Taten rühmen, ihre Macht mehren, aber dem Herrn Jesus Christus nicht in Demut, in Armut, in Geduld und Arbeit nachfolgen wollen! Von ihnen hat der gnädige Heiland geweissagt und spricht: Es werden falsche Pro10
Diese letzten Worte in tschechischer Sprache.
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pheten aufstehen und viele verführen .11 Und er warnt seine Getreuen: Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.12 Ja, gewiss, die treuen Christen haben viel Grund, sich fleißig in Acht zu nehmen; denn der Heiland sagt, dass auch die Erwählten verführt würden, wenn das möglich wäre.13 Daher, Liebste, seid wachsam, damit die List des Teufels Euch nicht betrügt! Ihr müsst umso achtsamer sein, je mehr Euch der Antichrist widersteht. Der Tag des Gerichts naht, der Tod lastet auf vielen, aber für die Söhne Gottes naht das himmlische Königreich. Um dessentwillen zähmt Euren Leib, fürchtet Euch nicht vor dem Tode, liebt einander, und mit dem Gedächtnis, dem Verstand und dem Willen bleibt immer in Gott! Vor Augen seien Euch immer der schreckliche Tag des Gerichts, damit Ihr nicht sündigt, und die ewige Freude, damit Ihr Euch nach ihr sehnt, der gemarterte Heiland, damit Ihr gern mit ihm und für ihn leidet. Denn wenn Ihr Euch seine Marter ins Gedächtnis ruft, dann erduldet Ihr willig Widerwärtigkeit, Schimpf, Schmach, Züchtigung und Gefängnis und, wenn es so sein Wille ist, auch den leiblichen Tod für seine heilige Wahrheit. Ihr wisst, Liebste, dass der Antichrist uns mit Schmach angegriffen hat, und doch vermag er vielen nicht ein Haar zu krümmen, wie etwa auch mir, obwohl er heftig gegen mich ergrimmt ist. Deshalb bitte ich Euch: Betet eifrig zu Gott, er möge mir Weisheit, Geduld, Demut und Tapferkeit verleihen, damit ich in seiner Wahrheit beharre! Schon hat er mich ohne jedes Hindernis nach Konstanz geführt. Auf der ganzen Reise fuhr ich offen als Priester, stellte mich laut dem Volk in allen Städten und fand dabei keinen offenen Feind. Nicht einmal in Konstanz hätte ich viele, wenn nicht die böhmische Priesterschaft, die um Pfründen bettelt und nach Besitz giert, die Leute unterwegs verleitet hätte. Ich hoffe auf den barmherzigen Heiland, auf die liebe Mutter Gottes, auf alle Heiligen, auf das ganze himmlische Reich und auf Euer Gebet, dass ich in der Wahrheit Gottes bis zum Tode bleiben werde. Wisst, dass man nirgends den Gottesdienst meinetwegen verboten hat, auch nicht in Konstanz, wo der Papst selbst für mich Messe hielt. Seid Gott dem Herrn empfohlen, dem barmherzigen Jesus, wahrem Gott, Sohn der reinen Jungfrau Maria, der uns durch seinen grausamen und bitteren Tod ohne unser Verdienst losgekauft hat von den ewigen Qualen, von der Gewalt des Teufels und von der Sünde. 11
Mt 24,24.
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Mt 7,15 f.
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Vgl. Mt 24,24.
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Der Brief ist geschrieben am Tage St. Othmars, des treuen Dieners unseres Herrn Jesus Christus, der gelobt sei in Ewigkeit. Amen. Magister Jan Hus, Priester und Diener Gottes in Hoffnung. [III] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, Kerker des Dominikanerklosters, 3. Januar 1415) Fast die ganze gestrige Nacht habe ich Antworten auf die Artikel geschrieben, die Pálecˇ verfasst hat.14 Er arbeitet schnurstracks auf meine Verurteilung hin. Gott verzeihe ihm und stärke mich! Auch der Artikel über die Wegnahme (der weltlichen Güter des Klerus) ist, wie sie sagen, angeblich ketzerisch. Teilt dem Herrn König mit: Wenn dieser Artikel als Ketzerei verdammt wird, dann wird auch er selbst als Ketzer verurteilt werden müssen, weil er Bischöfen weltliche Güter abgenommen hat, ebenso sein Vater, der Kaiser und König von Böhmen.15 Gebt niemandem Briefe zu besorgen, es sei denn, Ihr habt zu ihm Vertrauen wie zu Euch selber, und er möge sie verschwiegen überbringen. Sagt weiter dem Doktor Jesenice, auf keinen Fall solle er oder der Magister Hieronymus16 oder irgendeiner der Unseren hierherkommen. Ich wundere mich, dass der König mich vergessen hat und mir nicht ein einziges Wörtchen sagen lässt. Vielleicht werde ich verurteilt werden, noch ehe ich ein Wort mit ihm sprechen kann. Ob ihm das zur Ehre gereicht, mag er selbst beurteilen. Edler und gnädiger Herr Jan [von Chlum], unser gnädiger Wohltäter und wackerer Beschützer, macht Euch keine Sorgen um mich und um den Schaden, den Ihr erleidet. Der allmächtige Gott wird Euch mehr geben. Und bitte, grüßt die böhmischen Herren. Ich weiß von keinem, aber ich vermute, dass Herr Václav von Dubá hier ist und Herr Jindrˇ ich Lacembok, der sagte: „Guter Mann, grüble nicht!“17 Jan Bradácˇ ek18, Liebster, bete für mich mit den anderen zu Gott und sieh zu, dass der König die von mir eigenhändig geschriebenen Antworten auf die Artikel anfordert, die Wyclif wie auch mir zur Last gelegt werden! Lasst diese Antworten abschreiben, aber zeigt sie keinem Fremden! Lasst sie so abschreiben, dass die Artikel gut unterteilt sind. Die Pálecˇ -Artikel und Hussens Antworten vgl. diese Ausgabe Nr. 34. 15 Das heißt: Sigismunds Vater Kaiser Karl IV. 16 Hieronymus von Prag (1379–1416), der entgegen dem obigen Ratschlag doch nach Konstanz reiste. 17 Diese letzten Worte tschechisch. 18 Jan Bradácˇ ek von Krumlov, Schüler und Freund des Johannes Hus. 14
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Ob meine Bittschrift vorgelegt wird, die ich dem Patriarchen19 gegeben habe, damit er sie dem Konzil einreicht, weiß ich nicht. Ich vermute, er wird sie nicht vorlegen. Wenn es Gott gefällt, wird der König mit ein oder zwei Artikeln den Befund der Prager Doktoren zunichte machen können: mit dem Artikel über die Wegnahme, dem über die Konstantinische Schenkung und dem über die Almosen.20 Diese Artikel gedenke ich nicht zu verleugnen, wenn er irgendwelche Beweggründe dafür hätte. Aber es müsste sie ihm schon jemand übergeben, der nicht zu unserer Partei gehört. Wäre ich frei, dann wollte ich selbst zu ihm sagen: „Seht zu, König, dass es nicht insgeheim zu einer Übertragung der Sache [in andere Hände] kommt, die Euch am Herzen liegt, so dass Ihr sie nicht mehr im Auge behalten könnt!“ Den Magister Jan Kardinal21 bitte ich, vorsichtig zu sein; denn alle, die er für Freunde gehalten hat, waren Versucher. Ich habe von denen, die mich vernommen haben, gehört, wie sie sagten: „Ein gewisser Jan Kardinal beschimpft Papst und Kardinäle, sie seien alle Ämterverkäufer.“ Er möge sich, so sehr er nur kann, zum Hofe des Königs halten, damit man ihn nicht verhaftet wie mich. Niemand schadet mir mehr als Pálecˇ . Der allmächtige Gott vergebe ihm! Er, Pálecˇ , ist der Anführer aller und ein Spitzel. Er drang darauf, dass alle Anhänger vorgeladen werden und abschwören sollten, ja, er hat im Gefängnis gesagt, alle, die zu meinen Predigten gingen, glaubten, nach der Konsekration bliebe gewöhnliches Brot.22 Ich wundere mich, dass mich kein Tscheche im Gefängnis besucht; aber vielleicht tun sie das zu meinem Besten. Dieses Papier zerreisst gleich! Schickt mir durch diesen Boten ein anderes Hemd! Herr Jan, dringt doch zusammen mit den Böhmen darauf, dass nichts wird aus der Belangung derer, die vorgeladen worden sind; dass der König Erbarmen habe mit seinem Erbe23 und nicht gestatte, dass es grundlos um eines Ungehorsamen willen geplagt wird. Weiter, dass ich wenigstens einmal den König sprechen darf, ehe ich abgeurteilt werde; denn nach seinem Willen bin ich hierher gekommen und mit Johannes von Konstantinopel. 20 Vgl. die Artikel unten Nr. 34. Konstantinische Schenkung: Die vermutlich im 9. Jahrhundert hergestellte Urkunde, nach der Kaiser Konstantin dem Papst Sylvester die Herrschaft über Rom, Italien und den westlichen Teil des Römischen Reiches verliehen habe. Die Fälschung wurde erst im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts als solche erkannt. 21 Jan von Reinstein. 22 Das heißt: Sie glaubten entsprechend der Remanenzlehre Wyclifs, dass im Abendmahl keine Wandlung der Substanz erfolge, sondern wirkliches Brot vorhanden bleibe. 23 Das heißt mit dem Königreich Böhmen, das nach dem Tod König Wenzels an Sigismund fallen würde. 19
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seinem Versprechen, dass ich ungehindert nach Böhmen zurückkehren werde.24 [IV] An Jan von Chlum (Konstanz, Kerker des Dominikanerklosters, 4. Januar 1415) Was das Sich-Sammeln betrifft, so weiß ich nicht, wie ich mich sammeln und wie ich mich anders verhalten soll; denn ich weiß nicht, worum es bei mir im Gehör gehen wird. Vor den Notaren habe ich in einer Erklärung verlangt und dann eine Bittschrift an das ganze Konzil geschrieben – ich habe sie dem Patriarchen übergeben –, in der ich fordere, auf jeden Artikel einzeln antworten zu dürfen, wie ich es in den Einzelverhören und mit eigener Hand auch schriftlich getan habe. Oder etwa, wenn mir Gehör gewährt wird, dass ich nach Universitätsart antworten darf. Oder vielleicht wird mir Gott Gehör schenken, dass ich eine Predigt halten kann. Von Gottes Gnade erhoffe ich, dass ich niemals von der erkannten Wahrheit weichen werde. Betet zu Gott, er möge mich bewahren! Über das Sakrament des Kelches habt Ihr eine Schrift, die ich in Konstanz schrieb. Darin sind die Gründe enthalten; und ich weiß nichts anderes zu sagen, als dass das Evangelium und der Paulusbrief genau lauten und dass es in der Urkirche so gehalten worden ist. Wenn es möglich ist, versucht, dass durch eine Bulle wenigstens denen (die Kelchspendung) gestattet wird, die danach aus Frömmigkeit verlangen, mit Rücksicht auf die Umstände! Über das Einzelverhör25 sollen sich die Freunde nicht beunruhigen. Ich sah ja keine andere Möglichkeit; denn das Konzil hatte so entschieden, noch ehe ich verhaftet wurde. Die Kommissare haben eine Bulle herausgegeben, die mir vorgelesen wurde und in der ich als Ketzer und Volksverführer bezeichnet werde. Ich hoffe aber, es wird über die Dächer hin gepredigt werden, was ich unter dem Dache gesagt habe. Vorgestern – an diesem Tag habe ich meinen Bruder Jan Bradácˇ ek gesehen – wurde ich wieder nach jedem der 45 Artikel gefragt. Und ich antwortete mit derselben Erklärung wie früher. Sie fragten bei jedem einzelnen Artikel, ob ich ihn verteidigen wolle. Ich entgegnete, dass ich die Entscheidung des Konzils anerkennen werde, wie ich das schon früher erklärt habe. Und bei jedem Artikel sagte ich, wie ich es schon 24 Hus beruft sich hier auf sein königliches Geleit; vgl. Nr. 32. 25 Vernehmung im Gefängnis im Unterschied zum öffentlichen Gehör vor dem Konzil.
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früher tat: „Dieser ist wahr in diesem Sinne.“ Und sie fragten: „Willst du ihn verteidigen?“ Ich erwiderte: „Nein, sondern ich werde die Entscheidung des Konzils anerkennen.“ Siehe, Gott ist mein Zeuge, keine Antwort schien mir da besser, weil ich schon vordem eigenhändig geschrieben hatte, ich wolle nichts hartnäckig verteidigen, sondern sei bereit, mich von jedermann belehren zu lassen. Zu diesem Verhör kam es für mich deshalb, weil ihnen jemand gesagt hatte, dass ich den König benachrichtigen ließ, ich wollte drei oder vier Artikel verteidigen. Daher fragten sie, ob ich dem König etwas mitgeteilt hätte. Ich sagte nein, weil ich so dem König niemals etwas mitgeteilt habe, sondern wie Ihr schon wisst usw. Auch Michael [de Causis] stand da, hielt ein Schreiben und hetzte den Patriarchen auf, ich solle die Fragen beantworten. Mittlerweile kamen einige Bischöfe. Da brütete Michael wieder etwas Neues aus. Um meiner Sünden willen hat Gott ihn und den Pálecˇ aufstehen lassen! Denn Michael schnüffelt in Briefen und anderen Dingen herum, und Pálecˇ stellt in Artikeln das Vergangene zusammen, über das wir vor vielen Jahren gesprochen haben. Der Patriarch spricht in Gegenwart aller davon, ich besäße sehr viel Geld. Darum sagte einer der Erzbischöfe beim Verhör zu mir: „Du hast siebzigtausend Dukaten.“ Michael rief vor allen aus: „Haha, wo ist dein mit Dukaten gefüllter Rock hingekommen? Wieviel Geld sind dir die Herren in Böhmen schuldig?“ Wahrlich, an diesem Tage hatte ich großen Kummer. Einer der Bischöfe sagte: „Du hast ein neues Gesetz aufgerichtet.“ Ein anderer Bischof sprach: „Du hast alle diese Artikel gepredigt.“ Ich antwortete ihnen mit Gottes Hilfe auch ziemlich derb: „Warum tut ihr mir unrecht?“ Von den Vorgeladenen schreibt Ihr mir nichts. Sind denn zu ihren Gunsten keine Schritte unternommen worden, weder vom König noch von den Prager Bürgern noch von den Vorgeladenen selbst? [V] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, 5. Juni 1415)
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Der allmächtige Gott hat mir heute ein standhaftes und starkes Herz gegeben. Zwei Artikel sind schon widerlegt.26 Schon erhoffe ich von Das heißt: zwei der Hus im Verhör vorgelegten, aus seinen Schriften exzerpierten Artikel.
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Gottes Gnade, dass noch mehr davon widerlegt werden. Fast alle schrien gegen mich wie die Juden gegen Jesus. Noch ist man nicht zum ersten gelangt, nämlich dass ich bekennen soll, alle Artikel seien in meinen Abhandlungen geschrieben. Das habt Ihr schlecht gemacht, dass Ihr die Traktate „Gegen einen anonymen Gegner“ und „Über die Kirche“ zum Vorschein gebracht habt.27 Legt weiter nichts vor außer den Abhandlungen gegen Stanislaus und gegen Pálecˇ !28 Gut war, dass die Fürsten forderten, man solle ihnen mein Buch zurückgeben. Einige schrien: „Verbrannt soll es werden“, und vor allem war es Michael de Causis, den ich hörte. Ich nahm wahr, dass ich unter der gesamten Geistlichkeit keinen einzigen Freund hatte außer dem „Vater“ und einem polnischen Doktor, den ich kenne.29 Beim Bischof von Leitomischl30 habe ich mich für die nützliche Hilfe bedankt. Er antwortete nur: „Und was habe ich für dich getan?“ Ich bin sehr dankbar, dass Ihr die Artikel so zusammengestellt habt, und es wäre gut, sie in dieser Form zu veröffentlichen und abzuschreiben usf. – Die Vorsitzenden haben mir ein weiteres öffentliches Gehör versprochen. Die Definition der Kirche wollten sie nicht hören. – Grüßt die treuen Herren und Freunde der Wahrheit und betet für mich zu Gott, denn es ist nötig! Ich vermute, man wird mir die Lehre des heiligen Augustinus von der Kirche, von den Erwählten und Verworfenen und von den schlechten Prälaten nicht zur Erörterung zulassen. Oh, wenn mir doch Gehör gegeben würde, dass ich auf ihre Argumente antworten kann, mit denen sie die Artikel bekämpfen wollten, die in meinen Abhandlungen dargelegt sind! Ich denke, viele, die jetzt schreiben, würden dann verstummen. Wie es im Himmel beschlossen ist, so geschehe es! Amen. [VI] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, 9. Juni 1415)
Den Rat des Herrn liebe ich mehr als Gold und Edelstein.31 Daher hoffe ich auf die Barmherzigkeit Jesu Christi, er werde mir seinen Geist ver27 Vgl. die Einleitung zu Nr. 33. 28 Die Hus-Schriften gegen Stanislaus von Znaim (Opera omnia [1558] Bd. 1, 265–302) und gegen Stefan Pálecˇ (Opera omnia [1558] Bd. 1, 255–264). 29 Beide Personen sind nicht sicher zu identifizieren. 30 Bischof Johannes „der Eiserne“ von Bucca (amtierte 1388–1418). Wofür sich Hus bei diesem in Konstanz anwesenden Bischof, der sein Gegner war, bedankte, bleibt unklar. 31 Ps 119,127.
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leihen, dass ich in der Wahrheit bleibe. Betet zu Gott! Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.32 Der allmächtige Herr sei der ewige Lohn für meine Herren, die standhaft, fest und treu für die Gerechtigkeit eintreten. Gott wird sie auch im Königreich Böhmen die Wahrheit erkennen lassen. Um ihr nachfolgen zu können, müssen sie nach Böhmen zurückkehren, eitlem Ruhm entsagen und nicht dem sterblichen und schwachen König, sondern dem König der Herrlichkeit folgen, der das ewige Leben gibt. Ach, wie teuer war mir der Händedruck des Herrn Jan, der sich nicht scheute, mir Unglücklichen die Hand zu reichen, einem so verworfenen, mit Ketten gefesselten und von fast allen verfluchten Ketzer! Vielleicht werde ich mit Euch nicht mehr viel sprechen können. Grüßt deshalb zu gegebener Zeit alle treuen Böhmen! Pálecˇ besuchte mich in meiner schwersten Krankheit im Kerker. Vor den Kommissaren grüßte er mich mit den Worten: „Seit Christi Geburt ist außer Wyclif kein gefährlicherer Ketzer aufgetreten als du!“ Ferner sagte er: alle, die zu meiner Predigt kamen, seien von der Ketzerei angesteckt worden, im Sakrament des Altars bleibe die Substanz des gewöhnlichen Brotes.33 Ich erwiderte ihm: ,,Magister, wie hart hast du mich gegrüßt, und wie schwer versündigst du dich! Sieh, ich werde sterben oder, falls ich genesen sollte, wohl verbrannt werden. Was für ein Lohn wird dir in Böhmen zuteil werden?“ usw. – Vielleicht hätte ich das nicht schreiben sollen, damit es nicht etwa scheint, als hasste ich ihn arg. – Mit meinem Brevier weiß ich nicht, wie ich’s halten soll usf.34 Immer habe ich in meinem Herzen: Verlasst euch nicht auf Fürsten usw.35 Und wiederum: Verflucht ist der Mensch, der sich auf einen Menschen verlässt und Fleisch für seinen Arm hält.36 Um Gottes willen seid vorsichtig beim Aufenthalt und auf der Rückreise. Tragt keine Briefe bei Euch! Die Bücher sendet einzeln durch Freunde! – Wisst wohl, ich hatte viel zu kämpfen mit den Träumen, um ihnen nicht nachzuhängen. So träumte ich doch die Flucht des Papstes voraus, und als ich davon erzählte, sagte der Herr von Chlum noch in derselben Nacht: „Der Papst wird zu Euch zurückkehren.“ Ebenso träumte ich von der Einkerkerung des Magisters Hieronymus,37 allerdings nicht in der richtigen Weise. Alle Gefängnisse, Mt 26,41. 33 Pálecˇ beschuldigte ihn also, die Remanenzlehre Wyclifs zu vertreten. Hus weiß nicht, wie er sein Brevier in die Hände dessen gelangen lassen soll, für den er es bestimmt hat. 35 Ps 146,3. 36 Jer 17,5. 37 Hieronymus von Prag, der sich nach Gerüchten über seine bevorstehende Verhaftung wieder auf den Weg zurück nach Böhmen gemacht hatte, am 25. April 1415 in Hirschau erkannt, verhaftet und 32 34
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wohin ich geführt werden sollte und wie, zeigten sich mir vorher, wenn auch nicht in genauer Art. Öfters erschienen mir viele Schlangen mit Köpfen auch auf den Schwänzen, aber keine konnte mich beißen. Und noch vieles andere. Das schreibe ich nicht, weil ich mich für einen Propheten hielte 5 und mich überheben wollte, sondern um Euch zu sagen, dass ich Anfechtungen an Leib und Seele hatte und ganz große Furcht, ich möchte das Gebot des Herrn Jesus Christus übertreten. Jetzt denke ich nach über die Äußerung des Magisters Hieronymus, der gesagt hat: „Wenn ich zum Konzil komme, werde ich ver- 10 mutlich nicht heimkehren.“ Auch zu mir sagte der Pole Andreas, ein ehrsamer Schneider, als er sich von mir verabschiedete: „Gott sei mit dir! Mir scheint, du wirst nicht zurückkehren.“ Lieber, in Gott getreuer und standhafter Ritter, Herr Jan! Möge Dir der König, nicht der ungarische, sondern der himmlische, ewigen Lohn 15 geben für Deinen Glauben und für die Mühe, die Du mit mir hast!38 [VII] An die Freunde in Böhmen (Konstanz, in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1415)
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Magister Jan Hus, in der Hoffnung Diener Gottes, entbietet allen treuen Böhmen, die Gott den Herrn lieben und lieben werden, seinen Wunsch, dass Gott der Herr ihnen verleihe, in seiner Gnade zu leben und zu ster25 ben und in der himmlischen Freude in Ewigkeit zu bleiben. Amen. Getreue und in Gott geliebte Herren und Frauen, Reiche und Arme! Ich bitte und ermahne Euch: Seid Gott gehorsam, preist sein Wort, hört und erfüllt es gern! Ich bitte Euch, haltet fest an der Wahrheit Gottes, die ich aus Gottes Gesetz geschrieben und aus den Worten der 30 Heiligen gepredigt und geschrieben habe! Ich bitte auch: Wenn jemand von mir in der Predigt oder anderweit etwas gegen die Wahrheit Gottes gehört haben sollte oder wenn ich irgendwo etwas derartiges geschrieben haben sollte – ich hoffe bei Gott, es war niemals der Fall –, dann soll er dem nicht Folge leisten. Ich bitte ferner: Wenn 35 jemand in meinem Reden oder Benehmen leichte Sitten bemerkt hat, dann soll er sie nicht nachahmen, sondern Gott für mich bitten, dass er an das Konzil ausgeliefert wurde. Er blieb bis zu seiner Hinrichtung am 30. Mai 1416 in Konstanz in Haft. 38 Die Worte des Andreas und der letzte Abschnitt tschechisch.
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mir vergebe. Ich bitte, dass die Priester gute Sitten lieben und preisen und sie ehren – und besonders die, die im Worte Gottes arbeiten. Ich bitte, hütet Euch vor listigen Menschen und besonders vor unwürdigen Priestern, von denen der Heiland sagt, sie seien in Schafskleider gehüllt, inwendig aber reißende Wölfe.39 – Ich bitte die Herren, ihre Armen gnädig zu behandeln und gerecht zu führen. Ich bitte die Bürger, ihre Geschäfte rechtschaffen zu betreiben. Ich bitte die Handwerker, ihr Werk getreulich zu tun und davon zu leben. Ich bitte die Knechte, dass sie ihren Herren und Frauen treu dienen. Ich bitte die Magister, selber rechtschaffen zu leben und ihre Schüler treu zu unterrichten, damit sie zuallererst Gott lieben und zu seinem Lobe, zum Nutzen der Gemeinde und zu ihrem eigenen Heil lernen, nicht aber aus Habgier oder weltlicher Ehrsucht. Ich bitte die Studenten sowie die anderen Schüler, in allem Guten ihren Lehrern zu gehorchen und nachzufolgen, fleißig zu Gottes Lob, zum eigenen Heil und zum Heil der anderen Menschen zu lernen. Ich bitte Euch alle zusammen, dass Ihr den Herren, nämlich Herrn Václav von Dubá und Lesˇ tno, Herrn Jan von Chlum, Herrn Jindrˇ ich von Plumlov, Herrn Vilém Zajic, Herrn Mysˇ ka und den anderen Herren aus Böhmen und aus Mähren, auch den treuen Herren aus dem polnischen Königreich Euern Dank abstattet und ihrer Fürsorge dankbar seid, dass sie als Gottes tapfere Beschützer und Beistände der Wahrheit oftmals dem ganzen Konzil widerstanden und mit Beweis und Erwiderung für meine Befreiung gekämpft haben, vor allem Herr Václav von Dubá und Herr Jan von Chlum. Glaubt ihnen, was sie berichten werden; denn sie waren dabei, als ich mich mehrere Tage lang vor dem Konzil verantwortete! Sie wissen, welche Böhmen gegen mich standen und wie viele und wie unwürdige Beschuldigungen man gegen mich vorgebracht hat, wie die ganze Versammlung gegen mich schrie und wie ich beantwortet habe, wonach man mich fragte. Ich bitte Euch auch, zu Gott für Seine Majestät, den römischen und böhmischen König zu beten, für Eure Königin und die Herren, dass der liebe Herr Gott mit ihnen und mit Euch sein möge, jetzt in seiner Gnade und dann in der ewigen Freude. Amen. Diesen Brief habe ich Euch im Kerker geschrieben, in Ketten, morgen das Todesurteil erwartend und doch in völliger Hoffnung zu Gott, dass ich Gottes Wahrheit nicht preisgeben und die Irrtümer nicht abschwören werde, die falsche Zeugen gegen mich bezeugt haben. Wie gnädig Gott der Herr an mir handelt und mit mir ist in wunderlichen 39
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Anfechtungen, das werdet Ihr erfahren, wenn wir einander bei Gott in der Freude mit seiner Hilfe wiedersehen. Von Magister Hieronymus, meinem lieben Gefährten, höre ich nichts, als dass er in harter Gefangenschaft sitzt und wie ich den Tod erwartet, und zwar um des Glaubens willen, den er den Böhmen mutig 5 dargelegt hat. Und Böhmen, unsere grausamsten Feinde, haben uns in anderer Feinde Gewalt und Fesseln ausgeliefert. Ich bitte Euch, betet für sie zu Gott! Auch bitte ich besonders Euch, Ihr Prager: Behaltet Bethlehem lieb, solange Gott dort die Predigt seines Wortes gewährt! Auf diese Stätte ist der Teufel ergrimmt, gegen sie hat er Pfarrer und 10 Kanoniker aufgestachelt, da er sah, dass an dieser Stelle seine Herrschaft untergraben wurde. Ich hoffe zu Gott dem Herrn, er werde diese Stätte nach seinem Willen erhalten und dort durch andere Prediger als durch mich unzulänglichen einen größeren Nutzen geben. Ferner bitte ich: Liebt einander! Gebt nicht zu, dass die guten Leute 15 durch Gewalt bedrängt werden, und gönnt jedermann die Wahrheit! Gegeben in der Nacht zum Montag vor St. Veit durch einen zuverlässigen Boten.40 [VIII] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, etwa 13. Juni 1415)
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Was Peter [von Mladoniowitz] betrifft, bin ich ganz zufrieden. Seine Briefe bewahre ich nicht auf, sondern vernichte sie sofort. Schickt mir keine Sexternen41; denn ich fürchte, dem Boten und anderen Personen 25 würde große Gefahr drohen. Ich bitte noch um Gottes willen, alle Herren möchten beim König um ein Schlussgehör nachsuchen, da er doch selbst vor dem Konzil gesagt hat, mir werde demnächst noch Gehör gegeben werden, damit ich kurz schriftlich antworten könne. Es wird eine große Schande für 30 ihn sein, wenn dieses Wort nicht eingelöst wird. – Ich vermute aber, dieses Wort steht auch nur so fest wie das versprochene sichere Geleit. Davon hat mir noch in Böhmen jemand gesagt, ich solle mich vor seinem sicheren Geleit hüten. Und andere sprachen: „Er wird dich den 35
40 Vischer, Jan Hus, 378 übersetzt diesen letzten Satz: „Dieser Brief, gegeben am Montag in der Nacht vor dem heiligen Veit, durch den braven Deutschen.“ Ebd., 376 Anm.*, wird diese Lesart, die die bessere zu sein scheint, näher begründet. Demnach ist mit dem „braven Deutschen“ Hussens Konstanzer Wärter Robert gemeint, der ihm beim Herausschmuggeln der Briefe aus dem Gefängnis behilflich war. 41 Papier in Lagen zu sechs Blättern.
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Feinden ausliefern.“ Und Herr Mikesˇ Divoky´ 42 hat mir in Anwesenheit von Magister Jesenice gesagt: „Magister, wisse wohl, dass du verurteilt werden wirst.“ Ich vermute, er kannte die Absicht des Königs schon. Ich dachte, der König habe Wohlgefallen an Gottes Gesetz und Wahrheit. 5 Jetzt erkenne ich, dass sie ihm wenig gefallen. Er hat mich noch eher verurteilt als meine Gegner. Wenn er sich wenigstens nach Art des Heiden Pilatus verhalten hätte. Der sprach, als er die Beschuldigungen gehört hatte: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.43 Oder wenn er wenigstens gesagt hätte: „Seht, ich habe ihm sicheres Geleit gewährt. Will er 10 sich denn der Entscheidung des Konzils nicht fügen, so werde ich ihn mit euerm Urteil und dem Beweismaterial an den böhmischen König zurückschicken, damit der ihn mit seiner Geistlichkeit richte.“ Durch Herrn Jindrˇ ich Lefl und andere hat er mir doch zugesichert, er wolle mir genügendes Gehör verschaffen, und wenn ich mich dem Urteil nicht 15 unterwerfen sollte, wolle er mir sichere Rückkehr gewähren. [IX] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, etwa 20. Juni 1415) 20 Ich, Jan Hus, immer in der Hoffnung Diener Jesu Christi, habe nach
meinem Gewissen, von dem ich dem allmächtigen Herrn Rechenschaft schuldig bin, die Antworten zu den Artikeln in deren Abschrift geschrieben so wie auch in diese da.44 Zu den aus meinen Büchern ausgewählten Artikeln konnte ich keine Erläuterungen hinzuschreiben, teils 25 aus Zeitnot, teils wegen Papiermangels, teils um der Gefahr willen etc. Aber ich meine, in der Abschrift der ersten Artikel45 sind zur Erläuterung und zum Beweis für einige von ihnen die Zitate aus den heiligen Lehrern beigefügt. Jetzt bleibt nichts übrig, als entweder zu widerrufen, abzuschwö30 ren und sich einer großen Buße zu unterziehen oder sich verbrennen zu lassen. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, der Eine Gott, an den ich glaube und auf den ich mich verlasse, wird mir – auf die Fürbitte aller Heiligen und der gerechten Leute hin – den Geist des Rates und der Tapferkeit verleihen, dass ich die Falle des Satans meiden und 35 in Seiner Gnade bis zum Ende verharren kann. Amen. Sigismunds Abgesandter an Hus vor der Reise nach Konstanz. 43 Joh 18,38. Der vorliegende Brief ist demnach ein Begleitschreiben zu einer Abschrift der Anklageartikel mit Hussens Antworten darauf, diese Ausgabe Nr. 34. 45 Das heißt: der Hus zuerst vorgelegten Artikel, die er noch ausführlicher hatte beantworten können.
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Alle Artikel aus den Büchern und aus dem Verlauf des Prozesses wurden in der Antwort an das Konzil in derselben Weise erklärt, wie sie hier oben kurz erläutert sind. Sie wurden am Dienstag nach St. Veit vorgelegt.46 Gegeben am Donnerstag nach St. Veit dem Märtyrer, aus dem Gefängnis bei den sogenannten Minoriten oder Barfüßern. [X] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, etwa 20. Juni 1415) Der allmächtige Vater, der allweise und allliebende, gebe Euch, mein Vater, der mir um Jesu Christi willen gewogen ist, das ewige Leben in Herrlichkeit. Ehrwürdiger Vater, ich bin sehr dankbar für Eure freundliche und väterliche Gnade. Aber ich wage nicht, mich dem Konzil nach dem gegebenen Wortlaut zu unterwerfen.47 Einerseits müsste ich viele Wahrheiten verurteilen, die man, wie ich von ihnen48 gehört habe, als ärgerniserregend bezeichnet hat. Andererseits müsste ich meineidig werden durch Abschwören. Wollte ich bekennen, ich hätte Irrtümer vertreten, so würde ich dadurch sehr vielem Volke Gottes Ärgernis geben, das von mir in der Predigt das genaue Gegenteil gehört hat. Wenn der heilige Eleazar, der Mann des Alten Bundes, von dem wir in den Makkabäerbüchern lesen,49 nicht fälschlich gestehen wollte, er habe vom Gesetz verbotenes Fleisch gegessen, um nicht gegen Gott zu handeln und den Nachkommen kein schlechtes Beispiel zu geben – wie sollte dann ich, ein Priester des Neuen Bundes, wenn auch ein unwürdiger, aus Furcht vor Strafe, die doch rasch vorübergeht, mich so viel schwerer am Gesetz Gottes dadurch versündigen, dass ich erstens von der Wahrheit abfalle, zweitens einen Meineid leiste und drittens den Nächsten Ärgernis gebe. Wahrlich, es ist für mich besser zu sterben als – um der zeitlichen Strafe zu entgehen – in die Hände des Herrn zu fallen und dann vielleicht ins Feuer und in ewige Pein. Und weil ich mich auf Jesus Christus, den mächtigsten und gerechtesten Richter, berufen und ihm meine Sache anvertraut habe, bin ich auch seines heiligsten Beschlusses und Urteils gewärtig in der Überzeugung, er werde jeden Menschen nicht nach falschen Zeugnissen, sondern nach Wahrheit und Verdiensten richten und belohnen. Die am 18. Juni 1415 vorgelegten Artikel, diese Ausgabe Nr. 35. 47 Gemeint ist die Hus vorgelegte Abschwörformel, diese Ausgabe Nr. 35. 48 Das heißt: von den Anklägern. 49 2Makk 6,18–31. 46
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[XI] An Václav von Dubá und Jan von Chlum (Konstanz, etwa 20. Juni 1415) Gnädigste Herren und treueste Liebhaber der Wahrheit, die Ihr mir
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ken! Ich kann nicht hinreichend beschreiben, wie dankbar ich für Eure Standhaftigkeit bin und für die liebevollen Wohltaten, die Ihr mir Sünder – in der Hoffnung aber Diener des Herrn Jesus Christus – erwiesen habt. Ich wünsche, dass er selbst, Jesus, unser gütigster Schöpfer, Erlöser und Heiland, es Euch noch in dieser Gegenwart vergelten und Euch in der Zukunft sich selber zum schönsten Lohn schenken möge. Darum ermahne ich Euch um seiner Barmherzigkeit willen: Achtet auf sein Gesetz und besonders auf seine heiligsten Gebote! Ihr, edler Herr Václav, heiratet! Wendet Euch ab von den Eitelkeiten dieser Welt und lebt heilig in der Ehe! Und Ihr, Herr Jan, verlasst jetzt schon den Dienst der sterblichen Könige und widmet Euch mit Eurer Gattin und Euren Kindern zu Hause dem Dienst Gottes! Ihr seht ja, wie das Rad der weltlichen Eitelkeit sich dreht, jetzt den einen erhebt und den anderen hinabdrückt. Aber auch dem, den es hoch erhebt, gewährt es nur kurze Freude. Danach folgt ewige Strafe in Feuer und Finsternis. Ihr kennt jetzt schon das Verhalten der Geistlichen, die sich als wahre und sichtbare Stellvertreter Christi und seiner Apostel bezeichnen und sich heilige Kirche und heiligstes Konzil nennen, das nicht irren kann – und trotzdem irrte: Hat man doch ehedem vor Johannes XXIII. die Knie gebeugt, ihm die Füße geküsst, ihn heiligsten [Vater] genannt, obwohl man wusste, dass er ein schändlicher Mörder, Sodomit, Simonist und Ketzer ist, wie man später bei seiner Verurteilung sich ausgedrückt hat.50 Nun hat man das „Haupt der Kirche“ abgehauen, das „Herz der Kirche“ ausgerissen, den „unversiegbaren Brunnen der Kirche“ ausgeschöpft, die „völlig hinreichende und nie versagende Zuflucht der Kirche, zu der sich jeder Christ flüchten muss“, völlig zum Versagen gebracht. Wo ist nun das Wort des Magisters Stanislaus guten Angedenkens51 – Gott vergebe ihm –, des Pálecˇ und anderer Mitdoktoren, die durch die
Hus reagiert an dieser Stelle auf die Flucht Papst Johannes XXIII. aus Konstanz, seine Gefangennahme und Absetzung durch König und Konzil, die im März, April und Mai 1415 stattgefunden hatten. 51 Der Prager Theologe Stanislaus von Znaim, ein erbitterter Gegner des Johannes Hus, der im Oktober 1414 auf dem Weg zum Konstanzer Konzil gestorben war.
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Feder des Stanislaus äußerten, der Papst sei das Haupt der Kirche, das sie völlig hinreichend regiere, das Herz der Kirche, das sie belebe, der unversiegbare Brunnen, das Flussbett, durch das alle Vollmacht zu den Niederen strömt, die nie versagende, sondern für jeden Christen völlig hinreichende Zuflucht, zu der sich jeder Christ flüchten müsse? Jetzt steht die gläubige Christenheit ohne Papst da, der doch nur ein Mensch ist, und hat Christus Jesus zum Haupt, das sie am besten regiert, zum Herzen, das sie belebt, indem es das Gnadenleben schenkt, zum Brunnen, der sie mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes erquickt, zum Flussbett, in dem alle Bäche der Gnade fließen, zur völlig hinreichenden und nie versagenden Zuflucht. Zu ihm flüchte ich Armer mich in der festen Hoffnung, er werde mich mit seiner Führung, Belebung und Hilfe nicht im Stich lassen, sondern mich von meinen Sünden und dem gegenwärtigen elenden Leben befreien und mit Freude ohne Ende lohnen. Das Konzil hat auch drei- oder viermal darin geirrt, dass es Artikel schlecht aus meinen Büchern ausgezogen, einige mit Schaden und Schande verworfen und noch in der letzten Abschrift einige verstümmelt hat, wie jeder entdecken wird, der diese Bücher und diese Artikel zu Gesicht bekommt. Dadurch habe ich zusammen mit Euch gelernt, dass nicht jede Tat, jeder Spruch, jeder Befund des Konzils von dem gerechtesten Richter Jesus Christus gebilligt wird. Selig sind daher diejenigen, die das Gesetz Christi beachten, Prunk, Habsucht, Heuchelei und List des Antichrist und seiner Helfershelfer erkennen, verlassen und verwerfen und in Geduld das Kommen des gerechtesten Richters erwarten. Ich beschwöre Euch beim Innersten Jesu Christi: Meidet schlechte Priester, die guten hingegen liebt nach ihren Taten! Und soviel an Euch ist samt den anderen getreuen Edelleuten und Herren, lasst nicht zu, dass man sie bedrängt. Denn dazu hat Euch Gott über andere gesetzt. Ich vermute, im Königreich Böhmen wird eine große Verfolgung über diejenigen hereinbrechen, die Gott treu dienen, wenn nicht der Herr seine Hand über sie hält durch weltliche Herren, die er in seinem Gesetz mehr als die Geistlichen erleuchtet hat. Wie groß ist die Torheit, das Evangelium, den Brief des heiligen Paulus, von dem er sagt, er habe ihn nicht von einem Menschen, sondern von Christus empfangen,52 ferner die Tat Christi samt den Taten seiner Apostel und anderer Heiliger als Irrtum zu verdammen – nämlich dass der Empfang des Kelchsakramentes für alle erwachsenen Gläubigen eingesetzt ist. Siehe, Ketzerei nennen sie es, dass die gläubi52
Vgl. Gal 1,12.
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gen Laien aus dem Kelch des Herrn trinken dürfen; und wenn ein Priester ihnen daraus zu trinken reicht, soll er ihrem Spruch zufolge als Ketzer betrachtet und, wenn er davon nicht ablässt, als Ketzer verurteilt werden. Heiliger Paulus, du sagst zu allen Gläubigen: Sooft ihr von die5 sem Brot esst und von diesem Kelche trinkt, werdet ihr des Herrn Tod verkündigen, bis er kommt,53 das heißt: bis zum Tag des Gerichts, an dem er kommen wird. Und siehe, schon sagt man hier, der Brauch der römischen Kirche stehe dem entgegen. 10
[XII] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, 21. Juni 1415) Das ist im Namen Jesu Christi mein endgültiger Entschluss: Ich will
15 weder die richtig ausgewählten Artikel als Irrtum bekennen, noch will
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ich die mir durch falsche Zeugen angedichteten Artikel abschwören. Denn abschwören heißt zugestehen, dass ich Irrtümer oder Irrtum vertreten habe, davon abrücken und das Gegenteil bekennen. Gott weiß ja, dass ich niemals jene Irrtümer gepredigt habe, die man sich ausgedacht hat, indem man viele Wahrheiten wegließ und falsche Behauptungen hinzufügte. Wenn ich aber von einem meiner Artikel wüsste, dass er wahrheitswidrig ist, würde ich ihn sehr gern verbessern, widerrufen und sein Gegenteil lehren und predigen. Aber ich meine, dass keiner von ihnen zum Gesetz Christi und zu den Aussprüchen der heiligen Lehrer im Widerspruch steht, auch wenn ihn diejenigen, denen er missfällt, als anstößig und ketzerisch bezeichnen. Sollte aber gegen meine Absicht in irgendeinem Artikel ein falscher Sinn liegen, so sage ich ihm ab und unterwerfe mich der Zurechtweisung des allmächtigen und allgütigen Meisters im Vertrauen auf seine unendliche Barmherzigkeit, dass er mich gütigst von meinen verborgenen Sünden reinigen wird. Ich danke allen Herren, Rittern und Knappen des Königreiches Böhmen, insbesondere dem König Wenzel und der Frau Königin, meiner gnädigen Herrin, dass sie mich liebgehabt, mich freundlich behandelt und Mühe an meine Befreiung gewandt haben. Ich danke auch dem König Sigismund für alles Gute, das er mir erwiesen hat. Ich danke allen böhmischen und polnischen Herren, die stet und fest für die Wahrheit und für meine Befreiung eingestanden sind. Ihnen wünsche ich Heil, jetzt in der Gnade und dereinst in der ewigen Herrlichkeit.
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Der Gott aller Gnade führe Euch gesund an Leib und Seele nach Böhmen, damit Ihr dort als Diener des Königs Christus zum Leben in der Herrlichkeit gelangt. Grüßt alle Freunde, die ich nicht aufschreiben kann! Wollte ich die einen aufschreiben und die anderen nicht, so würde es ihnen scheinen, 5 als leitete mich das Ansehen der Person; und diejenigen, die ich nicht aufschreibe, könnten meinen, ich dächte nicht an sie oder liebte sie nicht so, wie ich sollte. Geschrieben im Kerker, in Fesseln, am Freitag vor dem Fest Johan10 nes des Täufers. Jan Hus, in Hoffnung Diener Jesu Christi, von welcher Hoffnung mich der Teufel niemals scheiden konnte noch scheiden wird mit Hilfe des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, der gelobt sei in Ewigkeit, Amen. 15
[XIII] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, 22. Juni 1415) Es gab schon vielerlei Mahner, die mir mit vielen Worten rieten, ich müsse und könne in erlaubter Weise abschwören und meinen Willen der heiligen Kirche unterwerfen, die vom heiligen Konzil repräsentiert werde. Aber keiner von ihnen weiß sich recht zu helfen, wenn ich ihn an meine Stelle setze: Vorausgesetzt, er habe eine ihm zugeschriebene Ketzerei niemals gepredigt, vertreten oder verteidigt – wie wolle er dann das gute Gewissen bewahren, dass er durch Abschwören nicht zugestehe, er habe die Ketzerei fälschlich vertreten? Einige sagten, Abschwören begreife das nicht in sich, sondern nur die Absage an die Ketzerei, gleichgültig, ob man sie vertreten habe oder nicht. Andere wieder meinten, Abschwören heiße: das von den Zeugen – ob nun wahrheitsgemäß oder fälschlich – zur Last Gelegte verneinen. Diesen habe ich erwidert: „Gut, ich werde schwören, dass ich die mir zur Last gelegten Irrtümer niemals gepredigt, vertreten oder verteidigt habe noch auch sie jemals predigen, vertreten oder verteidigen werde.“ Und sofort ziehen sie zurück. Wieder andere behaupten, wenn ein unschuldiger Mensch sich der Kirche unterwerfe und sich aus Demut schuldig bekenne, so erwerbe er sich damit ein Verdienst. Zum Beleg dafür führte ein Doktor einen Heiligen aus den Lebensbeschreibungen der Väter an. Diesem Mann legte jemand ein Buch ins Bett. Als dieser Heilige nun befragt und (als Dieb) beschuldigt wurde, leugnete er zuerst. Als man aber sagte: „Sieh, du
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hast es gestohlen und ins Bett gelegt“, und als das Buch tatsächlich dort gefunden wurde, bekannte er sich schuldig. Einer argumentierte mit dem Hinweis auf eine Heilige, die in Männerkleidung im Kloster lebte. Als man ihr vorwarf, sie habe mit einer Frau ein Kind gezeugt, bejahte sie das und sorgte für das Kind; und erst später kam heraus, dass es sich um eine unschuldige Frau handelte. So führte man noch viele andere Beispiele an. Ein Engländer sagte: „Wäre ich an Eurer Stelle, so würde ich – bei meinem Gewissen!– gern abschwören! Denn in England haben alle Magister, sehr gute Männer, die des Wyclifismus verdächtig waren, der Reihe nach auf Befehl des Erzbischofs abgeschworen.“ Schließlich blieben sie gestern dabei, ich solle mich völlig der Gnade des Konzils ausliefern. Auf mein Bitten kam Pálecˇ , weil ich ihm beichten wollte und die Kommissare und Mahner gebeten hatte, sie möchten mir ihn oder einen anderen geben. Ich hatte gesagt: „Pálecˇ ist mein Hauptgegner, ihm will ich beichten. Oder gebt mir einen andern geeigneten Mann! Darum bitte ich um Gottes willen.“ Und so geschah es. Ich beichtete einem Doktor und Mönch. Der hörte mich liebevoll und sehr gütig an, sprach mich los und erteilte mir Ratschläge, nicht Auflagen, wie auch andere Ratschläge gaben. Dann kam Pálecˇ und weinte lange mit mir, als ich ihn bat, mir zu vergeben, wenn ich ihn mit einem Worte beleidigt, besonders aber, dass ich ihn in einer meiner Schriften einen Lügner genannt habe. Ich sagte ihm auch, er sei ein Spitzel, und er leugnete nicht. Aber dass er beim Verhör, als ich die Artikel der Zeugen bestritt, aufgestanden ist und gesagt hat: „Dieser Mensch fürchtet Gott nicht“, wollte er nicht wahrhaben. Aber dennoch hat er es gesagt, und Ihr habt es vielleicht selbst gehört. Ich warf ihm auch vor, dass er im Gefängnis vor den Kommissaren geäußert hat: „Seit Christi Geburt hat außer Wyclif kein gefährlicherer Ketzer als du gegen die Kirche geschrieben.“ Desgleichen hat er behauptet: „Alle, die deine Predigt besuchten, sind von der Ketzerei gegen das Altarsakrament angesteckt.“ Das leugnete er und erwiderte: „Ich habe nicht gesagt: alle, sondern: viele.“ Aber er hat es wahrhaftig gesagt; denn ich habe ihn dann getadelt: „Magister, wie schweres Unrecht tust du damit, dass du alle meine Zuhörer als Ketzer bezeichnest!“ Dann gab er mir Ratschläge wie die anderen und wiederholte immer, wieviel Schlimmes durch mich und meine Anhänger entstanden sei. Ferner vertraute er mir an, man habe meinen Brief nach Böhmen, in dem geschrieben steht, dass ich auf der Burg zur Melodie des Liedes „Allmächtiger Gott“ zwei Verse vom Gefängnis gesungen habe. Um Gottes willen, versteckt die Briefe! Gebt sie keinem Geistlichen
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mit! Die Herren sollen sie vorsichtig zwischen anderen, weltlichen Schriftstücken verbergen. Lasst mich wissen, ob die Herren mit dem König reisen werden! – Jesus Christus hält mich durch seine Gnade allezeit in meinem früheren Vorsatz.
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[XIV] An die treuen Böhmen (Konstanz, 26. Juni 1415) Magister Jan Hus, in der Hoffnung Gottes Diener, lässt allen treuen Böhmen, die Gott lieben und lieben werden, seine Bitte und sein unzulängliches Gebet sagen, sie sollen in Gottes Gnade leben, in ihr (das Leben) beschließen und in Ewigkeit bei Gott bleiben. Getreue und in Gott Geliebte, es ist mir noch in den Sinn gekommen, Euch anzuzeigen, wie das stolze, habgierige und aller Abscheulichkeit volle Konzil alle meine tschechischen Bücher verdammt hat, die es weder gehört noch gesehen hat. Und wenn es sie gehört hätte, so hätte es sie doch nicht verstehen können. Denn in diesem Konzil waren Italiener, Franzosen, Engländer, Spanier, Deutsche und andere mit anderen Sprachen. Nur der Bischof Johann von Leitomischl,54 der dabei war, hätte sie verstehen können, sowie andere Tschechen, die Anstifter, samt dem Kapitel von Prag und vom Vysˇehrad, von denen die Lästerung der Wahrheit Gottes und unseres böhmischen Landes ausgegangen ist, das ich in Hoffnung zu Gott für das Land des besten Glaubens halte, denn es zeigt Verlangen nach dem Wort Gottes und nach Besserung der Sitten. O, hättet Ihr dieses Konzil gesehen, das sich „heiligstes Konzil“ und unfehlbar nennt! Wahrlich, Ihr hättet grenzenlose Verdorbenheit erblickt. Darüber hörte ich offen von den Schwaben sagen, Konstanz oder Kostnitz, ihre Stadt, werde noch in dreißig Jahren nicht von den Sünden gereinigt sein, die dieses Konzil in ihrer Stadt beging. Und sie sagen noch mehr, alle sind entrüstet über dieses Konzil, und manche spien aus, als sie die Abscheulichkeiten sahen. Und ich sage Euch: Als ich den ersten Tag vor diesem Konzil stand und sah, dass da keinerlei Ordnung herrschte, sprach ich laut, während alle gerade schwiegen: „Ich hatte gemeint, es werde mehr Anstand, Güte und bessere Ordnung in dieser Versammlung herrschen, als da wirklich zu finden ist.“ Da sagte der oberste Kardinal55: „Was redest du 54
Vgl. Anm. 30.
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Gemeint ist der Pariser Theologe, Bischof und Kardinal Petrus
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da? Auf der Burg56 hast du demütiger gesprochen.“ Und ich erwiderte: „Ja, denn auf der Burg schrie mich niemand an; hier aber schreien alle.“ Da nun das Konzil, von dem mehr Böses als Gutes ausgegangen ist, so ordnungswidrig verfuhr, so lasst Euch, Ihr getreuen und in Gott geliebten Christen, nicht einschüchtern durch ihren Urteilsspruch, der ihnen – das hoffe ich zu Gott – nichts nützen wird. Sie werden davonfliegen wie Schmetterlinge, und ihre Beschlüsse werden sein wie Spinnweben. Sie wollten mich einschüchtern und konnten doch Gottes Kraft in mir nicht besiegen. Mit der Schrift wollten sie nicht gegen mich angehen, wie die gnädigen Herren gehört haben, die tapfer für Gottes Wahrheit einstanden und alle mögliche Schmach auf sich nahmen, Tschechen, Mähren und Polen, vor allem aber Herr Václav von Dubá und Herr Jan von Chlum. Denn die waren dabei; König Sigismund selbst hatte sie ins Konzil gelassen, und sie hörten es. Als ich sagte: „Ich wünsche Belehrung; habe ich etwas Übles geschrieben, so will ich mich belehren lassen“, da antwortete der oberste Kardinal: „Wenn du belehrt sein willst – hier ist die Belehrung: Du sollst nach dem Befunde von fünfzig Magistern der Heiligen Schrift widerrufen!“ Oho, eine ganz famose Belehrung! So sollte auch die heilige Katharina als junges Mädchen die Wahrheit und den Glauben an den Herrn Jesus Christus verleugnen, weil fünfzig Magister gegen sie standen. Aber die werte Jungfrau blieb standhaft bis zum Tod, und sie führte die Magister zu Gott dem Herrn, die ich Sünder nicht dahin führen kann. Das schreibe ich Euch, damit Ihr wisst: Man hat mich weder durch die Schrift noch durch Gründe überwunden, sondern man suchte mich mit List und Schreckmitteln zum Widerruf und zum Abschwören zu bewegen. Aber der gnädige Herr Gott, dessen Gesetz ich verherrlichte, war und ist mit mir und wird es hoffentlich bis zum Ende sein und mich in seiner Gnade bis zum Tode bewahren. Der Brief ist geschrieben am Mittwoch nach St. Johannes dem Täufer im Kerker und in Ketten in Erwartung des Todes. Und doch wage ich des verborgenen Willens Gottes wegen nicht zu behaupten, dies sei mein letzter Brief. Denn noch kann mich der allmächtige Gott auch befreien. Amen. von Ailly (1350/51–1420), der in Konstanz als entschiedener Gegner des Johannes Hus auftrat. Ailly vertrat anders als Hus im Universalienstreit die nominalistische Position, weshalb er Hus des Irrtums in der Abendmahlslehre bezichtigte. Zu der Auseinandersetzung zwischen Ailly und Hus vgl. unten Brief Nr. 33.XVI. 56 In der Burg Gottlieben bei Konstanz, wo Hus nach der Flucht von Papst Johannes XXIII. in Haft saß.
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[XV] An die Freunde in Konstanz (Konstanz, 5. Juli 1415) Morgen um die sechste Stunde soll ich antworten: Erstens, ob ich jeden aus meinen Schriften ausgewählten Artikel für irrig erklären, dass ich ihm abschwören und das Gegenteil predigen will. Zweitens, ob ich eingestehen will, dass ich die von den Zeugen bestätigten Artikel gepredigt habe. Drittens, dass ich ihnen abschwören werde. Wenn doch Gott in seiner Gnade den König in dieses Gehör führte! Ich sähe es gern, wenn er hörte, welche Worte mir der liebreichste Heiland in den Mund legen wird. Wenn sie mir Feder und Papier gäben, wollte ich – mit Gottes Hilfe, hoffe ich – folgendermaßen antworten: „Ich, Johannes Hus, in der Hoffnung Priester Jesu Christi, will nicht bekennen, dass jeder aus meinen Büchern ausgewählte Artikel irrig sei, damit ich nicht die Meinung der heiligen Lehrer und besonders die des heiligen Augustinus verdamme. Zweitens will ich nicht bekennen, dass ich die Artikel, die mir durch falsche Zeugen zur Last gelegt wurden, behauptet, gepredigt und vertreten habe. Drittens will ich nicht abschwören, um keinen Meineid zu leisten.“ Um Gottes willen verbergt vorsichtig die Briefe und lasst sie entsprechend vorsichtig nach Böhmen bringen, damit daraus nicht große Gefahr für die Betreffenden erwächst! Wenn ich Euer Liebden aus irgendeinem Grunde nicht wieder schreiben sollte, so behaltet mit allen Freunden mich bitte im Gedächtnis und betet, Gott möge mir und meinem lieben Bruder in Christus, dem Magister Hieronymus, Standhaftigkeit verleihen, der vermutlich ebenfalls den Tod erleiden wird, wie ich von den Abgesandten des Konzils erfuhr. [XVI] An die treuen Christen (Konstanz, 5. Juli 1415)
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Ich, Magister Jan Hus, in der Hoffnung Diener Jesu Christi, verlange herzlich danach, dass nach meinem Hinscheiden die treuen Christen an meinem Tod keinen Anlass zum Ärgernis nehmen und mich nicht für einen sozusagen hartnäckigen Ketzer halten möchten. Ich nehme den Herrn Jesus Christus zum Zeugen, für dessen Gesetz ich zu sterben 40 wünschte, und schreibe dies den Freunden der Wahrheit als Andenken.
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Zuerst: Bei sehr vielen Einzelverhören, dann bei den öffentlichen Gehören vor dem Konzil habe ich erklärt, ich wolle mich der Belehrung und Verbesserung unterwerfen, Widerruf und Strafe auf mich nehmen, wenn mich jemand belehren könne, dass ich etwas geschrieben, gelehrt oder geantwortet habe, das im Widerspruch zur Wahrheit steht. Fünfzig Doktoren – Beauftragte des Konzils, wie sie selbst sagen –, die von mir öfter, sogar beim öffentlichen Gehör vor dem Konzil wegen der sinnentstellenden Auswahl der Artikel zurechtgewiesen wurden, wollten mir keine Einzelbelehrung erteilen. Ja, sie wollten sich sogar mit mir überhaupt nicht einlassen, sondern erklärten: „Du musst dich an die Entscheidung des Konzils halten!“ Und dieses Konzil hat gespottet, wenn ich beim öffentlichen Gehör die Schrift Christi oder der heiligen Lehrer anführte; oder es hat gesagt, ich verstehe falsch, und die Doktoren behaupteten, ich zitiere unpassend. Ein Kardinal, der höchste Beauftragte des Konzils,57 zog beim öffentlichen Gehör einen Zettel hervor und sagte: „Seht, ein Magister der heiligen Theologie hat mir diese Streitfrage vorgelegt. Sprecht darüber!“ Es war die Streitfrage um das „allgemeine Sein“58, und ich räumte ein, es sei in der Gottheit. Als er dann selbst in Schwierigkeiten geriet, obwohl er als hervorragender Doktor der Theologie gilt, sagte ich zu ihm von dem erschaffenen allgemeinen Sein, es sei zuerst erschaffen und dann sei den einzelnen Geschöpfen Anteil daran gegeben worden. Daraus wollte er die Remanenz des materiellen Brotes ableiten.59 Aber als seine Unkenntnis in dieser Sache deutlich ans Licht kam, verstummte er. Gleich schickte sich ein englischer Doktor an, den Beweis zu führen. Aber er versagte ebenfalls. Ein anderer englischer Doktor, der mir im Einzelverhör gesagt hatte, Wyclif habe alle Wissenschaft zugrunde richten wollen und in allen seinen Büchern, sogar in denen zur Logik, lauter Irrtümer aufgestellt – der stand auf und begann über die Vervielfachung des Leibes Christi in der Hostie zu reden. Als er im Thema steckenblieb und man ihm zurief, er solle schweigen, sagte er: „Seht, dieser Schlaufuchs täuscht das Konzil! Gebt Acht, dass das
Petrus von Ailly, vgl. Anm. 55. 58 Lateinisch „de essencia communi“. An dieser 35 Stelle geht es um die entscheidende Frage im sog. Universalienstreit, der die damaligen Universitäten umtrieb, ob nämlich dem allgemeinen Sein bzw. den Allgemeinbegriffen eine Realität zukomme (realisitische Position) oder nur den Einzeldingen (nominalistische Position; die Allgemeinbegriffe sind dann nur eine gedankliche Abstraktion ohne eigene Wirklichkeit). Hus vertrat wie Wyclif den philosophischen Realismus, Ailly die nominalistische Position. 59 Weil Hus wie Wyclif einen philosophischen Realismus vertrat, verdächtigte ihn Ailly, er vertrete auch im Abendmahl die Remanenzlehre Wyclifs. Hus hat dies immer bestritten. 57
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Konzil nicht getäuscht wird, wie es von Berengar 60 getäuscht worden ist!“ Als dieser schwieg, begann ein anderer sich lauthals über das geschaffene allgemeine Sein zu verbreiten. Aber die Menge schrie. Ich jedoch stand und forderte, man solle ihm Gehör schenken, und sprach zu ihm: „Sprecht tapfer, ich will gern antworten.“ Auch er versagte und bemerkte verdrießlich: „Das ist Ketzerei.“ Wie laut das Geschrei war, wie groß der Hohn, das Gelächter und die Schmähung dieser Versammlung gegen mich, das wissen die Herren Václav von Dubá und Jan von Chlum sowie dessen Sekretär Peter 61, sehr tapfere Ritter und Liebhaber der Wahrheit des Herrn. Darum habe ich auch, da ich oft von so lautem Geschrei umtost war, die Worte gesprochen: „Ich hatte gemeint, auf diesem Konzil werde größere Achtung, Güte und Zucht walten.“ Und damals hörten das alle; denn der König hatte befohlen, Ruhe zu geben. Der Kardinal, der im Konzil den Vorsitz führte, sagte: „Auf der Burg 62 hast du demütiger gesprochen.“ Ich antwortete: „Weil dort niemand auf mich einschrie. Jetzt aber schreien alle gegen mich.“ Und er fuhr fort: „Siehe, das Konzil fordert von dir (die Erklärung), ob du dich der Belehrung unterwerfen willst.“ Ich erwiderte: „Ich will es sehr gern, wie ich doch mehrfach erklärt habe.“ Da sagte er: „Sieh, dies sollst du zur Belehrung haben: Die Doktoren erklären, die aus deinen Büchern ausgezogenen Artikel seien Irrtümer; die sollst du widerrufen, und dem, was von den Zeugen beigebracht worden ist, sollst du abschwören.“ Der König aber sprach: „Sieh, es wird dir kurz niedergeschrieben werden, und du wirst antworten.“ Und der Kardinal sagte: „So wird es im nächsten Gehör geschehen.“ Und sogleich erhob sich das Konzil. Wie große Anfechtungen ich dann erduldet habe, weiß Gott. [XVII] An die Freunde in Böhmen (Konstanz, etwa 5. Juli 1415)
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Gott mit Euch, und er möge Euch ewigen Lohn dafür geben, dass Ihr mir viel Gutes getan habt! Um Gottes des Herrn willen bitte ich, lieber 35 Dem Frühscholastiker Berengar von Tours (gest. 1088), der die Wandlung der Abendmahlssubstanzen geleugnet hatte, deshalb der Irrlehre bezichtigt und mehrfach auf Synoden verhört worden war. Trotz Verurteilung gelang es ihm zunächst, die theologische Auseinandersetzung fortzusetzen. 61 Peter von Mladoniowitz. 62 Auf der Burg Gottlieben, vgl. Anm. 56. 60
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Herr Münzmeister Peter und Frau Anna, dass Ihr Herrn Jan, den treuen und tapferen Ritter, meinen guten Wohltäter, nicht den Schaden tragen lasst für mich, obwohl ich vielleicht schon leiblich tot bin. Auch bitte ich: Führt ein gutes Leben und seid Gott gehorsam, wie Ihr immer gehört habt! Der Königin, meiner gnädigen Herrin, sagt meinen Dank für alles Gute, das sie an mir getan hat! Grüßt Euer Gesinde und auch die anderen treuen Freunde, die ich nicht schriftlich aufzählen kann! Ich bitte auch alle, sie sollen für mich zu Gott dem Herrn beten. Durch seine heilige Gnade und mit seiner heiligen Hilfe werden wir einander bald wiedersehen. Amen. Der Brief ist geschrieben in Erwartung des Todesurteils, im Kerker, in Ketten, die ich – das hoffe ich – für Gottes Gesetz erdulde. Um Gottes willen lasst nicht zu, dass die guten Priester ausgetilgt werden! Magister Hus, in Hoffnung Gottes Diener. Peter, liebster Freund, behalte meinen Pelz zur Erinnerung an mich!63 Herr Henrich Leffl, lebe gut mit Deiner Gemahlin, und ich danke Dir für die Wohltaten. Gott sei Dein Lohn! Treuer Freund, Herr Lidhéř und Frau Margret, Herr Sˇkopek, Mikéska und Ihr anderen! Gott der Herr gebe Euch ewigen Lohn für die Mühe und für andere Wohltat, die Ihr mir erwiesen habt! Treuer und lieber Magister Christian, Gott der Herr sei mit Dir! Magister Martinek, mein Schüler, denke an das, was ich Dich treulich gelehrt habe! Magister Nikolaus, Peter, Priester der Königin, und Ihr anderen Magister und Priester, seid fleißig im Worte Gottes! Priester Havlík, predige Gottes Wort! Und alle bitte ich, fest bei der Wahrheit Gottes zu bleiben.
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Dieser Satz lateinisch.
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Abb. 17: Eine der ältesten Darstellungen Hussens findet sich in der sog. Martinitzer Bibel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Sie zeigt die Verbrennung des Johannes Hus neben der Initiale mit der Darstellung der Erschaffung der Welt. Vorlage: Císarˇ ová-Kolárˇ ová/ Danˇhelka, Abb. 2 (KNAV CˇR, Sign. 1 TB 3, fol. 11v).
34 ANTWORT AUF DIE 42 ARTIKEL, DIE VON STEFAN PA´ LECˇ DEN KOMMISSAREN VORGELEGT WURDEN [Anfang 1415]
Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 204–224 (Nr. 9).
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Einleitung Nr. 34
Hus antwortete in der vorliegenden Schrift auf 42 Klageartikel seines theologischen Gegners Stefan Pálecˇ , die dieser vor allem aus dem Traktat „Über die Kirche“ (diese Ausgabe Nr. 27) zusammengezogen hatte. Pálecˇ s Anklageartikel waren Gegenstand des kurialen Inquisitionsverfahrens, welches auf dem Konzil in Konstanz fortgesetzt wurde. Hussens Lehre von der Kirche, seine Nähe zur Theologie Wyclifs, seine aus der Bibel begründete Ablehnung papalistischer Überzeugungen, seine beißend-moralisierende Kleruskritik und seine vermeintlich kirchenrechtswidrige und aufrührerischen Predigten wurden als häretisch eingestuft. Hus – seit dem 28. November 1414 in Haft – ließ bei seiner Kommentierung der Anklageartikel keinen Zweifel daran, dass Pálecˇ , den er als „bösen“ und „feindlichen Menschen“ bezeichnete, ihn absichtlich falsch, ungenau oder sinnentstellend zitiert hatte. Im Gefängnis war es Hus aber lediglich möglich, Bibelstellen und Kirchväter als Autoritäten für die Rechtgläubigkeit seiner Lehre aus dem Gedächtnis anzuführen. Eine präzise Datierung der Schrift ist nicht möglich. Im Inquisitionsverfahren setzte Papst Johannes XXIII. am 4. Dezember 1414 eine Dreierkommission ein, die Hus in seiner Vorrede anspricht. Nach der Flucht des Papstes aus Konstanz und nach seiner Absetzung musste am 6. April 1415 durch das Konzil eine neue Kommission eingesetzt werden, die nun aus vier Mitgliedern bestand. Ihr gehörten an: Pierre d´Ailly, Kardinal von Cambrai, der Kardinal Fillastre, Bischof Stephan von Dôle und Jean de Martigny, Abt des Klosters Cîteaux. Kejrˇ (Die Causa Hus, 151) vermutet, dass Hus seine Antwort auf die Anklageartikel von Pálecˇ in der Nacht auf den 3. Januar 1415 verfasste. Im fortlaufenden Prozess entfaltete die vorliegende Schrift insofern Wirkung, als in den Anhörungen Hussens vor dem Konzil Anfang Juni 1415 einige der hier zurückgewiesenen Anklagepunkte fallengelassen wurden, wie die später angefertigten Anklageschriften (vgl. Nr. 36) gegen ihn zeigen.
Antwort auf die 42 Artikel
Ich, Johannes Hus, in der Hoffnung ein Priester Jesu Christi, wenn auch ein unwürdiger, Magister in den Künsten und Baccalaureus formatus der heiligen Theologie der Universität Prag, bekenne, dass ich ein gewisses Büchlein1 über die Kirche geschrieben habe, dessen Exem5 plar mir in der Gegenwart der Notare durch die Herren Kommissare, den Patriarchen von Konstantinopel,2 den Bischof von Castellammare3 und den Bischof von Lebus,4 vorgelegt worden ist. Diese Kommissare haben mir zur Verurteilung des genannten Büchleins einige Artikel vorgehalten, indem sie sagten, dass diese Artikel aus meinem Büchlein 10 selbst herausgezogen seien und in diesem Büchlein geschrieben stünden. Deren erster Artikel in der Reihenfolge ist dieser: 1. Die katholische oder allgemeine Kirche ist allein die Kirche aller Vorherbestimmten. 15 Ich erwidere, dass nicht dies, sondern Folgendes meine Aussage ist (Erstes Kapitel des Traktats): Die Heilige katholische, d. h. allgemeine Kirche ist die Gesamtheit aller Vorherbestimmten; das ist erwiesen durch den Hl. Augustinus, Über Johannes 32, Quaestio 4, Kapitel Recurrat; ebenso durch Kapitel 7 des Traktats am Anfang. 20
2. Keiner, der von Todsünde befleckt ist [d. h. im Sinne endgültigen Beharrens]5 gehört zu dieser Kirche. Dies steht eindeutig im ersten Kapitel gegen Ende, wo gemäß dem seligen Hieronymus gesagt wird: Wer ein Sünder ist und durch irgend25 ein Vergehen befleckt ist, der kann nicht zur Kirche Christi, d. h. zur Versammlung der Vorherbestimmten gezählt werden. Über die Buße, Distinctio 1, Kapitel Ecclesia.6 3. So wie Christus nicht durch zeitliche Güter abgesichert war und seine
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zeitlichen Güter besitzen. Das steht nicht im Buch, sondern dies: So wie Augen und Gesicht bei der Tätigkeit unbedeckt sind, damit sie den Verhüllten nicht verunstal-
1 Hussens Schrift De ecclesia (diese Ausgabe Nr. 27). 2 Hier handelt es sich nicht um den orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel, sondern um den lateinischen Titularbischof Jean de Rochetaillée (gest. 1437), der von Papst Johannes XXIII. 1412 in dieses Amt erhoben wurde. 3 Bernhard von Castellammare. 4 Jan de Borsnicz, Bischof von Lebus. 5 „Was wir in eckige Klammer gesetzt haben, sind offenbar von M. Hus im Nachhinein zwischen den Zeilen eingefügte Anmerkungen, da sie im Codex Viennensis größtenteils nicht zu finden sind.“ [Anm. d. Hrsg. Palacky´ ] 6 Decr. Grat. II C. 33 q. 3 c. 70 [= ebd., De poen., dist. 1 c. 70].
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Antwort auf die 42 Artikel
ten und für ihn keine Sturzgefahr darstellen, so waren Christus und die Apostel aus dem Glühen der Nächstenliebe und der Ablehnung der Begierde eben nicht in zeitliche Dinge in weltlicher Weise verwickelt, und solche Augen sollen als deren Stellvertreter alle Kleriker sein. [d. h. sie sollen die weltlichen Dinge nicht ungeordnet und missbräuchlich nutzen] (Das steht Kapitel 3, etwas vor der Mitte). Dies ist deutlich durch jenes Gebot in Lk 13: Haltet euch fern von aller Habgier! 7 und nach dem Apostel: Niemand, der für Gott streitet, verwickelt sich in weltliche Geschäfte! 8 Und durch den Hl. Gregor in Homilie 17 (durchweg).
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4. Kein Teil der Kirche fällt jemals heraus aus dem Leib, so wie auch nicht die verbindende Liebe. Dieser Satz steht so nicht im Buch, sondern wie folgt: So wird der Unrat der Kirche, d. h. die Vorhergewussten, aus ihr heraustreten, doch nicht wie frühere Teile, weil ja keiner ihrer Teile aus ihr endgültig her- 15 ausfällt, da die Liebe der Vorherbestimmung, die die Kirche wie durch ein Band zusammenhält, nicht herausfällt [d. h. im Sinne endgültigen Beharrens], gemäß dem Apostel in 1Kor 139, und bestätigt wird dies auch durch den Apostel in Röm 810 (dies wird behandelt im dritten 20 Kapitel, nach der Mitte). 5. Paulus war nach der irdischen Ungerechtigkeit 11 ein Gotteslästerer und kein Teil der Kirche – und gleichzeitig in der Gnade nach der Vorherbestimmung zum ewigen Leben. Dieser Satz steht nicht im Buch, sondern der folgende: Daher 25 scheint es möglich, dass so wie Paulus zugleich ein Gotteslästerer nach der irdischen Ungerechtigkeit war und zugleich ein Getreuer der Heiligen Mutter Kirche und in der Gnade nach der Vorherbestimmung zum ewigen Leben, so war Iskarioth zugleich in der Gnade nach irdischer Gerechtigkeit und doch niemals ein Teil der Heiligen Mutter Kirche 30 nach der Vorherbestimmung zum ewigen Leben, [da ihm jene Vorherbestimmung fehlte, die das endgültige Beharren einschließt]. Und so war Iskarioth, wenn auch ein Apostel oder von Christus erwählter Bischof im Sinne des Amtes, so doch niemals ein Teil der heiligen allumfassenden 35 Kirche. 6. Paulus war niemals ein Glied des Teufels [im Sinne des endgültigen Beharrens] und auch nicht Petrus, als er Christus leugnete, so wie auch 7 Lk 12,15. 8 2Tim 2,4. Unrechtsbegriff.
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1Kor 13,1–13.
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Röm 8,1–17.
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D. h. nach irdischem
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Paulus niemals Glied des Teufels war, wenn er auch einige Taten beging, die ähnlich sind den Taten derjenigen, die der Kirche Übles wollen [nach der irdischen Ungerechtigkeit], desgleichen Petrus, der schweren Meineid beging, weil der Herr es zuließ, damit er sich umso kräftiger wieder 5 erhöbe. [Dass Petrus sündigte, zog keinen Verlust der Caritas nach sich.] Ebenso bei David. (Kapitel 3 am Ende, und dort bis Kapitelschluss auch der Beweis des Gesagten.) 7. Der Vorherbestimmte kann nicht endgültig herausfallen. Dieser Satz ist im Kontext wahr, doch hat ihn der Schreiber herausgelöst. Vor Ende des dritten Kapitels findet sich folgender Wortlaut: Und ferner erhellt, dass die Gnade von zweierlei Art ist, d. h. die Gnade der Vorherbestimmung zum ewigen Leben und diejenige, aus welcher der Vorherbestimmte nicht endgültig herausfallen kann. Im Kontext ist die15 ser Satz wahr, doch hat ihn der Schreiber herausgelöst, was allerdings ohne Belang ist, solange er trotzdem nur so verstanden wird, denn so spricht auch häufig die Schrift und mit ihr gemeinsam die Heiligen. 10
8. Jeden beliebigen vorherbestimmten Sünder liebt Christus mehr als
20 irgendeinen vorhergewussten, in welcher ihm möglichen Gnade auch
immer er war. Kapitel 4, Blatt 3 wird gesagt: Es ist offensichtlich, dass Gott einen vorherbestimmten Sünder mehr liebt [im Sinne des endgültigen Beharrens] als irgendeinen vorhergewussten, in welcher zeitlichen Gnade auch 25 immer er war, weil Gott für den Vorherbestimmten beständige Seligkeit vorsieht, für den Vorhergewussten dagegen beständiges Feuer. Dies steht dort. Obwohl also Gott von sich aus beide unendlich als seine Geschöpfe liebt, liebt er doch mehr den Vorherbestimmten, weil er ihm größere Gnade und ein größeres Geschenk gewährt, das ewige Leben, das 30 einen höheren Rang hat als die bloße Gnade gemäß der irdischen Gerechtigkeit. 9. Die Vorherbestimmten haben einen verwurzelten Gnadenstand, aus dem sie nicht herausfallen können. 35 Kapitel 4 Ende: Die Vorherbestimmten indes, mögen sie auch eine Zeit lang des Gnadenstromes beraubt sein, haben dennoch eine verwurzelte Gnade, aus der sie nicht herausfallen können. Dieser Satz ist wahr im Zusammenhang. 40 10. Kapitel 5, Blatt 4 wird gesagt: Daraus erhellt, dass die Anmaßung
allzu groß wäre, wollte jemand ohne Offenbarung oder ohne jede Scheu
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behaupten, selbst ein Glied jener heiligen allumfassenden Kirche zu sein; denn niemand außer der Vorherbestimmte ist zu seiner Zeit ohne Flecken und Runzel ein Mitglied jener Kirche. Niemand sollte ohne Scheu und ohne Offenbarung behaupten, selbst ein Vorherbestimmter und Heiliger ohne Flecken und Runzeln zu sein; also ist dieser Schluss wahr . Dieser 5 Schluss erklärt sich durch jenes Wort in Koh 9:12 Niemand weiß, ob er der Gnade oder des Hasses würdig ist, und durch jenes Wort Christi in Lk 17: Wenn ihr alles getan habt, was euch vorgeschrieben ist, dann sprecht: „Wir sind unnütze Knechte“.13 Weshalb der Apostel sagt: Ich bin mir nichts bewusst, doch bin ich darum noch nicht gerechtfertigt.14 Den- 10 noch soll jeder Wanderer hoffen, ein Glied der Heiligen Mutter der allumfassenden Kirche zu sein. 11. Judas war niemals ein wahrer Jünger Christi [im Sinne des endgültigen Beharrens]. Kapitel 5, Blatt 4, steht: Judas war niemals ein wahrer Jünger Christi . Dieser Satz wird deutlich durch den seligen Augustinus, Über die Buße, Distinctio 4,15 wo er sagt: Jesus wusste nämlich von Anfang an, wer die Glaubenden waren und wer ihn verraten würde, und sagte: „Deswegen habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommt, wenn es ihm nicht gegeben ist von meinem Vater.“ 16 Daraufhin trennten sich viele Jünger von ihm und gingen nicht mehr mit ihm. Sind nicht etwa auch sie Jünger genannt worden, so das Evangelium, und doch waren sie keine wahrhaften Jünger, weil sie nicht in seinem Worte blieben, gemäß dem Wort, wie er sagt: Wenn ihr in meinem Worte bleibt, seid ihr meine Jünger .17 Da sie also kein Beharrungsvermögen hatten, insofern sie eben nicht wahrhafte Jünger Christi gewesen sind, so sind sie auch keine wahrhaften Söhne Gottes gewesen, auch wenn sie selbst so erschienen und so genannt wurden. Wir nennen also diejenigen Erwählte, Jünger Christi und Söhne Gottes, die auch so zu benennen sind, bei denen wir sehen, dass sie so fromm wie künftig18 Wiedergeborene leben, und dann sind sie wahrhaft, was sie genannt werden. Wenn sie aber das Beharrungsvermögen nicht haben, d. h. in dem, was sie begonnen haben zu sein, nicht bleiben, dann werden sie nicht zu Recht so genannt, da sie nur so genannt werden und es nicht sind. Bei ihm nämlich sind sie dies nicht, dem bekannt ist, was sie künftig sein werden, nämlich aus Guten zu Bösen Gewordene. So weit Augustinus, in Gänze zitiert auf Blatt 4 des 4. KapiKoh 9,1 (Vg.). 13 Lk 17,10. 14 1Kor 4,4. 15 Decr. Grat. II C. 33 q. 3 c. 8, mit Augustinus, De correptione et gratia, c. 8 f. (hier c. 9: PL 187,1622 B–C). 16 Joh 6,65. 17 Joh 8,31. 18 Bei Hus regeneraturos , Augustinus hat regeneratos (PL 187, 1622C). 12
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tels meines Traktats, wo am Rand ein Handzeichen ist. Es ist auch offensichtlich, dass Judas kein wahrer Jünger Christi war, ja, es gar nicht sein konnte, da seine Habgier dem entgegenstand. Denn der Erlöser, so meine ich, sagt in Gegenwart von Judas: Wenn nicht jemand 5 allem entsagt, was er besitzt, kann er nicht mein Jünger sein .19 Da also Judas bei seiner Nachfolge nicht, wie im Sinne des Herrn, allem entsagt hat, weil er eben ein Dieb20 und ein Teufel21 war, erhellt aus dem Worte des Herrn, dass Judas selbst kein wahrer Jünger des Herrn war, sondern nur ein vorgetäuschter. Daher sagt Augustinus in seinem 10 Johanneskommentar, wo er zeigt, wie die Schafe die Stimme Christi hörten:22 Aber was glauben wir – waren es nur Schafe, die die Stimme hörten? Siehe, auch Judas hörte sie, und der war ein Wolf, und er folgte, aber ins Schafsfell gehüllt lauerte er dem Hirten auf . So weit Augustinus. 15
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12. Die Kirche der Vorherbestimmten, ob diese nach der irdischen Gerechtigkeit nun in der Gnade sind oder auch nicht, ist ein Glaubensartikel, und zwar als Kirche ohne Fleck und Runzel, heilig und unbefleckt. Und das ist die, die Christus die seinige nennt. Das ist nicht der Satz in meinem Büchlein, sondern nur so wie folgt: Kapitel 7, Blatt 1 wird am Ende bei Seitenwechsel gesagt: Doch in dritter Beziehung versteht man die Kirche als Versammlung der Vorherbestimmten, ob diese nach der irdischen Gerechtigkeit nun in der Gnade sind oder auch nicht; und in dieser Beziehung ist die Kirche ein Glaubensartikel, über den der Apostel in Eph 5 spricht: „Christus liebte die Kirche und gab sich selbst für sie hin, um sie zu heiligen nach ihrer Reinigung durch das Wasserbad im Wort des Lebens, auf dass er sich selbst eine herrliche Kirche bereite, die keinerlei Flecken noch Runzel noch irgendetwas dergleichen habe, sondern heilig und unbefleckt sei“.23 Welcher Gläubige, frage ich, zweifelt, dass „Kirche“ hier alle Vorherbestimmten bezeichnet, die, wie wir glauben müssen, die allumfassende Kirche, die Braut Christi ist, heilig und unbefleckt. Daher ist jene heilige Kirche objektiv ein Glaubensartikel, an den wir fest glauben müssen gemäß jenem Satz im Glaubensbekenntnis: Ich glaube an die heilige katholische Kirche. Und von ihr sprechen die Heiligen Augustinus, Hieronymus, Gregor und die anderen, deren Worte an den Anfang des Traktats gesetzt werden. Lk 14,33. 20 Joh 12,4–6. 1723). 23 Eph 2,25–27.
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Augustinus, In Ioannis ev. 45.10,10 (PL 35,
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13. Kapitel 8, Blatt 2: Alle Frevler aber [d. h. jene, die nicht nach dem Glauben leben, von dem durch die Liebe geformten Glauben abfallen] sind nach der irdischen Gerechtigkeit Ungläubige, weil es ja unmöglich ist, dass einer tödlich sündigt, ohne in gewissem Ausmaß vom Glauben abzufallen. Denn wenn sie die Strafe bedächten, die denen droht, die dergestalt sündigen, und wenn sie keinerlei Zweifel bezüglich der göttlichen Kenntnis hegten und daran, dass diese alles erfährt und bei ihrer Sünde zugegen ist, dann würden sie unzweifelhaft nicht solcherart sündigen.24 Dieser Satz wird gestützt durch jenes Jesajawort:25 Deine Fürsten sind Ungläubige 26, Diebesgesellen, allesamt nur auf Gaben aus, stets auf der Jagd nach Geschenken. Sieh, der Prophet nennt die Kirchenfürsten Ungläubige wegen ihrer Vergehen! All solche sind nämlich untreue Knechte, indem sie ihrem obersten Herrn die Treue nicht halten, und treulose Söhne, indem sie Gott Vater nicht den Gehorsam, die Furcht und die Liebe bewahren. Ebenso wird dieser Satz gestützt durch jenes Wort des Apostels an Titus im ersten Kapitel: Sie geben vor, Gott zu kennen, verneinen es aber durch ihre Taten .27 Alle Frevler nämlich verneinen durch ihre Taten Gott. Und weil die im Frevel Lebenden von den verdienstvollen Werken der Seligkeit abfallen, fallen sie auch von dem durch die Liebe geformten Glauben ab, weil der Glaube ohne die Werke tot ist.28 Daher sagt der Herr im Evangelium:29 Wer, glaubst du, ist ein treuer Knecht und ein kluger, den der Herr über seine Familie gesetzt hat, damit er ihnen Speise gebe zur rechten Zeit? Und dann sagt er:30 Wenn jener Knecht in seinem Herzen spricht: „Mein Herr kommt noch nicht’, und anfängt seine Mitknechte zu schlagen etc., da wird der Herr jenes Knechts kommen und wird ihm seinen Teil geben bei den Ungläubigen .31 Warum aber sollte der gerechte Herr jenem Knecht, den er über seine Familie gesetzt hat, seinen Teil bei den Ungläubigen geben, wenn nicht aus dem Grund, dass jener ungläubig war? Und daher hat er zuvor gesagt: Wer, glaubst du, ist ein treuer Knecht?32 Darum sagt das Dekret des heiligen Gregor:33 Allein der Gehorsam ist die Tugend, welche das Verdienst des Glaubens besitzt, ohne welche ein jeder überführt wird, ungläubig zu sein, auch wenn er gläubig zu sein scheint. De ecclesia VIII (oben S. 396 f.). Nach Wyclif, Trialogus III.2 (ed. Lechler, 135,2 ff.). Jes 1,23. 26 infideles im Vulgatatext hier von den Untreuen; Hus denkt an den tätigen Glauben im Sinne der fides caritate formata, d. h. an ein Liebes- und Treueverhältnis. 27 Tit 1,16. 28 Jak 2,26. 29 Mt 24,45. 30 Mt 24,48–51. 31 Im Bibeltext hypocritis . 32 Mt 24,45. 33 Findet sich nicht bei Gregor, sondern bei Isidor von Sevilla (PL 83, 1182 A). 24 25
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14. Die Worte Christi an Petrus „Was immer du bindest“ 34 erschrecken aus Mangel an Einsicht viele Christen, so dass es zu sklavischer Furcht kommt, und andere lassen sich hierdurch zu anmaßenden Gedanken über die Fülle der Macht verleiten. Kapitel 10, Blatt 2 wird gesagt: Auch diese Worte aus Mt 18: „Was immer ihr bindet“ 35, Joh 20: „Empfanget den Heiligen Geist! Welchen ihr [die Sünde] erlasst“ 36 und Mt 16: „Was auch immer du bindest “37 – diese Worte erschrecken aus Mangel an Einsicht viele Christen, so dass sie in sklavischer Weise fürchten, und andere lassen sich hierdurch zu anmaßenden Gedanken über die Fülle der Macht verleiten. Daher ist als Erstes vorauszusetzen, dass ein Wort des Erlösers nötig ist über die Wahrheit der Predigt, weil es nicht möglich ist, dass der Erlöser irgendetwas löst oder bindet, ohne dass jene Lösung oder Bindung im Himmel gilt. Aus Mangel an Einsicht in jene Worte Christi werden viele einfältige Christen erschreckt, in dem Glauben, dass die Priester – seien sie nun gerecht oder ungerecht – wann immer sie wollen, sie diese auch binden können und ihnen die Sünden behalten. Und die unwissenden Priester täuschen sich, indem sie sich die Macht anmaßen, zu binden oder zu lösen, wie und wann es ihnen gefällt; viele Unkundige und Unwissende nämlich sagen, dass sie jeden beliebigen Menschen, der ihnen bekennt, erlösen können von jeder beliebigen Sünde, ob er nun Buße tut oder auch nicht, in Unkenntnis, dass ihnen bei vielen Sünden die Ausübung versagt ist und dass ihnen ein Heuchler lügnerisch beichten kann, ohne Zerknirschung über die Sünde; und für diese Tatsache gibt es viele Beispiele. Und so erhellt die Meinung des Apostels, dass ein Buchstabe tötet, der Geist aber Leben schenkt.
15. Wenn der Papst oder ein anderer vorgibt, unter welchem Zeichen auch immer zu lösen oder zu binden, dann wird eben hierdurch gelöst oder 30 gebunden. Denn wer dies zugibt, hat folglich auch zuzugeben, dass der Papst sündenunfähig sei und somit Gott; andernfalls könnte er irren und abweichend handeln vom Schlüsselamt Christi. Kapitel 2, Blatt 4 wird zum 15. Artikel gesagt: Die Bindung oder Lösung durch Gott ist ganz einfach die erste, und offensichtlich wäre es 35 eine blasphemische Anmaßung, zu behaupten, dass ein Mensch die gegen einen solchen Herrn begangene Bösartigkeit vergeben könne ohne die Billigung ebendieses Herrn. Denn aufgrund der Allgegenwärtigkeit Gottes ist es notwendig, dass er selbst zunächst löst oder bindet, wenn irgendein Stellvertreter so handelt, und kein Artikel des Glaubens darf 34
Mt 16,19.
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Mt 16,19.
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für uns verbindlicher sein als der, dass es unmöglich irgendein Glied der streitendenden Kirche löse oder binde, außer so weit es dem Haupt der Kirche, unserem Herrn Jesus Christus gleichgestaltet ist. Daher soll sich der Gläubige hüten vor diesem Wort: Wenn der Papst oder ein anderer vorgibt, durch irgendein Zeichen zu lösen oder zu binden, dann wird eben hierdurch gelöst oder gebunden. Denn wer dies zugibt, hat folglich auch zuzugeben, dass der Papst sündenunfähig und somit Gott ist, andernfalls könnte er irren oder abweichend handeln vom Schlüsselamt Christi. Dies wird deutlich am vereinzelten Ausschluss der Buße oder von Teilen der Buße, wie unten in den Beweisen beschrieben. Das beweist die Handlung des Herrn Papstes, der stets bei der Absolution die Zerknirschung und das Bekenntnis voraussetzt, und wenn einem Schuldigen der Wortlaut der Absolution zugesprochen wird, der die zu erklärenden Umstände seiner Tat verschwiegen hat, dann gilt durch diese Tat der Wortlaut dieser Absolution als wirkungslos. Dies erhellt auch daraus, dass viele Priester die Beichtenden nicht lossprechen, solange diese ihre größeren Verbrechen aus Scham verschweigen oder zwar bekennen, aber keine Zerknirschung haben. Denn der Vergebung muss vorausgehen: erstens die Zerknirschung, zweitens der Wille, weiterhin nicht zu sündigen, drittens das wahre Bekenntnis und viertens die Hoffnung auf Gnade. Das Erste wird deutlich in Ez 18, wo der Herr sagt: Wenn der Unfromme Buße tut ,38 das Zweite durch Joh 5 und 8: Sündige fortan nicht mehr ,39 das Dritte durch Lk 17: Gehet hin zeigt euch den Priestern,40 und das Vierte durch Mt 9: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.41 Weitere Belege für obige These folgen im zehnten Kapitel anhand der Heiligen Hieronymus, Augustinus, Richard42, durch den Lehrer der Sentenzen,43 der aus den Worten des seligen Hieronymus anführt:44 Hier wird offen gezeigt, dass Gott dem Urteil einer Kirche nicht folgt, die durch Erschleichung und Unwissenheit urteilt , und hinzufügt:45 Zuweilen nämlich ist der, der nach draußen geschickt wird, d. h. durch den Priester verurteilt wird, außerhalb der Kirche zu sein, wahrhaft darinnen, und wer in Wahrheit draußen ist, scheint darinnen gehalten zu werden durch das falsche Urteil der Priester. So weit der Lehrer. Und wiederum sagt er:46 Ein Priester, der andere bindet und löst, muss höflich sein und gerecht, sonst tötet er oft die Seelen, die doch eigentlich nicht sterben, und macht lebendig, die eigentlich nicht leben, und so verfällt er dem Urteil der Verfluchung in Ez 18,21. 39 Joh 5,14; 8,11. 40 Lk 17,14. 41 Mt 9,2. 42 Richard von Chichester? (1197/98–1253). 43 Petrus Lombardus (1100–1160). 44 Petrus Lombardus, Sent. I.18,6 (PL 192,887). 45 A. a. O, I.19,5 (PL 192,892). 46 Ebd. 38
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Mal 2: „Ich werde eure Segnung verfluchen, und eure Verfluchungen werde ich segnen.“ 47 Das wird auch deutlich durch viele Stellen des heiligen Gregor, [so etwa] Causa XI, quaestio 3, Kapitel Plerumque .48 5 16. Kapitel 11, Blatt 2 heißt es: Ein jedes Wort der Schrift und besonders
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des Evangeliums, was in den Ohren der Priester so klingt, als sollten sie reich und genusssüchtig sein, berühmt in der Welt und für Christus keinerlei Schimpf erleiden, das käuen sie endlos wieder, verkünden es laut und weiten es über Gebühr aus; was aber sich anhört wie Nachfolge Christi, wie Armut, Dienst, Demut, Duldsamkeit, Reinheit oder Geduld, das unterdrücken sie, biegen es hin, wie’s ihnen gefällt oder weisen es offen zurück als ohne Belang für das Heil. Das bestätigt der selige Gregor, Homilie 17, indem er jenes Wort Christi in Mt 9 anführt:49 Die Ernte ist groß, doch der Arbeiter sind nur wenige, 50 und dazu vermerkt: Das können wir ohne großen Kummer nicht aussprechen, denn wenn es auch Leute gibt, die Gutes hören, so fehlen doch Leute, die es sagen. Siehe, die Welt ist voll von Priestern, und dennoch findet sich in der Ernte des Herrn nur selten ein Arbeiter; denn das Priestertum haben wir wohl übernommen, aber das Werk des Priestertums haben wir nicht erfüllt . Und unten sagt er:51 Zu weltlichen Geschäften sind wir hinabgesunken und und haben das eine um der Ehre willen übernommen, und etwas anderes bieten wir dar durch die Amtshandlung, die Predigt verlassen wir, und, wie ich sehe, werden wir Bischöfe zu unserer Strafe gerufen, die wir den Titel festhalten und nicht die Tugend. Und darunter:52 Wir machen uns keine Sorge um die Seelen der Herde, wir rufen nach unseren Einkünften, wir begehren Irdisches und haschen angestrengt nach menschlichem Ruhm, die Sache Gottes verlassen wir, zu weltlichen Geschäften eilen wir hin, den Rang der Heiligkeit nehmen wir an und verwickeln uns doch in irdische Werke. Dies und vieles andere sagt Gregor in dieser Predigt und oft auch anderswo, in der Regula Pastoralis, in den Moralia und im Register. Ebenso der heilige Bernhard im Liber Florum im Kapitel Aestimo: Warum ist es so, dass die Kleriker als etwas anderes erscheinen, etwas anderes sein wollen? 53 Und im Buch an Papst Eugenius54.55 und in Predigt 33 über das
Mal 2,2. 48 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 88. 49 Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia I 17,3 (PL 76, 1139 C). 50 Mt 9,37. 51 Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia I 17,14 (PL 76,1146 A). 52 Vgl. a. a. O. (1146 C–D). 53 Zitat nicht hier, sondern im folgenden Werk (siehe nächste Anm.). 54 Bernhard von Clairvaux, De consideratione III5 (PL 182,771 B): hier voriger Satz; der folgende auch Liber Florum VI33. 55 Bernardus Paganelli (gest. 1153), Papst Eugen III. 47
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Hohe Lied56 sagt er:57 Alle sind Freunde, und alle sind Feinde, alle engste Vertraute, und alle Gegner, alle sind Hausdiener, und keiner von ihnen ist friedfertig ;58 sie sind Diener Christi und dienen dem Antichrist, sie schreiten einher mit den Ehren der Güter des Herrn, dem sie die Ehre nicht erweisen. So weit Bernhard.
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17. Die Autorität eines Papstes, der nicht dem Leben Christi folgt, ist nicht zu fürchten. Dieser Satz steht nicht im Büchlein geschrieben, sondern der hier, zu jenem konträr: Die Untergebenen sind gehalten, den tugendhaften Vorgesetzten, ja auch den lasterhaften willig und freudig 10 zu gehorchen (Kapitel 19, Blatt 3). Wahr aber ist: Wenn der Papst seine Macht missbrauchen würde, dann wäre solcher Missbrauch oder der Anspruch auf eine missbrauchte Macht nicht sklavisch zu fürchten. Und so haben die Herren Kardinäle auch nicht, wie ich meine, die Macht Gregors XII. vor dessen Absetzung gefürchtet, als sie ihm in der 15 Tat widerstanden, indem sie sagten, dass er gegen seinen eigenen Eid seine Macht missbrauche. 18. Die päpstliche Würde hat ihren Ursprung vom Kaiser bei den 20 Römern. Dieser Satz steht nicht im Büchlein: Wahr aber ist, dass die päpstliche Würde, was die weltliche Herrschaft anbetrifft und den Ornat und die Überordnung über andere Bischöfe und Unterordnung anderer Kirchen, dass diese päpstliche Würde ihren Ursprung aus dem Privileg des Kaisers Konstantin hat (wie aus Distinctio 96, Kapitel Constanti- 25 nus 59 erhellt) und später von Kaiser Phocas60. Denn das Konzil von Nicäa61 hat dem römischen Pontifex das Privileg übertragen, wie Augustus vor den übrigen Königen, so vor den übrigen Bischöfen als Principalis zu gelten. Dessen ungeachtet hat die päpstliche Würde 30 ihren Ursprung unmittelbar vom Herrn Jesus Christus. 19. Für niemanden darf gelten, dass er Kardinal irgendeiner (partikulären oder universellen) Kirche sei, wenn er nicht dem Christus und den Aposteln gleichförmig werde in seiner Lebensführung. 35 Dieser Satz steht nicht im Büchlein. 56 Statt canonica muss es Cantica heißen. 57 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 33.15 (PL 183,959A). 58 Lücke im Zitat: nulli pacifici , [omnes proximi, et omnes quae sua sunt quaerunt] ministri sunt Christi etc. Vgl. den Auszug in Nr. 2. 59 Decr. Grat. I dist. 96 c. 13 f. 60 Kaiser Phokas (602–610) soll die Schenkung bestätigt haben (nach Marsilius von Padua). 61 325 n. Chr.
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20. Der Papst, der dem Leben des seligen Petrus nicht gleichförmig ist, darf nicht Papst oder Stellvertreter Petri genannt werden, vielmehr des Antichrist. Dieser Satz steht nicht im Büchlein. 21. Ein Papst, der im Leben nicht gleichförmig ist, der ist kein echter Prälat, noch sind solche Kardinäle Nachfolger der Apostel, sondern die Nachfolger des Judas, Diebe und Halunken. So steht es nicht im Büchlein, sondern so (Kapitel 14, Blatt 3): Wenn der Papst ein zutiefst demütiger Mensch ist, der die weltlichen Ehren und den Gewinn der Welt geringschätzt, wenn er ein Hirte ist, der aus seiner Arbeit den Namen des Wortes Gottes zieht, über welche Hirtenarbeit der Herr dem Petrus gesagt hat: „Weide meine Schafe“ ; 62 wenn er seine Schafe durch das Wort und das Beispiel seiner Tugenden 63 weidet und so seiner Herde zum geistigen Vorbild geworden ist, wie Petrus lehrt, 64 wenn er milde ist, duldsam, rein und seine Arbeit im Dienste der Kirche peinlich bedacht tut: dann ohne Zweifel ist er ein echter Stellvertreter Jesu Christi, offenbar vor Gott und den Menschen, so weit hierüber der äußere Eindruck ein Urteil erlaubt. Wenn er aber diesen Tugenden zuwiderlebt, (da doch Christus nichts gemein hat mit Belial,65 und „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“, sagt Christus 66): Wie kann er dann ein wahrer und unstrittiger Stellvertreter Christi oder Petri sein, und nicht vielmehr ein Stellvertreter des Antichrist, der Christus in Sitten und Lebensführung zuwiderhandelt? [Und das ist im Sinn des Verdienstes gemeint, nicht im Sinne der Pflicht.] Deswegen hat Christus den Petrus, als dieser ihm in Wille und Wort entgegenstand (Mt 16) 67, nach Verheißung der Übergabe der Schlüssel, einen Satan, d. h. Gegner, genannt und gesagt: „Weiche hinter mich, Satan, du bist mir ein Ärgernis, weil du nicht sinnst, was Gottes ist, sondern der Menschen.“ 68 Wenn also Petrus, der erste Stellvertreter Christi, der von ihm selbst Erwählte und der Kirche in besonderer Weise Zugewiesene, wenn dieser von Christus Satan genannt worden ist, der doch aus dem Gefühl der Liebe ihm davon abrät, die Todesstrafe auf sich zu nehmen: Warum sollte ein anderer, der in seiner Lebensführung Christus noch viel mehr entgegengesetzt ist, nicht wahrhaft Satan genannt werden und folglich Antichrist oder dessen Stellvertreter oder oberster Diener des Antichrist? Dies steht Kapitel 9,69 Blatt 3, und wird dort gestützt durch die Worte des seligen Bernhard: Sie sind Diener Christi und dienen dem Antichrist,70 und anhand der Worte des seligen 62 67
Joh 21,15. Mt 12,22.
Zu lesen ist virtutum. 64 1Petr 4,1 ff. 65 2Kor 6,15. Mt 16.23. 69 Tatsächlich Kap. 14. 70 Vgl. Anm. 59.
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Augustinus,71 der ausführlich beweist, dass, so wie in Petrus die Guten bezeichnet sind, so in Judas die Schlechten, die dessen Stellvertreter sind. Und ebenda72 der heilige Ambrosius 22. Quaestio am Ende: Hütet euch, Brüder, vor der Lüge, es ist nämlich Lüge, sich Christ zu nennen und die Werke Christi nicht zu tun. Es ist eine Lüge, sich Bischof, Pries- 5 ter oder Kleriker zu nennen, und diesem Stande Konträres zu tun .73 Ebenso in Causa 2, Quaestio 7: Alle Prälaten werden nicht für Prälaten gehalten; denn nicht der Name macht den Bischof, sondern die Lebensführung.74 Ebenso Augustinus in den Quaestiones Orosii: Er soll wissen, dass er kein Bischof ist, wenn er zu herrschen begehrt, nicht zu helfen.75 10 Ebenso sagt in der 40. Distinctio unter der Überschrift Nicht der ist wahrhaftig ein Priester, der Priester genannt wird 76 Chrysostomus: Es gibt viele Priester und doch nur wenige Priester . Derselben Meinung sind die Heiligen Hieronymus, Gregor, Remigius77 und Cyprian78. 22. Der Papst ist jenes Tier, von dem in der Apokalypse gehandelt wird. Diesem ist es gegeben, Krieg zu führen mit den Heiligen. Dieser Satz steht nicht im Büchlein.
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20 23. Wer kann erlaubterweise gegen ein päpstliches Verbot predigen. Wenn dieser Satz als Frage formuliert wird (wie er im Büchlein allerdings nicht formuliert ist), so könnte darauf geantwortet werden, dass der gegen das päpstliche Verbot erlaubterweise predigen könne, dem Gott befiehlt, dagegen zu predigen. So haben die Apostel gegen das Verbot der Bischöfe von Jerusalem gepredigt, und so hat der hl. Hila- 25 rius79 gegen das Verbot jenes Papstes gepredigt, der die Häresie der Arianer förderte. Ja, der Satz, dass man erlaubterweise gegen das päpstliche Gebot predigen kann, ist sogar wahrgemacht worden durch die Herren Kardinäle, die gegen das Verbot des Papstes Gregor XII.80 vor seiner Absetzung Vorsteher aussandten, um gegen den Papst in allen 30 Königreichen zu predigen, die dann gegen ihn predigten, der vom Papstamt noch nicht suspendiert war. Ebenso kann jemand mit Appellation gegen das päpstliche Verbot predigen.
Augustinus, In Ioannis Ev. L 12 (PL 35,1763); vgl. Decr. Grat. II C. 24 q. 1 c. 6. D. h. an nämlicher Stelle in De ecclesia. 73 Decr. Grat. II C. 22 q. 5 c. 20. 74 A. a. O., C. 2 q. 7 c. 27 a. E. 75 Dialogus Quaestionum LXV sub tit. Oros. 65 (PL 40,752), letzter Satz. 76 Decr. Grat. I dist. 40 c. 12. 77 Remigius von Reims (ca. 436–533). 78 Cyprian von Karthago (ca. 200/210–258). 79 Hilarius von Poitiers (ca. 315 – ca. 367). 80 Angelo Correr (ca. 1335 – 1417; Papst 1406–1415). 71 72
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24. Kapitel 9 am Ende: Nicht weil der Papst Stellvertreter Petri ist, sondern weil er eine große Schenkung hat, ist er der Allerheiligste. Dieser Satz steht nicht im Büchlein, sondern dieser: Nicht darum nämlich, weil der Papst der Stellvertreter Petri ist und weil er über eine 5 große Schenkung verfügt, ist er der Allerheiligste [d. h. nach Verdienst, wenn auch gewiss nach Autorität und Amt], sondern wenn er Christus nachfolgt in Demut, Milde, Geduld und Mühe aufgrund eines engen Bandes der Liebe, dann ist er heilig in beiderlei Sinn. Offensichtlich hat jener feindselige Mensch, der all diese Falschheiten streut, sowohl in 10 der Mitte als auch am Ende den wahren Wortlaut verfälscht.
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25. Kapitel 15, Blatt 3: Des Papstes Vorrang und Einsetzung fließt aus der Macht des Kaisers . Dies ist zu verstehen bezüglich der Ordnung der zeitlichen Güter. Wahr ist es bezüglich der Präfektur über die anderen Kirchen, weshalb in Distinctio 96 der Kaiser spricht:81 Wir haben ihm die Amtsgewalt, Strenge und Würde eines Kaisers verliehen, indem wir entschieden haben, dass er das Prinzipat innehabe sowohl über die vier Bischofsitze Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel [als auch82 über alle Gemeinden Gottes im ganzen Erdenkreis und als Pontifex ...] allen Priestern der ganzen Welt gegenüber erhöht und deren Oberhaupt sei. Ebenso sagt das Dekret in Distinctio 63: Ich, Ludwig Kaiser Augustus, verfüge und gestehe durch diesen Vertrag mit unserer Bestätigung dir, dem seligen Petrus, dem Fürsten der Apostel, und durch dich [deinem] Stellvertreter, dem obersten Priester Herrn Pascalis 83 und seinen Nachfolgern für alle Zeiten den römischen Staat zu, so wie ihr ihn von unseren Vorgängern bis jetzt in unserer Macht und Diktion regiert und verwaltet habt.84 Hier haben wir doch den klaren Beleg für die Einsetzung des Papstes durch den Kaiser, sowohl bezüglich der anderen Gemeinden, als auch bezüglich der Herrschaft in Rom und bezüglich der anderen Priester. Gleichwohl hat die heilige römische Kirche nicht von den Aposteln oder vom Kaiser, sondern vom Herrn höchstselbst den Primat, und der Papst hat sein geistliches Regiment unmittelbar von Gott selbst und nicht vom Kaiser erhalten.
35 26. Wehe denen, die, wenn sie beim Papst Werke sehen, die Christus
unmittelbar widersprechen, ihn dennoch allerheiligsten Vater nennen
Decr. Grat. I dist. 96 c. 13 f. 82 Auszug bei Hus syntaktisch entstellt, von der Konstruktion fehlt die zweite Hälfte (oben in eckiger Klammer). 83 Papst Paschalis I (817–824). 84 Decr. Grat. I dist. 63 c. 30. 81
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[gemäß Verdienst, auch wenn sie ihn aufgrund der Autorität und des Amtes so nennen mögen]. Dieser Satz wird dort sogleich belegt durch jenes Wort in Jes 5: Wehe denen, die das Schlechte gut nennen .85 Daher sage ich, was für mich in Hinsicht auf einen jeden Menschen feststehen würde, wenn er 5 Taten beginge, die Christus direkt widersprechen, dass ich, sofern ich sähe, wie er herumhurt oder irgendein anderes Verbrechen begeht, und ihn einen Allerheiligsten oder auch nur Heiligen nennte, dann lügen würde, sei es aus Schmeichelei oder Furcht oder aus Gewohnheit; und ich würde ihm mehr schaden, als wenn ich aus Nächstenliebe und 10 Mitgefühl sagte: O, du Feind Christi, warum tust du das? Doch indem ich dies sage, verneine ich nicht, sondern bestätige sogar, dass die dienende päpstliche Würde auf der Welt unter anderen dienenden Würden die allerheiligste ist, aber nicht diese – wie Gregor, Hieronymus und an-dere Heilige sagen – heiligt den Menschen, sondern die gute 15 Lebensführung. 27. Christus gehorchte dem Teufel. Dieser Satz steht nicht im Büchlein, sondern geäußert wird dieser: Christus stimmte der Überredung des Teufels zu, weshalb es Kapitel 20 17, Blatt 3 heißt: Der Teufel überredete Christus, mit ihm zur heiligen Stadt und auf einen sehr hohen Berg zu gehen. Und Christus stimmte ihm darin höchst tugendhaft zu und erfüllte seinen Willen. Das sind die Worte, die dort stehen. Wenn also jemand will, dass einer Überredung zustimmen gleichbedeutend sei mit gehorchen, dann hat Christus 25 gehorcht: Aber so wird Gehorsam weder davor noch danach verstanden. 28. Jeder gläubige Katholik sollte prüfen, ob ein Befehl des Papstes in der Lehre des Evangeliums und der Apostel stehe, und wenn der Befehl es ist, 30 ist ihm zu gehorchen, und wenn nicht, nicht. Das ist nicht meine Aussage, sondern die in Kapitel 18, Blatt 5: Ein treuer Jünger Christi muss abwägen, wann immer vom Papst ein Befehl ergeht, ob es ausdrücklich ein Befehl irgendeines Apostels oder des Gesetzes Christi ist oder eine Grundlage hat im Gesetz Christi; und falls sich das erweist, muss er ehrfürchtig und demütig einem solchen Befehl gehor- 35 chen; falls er aber wahrheitsgemäß erkennt, dass der Befehl des Papstes dem Befehl oder Rat Christi zuwiderläuft oder zum Übel der Kirche ausschlägt, dann muss er kühn widerstehen, um nicht zum Mittäter aus stillschweigendem Einverständnis zu werden. Ebenso habe ich Kapitel 17 am 85
Jes 5,20.
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Ende geschrieben: Wer nach dem Gesetz Gottes befiehlt und gehorcht, verfährt im Bereich des Gehorsams korrekt; und sowohl mit Bezug auf den, der befiehlt, als auch auf den, der gehorcht, ist Dtn 24 gesagt: „Du sollst tun, was auch immer die levitischen Priester dich gelehrt haben, 5 nach dem, was ich ihnen geboten habe“ 86, wo erwähnt ist, dass der Befehlende nur befehlen darf, was im Einklang ist mit dem Gesetz, und der Gehorchende dem vollkommen gehorchen muss und niemals gegen den Willen des allmächtigen Gottes. Dafür habe ich an anderer Stelle Belege aus Augustinus, Gregor, Hieronymus, Chrysostomus87, 10 Isidor88, Bernhard, Beda89 samt der Heiligen Schrift und den Kanones angeführt, die ich hier alle der Kürze halber weglasse; lediglich das Wort Isidors aus Causa 11, Quaestio 3 sei hier zitiert: Wenn der, der vorsteht, etwas gegen den Willen Gottes oder gegen das in der Heiligen Schrift ersichtlich Gebotene sagt oder befiehlt, so soll er als falscher Zeuge Gottes 15 oder als Schänder des Heiligen angesehen werden .90 Das steht dort. 29. Wenn Mensch tugendhaft ist, dann handelt er auch tugendhaft, was immer er tut. 20 30. Wenn ein Mensch lasterhaft ist, dann handelt er auch lasterhaft, was
immer er tut. So steht es geschrieben Kapitel 19, Blatt 3: Darüber hinaus ist anzumerken, dass die natürlichste Einteilung der menschlichen Werke [d. h. derer, die aus dem Willen hervorgehen] die ist, dass sie entweder tugend25 haft sind oder lasterhaft. Es ist offensichtlich, dass wenn der Mensch lasterhaft ist und etwas tut, er dies dann auch in lasterhafter Weise tut, und wenn er tugendhaft ist und etwas tut, er dies dann auch in tugendhafter Weise tut; so wie das Laster, was man Verbrechen nennt oder auch Todsünde, das Handeln des Subjekts oder Menschen generell verdirbt, so 30 belebt auch die Tugend das Handeln des tugendhaften Menschen so sehr, dass es von dem, der in Gnade steht, heißt, er lebe verdienstlich und bete sogar beim Schlafen oder jeder beliebigen Handlung, wie es die Heiligen Augustinus, Gregor und andere sagen. So wie der Logiker wohl die Grammatik gebraucht, aber nicht wie der Grammatiker, so kann der 35 Lasterhafte außerhalb der Gnade eine gute Handlung der Art nach tun, aber nicht wie der Gute; doch wenn er sich wieder zur Gnade erhebt, wird er von neuem belebt. Und dieses Wort wird untermauert durch Dtn 24,8. 87 Johannes Chrysostomus, Patriarch von Konstantinopel (ca. 334/354– 407). 88 Isidor von Sevilla, Erzbischof von Sevilla (ca. 560–636). 89 Beda Venerabilis (ca. 672–735). 90 Decr. Grat. II C. 11 q. 3 c. 101.
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jenes Wort des Erlösers in Lk 6: Wenn dein Auge rein ist, dann ist auch dein ganzer Leib voller Licht ,91 d. h. wenn die Absicht gut ist in der Gnade zum Werk, dann wird dein ganzer Leib, d. h. die Gesamtheit all deiner Werke voll Licht sein, weil sie rein ist vor Gott, wenn aber dein Auge, d. h. deine Absicht böse ist, verbogen vom Laster, dann wird dein ganzer Leib, d. h. die Gesamtheit all deiner Werke finster und lasterhaft sein. Daher fordert der Apostel zurecht: Tut alles zum Ruhme Gottes, 2Kor 10,92 und 1Kor am Ende: Alles bei euch soll in Liebe geschehen .93 Daher ist die gesamte Lebensweise eines Menschen in der Liebe tugendhaft und die gesamte Lebensweise eines Menschen außerhalb der Liebe lasterhaft. Dies in Kapitel 19 Blatt 3. Dieses Wort kann belegt werden mit den Worten Gottes in Dtn 28,94 wo er zum Volk und zu jedem Menschen sagt, dass der, der seine Gebote hält, gesegnet ist in seinem Haus, gesegnet auf dem Acker, gesegnet, wenn er hinaus- und hineingeht, gesegnet, wenn er schläft und aufsteht. Und andererseits der, der seine Gebote nicht hält, ist verflucht in seinem Hause, verflucht auf dem Acker, verflucht, wenn er hinaus- und hineingeht, verflucht, wenn er schläft und aufsteht und wenn er andere Werke tut, wie eben dort deutlich ist. Der selige Augustinus zeigt in seinem Psalmenkommentar,95 dass ein guter Mensch, was immer er tut, Gott lobt: womit er sagt, dass einer, der zum Markt geht, nicht um zu betrügen, Gott lobt, dass einer, der auf den Acker geht, um zu arbeiten, nicht um die Grenze zum Nachbarn zu ändern, Gott lobt, dass der, der im Chor singt, Gott lobt, und wenn er vom Chor kommt, um seinen Bauch zu sättigen, nicht um sich vollzustopfen, Gott lobt, und so bei allen Handlungen, die er durchgeht. Wenn also nach dem heiligen Gregor der Schlaf der Heiligen nicht ohne Verdienst ist, wie sollte dann eine andere Handlung, die aus dem Willen hervorgeht, ohne Verdienst und folglich nicht tugendhaft sein? Ähnlich verhält es sich mit dem Werk eines Menschen, der im Verbrechen lebt, über den im Gesetz gesagt wird: Was immer der Unreine anrührt, ist unrein. Daher sündigt der Priester, der in Todsünde lebt, wie die Gelehrten sagen, was immer er tut, indem er es tut. Daher wird bei Maleachi gesagt: Zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet und gesagt habt: Worin haben wir deinen Namen verachtet? Ihr opfert über meinem Altar besudeltes Brot. Wer ist unter euch, der die Tore schließt und meinen Altar umsonst entzündet? Ich habe kein Wohlgefallen an euch, spricht der Herr der Heerscharen, und die Gabe von eure r Lk 11,34–36. 92 1Kor 10,31. 93 1Kor 16,14. 94 Dtn 28,1–68. 95 Psalm hier nicht angegeben. Es kann sich aber nur um den im übernächsten Abs. erwähnten Ps 146 (= 147) handeln; vgl. Augustinus, Enarrationes in psalmos 146.2 (PL 37,1900). 91
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Hand will ich nicht empfangen .96 Da seht, der Herr sagt, dass die schlechten Priester seinen Namen verachten, indem sie über dem Altar ihr besudeltes Brot darbringen. Gregor sagt in Causa 1, Quaestio 1, Kapitel multi secularium :97 Wir besudeln das Brot, dass heißt den Leib 5 Christi, wann immer wir unwürdig an den Altar treten und schmutzig das reine 98 Blut trinken. Augustinus sagt über Ps 146,99 d. h. über Lobet den Herrn, denn er ist gut :100 Wenn du das Maß, das der Natur geschuldet ist, durch Maßlosigkeit im Fressen101 verlässt und in Weinseligkeit dich volllaufen lässt, so mag deine Zunge Gott noch so sehr preisen, dein 10 Leben lästert ihn. So jener.
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31. Keinem Prälaten ist zu gehorchen, außer in den Ratschlägen und Weisungen Christi (Kapitel 19, Blatt 4). Dieser Satz steht nicht im Büchlein, sondern der folgende: Keinem Prälaten nach den heiligen Aposteln sind wir gehalten zu gehorchen, außer insoweit er lehrt und rät die Ratschläge und Weisungen Christi. Dieser Satz wird richtig verstanden durch das Vorausgehende, denn zuvor wird im selben Kapitel gesagt: In den tugendhaften Dingen also ist dem Vorgesetzten zu gehorchen, in den lasterhaften ihm zu widerstehen. Und ebenso wird dort gesagt: So, wie man uns anweist, den Vorgesetzten in den erlaubten und ehrenhaften Dingen, unter Berücksichtigung der Umstände, zu gehorchen, so weist man uns an, ihnen im Angesicht zu widerstehen, wann immer sie entgegen den göttlichen Ratschlägen und Vorschriften wandeln. Das steht dort. Daher muss man wissen, dass, wann immer ein Vorgesetzter dem Untergebenen etwas Erlaubtes oder Ehrenhaftes befiehlt, dies ein göttlicher Rat oder Befehl ist, der eingeschlossen ist in jenem Wort Christi: Auf dem Stuhl Moses sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer; alles nun, was sie euch sagen, das tut.102 Über dieses Wort sagt Augustinus in seinem Johanneskommentar: Indem sie auf dem Stuhl Moses sitzen, lehren sie das Wort Gottes. Also lehrt Gott durch sie; wenn sie aber ihre eigenen Lehren aufstellen wollen, dann hört nicht auf sie und tut es nicht.103 So weit Augustinus. Ebenso ist in jenem Wort Christi in Lk 10: Wer euch hört, hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich,104 alles Erlaubte und Ehrenhafte eingeschlossen, was die Apostel befehlen Mal 1,6–10. 97 Decr. Grat. II C. 1 q. 1 c. 84 (PL 187,517 B). 98 Mit dem Decr. ist zu lesen sordidi mundum statt sordidi immundi . 99 Ps 146 Vg. = 147 Hebr. (und Luther, Zürcher etc.). 100 Enarrationes in psalmos 146.2 (PL 37,1900). 101 Zu lesen ist voracitatis (PL 37,1900), nicht veritatis (Palacky´ , Documenta, 216). 102 Mt 23,2 f. 103 Augustinus, In Ioannis Evangelium 46.10,6 (PL 35,1730). 104 Lk 10,16. 96
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und raten konnten und nun ihre Stellvertreter befehlen und raten können.Wann immer also ein Bischof etwas Erlaubtes und Ehrenhaftes befiehlt oder rät, ist das ein göttlicher Rat oder Befehl, gemäß jenem Wort in Mt 10: Nicht nämlich seid ihr es, die dort sprechen, sondern der Geist eures Vaters, der in euch spricht.105 Daraus folgt, dass wer immer 5 dem Prälaten in Erlaubtem und Ehrenhaftem gehorcht, ihm gehorcht in göttlichem Rat oder Auftrag, weil dem Gehorsamen Gott jenes Gebotene und Ehrenhafte früher als Rat oder Auftrag anzeigt als der Prälat selber. Ich sage hier „früher“, da er in Dtn 24 sagt: Du sollst tun, was immer die levitischen Priester dich lehren, nach dem, was ich ihnen 10 geboten .106 Und in jenem Wort Mt 23: Was immer sie euch sagen, das tut, doch nach ihren Werken sollt ihr nicht tun,107 und in jenem Wort: Wer euch hört, hört mich .108 Es sollen also die, die mich schmähen, wissen, dass nicht nur zwölf Ratschläge Christi im Evangelium erklärt sind, in denen die Unterge- 15 benen dem Christus und ihren Vorgesetzten gehorchen, sondern auch, dass es so viele Ratschläge Gottes gibt, wieviele erlaubte und ehrenhafte Dinge es gibt, unterschieden nach den Vorschriften Gottes, die bei Strafe der Todsünde verpflichten. All das nämlich rät der Herr nach Ort und Zeit und anderen Umständen nach dem Willen des Vorgesetzten 20 zu erfüllen. 32. Es ist den Klerikern und Laien erlaubt, durch amtsgewaltige Rechtsprechung über alle Dinge zu urteilen, die sich auf das Heil beziehen, und über die Werke der Prälaten. Diese These steht nicht im Büchlein, son- 25 dern so heißt es Kapitel 19 Blatt 5: Aus diesen Dingen, zusammen mit anderen Wahrheiten, folgt darüber hinaus, dass es den untergeordneten Klerikern, ja sogar Laien erlaubt ist, über die Werke ihrer [geistlichen] Vorgesetzten zu richten; daraus erhellt, dass das Urteil eines separaten und verborgenen Schiedsgerichts vor dem Forum des Gewissens die eine 30 Sache, das Urteil amtsgewaltiger Rechtsprechung vor dem Forum der Kirche etwas anderes ist. Auf die erste Art muss der Untergebene primär sich selbst verurteilen, gemäß jenem Wort in 1Kor 11: „Wenn wir uns selbst richten würden, so würden wir nicht gerichtet“ 109; auf die zweite Art muss er alles beurteilen, was ihm ferner zum Heil gereicht, gemäß 35 jenem Wort in 1Kor 2: „Der geistige Mensch aber beurteilt alles.“110 Sieh, wie hier vom Urteil einer internen Instanz die Rede ist, nicht vom Urteil der amtsgewaltigen Rechtsprechung, wie ein feindlich gesonnener Mensch im Artikel hier einfügt. Daher wird eben dort 105
Mt 10,20.
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Dtn 24,8.
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Mt 23,3.
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Lk 10,16.
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1Kor 2,15.
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gesagt, dass es nötig ist, dass der Laie die Werke des [geistlichen] Vorgesetzten so beurteile, wie der Apostel die Werke des Petrus beurteilte, indem er ihn tadelte (Gal 2111). Zweitens muss der Laie den Vorgesetzten sogar zur Flucht verurteilen, denn in Mt 7 sagt Christus: Haltet euch fern von den falschen Propheten, die zu euch im Schafspelz kommen, aber im Inneren raubgierige Wölfe sind.112 Und drittens muss er ihn verurteilen zu geistlichem Fortschritt, leiblicher Fürsorge oder zu anderen Wohltaten. Andernfalls würden sie niemals von den Laien zu Seelsorgern, Beichtvätern und Almosengebern erwählt werden. Dies dort. Wer also kann dem Menschen das Urteil der Vernunft verwehren, und wer den Untergebenen, dass sie im Geiste der Nächstenliebe über die Werke der Prälaten urteilen, da doch der Erlöser Mt 23 spricht: Auf dem Stuhl Moses’ sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer: Alles, was sie euch sagen, das tut, doch nach ihren Werken sollt ihr nicht tun.113 Es ist nämlich nötig, dass die Untergebenen mit Vernunft die Werke der Prälaten beurteilen, und wenn diese gut sind, so sollen sie froh drüber sein und Gott loben und die Prälaten, wenn sie aber schlecht sind, dann sollen sie Mitleid empfinden und Schmerz und nicht so schlecht handeln wollen, um nicht mit ihnen zusammen in den Abgrund der Sünde und ewigen Verdammnis zu fallen, wir der Herr sagt: Wenn der Blinde den Blinden führt, dann fallen beide in den Abgrund.114
33. Gott entlässt automatisch jeden beliebigen schuldbefleckten Prälaten aus seinem Amt oder Dienst, solange er aktuell in der Schuld ist, weil er 25 durch die Tat, durch die er in Todsünde ist, sündigt, was immer er sonst tut, und folglich wird ihm verboten, dass er so handelt, und folglich wird er aus jenem Amte entlassen in Bezug auf ihn selbst. Dieser Artikel steht im letzten Kapitel, Blatt 2, und wird in Betreff der entzogenen Würde bestätigt durch jenes Wort in Hosea 4,115 wo 30 Gott sagt: Weil du das Wissen zurückgewiesen hast, werde ich dich zurückweisen, dass du mir nicht im Priesteramt dienen sollst ,116 und bezüglich der Amtsenthebung durch jenes Wort in Jes 1: Bringet nicht weiter vergebliches Opfer! 117 Und Mal 1: Mein Wille ist nicht in euch und ein Opfer werde ich nicht annehmen aus eurer Hand .118 Und das 35 Gesetz des Leviticus sagt: Der Priester, der wie auch immer befleckt ist, soll seinem Gott nicht die Brote opfern.119 Und der Apostel, der120 sagt, Gal 2,11–21. 112 Mt 7,15. 113 Mt 23,2 f. 114 Mt 15,14. 115 Hos 4,6. 116 Interpunktion im Text falsch. 117 Jes 1,13. Unklar, inwiefern hier das Amt gegenüber der Würde in Hos 4,6 gemeint sein soll. 118 Mal 1,10. 119 Lev 21,21. 120 Im Text falsch interpungiert, nach falschem Stellenverweis (1Kor 6 statt 11). 111
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er habe dies vom Herrn empfangen,121 entlässt alle Frevler vom Essen des Leibes des Herrn und Trinken des Blutes und folglich entlässt er alle frevelnden Priester von der Abhaltung der Messe und der Spendung des verehrungswürdigen Sakraments; und Gott entlässt den Frevler aus dem Vortrag seiner Rechtssatzungen und seines Zeugnis- 5 ses. Daher sagt der Prophet im Psalm 49: Dem Sünder aber sagt Gott: Warum trägst du meine Gerechtigkeit vor und nimmst mein Zeugnis in deinen Mund? 122 Wenn also „entlassen“ in dem angeführten Satz bedeutet, ein Priesteramt oder irgendein Gut aufgrund der Schuld zu verbieten oder, wie es im modernen Juristenlatein heißt, zu untersagen, dann ist 10 aus den oben genannten Schriftstellen klar, dass Gott die von Sünde Befleckten hindert, ihr Amt auszuüben und sie also aus dem heiligen Amt entlässt, das sie nach der Vorschrift Gottes ohne Befleckung durch Schuld ausüben müssen. Daher sagt er durch Jesaja: Reinigt euch, die ihr die Gefäße des Herrn tragt.123 Und der Apostel sagt 1Kor letztes Kapitel: 15 Alles bei euch geschehe in Liebe,124 und wehe jenen, die den Dienst am Herrn Jesus Christus wissentlich schuldbefleckt ausüben. Dann nämlich sündigen sie, indem sie durch die Sünde der Auslassung die Buße aufschieben, indem sie unwürdig, unerlaubt und zum Missfallen Gottes ihr Amt ausüben. Und darum gibt es viele Rechtssätze der Heiligen, 20 die verbieten, dass die Schuldbefleckten die Sakramente spenden, solange man ihnen öffentlich etwas zur Last legt, wie ich es im Büchlein angeführt habe, wo dieser Artikel über die Entlassung enthalten ist. 34. Der Klerus unterwirft sich zur eigenen Erhöhung das Laienvolk, ver- 25 mehrt die Habgier, beschützt die Schlechtigkeit und bereitet den Weg für den Antichrist. Das ist bezüglich des schlechten Klerus gemeint, und leider ist es mehr als wahr; und umgekehrt erbaut der gute Klerus zur eigenen heilsamen Erhöhung das Laienvolk, tritt die Habgier nieder, bringt die 30 Bosheit zu Fall und ebnet den Weg Christi. Dieser Artikel steht im letzten Kapitel, und bezüglich des ersten Teils, dass sich der Klerus das Laienvolk untertan macht, wird er schon deutlich aus der Erfahrung: Denn der Klerus hat sich zusammen mit Petrus de Luna125, der sich Benedikt nennt, dass Laienvolk unterworfen 35 zum Gehorsam gegen sich selbst; desgleichen unterwirft sich der Kle121 Vgl. 1Kor 11,23. 122 Ps 50 (= 49 Vg.), 16. 123 Jes 52,11. 124 1Kor 16,14. 125 Pedro de Luna (ca. 1342–1423) war seit 1394 Papst Benedikt XIII. Trotz der Absetzung durch das Konstanzer Konzil am 26. Juli 1417 hielt er bis zu seinem Tod 1423 an seinem Amt fest.
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rus zusammen mit Angelo Corari126, der sich Gregor XII. nennt, das Laienvolk, wo er nur kann; desgleichen unterwirft der Klerus zusammen mit Papst Johannes XXIII.127 das Laienvolk zum Gehorsam gegen sich selbst. Deutlich wird dies auch anhand von Ez 13, wo der Herr sagt: Sie verletzten mich und mein Volk wegen einer Handvoll Gerste oder eines Stücks Brot, um Seelen zu töten, die nicht sterben sollen, und Seelen erneut zu erwecken, die nicht leben sollen.128 Und es wird deutlich Ez 34, wo der Herr viel über die Hirten spricht, die sich selbst weiden und die Schafe nicht weiden, sondern schlachten,129 was der heilige Gregor breit abhandelt in der Regula Pastoralis. Und in Homilie 17 sagt er: Bedenkt, was mit den Herden geschieht, wenn die Wölfe die Hirten sind, wenn die die Bewachung der Herde übernehmen, die sich nicht scheuen, der Herde aufzulauern.130 Deutlich wird dies auch durch jenes Wort in Hosea 3131, wo von den Priestern gesagt wird: Wenn einer ihnen nichts in den Mund steckt, beschließen sie über ihn den Krieg. Es ist auch deutlich in Amos 4 und 7132 und Sacharja 11133, wo überall von den Hirten die Rede ist, die ihren Schafen Gewalt antun. Ebenso wird im Buch Micha gesagt: Hört ihr Fürsten Jakob und Führer des Hauses Israel, die ihr gewaltsam ihnen die Häute abzieht und das Fleisch von den Knochen; sie haben das Fleisch des Volkes verzehrt und ihnen die Haut abgezogen, die Knochen zerhaun und zerlegt wie im Kessel .134 Diese Prophetenschrift fasst der Bischof von Lincoln135 in seiner Predigt vor Papst und Kardinälen so zusammen: Die schlechten Hirten verteilen die Gaben des ersehnten Herrn in der Wüste der Einsamkeit, zerstören das ganze Land, zersprengen, zerfleischen ,136 zerstören die Herde des Herrn, Plünderer und Zerstörer des Weinbergs des Herrn. Und nochmals: Sie schröpfen die Witwen, berauben die Waisen, schlachten das Mastvieh, ziehen der Herde die Haut ab, das Fleisch von den Knochen, zerhaun und zerlegen die Knochen wie im Kessel. So weit der Bischof von Lincoln an obiger Stelle. Ebenso sagt der selige Bernhard in seiner Predigtsammlung zum Hohen Lied (in Predigt 77, wie ich meine137): Nicht alle sind Freunde der Angelo Correr (ca. 1335–1417) war von 1406 bis 1415 Papst Gregor XII. In Konstanz dankte Gregor XII. am 4. Juli 1415 ab. 127 Papst Johannes XXIII., Baldassare Cossa (ca. 1370–1419; Papst 1410–1415) wurde durch das Konzil nach seiner Flucht abgesetzt. 128 Ez 13,19. 129 Vgl. Ez 34,2.8; der Wortlaut ist orientiert an Augustinus, serm. 46.1 (PL 38,271). 130 Vgl. Gregor d. Gr., Homiliae in Evangelia I 17,14 (PL 76,1146 C). 131 Hus meint Mi 3,5. 132 Am 4 enthält keine expliziten Bezüge zu Hirten und Schafen. 133 Sach 11,4–17. 134 Vgl. Mi 3,1–3. 135 Robert Grosseteste (vor 1170–1253), 136 Zu lesen ist dilaceratores statt dilatatores . 137 BernBischof von Lincoln. hard von Clairvaux, Sermones in Cantica 77.1,1 (PL 183,1155C –1156 C). 126
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Braut 138, die du bei ihr siehst; nur wenige sind [es, 139 die nicht das Ihre suchen ... Sieh, wie sie einhergehen] in Glanz und Prunk und bunten Gewändern, wie eine Braut, die aus ihrem Gemach tritt. Aber woher, meinst du, kommt ihnen all dieser Reichtum an Gütern, die Pracht der Gewänder, die vielen Gefäße aus Gold und Silber, wenn nicht von der Mitgift der Braut? Daher kommt es, dass sie selbst arm, entblößt und nackt zurückbleibt, erbarmungswürdigen Anblicks, mit struppigem Haar, verwahrlost und blutleer. Deswegen heißt es [in] 140 dieser [Zeit] nicht, die Braut zu schmücken, sondern zu schröpfen, nicht sie zu bewahren, sondern zu verderben, nicht sie zu schützen, sondern sie auszusetzen, nicht sie zu bilden, sondern sie preiszugeben, nicht die Herde zu weiden, sondern zu schlachten und zu verschlingen, da der Herr sagt: „Die da verschlingen mein Volk wie ein Stück Brot“ 141. So Bernhard, indem er zeigt, dass die schlechten Hirten das Volk nicht nur unterwerfen, sondern schröpfen, verderben, preisgeben und verschlingen, und dies zur eigenen Erhöhung, auf dass sie einhergehen in Glanz, Prunk und bunten Gewändern. Ebenso sagt der selige Remigius in der Homilie zu jenem Wort des Evangeliums: Auf dem Stuhl [Moses’] [sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer,142 zum Vers Sie bürden nämlich schwere und untragbare Lasten auf und legen sie auf die Schultern der Menschen, wollen sie aber nicht einmal mit ihrem Finger bewegen:143 Den Platz dieser Leute, d. h. der Schriftgelehrten und Pharisäer, nehmen heute die Bischöfe und die Priester in der Kirche ein, die besonders großartige Vorschriften vornehmlich für ihre Untergebenen aufstellen, selbst aber nicht die geringsten davon zu erfüllen bedacht sind, die auch noch dem letzten schwere Buße auferlegen, die selbst nicht einmal die leichteste so wie gefordert einhalten.144 So Remigius. Und die Unterdrückung wird deutlich aus jenem Wort Christi: Sie bürden schwere und untragbare Lasten auf und legen sie auf die Schultern der Menschen, wollen sie aber nicht einmal mit ihrem Finger bewegen. Aus dem schon Gesagten erhellt auch der zweite Teil des Artikels, nämlich dass der Klerus die Habgier vermehrt, sowie aus jenem Wort in Jer 8: Vom Kleineren bis zum Größten verfolgen sie alle die Habgier, und vom Priester bis zum Propheten betreiben sie alle die Lüge .145 Er erhellt auch durch jenes Wort des seligen Gregor in Homilie 17, der sagt: Meistens, was schwerwiegender ist, rauben die Priester Fremdes, wo sie Bei Bernhard sponsi „des Bräutigams“ (Joh 3,29). 139 Textausfall oder sinnentstellend zitiert (das Entscheidende oben in eckiger Klammer). Vollständig zitiert in Nr. 5. 140 Textausfall. 141 Ps 52,5 (Vg. nach LXX; anders in 53,5 bei Luther und Zürcher). 142 Mt 23,2. 143 Mt 23,4. 144 Zitat nicht nachweisbar. 145 Jer 8,10.
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Eigenes hätten geben müssen,146 sowie durch das Wort des seligen Bernhard aus Predigt 77 zum Hohen Lied: Wen kannst du mir nennen aus der Zahl der Vorgesetzten, die nicht viel eher darüber wachen, wie sie die Beutel der Untergebenen leeren, als über die Ausrottung der Laster? 147 Ebenso durch jenes Wort desselben: Die heiligen Ämter sind zur Gelegenheit schändlichen Gewinns geworden, und sie halten den Gewinn für Frömmigkeit .148 Ebenso durch jenes Wort des Bischofs von Lincoln in seiner Predigt an Papst Innozenz IV.149: Erfüllt ist das Wort des Propheten, durch welches gesagt wird: „Ein jeder, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, neigt zur Habgier, ein jeder ist gierig auf den Gewinn seiner Habgier aus und kennt darin keinerlei Sättigung“ 150. Und was muss man so viele Worte und Schriften der Heiligen anführen, wenn die Habgier des Klerus aller Welt vor Augen liegt, deretwegen es Schismen in der Kirche gibt, viele Kriege um Bischofssitze und gewaltige Mordtaten? Der dritte Teil dieses Artikels, also: der Klerus schützt die Schlechtigkeit , ist offensichtlich. Denn wer schützt das Übel des Schismas, wenn nicht der Klerus, indem er Schriftstellen anführt und Gründe vorbringt? Wer verteidigt die simonische Häresie, wenn nicht der Klerus? Desgleichen die Habgier, durch welche ein Einzelner ungemein viele Kirchenpfründe anhäuft, und ähnlich ist es mit der Ausschweifung. Denn leider sprechen viele Kleriker die einfache Hurerei von der Todsünde frei, und bald führen sie ungehörigerweise jenes Schriftwort an: Seid fruchtbar und mehret euch!, bald sagen sie, dass es natürlich ist, so sich zu paaren, bald sagen sie, dass sie sich nicht enthalten können, und so geht es mit vielen Entschuldigungen, von denen der Gerechte Ps 140 spricht: Herr, neige mein Herz nicht zu Worten des Bösen, dass ich für Sünden nach Ausflüchten suche.151 Hieraus erweist sich der vierte Teil des Artikels, also dies: Der Klerus bereitet dem Antichrist den Weg. Der Weg des Antichrist ist nämlich die Ungerechtigkeit, und vom Antichrist sagt der Apostel zu den Thessalonikern, dass er schon jetzt den Dienst der Ungerechtigkeit ins Werk setzt ,152 jener Sohn des Verderbens. Aber durch wen setzt er dies ins Werk, wenn nicht durch jene, die diese Ungerechtigkeit betreiben? Daher sagt der selige Gregor im Register:153 Der König des Hochmuts ist nahe, und – was zu sagen entsetzlich ist – ein Heer der Priester wird ihm Homiliae in Evangelia I 17,14 (PL 76,1146 C). 147 Sermones in Cantica 77.1 (PL 183,1156 A). 148 Sermones de sanctis 1.3 (PL 183,362 A). 149 Sinibaldo de Fieschi, Papst Innozenz IV. (ca. 1195–1254; Papst seit 25.6.1243). 150 Jes 56,11. 151 Ps 141,4. 152 Vgl. 2Thess 2,7. Statt mysterium liest Hus mit Beda (expl. Apoc. II11 [PL 93,162 C]) ministerium (daher operatur hier transitiv). 153 Ep. V 18 (PL 77,741 B). 146
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bereitet, da die dem Nacken154 des Stolzes als Söldner dienen, die eingesetzt waren, in Demut zu führen. So Gregor; und Bernhard sagt in Koh 33 zum Hohen Lied:155 Sie sind Diener Christi und dienen dem Antichrist . Ebenso spricht auch Johannes im kanonischen Brief:156 Der Antichrist kommt, und viele sind zu Antichristen geworden.157 Da aber 5 der Weg des Antichrist ist, durch das Wort zu verführen und durch das schlechte Beispiel vom Wege Christi abzuführen, ist es offensichtlich, dass es die schlechten Priester sind, die diesen Weg dem Antichrist bereiten. Daher sagt Gregor in der Regula Pastoralis im zweiten Kapitel:158 Die Hirten sind verdorben in ihren Sitten, was sie mit Worten pre- 10 digen, bekämpfen sie mit ihrer Lebensführung, so dass es geschieht, wenn der Hirte über Steilhänge zieht, die Herde ihm zum Abgrund folgt ,159 denn auch wenn die Laien die Worte der Prälaten kennen, sie durch die Werke verdorben werden. Daher ist geschrieben durch den Propheten: Die Ursache für den Untergang des Volkes sind die schlechten Priester,160 über 15 die der Herr durch den Propheten sagt: Sie sind dem Hause Israel geworden zu einem Anstoß zur Ungerechtigkeit;161 niemand freilich richtet in der Kirche größeren Schaden an als derjenige, der bei verkehrtem Handeln Namen und Stand der Heiligkeit innehat, denn ihn wagt in seiner Verfehlung keiner zu tadeln, und die Schuld nimmt gewaltige Ausmaße an in 20 der Rolle des Vorbilds, wenn der Sünder geehrt wird aufgrund der Ehrfurcht vor seinem Stand. So Gregor in der Regula Pastoralis; und in den Moralia, wo er vom Behemoth spricht, zeigt er, dass der Antichrist viele hat, die ihm den Weg bereiten und seine Schlechtigkeit schützen. 25
35. Ebenso, dass der oben genannte Johannes Hus versichert hat und versichert, dass oben erwähnte Schlüsse und Thesen wahr seien, er dieselben veröffentlicht hat und veröffentlicht, gelehrt hat und lehrt vor aller Welt und öffentlich. Zu diesem Artikel erhellt die Antwort aus den bereits geschriebe- 30 nen Antworten; denn einige Thesen daraus habe ich geschrieben und veröffentlicht und erklärt, dass sie wahr seien, andere aber hat der feindliche Mensch erdichtet, indem er bald etwas hinzufügte, bald etwas wegnahm, bald eine komplette These, die im Buch gar nicht vorStatt carnici ist cervici zu lesen. 155 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 33.15 (PL 183,959 A). 156 1Joh 2,18. 157 Frühere Lesart facti sunt. 158 Epistola I.2 (PL 77,15C). 159 Bei Gregor hier Satzschluss; das Folgende, stark verändert, von späterer Stelle (15 D). 160 In dieser Formulierung (causa ruinae etc.) Gregor d. Gr., Epistola XI 79 (PL 77,1209 B), an oben zit. Stelle (PL 77,16 A) der Wortlaut laqueus ruinae populi mei, sacerdotes mali nach Hos 5,1 und 9,8. 161 Ez 44,12. 154
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handen ist, fälschlich hinzufügte. Als ich daher die hinterlistige Erdichtung einiger Artikel erkannt hatte, habe ich den Herren Kommissaren in dem Buch, das sie mir vorgelegt hatten, das Gegenteil bewiesen, und sie haben gesagt: Deine Feinde haben das getan. Ich habe sie gleich an 5 Ort und Stelle in Anwesenheit eines Notars ersucht, jene Feinde als parteiisch anzusehen und zu bestrafen für die falsche Erdichtung von Artikeln und die Anhängung von Irrtümern, die sie mir und meinem Buch fälschlich angehängt haben und immer noch anhängen. 10 36. Ebenso, dass die gesagten Schlüsse und Thesen oder einige von ihnen
falsch, irrig, skandalös, verwegen, aufrührerisch, störend für den Frieden der Kirche, die kirchliche Rechtsprechung unterminierend, töricht, gegen die heilige Schrift und die allumfassende Kirche und die Bestimmung der heiligen Väter erdichtet und erlogen und noch in anderer Weise häretisch 15 sind. Und so ist und war es wahr . Ich bestreite diesen Artikel über die Thesen, die in meinem Buch aufgestellt werden, mit der Versicherung, dass ich, wenn irgendeine davon so beschaffen sein sollte, d. h. als falsch, irrig, häretisch erwiesen ist, ich bereit bin, dieselbe demütig zu widerrufen. 20
37. Ebenso, dass über alle und einzelne jener vorausgeschickten Thesen eine öffentliche Debatte und ein Gerücht aufgekommen ist und auch noch anhält. Dies ist nicht wahr, insofern einige Thesen dabei sind, die die Fein25 de der Wahrheit neu erdichtet haben. 38. Ebenso behauptet und beabsichtigt auch zu beweisen derselbe Ankläger, dass derselbe Magister Johannes Hus, eitel, wie er daherkommt und fortfährt mit seinen verkehrten Lehren und Irrtümern und daran fest30 hält, ein gewisses Werklein 162 geschrieben und zusammengestellt hat gegen gewisse Schriften des Mag. Stephan Palecz,163 Doktors der Theologie, welches anfängt mit den Worten: Da Magister Stefan Pálecˇ etc., und das er betitelte mit der Widmung Quidamoni164 und darin viele schlimme und verkehrte Irrtümer aufstellte. Und so war und ist es wahr. 35 Ich gestehe, dass ich ein Werklein geschrieben habe gegen die Worte des Magister Stefan Pálecˇ , und ich bitte bei Gott, dass es gelesen Contra Stephanum Palecz, MIHO XXII. 163 Stefan von Pálecˇ (um 1370–1424), Theologe, Gegner von Hus. 164 Eine Wortschöpfung in Reaktion auf die seines Adressaten, der ihn und seine Anhänger als Quidamistae betitelt hatte (vgl. den Eingang der Schrift: Ed. 1558, 255b).
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werden möge in öffentlicher Anhörung des Konzils; und wenn sich erweist, dass irgendein Irrtum enthalten ist in dem Werklein, unbeschadet der obigen Zusicherung165, dann will ich dem Urteil des Konzils unterliegen.
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39. Ebenso hat er verfertigt, verfasst, zusammengestellt und abgefasst einen gewissen anderen verurteilten Traktat 166 gegen die Schriften des Magisters Stanislaus167, der beginnt „Antwort etc.“, in dem er verschiedene grundlose und auch schwerwiegende und verkehrte Dinge geschrie10 ben hat vor aller Welt, öffentlich und allseits bekannt. Ich bekenne, dass ich das geschrieben habe, und unter voriger Zusicherung will ich dem Urteil des Konzils unterliegen, indem ich bei Gott wünsche, dass jener Traktat zu öffentlicher Anhörung des heiligen Konzils vorgelegt werde. 15
40. Ebenso, dass er das auf dem kürzlich zu Rom abgehaltenen Generalkonzil 168 ergangene Urteil gegen Lehre und Bücher Wyclifs sowie die Ablassbulle, samt der Kreuzzugsbulle 169 gegen Ladislaus 170 (der sich damals König von Sizilien nannte), verkehrt und irrig glossiert und erklärt und eine gewisse Schrift gegen die Bullen verfertigt und abgefasst 20 hat, die anfängt „Pax Christi etc“. Und er hat diese Schrift 171 samt der verkehrten Glossierungen mehrfach und verschiedentlich zur Verführung des Volkes verkündet und gelehrt, unleugbar und bekanntermaßen. Ich bekenne, dass ich mich gegen die Kreuzzugsbullen gestellt und gegen sie geschrieben habe unter der Versicherung, dass ich nach 25 Erweis meines Irrtums durch welche Person auch immer gebessert zu werden wünsche, und unter Versicherung, dass ich es nicht mit der Partei des Ladislaus und seiner Komplizen halte und sie nicht billige, noch mit der Partei Gregors und seiner Gefolgschaft, sondern all mein Bestreben der Ehre Gottes, dem Wohle des Volkes und dem Nutzen des 30 Königreichs Böhmen gilt. Da mir indes die Kreuzzugsbulle gegen die 165 D. h. in Ergänzung der oben bereits für die andere Schrift gegebenen Zusicherung. 166 Contra Stanislaum de Znoyma, MIHO XXII. 167 Stanislaus von Znaim (ca. 1360–1414), Theologe, Gegner von Hus. 168 Konzil in Rom 1412. Auf dem Konzil wurde durch Johannes XXIII. beschlossen, einen Kreuzzug gegen Ladislaus, König von Neapel, zu führen, um ihn zugunsten von Ludwig II. von Anjou (1377–1417) zu verdrängen. Finanziert werden sollte der Kreuzzug durch Ablässe. 169 Johannes XXIII. erließ auf dem Konzil in Rom 1412 für den Kreuzzug gegen Ladislaus eine Kreuzzugs- und eine Ablassbulle. 170 Ladislaus König von Neapel (1376–1414). 171 Hus verfasste gegen die Bullen Johannes XXIII. die Quaestio de indulgentiis seu de cruciata papae Ioannis XXIII.
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Ordnung der Nächstenliebe zu sein schien, insofern sie alle und jeden, beider Geschlechter, gleich welchen Grades, Standes oder Ranges, mahnte und aufforderte, sich zur Auslöschung des Ladislaus, Gregors und ihrer Komplizen zu rüsten, von denen viele, wie ich meine, gute Christen waren, die aus Furcht (die auch einen standhaften Mann wohl befällt) nicht wagten, die Gefolgschaft des Herrn Papstes Johannes XXIII. zu bekennen, von denen schon einige ganz ohne Zwang dies in Demut bekennen.172 Zweitens erschien mir die Ausführung der Kreuzzugsbulle durch den Legaten und Kommissar Magister Wenzeslaus Tiem, damals Dekan des Kirchenbezirks Padua, doch sehr unpassend: erstens aus dem Grund, weil er einige Artikel formulierte, die er den Predigern zur Veröffentlichung übergab und die Magister Stefan Pálecˇ auch mir gab, mit dem Hinweis, dass die Fehler darin mit Händen zu greifen sind; zweitens erschien mir die Ausführung ungesetzlich und unangemessen aus dem Grund, weil der genannte Magister Wenzeslaus für gewisse Geldsummen Archidiakonate, Dekanate und Kirchen verkaufte, so wie ein Hausvater Häuser und Schenken an Schenk- und Gastwirte weiterverkauft. Und er verkaufte sie an ungebildete, lasterhafte Priester, Hurensöhne und Spieler, die vielfach Anstoß erregten und das Volk in der Beichte auf eine kaum glaubliche Weise besteuerten, um das vereinbarte Geld zusammenzubringen und einen noch üppigeren Gewinn zu erzielen. Und viele hatten große Geldmengen inne, und durch die Simonie oder die Habgier befleckten sie ihre eigenen Seelen. Sieh, das sind die Gründe und viele andere, die mich angetrieben haben, gegen jene Ungesetzlichkeiten zu predigen. Der allergerechteste Richter aber, der Ablass und Nachlass der Sünden ohne Silber und Gelder gewährt, der möge mich mit Strafe treffen, indem er meine Absicht richtet in einer solchen Tat, sofern ich denn gesündigt habe.
41. Ebenso hat er gesagt oder verkündet, dass er nun zum Generalkonzil nach Konstanz gehe und nicht wissen könne, was ihm geschehen werde, und sollte er durch irgendeinen Vorfall die Lehre widerrufen oder verneinen, die er ihnen in seinen Predigten gesagt und sie gelehrt habe – in der 35 Absicht, über die 45 in Prag verdammten Artikel, den Inhalt des von ihm verfassten Buches über die Kirche, die Inhalte der genannten, von ihm verfassten Schriften gegen besagte Magister wie auch über die anderen oben zuletzt behandelten Dinge Auskunft zu geben –, sollte er dies dem Worte nach tun, so sei es doch niemals im Geist seine Absicht, da es die 172
Satz auch im Original ein Anakoluth (Hauptsatz fehlt).
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wahre und echte Lehre Christi sei, und sie sollten darin verharren und aushalten. Und so ist es wahr. Voller Lügen ist dieser Artikel, zu dessen Schöpfer173 wohl Gott sagt: Den ganzen Tag hat deine Zunge auf Unrecht gesonnen, wie ein scharfes Rasiermesser hast du Ränke geschmiedet, du hast die Bosheit 5 mehr geliebt als die Güte, Unrechtes mehr als gerechte Rede .174 Ich bekenne zwar, dass ich nach meiner Abreise einen Brief für die Gemeinde abgeschickt habe, des Inhalts, dass sie, eingedenk der Mühe, die ich mit ihnen gehabt habe, für mich beten und in der Lehre des Herrn Jesus Christus standhaft bleiben sollten, im Wissen, dass ich ihnen nie- 10 mals die Irrlehren gepredigt habe, die mir die Feinde zuschreiben, und sollte ich auch durch falsche Zeugen besiegt werden, dass sie sich dann nicht beirren ließen, sondern feststehen sollten in der Wahrheit. Doch dass ich habe Auskunft geben wollen über die 45 Artikel und über andere Dinge, hat der Schöpfer des Artikels falsch gesagt, der sich da 15 irrigerweise zum Erforscher meines Herzens erklärt hat. Und so ist deutlich, dass dieser Artikel mehr Lüge als Wahrheit enthält. 42. Dass er, nachdem er in Konstanz angekommen ist, geschrieben hat oder hat schreiben lassen zum Königreich Böhmen, dass der Papst und der Kaiser ihn geehrt und mit Ehre aufgenommen haben und dass der Papst an ihn zwei Bischöfe geschickt hatte, um ihn auf seine Seite zu ziehen, dies scheint er zu dem Zweck geschrieben zu haben, sich zu bestärken in seinen Irrtümern und verkehrten Lehren, die er gepredigt und gelehrt hat in jenen Gegenden. Und so war es und ist es wahr, bekannt und offensichtlich. Dieser Artikel behauptet gleich zu Beginn etwas Falsches. Wie nämlich hätte ich die offensichtliche Unwahrheit schreiben können, dass der Papst und der Kaiser mich geehrt haben, wenn ich doch mehrfach geschrieben habe, dass wir bisher nicht mit Sicherheit wissen, wo der Kaiser ist; und bevor der Kaiser nach Konstanz kam, war ich schon drei Wochen in Gefangenschaft. Wenn ich aber aus dem Kerker geschrieben hätte, dass sie mich geehrt haben, würde das Volk des Königreichs Böhmen mir jene Ehre nicht als großen Ruhm anrechnen; meine Feinde würden dennoch ironischerweise sagen, dass ich nach deren Beschluss geehrt worden bin. Daher ist dieser Artikel am Anfang, in der Mitte und am Ende falsch.
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Zu lesen ist formatori, nicht formationi.
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Ps 52 (51 Vg. nach LXX), 4 f.
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Übersetzungsgrundlage: Palacky´, Documenta, 225–234 (Nr. 10); übersetzt werden nur die Passagen 230–234.
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Einleitung Nr. 35
Im Verhör Hussens vor dem Konzil am 8. Juni 1415, bei dem Hus auf eine lange Liste von Artikeln, die man seinen Schriften entnommen hatte, antworten musste (vgl. Artikel und Antworten Hussens in deutscher Übersetzung bei Bujnoch, Hus in Konstanz, 181–226), kam es auch zu einer Auseinandersetzung um den Sinn des Wortes „abschwören“. Hus vertrat die Auffassung, abschwören heiße, sich von zuvor vertretenen Irrtümern loszusagen. Er bestand darauf, nicht abschwören zu können, was er zuvor nicht vertreten habe. Die Konzilsväter und König Sigismund hingegen waren der Meinung, man könne sich sehr wohl von einem Irrtum distanzieren, ohne denselben vertreten zu haben. Hus freilich zeigte sich überzeugt, ein falscher Widerruf gefährde sein Seelenheil und lehnte eine Abschwörformel ab.* Am 18. Juni wurde ihm im Gefängnis eine neue Liste von 39 Artikeln vorgelegt, zu der er Stellung nehmen sollte. Neben Auszügen aus dem Traktat „Über die Kirche“ enthielt dieser Text eine weitere Liste belastender Aussagen von anonymen Zeugen, die im Verlauf des Konstanzer Prozesses gesammelt worden waren. Hus verfasste aus Papiermangel und aus Angst vor Fehlinterpretationen lediglich kurze Glossen. Am 20. Juni sandte er seine in zwei Handschriften überlieferte Antwort nicht an das Konzil, sondern an seine Freunde. Die Konsequenzen waren ihm klar: entweder vorbehaltlos abschwören und eine Buße auf sich nehmen oder auf dem Scheiterhaufen sterben. Wie sein Schlussgebet um Standhaftigkeit deutlich macht, war er bereits zu diesem Zeitpunkt entschlossen, keinen Widerruf zu leisten und lehnte ihn bei der letzten Gelegenheit am 5. Juli ab (vgl. Nr. 33.XVI). Die folgende Übersetzung berücksichtigt nur die Anklagepunkte aufgrund von Zeugenaussagen gegen Hus sowie dessen Antworten darauf (kursiv gesetzt). * Zu Hussens Begründung, warum er die Formel, die ihm durch den Kardinalbischof von Ostia (Jean de Brogny, ca. 1342–1426) vorgelegt wurde, ablehnte, vgl. diese Ausgabe Nr. 33.X. Die Abschwörformel lautete nach Novonty´ , Documenta, 280 f. (Nr. 135) in deutscher Übersetzung wie folgt: Ich, der Benannte usw. Jenseits der Protestationen, die anderswo durch mich geschehen sind und die ich hiermit wiederholt haben will, bezeuge ich von Neuem, dass, auch wenn mir vieles auferlegt wird, was ich niemals gedacht habe, ich nichtsdestoweniger in Hinsicht auf alle mir auferlegten oder gegen mich vorgebrachten oder aus meinen Büchern ausgezogenen Anklagen oder auch in Hinsicht auf die Einlassungen der Zeugen mich demütig der barmherzigen Anordnung, Festlegung und Besserung des allerheiligsten Generalkonzils unterwerfe, um abzuschwören, zu widerrufen und zurückzuziehen, und dass ich bereit bin, mich der barmherzigen Buße zu unterziehen und alles und jedes zu tun, was das besagte allerheiligste Konzil in barmherziger Weise für mein Heil und aus gnädiger Anordnung verfügen wird, mich dem Konzil in aller Demut anvertrauend.
Endgültige Verweigerung des Widerrufs
Hier führen sie nun Artikel an, die aus dem Prozessverlauf extrahiert wurden; und wo ihnen die Schrift oder Vernunft gegenübergestellt ist – oder vielmehr Falsches und Ungerechtes –, berufen sie sich auf Zeugen, von denen sie sagen, sie seien glaubwürdig, die aber seine 5 Feinde, schlecht und ihm verdächtig sind.1 Artikel aus dem Prozess gegen Johannes Hus, durch glaubwürdige Zeugen hinreichend belegt und erwiesen. 10 Erstens Artikel 4 und 8, die beinhalten, dass Johannes Hus hartnäckig
die irrigen Artikel Wyclifs in der Stadt Prag, in Schulen und öffentlichen Predigten gepredigt und verteidigt hat. Es ist nicht wahr, dass ich jemals solche Dinge betrieben hätte, vielmehr habe ich unter der Form einer Protestation Argumente vorgetragen 15 für einige Artikel, die mir wahr zu sein schienen. Weiter Artikel 9, der beinhaltet, dass es wegen der vorbenannten Dinge in der Stadt Prag zu einem großen Aufruhr gekommen ist, angezettelt durch Arglist und Schuld des Johannes Hus, und zwar so weit, dass 20 bedeutende, katholische und gottesfürchtige Männer gezwungen waren, wegzugehen und sich außerhalb der vorbenannten Stadt zu verstecken, dass in der Folge auch Verwüstungen, Verurteilungen, Sakrilege und andere schreckliche, fluchwürdige Dinge daraus erwachsen sind, alles auf Veranlassung und Betreiben des vorbenannten Johannes 25 Hus mit seinen Komplizen. Es ist nicht wahr, dass ich jemals solche Dinge getan habe. Weiter Artikel 10, der beinhaltet, dass Johannes Hus in der besagten Stadt Prag beständig ein Anhänger, Beförderer und Lehrer sowie Ver30 teidiger der Irrtümer des einstmaligen Häresiarchen Johannes Wyclif war und gewesen ist, und dass er in der besagten Stadt und den umliegenden Gebieten als ein solcher und dafür gehalten, benannt und angesehen wird. Es ist nicht wahr, obgleich einige meiner Feinde mich für einen sol35 chen halten mögen. Weiter Artikel 15 und 16, die beinhalten, dass der Herr Erzbischof von Prag in Ausführung eines Befehls des Herrn Papst Alexander V. seligen 1
Vorbemerkung des Peter von Mladoniowitz zu dieser Artikelreihe.
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Endgültige Verweigerung des Widerrufs
Angedenkens, mit dem er ihm befahl und ihn beauftragte, dass fortan niemand es wagen solle, an privaten Orten der besagten Stadt, außer in Kathedralkirchen, Kollegiatkirchen, Pfarrkirchen, Klöstern und deren Friedhöfen dem Volk zu predigen – dass also der besagte Herr Erzbischof in unverzüglicher Ausführung des päpstlichen Schreibens sol- 5 ches untersagt hat in einer Generalsynode, die damals in Prag versammelt war. Aber Johannes Hus hat sich der Exekution besagten Briefs sowie dem Urteil und Verbot de facto entgegengestellt und nach diesem Verbot aus dem Monat Juni, insbesondere am 22. Tag dieses Monats und darauf noch mehrere und verschiedene Male, in einer 10 gewissen Bethlehemskapelle an das Volk gepredigt und eine große Menge Volkes zusammengerufen und zusammenrufen lassen, dem vorbenannten Verbot zuwider. Das ist wahr, weil ich zuvor an ebendiesen Papst Alexander um der besseren Unterrichtung willen appelliert hatte, wie aus den Prozessakten 15 hervorgeht. Weiter Artikel 17, der beinhaltet, dass der vorgenannte Johannes Hus nicht nur vom besagten Monat Juni des Jahres 1410, sondern auch vorher und nachher in der besagten Kapelle durch Predigt an das dort ver- 20 sammelte Volk, und auch an verschiedenen anderen Orten der Stadt Prag, verschiedene Male viele Irrtümer und Häresien sowohl aus den besagten Büchern des besagten Johannes Wyclif als auch aus seiner eigenen Dreistigkeit und Arglist herangezogen, gelehrt, darüber disputiert und diese nach Kräften verteidigt hat, insbesondere die unten 25 angeführten, etwa dass nach der Konsekration der Hostie auf dem Altar das materiale Brot zurückbleibe und die Substanz des Brotes. Das ist nicht wahr. Weiter Artikel 18, der beinhaltet, dass ein Priester, der in Todsünde lebt, 30 den Leib Christi nicht bewirken, nicht ordinieren, nicht taufen könne. Das ist nicht wahr, denn ich habe das Gegenteil gepredigt. Weiter Artikel 19, der beinhaltet, dass die Ablässe von Papst und Bischof 35 nichts vermögen. Das ist nicht wahr; aber Geldablässe, die mit Abgaben und Errichtung eines Kreuzes gegen Christen durchgeführt werden, habe ich zurückgewiesen, und ich habe über die Ablässe geschrieben, dass die Priester Christi von Amts wegen denen Vergebung von Strafe und Schuld der Sünden gewähren können, die wahrhaft reumütig sind und gebeichtet 40 haben.
Endgültige Verweigerung des Widerrufs
Weiter Artikel 21, der beinhaltet, dass die römische Kirche die Synagoge des Satans sei. Das ist nicht wahr. Denn ich sage im Buch von der Kirche, dass es eine heilige römische Kirche gebe, die, als Gemeinschaft der Heiligen, 5 alle gläubigen Christen umfasst, die nach dem Gesetz Christi unter den Gehorsam des römischen Bischofs fallen. Weiter Artikel 24, der beinhaltet, dass keine Häresie mit Gewalt ausgelöscht werden darf, sondern nur durch Disputation in den Schulen. 10 Das ist nicht wahr, sondern ich habe gesagt, dass ein Häretiker zuerst durch Schrift oder Vernunft überzeugt werden muss, wie die Heiligen Augustinus und Bernhard sagen. Weiter Artikel 26, der beinhaltet, dass der besagte Johannes Hus, um
15 das Volk und die einfachen Leute zu verführen, verwegen und leicht-
fertig gesagt hat, dass in England in einer gewissen Paulskirche viele Mönche und andere Magister gegen den Magister Johannes Wyclif zusammengekommen seien und ihn nicht hätten überzeugen können und dass plötzlich Donner und Blitz vom Himmel auf sie herabgefah20 ren sei und das Tor der Kirche zersprengt habe, so dass die Magister und Mönche kaum in die Stadt London hätten entkommen können. Und das hat er erzählt, um einen Ausspruch des Wyclif zu bekräftigen, und sich dabei gegenüber dem Volk sogar zu folgenden Worten hinreißen lassen: Wenn doch meine Seele dort wäre, wo die Seele des Johan25 nes Wyclif ist. Und danach hat er noch mehrfach einen gefälschten Brief unter dem gefälschten Siegel der Universität Oxford veröffentlicht, mit dem fälschlichen Inhalt, Johannes Wyclif sei ein wahrhaft katholischer Lehrer des Evangeliums gewesen, guten Leumunds und lobenswerten Umgangs von der Zeit seiner Jugend an bis zum Tag sei30 nes Todes. Dieser Artikel ist in vielen Punkten unwahr, und er ist voller angehäufter Lügen. Weiter Artikel 29, der beinhaltet, dass die Weltlichen [der Kirche] ihre
35 weltlichen Güter wegnehmen dürfen, und dass dies verdienstlich sei.
Das ist nicht wahr.
Weiter Artikel 32 und 37, die beinhalten, dass Johannes Hus, exkommuniziert und unter verschärftem Bann, sich in gottesdienstliche 40 Handlungen gemischt, dem Volk gepredigt und öffentlich gesagt hat, dass er die Exkommunikation nicht achte, weil niemand von einem
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Menschen exkommuniziert werden kann, der nicht zuvor von Gott exkommuniziert worden sei. Das ist nicht wahr, sondern ich habe gesagt, dass ich unter der Appellation predigen kann und dass eine ungerechte Exkommunikation einem gerechten Menschen nicht schadet, solange er diese demütig erträgt um Gottes willen.
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Weiter Artikel 38, der beinhaltet, dass Johannes Hus verschiedene Irrtümer gepredigt hat, aus denen Skandale hervorgegangen sind zwischen den Prälaten, dem Volk des Königreichs Böhmen und den Magis- 10 tern und Scholaren der Universität Prag. Das ist nicht wahr. Weiter Artikel 7, der vor Ort, in der Inquisitionsangelegenheit vor dem Prager Erzbischof, gegen Johannes Hus erhoben und vorgetragen wur- 15 de und in dem enthalten ist, dass Johannes Hus zum Volk gesagt hat: Siehe, der kürzlich verstorbene Papst, Papst Alexander V. nämlich, hat vor kurzem an den Prager Erzbischof geschrieben wegen der auszurottenden Irrtümer des Johannes Wyclif in Böhmen und Mähren, und dass es dort viele Menschen gibt, die, in ihren Herzen mit Häresie angesteckt, an 20 den Meinungen und Irrtümern Wyclifs dem Glauben zuwider festhalten. Und ich sage (und danke Gott!), dass ich keinen böhmischen Häretiker gesehen habe, und dass zu den vorgenannten Worten das Volk ausgerufen hat: Er lügt, er lügt! Das ist nicht wahr, was den Schluss angeht, dass das Volk so gerufen 25 habe; denn sie riefen und sagten: Diejenigen lügen, die uns Häretiker nennen; und wahr ist der Artikel hinsichtlich seines Anfangs. Weiter Artikel 9, der beinhaltet, dass derselbe Johannes Hus öffentlich zum Volk gesagt hat: Schaut, die Prophezeiung ist erfüllt, die Jakob 30 von Tharamo 2 vorhergesagt hat, dass im Jahr 1409 einer aufstehen wird, der das Evangelium, die [neutestamentlichen] Briefe und den Glauben an Christus verfolgen wird, womit er den Herrn Alexander gemeint hat, der in seinen Bullen befohlen hat, die Bücher des Wyclif zu 35 verbrennen. Das ist nicht wahr in der Form, sondern ich habe andere Worte gebraucht, auch hat nicht Alexander selbst in einer Bulle befohlen, die Bücher Wyclifs zu verbrennen. 2
Jacobus Palladinus de Teramo (1349–1417), ein italienischer Kanonist und Bischof.
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Weiter Artikel 11, der beinhaltet, dass Johannes Hus gesagt hat, dass der kürzlich verstorbene Papst Alexander („ich weiß freilich nicht, ob er im Himmel oder in der Hölle ist“) auf seinen Eselshäuten3 schreibt, dass der Erzbischof die Bücher des Johannes Wyclif verbrennen müsse, 5 in denen viele gute Dinge enthalten sind. Wahr ist dies hinsichtlich des ersten, was ich gesagt habe, aber dass er zu verbrennen befohlen habe, habe ich nicht gesagt, weil er das in seinen Bullen nicht geschrieben hat. 10 Weiter ein anderer Artikel zu seiner Antwort, die beinhaltet, dass der
besagte Johannes Hus nach seinem Weggang aus Böhmen einen Brief an die Gemeinde abgeschickt hat, mit dem Inhalt, dass sie eingedenk der Sorge und Mühe, die er mit ihnen hatte. Hier haben sie nicht mehr über diesen Artikel geschrieben, zu dem 15 ihr, wie ich meine, [die Fortsetzung] habt in der Antwort, das heit in der Abschrift der ersten Artikel, die im ersten Gefängnis kopiert worden sind.4
Am Ende stand so geschrieben: Diese Artikel gegen Lehre und Person des
20 Johannes Hus wurden verlesen am Dienstag, das ist am 3. Tag nach
dem Fest des hl. Vitus, dem 18. Juni, in einer öffentlichen Versammlung, und wurden einem Notar übergeben.
Ich, Johannes Hus, stets in der Hoffnung Diener Jesu Christi, habe die
25 Antworten auf die Artikel in deren Kopie notiert, wie auch in diese hier, 5
und das nach meinem Gewissen, über das ich dem allmächtigen Herrn Rechenschaft geben muss. Zu den Artikeln, die aus meinen Büchern gezogen wurden, konnte ich keine Erläuterungen schreiben, sowohl wegen der Kürze der Zeit als auch 30 aus Mangel an Papier und wegen der Gefahr etc. Doch meines Wissens sind zu den ersten kopierten Artikeln als Erklärungen und Beweise einige Autoritäten der Heiligen hinzugesetzt. Hier könnte ein aus Eselshaut hergestelltes Pergament als tatsächlicher Beschreibstoff der päpstlichen Kanzlei gemeint sein oder das Wort ist hier in der bei Grimm belegten Form gebraucht, wonach Eselshaut einen Beschreibstoff bezeichnet, auf den man mit Bleistift schreiben und das Geschriebene leicht wieder auslöschen kann. In beiden Fällen soll Eselshaut also den Wert des Schriftstücks in Frage stellen. 4 Vgl. Nr. 34, Art. 41 (Antwort). 5 Der bei Palacky´ abgedruckte Text folgt demnach der Abschrift, die Hus für sich selbst angefertigt hat, und nicht dem an das Konzil zurückgegebenen Original. Vgl. auch diese Ausgabe Nr. 33.IX.
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Noch bleibt übrig, entweder zu widerrufen und abzuschwören und eine wundersame Buße zu erhalten oder verbrannt zu werden. Der Vater, Sohn und Heilige Geist, der einige Gott, an den ich glaube und dem ich vertraue, möge mir durch Interzession aller Heiligen und der gerechten Menschen den Geist der Einsicht und der Tapferkeit geben, um den Fall- 5 stricken des Teufels zu entfliehen und in seiner Gnade bis ans Ende auszuharren, Amen. Alle Artikel aus den Büchern und aus dem Prozess sind in der Antwort an das Konzil so glossiert, wie sie hier kurz glossiert sind, und über10 geben am 3. Tag nach Viti.6 Gegeben am Donnerstag nach dem Fest des heiligen Märtyrers Vitus 7 aus dem Gefängnis bei den Brüdern, die Mindere oder Bosáci 8 genannt werden.
6 18. Juni 1415. 7 20. Juni 1415. vanten Franziskaner.
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Dieser tschechische Begriff bezeichnet die obser-
36 VERURTEILUNG DES JOHANNES HUS AUF DEM KONSTANZER KONZIL [6. Juli 1415]
Übersetzungsgrundlage: Alle vier Texte finden sich lateinisch und deutsch in: Conciliorum oecumenicorum decreta, 426–431; Nr. 35, IV auch in Denzinger/Hünermann40, 408–412 (§§ 1201–1230).
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Einleitung Nr. 36
Nach Hussens Widerrufsverweigerung (vgl. die Einleitung zu Nr. 35) wurde sein Prozess in der 15. Sitzung des Konstanzer Konzils am 6. Juli 1415 mit dem Verdammungsurteil abgeschlossen. Diese Verurteilung bestand aus: 1. dem eigentlichen Häresieurteil (Nr. 36.I), 2. der Degradation (Absetzung und Zurückversetzung in den Laienstand, Nr. 36.II), 3. der Verurteilung zum Scheiterhaufen (Nr. 36.III) und 4. einer Liste der verurteilten Irrtümer (Nr. 36.IV). Das Konstanzer Urteil gegen Hus stand im größeren Zusammenhang der Unterdrückung der Lehre des Johannes Wyclif durch das Konzil. In der 8. Sitzung (4. Mai 1415) wurden 45 Artikel des englischen Theologen als häretisch verurteilt und seine Bücher verboten (vgl. diese Ausgabe Nr. 20.II). In der 15. Sitzung, in der auch das Urteil gegen Hus erging, wurden 260 Artikel Wyclifs für häretisch erklärt (auszugsweise lateinisch mit deutscher Übersetzung in Conciliorum oecumenicorum decreta, 421–426). Hus wurde vom Konzil als Anhänger Wyclifs wahrgenommen, obwohl in den Hus zur Last gelegten Artikeln (Nr. 36.IV) von Wyclifschen Gedanken kaum noch etwas vorhanden war. Diese Liste der durch das Konzil verurteilten Irrtümer des Johannes Hus war das Ergebnis eines längeren Verhandlungsprozesses, in dessen Verlauf die Hus ursprünglich zur Last gelegten 42 Artikel (vgl. Nr. 34 dieser Ausgabe) auf 39 (vgl. Nr. 35) und schließlich auf die nachstehenden 30 Artikel reduziert wurden.
Verurteilung des Johannes Hus
[1] Urteil gegen Johannes Hus
5
10
15
20
25
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Das hochheilige allgemeine Konzil von Konstanz, durch göttliche Fügung versammelt und die katholische Kirche repräsentierend, zum immerwährenden Gedächtnis. Da nach dem Zeugnis der Wahrheit ein schlechter Baum gewöhnlich schlechte Früchte hervorbringt,1 hat auch Johannes Wyclif, ein Mann verworfenen Andenkens, durch seine todbringende Lehre nicht, wie einst die heiligen Väter, in Christus Jesus durch das Evangelium gläubige Söhne, sondern gegen den heilsamen Glauben Christi, wie eine giftige Wurzel, viele verderbenbringende Söhne gezeugt und als Nachfolger seiner verkehrten Lehre hinterlassen. Gegen diese sieht sich die heilige Synode von Konstanz gezwungen, wie gegen uneheliche und illegitime Kinder aufzustehen und ihre Irrtümer wie schädliche Disteln in stets wachsamer Sorge und mit dem Messer der kirchlichen Autorität vom Acker des Herrn zu entfernen, damit sie nicht wie ein Krebsgeschwür zum Verderben anderer fortwuchern. Auf dem jüngst in Rom gefeierten heiligen Generalkonzil1a war nun entschieden worden, dass die Lehre des Johannes Wyclif verworfenen Andenkens zu verurteilen und dass seine Bücher, die diese Lehre enthalten, als häretisch zu verbrennen seien, und man hat diese Lehre tatsächlich verurteilt und die Bücher, die diese törichte und verderbliche Lehre enthalten, wirklich verbrannt. Das diesbezügliche Dekret ist durch die Autorität dieses heiligen Konzils bestätigt worden.2 Gleichwohl wandte sich ein gewisser Johannes Hus – er ist persönlich hier auf dem heiligen Konzil anwesend –, nicht als Jünger Christi, sondern vielmehr des Häresiarchen Johannes Wyclif, vermessenen Sinnes nachträglich gegen diese Verurteilung und Entscheidung und lehrte, vertrat und verkündete mehrere Irrtümer und Häresien Wyclifs, die von der Kirche Gottes wie auch einst von gewissen3 ehrwürdigen Vätern in Christus, von den Herren Erzbischöfen und Bischöfen verschiedener Reiche und von den Magistern der Theologie mehrerer Universitäten, verurteilt waren. Insbesondere leistete er der gelehrten Verurteilung dieser Artikel Johannes Wyclifs, die an der Universität Prag mehrfach erfolgt ist, mit seinen Komplizen in Schulen und Predigtstellen öffentlich Widerstand und erklärte denselben Johannes Wyclif zugunsten seiner Lehre vor versammeltem Klerus und Volk Vgl. Mt 7,17. 1a Das von Papst Johannes XXIII. 1412/13 in Rom abgehaltene Konzil war alles andere als eine allgemeine Kirchenversammlung und ging ergebnislos auseinander. 2 In der 8. Sitzung, vgl. die einleitenden Bemerkungen zu Nr. 37. 3 Hier ist certis zu lesen. 1
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zum katholischen Mann und evangelischen Lehrer. Gewisse unten angeführte und noch weitere Artikel, die mit Recht verurteilenswert sind und die sich klar in den Büchern und Schriften von Johannes Hus selbst finden, verteidigte er als katholisch und veröffentlichte sie. Nach vollständiger Information über das soeben Gesagte und nach sorgfältiger Beratung der verehrungswürdigen Väter in Christus, der Herren Kardinäle der heiligen römischen Kirche, der Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe und der übrigen Prälaten und Doktoren der Heiligen Schrift und beider Rechte in großer Anzahl erklärt deshalb die hochheilige Synode von Konstanz und entscheidet: Die unten aufgeführten Artikel, die laut Befund einer von mehreren Magistern der Heiligen Schrift durchgeführten Untersuchung in seinen eigenhändig geschriebenen Büchern und Schriften enthalten sind und von denen Johannes Hus selbst in öffentlicher Anhörung vor den Vätern und Prälaten dieses heiligen Konzils bekannt hat, sie seien tatsächlich in seinen Büchern und Schriften enthalten, sind nicht katholisch und dürfen als solche nicht gelehrt werden; vielmehr sind mehrere davon irrig, andere ärgerniserregend, wieder andere beleidigen fromme Ohren, andere sind verwegen und aufrührerisch und nicht wenige schließlich offenkundig häretisch und längst von den heiligen Vätern und Generalkonzilien verworfen und verurteilt.4 Die heilige Synode verbietet streng, sie zu predigen, zu lehren oder irgendwie zu billigen. Da die unten folgenden Artikel ausdrücklich in seinen Büchern oder Abhandlungen enthalten sind, nämlich im Buch mit dem Titel „Die Kirche“ und in seinen anderen Schriften, verwirft und verurteilt die hochheilige Synode die genannten Bücher samt seiner Lehre, ferner sämtliche anderen Abhandlungen und Schriften, die er auf lateinisch oder in böhmischer Volkssprache herausgebracht hat oder die sonst von einem anderen oder von anderen in irgendeine andere Sprache übersetzt worden sind. Die Synode entscheidet und bestimmt: Die Bücher sind in Gegenwart des Klerus und des Volkes in der Stadt Konstanz und anderswo öffentlich und feierlich zu verbrennen. Angesichts des Gesagten fügt sie hinzu: Seine ganze Lehre ist und bleibt bezüglich des Glaubens zu Recht verdächtig und muss von allen Christgläubigen gemieden werden. Damit jene verderbliche Lehre aus der Mitte der Kirche verschwinde, befiehlt die heilige Synode weiterhin, diese Abhandlungen und Schriften durch die Ortsbischöfe vermittels kirchlicher Zensur – nötigenfalls unter Hinzufügung der Strafe auch für Begünsti4 Diese Formulierung ließ offen, welche Lehren Hussens tatsächlich häretisch und welche nur irrig, ärgerniserregend, beleidigend, verwegen oder aufrührerisch waren.
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gung der Häresie – gewissenhaft aufspüren zu lassen und nach ihrer Entdeckung öffentlich zu verbrennen. Wenn sich jemand als Verletzer oder Verächter dieses Urteils und Dekrets erweisen sollte, dann haben laut Beschluss dieser heiligen Synode die Ortsordinarien und die Inqui5 sitoren der Häresie gegen einen solchen oder gegen solche wie gegen Häresieverdächtige vorzugehen. [2] Degradation 10 Nach zusätzlicher Sichtung der Akten und Vorgänge im Inquisitions-
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prozess gegen besagten Johannes Hus bezüglich und hinsichtlich seiner Häresie, nach zuvor erfolgter zuverlässiger und umfassender Berichterstattung durch die in diesem Verfahren abgeordneten Beauftragten und anderen Magister der Theologie und Doktoren beider Rechte betreffs, bezüglich und hinsichtlich dieser Akten und Vorgänge wie auch der Aussagen seitens glaubwürdiger und zahlreicher Zeugen, deren Aussagen Johannes Hus selbst in Gegenwart der Väter und Prälaten des heiligen Konzils öffentlich und offiziell verlesen worden sind, durch welche Zeugenaussagen völlig eindeutig feststeht, dass derselbe Johannes viel Übles, Ärgerniserregendes und Aufrührerisches sowie gefährlich Häretisches gelehrt und viele Jahre hindurch öffentlich gepredigt hat, verkündet, beschließt und erklärt die hochheilige Synode von Konstanz, nach Anrufung des Namens Christi und allein Gott vor Augen, durch dieses endgültige Urteil, das sie hiermit schriftlich vorlegt: Besagter Johannes Hus war und ist ein wahrer und offenkundiger Häretiker; derselbe hat Irrtümer und Häresien gelehrt und öffentlich verkündet, die von der Kirche Gottes schon längst verurteilt waren, sowie viel Ärgerniserregendes, fromme Ohren Beleidigendes, Verwegenes und Aufrührerisches, und zwar in nicht geringem Maß zur Beleidigung der Majestät Gottes, zum Ärgernis der universalen Kirche und zum Schaden des katholischen Glaubens; auch hat er die Schlüsselgewalt der Kirche sowie die kirchlichen Zensuren verachtet. Viele Jahre hindurch hat er starrsinnig darin verharrt, und durch seine Verstocktheit hat er den Christgläubigen ein allzu großes Ärgernis gegeben, indem er – unter Übergehung der kirchlichen Mittel – Berufung an unsern Herrn Jesus Christus als den obersten Richter eingelegt,5 und darin viel Falsches, Widerrechtliches und Ärgerniserregendes vorgebracht hat, zur Verachtung des Apostolischen Stuhls, der kirchlichen Zensuren und der Schlüsselgewalt.
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Vgl. oben Nr. 20.
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Aufgrund all des Gesagten und vieler anderer Dinge verkündet die heilige Synode, dass vorgenannter Johannes Hus ein Häretiker war und ist,6 und als Häretiker ist er nach ihrem Urteil zu richten und zu verdammen, und sie verdammt ihn hiermit. Besagte Berufung verwirft sie als widerrechtlich, ärgerniserregend und als Verhöhnung der kirch- 5 lichen Rechtsprechung. Und sie verkündet, dass Johannes Hus das Christenvolk, zumal im Königreich Böhmen, in seinen öffentlichen Predigten und in den von ihm zusammengestellten Schriften verführt hat und für dieses christliche Volk kein wahrhafter Prediger des Evangeliums Christi gemäß der Auslegung der heiligen Lehrer gewesen ist, 10 sondern in Wirklichkeit ein Verführer. Durch alles, was die heilige Synode gesehen und gehört hat, ist sie zu der Erkenntnis gelangt: Derselbe Johannes Hus ist hartnäckig und unverbesserlich, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass er nicht den Wunsch hatte, in den Schoß der heiligen Mutter zurückzukehren, noch dazu bereit war, den von 15 ihm öffentlich verteidigten und gepredigten Häresien und Irrtümern abzuschwören. Deshalb erklärt und entscheidet die heilige Synode von Konstanz, dass derselbe Johannes Hus vom priesterlichen Amt und den anderen Graden des Ordo, mit denen er ausgezeichnet ist, abgesetzt und degradiert werden muss. Sie beauftragt also die verehrungswürdi- 20 gen Väter in Christus, den Erzbischof von Mailand und die Bischöfe von Feltre, Asti, Alexandria, Bangor und Lavaur,7 in Gegenwart dieser hochheiligen Synode besagte Degradierung entsprechend der Rechtsordnung vorzunehmen. [3] Verurteilung des Johannes Hus zum Scheiterhaufen
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Die heilige Synode von Konstanz überlässt Johannes Hus – im Bewusstsein, dass die Kirche Gottes nichts mehr zu tun in der Lage ist – dem weltlichen Urteil und entscheidet, dass er dem weltlichen Gerichtshof 30 überlassen werden muss. [4] Liste der verurteilten Irrtümer Die folgende Liste der durch das Konzil verurteilten Irrtümer des 35 Johannes Hus war das Ergebnis eines längeren Verhandlungsprozesses, in dessen Verlauf die Hus ursprünglich zur Last gelegten 42 Artikel Zu ergänzen et esse. 7 An der Degradierung Hussens beteiligt waren der Mailänder Erzbischof Bartolomeo Capra sowie die Bischöfe von Belluno-Feltre (Venetien), Asti, Alexandria, Bangor (Wales) und Lavaur (Südfrankreich). 6
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(vgl. Nr. 34 dieser Ausgabe) auf 39 (vgl. Nr. 35) und schließlich auf die nachstehenden 30 Artikel reduziert wurden. 1. Eine einzige ist die heilige allgemeine Kirche, die die Gesamtheit der Vorherbestimmten ist. Und weiter unten folgt: Die allgemeine heilige Kirche ist nur eine, so wie die Zahl aller Vorherbestimmten nur eine ist.8 2. Paulus ist niemals ein Glied des Teufels gewesen, auch wenn er einige Taten beging, die den Taten der Kirche der Bösen ganz ähnlich waren.9 3. Die Vorhergewussten sind nicht Teile der Kirche, da kein Teil derselben am Ende aus ihr herausfällt; denn die Liebe der Vorherbestimmung, die diese verbindet, hört nicht auf.10 4. Die zwei Naturen, Gottheit und Menschheit, sind der eine Christus.11 5. Auch wenn der Vorhergewusste zuweilen nach der gegenwärtigen Gerechtigkeit in der Gnade ist, so ist er dennoch niemals ein Teil der heiligen Kirche. Doch der Vorherbestimmte bleibt stets ein Glied der Kirche; auch wenn er zuweilen aus der hinzukommenden Gnade herausfällt, so doch nicht aus der Gnade der Vorherbestimmung.12 6. Sofern man die Kirche als Versammlung der Vorherbestimmten auffasst, ob sie nun nach der gegenwärtigen Gerechtigkeit in der Gnade sein mögen oder nicht, ist die Kirche ein Glaubensartikel.13 7. Petrus war nicht noch ist er das Haupt der heiligen katholischen Kirche.14 8. Priester, die in irgendeiner Weise lasterhaft leben, beflecken die Macht des Priestertums, und wie ungläubige Söhne denken sie ungläubig über die sieben Sakramente der Kirche, über die Schlüssel, Ämter, Zensuren, Sitten, Zeremonien und heiligen Dinge der Kirche, Reliquienverehrung, Ablässe und Ordensweihen.15 9. Die päpstliche Würde ist aus der des Kaisers erwachsen, und Vorrang wie Einsetzung des Papstes haben ihren Ursprung in der Macht des Kaisers.16 Über die Kirche c. 1. 9 Über die Kirche c. 3. 10 Vgl. 1Kor 13,8; Über die Kirche c. 3. Über die Kirche c. 4. Dieser Artikel ist offensichtlich verstümmelt, denn in der Form, wie er in der obigen Liste erscheint, kann er nicht als Irrtum oder gar Häresie verstanden werden. Denzinger/Hünermann40 möchte den Artikel nach der Schrift Über die Kirche wie folgt ergänzen: „Die zwei Naturen, Gottheit und Menschheit, sind der eine Christus, der das einzige Haupt seiner Braut, der allgemeinen Kirche, ist, die die Gesamtheit der Vorherbestimmten ist.“ 12 Über die Kirche c. 4. 13 Über die Kirche c. 7. 14 Über die Kirche c. 9. 15 Über die Kirche c. 11. 16 Über die Kirche c. 15. 8
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10. Keiner würde ohne eine Offenbarung vernünftigerweise von sich oder einem anderen behaupten, dass er das Haupt einer Teilkirche sei; auch der Römische Bischof ist nicht das Haupt der Römischen Kirche.17 11. Man darf nicht glauben, dass derjenige, der gerade Römischer Bischof ist, das Haupt irgendeiner heiligen Teilkirche sei, wenn Gott ihn nicht vorherbestimmt hat.18 12. Niemand vertritt die Stelle Christi oder Petri, wenn er ihm nicht in den Sitten nachfolgt. Denn keine andere Nachfolge kommt diesem Amt mehr zu, und nur so empfängt er von Gott die stellvertretende Vollmacht; denn zu diesem Stellvertreteramt ist die Angemessenheit der Sitten ebenso erforderlich wie die Autorität des Einsetzenden.19 13. Der Papst ist nicht der erwiesene und wahre Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, wenn er in seiner Lebensführung im Gegensatz zu Petrus lebt. Sinnt er auf Habsucht, dann ist er Stellvertreter des Judas Ischariot. Mit gleicher Evidenz sind die Kardinäle nicht die erwiesenen und wahren Nachfolger des Kollegiums der anderen Apostel Christi, es sei denn, sie leben nach Art der Apostel und halten die Gebote und Räte unseres Herrn Jesus Christus.20 14. Doktoren, nach deren Lehre jemand, der durch kirchliche Zensur gebessert werden soll, sich aber nicht zurechtweisen lassen will, dem weltlichen Gericht zu übergeben ist, folgen darin ganz unzweifelhaft den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Pharisäern, die Christus selbst, der ihnen nicht in allem gehorchen wollte, dem weltlichen Gericht übergaben und sagten: Uns ist es nicht erlaubt, jemanden zu töten21; denn solche sind schlimmere Mörder als Pilatus.22 15. Kirchlicher Gehorsam ist ein von Priestern der Kirche erfundener Gehorsam, wider die ausdrückliche Autorität der Schrift.23 16. Die nächstliegende Einteilung der menschlichen Werke besteht darin, dass sie entweder tugend- oder lasterhaft sind; denn wenn ein Mensch lasterhaft ist und etwas tut, dann handelt er lasterhaft, und wenn er tugendhaft ist und etwas tut, dann handelt er tugendhaft. Denn so wie das Laster, das man Verbrechen oder Todsünde nennt, die Handlungen des lasterhaften Menschen insgesamt vergiftet, so belebt die Tugend alle Handlungen des tugendhaften Menschen.24 17. Ein Priester Christi, der nach dessen Gesetz lebt, Kenntnis der Schrift hat und das Verlangen, das Volk zu erbauen, muss predigen,
Über die Kirche c. 13. 18 Vgl. ebd. 19 Über die Kirche c. 14. 20 Über die Kirche c. 14. 21 Joh 18,31. 22 Über die Kirche c. 16. 23 Über die Kirche c. 17. 24 Über die Kirche c. 19. 17
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ungeachtet einer angeblichen Exkommunikation. Und weiter unten: Wenn der Papst oder irgendein Vorgesetzter einem so disponierten Priester gebietet, nicht zu predigen, darf der Untergebene nicht gehorchen.25 18. Jeder, der in das Priestertum eintritt, empfängt damit das Predigtamt als Auftrag; er muss diesen Auftrag erfüllen, ungeachtet einer angeblichen Exkommunikation.26 19. Durch die kirchlichen Zensuren der Exkommunikation, der Suspension und des Interdikts unterwirft sich der Klerus das Laienvolk zu seiner eigenen Erhöhung, vermehrt die Habsucht, beschützt die Schlechtigkeit und bereitet dem Antichrist den Weg. Das aber ist ein offensichtliches Zeichen, dass vom Antichrist solche Zensuren ausgehen, die der Klerus in seinen Prozessen Bannstrahlen27 nennt, mit denen er hauptsächlich gegen jene vorgeht, welche die Schlechtigkeit des Antichrist bloßlegen, die der Klerus im höchsten Maß für sich gepachtet hat.28 20. Wenn ein Papst schlecht ist, und zumal ein Vorhergewusster, dann ist er wie der Apostel Judas ein Teufel, Dieb und Sohn des Verderbens29 und nicht das Haupt der heiligen streitenden Kirche, weil er auch nicht ihr Glied ist.30 21. Die Gnade der Prädestination ist ein Band, durch das der Leib der Kirche und jedes ihrer Glieder mit dem Haupt selbst unauflöslich verbunden wird.31 22. Ein Papst oder schlechter und vorhergewusster Prälat ist nur dem äußeren Wortsinn nach ein Hirte, in Wirklichkeit ein Dieb und Räuber.32 23. Ein Papst darf nicht einmal dem Amt nach mit „Heiligkeit“ angesprochen werden; denn sonst müsste auch ein König seinem Amt nach mit „Heiligkeit“ angesprochen werden, und auch Folterer und Schergen würden „heilig“ genannt; ja sogar der Teufel müsste „heilig“ heißen, da er ein Amtsträger Gottes ist.33 24. Wenn ein Papst im Gegensatz zu Christus lebt, so gilt: Selbst wenn er durch eine ordentliche und rechtmäßige Wahl nach allgemein verbreiteter menschlicher Einrichtung den Thron bestiege, so würde er ihn dennoch auf anderem Weg besteigen als durch Christus, mag er Über die Kirche c. 20. 26 Ebd. 27 Wörtlich: „Blitze“. 28 Über die Kirche c. 23. Vgl. Joh 17,12. 30 Bezieht sich auf die Schrift gegen Pálecˇ , OO (1558) 1, fol. 225v ff. 31 Vgl. ebd., fol. 257r. 32 Vgl. Joh 10,8; die zitierte Stelle aus Hus gegen Pálecˇ , OO (1558) 1, fol. 258r. 33 Vgl. Joh 10,8; die zitierte Stelle aus Hus gegen Pálecˇ , OO (1558) 1, fol. 258v. 25 29
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auch durch einen ursprünglich von Gott eingerichteten Wahlmodus dort hinaufkommen. Denn auch Judas Ischariot wurde vom Gott Jesus Christus ordentlich und rechtmäßig zum Apostolat erwählt und stieg doch anderswo in den Schafstall ein.34 25. Die von den Doktoren vorgenommene Verurteilung der 45 Artikel des Johannes Wyclif 33 ist unvernünftig, ungerecht und schlecht erarbeitet; erdichtet ist der von ihnen angeführte Grund, dass nämlich keiner der Artikel katholisch, vielmehr jeder von ihnen häretisch, irrig oder ärgerniserregend sei.36 26. Nicht schon dadurch, dass sich die Wähler oder ihre Mehrheit mündlich dem unter Menschen üblichen Verfahren entsprechend auf eine bestimmte Person geeinigt haben, ist sie auch eo ipso rechtmäßig gewählt oder eo ipso wahrer und erwiesener Nachfolger oder Stellvertreter des Apostels Petrus oder eines anderen Apostels in einem kirchlichen Amt. Wir müssen deshalb, ob nun die Wähler gut oder schlecht gewählt haben, den Werken des Gewählten glauben. Denn allein dadurch, dass jemand besonders verdienstvoll zum Fortschritt der Kirche wirkt, hat er besonders große Gewalt dazu von Gott.37 27. Es gibt keinen Funken eines Beweises dafür, dass es in der geistlichen Leitung der Kirche nur ein einziges Haupt geben müsse, das stets mit der streitenden Kirche lebt.38 28. Christus würde ohne so monströse Häupter, durch seine wahren Jünger, die über den Erdkreis verstreut sind, seine Kirche besser leiten.39 29. Die Apostel und die gläubigen Priester des Herrn haben die Kirche schon tatkräftig in den heilsnotwendigen Dingen geleitet, ehe das Amt des Papstes eingeführt war, und sie würden dies bis zum Tag des Gerichts tun, wenn es (was durchaus möglich wäre) keinen Papst gäbe.40 30. Keiner ist weltlicher Herr, keiner Prälat, keiner Bischof, solange er in Todsünde lebt.41
Vgl. Joh 10,1; die zitierte Stelle aus Hus gegen Palecˇ , OO (1558) 1, fol. 259r. 35 Vgl. Anm. 1. 36 Hus gegen Pálecˇ , OO (1558) 1, fol. 260r. 37 Bezieht sich auf Hussens Antwort an Stanislaus von Znaim, OO (1558) 1, fol. 271rv. 38 Vgl. ebd., fol. 277r. 39 Vgl. ebd., fol. 277v. 40 Vgl. ebd., fol. 283v. 41 Aus Hussens Schrift De decimis, OO (1558) 1, fol. 256r. Vgl. die Verteidigung des 15. Konstanzer Satzes Wyclifs aus Hussens Antwort auf Pálecˇ , OO (1558) 1, fol. 256r. 34
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37 BERICHT DES PETER VON MLADONIOWITZ ÜBER DIE LETZTEN TAGE UND DEN FEUERTOD DES JOHANNES HUS [1415]
Übersetzungsgrundlage: Die Übersetzung, die sich auf den letzten Abschnitt des Berichts beschränkt, folgt weitgehend Bujnoch, Hus in Konstanz, 243–258; zur Textentstehung und zu den lateinischen Fassungen vgl. ebd., 31–35.
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Einleitung Nr. 37
Peter von Mladoniowitz (ca. 1390–1451) ist einer der wichtigsten Augenzeugen für die Konstanzer Verhandlungen mit Hus. Nach Konstanz reiste er als Mitglied der Delegation der Universität Prag, die durch den Ritter Jan von Chlum und den Magister Johannes Reinstein angeführt wurde. Damals noch recht jung und gerade in Prag zum Baccalaureus promoviert, diente Mladoniowitz als Schreiber des Jan von Chlum. Er war Zeuge der Konzilsverhöre des Johannes Hus und auch bei dessen Hinrichtung zugegen. Parallel zu den Geschehnissen oder in kurzem zeitlichem Abstand zu ihnen hielt er schriftlich fest, was er selbst beobachtete oder was ihm zugetragen wurde. Wie sehr er Hus in den schweren Wochen der Konstanzer Gefangenschaft unterstützte, geht aus den Hus-Briefen dieser Zeit deutlich hervor (vgl. diese Ausgabe Nr. 33). Der aus den noch in Konstanz angefertigten Aufzeichnungen entstandene Bericht wurde wenig später redaktionell bearbeitet und mit Originaldokumenten angereichert. Mladoniowitz bietet keine distanzierte Geschichtsschreibung, sondern einen bewegenden Erlebnisbericht aus der Perspektive eines Anhängers und Freundes des Johannes Hus. Das große Interesse der deutschen Reformation an Hus führte dazu, dass man beim Aufsuchen von Hus-Texten auch auf den Mladoniowitz-Bericht stieß. Der Humanist Nikolaus Krumpach (ca. 1475–1535/36) übersetzte ihn 1529 ins Deutsche, der Lutherschüler Johannes Agricola von Eisleben (1492–1566) versah ihn mit einem Vorwort (vgl. die Einleitung zu dieser Ausgabe oben XXVII). Der Mladoniowitz-Bericht hatte später einen festen Platz in protestantischen Martyrologien.
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Gleichfalls im selben Jahre des Herrn 1415, am fünften Tage des Monats Juli, Freitag nach Prokop, wurden im Auftrag des Königs der Römer und von Ungarn, Sigismund, die Edelherren Wenzel von Dubá und Johannes von Chlum zusammen mit anderen, nämlich vier Bischöfen,1 zum Kerker der Minderbrüder in Konstanz geschickt, um die endgültige Absicht des Magisters Johannes Hus zu hören, ob er an den oben genannten aus seinen Büchern, wie vorerwähnt entnommenen und aus dem Prozessverlauf sowie durch die Aussage der Zeugen gegen ihn bewiesenen Artikeln festhalten oder entsprechend der Aufforderung des Konzils, wie vorerwähnt, ihnen abschwören und sie widerrufen wolle. Als man den Magister aus dem Kerker herausgeführt hatte, sprach Herr Johannes von Chlum zu ihm: „Siehe, Magister Johannes, wir sind Laien und wissen dir nicht zu raten. Sieh also zu, wenn du das Gefühl hast, dass du in irgendwelchen Punkten von dem, was man dir vorwirft, schuldig bist, schäme dich nicht, darüber dich belehren zu lassen und zu widerrufen. Wenn du aber nicht das Gefühl hast, darin, was man dir vorwirft, schuldig zu sein, und dein Gewissen dir gebietet, handle unter keinen Umständen gegen dein Gewissen und lüge auch nicht im Angesichte Gottes, sondern steh vielmehr bis zum Tode in der Wahrheit, 2 die du erkannt hast.“ – Und Magister Johannes Hus antwortete demütig und unter Tränen: „Herr Johannes! Ihr sollt wissen, wenn ich mir bewusst wäre, etwas Irriges gegen das Gesetz und die heilige Mutter Kirche geschrieben oder gepredigt zu haben, dass ich es in Demut widerrufen wollte – Gott ist mein Zeuge. Aber ich wünsche immer, dass man mir bessere und beweiskräftigere Schriftbelege zeige, als das ist, was ich geschrieben und gelehrt habe. Und wenn man sie mir gezeigt hat, will ich auf das bereitwilligste widerrufen.“ – Auf diese Worte entgegnete dem Magister Johannes einer der Bischöfe, der dabeistand: „Willst du vielleicht weiser sein als das gesamte Konzil?“ Aber der Magister sprach zu ihm: „Ich will nicht weiser sein als das gesamte Konzil, aber ich bitte, gebt mir den Geringsten von Seiten des Konzils, der mich durch bessere und beweiskräftigere Schriftstellen belehrt, und ich bin bereit, sofort zu widerrufen.“ Darauf erwiderten die Bischöfe: „Seht, wie verstockt er in seiner Häresie ist.“ Und nach diesen Worten ließen sie ihn zum Kerker führen und gingen weg.
Zu den vom Konzil in der Causa Hus delegierten Bischöfen vgl. die Anm. zu Nr. 36.2 dieser Ausgabe. 2 Nach Joh 8,44.
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Am folgenden Tag aber – es war der sechste Tag des Juli – oder am Samstag nach Prokop, am achten nach Petrus und Paulus,3 wurde genannter Magister Johannes Hus durch den Erzbischof von Riga4 zur Hauptkirche der Stadt Konstanz geführt, wo eine allgemeine Sitzung der Prälaten unter dem Vorsitz des Königs der Römer und der Ungarn – der König war mit der Krone geschmückt – gehalten wurde.5 In der Mitte dieser Versammlung und der Kirche war ein Sitz nach Art eines Tisches in bestimmter Höhe herausgehoben, worauf Kleider, sowohl der zur Messe gehörende Ornat als auch Priesterkleidung für die Degradierung des Magisters Hus, über einen Block gelegt waren. Als man aber den Magister zur Kirche führte und er vor den genannten erhöhten Sitz kam, beugte er die Knie und betete ziemlich lange. Inzwischen stieg der Bischof von Lodi6 auf die Kanzel und hielt eine Predigt über Häresien, wobei er unter anderem erklärte, dass Häresien in der Kirche entzweiten und dass es Aufgabe des Königsamtes sei, solche Häresien und besonders die Simonie aus der Kirche Gottes auszurotten. Indessen erhob sich Heinrich von Piro,7 ein Konzilsprokurator, stellte den Antrag und bat, dass das Konzil den Prozess der Sache gegen Magister Johannes Hus bis zum Schlussurteil fortführen wolle. Darauf verkündete einer der vom Konzil abgeordneten Bischöfe von der Kanzel aus den Prozess der Sache, die unlängst zwischen Magister Johannes und den Erzbischöfen und Prälaten von Prag an der römischen Kurie und anderswo behandelt worden war, und nach anderem verkündete er die gegen Magister Hus aus seinen Büchern und aus dem Prozessgegenstand herausgezogenen Artikel, die zugleich mit den von der Hand des Magisters Johannes Hus im Kerker aufgezeichneten und uns überreichten Glossen und Einschränkungen im Wortlaut weiter unten genau niedergeschrieben werden sollen.8 Von diesen möchte ich hier welche einfügen, um seine Worte vorzubringen, als er damals mündlich antwortete. Deren erster Artikel war folgender: Es gibt nur eine allgemeine Kirche, die die Gemeinschaft der Auserwählten ist usw. 3 Sämtliche Datumsangaben beziehen sich auf den Samstag, 6. Juli 1415. 4 Johann von Wallenrod (ca. 1370–1419) war von 1393 bis 1418 Erzbischof von Riga und 1418/19 Bischof von Lüttich. 5 Es handelte sich um die 15. Sessio des Konzils im Konstanzer Münster. 6 Bischof von Lodi war seit 1407 der Dominikaner Giacomo Arrigoni (Jacobus Laudensis) (ca. 1368–1435). Seine am 6. Juli 1415 gehaltene Predigt in deutscher Übersetzung bei Bujnoch, Hus in Konstanz, 259–267. 7 Eigentlich Heinrich von dem Birnbaum, gest. 1439, Propst zu St. Kunibert in Köln, Kanoniker in Lüttich, Konzilsprokurator in Konstanz. 8 Bei den hier genannten Artikeln handelt es sich um die am 18. Juni von Hus beantworteten Artikel bei Palacky´ , Documenta, 225–230.
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Zu diesem Artikel und den anderen folgenden antwortete Magister Johannes bei der Verlesung und Verkündigung laut mit denselben Einschränkungen, die er eigenhändig dazu gesetzt und aufgezeichnet hat und die, wie vorausgeschickt, hier eingefügt sind. Als er aber gerade antwortete, sprach der Kardinal von Cambrai9 zu ihm: „Schweig jetzt! Ihr werdet hernach gut auf alle zugleich antworten.“ Und Magister Johannes erwiderte: „Wie soll ich auf alle zugleich antworten, wenn ich nicht alle gleichzeitig bedenken kann?“ Beim erneuten Versuch, auf andere ihm vorgeworfene und daselbst ausgerufene Artikel zu antworten, erhob sich der Kardinal von Florenz10 und sprach zu ihm: „Schweig jetzt! Wir haben dich nämlich schon genug gehört.“ Und der Kardinal stand nochmals auf und sagte zu den Bütteln: „Gebietet ihm zu schweigen!“ Und Magister Hus flehte mit gefalteten Händen und mit lauter Stimme und sprach: „Ich bitte euch um Gottes willen, höret mich, damit die Umstehenden nicht glauben, ich hätte Irrtümer vertreten! Nachher werdet ihr ja doch mit mir machen, was euch gefällt.“ Als man ihn aber hinderte, etwas zu sagen oder auf die ihm damals gemachten Vorwürfe zu antworten, beugte er die Knie, faltete die Hände, richtete die Augen zum Himmel und betete inbrünstig, wobei er seine Sache Gott, dem gerechtesten Richter, anvertraute. Und dasselbe machte er damals zu wiederholten Malen. Nach Beendigung der aus seinen Büchern entnommenen Artikel wurden die Artikel aus der Prozesssache verkündet, die, wie es hieß, durch Zeugenaussage gegen ihn erwiesen seien und ihm vorgeworfen würden.11 Zu den einzelnen von diesen ihm damals vorgeworfenen Artikeln benannte man als Zeugen Pfarrer, Kanoniker, Doktoren und andere Prälaten, die man aber nicht mit ihren eigentlichen Namen anführte, sondern es wurden die Namen ihrer Ämter und die der Orte gesetzt. Unter diesen Artikeln war folgender, dass nach der Konsekration der Hostie materielles Brot oder Brotsubstanz auf dem Altar verbleibe. Ebenso ein anderer, dass ein Priester in der Todsünde das Sakrament nicht bewirke, dass er nicht konsekriere, nicht taufe und so weiter. Als sich Magister Johannes an dieser Stelle erhob und antworten wollte, hinderte ihn wiederum der Kardinal von Florenz und schrie ihn an. Und der Magister antwortete dennoch und sprach: „Ich bitte euch um Gottes willen, vernehmt meine Gesinnungsrichtung auch der Umstehenden wegen, damit sie nicht glauben, ich hätte solche Irrtümer vertreten. Deshalb sage ich: Ich habe niemals vertreten, gelehrt Pierre d’Ailly (zur Person vgl. oben 630 Anm. 55). 10 Francesco Zabarella (1360– 1417), Erzbischof von Florenz, Kardinal. 11 Vgl. diese Ausgabe Nr. 35.
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und gepredigt, dass im Altarsakrament nach der Konsekration materielles Brot verbleibe.“ Und in der Folge antwortete der Magister auch auf die anderen Artikel entsprechend den Aufzeichnungen von seiner Hand. Inzwischen warf man ihm auch einen Artikel vor, er habe angeblich behauptet, dass er in den göttlichen Personen die vierte Person sein werde oder sei. Und diesen Artikel belegten sie durch einen Doktor. Und der Magister sprach: „Man nenne diesen Doktor, der solches gegen mich bezeugt hat.“ Und der Bischof, der der Sprecher war, sagte: „Es ist hier jetzt nicht nötig, dass man ihn nennt.“ Und der Magister entgegnete und sagte unter anderem: „Fern sei es von mir Armseligem, mich die vierte Person in den göttlichen Personen nennen zu wollen, da solches nicht in mein Herz gedrungen ist ,12 sondern ich behaupte unablässig, dass Vater und Sohn und Heiliger Geist ein Gott ist, eine Wesenheit und eine Dreieinigkeit der Personen.“ Von neuem verlasen die genannten Sprecher, dass Magister Johannes an Gott appelliert habe,13 und sie verurteilten solcherart Appellation als Irrtum. Darauf erwiderte Magister Johannes mit lauter Stimme: „Herr Gott, siehe, schon verurteilt dieses Konzil als einen Irrtum deine Taten und dein Gesetz, so du doch, als du von deinen Feinden bedrückt und bedrängt wurdest, deine Sache Gott, deinem Vater, dem gerechtesten Richter, anvertraut und darin uns Armen ein Beispiel gegeben hast, dass wir, wenn irgendwie bedrückt, zu dir, dem gerechtesten Richter, Zuflucht nehmen und in Demut deine Hilfe verlangen sollen.“ Und er fügte noch hinzu: „Und ich bleibe bei meiner Behauptung, dass es keine zuverlässigere Appellation gibt als die an den Herrn Jesus Christus. Er lässt sich durch kein unrechtes Geschenk umstimmen und auch durch kein falsches Zeugnis täuschen, weil er jedem erweist, was er verdient hat.“ Unter anderem bringt man vor, dass Magister Johannes Hus, als er in der Exkommunikation war, diese verstockt hingenommen habe usw. Der Magister entgegnete: „Ich habe sie nicht verstockt hingenommen, sondern ich habe unter Appellation gepredigt und die Messe gefeiert. Und obwohl ich zwei Prokuratoren an die römische Kurie verfügt und dabei vernünftige Gründe über mein persönliches Nichterscheinen angeführt habe, konnte ich trotzdem niemals Gehör bekommen, sondern von meinen Prokuratoren wurden die einen eingeker1Kor 2,9. 13 Die Appellation an Christus vgl. diese Ausgabe Nr. 21. 14 Seit 1410 wirkten als Hussens Rechtsvertreter Johannes von Jessenitz, Markus von König-
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kert, die anderen übel behandelt.14 Und über alle diese Vorgänge beziehe ich mich auf die Prozessakten, in denen das alles ausführlicher enthalten ist. Obendrein bin ich auch hierher zu diesem Konzil freiwillig gekommen im Besitz eines Geleitsbriefes15 des hier gegenwärtigen Herrn, des Königs, da ich willens war, meine Schuldlosigkeit zu erweisen und von meinem Glauben Rechenschaft zu geben.“ Als alle gegen den Magister vorgebrachten Artikel bereits beendet und verlesen waren, las ein kahlköpfiger und greiser Auditor und Prälat sowie Abgeordneter der italischen Nation das Schlussurteil gegen Magister Johannes Hus,16 und Magister Johannes antwortete zu gewissen Punkten dieses Urteils, indem er, auch wenn man es ihm wehrte, dagegen Einwände machte. Und besonders als es hieß „verstockt in seinem Irrtum und in der Häresie“, entgegnete er mit lauter Stimme: „Ich war niemals verstockt und bin es auch nicht, aber ich verlangte immer und verlange noch heute eine wirksamere Unterweisung aus Schriftbelegen. Und ich erkläre heute: Wenn ich durch ein einziges Wort alle Irrtümer abbauen und überwinden könnte, würde ich es am liebsten tun.“ – Und als man alle seine Bücher, ob sie nun von ihm lateinisch herausgegeben oder in irgendeine andere Sprache übersetzt waren, in demselben Urteil als häresieverdächtig verurteilte und zur Verbrennung bestimmte – etliche von ihnen wurden daselbst hernach verbrannt, vor allem das Buch „Über die Kirche“, „Gegen Pálecˇ “, wie es betitelt war, und „Gegen Stanislav“ – hielt Magister Johannes Hus entgegen: „Und wie verurteilt ihr mir meine Bücher, während ich stets bessere Schriftbelege gewünscht und verlangt habe gegen das, was ich darin gesagt und niedergelegt habe, und auch heute noch verlange, aber bis jetzt habt ihr mir keinen wirksameren Schriftbeleg vom Gegenteil angeführt, und ihr habt mir kein einziges Wort aus ihnen als irrig aufgezeigt. Wie aber habt ihr die in die böhmische Volkssprache oder in eine andere Sprache übersetzten Bücher verurteilt, die ihr niemals gesehen habt?“ – Die weitere Urteilsverkündigung aber hörte er mit gebeugten Knien an, er betete dabei und blickte zum Himmel empor. Nachdem dieses Urteil, wie vorerwähnt, in allen seinen einzelnen Punkten beendet war, beugte Magister Johannes Hus wieder seine Knie, betete für alle seine Feinde mit lauter Stimme und sprach: „Herr Jesus Christus! Vergib allen meinen Feinden um deiner großen Barmherzigkeit willen, so flehe ich dich an. Und du weißt, dass sie mich grätz und Nikolaus von Stojcˇ ín an der Kurie in seiner Angelegenheit. 15 Diese Ausgabe Nr. 32. 16 Antonio Panciera (ca. 1350–1431), 1393–1402 Bischof von ConcordiaPordenone, seit 1411 Kardinal.
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fälschlich angeklagt haben, falsche Zeugen vorgeführt und falsche Artikel gegen mich erfunden haben. Verzeihe ihnen um deiner unermesslichen Barmherzigkeit willen.“ – Nach diesen Worten sahen viele, zumal die „Hohepriester“, unwillig vor sich hin und verhöhnten ihn. Danach legte er auf Geheiß von sieben Bischöfen,17 die bei seiner Degradierung dabei waren, die Altargewänder an, als ob er eine Messe feiern wollte. Und als er die Alba anzog, sprach er: „Da mein Herr Jesus Christus von Herodes zu Pilatus geführt ward, hat man ihn mit einem weißen Gewand verspottet.“ – Als der Magister bereits so angekleidet war und von jenen Bischöfen aufgefordert wurde, zu widerrufen und abzuschwören, erhob er sich, stieg auf jenen Tisch, vor dem er sich anzog, und sagte unter Tränen und schmerzerfüllt zur Menge gewendet: „Seht, diese Bischöfe fordern mich dazu auf, dass ich widerrufe und abschwöre. Ich scheue mich, es zu tun, um nicht ein Lügner zu sein im Angesicht des Herrn, und auch, um nicht gegen mein Gewissen und gegen Gottes Wahrheit zu verstoßen, da ich doch niemals diese Artikel vertreten habe, die man fälschlich gegen mich bezeugt – ich habe vielmehr ihr Gegenteil geschrieben, gelehrt und gepredigt –, und schließlich deshalb, um nicht einer so großen Menge, der ich gepredigt habe, und auch anderen, die Gottes Wort getreu predigen, ein Ärgernis zu geben.“ – Auf diese Worte hin sprachen die in der Runde sitzenden Bischöfe und andere vom genannten Konzil: „Wir sehen bereits, dass er in seiner Bosheit verhärtet und in der Häresie verstockt ist.“ Als aber der Magister von genanntem Tisch herabstieg, begannen ihn die genannten Bischöfe sogleich zu degradieren. Zuerst nahmen sie ihm den Kelch aus seinen Händen und sprachen folgendes Fluchwort: „Du verfluchter Judas, warum hast du den Rat des Friedens verlassen und hast Rat gepflogen mit den Juden? Wir nehmen von dir diesen Kelch der Erlösung.“ – Und der Magister sprach mit lauter Stimme: „Ich vertraue auf den Herrn, den allmächtigen Gott, um dessen Namens willen ich diese Lästerung geduldig ertrage, weil er selbst den Kelch seiner Erlösung von mir nicht wegnehmen wird, sondern ich hoffe fest, dass ich heute in seinem Reiche ihn trinken werde.“ Und in der Folge nahmen sie die anderen Kleidungsstücke von ihm: die Stola, das Messgewand und andere usw., und bei den einzelnen Teilen stießen sie nach ihrer Weise eine Verfluchung aus. Und der Magister erwiderte, dass er diese Gotteslästerungen demütig und gern um des Namens unseres Herrn Jesus Christus willen auf Die an der an der Degradation beteiligten sechs, nicht sieben Bischöfe vgl. unter Nr. 36.II.
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sich nehme. Als alle diese Gewänder, wie erwähnt, von ihm genommen waren, gingen die genannten Bischöfe weiter an die Verletzung seiner Tonsur. Da sie aber untereinander stritten – einige wollten, dass man ihn mit einem Rasiermesser rasiere, andere aber sagten, es genüge, seine Tonsur allein mit einer Schere zu verletzen –, sprach der Magister zum König gewendet, der auf dem Thron den Vorsitz führte: „Siehe, diese Bischöfe wissen noch nicht bei solcher Lästerung einig zu sein!“ – Und als sie ihm die Tonsur an vier Seiten, nämlich rechts und links, vorn und rückwärts mit einer Schere zerstörerisch angeschnitten hatten, sprachen sie zum Schluss folgende Worte: „Jetzt hat die Kirche bereits alle kirchlichen Rechte von ihm genommen und hat weiter nichts mehr mit ihm zu schaffen. Deshalb übergeben wir ihn dem weltlichen Gerichtshof.“ – Bevor sie aber eine Schandkrone aus Papier auf sein Haupt setzten, sprachen sie unter anderem zu ihm: „Wir überantworten deine Seele dem Teufel!“ – Und der Magister sagte mit gefalteten Händen und mit zum Himmel gerichteten Augen: „Und ich überantworte sie dem gütigsten Herrn Jesus Christus.“ Und beim Anblick jener Krone sprach er: „Mein Herr Jesus Christus hat sich herabgelassen, die viel härtere und schwerere Dornenkrone um meinet-, des Armseligen willen schuldlos in den schändlichsten Tod zu tragen, und deshalb will ich armer Sünder diese viel leichtere, wenn auch lästerliche Krone um seines Namens und der Wahrheit willen in Demut tragen.“ – Die Papierkrone aber war rund und ungefähr eine Elle hoch. Es waren drei schauerliche Teufel daraufgemalt, wie sie gerade die Seele mit ihren Krallen zerren und festhalten wollen. Und auf dieser Krone war der Titel seiner Prozesssache aufgeschrieben. „Dieser ist ein Erzketzer.“ Darauf sprach der König zu Herzog Ludwig, dem Sohn des ehedem Clem von Bayern18 – der Herzog stand damals in seiner Rüstung vor dem König und hielt den goldenen Apfel mit dem Kreuz in seinen Händen: Geh hin und nimm ihn! 19 Und der schon genannte Sohn des Clem übernahm den Magister, gab ihn in die Hände der Henker und geleitete ihn in den Tod. Als aber der bereits also gekrönte Magister aus der genannten Kirche geführt wurde, verbrannte man auf dem Friedhof dieser Kirche zur gleichen Stunde, wie es hieß, seine Bücher. Als er es im Vorübergehen sah, lächelte er über ihr Tun. Unterwegs aber forderte er Der Kurfürst von der Pfalz und römische König (1400–1410) Ruprecht III. trug den Beinamen Clem; sein von Mladoniowitz nur mit dem bayerischen Herzogstitel genannter Sohn war Kurfürst Ludwig III. von der Pfalz (amtierte 1410–1436). 19 Nach Joh 19,6.
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die Dabeistehenden und Nachkommenden auf, sie sollten nicht glauben, dass er wegen der ihm hinterlistig zugeschriebenen und durch falsche Zeugen, seine Todfeinde, ihm aufgebürdeten Irrtümer sterbe. Fast die ganze Bürgerschaft der Einwohner aber war in Waffen und geleitete ihn in den Tod. Als der Magister zur Hinrichtungsstätte kam, beugte er die Knie, betete mit ausgebreiteten Händen und mit zum Himmel emporgerichteten Augen inbrünstig Psalmverse, besonders Gott, sei mir gnädig und Herr, auf dich vertraue ich.20 Bei der Wiederholung des Verses in deine Hände, o Herr 21 wurde er von den Seinen, die dabeistanden, gehört, wie er heiter und mit ruhigem Blick betete. – Die Hinrichtungsstätte aber war auf einer bestimmten Wiese zwischen Gärten, wenn man aus der Stadt Konstanz heraus gegen die Burg Gottlieben geht, zwischen den Toren und den Vorstadtgräben der genannten Bürgerstadt. Einige dabeistehende Laien sagten: „Wir wissen nicht, was er früher getan oder gesprochen hat. Jetzt aber sehen und hören wir, dass er heilige Worte betet und redet.“ Und andere sprachen: „Es wäre gewiss gut, dass er einen Beichtvater hätte, damit er gehört würde.“ Ein Priester aber,22 der in einem grünen, mit roter Seide verbrämten Gewande zu Pferde saß, sprach: „Er braucht nicht gehört zu werden, und man braucht ihm auch keinen Beichtvater zu geben, denn er ist ein Ketzer.“ Magister Johannes aber hat noch während seines Aufenthaltes im Kerker einem Doktor und Mönch gebeichtet, und er wurde von diesem gütig gehört und losgesprochen, wie er auf einem seiner Blätter, die der Magister aus dem Kerker an seine Anhänger geschickt hat, bekennt.23 – Während er nun so, wie vorerwähnt, betete, fiel die genannte Schandkrone, die mit drei Dämonen ringsum bemalt war, von seinem Haupt. Er lächelte, als sein Blick darauf gefallen war. Und einige Söldner, die um ihn herumstanden, sagten: „Man soll sie ihm wieder aufsetzen, damit er zugleich mit seinen Herren, denen er gedient hat, den Dämonen, verbrannt werde. Auf Geheiß des Henkers aber erhob sich der Magister von der Stelle des Gebetes und sprach mit lauter und vernehmbarer Stimme, dass er auch von den Seinen gut gehört werden konnte: „Herr Jesus Christus! Diesen entsetzlichen, schändlichen und grausamen Tod will ich um deines Evangeliums und um der Predigt deines Wortes willen auf das geduldigste und demütig ertragen.“ Dann wollte man, dass er an den Umstehenden überall reihPs 51,3; Ps 31,2. 21 Ps 31,6. 22 Ulrich Schorand, der als Vertreter des Konzils bei der Hinrichtung zugegen war. 23 Über die abgelegte Beichte berichtet Hus in seinem Brief vom 22. Juni 1415, diese Ausgabe Nr. 33, XIII. 20
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um geführt werde. Er forderte sie auf und bat immer wieder, sie sollten nicht glauben, dass er die ihm durch falsche Zeugen aufgebürdeten Artikel irgendwie vertreten, gepredigt oder gelehrt habe. Als sie ihm sein Gewand ausgezogen hatten, banden sie ihn mit Tauen an eine Säule, wobei er mit den Händen rückwärts an die genannte Säule gefesselt war. Und da der Magister mit dem Gesicht nach Osten gewendet stand, sagten einige der Umstehenden: „Man soll ihn nicht gegen Osten richten, denn er ist ein Häretiker, sondern richtet ihn gegen Westen!“ Das geschah auch. Als man ihn aber am Hals mit einer berußten Kette zusammenschnürte, betrachtete er sie, lächelte und sprach zu den Henkern: „Der Herr Jesus Christus, mein Erlöser und Heiland, ist mit einer härteren und schwereren Kette gefesselt worden, und ich Armer scheue mich nicht, um seines Namens willen gefesselt, diese Kette zu tragen.“ – Die Säule aber war ein dicker Balken von der Stärke ungefähr eines halben Fußes. Man spitze sie an einem Ende zu und rammte sie in die Erde, in die genannte Wiese. Unter die Füße des Magisters aber legte man zwei Bund Holz. Der Magister trug noch seine Schuhe und eine Fessel an den Füßen, als er an den Pfahl gebunden war. Die genannten Holzbündel, die mit Stroh vermischt waren, legten sie überall rings um den Körper des so dastehenden Magisters, bis an sein Kinn. An Holz aber waren es zwei Fuhren oder Wagen. Bevor aber der Magister angezündet wurde, trat der Reichsmarschall Hoppe von Pappenheim24 und mit ihm der Sohn des ehedem Clem25 an ihn heran, und sie forderten ihn auf, wie es hieß, sein noch heiles Leben zu retten und dem von ihm einst Gepredigten und Gesagten abzuschwören und es zu widerrufen. Der Magister aber blickte zum Himmel und antwortete mit lauter Stimme: „Gott“, so sprach er, „ist mein Zeuge, dass ich das, was mir fälschlich zugeschrieben wird und was man mir durch falsche Zeugen aufgebürdet hat, niemals gelehrt und auch niemals gepredigt habe, sondern es lag vor allem in der Absicht meiner Predigt und aller meiner anderen Handlungen oder Schriften, die Menschen einzig und allein von der Sünde abbringen zu können. In dieser evangelischen Wahrheit aber, die ich geschrieben, gelehrt und gepredigt habe nach den Aussprüchen und Auslegungen der heiligen Lehrer, will ich heute gern sterben.“ Und als das der Marschall zusammen mit dem Sohn des Clem vernommen hatte, schüttelten sie einander die Hände und gingen sogleich von dannen. Reichserbmarschall Haupt II. von Pappenheim (1380–1438) nahm am Konstanzer Konzil im Gefolge Sigismunds teil. 25 Vgl. Anm. 18.
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Dann zündeten die Henker den Magister an. Er sang darauf mit lauter Stimme zuerst: „Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner“; zum zweitenmal: „Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!“ Und beim dritten Male: „Der du geboren bist aus Maria, der Jungfrau.“ – Und als er zum dritten Male begonnen hatte zu singen, schlug ihm alsbald der Wind die Flamme ins Gesicht, und also in sich betend und Lippen und Haupt bewegend, verschied er im Herrn. Im Augenblick der Stille aber, bevor er verschied, schien er sich zu bewegen, und zwar so lange, als man zwei oder höchstens drei Vaterunser schnell sprechen kann. Als das Holz der genannten Bündel und Taue verbrannt war und immer noch eine Körpermasse dastand, die an der genannten Kette um den Hals hing, stießen darauf die Henker die genannte Masse zusammen mit der Säule zu Boden, belebten das Feuer weiter, und zwar mit einer dritten Holzfuhre, und verbrannten die Masse vollständig. Sie gingen herum und schürten die Knochen mit Stangen zusammen, damit sie umso schneller zu Asche würden. Und als sie sein Haupt fanden, teilten sie es mit einer Stange in Stücke und warfen es wieder ins Feuer. Da sie aber unter den inneren Organen sein Herz gefunden hatten, spitzten sie eine Stange nach Art eines Spießes an und befestigten am Ende das Herz, brannten es besonders und schüttelten es bei Verbrennen mit Stangen und machten schließlich jene ganze Masse zu Asche. Und auf Geheiß der genannten Herren, des Clem und des Marschalls, warfen die Henker sein Hemd zusammen mit den Schuhen ins Feuer und sagten dabei: „Damit das die Böhmen nicht etwa wie Reliquien halten, werden auch wir dir deinen Preis dafür geben.“ Das taten sie auch. Und so luden sie zusammen mit den einzelnen genannten Aschenteilen der Holzscheite alles auf einen Wagen und versenkten es im nahen Rheinfluss daselbst und zerstreuten es. Ich habe nun diese Reihenfolge der denkwürdigen, im Laufe der Zeit auch lebendiger zu ehrenden Erinnerung an Tod und Endkampf des berühmten Magisters Johannes Hus, des hervorragenden Predigers der evangelischen Wahrheit, auf das verständlichste erzählt. Dabei ging es mir allerdings darum, nicht in einer durch die Rinde schöngefärbter Worte geschmückten, aber des Kerns der tatsächlichen Wirklichkeit entbehrenden Abfassung gegenwärtiger Schrift die Ohren derer, die sich daran weiden möchten, zu reizen und zu erfreuen. Vielmehr war es meine Absicht, im Interesse einer künftigen lebendigen Erinnerung an den genannten Magister und unerschütterlichen Kämpfer, ohne zu lügen und lieber unter Hinnahme der Ungewandtheit ungepflegter Worte, von dem Vorausgeschickten das Mark, und
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zwar die Reihenfolge sowohl der Sache als auch des Prozesses, den ich nach dem Gesehenen und Gehörten genau kennengelernt habe nach der Zeugenschaft dessen, der die Einzelheiten weiß, als Zeugnis für die erkannte Wahrheit 26 darzubieten.
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Nach Joh 18,37.
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Abb. 18: Hus-Denkmal, Prag, Altstädter Ring.
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1397/98 um 1398 1398 September
1399 1400 1401 1402, 14. März
um 1403 1403
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Johannes (tschech. Jan) Hus im südböhmischen Hussinetz bei Prachatitz in einfachen Verhältnissen geboren vor 1390 Hus weilt in Prag und nimmt ein Studium an der Artistenfakultät der Universität auf; 1393 Baccalaureus artium (erstes gesichertes Quellenzeugnis!), 1396 Magister artium Hus gehört einer Delegation König Wenzels IV. an und gelangt bis an den Rhein (erste und einzige „Auslandsreise“ vor der Reise zum Konstanzer Konzil im Herbst 1414) Hus beginnt ein Studium der Theologie an der Universität Prag Hus kollationiert philosophische Traktate des englischen Kirchenkritikers John Wyclif und versieht diese mit eigenständigen Randglossen; die in Prag geführten Disputationen um dessen Lehre münden schon bald in Auseinandersetzungen um theologische Konsequenzen und um die Anwendbarkeit der Wyclifschen Doktrin für die einheimischen Reformdiskussionen, in denen die unterschiedlichen Standpunkte zwischen der böhmischen Universitätsnation und den drei landfremden nationes aufeinanderprallen Hus fungiert als Promotor des Matthäus von Knin; damit beginnt eine Reihe künftiger Promotionen von Bakkalaren und später auch Magistern durch Hus Priesterweihe Hus predigt bei wachsender Zuhörerschaft in der Kirche St. Michael in der Prager Altstadt; im Wintersemester 1401/2 bekleidet er das Amt des Dekans der Artistenfakultät Hus wird zum Rektor und Prediger an der Prager Bethlehemskapelle ernannt, die fortan – neben der Universität – zu Hussens Lebens- und Wirkungsmittelpunkt wird; in zehn Jahren hält er annährend 3.000 Predigten Hus predigt über 2Kor 9,6: „Wer spärlich sät, wird auch spärlich ernten“ (diese Ausgabe Nr. 1) Kontroversen über die Lehre Wyclifs an der Prager Universität; die Häresiefrage tritt zunehmend in den Vordergrund. Der aus Schlesien stammende Magister Johannes Hübner fügt den 24 bereits 1382 in England verurteilten Artikeln der Lehre Wyclifs weitere 21 hinzu, wodurch ein Ensemble von 45 Artikeln (diese Ausgabe Nr. 20.II) entsteht, über die zwischen Gegnern und Anhängern heftiger Streit entbrennt Zbyneˇ k von Hasenburg wird Erzbischof von Prag
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Hus wird zum Bakkalar der Theologie promoviert; er tritt als Redner bei einer Feier der Universität zu Ehren ihres Gründers, Karls IV., auf (diese Ausgabe Nr. 2) um 1405 Hus stößt in Wyclifs Traktat über die Kirche und in dessen Dialogus auf die Lehre von der Prädestination, die er bereits in seinen Sermones de tempore übernimmt 1405 Verbot der Wallfahrten nach Wilsnack; Hussens Schrift von der Verherrlichung des Blutes Christi (diese Ausgabe Nr. 4) 1405, 19. Oktober Synodalpredigt über Mt 22,37: „Du sollst Gott, den Herrn, lieben“ (diese Ausgabe Nr. 5); Kontroverse um Wyclifs Remanenzlehre 1407 Hus hält Vorlesungen an der Theologischen Fakultät über die Sentenzen des Petrus Lombardus; der zuvor im Wesentlichen auf die Prager Universität begrenzte Wyclifstreit wird zu einer gesamtkirchlichen Angelegenheit 1407, 18. Oktober Hus erneut Synodalprediger 1408, 14. Mai Hussens Schüler Matthäus von Knin wird wegen der Haltung in der Remanenzfrage eingekerkert 1408, 24. Mai auf einer Versammlung der böhmischen Universitätsnation wird dem Wunsch des Prager Erzbischofs Rechnung getragen und beschlossen, keine häretischen (wyclifistischen) Gedanken mehr zu verbreiten 1408, nach 25. August Anschuldigungen Prager Pfarrer gegen Hus wegen dessen öffentlicher Kritik an deren Lebenswandel; Hus verteidigt seine Angriffe (diese Ausgabe Nr. 6–9); Hus an der Spitze der wyclifistischen Reformbewegung 1409, 18. Januar Kuttenberger Dekret König Wenzels IV. und Änderung des Stimmenverhältnisses an der Prager Universität zugunsten der einheimischen Tschechen, die nunmehr drei Stimmen erhalten, während die anderen drei Nationen künftig nur mehr über eine Stimme verfügen 1409, Mai Auszug deutscher Studenten und Magister aus Prag; viele ehemalige Prager Studenten finden an der neu gegründeten Universität Leipzig eine Wirkungsstätte 1409, 16. Juni Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg fordert auf der St. VeitsSynode offiziell die Ablieferung aller Wyclifschriften 1409, Juni Prager Studenten appellieren an den päpstlichen Stuhl gegen die Herausgabe der Wyclifschriften 1409, September Zbyneˇ k von Hasenburg wechselt zur Obödienz des Pisaner Papstes Alexander V.; im gleichen Monat (?) wird gegen Hus erneut Klage wegen der Verkündigung wyclifistischer Gedanken von der Kanzel der Bethlehemskapelle erhoben; ein Verhör beim Inquisitor Mauritius Rvacˇ ka zieht keine Sanktionen gegen Hus nach sich 1409, 17. Oktober Hus wird für das Wintersemester 1409/10 zum Rektor der Universität Prag gewählt; nach dem Übertritt des Stanislaus
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1409, 3. Dezember 1409, 20. Dezember
1410, 9. März 1410, 25. April 1410, vor 3. Mai 1410, 3. Mai 1410, 16. Juni
1410, 21. Juni 1410, 25. Juni
1410, 16. Juli 1410, 18. Juli 1410, 27. Juli
1410, 25. August
1410, 24. September
von Znaim auf die Seite der Gegner Wyclifs wird so von Seiten der Reformpartei die Hus zuerkannte Führungsposition bestätigt Rektoratsrede über Jak 5,8: „Stärkt eure Herzen“ (diese Ausgabe Nr. 10) Bulle Papst Alexanders V. gegen die Lehren Wyclifs; der Prager Erzbischof darf fortan gegen die wyclifistische Lehre vorgehen; Ermächtigung zur Beschlagnahme wyclifistischer Bücher unter Androhung von Kirchenstrafen; jeder, der die Lehren Wyclifs weiter verkündet, wird künftig als Ketzer angesehen; Verbot der Predigt an privaten Orten, was auch die Bethlehemskapelle betrifft die Bulle Papst Alexanders V. wird in Prag bekannt gemacht und stößt auf beträchtlichen Widerstand Hus antwortet auf die päpstliche Bulle mit seiner programmatischen Schrift De libris hereticorum legendis Hus appelliert gegen die Bulle an den besser zu unterrichtenden Papst Papst Alexander V. stirbt, sein Nachfolger wird Johannes XXIII. die Prager Synode erklärt 18 Schriften Wyclifs für häretisch, diese sollen abgeliefert und verbrannt werden; Wiederholung des Verbots der Predigt an privaten Orten und des Unterrichten oder Verteidigens der Lehren Wyclifs die Universität Prag protestiert hiergegen; Hus meldet sich freiwillig als Quodlibetar für das Jahr 1411 Hus appelliert in der Bethlehemskapelle zusammen mit sieben weiteren Personen an Papst Johannes XXIII. gegen die vom Erzbischof angeordnete Verbrennung wyclifistischer Bücher mit dem Hinweis auf die darin enthaltene Wahrheit auf Anordnung Zbyneˇ ks von Hasenburg werden rund 200 Handschriften Wyclifs in Prag verbrannt, was heftige Proteste auslöst Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg verhängt gegen Hus und dessen Anhänger die Exkommunikation (diese Ausgabe Nr. 11) Sechs Magister mit Hus an der Spitze verteidigen auf dem Boden der Universität ausgewählte Schriften Wyclifs; Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg klagt Hus bei der römischen Kurie an Bestätigung der Exkommunikation durch den an der Kurie mit dem Fall beauftragten Kardinal Odo Colonna. Der Zitation an die Kurie folgt Hus nicht, zu seiner Verteidigung reisen der Rechtsgelehrte Johann von Jessenitz, Markus von Königgrätz und Nikolaus von Stojčín nach Rom Verschärfung des Banns gegen Hus durch Erzbischof Zbyneˇ k
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Zeittafel Hus leitet an der Artistenfakultät die disputatio de quodlibet 1411, Februar Kardinal Colonna verkündet den Kirchenbann gegen Hus, weil dieser nicht vor der Kurie erschienen ist; am 15 März wird er auf Anordnung des Erzbischofs in den Prager Kirchen verkündet 1411, April König Wenzel IV. fühlt sich in seinen politischen Plänen durch den über seinem Land schwebenden Häresieverdacht bedroht; der Konflikt mit Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg findet seinen Höhepunkt, der Landesherr lässt sämtliche Einkünfte des Klerus beschlagnahmen 1411, 2. Mai Erzbischof Zbyneˇ k verhängt den Kirchenbann gegen alle, die den König unterstützen 1411, 19. Juni Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg verhängt über Prag ein Interdikt, das freilich wirkungslos bleibt; der Erzbischof unterwirft sich einem Schiedsspruch, der auch den Konflikt mit Hus vorübergehend beilegt 1411, 21. Juni Hus predigt über Lk 14,13 und bekennt sich dabei erneut zu Wyclif (diese Ausgabe Nr. 14) 1411, 1. September Hus bittet den Papst, ihn vom persönlichen Erscheinen bei der Kurie freizustellen (diese Ausgabe Nr. 15); er wendet sich auch an die Kardinäle 1411, 5. September Erzbischof Zbyneˇ k von Hasenburg flieht aus Prag und stirbt am 28. September überraschend in Pressburg 1411, September Hus verteidigt Wyclifs Lehre an der Prager Universität; er richtet eine Schrift gegen den Gesandten des englischen Königs, John Stokes, der in Prag die Lehre Wyclifs angegriffen hatte (diese Ausgabe Nr. 16) 1411, Oktober Hussens Schrift „Gegen einen anonymen Gegner“ (diese Ausgabe Nr. 17) 1411, 1. November Hus wendet sich an den Papst und kurz darauf auch an die Kardinäle mit der Bitte, seinen Fall zu überprüfen; eine vierköpfige Kommission von Kardinälen soll in der Causa Hus eine Entscheidung fällen 1412, nach 10. Januar Kardinal Francesco Zabarella ist als Vorsitzender der Untersuchungskommission bereit, Hus von der persönlichen Anwesenheitspflicht zu entbinden 1412, Februar Kardinal Zabarella wird abberufen, an seine Stelle tritt Kardinal Brancaccio der sich in der Causa Hus unversöhnlich zeigt 1412, März (?) Hussens Vertreter Johann von Jessenitz wird in Rom der Ketzerei verdächtigt und inhaftiert, ihm gelingt jedoch die Flucht 1412, April Wyclifs Lehre wird in Rom erneut verurteilt; in Prag vertiefen sich die theologischen Streitigkeiten; Hus formuliert seine Kritik der päpstlichen Macht 1411, 3. Januar
Zeittafel 1412, Mai
1412, Juli
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1412, ab Sommer
1412, 18. Oktober
1412, 10. November
in Prag trifft eine Bulle Papst Johannes XXIII. ein, die jenen Ablass gewährt, die das römische Kirchenoberhaupt bei seinem Kreuzzug gegen König Ladislaus von Neapel unterstützen; mit Zustimmung König Wenzels IV. und des neuen Prager Erzbischofs Albík von Unicˇ ov darf der Kreuzzugsablass auch im Königreich Böhmen gewährt werden; Hus wendet sich dagegen von der Kanzel und in Streitschriften, dadurch kommt es zum Bruch mit den Magistern Stefan von Pálecˇ und Stanislaus von Znaim; zudem verscherzt sich Hus die Gunst seines königlichen Landesherrn und Protektors Hus missachtet ein Verbot des Prager Erzbischofs und der Theologischen Fakultät und spricht sich an der Universität gegen den Ablassverkauf aus; trotz Hussens Fürsprache werden drei junge Männer, die den Ablasspredigern widersprachen und den Ablass einen Betrug nannten, öffentlich hin gerichtet, was zu Unruhen führt öffentliche Disputation über die Wyclifartikel im Collegium Carolinum der Prager Universität, organisiert von Hus, Jakobellus von Mies und dem deutschen Friedrich Eppinge. Die Disputation soll den Nachweis erbringen, dass die Artikel Wyclifs nicht irrig oder häretisch seien (Defensio quorundam articulorum Iohannis Wiclef , diese Ausgabe Nr. 20); Hus setzt sich dabei ausführlich mit dem Artikel Nullus est dominus civilis auseinander die Gegner Hussens, insbesondere Michael von Deutschbrod gen. de Causis, der Prokurator der Prager Kurie, und Mauritius Rvacˇ ka, forcieren den inzwischen an Kardinal Pietro degli Stefaneschi übertragenen Prozess an der päpstlichen Kurie; Stefaneschi verschärft den Bann gegen Hus wegen Nichterscheinens vor der Kurie auf der Oktobersynode in Prag wird die Verschärfung des Banns gegen Hus feierlich bekanntgegeben; Hus appelliert daraufhin am gleichen Tag in der Bethlehemskapelle feierlich an Christus als gerechtesten Richter (diese Ausgabe Nr. 19) Hus vollendet in der aufs höchste angespannten Situation die zu seinen Hauptwerken zählenden tschechischen Auslegungen (V ýklady ) von Glaubensbekenntnis (diese Ausgabe Nr. 22), Zehn Geboten (diese Ausgabe Nr. 23) und Vaterunser (Výklad velký Věř ím v Boha, V ýklad Desatera, V ýklad Otcˇ enásˇ e ), welche die wichtigsten Glaubensinhalte in sprachlich einfacher Form zusammenfassen; unter dem Druck der Ereignisse verlässt Hus Prag und lebt fortan bis Herbst 1414 unter dem Schutz böhmischer Adliger auf verschiedenen Burgen im Exil; hier entsteht unter widrigen Umständen
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Zeittafel die tschechische Schrift Dcerka (Töchterlein) über die Erkenntnis des rechten Weges zur Seligkeit 1412, vor 14. Dezember Hus wendet sich an das Prager Landesgericht (diese Ausgabe Nr. 21) 1413, Januar zwischenzeitliche Rückkehr Hussens nach Prag 1413, vor Mariae Hus vollendet seine eng an Wyclifs Simonietraktat angeLichtmess lehnten Bücher über den Ämterkauf (Knízˇ ky o svatokupectví), die seine schärfsten Angriffe gegen Missstände in der Kirche überhaupt enthalten; in den Folgemonaten arbeitet er an seinem Traktat „Über die sechs Verirrungen“, von dem eine lateinische und eine tschechische Version vorliegt (De sex erroribus bzw. O sˇ esti bludiech) (diese Ausgabe Nr. 25). In diesen Schriften ist Hussens Reformprogramm in umfassender Weise zusammengefasst; entscheidende Passagen hieraus werden als Inschriften an den Innenwänden der Bethlehemskapelle angebracht 1413, Juni nach einem erneuten zwischenzeitlichen Aufenthalt in Prag zieht sich Hus auf die Burg Kozí Hrádek in Südböhmen zurück 1413, 8. Juni Hus schließt sein Hauptwerk, den Traktat „Über die Kirche“ (De ecclesia) ab (diese Ausgabe Nr. 27), worin er aufbauend auf dem Römerbrief des Apostels Paulus und dem Johannesevangelium sowie unter Berücksichtigung der Lehren des hl. Augustinus und John Wyclifs seine eigene Auffassung von der Prädestination sowie die Auffassung von der Stellung des Papstes und des Kardinalskollegiums in der Kirche gegenüber Christus begründet 1413, Herbst Hus verfasst Polemiken gegen Stefan von Pálecˇ , Stanislaus von Znaim und weitere Theologen und vollendet zugleich seine tschechischsprachige Postila nedeˇ lní (Sonntags-Postille); Hus predigt vor der Landbevölkerung 1414, Frühjahr böhmische Adlige im Gefolge König Sigismunds von Luxemburg fordern Hus zur Teilnahme am Konstanzer Konzil auf 1414, 27. Mai Jean Gerson, Kanzler der Universität Paris, fordert den Prager Erzbischof auf, die Häresie in seiner Diözese notfalls gewaltsam auszurotten; Konrad von Vechta sendet Gerson daraufhin Hus-Traktate 1414, 27. August Beginn der außerordentlichen Prager Synode, zu der Hus mittels seines Prokurators Johann von Jessenitz Zutritt erbittet, um von den anwesenden Prälaten zu erfahren, ob sie ihn der Häresie bezichtigen; der Zutritt wird ihm verwehrt, worauf sich Hus an den Inquisitor Nicolaus Venceslai wendet, der erklärt, bei Hus keine Irrlehre zu finden 1414, 1. September Hus lässt den römisch-deutschen König Sigismund von Luxemburg wissen, er werde zum Konstanzer Konzil reisen,
Zeittafel und bittet um öffentliche Anhörung; er konzipiert drei Ansprachen, die er in Konstanz vorzutragen gedenkt (vgl. diese Ausgabe Nr. 28) 1414, Ende August Briefe an König Wenzel von Böhmen sowie an Freunde und bis Anfang Oktober Anhänger vor der Abreise nach Konstanz (diese Ausgabe Nr. 30 und 31) 1414, 11. Oktober Hus bricht, von einigen böhmischen Adligen und dem Magister Peter von Mladoniowitz begleitet, nach Konstanz auf; das Geleitsschreiben König Sigismunds erhält er erst nach seinem Eintreffen am Bodensee; in zahlreichen deutschen Städten findet er freundliche Aufnahme 1414, 18. Oktober Geleitbrief König Sigismunds für Hus (diese Ausgabe Nr. 32) 1414, 3. November Hus trifft in Konstanz ein 1414, 5. November das Konzil wird feierlich im Konstanzer Münster eröffnet 1414, 28. November Verhaftung Hussens auf Veranlassung der Kardinäle wegen vermeintlicher Fluchtgefahr; Hus wird zunächst im Kerker des Dominikanerklosters festgehalten und wegen seiner Haltung zu Wyclif befragt; schwere Erkrankung Hussens 1414, Ende November Gefangenschaftsbriefe aus den Konstanzer Kerkern (Gefängbis 1415, Juli nis der Dominikaner, Burg Gottlieben und Kerker der Franziskaner) (diese Ausgabe Nr. 33) 1414, 1. Dezember in der Generalkongregation stellt das Konzil die zwölfköpfige Kommission zur Überprüfung der Schriften Hussens vor, der u. a. die Kardinäle d’Ailly, Fillastre, Brancaccio, außerdem die Generäle der Franziskaner (Antonius de Pereto) und der Dominikaner (Leonardo di Stagio Dati) angehören 1414, 6. Dezember Verhör Hussens zu den 45 Artikeln gegen Wyclif 1414, ca. 10. Dezember Hussens schriftliche Antwort auf die 45 Artikel gegen Wyclif Responsiones ), von denen er 30 Artikel eindeutig mit den Worten zurückweist: non teneo nec tenui (dies vertrete ich nicht und habe ich nie vertreten), aber zu denjenigen sich bekennt, die er bereits 1412 in Prag verteidigt hatte 1415, Anfang Januar? Antwort Hussens auf die 42 Artikel, die von Stefan Pálecˇ den Kommissaren vorgelegt wurden (diese Ausgabe Nr. 34) 1415, 20. März letztlich gescheiterte Flucht Papst Johannes’ XXIII. aus Konstanz; letzte Phase des Vorgehens gegen Hus beginnt; Hus wird auf die Burg des Konstanzer Bischofs nach Gottlieben gebracht, während er die letzten Wochen seiner Gefangenschaft im Franziskanerkloster zu Konstanz verbringt 1415, 6. April die Causa Hus wird einer neu eingesetzten Glaubenskommission übertragen, an deren Spitze Pierre d’Ailly, Jean Gerson und Francesco Zabarella stehen 1415, 4. Mai das Konzil verdammt 45 Artikel Wyclifs (diese Ausgabe Nr. 20.II) und verbietet, dessen Lehre öffentlich zu predigen, zu vertreten oder daran festzuhalten; darüber hinaus wird die
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Zeittafel
1415, nach 12. Mai 1415, 31. Mai
1415, 5. Juni 1415, 7. Juni 1415, 8. Juni
1415, 5. Juli 1415, 6. Juli
Verbrennung seiner Bücher angeordnet; Wyclif wird zum Häretiker erklärt und die Exhumierung seiner Gebeine angeordnet in einem Schreiben bittet Hus seine Anhänger mit beschwörenden Worten, sich beim König für ein nochmaliges Gehör einzusetzen eine an König Sigismund von Luxemburg gerichtete Proklamation des böhmischen und mährischen Adels verlangt, da Hus weder überführt noch verurteilt sei (non convictus, non condemnatus), seine Freilassung erste Anhörung Hussens vor der Versammlung des Konzils, die wegen der ausgebrochenen Tumulte abgebrochen werden muss zweite Anhörung Hussens; Verhandlung der wyclifistischen Artikel dritte Anhörung Hussens; Verhandlung über die 39 Artikel, die gegen Hus vorgebracht wurden; nachfolgend gibt es mehrere vergebliche Versuche seitens der Konzilsväter, Hus zu einem Widerruf zu bewegen. Eine Widerrufsformel, die es ihm erleichtern soll zu widerrufen (vgl. diese Ausgabe Nr. 35), lehnt er ab Hus verweigert endgültig den Widerruf (vgl. diese Ausgabe Nr. 33.XVI) in der 15. Generalsitzung des Konzils erfolgen Urteilsverkündung und Degradierung Hussens als Priester; Tod auf dem Scheiterhaufen vor den Toren der Konzilsstadt (vgl. diese Ausgabe Nr. 36 und 37)
ABKÜRZUNGEN UND MEHRFACH GENANNTE LITERATURTITEL a) Allgemeine Abkürzungen und abgekürzt zitierte Literatur a. a. O. Anm. Bf. bibl. böhm. Bujnoch, Hus
am angegebenen Ort Anmerkung Bischof biblisch böhmisch Hus in Konstanz. Der Bericht des Peter von Mladoniowitz, in Konstanz übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch (Slavische Geschichtsschreiber 3), Graz/Wien/Köln 1963 c. capitulum C. Causa (im Kirchenrecht) can. canon/Kanon CC Corpus Christianorum series Latina Císarˇová-Kolárˇoová/ Anna Císarˇová-Kolárˇová/Jirˇí Danˇhelka, Listy dvou Janu°, Danˇhelka Prag 1949 Conciliorum oecumeConciliorum oecumenicorum decreta. Dekrete der Ökunicorum decreta menischen Konzilien, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters, hrsg. von Josef Wohlmut, Paderborn u. a. 2000 d. h. das heißt Dachsel, Jan Hus Joachim Dachsel, Jan Hus. Ein Bild seines Lebens und Wirkens. Seine Briefe vom Herbst 1414 bis zum Juli 1415, ins Deutsche übersetzt in Zusammenarbeit mit Frantisˇ ek Potmeˇ sˇ il, Berlin (Ost) 1964 Decr. Grat. Decretum Gratiani Denzinger/Hünermann Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. von Peter Hünermann, 43. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2010 dgl. desgleichen dist. distinctio (im Kirchenrecht) dt. deutsch Ebf. Erzbischof engl. englisch Ep. Epistola, epistolae Erben, Sebrané spisy cˇ eské Karel Jaromír Erben, Mistra Jana Husi Sebrané spisy cˇ eské, Bd. 3, Prag 1868 f. folgende (Seite)
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Abkürzungen und mehrfach genannte Literatur Flajsˇ hans, Listy z Prahy Flajsˇ hans, Listy z vyhnanství Flajsˇ hans, Spisy M. Jana Husi fränk. franz. Friedberg 1
Václav Flajsˇ hans, M. Jan Hus: Listy z Prahy (do roku 1412), Prag 1915 Václav Flajsˇ hans, Listy z vyhnanství (1412–1414), Prag 1915
Václav Flajsˇ hans, Spisy M. Jana Husi, 8 Bde., Prag 1903– 1908 fränkisch französisch Corpus Iuris Canonici editio Lipsiensis secunda, Teil 1: Decretum magistri Gratiani, hrsg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879 (Ndr. Graz 1959) Friedberg 2 Corpus Iuris Canonici editio Lipsiensis secunda, Teil 2: Decretalium Collectiones, hrsg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879 (Ndr. Graz 1959) Fudge, Jan Hus Thomas A. Fudge, Jan Hus. Religious Reform und Social Revolution in Bohemia, London/New York 2010 Fudge, The Trial Thomas A. Fudge, The Trial of Jan Hus. Medieval Heresy and Criminal Procedure, Oxford/New York 2014 gen. genannt griech. griechisch hebr. hebräisch Herbers/Schuller Klaus Herbers/Florian Schuller (Hrsg.), Europa im 15. Jahrhundert. Herbst des Mittelalters – Frühling der Neuzeit?, Regensburg 2012 Hilsch, Johannes Hus Peter Hilsch, Johannes Hus (um 1370–1415). Prediger Gottes und Ketzer, Regensburg 1999 hl./Hl. heilig/Heiliger Hoensch, Die Luxemburger Jörg K. Hoensch, Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie gesamteuropäischer Bedeutung 1308– 1437, Stuttgart 2000 Hom. Homilie Hrsg. Herausgeber / herausgegeben Hs/Hss Handschrift/Handschriften hussit. hussitisch jüd. jüdisch Kalivoda/Kolesnyk Das hussitische Denken im Lichte seiner Quellen. Mit einer Einleitung von R. Kalivoda hrsg. von R. Kalivoda und A. Kolesnyk, Berlin (Ost) 1969 Kejrˇ , Die Causa Hus Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche, Regensburg 2005 Kejrˇ , Husu°v proces Jirˇ í Kejrˇ , Husu°v proces, Prag 2000 Kejrˇ , Jan Hus Jirˇ í Kejrˇ , Jan Hus známy´ i neznámy´ , Prag, 22015 Kf. Kurfürst Kg./Kgn. König/Königin Krzenck, Johannes Hus Thomas Krzenck, Johannes Hus. Theologe, Kirchenre former, Märtyrer, Zürich-Gleichen 2011
Abkürzungen und mehrfach genannte Literatur Ks. lat. lib. Lucemburkové
Kaiser lateinisch liber Frantisˇ ek Sˇ mahel/Lenka Bobková (Hrsg.), Lucemburkové. Cˇeská koruna uprostrˇ ed Evropy, Prag 2012 Lüders, Johann Hus Gustav Adolph Lüders, Johann Hus, Küstrin 1854 ma. mittelalterlich Maresˇ , Listy Husovy Bohumil Maresˇ , Listy Husovy, Prag 1891 MIHO I Magistri Iohannis Hus Opera omnia, Bd. 1. Vy´´klady, hrsg. von Amedeo Molnár, Prag 1975 MIHO IV Magistri Iohannis Hus Opera omnia, Bd. 4. Drobné spisy cˇ eské, hrsg. von Amedeo Molnár, Prag 1985 MIHO XXII Magistri Iohannis Hus Polemica, Bd. 22, hrsg. von Jaroslav Ersˇ il, Prag 1966 MIHO/CC Magistri Iohannis Hus Opera omnia, hrsg. von der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (Corpus christianorum continuatio medievalis). Bisher 8 Bde., Turnhout 2004–2013 Ndr. Neudruck/Nachdruck Novotny´ , Korespondence Václav Novotny´ , Mistra Jana Husi korespondence a dokumenty, Prag 1920 Opera omnia (1558) Bd. 1 Ioannis Hus et Hieronymi Pragensis confessorum Christi Historia et Monumenta Bd. 1, Nürnberg 1558 Opera omnia (1558) Bd. 2 Ioannis Hus et Hieronymi Pragensis confessorum Christi Historia et Monumenta Bd. 2, Nürnberg 1558 Palacky´ , Documenta Documenta Mag. Ioannis Hus vitam, doctrinam, causam in Constantiensi concilio actam et controversias de religione in Bohemia, annis 1403–1418 motas illustrantia, hrsg. von Franciscus Palacky´ , Prag 1869; Ndr. Osnabrück 1966 parr. und Parallelstellen PG Migne, Patrologia Graeca PL Migne, Patrologia Latina Ps. Pseudo q. quaestio (im Kirchenrecht) röm. römisch Ryba, Betlémské texty Bohumil Ryba, Betlémské texty, Prag 1951 Ryba, Sto listu° Bohumil Ryba, Sto listu° M. Jana Husi, Prag 1949 s. o. siehe oben S., s. Seite, siehe Schaff, De Ecclesia De Ecclesia. The Church, by John Huss, Translated with Notes and Introduction by David S. Schaff, New York 1915 Schamschula, Jan Hus Walter Schamschula, Jan Hus. Schriften zur Glaubens reform und Briefe der Jahre 1414–1415, Frankfurt 1969 Schmidtová, Iohannes Hus Anezˇka Schmidtová (Hrsg.), Iohannes Hus, Magister
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Abkürzungen und mehrfach genannte Literatur universitatis Carolinae, Positiones, Recommendationes, Sermones, Prag 1958 Sermones de sanctis Spisy M. Jana Husi. Sermones de sanctis, hrsg. von Václav Flajsˇ hans, Prag 1907 Sˇmahel, Die Hussitische Frantisˇ ek Sˇ mahel, Die Hussitische Revolution, 3 Bde. Revolution (MGH-Schriften, Bd. 43), Hannover 2002 Sˇmahel, Jan Hus Frantisˇ ek Sˇmahel, Jan Hus. Zˇivot a dílo, Prag 2013 Soukup, Jan Hus Pavel Soukup, Jan Hus, Stuttgart 2014 span. spanisch Strunz, Johannes Hus Franz Strunz, Johannes Hus. Sein Leben und sein Werk mit einer Auswahl aus seinen pastoralen Schriften und Predigten, München 1927 Thomson, De Ecclesia Mistr Jan Hus, Tractatus De Ecclesia, hrsg. von S. Harrison Thomson, Prag 1958 (zuerst Cambridge 1956) tit. titulus (im Kirchenrecht) tschech. tschechisch V. Vers Vg. Vulgata vgl. vergleiche Vischer, Jan Hus Melchior Vischer, Jan Hus. Sein Leben und seine Zeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1940 w. o. wie oben WA Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers (WA.B: Abteilung Briefwechsel) z. St. zur Stelle z. T. zum Teil Zitte, Sinodal-Reden Neun Sinodal-Reden des M. J. Hus aus Hussinecz. Aus dem Lateinischen [übersetzt von Augustin Zitte], Prag 1784 Zitte, Vermischte Schriften Vermischte Schriften des M. J. Hus aus Hussinecz. Aus dem Lateinischen [übersetzt von Augustin Zitte], Leipzig/Prag 1784. b) Biblische Bücher Altes Testament und Apokryphen Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri Rut
1. Buch Mose 2. Buch Mose 3. Buch Mose 4. Buch Mose 5. Buch Mose Josua Richter Ruth
Abkürzungen und mehrfach genannte Literatur 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön 1Chr 2Chr Esr Neh Tob Jdt Est 1Makk 2Makk Hiob Ps Spr Pr Hhld SapSal Sir Jes Jer Klgl Bar Ez Dan Hos Jo Am Ob Jon Mi Nah Hab Zeph Hag Sach Mal
1. Buch Samuel 2. Buch Samuel 1. Buch der Könige 2. Buch der Könige 1. Buch der Chronik 2. Buch der Chronik Esra Nehemia Tobit Judit Ester 1. Buch der Makkabäer 2. Buch der Makkabäer Hiob Psalmen Sprüche Prediger Hoheslied Sapientia Salomonis Jesus Sirach Jesaja Jeremia Klagelieder Baruch Ezechiel Daniel Hosea Joel Amos Obadja Jona Micha Nahum Habakuk Zephanja Haggaj Sacharja Maleachi
Neues Testament Mt Mk Lk Joh Apg
Matthäusevangelium Markusevangelium Lukasevangelium Johannesevangelium Apostelgeschichte
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Abkürzungen und mehrfach genannte Literatur Röm 1Kor 2Kor Gal Eph Phil Kol 1Thess 2Thess 1Tim 2Tim Tit Phlm 1Petr 2Petr 1Joh 2Joh 3Joh Hebr Jak Jud Offb
Brief an die Römer 1. Brief an die Korinther 2. Brief an die Korinther Brief an die Galater Brief an die Epheser Brief an die Philipper Brief an die Kolosser 1. Brief an die Thessalonicher 2. Brief an die Thessalonicher 1. Brief an Timotheus 2. Brief an Timotheus Brief an Titus Brief an Philemon 1. Petrusbrief 2. Petrusbrief 1. Johannesbrief 2. Johannesbrief 3. Johannesbrief Brief an die Hebräer Jakobusbrief Judasbrief Offenbarung des Johannes
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REGISTER DER ORTS- UND PERSONENNAMEN Aufgenommen wurden nur historische Persönlichkeiten einschließlich biblischer Gestalten. Die Personen sind in der Regel unter ihrem Vornamen aufzusuchen. Aachen 611 Aaron, bibl. Sohn des Amram 25, 117, 220 Abel, zweiter Sohn Adams und Evas 50, 350, 356, 582 Abjatar, bibl. Priester 178, 226 Abraham, bibl. Stammvater Israels 88, 103, 272, 356, 387, 582 Adalbert Ranconis, böhm. Theologe (ca. 1320–1388) 154 Adam Monachus 484, 514, 516, 530, 540 Adam, in der Bibel erster Mensch 266, 489, 523, 529 f. Adam, Mönch – siehe Adam Monachus Adonija, 4. Sohn Davids 226 Adrianus IV., Papst – siehe Hadrian IV. Aelred von Rievaulx, Hl., engl. Abt, Prediger und Mystiker (1110–1167) 89 Afrika 466 Agag, bibl. Kg. der Amalekiter 232 Agnes, angebliche Päpstin – siehe Johanna Agricola von Eisleben, Johann, dt. Reformator und Vertrauter Luthers (1492–1566) 686 Alardus Gaza 117 Albert, Pfarrer zu St. Sebald in Nürnberg 603 Albertus Magnus, hl., Gelehrter, Bf., Kirchenlehrer (um 1200–1280) 419 Albík von Neustadt, Prager Ebf. (um 1360–1427) 250 Alexander der Große, Kg. von Makedonien (356–323 v. Chr.) 144, 152 ff. Alexander I., Papst († 115 n. Chr.) 336 Alexander II., Papst (um 1010/1015–1073) 483, 558 Alexander III., Papst (um 1100/1105–1181) 483, 562 Alexander V., Gegenpapst (1340–1410) XVII, 483, 501 f., 527, 566, 670, 672 f. Alexander, Hohepriester 326 Alexandria 398, 461, 466, 651, 680 Alpen 475 Alpius 443 Amalech (Amalek), bibl. Gestalt 232, 556 Ambrosius von Mailand, lat. Kirchenlehrer (339–397 n. Chr.) 234, 272, 275, 321 f., 338–340, 342, 359, 379, 397, 409, 411, 422, 443, 459, 559, 583, 650 Amos, bibl. Prophet 73, 659 Anaklet II., Papst (um 1090–1138) 114, 412, 462 f., 465, 483, 506 Anastasius III., Gegenpapst (†879) 481 Andreas de Broda (†1427), böhm. Theologe 437
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Register der Orts- und Personennamen Andreas von Prag (Andreas von Guttenstein), Prager Bf. (†1224) 252 Andreas, Apostel 562 Andreas, Schneider aus Polen 620 Angelo Correr – siehe Gregor XII. Anglia – siehe England Anna (Anne) von Böhmen, engl. Kgn. (1366–1394) 195 Anna von Frimburg 634 Annas, bibl. Hohepriester 277 Anselm von Canterbury, ma. Theologe (um 1033–1109) 157, 160, 264, 314 f. Antiochia 106, 398 f., 461, 509, 651 Antiochien 416 Antiochus, bibl. Kg. 229 Anton, Hz. von Brabant (1384–1415) 611 Antonio Panciera, Kardinal (ca.1350–1431) 691 Apollon, griech. Gott 406, 465, 585 f. Aragon 568 Archidiaconus (Guido de Baysio), ma. Kanonist (um 1250–1313) 558 Aristoteles (384–322 v. Chr.), griech. Philosoph 48, 201 f., 217 f., 257, 260, 262 f., 266, 355, 378, 523, 538, 579 Arius, Häretiker 201 Artaxerxes, persischer Kg. 207, 221 f. Asarja, anderer Name für den biblischen König Usija 226 Asien 398, 452 Astaroth 63 Asti 680 Athanasius, Bf., Kirchenvater (um 298–373) 39, 577 Athen 398, 438 Äthiopien 452 Augustinus von Hippo, lat. Kirchenlehrer und Philosoph (354–430 n. Chr.) 45, 55 f., 58–63, 65, 68, 76 f., 108, 113 f., 120, 179, 199, 202, 209–212, 240, 261, 265, 272 f., 275 f., 278, 280 f., 285, 314, 316 f., 319 f., 322 f., 325–327, 340, 343, 352, 355–359, 363 f., 368, 370, 372–379, 382–386, 388–391, 394, 397, 401, 406 f., 409 f., 412, 418, 421 f., 429, 431, 435, 437, 443, 447, 450–455, 459, 461, 467, 473, 478, 480, 485, 493, 495, 498–500, 507 f., 510, 512 f., 519, 525, 529, 543, 549–552, 563 f., 566, 577 f., 580–584, 618, 632, 639, 642 f., 646, 650, 653, 655, 659, 670 Augustus, röm. Ks. (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) 445 Aulus Percius Flaccus 14 Aurelius 443 Auxilius, Bf. 563, 566 Avignon 483, 562 Baal, Gottheit 62, 222, 563 Babylon 398, 547 Balaam – siehe Bileam Baldassare Cossa – siehe Johannes XXIII. Baldus de Ubaldis, ital. Rechtsgelehrter (1327–1400) 538
Register der Orts- und Personennamen Bangor (Wales) 680 Barnabas, Märtyrer, angeblich Jünger Jesu 399, 581 Bärnau 602 Bartholomäus, Hl., Apostel und Märtyrer 63, 247 Bartolomeo della Capra, Ebf. von Mailand (ca.1365–1433) 680 Beda Venerabilis, frühmittelalterlicher Theologe (um 670–735) 46, 49, 53, 55, 57, 61, 209, 211, 238, 317, 466, 473, 493, 577 f., 653 Behemoth, bibl. Ungeheuer 17, 602 Belial, bibl. Dämon 228 f., 649 Benedikt III., Papst (†858) 481 f. Benedikt IX., Papst (um 1012/1021–1055) 481 f. Benedikt von Nursia, Hl., Gründer des Benediktinerordens (um 487–547) 285, 530 f. Benedikt X., Gegenpapst († zwischen 1073 und 1085) 482 Benedikt XIII., Gegenpapst (1342/43–1423) 252, 483, 569, 611, 658 Benessius (Beneš) von Lysa 162 Benevent 483 Berengar von Tours, Frühscholastiker (†1088) 634 Bernhard von Castellammare, Bf. 639 Bernhard von Clairvaux, Hl., Kreuzzugsprediger und Mystiker (um 1090–1153) 10 f., 13–15, 17–19, 31, 83, 85–92, 94 f., 109 f., 117, 146 f., 150, 160, 182, 235–237, 268, 285, 314 f., 324, 359, 3674 f., 416, 454, 484, 493, 503 f., 510., 513–515, 520 f., 529–531, 540 f., 583, 587, 591, 646–649, 653, 659 f., 661 f., 701 Bethel 225 Bileam, bibl. Prophet 342, 516 Bischof von Lincoln – siehe Robert Grosseteste Bithynien 398 Blaník 70 Boetius, spätantiker röm. Gelehrter, Philosoph und Theologe (um 480/85–zwischen 524/526) 276 Böhmen (Königreich) X, XI, XXII, 62, 85, 121, 170 f., 173, 188, 192, 197, 242, 252 f., 289 f., 353, 468 f., 476, 485, 519, 569, , 595, 602 f., 606 f., 610 f., 615, 619–622, 626 f., 629, 638, 665 f., 672 f., 680 Bologna 61, 66, 253, 291 – Universität 547 Bonaventura, scholastischer Theologe, Franziskaner und Kardinal (1221–1274) 419 Bonifatius, Gf. (comes Africae) 443 Bonifaz I., Papst (†422) 481 Bonifaz VIII., Papst (um 1235–1303) 182, 363, 365, 393, 438, 449, 462 f., 556, 568 Bonifaz IX., Papst (1350–1404) 126, 521 Bonifaz, Märtyrer, Missionar und Kirchenreformer (um 673–754/755) 213, 417 f. Bora, Georg 437 Bosor, bibl. Vater Bileams 342 Bradáček, Jan – siehe Bradaty´, Jan Bradaty, Jan, auch Bradáček gen, Krumauer Prediger 614, 616 Braga 137 Brandenburg 60
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Register der Orts- und Personennamen Breslau (Wrocław) 608 Briccius, Magister 472 Brunichild, fränkische Kgn. (um 550–613) 214 Cabillon (Konzil) 339 Cadalus von Parma – siehe Honorius II. Caesaria 415 Calixt III., Papst (1378–1458) 483 Cambridge 193 Cato d. Ä., röm. Feldherr, Politiker und Geschichtsschreiber (234–149 v. Chr.) 331 Cayphas – siehe Kaiphas Cestria 441 f., 481, 484 Chalkedon (Konzil) 342 Chalon-sur-Saône (Konzil) 137 Chlum, böhm. Niederadelsgeschlecht – Johann (Jan, gen. Kepka) 603, 610–612, 614–616, 619–621, 625, 631, 634, 686 f. – Heinrich (Jindrˇ ich) Lacembok 611 f., 614 Christian von Prachatitz, böhm. Gelehrter (vor 1370–1439) 635 Christophorus, Gegenpapst 481 Christus XIX f., XXII, 3, 4, 6, 10 f., 13 f., 16–25, 27, 29, 35–38, 41–52, 56, 58–65, 67–70, 76– 88, 90–93, 95, 98, 100–107, 112–116, 119, 122–124, 126, 131, 133, 135 f., 140, 145, 147, 158–160, 169 f., 172 f., 179, 181–183, 196, 202 f., 207 f., 210, 212, 216–220, 222–225, 228 f., 231, 234–240, 245–248, 250–254, 257, 265, 268, 305, 307–309, 313–320, 322, 325– 327, 332, 335, 338, 340, 342 f., 347–349, 352, 355–382, 385–392, 392–402, 405–408, 410– 422, 424, 427, 429, 431–445, 447–461, 464, 466–468, 472–479, 484–488, 491–505, 508– 510, 512–518, 520, 522–526, 528 f., 533–537, 540 f., 543–545, 548, 550–553, 556, 559–568, 570, 575–577, 580–587, 591, 599–602, 610, 612 f., 618, 620, 623–628, 630–632, 639–643, 645 f., 648 f., 652, 655, 657 f., 662, 666, 670 f., 677–679, 682, 684, 690–996 Chrudim 61, 66 Chrysostomus, Ebf. von Konstantinopel, Prediger (349–407) 46, 83, 115, 197 f., 202, 209–211, 226, 229, 235, 247, 252, 263 f., 273–275, 290, 324, 366, 377, 392, 417 f., 461, 495 f., 517, 528, 532, 650, 653 Clasanius (Clasizianus) 564 f. Claudian, spätant. Dichter (um 370 – nach 404) 150 Clemens II., Papst (1005–1047) 482 Clemens III., Papst (†1191) 483 Clemens V., Papst (zwischen 1250/1265–1314) 531, 562 Clemens VII., Gegenpapst (1342–1394) 440, 449, 568 Cölestin III., Papst (etwa 1106–1198) 562 Constantinus – siehe Konstantin der Große Cornelius 235, 415, 441, 442 Cyprian von Karthago, Bf., Hl. (um 200 oder 210–258) 340, 358, 433, 465, 536, 583, 650 Damasus I., Papst (um 305–384) 469, 478, 529 Daniel, Prophet 73, 103, 160, 202, 235, 265, 268, 445, 474, 536–538 Dathan, bibl. Gestalt 356, 583
Register der Orts- und Personennamen Dau 225 David, Kg. von Juda und Israel 47, 73, 109, 154, 216, 270 f., 279, 305, 332, 587, 641 Desiderius – siehe Viktor III. Dionysius Areopagita, bekehrter Beisitzer des Areopag, Bf. von Athen († um das erste Jahrtausend n. Chr.) 411, 461 Dorothea, christl. Jungfrau und Märtyrerin († um 305) 323 Duba, böhm. Adelsgeschlecht – Wenzel (Václav) 603 f., 606, 610, 614, 621, 625, 631, 634, 687 – Heinrich (Jindrˇ ich) Sˇkopek 635 Eadmer von Canterbury, engl. Benediktiner und Chronist (um 1060–nach 1128) 264 Eleazar, 2. Hohepriester von Israel 115, 624 Eli, bibl. Gestalt 226, 554, 556 Elia, bibl. Prophet 103, 116, 277, 476 Elisa, Prophet 26, 116, 134, 342 England 170 f., 173, 193, 197 f., 562, 671 Ephesos 106 Esau, bibl. Gestalt 356, 583 Esra, heidnischer Kg. 221–223 Euagrius, Priester 466 Euander, Priester 95 Eugen(ius) III., Papst (†1153) 83, 235, 269, 417, 503 f., 647 f. Eulalius, Gegenpapst (†423) 481 Ewa (Eva) 489 Ezechiel, bibl. Prophet 61, 91, 142, 325, 436, 459, 646, 659, 662 Fabian, Hl., Papst (vor 200–250) 532 Felix III., Papst (†530) 330, 444 f. Feltre 680 Fillastre, Guillaume, frz. Kardinal (1348–1428) 638 Flavius Honorius, weström. Ks. (384–423) 481 Francia – siehe Frankreich Frankreich 197, 483 Friedrich von Eppingen, Magister, dt. Hussit 552 Gabriel, Erzengel 220 Gaius, Papst (†296) 398 Galatien 398 Galgala 232 Gaufried, Abt 236, 268 Gehazi (Gehasi), bibl. Gestalt 26, 92 f., 134 f., 226, 342 f., 456, 571 Gelasius II., Papst (1060/1064–1119) 329 f., 342, 531 Genf 477 Georg (Jirˇ ík), Hus-Vertrauter 600 Gerson, Jean Charlier, frz. Theologe (1363–1429) XXI Gezi – siehe Gehasi
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Register der Orts- und Personennamen Giacomo Arrigoni (Jacobus Laudensis), Bf. von Lodi (ca.1368–1435) 688 Gibeon 488 Giezi – siehe Gehazi Gilbert von Poitiers (Gilbertus Porretanus), Bf., scholast. Theologe und Philosoph (um 1080–1155) 257 Goliath, alttestament. Krieger 23, 219 Gottlieben 631, 634, 694 Gratian, Kirchenrechtler, Verfasser des Decretum Gratiani († vor 1160) 22, 213, 342, 532, 564 Gregor der Große, Papst (um 540–604) 12, 21 f., 25 f., 49, 55, 58 f., 64 f., 73 f., 92, 105, 136, 140, 144, 197 f., 207, 209, 214–216, 219, 230, 235, 238, 244, 272 f., 280–282, 310, 324, 332 f., 340 f., 358 f., 363 f., 380 f., 389, 394, 411, 417 f., 431, 435 f., 441, 444, 458 f., 480, 493, 512, 526, 558–560, 570, 583, 640, 643 f., 647, 650, 652 f., 659, 661 f. Gregor I. – siehe Gregor der Große Gregor VI., Papst (†1047) 449, 481 f. Gregor VII., Papst (1025/1030–1085) 92, 483 Gregor von Nazianz, lat. Kirchenlehrer (um 329–390) 342 Gregor XII., Papst (um 1335–1417) 125, 465, 483, 568, 648, 650, 658 f., 664 f. Grosseste, Peter 195 Gualterus de Castellione 195 Gubbio 466 Guido de Baysio – siehe Archidiaconus Guido von Crema (Guido Cremensis) – siehe Paschalis III. Hadrian IV., Papst (1100/1120–1159) 562 Hagenau XXV, 353 Ham, bibl. Gestalt 114, 356 Hannas, jüd. Hohepriester 326, 473 Hartung van Glux, Anführer der engl. Gesandtschaft in Prag (1411) 192 f., 195, 198 Hasenburg (Házmburk), böhm. Adelsgeschlecht – Wilhelm Zajíc 621 – Zbyneˇ k Zajíc, Prager Ebf. (1376–1411) XVI f., 38, 68 f., 130, 160 f., 176, 186, 188, 206, 230, 240, 242 f., 253, 289, 501, 689, 672 Haupt II. (Hoppe) von Pappenheim, Reichserbmarschall (1380–1438) 695 Havlík, Prediger 635 Haymo von Auxerre 325, 408 Heinrich III., Kaiser (1017–1056) 480–482 Heinrich IV., engl. Kg. (1399–1413) 198 Heinrich IV., röm.-dt. Ks. (1050–1106) 483 Heinrich von Piro (Heinrich von dem Birnbaum), Konzilsprokurator (†1439) 688 Heinrich von Plumenau – siehe Krawarn Heliasiph, Priester 227 Heliodor, spätantiker griech. Autor 235, 273, 275 Helwel, Johannes, Prediger zu St. Lorenz in Nürnberg 603 Henoch, bibl. Gestalt 27, 356, 582 Henricus de Segusio, Kardinal und Kanonist (vor 1200–1271) 182
Register der Orts- und Personennamen Hermann Eremita 437 Herodes, röm. Klientelkg. in Judä (um 73–4 v. Chr.) 89, 309, 416, 561, 692 Hersbruck 602 Hesekiel – siehe Ezechiel Heytesbury, William (ca. 1312–1372/73), engl. Philosoph und Logiker 50 Hieronymus von Prag, böhm. Philosoph und Mitstreiter von Hus (um 1379–1416) XXVI, 614, 619 f., 622, 632 Hieronymus, Hl., Kirchenvater (347–420) 32, 53, 64, 95, 202, 225 f., 231, 263, 273, 275, 320 f., 323, 330, 359, 396 f., 414, 417 f., 422, 428, 437, 443, 447, 459, 465, 469, 478, 480, 488, 493, 510, 529, 583, 639, 643, 646, 650, 652 f. Hilarius von Poitiers, Hl., Bf. und Kirchenlehrer (ca. 315–ca.367) 650 Hildebert von Lavardin, Ebf., frz. Schriftsteller (1056–1133) 150 Hildebrand – siehe Gregorius VII. Hinnom 27 Hiob, bibl. Gestalt 6, 18, 49, 64, 150–152, 174, 271, 331, 391 Hippo 329 Hirschau 602, 619 Hirschfeld 602 Holdesen, Johannes 437 Honorius II., Gegenpapst (†1071/1072) 483 Hophni, bibl. Sohn des Eli 554 Hosea, bibl. Prophet 6, 236, 268–271, 279, 379, 549, 554 f., 657, 659, 662 Hostiensis – siehe Henricus de Segusio Hradisst (Hradisˇ teˇ, Kloster) 68 Hugo von Fouilloy, ma. Theologe (um 1100–um 1174) 91, 95 Hugo von St.-Cher, Dominikaner, Kardinal (um 1200–1264) 149 Hugo von St.-Viktor, ma. Theologe ( um 1097–1141) 535 Hus, Johannes, böhm. Theologe, Prediger und Kirchenreformer (ca. 1370–1415) IX–XXXI, 2, 10, 13, 16 f., 20, 22, 26, 28, 32, 34, 38, 40 f., 51, 55, 58, 60, 70, 72–75, 89, 92, 95, 98, 103, 107 f., 110, 112 f., 115–118, 120, 122, 124–126, 127, 130, 132 f., 135–137, 138, 141, 147–152, 154–157, 160, 162, 166 f., 170, 172, 186–189, 192, 194, 197–199, 202, 206– 208, 215, 217, 237, 244, 250–253, 256, 259, 267, 279, 288–290, 292, 298, 304–306, 308, 312, 314, 346 f., 352–354, 396–398, 538, 544–547, 567, 574, 576–579, 583–585, 590 f., 594 f., 598, 600, 602 f., 606 f., 610 f., 614, 616 f., 623–625, 628, 630–632, 635, 638 f., 642, 644, 651, 662–664, 668–672, 676, 678–680, 684, 686–691, 694, 696 Husinec – siehe Hussinetz Hussinetz XI Innozenz II., Papst (vor 1088–1143) 483 Innozenz III., Papst (Ende 1160/Anfang 1161–1216) 93, 133 f., 137, 182, 335 f., 339 f., 342, 428, 431, 562 Innozenz IV., Papst (um 1195–1254) 501, 503, 562, 661 Innozenz VII, Papst (1336–1406) 522 Isaias – siehe Jesaja Isidor von Sevilla, Hl., frühma. Autor (um 560–636) 180, 324, 340, 359, 493, 526, 583, 644, 653
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Register der Orts- und Personennamen Ismael, bibl. Gestalt 356, 583 Israel 58, 62, 91, 115, 214, 227, 232, 267 f., 270, 275, 307, 332, 370, 408, 420, 459, 479, 508, 549, 554, 659, 662 Italien 615 Jacques de Vitry, ma. Kardinal (um 1160/1170–1240) 86, 150–152 Jakob Palladinus de Teramo, ital. Kanonist und Bf. (1349–1417) 672 Jakob, Apostel 79, 145, 147, 150, 305, 415, 508, 578 Jakob, bibl. Gestalt 332 Jan de Borsnicz, Bf. von Lebus 639 Jan, hussit. Märtyrer 537 Jean de Brogny, Kardinalbischof von Ostia (ca.1342–1426) 668 Jean de Martigny, Abt von Citeaux 638 Jean de Rochetaillée, Titularbf. von Konstantinopel (†1437) 639 Jemnischt (Jemnisˇ teˇ), böhm. Adelsgeschlecht – Nikolaus (Mikesˇ ) Divu°cˇ ek 623 Jeremia(s), bibl. Prophet 19 f., 62, 65, 84, 90, 92, 96, 141 f., 210, 220, 227, 251, 373, 591 Jerobea 227, 229, 270 Jerusalem 19 f., 60, 62, 131 f., 203 f., 207 f., 212, 227, 234, 237, 267 f., 270 f., 274, 309, 328, 351, 357, 373, 398 f., 410, 416, 461, 473508, 545, 567 f., 583, 650 f. Jesaja, bibl. Schriftprophet 16, 18, 85, 94, 141, 146 f., 209, 220, 313 f., 317 f., 321, 357, 407 f., 439, 464, 479, 487, 498, 506, 541, 554, 644, 652, 657 f. Jesus Christus – siehe Christus Jethro, bibl. Gestalt, Schwiegervater von Moses 496 f. Jirˇ ík – siehe Georg (Jirˇ ík) Joel, bibl. Prophet 85 Johann Ohnefurcht, Hz. von Burgund (1371–1419) 611 Johann von Bucca – siehe Johann(es) der Eiserne Johann von Jensˇ tein, Prager Ebf., Patriarch von Alexandria (zwischen 1347/1350– 1400) 150 Johann(es) von Jessenitz (Jan z Jesenice), böhm. Rechtsgelehrter († etwa 1420) 250, 288, 547, 574, 614, 623, 690 Johann von Lancester, engl. Kg. († 1399) 198 Johann von Lübeck, dt. Hussit XXIV, 294 Johann von Wallenrod, Ebf. von Riga, Bf. von Lüttich (ca.1370–1419) 688 Johann(es) IV. der Eiserne, Bf. von Leitomischl, Bf. von Olmütz (†1430) 618, 630 Johann(es) von Reinstein, gen. Kardinal 615, 686 Johanna, angebliche weibliche Päpstin (9. Jh.) 397, 444, 448 f., 568 Johannes Anglicus – siehe Johanna (Päpstin) Johannes Baptista – siehe Johannes der Täufer Johannes Damaszenus – siehe Johannes von Damaskus Johannes der Täufer, Prophet, jüd. Bußprediger (um 28 v. Chr.) 277, 314, 378, 413, 422, 440, 481, 584 Johannes Eliae von Bischofteinitz, böhm. Theologe 437, 522 Johannes Stykna (Sˇteˇ kna), böhm. Theologe (um 1355–1407) 155 Johannes Theutonicus 198
Register der Orts- und Personennamen Johannes von Brandis 162 Johannes von Damaskus, Theologe und Kirchenvater (um 650–754) 314, 461 Johannes von Konstantinopel, Patriarch 615 Johannes von Landstein 162 Johannes von Sabina – siehe Silvester III. Johannes von Struma – siehe Calixt III. Johannes XII., Papst (937 oder 939–964) 481 f. Johannes XXII., Papst (1245 oder 1249–1334) 139 Johannes XXIII., Gegenpapst (um 1370–1417) XVIII, 160, 186 f., 250, 253, 288, 484, 502, 595, 625, 631, 638 f., 659, 664 f., 677 Johannes, Apostel 4, 11, 16, 20, 22 f., 25, 45, 55, 59 f., 68, 73–80, 91, 101, 133, 139 f., 148, 172, 177, 202, 207, 213, 216, 218, 220, 234–237, 239 f., 247 f., 260, 265, 306, 318, 320, 325, 335, 358, 363, 366, 370 f., 376 f., 382–384, 387, 390, 393, 402, 404 f., 414–418, 420, 422, 426, 429, 432–435, 439, 441, 445, 453, 456, 463, 467, 469, 472, 474, 476, 487, 494, 499, 514, 518, 523, 533, 538, 541, 545, 552 f., 561, 577, 580, 582, 591, 643, 645 f., 655, 683 f., 693 Johannes, Erzpriester von der Porta Latina – siehe Gregor VI. Johannes, Hohepriester 326 Johannes, Patriarch von Alexandria – siehe Johann von Jenstein Jojada, Hohepriester 227 Jona, jüd. Gelehrter des Altertums 389 Joppe 415 Jordan 18, 413 Joschija, bibl. Kg. 227 Josef, bibl. Gestalt 487 587 Josua, bibl. Gestalt 326, 487 f. Judäa 361, 398 f., 452, 543 Judas Ischariot, Jünger Jesu 22, 25 f., 77, 92 f., 95 f., 224, 234 f., 273, 277, 338, 356, 369, 389, 395, 429, 441, 454–456, 640, 642 f., 649 f., 682–684 Justinian, röm. Kaiser (um 482–565) 532 Kain, erster Sohn von Adam und Eva 50, 356, 583 Kaiphas, jüd. Hohepriester 90, 277, 326, 333, 357, 364, 463 Kappadokien 398 Karl der Große, fränk. Kg. und Ks. (747 oder 748–814) 339 Karl IV., röm.-dt. und böhm. Kg., röm. Ks. (1316–1378) X–XIII, XV, 10, 144, 154, 212, 614 Katharina, Hl. 323 Kephas, hebräisch für Petrus – siehe Petrus Klattau (Klatovy) 166 Konrad von Vechta, Bf. von Olmütz, Ebf. von Prag (um 1370–1431) 189, 312 Konstantin der Große, röm. Ks. (270/288–337) 100, 114 f., 284, 410, 444 f., 461, 483 f., 615, 648 Konstantin II., Gegenpapst († nach 769) 444, 481 Konstantinopel 398, 461, 466, 525, 651 Konstanz X, XVII, XXI f., XXIV f., XXVII, XXIX, 256, 280, 283, 291, 356, 370, 372, 574, 594, 600, 602 f., 606 f., 611–613, 614, 616, 620, 622 f., 627 f., 630, 632, 638, 658 f., 665 f., 675, 678, 686–688, 694
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Register der Orts- und Personennamen – Dominikanerkloster 614, 616 – Franziskanerkloster (Minoriten) 610, 624, 674 – Konzil 282, 353, 574, 594, 600 f., 615, 638, 658, 676–678, 680, 688, – Münster 688 Korinth 356, 398 Kozí, böhm. Adelsgeschlecht – Ctibor 346 – Johann 346 Kozí Hrádek (Ziegenburg) XIX, 346 Krakau (Kraków) 61 Krakovec 574, 594 Krawarn, mähr. Adelsgeschlecht – Heinrich Plumlovsky´ 621 Krumpach, Nikolaus, Humanist (ca.1475–1535/36) 686 Kuttenberg (Kutná Hora) XVI Ladislaus von Zwierzeticz (Zveˇ rˇ etic) 162 Ladislaus, Kg. von Neapel (1376–1414) XVIII, 250, 288, 472, 664 f. Laodizea 270 Lauf an der Pegnitz 602 Laun (Louny) 166 Laurentius, Gegenpapst (†506/507) 481 Lavaur: 680 Lazarus, bibl. Gestalt 281, 429 Lefl von Lažany, böhm. Adelsgeschlecht – Heinrich (Jindrˇ ich) 590, 623, 635 Leitomischl (Litomyšl) 66 Leo I., Papst (um 400–461) 102, 335, 341, 362, 558 Leo IV., Papst (um 790–855) 215, 444 Leo IX., Papst (1002–1054) 544 Leo V., Papst (903 Papst) 481 Leo VIII., Papst (†965) 482 Leo von Neapel, Archipresbyter (10.Jh.) 153 Liberius, Papst (†366) 444 f., 449 Lidhéř, böhm. Adeliger 635 Linconiensis – siehe Robert von Grosseteste Lodi 688 London 172, 671 Lübeck 294 Ludovicus, Kaiser – siehe Ludwig IV. Ludwig der Fromme, fränk. Ks. (778–840) 215, 461, 651 Ludwig II. von Anjou (1377–1417), Titularkg. Von Neapel und Jerusalem 664 Ludwig III. von der Pfalz, Kf. (1378–1436) 693 f. Lukas, Apostel 3, 5 f., 12, 17, 20, 23 f., 42, 49, 53 f., 58, 85, 99, 103, 105, 139, 145, 147 f., 150, 168, 176 f., 181, 196, 202, 208, 210, 212, 220, 222, 225, 232 f., 239, 247, 257, 274, 293, 315, 317, 332 f., 343, 347, 380, 383 f., 399, 405, 415, 418 f., 433–435, 439, 455–457, 473,
Register der Orts- und Personennamen 475 f., 487, 491 f., 512 f., 522–524, 526533, 550, 561, 566 f., 570, 640, 642, 646, 649, 654– 656 Luther, Martin, dt. Reformator (1483–1543) XIX, XXIV f., XXVII f., 352 f., 660 Lyra, Nicolaus – siehe Nikolaus von Lyra Mahomet 101 Mähren 188, 621, 672 Mailand 680 Mainz 444 Maleachi, bibl. Prophet 87, 95, 436, 554, 654 Manasse, bibl. Stammvater 5 Mantua XXV Marcellinus, Hl., Papst (†304) 543 Marcellus, Papst (†309) 412, 509 Marek Rvačka (Mauritius de Praga), böhm. Theologe und Husgegner (um 1365– nach 1418) 206, 522 Margret, Gemahlin des Lidhéř 635 Maria, Mutter Jesu 37, 45, 246, 293, 313–316, 487, 587, 602, 613 Maria, Schwester von Moses 89 Markus von Königgrätz 690 Markus, Apostel 55, 103, 121, 133, 147, 172, 247, 257, 314, 360, 445, 477, 502, 576 Marsilius von Padua, ma. Staatstheoretiker (zwischen 1275/1290–1342/1343) 648 Martha, bibl. Gestalt 580 Martin V., Papst (1368–1431) 186, 240 Martin von Leon (1130–1202) 58 Martin von Troppau, Dominikanermönch und Chronist (um 1220/1230–1278) 481 Martin von Volyneˇ , Prager Universitätsmagister und Hus-Schüler (†1428) XX, 598 f., 635 Martin, Hl. 65 Martin, hussit. Märtyrer 537 Mathan, biblischer Priester 226 Matthäus Monachus 437 Matthäus, Evangelist 3–5, 7, 11, 15, 19, 24, 34, 36 f., 40, 53–55, 62 f., 68, 73 f., 77–79, 83, 85, 87, 95, 103, 107, 110, 116, 119, 121 f., 126, 133, 135, 140–142, 145, 148, 155 f., 171–173, 177, 180, 182 f., 187, 196, 202, 207, 210, 217, 220 f., 225, 229, 232, 234 f., 237–239, 245, 247 f., 252, 257, 260, 263 f., 306 f., 30, 314, 318–320, 325, 327 f., 332 f., 335, 343, 347 f., 355, 358, 363 f., 370, 377, 380, 382, 384, 386 f., 392, 394–396, 399, 401 f., 405 f., 408, 413– 415, 417, 422, 429, 433–435, 439, 445, 453, 457–459, 464, 467–469, 472, 477 f., 480, 487– 489, 491 f., 496–500, 509, 513 f., 516–524, 527 f., 533 f., 537, 539–541, 544, 550 f., 560 f., 563, 566, 586 f., 591, 613, 619, 621, 645–649, 655–657, 660 Matthias von Janov, böhm. Kirchenreformer und Priester (zwischen 1350/1355–1393) XIII, XV Mauritius Rvačka, Magister – siehe Marek (Mařík) Rvačka Melchizedek, bibl. König und Priester 224 Merda, Simon 437 Micha, bibl. Prophet 15, 20 f., 84, 659
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Register der Orts- und Personennamen Michael de Causis, böhm. Theologe und Husgegner (vor 1380–um 1432) XXI, 250, 252, 288 f., 566, 611, 617 f. Michael von Drnowicz 162 Michael von Prachatitz, böhm. Magister 189, 243 Michael von Prziest, Kanoniker in Breslau 608 Michael, byzantin. Ks. 531 Mikeš Divoky´ – siehe Jemnischt Mikéska 635 Mílič von Kremsier, Johannes, böhm. Reformprediger (um 1320/1325–1374) XIII, XV Milon, griech. Ringkämpfer (um 555–510 v. Chr.) 523 Monachus Cetrensis 444, 484, 503 Mönch von Cestria – siehe Monachus Cetrensis Moses, bibl. Prophet 27,32, 77, 89, 107, 115, 202, 252, 325–327, 332, 342, 420, 433, 436, 496–500, 513, 524, 529, 544, 556 f., 582, 655, 657, 660 Myška – siehe Václav Myška von Hrádek Naaman, syrischer Feldhauptmann 134, 342 Nebukadnezar, Gründer des Kgr. Babylonien (ca. 640–562 v. Chr.) 214 Nebusaradan, Oberster der Leibwache bei Nebukadnezar 229 Nehemia, bibl. Gestalt 101, 107, 227 Neraida 139 Nero, röm. Kaiser (37–68 n. Chr.) 416, 462 Neustadt 602 Nicäa (Konzil) 295, 336, 445, 577, 648 Nikodemus, bibl. Gestalt 474 Nikolaus (Nikolaus Faulfisch?) 175 Nikolaus Biceps, böhm. Theologe (1349/50–1399) 154 Nikolaus Diaconus 235, 273, 277, 295 Nikolaus II., Papst (zwischen 990/995–1061) 102, 164, 480, 506, 531, 558 Nikolaus Kunácˇ von Hodištkov 294 Nikolaus Lytomissl (Leitomyšl, Leitomischl), böhm. Theologe (†1404) 154 Nikolaus Rakovník, böhm. Theologe (um 1350–1402) 154 Nikolaus Rutze, dt. Waldenser (†nach 1514) 294 Nikolaus von Bibra, ma. Autor (1282–1284) 149 Nikolaus von Brünn (Nikolaus de Brunna), Notar 189 Nikolaus von Lyra, ma. Theologe (um 1270/1275–1349) 270 f., 395, 471–474, 496, 523, 549 Nikolaus von Miličín 635 Nikolaus von Stojčín 691 Noah, bibl. Urvater 356, 582 Nürnberg 602, 604 Odo Colonna – siehe Martin V. Oktavian – siehe Viktor IV. Origines, Kirchenvater (185–um 254) 10, 28, 330, 556 f.
Register der Orts- und Personennamen Orosius, spätantiker Historiker und Theologe (um 385–418) 495 Ostia 483 Otto III., röm.-dt. Kaiser (980–1002) 482 Oxford (Universität) 192, 195 f., 200 f., 671 Padua 665 Palecz, Stephanus – siehe Stefan von Páleč Parma 483 Pascasius, Papst – siehe Paschalis Paschalis I., Papst (†824) 583 Paschalis II., Papst (†1118) 112, 213 Paschalis III., Gegenpapst (†1168) 462, 483, 651 Pascharius, Hl., röm. Diakon (†512) 359 f. Paulinus 443 Paulus, Apostel XII, 11, 14, 16, 21, 25, 35, 73, 102, 116, 138, 168, 179, 235, 238, 240, 248, 257, 263, 307, 313, 316, 328, 331 f., 336, 340 f., 348, 356, 359, 362, 365, 369 f., 378 f., 389, 398–400, 404, 408, 411 f., 415, 417, 426, 454, 462 f., 465, 467, 475, 490, 496, 498, 512 f., 517, 538–540, 541, 542, 548, 551 f., 558, 561 f., 578, 581, 585 f., 616, 627, 640, 681, 688 Pedro Fonsecca, Kardibaldiakon von Sant’Angelo in Pescheria (†1422) 252 Pelagius, Papst (†561) 359, 442, 507 Persien 466 Persius – siehe Aulus Persius Flaccus Peter von Mladoniowitz Prager Universitätsmagister, Hus-Schüler und Augenzeuge des Konstanzer Konzils und (um 1390–1451 ) XXVII, 598, 622, 634 f., 669, 685 f. Peter von Svojšín – siehe Zmrzlík von Svojšín Peter von Znaim, böhm. Theologe, anfänglich auf Seiten Hussens, später dessen entschiedener Gegner 437, 522 Peter, Kaplan der böhm. Kgn. Sophie von Wittelsbach 635 Petrus Alphonsus, span. Arzt und Autor (11.–12. Jh.) 152 Petrus Comestor, frz. Theologe (um 1100–1178) 267 Petrus Damiani, Bf. und Kirchenlehrer (um 1006–1072) 342 f. Petrus de Luna – siehe Benedikt XIII. Petrus de Znojma – siehe Peter von Znaim Petrus Leonis – siehe Anaklet II. Petrus Lombardus, ma. Theologe und Bf. (um 1095/1100–1160) XI f., 51 f., 135, 244, 321 f., 343, 421 f., 424, 428, 607, 646 Petrus Stupna, böhm. Prediger (†1407) 155 Petrus von Blois (Blenensis), frz. Dichter und Diplomat (1135–1203) 95, 160 Petrus von Sepekow, böhm. Gelehrter († nach 1425) 162, 128, 140 Petrus von Valencia 162 Petrus von Wšerub (Všeruby), böhm. Geistlicher 126, 138 Petrus, Apostel 21 f., 26, 46, 60, 63, 78, 95, 102, 107, 126, 131, 138, 155 f., 177, 182, 211, 216, 218 f., 235, 237, 248, 257, 261 f., 315 f., 318, 326, 328, 322, 338 f., 342, 349, 362, 370, 378, 382, 393, 395–402, 404–409, 411–417, 421 f., 428–431, 433 f., 439–442, 444, 446, 452– 455, 458 f., 461–463, 465, 467, 469, 475–478, 483, 494, 497 f., 500, 507, 509 f., 516, 526,
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Register der Orts- und Personennamen 529 f., 533 f., 539 f., 541, 543, 550, 558, 561 f., 575, 578, 581, 585 f., 640 f., 649–651, 657, 681 f., 684, 688 Petrus, Kardinal S. Angeli – siehe Pedro Fonsecca Petržik von Ach, Prager Bürger 65 Phantasma, Philosoph 538 Philippus 410 Phokas, oström.-byzantin. Ks. (nach 547–610) 445, 648 Piacenza 27 Pierre d’Ailly, frz. Kardinal (1350/51–1420) XXI, 353, 630 f., 633, 638, 689 Pietro degli Stephaneschi, röm. Kardinal (†1417) 250, 288, 356 Pilatus – siehe Pontius Pilatus Pilsen (Plzenˇ) 126, 166, 244, 246 Pinehas, bibl. Sohn des Eli 115 f., 554 Pisa (Konzil) X, XVII, 465, 483 Polen (Königreich) 621 Pontius Pilatus, röm. Präfekt in Judäa († nach 39 n. Chr.?) 145, 177, 220, 271, 293, 309, 472 f., 476, 545, 552, 623, 692 Pontus 398 Porta Latina – siehe Rom Prag X, XII f., XV, XVII, XIX, XXIV, 1, 32, 67, 73, 89, 124 f., 131, 140, 160, 170, 176, 180, 186–188, 192, 230, 250, 252, 288, 292, 304, 309 f., 346, 352, 356, 487, 502, 544–547, 590, 601, 603, 608, 638, 665, 669 f., 686, 688 – Bethlehemskapelle XII–XIV, XVIII, XXII, 2, 30, 124 f., 160, 176, 226, 241 f., 254, 308, 312, 314, 322–324, 326, 333 f., 344, 346, 552, 598, 622 – Erzbistum 63, 70, 127, 163, 350 – Kirche St. Clemens 144 – Kirche St. Adalbert 253, 289 – Kirche St. Michael XII – Universität XI f., XVI, 10, 127, 154, 161, 186, 188 f., 192, 252 f., 256, 639, 672, 677 – Vyšehrad 630 Pseudo-Ambrosius 235, 339 Pseudo-Augustinus 275 f., 281 Pseudo-Bonaventura (Rodolphos de Bibraco) 157 Pseudo-Catonis 331 Pseudo-Chrysostomus 209, 226, 229, 325, 263, 273 f. Pseudo-Kallisthenes 153 Publius Vergilius Maro – siehe Vergil Rabanus (Maurus), Gelehrter und Ebf. von Mainz (um 780–856) 100, 116 f. Rabenstein (Rabstyn), böhm. Adelsgeschlecht – Přibislav 612 Radulf Glaber, Benediktinermönch und Hagiograph (um 985–um 1047) 481 Raphael, Engel 563 Raudnitz (Roudnice nad Labem) 160 Ravenna 483 Ravensburg 611
Register der Orts- und Personennamen Reggio 466 Remigius von Auxerre, Benediktinermönch und Verfasser von bibl. Kommentaren (um 841–908) 234, 274, 279, 334 Remigius von Reims, Hl., Bf. (436–533) 336 f., 408, 583, 650, 660 Rhein 604 Richard II., engl. Kg. (1367–1400) 195 Richard von Chichester (1197/98–1253), engl. Bf. 646 Richard von Sankt Viktor, Augustinerchorherr und Theologe (um 1110–1173) 425, 429–431, 646 Richental, Ulrich, Chronist (um 1360–1437) XXI Rimini 568 Robert von Genf – siehe Clemens VIII. Robert von Grosseteste, Bf. von Lincoln (ca. 1170–1253) 252, 501, 503, 505, 659, 661 Robert von Lincoln – siehe Robert von Grosseteste Robert. Konstanzer Gefängniswärter 622 Robertus Gilbonensis – siehe Clemens VII. Rom XIX, 44, 106, 131 f., 252, 290, 398 f., 416, 440, 444, 461 f., 466, 469, 476, 480–483, 534, 558 f., 561 f., 568, 615, 651, 664, 677 – Kolosseum 444 – Laterankirche 444 – St. Clemens 444 – St. Peter 445, 494, 538 Rudolf III., Hz. von Sachsen-Wittenberg (um 1373–1419) 189, 243 Ruprecht III. gen. Clem, röm.-dt. Kg. und Kf. (1352–1410) 693 Saaz (Žatec) 166 Sabellius, Häretiker 201 Sacharja, bibl. Prophet 220, 224, 478, 487 f., 659 Salomo, bibl. Herrscher des Kgr. Israel 120, 178, 226, 271, 305, 374, 482 Samaria – siehe Samarien Samarien 21, 62, 227, 398, 409 Samuel, bibl. Prophet 23, 138, 208, 231–234, 267, 270, 305, 420, 525, 554, 556 San(a)balat, Statthalter 227 Saul, bibl. Kg. Israels 232 f., 267, 270, 420, 525, 554, 556 Savonarola, Girolamo, dominikan. Bußprediger (1452–1498) XXII Sbinco von Hasenburg – siehe Zbyneˇ k Zajíc von Hasenburg Scarioth, Judas – siehe Judas Ischariot Schlan (Slany´ ) 166 Sezimovo Ústí 590 Sheen (London) 191 Sicilia – siehe Sizilien Sigebert von Gemblaux, ma. Historiograph und Theologe (um 1030–1112) 197 Sigismund von Luxemburg, ungar., röm.-dt. und böhm. Kg., röm.-dt. Ks. (1368– 1437) XXII, 189, 243, 521, 594, 606 f., 607 f., 611, 614 f., 623, 627, 668, 687, 693, 695 Silo 226 Silvanus, röm. Gott der Hirten und Wälder 398
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Register der Orts- und Personennamen Silvester III., Papst (†1063) 481 f. Silvester, Papst (†335) 284, 615 f. Simon bar Jona – siehe Petrus Simon der Gerber 409 Simon der Zauberer (Magus), erster Häretiker der Kirche (†65) 20, 24, 63, 134 f., 338, 343, 356, 428, 583 Simon Petrus – siehe Petrus Simon. Hl. 247, 330, 565 Sion 410 Sizilien 478 Sodom 503 Sokrates, griech. Philosoph (469–399 v. Chr.) 489 Sortes – siehe Sokrates Spanien 484 Speyer 605, 607, 609 f. Stanislaus von Znaim (de Znojma), böhm. Theologe (um 1360–1414) XVIII, 253, 304 f., 437, 469, 522, 545, 618, 625 f., 664, 691 Stašek, hussit. Märytrer 537 Stefan von Köln (Kolín), böhm. Theologe (um 1360–1408) 154 Stefan von Páleč (Stephanus Palecz), böhm. Theologe (ca. 1370–1424) XVIII, XIX, 253, 304 f., 437, 469, 472, 614 f., 617–619, 625, 629, 638, 663, 665, 683, 691 Stephan II., Papst († 757) 532 Stephan III., Papst († 772) 481 Stephan IX., Papst (um 1020–1058) 481 Stephan von Dôle, Bf. 638 Stephanus Protomartyr 235, 273 Stiborius, Gesandter Sigismunds von Luxemburg 189 Stokes, John, engl. Wyclifgegner 192–195, 198–203, 256 Straßburg XXV Sulzbach 602 Susanna, bibl. Gestalt 265, 474 Symmachus, Papst (†514) 481 Tabea 116 Tertius von Iconium, einer der 70 Jünger im Urchristentum 398 Theben 466 Theodoret von Cyrus, frühma. Theologe und Kirchenhistoriker (393–um 460) 110 Theophilos, Patriarch von Alexandria († 412) 198, 416 Thiem, Wenzelslaus, Legat 665 Thobia 227 Thomas von Aquin, Hl., ma. Philosoph und Theologe (um 1225–1274) 379, 391, 489 f., 577 Thomas, Apostel 42, 45 f., 55, 65 Timotheus, Bf., Mitarbeiter des Apostels Paulus († um 97 n. Chr.) 21, 23, 101, 104, 122, 148, 240 f., 307, 348 f., 379, 398, 465, 528, 542 Titus, röm. Ks. (39–81) 208, 212, 219
Register der Orts- und Personennamen Titus, Schüler des Apostels Paulus, erster Bf. von Kreta (ca. 10–105 n. Chr.) 1156 f., 177, 180, 307, 402, 412, 436, 465, 490, 644 Tobias, bibl. Gestalt 88, 563 Toledo 338 Trebur 24, 132, 339 Tyconius, Bf. und Kirchenschriftsteller (2. H. 4. Jh.) 375, 388 Ulrich Schorand, Konzilsdelegierter 694 Ungarn 62, 173, 521, 687 Urban II., Papst (um 1035–1099) 27, 483 Urban VI., Papst (ca. 1318–1389) 282, 449, 477 Valerian, röm. Diakon und Märtyrer († 258) 280 Veit, Märtyrer und Hl. († um 304) 129 Vergil, röm. Dichter (70–19 v. Chr.) 151 Vespasian, röm. Ks. (9–79 n. Chr.) 208, 212, 219 Viktor III., Papst (um 1027–1086) 483 Viktor IV., Gegenpapst (1095–1164) 483 Vincenz von Beauvais 152 Všeruby 128 Waldhauser, Konrad, österr. Reformprediger (um 1320/1325–1369) XIII, XV Walter von Châtillon, frz. Schriftsteller und Theologe (um 1135–um 1190) 155 Waradach 63 Weiden 602 Wenzel, böhm. Nationalheiliger (um 908–929/395) 602 Wenzel Gerard von Burˇ enitz, Patriarch von Antiochia (†1416) 189, 243 Wenzel IV., röm.-dt. und böhm. Kg. (1361–1419) X, XII, XVI–XIX, 126, 176, 180, 188, 189, 192 f., 193, 223, 230, 240, 242 f., 250, 289, 304, 312, 521, 590, 594, 615, 627 Wenzel Koranda von Pilsen, hussit. Theologe (zwischen 1422/1424–1519) 244 Wenzel Myška von Hrádek, böhm. Adeliger 621 Wibert von Ravenna – siehe Clemens III. (Gegenpapst) Wilhelm von Blois, Ebf. von Reims (1135–1202) 24 Wilhelm von Ockham, ma. Philosoph, Theologe und kirchenpolit. Schriftsteller (um 1288–1347) 217 Wilhelm Zajíc – siehe Hasenburg Wilsnack 38, 60, 65, 68 Wittenberg XXV Wyche, Richard, engl. Wyclif-Schüler 170, 173 Wyclif, John, engl. Philosoph und Kirchenreformer (spätestens 1330–1384) XVI– XIX, XXII, XXIV, 25,76, 113, 120, 127, 139, 160–162, 170 f., 176, 178, 186, 192, 194–196, 199–202, 207, 211, 214 f., 230, 250, 253, 256–260, 262, 280, 282, 292, 352, 354, 366, 370, 372, 390, 501, 536, 538, 576 f., 579 f., 614 f., 619, 629, 633, 638, 644, 664, 669–671, 672 f., 676 f., 684 Ysmahel – siehe Ismael
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Register der Orts- und Personennamen Zabarella, Francesco, Ebf. von Florenz, röm. Kardinal (1360–1417) XXI, 689 Zadok 178, 224, 226 Zbyneˇ k von Hasenburg – siehe Hasenburg Zmrzlík von Svojšín, böhm. Adelsgeschlecht – Peter (Münzmeister) 634 f.
WERKÜBERSICHT DDSTA UND LDSTA
Martin Luther Deutsch-Deutsche Studienausgabe Herausgegeben von Johannes Schilling mit Albrecht Beutel, Dietrich Korsch, Notger Slenczka und Hellmut Zschoch Band I: Glaube und Leben Hrsg. von Dietrich Korsch 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Ein Sermon von Ablass und Gnade (1518) Eine kurze Erklärung der Zehn Gebote (1518) Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519) Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) Ein Sermon von dem Sakrament der Buße (1519) Von den guten Werken (1520) Sendbrief an Papst Leo X. (1520) Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) Eine kurze Form der Zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers (1520) Das Magnifikat (1521) Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522) Ein Sermon von dem unrechten Mammon (1522) Eine Unterrichtung, wie sich die Christen nach Mose richten sollen (1526) Bekenntnis (1528) Der Kleine Katechismus (1529) Eine schlichte Weise zu beten, für einen guten Freund (1535) Gegen die Antinomer (1539) Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der deutschen Schriften (1539)
2012, XX, 680 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02880-1
Band II: Wort und Sakrament Hrsg. von Dietrich Korsch und Johannes Schilling 1. Sermon vom heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (1519) 2. Sermon vom hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leibes Christi und von den Bruderschaften (1519)
3. Vom Papsttum in Rom: gegen den hochberühmten Römling in Leipzig (1520) 4. Sermon vom Neuen Testament, das heißt: von der heiligen Messe (1520) 5. Vom Missbrauch der Messe (1521) 6. Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Vollmacht hat, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen: Begründung und Rechtsanspruch aus der Schrift (1523) 7. Ordnung einer Gemeindekasse, Ratschlag, wie die geistlichen Güter zu behandeln sind (Leisniger Kastenordnung): Vorrede (1523) 8. Von der Ordnung des Gottesdienstes in der Gemeinde (1523) 9. Deutsche Messe oder die Ordnung des Gottesdienstes: Vorrede (1526) 10. Von der Wiedertaufe. Ein Brief an zwei Pfarrer (1528) 11. Die Marburger Artikel (1529) 12. Der Abendmahlsartikel der Wittenberger Konkordie (1536) 13. Über die Konzilien und die Kirche (1539) 14. Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (1544) 15. Einweihung eines neuen Hauses zum Predigtamt des göttlichen Wortes, erbaut im kurfürstlichen Schloss zu Torgau (1546) 2015, XVIII, 902 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02881-8
Band III: Christ und Welt Hrsg. von Hellmut Zschoch 1. An den christlichen Adel deutscher Nation: Von der Reform der Christenheit (1520) 2. Aufrichtige Ermahnung an alle Christen, sich vor Aufruhr und Rebellion zu hüten (1522) 3. Vom ehelichen Leben (1522) 4. Von der weltlichen Obrigkeit: Wie weit man ihr Gehorsam schuldet (1523) 5. Jesus Christus ist von Geburt ein Jude (1523) 6. Grund und Rechtfertigung, dass Nonnen ihr Kloster nach Gottes Willen verlassen dürfen (1523) 7. An die Ratsherren aller Städte im deutschen Land, dass sie christliche Schulen errichten und unterhalten sollen (1524) 8. Von Handels- und Zinsgeschäften (1524) 9. Ermahnung zum Frieden als Antwort auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525) 10. Gegen die Räuber- und Mörderbanden der anderen Bauern (1525) 11. Sendbrief von der harten Schrift gegen die Bauern (1525) 12. Ob Soldaten in ihrem Beruf Gott gefallen können (1526) 13. Ermahnung an die ganze Geistlichkeit, die in Augsburg im Jahr 1530 auf dem Reichstag versammelt ist (1530)
14. Predigt, dass man die Kinder zur Schule schicken soll (1530) 15. Sendbrief vom Dolmetschen und von der Fürbitte der Heiligen (1530) 16. Warnung an seine lieben Deutschen (1530) 2016, XVIII, 934 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02882-5
Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Herausgegeben von Wilfried Härle, Johannes Schilling und Günther Wartenberg † unter Mitarbeit von Michael Beyer Band I: Der Mensch vor Gott Unter Mitarbeit von Michael Beyer hrsg. und eingel. von Wilfried Härle 1. Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata / Disputationsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade (1516) 2. Disputatio contra scholasticam theologiam /Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) 3. Disputatio Heidelbergae habita /Heidelberger Disputation (1518) 4. Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum / Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind (1520) 5. De servo arbitrio / Vom unfreien Willensvermögen (1525) 6. Disputatio D. Martini Lutheri de homine / Disputation D. Martin Luthers über den Menschen (1536) 2006, XLIV, 676 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02239-1
Band II: Christusglaube und Rechtfertigung Herausgegeben und eingeleitet von Johannes Schilling 1. Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum / Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe (1517) 2. Widmungsbrief an Johannes von Staupitz zu den ›Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute‹ (Erläuterungen der Thesen über die Kraft der Ablässe) (30. Mai 1518) 3. De remissione peccatorum / Von der Vergebung der Sünden (1518) 4. Sermo de poenitentia / Sermon über die Buße (1518) 5. Sermo de triplici iustitia / Sermon über die dreifache Gerechtigkeit (1518) 6. Sermo de duplici iustitia / Sermon über die zweifache Gerechtigkeit (1519)
7. Sententiae de lege et fide/ Thesen über Gesetz und Glauben (1519) 8. Propositiones de fide infusa et acquisita / Thesen über den eingegossenen und erworbenen Glauben (1520) 9. Quaestio, utrum opera faciant ad iustificationem / Frage, ob die Werke etwas zur Rechtfertigung beitragen (1520) 10. Epistola Lutheriana ad Leonem Decimum summum pontificem. Tractatus de libertate christiana /Brief Luthers an Papst Leo X. Abhandlung über die christliche Freiheit (1520) 11. Rationis Latomianae pro incendiariis Lovaniensis scholae sophistis redditae Lutheriana confutatio /Lutherische Widerlegung der Latomianischen Rechtfertigung für die scholastischen Brandstifter der Universität zu Löwen (1521) 12. Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28 (1535–1537) 13. De veste nuptiali/Über das hochzeitliche Kleid (1537) 14. Thesen für die erste Disputation gegen die Antinomer (1537) 15. Verbum caro factum est/Das Wort ward Fleisch (1539) 16. De divinitate et humanitate Christi/ Von der Gottheit und Menschheit Christi (1540) 17. De fide iustificante/ Über den rechtfertigenden Glauben (1543) 18. Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften (1545) 2006, XLII, 518 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02240-3
Band III: Die Kirche und ihre Ämter Hrsg. von Günther Wartenberg † und Michael Beyer. Eingeleitet von Wilfried Härle 1. Sermo de virtute excommunicationis Fratri Martino Luther Augustiniano a linguis tertiis tandem everberatus/ Sermon über die Kraft der Exkommunikation, dem Bruder Martin Luther, einem Augustiner, von Schandmäulern schließlich abgenötigt (1518) 2. Resolutio Lutheriana super propositione decima tertia de potestate Papae. Per autorem locupletata / Luthers Erläuterung zu seiner 13. These über die Gewalt des Papstes. Vom Autor verbesserte Auflage (1519) 3. De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium Martini Lutheri / Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Ein Vorspiel von Martin Luther (1520) 4. Ad librum eximii Magistri Nostri Magistri Ambrosii Catharini defensoris Silvestri Prieratis acerrimi responsio Martini Lutheri. Cum exposita Visione Danielis VIII de Antichristo / Antwort Martin Luthers auf das Buch des trefflichen ›Magister
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noster‹, Mag. Ambrosius Catharinus, der den überaus scharfsinnigen Silvester Prierias verteidigt. Mit einer Auslegung der Vision aus Daniel 8 über den Antichrist (1521) De instituendis ministris ecclesiae, ad clarissimum senatum Pragensem Bohemiae / Wie man Diener der Kirche einsetzen soll, an den hochangesehenen städtischen Rat zu Prag in Böhmen (1523) Formula missae et communionis pro ecclesia Wittembergensi / Ordnung der Messfeier und Kommunion für die Wittenberger Kirche (1523) Disputatio de potestate concilii / Disputation über die Macht eines Konzils (1536) Contra XXXII articulos Lovaniensium theologistarum / Gegen die 32 Artikel der Theologisten zu Löwen (1545) 2008, XLIV, 756 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-374-02241-0
Philipp Melanchthon. Herausgegeben von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg † Melanchthon deutsch I Schule und Universität, Philosophie, Geschichte und Politik 360 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02831-3 EUR 18,80 [D]
Philipp Melanchthon, Reformator und Lehrer Deutschlands, hat Schule und Universität, Theologie und Kirche so entscheidend geprägt, dass die Spuren seines Wirkens bis heute erkennbar sind. Der Wittenberger Weggefährte Martin Luthers hat als humanistischer Gelehrter von europäischem Rang eine unerhörte Vielzahl von Themenfeldern bearbeitet. In diesem Band werden Texte zu Schul- und Universitätsreform, zu Philosophie, Geschichte, Politik, Rechtstheorie und Medizin in modernes Deutsch übertragen.
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Philipp Melanchthon. Herausgegeben von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg † Melanchthon deutsch II Theologie und Kirchenpolitik 312 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02832-0 EUR 18,80 [D]
Philipp Melanchthon, Reformator und Lehrer Deutschlands, hat Schule und Universität, Theologie und Kirche so entscheidend geprägt, dass die Spuren seines Wirkens bis heute erkennbar sind. Der Wittenberger Weggefährte Martin Luthers unterstützte Luther nicht nur bei dessen Bibelübersetzung, sondern war überhaupt zentral an der Entstehung und Überarbeitung des reformatorischen Schrifttums beteiligt und legte erstmals eine systematische Zusammenfassung der neuen evangelischen Lehre vor. In diesem Band werden Texte zu Theologie und Kirchenpolitik, Gebete und Bibelauslegungen in modernes Deutsch übertragen.
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Philipp Melanchthon. Herausgegeben von Günter Frank und Martin Schneider Melanchthon deutsch III Von Wittenberg nach Europa 328 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02854-2 EUR 18,80 [D]
Melanchthon war sowohl einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit als auch ein Politiker von europäischem Rang. Dem trägt der dritte Band unter dem Titel »Von Wittenberg nach Europa« Rechnung. Die vorgelegte Auswahl mit ca. 30 Dokumenten legt den Schwerpunkt auf theologische und kirchliche Inhalte, die – von der deutschen Situation ausgehend – englische, französische, italienische und südosteuropäische Angelegenheiten betreffen. Melanchthons humanistische Bildung und seine Kontakte zu Gelehrten in aller Herren Länder ließen ihn zum wichtigsten Vermittler der reformatorischen Lehre werden.
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Philipp Melanchthon. Herausgegeben von Michael Beyer, Armin Kohnle und Volker Leppin Melanchthon deutsch IV Melanchthon, die Universität und ihre Fakultäten 384 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-03053-8 EUR 24,00 [D]
Der Band bietet Texte, die Melanchthons intellektuelle Leistungen für den gesamten universitären Fächerkanon seiner Zeit exemplarisch deutlich werden lassen. Ein gewisser Schwerpunkt liegt auf der Artistenfakultät, doch ist die Theologische Fakultät als zweite universitäre Heimat Melanchthons ebenfalls stark vertreten. Die Fakultäten der Juristen und Mediziner sind gleichfalls berücksichtigt. Das zeitliche Spektrum reicht von 1518 bis 1558: vom ganz jungen bis zum ganz alten Melanchthon.
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Herausgegeben von Armin Kohnle und Eike Wolgast unter Mitarbeit von Vasily Arslanov, Alexander Bartmuß und Christine Haustein Thomas Müntzer. Schriften, Manuskripte und Notizen Thomas-Müntzer-Ausgabe, Band 1 ca. 500 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02202-1 ca. EUR 48,00 [D] erscheint ca. im Juni 2017
Band 1 der Thomas-Müntzer-Gesamtausgabe bietet die großen Druckschriften sowie die zahlreichen kleineren Fragmente und Aufzeichnungen Müntzers in kritischer, modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügender Form. Neben den bekannten Müntzer-Schriften enthält der Band auch die bisher unveröffentlichte lateinische Fassung seines Prager Sendbriefs. Die bei der Lektüre von Schriften der Kirchenväter Cyprian und Tertullian angefertigten Randglossen werden erstmals vollständig ediert. Den breitesten Raum nehmen Müntzers liturgische Texte ein. Das editorische Langzeitprojekt der kritischen Müntzer-Gesamtausgabe kommt damit nach über 30 Jahren der Planung und Bearbeitung zum Abschluss.
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Bearbeitet und kommentiert von Siegfried Bräuer und Manfred Kobuch Thomas Müntzer. Briefwechsel Thomas-Müntzer-Ausgabe, Band 2 636 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02203-8 EUR 68,00 [D]
Der zweite Band greift die Ergebnisse einer weltweiten Erforschung von Müntzers sozialem Umfeld auf. Zu allen erwähnten Personen sind nicht nur die Ergebnisse der veröffentlichten Forschung eingebracht, sondern auch Informationen aus Archiven gewonnen worden. Daher liefert der Band einen bedeutsamen Beitrag zur Sozialgeschichte der Orte, in denen sich Müntzer oder die Personen, mit denen er korrespondierte, aufhielten. Gleichzeitig sind die theologischen Aussagen in Müntzers Umfeld hineingestellt, indem einerseits auf Bezüge zu Luther und anderen Theologen verwiesen wird, bisweilen aber auch deren Standpunkt mitgeteilt wird, um Müntzers Eigenart bzw. Übereinstimmung zu verdeutlichen.
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Bearbeitet von Wieland Held † und Siegfried Hoyer Quellen zu Thomas Müntzer Thomas-Müntzer-Ausgabe, Band 3 294 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-02180-2 EUR 44,00 [D]
Die erste kritische Gesamtausgabe der »Schriften und Briefe« Müntzers erschien 1968. Die intensive Beschäftigung mit Müntzer ließ hierbei Mängel erkennen. Sechs deutsche Müntzerforscher verständigten sich noch vor dem Ende der DDR, in eine Neuedition ihre neuen Forschungsergebnisse einzubringen. 1992 wurde dieses mit der Historischen Kommission verbundene Unternehmen in das Projekt »Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig aufgenommen. Band 3 enthält zeitgenössische Quellen wie Chroniken, Akten, Briefwechsel oder Gedichte, die unentbehrliche Informationen und wichtige Bausteine für ein historischkritisches Müntzerbild liefern.
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Joachim Köhler Luther! Biographie eines Befreiten 408 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-04420-7 EUR 22,90 [D]
Mit entschiedener Sympathie und beeindruckendem psychologischen Gespür lässt Joachim Köhler, Autor zahlreicher biographischer und kulturgeschichtlicher Werke, den großen Glaubenskämpfer der deutschen Geschichte lebendig werden. »Christsein heißt, von Tag zu Tag mehr hineingerissen werden in Christus.« Dieses leidenschaftliche Bekenntnis des Reformators steht im Mittelpunkt von Köhlers brillanter Biographie, die Luthers dramatische Entwicklung in drei Stadien – Bedrängnis, Befreiung und Bewahrung – darstellt. Sie zeichnet sowohl Luthers existenzielle Glaubenserfahrungen nach als auch die Anfechtungen psychologischer und politischer Art, mit denen er lebenslang zu ringen hatte.
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Armin Kohnle Martin Luther Reformator, Ketzer, Ehemann 224 Seiten | Hardcover ISBN 978-3-374-04107-7 EUR 29,95 [D]
Martin Luther ist eine Gestalt der Weltgeschichte. Das heraufziehende Reformationsjubiläum des Jahres 2017 hat Luther wieder stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken lassen. Dies gilt für Verehrer und Kritiker des Reformators gleichermaßen. Wer sich auf Luther einlässt, muss Gegensätze aushalten. Das vorliegende Buch ist der Versuch, Luther einem breiteren Publikum aus kirchenhistorischer Perspektive nahezubringen. Unreflektierte Bewunderung und bloße Ablehnung sind dabei gleichermaßen schädlich. Wer Luther verstehen will, muss sich auf seine vielschichtige Persönlichkeit ebenso einlassen wie auf seine Theologie.
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