Jenseits von Eigennutz: Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion [1 ed.] 9783666568572, 9783525568576


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German Pages [267] Year 2021

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Jenseits von Eigennutz: Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion [1 ed.]
 9783666568572, 9783525568576

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Corinna Klodt

Jenseits von Eigennutz Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

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Religion, Theologie und Naturwissenschaft / Religion, Theology, and Natural Science

Herausgegeben von Christina Aus der Au, Celia Deane-Drummond, Agustn Fuentes, Jan-Olav Henriksen, Markus Mühling und Ted Peters Band 34

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Corinna Klodt

Jenseits von Eigennutz Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gedruckt mit Unterstützung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie der Union evangelischer Kirchen.

Das vorliegende Werk beruht auf der Dissertation „Christlicher Glaube als ,antiselektionistische Revolte‘? Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion untersucht am Beispiel der Arbeiten von Gerd Theißen, Heiner Mühlmann und Robert Bellah“ zur Erlangung des Doktorgrades im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.  2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: „Der barmherzige Samariter“ (1575) von Francesco Bassano (1549–1592). Das Original befindet sich im Kunsthistorischen Museum, Wien. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1110 ISBN 978-3-666-56857-2

Inhalt

Vorwort ................................................................................................ 11 A. Einleitung ........................................................................................ I. Die Evolutionstheorie als „tragendes Element eines modernen Weltbildes“ ................................................................ II. Das Anliegen dieser Arbeit .......................................................... III. Begründung der Auswahl der drei zu untersuchenden Entwürfe....... IV. Gliederung der Arbeit ................................................................. B. Einführung in evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen ........................................................... I. Die Theorie der biologischen Evolution ......................................... 1. Evolution der Arten ................................................................ 2. Die synthetische Evolutionstheorie ........................................... 3. Die erweiterte evolutionäre Synthese......................................... 4. Nischenkonstruktion .............................................................. II. Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie .. 1. Die Theorie der kulturellen Evolution ....................................... 2. Die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie zur Beschreibung menschlichen Sozialverhaltens und menschlichen Wahrnehmens .................................................. III. Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion .. 1. Interpretationen von Religion durch die „Cognitive science of religion“ ................................................................. 1.1 Religion als kontraintuitives Denken................................... 1.2 Religion als Folge des hyperagency detection device ............. 1.3 Religion als teures Signal ................................................... 1.4 Religion als Mittel zur Herstellung von Koordination und Zusammenhalt in großen Gruppen .......... 2. Religionen als durch Lernen erworbene Überzeugungen und Verhaltensweisen ............................................................. 2.1 Religionen als evolvierende Einheiten .................................

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Inhalt

2.2 Die Bibel als Dokument eines menschheitsgeschichtlichen Umbruchs: Vom Jäger zum Ackerbauern ............................................................. 44 3. Evolutionstheoretisch begründete Religionskritik am Beispiel von Richard Dawkins .................................................. 46 IV. Auswertung der bisherigen evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religionen ......................................................... 50 C. Gerd Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion.............................................. I. Biographischer Überblick und Thema der Arbeiten von Gerd Theißen ............................................................................. II. Theißens Religionsbegriff ............................................................ III. Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten ............................ 1. Überlegungen in „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“ ........................................................... 1.1 Der Mutationsbegriff als Verstehenshintergrund für die in neutestamentlichen Texten beschriebene Einzigartigkeit Jesu Christi ............................................... 1.2 Neutestamentliche Texte als Kritik am Selektionsprinzip ....... 2. Theißens evolutionstheoretische Überlegungen in „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“ ................................. 2.1 Theißens methodische Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Evolutionstheorie und christlichem Glauben ....................................................... 2.2 Jenseits des Selektionsprinzips – Theißens evolutionstheoretische Perspektiven auf den biblischen Monotheismus .................................................. 2.3 Theißens evolutionstheoretische Interpretation neutestamentlicher Christologie ......................................... 2.4 Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Pneumatologie, zur Harmatiologie und zur Ekklesiologie ................................................................... IV. Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten ........................... 1. Das biblische Ethos der Anti-Selektion in Kontinuität und im Widerspruch zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen.................................................................... 1.1 Die positivere Bewertung der Rolle der Natur ...................... 1.2 Schutz der Schwachen als Verzerrung des Verlaufs der Evolution?..................................................................

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Inhalt

2. Lk 10,25-37 im Gegenüber zu einem Verständnis von selbstloser Hilfe als evolutionäre Unmöglichkeit......................... 3. Religionen als gestaltende Kräfte innerhalb der Evolution (Nischenkonstruktion) ............................................. 4. Theißens religionssoziologische Konkretisierung statusund gruppenübergreifender Nächstenliebe am Beispiel urchristlicher Gemeinden........................................................ V. Gesamtauswertung zu Gerd Theißen............................................. 1. Evolution als Zusammenspiel aus Anpassung an Umwelten und Nischenkonstruktion ........................................ 2. Schwierigkeiten mit Theißens Verortung Gottes als Ziel der Evolution ......................................................................... 3. Schwierigkeiten mit dem Selektionsbegriff zur Beschreibung von Ausgrenzungsprozessen in der Kultur ............. 4. Das biblische Sozialethos vor dem Hintergrund einer evolutionären Anthropologie ................................................... D. Heiner Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion ........................................ I. Einführung in Mühlmanns Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Kulturtheorie, Evolutionstheorie und Neurowissenschaften .................................................................. II. Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie......................................... 1. Begriff der Kultur ................................................................... 2. Das 5-Phasen-Modell zur Beschreibung der Entstehung und Entwicklung menschlicher Kulturen................................... 2.1 Erste Phase: Lokale Regeln als Vorbedingung zur Entstehung einer Kultur .................................................... 2.2 Der Ausgrenzungseffekt als notwendige Folge der lokalen Regeln ................................................................. 2.3 Zweite Phase: Kriege als maximale Stressereignisse ............... 2.4 Dritte Phase: Die Entstehung einer kulturellen Regeleinstellung nach dem Stressereignis............................. 2.5 Vierte und fünfte Phase: Iteration und Degeneration............. 3. Bewertung von Mühlmanns Kulturtheorie................................. 4. Überleitung ........................................................................... III. Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen ................................................................ 1. Mühlmanns Verständnis des antiken Schlachtopfers ..................

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Inhalt

2. Kognitive Module und Enkulturierung als Prägekräfte für menschliches Wahrnehmen und Verhalten .......................... 2.1 Kognitive Module als genetisch angelegte Strukturen menschlicher Wahrnehmung ............................. 2.2 Funktionsweisen von für das Sozialverhalten relevanten kognitiven Modulen ......................................... 2.3 Mühlmanns Verwendung der Theorie der kognitiven Module vor dem Hintergrund des Diskurses „Nature vs. Nurture“ .......................................... 2.4 Enkulturierung als Verinnerlichung kultureller Lerninhalte ... 2.5 Enkulturierung durch Rituale und Narrative ........................ 3. Die Enkulturierung durch das Christentum ............................... 3.1 Das Abendmahl als alternatives Enkulturierungsereignis im Gegenüber zum Schlachtopfer .... 3.2 Neutestamentliche Narrative als alternative Enkulturierungsmodule ................................................... 4. Die Suspendierung der kognitiven Module folk sociology und ranking inference im Neuen Testament ................ 4.1 Der Umgang mit dem Modul folk sociology im Neuen Testament ............................................................. 4.2 Der Umgang mit dem Modul ranking inference im Neuen Testament ............................................................. 5. Das Christentum als teleonomische Größe innerhalb der Evolution ......................................................................... IV. Gesamtauswertung zu Heiner Mühlmann...................................... 1. Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie .................................... 2. Der Mensch als Produkt von Natur und Kultur .......................... 3. Die gewaltreduzierende Funktion des Christentums ................... V. Zwischenfazit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven zur christlichen Religion bei Gerd Theißen und Heiner Mühlmann ......................... E. Robert Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen ........................................................... I. Einordnung der evolutionstheoretischen Arbeiten Robert Bellahs in die bisherige Darstellung............................................... II. Biographischer Überblick ............................................................ III. Bellahs frühe Arbeit zur Evolution der Religion .............................

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Inhalt

IV. Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age” ........................................... 1. Bellahs Verständnis von Evolution ............................................ 1.1 Die Evolutionstheorie als Raster zur Beschreibung von Entwicklungen in Natur und Geschichte und als Erklärung für anthropologische Verhaltenstendenzen....... 1.2 und komplexer Prozess..................................................... 2. Bellahs Verständnis von Religion.............................................. 2.1 Religion als sinnstiftender Lebensvollzug und als Erfahrung .. 2.2 Die wirklichkeitsgestaltende Kraft der Religion .................... 3. Die Anfänge der Religion im Spiel der Säugetiere ....................... 3.1 Das Spiel der Säugetierkinder als erster „entspannter Raum” in der Evolutionsgeschichte .................. 3.2 Spiel und Ritual bei Schimpansen ....................................... 3.3 Die Genese des Rituals aus dem Spiel ................................. 4. Die episodische, die mimetische und die mythische Kultur als Komplexitätssteigerung ............................................ 4.1 Die episodische Kultur ...................................................... 4.2 Die mimetische Kultur ...................................................... 4.3 Die mythische Kultur ........................................................ 5. Die Funktion von Ritualen und Narrativen am Beispiel der Stammesgesellschaft der Kalapalo ....................................... 6. Die Funktion von Ritualen und Narrativen am Beispiel des Stammesfürstentums Hawaii .............................................. 7. Das Verhältnis von Religion und Herrschaft in frühen Hochkulturen am Beispiel von Mesopotamien ........................... 8. Achsenzeit............................................................................. 8.1 Die theoretische Kultur als Kennzeichen der Achsenzeit ...................................................................... 8.2 Achsenzeit am Beispiel des antiken Israel ............................ V. Gesamtauswertung zu Robert Bellah ............................................. 1. Bellahs Verständnis von Evolution und von Religion .................. 2. Bellahs Konzept der Achsenzeit................................................ 3. Die abschließende Intention von „Religion in Human Evolution“...

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F. Auswertung ..................................................................................... 217 I. Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion.......................................... 217 1. Die Verbindung der Evolutionstheorie mit den hermeneutischen Vorannahmen der jeweiligen Autoren.............. 217

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Inhalt

2. Die Veränderung der Evolutionstheorie durch neue Forschungen ......................................................................... 3. Die Theorie der kulturellen Evolution als strukturierendes Raster und ihre Angewiesenheit auf historische Perspektiven .......................................................... II. Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion.......................................... 1. Evolutionäre Sorge um das eigene Überleben zulasten anderer als Plausiblisierung der biblischen Rede von Sünde ......... 2. Die Bildbarkeit des Menschen durch Narrative und Rituale – der Mensch als Kulturwesen ....................................... 3. Biblische Rituale und Narrative als Einübung in Statusverzicht und Hilfe gegenüber Marginalisierten .................. 3.1 Rituale und Narrative in Dtn 16,1-17 .................................. 3.2 Das Ritual des Abendmahls als Einübung eines Gabentauschs................................................................... III. Fazit..........................................................................................

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G. Literaturverzeichnis ......................................................................... I. Primärliteratur ........................................................................... II. Sekundärliteratur und weitere Literatur ......................................... III. Internetquellen...........................................................................

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H. Register .......................................................................................... I. Personen ................................................................................... II. Sachen ...................................................................................... III. Bibelstellen ................................................................................

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im SS 2020 vom Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück als Dissertation im Fach Systematische Theologie unter dem Titel: „Christlicher Glaube als ‚antiselektionistische Revolte‘? Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion untersucht am Beispiel der Arbeiten von Gerd Theißen, Heiner Mühlmann und Robert Bellah“ angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Den Herausgebern der Reihe Religion, Theologie und Naturwissenschaft, allen voran PD Dr. Christina Aus der Au, danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Ganz herzlich danken möchte ich auch meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Gregor Etzelmüller. Er hat diese Promotionsschrift wohlwollend und scharfsinnig begleitet. Seine Leidenschaft für theologische und naturwissenschaftliche Sachfragen hat mich dazu angereizt, die Dinge immer wieder neu aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und diese Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. So ist diese Arbeit entstanden. Meinem Zweitgutachter, Herrn apl. Professor Dr. Gebhard Löhr, danke ich ebenfalls herzlich. Er hat die Überarbeitung der Dissertation durch seine hilfreichen Anmerkungen sehr erleichtert. Meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen des Mittelbaus am Institut für evangelische Theologie der Universität Osnabrück danke ich für viele fachwissenschaftliche Diskussionen und freundliche Ermutigungen, insbesondere Frau M. Ed. Annika Göbel, Frau Dr. des. Sarah-Christin Leder und Herrn Dr. des. Florian Oepping. Ebenso gedankt sei M. A. Leonie Albes, B. Ed. Laura Viviane Billeb und B. Ed. Katharina Willms für engagierte Gespräche zum Thema. Meinem Partner Christian Mittelstaedt danke ich für die vielen Stunden, in denen er Aspekte der Arbeit mit mir diskutiert und mich zum Schreiben ermuntert hat. Dem Faraday Institute for Science and Religion der Universität Cambridge sei herzlich gedankt für die Möglichkeit, einen dreimonatigen Forschungsaufenthalt dort zu verbringen. Insbesondere danke ich meinem dortigen Ansprechpartner, Herrn Dr. Alexander Maßmann, für detaillierte Einblicke in das Verhalten und die Kultur von Schimpansen und Bonobos. Der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie der EKD selbst danke ich für ihre Zuschüsse, die die Drucklegung der Arbeit möglich gemacht haben. Ohne die Begleitung meiner Familie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Danken möchte ich hier nicht nur meinen Geschwistern, sondern vor allem meinen Eltern, die in mir schon als Kind die Liebe zur Theologie und die Freude

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Vorwort

an kritischer Diskussion geweckt haben. Als Zeichen des Dankes für ihre Liebe sei ihnen diese Arbeit gewidmet.

A.

Einleitung

I.

Die Evolutionstheorie als „tragendes Element eines modernen Weltbildes“1

Die Theorie der Evolution spielt eine zentrale Rolle für ein gegenwärtiges Welt- und Wirklichkeitsverständnis. Sie wird nicht nur zur Beschreibung von Entwicklungen im Rahmen der Naturgeschichte herangezogen, sondern dient Evolutionsbiologen, Anthropologen, Psychologen und Philosophen2 auf unterschiedliche Weise auch zur Beschreibung des Menschen und seines Verhaltens: Eine evolutionäre Anthropologie geht davon aus, dass heutige menschliche Verhaltensweisen und Eigenschaften evolutionäre Anpassungen darstellen. Unter dieser Perspektive betrachtet existieren menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, weil sie in der Vergangenheit des Menschen nützlich zum Überleben waren. Sofern solche Verhaltensweisen eine „genetische Basis“3 hätten, würden sie weitervererbt und hätten sich bis heute erhalten. Daher gelte: Man kann Menschen nur verstehen, wenn man sie als Produkte der Evolution sieht. […] Für die Evolutionsbiologie sind Menschen eine Tierart unter vielen, mit Eigenschaften, die sich als Anpassungen an eine frühere oder die heutige Umwelt erklären lassen.4

Doch nicht nur menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen, auch vom Menschen geschaffene, kulturelle Erzeugnisse wie Kunst oder Religion könnten aus der Perspektive einer evolutionären Anthropologie als Produkte der Evolution verstanden werden. So argumentiert beispielsweise der Evolutionsbiologe Thomas Junker dahingehend, dass Kunst verstanden als „ästhetische[r] Gestaltungswillen“5 eine gelungene evolutionäre Anpassung darstellt. Denn diejenigen Menschen, die im Laufe der Evolution künstlerisch tätig geworden seien, hätten an ihre Umgebung das Signal ausgesandt, dass sie es sich leisten konnten, Ressourcen in eine nicht überlebensnotwendige Kulturtechnik zu stecken. So demonstrierten sie laut Junker insbesondere gegenüber potentiellen Sexualpartnern ihre Überlebenstüchtigkeit 1 Vollmer, Zur Tragweite des Evolutionsgedankens, 18. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei den in der Arbeit genannten Gruppenbezeichnungen auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung verzichtet. Es sind immer alle Geschlechter und Geschlechtszugehörigkeiten mitgemeint. 3 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 13. 4 Junker, Die Evolution des Menschen, 7. 5 A.a.O., 105.

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Einleitung

und wurden so zu attraktiven Fortpflanzungspartnern. Weil die Ausübung von Kunst so einen Reproduktionsvorteil gebracht habe, geht Junker davon aus, dass sie im Laufe der Evolution genetisch im Menschen verankert wurde, sodass Menschen „darauf programmiert [sind], sich mit schönen Dingen zu umgeben“6 . Ähnlich wie Junker versteht auch der Soziobiologe Eckart Voland kulturelle Erzeugnisse als Produkte der Evolution. Am Beispiel der Religion erläutert Voland dies. Er definiert Religion zunächst als Glaube an übernatürliche intentionale Wesen, die die Geschicke des Menschen steuern. Ein solcher Glaube an intentionale Wesen sei Folge der evolutionär vorteilhaften menschlichen Neigung, hinter unbekannten oder unverstandenen Phänomenen Intentionen zu vermuten: Wer hinter einem Rascheln im Gebüsch einen Fressfeind vermutete, konnte im Zweifel überlebensdienlich mit Flucht reagieren. Die Annahme von Intentionalität sei daher evolutionär erfolgreich gewesen und habe sich bis heute erhalten. Hinter unbekannten Phänomenen werde auch heute noch ein intentionaler Akteur vermutet – auch wenn in Wirklichkeit gar kein intentionaler Akteur existiere. Religionen bezeichneten diesen – fälschlicherweise angenommenen – intentionalen Akteur als Gott. Die Entstehung und Bewahrung des Glaubens an übernatürliche Wesen sei daher evolutionsbiologisch erklärbar.7 Eine andere evolutionstheoretische Interpretation von Religion legt der Evolutionsbiologe David S. Wilson vor. Wilson versteht Religion als ein Instrument, um die Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe zu stärken. Zur evolutionstheoretischen Entstehung der Religion bemerkt er, dass diese vermutlich als Folge der „Gruppenselektion“8 in der Evolution bewahrt worden ist. Nach der Theorie der Gruppenselektion wirkt Selektion nicht nur auf der Ebene des Individuums, sondern auch auf der Ebene von Gruppen, die gegeneinander um Ressourcen konkurrieren. Ein Kriterium, an dem sich laut Wilson bemisst, wie erfolgreich eine Gruppe im Vergleich mit einer anderen Gruppe ist, ist die Fähigkeit der Gruppenmitglieder zur Kooperation untereinander. An diesem Punkt erweise sich Religion als nützliches Mittel, um Kooperation innerhalb der Gruppe herzustellen: Denn der Glaube an einen Gott vereint nach Wilson die Gruppe und ermöglicht so ein Gefühl der Zusammengehörigkeit: „Religion causes human groups to function as adaptive units.“9 Daher sei Religion im Laufe der Evolution erfolgreich selektiert worden und habe sich bis heute erhalten. Der Soziobiologe Edward O. Wilson verbindet diese These von Religion als Produkt der Gruppenselektion mit einer religionskritischen Haltung: Er geht axio6 7 8 9

Ebd. Vgl. Voland, Soziobiologie, 227. Vgl. auch Boyer, Und der Mensch schuf Gott, 397. Vgl. Wilson, Darwin’s Cathedral, 12–17. Wilson, Darwin’s Cathedral, 96. Vgl. auch a.a.O., 220: „Religions are […] systems that unite people into adaptive groups.“ Vgl. auch Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 16.310f.

Die Evolutionstheorie als „tragendes Element eines modernen Weltbildes“

matisch davon aus, dass mit der Beschreibung von Religion als Produkt der Gruppenselektion zugleich alle anderen Aspekte von und Perspektiven auf Religion überflüssig geworden sind. In diesem Sinne hält er die Frage nach der Wahrheit religiöser Aussagen für geklärt: Religiöse Inhalte seien lediglich „absurde[...] Mythen“10 . Im Rahmen seiner evolutionstheoretischen Beschreibung der Religion setzt Wilson daher die Evolutionstheorie zugleich an die Stelle der Religion und versteht erstere als alles erklärende Metatheorie. Die Evolutionstheorie wird bei ihm zum neuen Weltdeutungsschema, das die Religion ersetzt.11 Sie ist nach Wilson zudem ein geeigneteres Mittel zur Weltdeutung als die Religion, weil erstere nicht auf Glauben, sondern auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhe. Die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie ermögliche es daher, die Religion selbst als Produkt der Evolution zu verstehen und ihr somit eine wissenschaftlich erklärbare Funktion zuzuweisen. Es geht darum, dass die Naturwissenschaft die Religion von Grund auf zu erklären versucht – nicht als unabhängige Realität, in der die Menschheit ihren Platz sucht, nicht als Gehorsam gegenüber einer göttlichen Macht, sondern als Produkt der Evolution durch natürliche Selektion.12

Darüber hinaus wird die Evolutionstheorie von Evolutionsbiologen, Anthropologen, Psychologen und Philosophen auch zur Beschreibung der Veränderungen der menschlichen Kultur herangezogen. Dies geschieht mithilfe der Theorie der kulturellen Evolution. Menschliche Kultur umfasst in dieser Definition alle diejenigen Verhaltensweisen, Informationen oder Ideen, die nicht genetisch determiniert sind, sondern durch Lernen erworben werden.13 Statt Genen bilde in menschlicher Kultur also Gelerntes den Gegenstand der Evolution. Von einer kulturellen Evolution

10 Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 349. 11 Vgl. Wilson, Biologie als Schicksal, 181: Der wissenschaftliche Materialismus „bietet dem menschlichen Geist eine alternative Mythologie, die in Konfliktbereichen die traditionelle Religion bisher noch stets Punkt für Punkt geschlagen hat“. Vgl. auch Midgley, The Myths we live by, 65. Die Philosophin Mary Midgley bemerkt über Wilsons Verwendung der Evolutionstheorie: „[O]fficially, sociobiology is not supposed to have any views about motives at all. Its business is only with behaviour, with the statistical probability that certain types of action will affect the future distribution of an agent’s genes. Disastrously, however, sociobiologists have chosen to describe this harmless topic in the language of motive [...]. Because this language of motive is so natural and habitual in its ordinary sense, these authors constantly slip into mixing the two systems and thus supposing that they have radically explained human psychology. Dreams of still wider academic empire, involving the reductive conquest of all other studies, naturally follow“. 12 Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 306. 13 Vgl. so Mesoudi, Cultural Evolution, 2f. Vgl. auch Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 140. Vgl. auch Boyd & Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 33.

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Einleitung

ließe sich schließlich insofern sprechen, als dass gelernte Verhaltensweisen, Ideen oder Informationen unterschiedlich oft weitertradiert würden und insofern einer differenziellen Reproduktion, einer Selektion, unterlägen.14 Von einer solchen Theorie der kulturellen Evolution ausgehend entwickeln Religionswissenschaftler die Theorie der „Evolution der Religionen“15 . Religionen werden in dieser Perspektive als durch Lernen erworbene, kulturelle „Vorstellungen und Praktiken“16 verstanden. So wie kulturelle Veränderungen insgesamt einer Evolution unterlägen, so geschähen auch Veränderungen innerhalb einer Religion und zwischen den Religionen nicht zufällig oder beliebig, sondern in Abhängigkeit von vorgegebenen Selektionsfaktoren, sodass sich sinnvollerweise von einer gerichteten Veränderung von Religionen sprechen ließe.17 Aufgrund dieser noch weiter zu erläuternden vielfältigen Verwendungsweisen der Evolutionstheorie kann der oben genannten These des Philosophen Gerhard Vollmer zugestimmt werden, dass die Evolutionstheorie ein „tragendes Element eines modernen Weltbildes“18 ist. Sie dient in unterschiedlicher Weise dazu, den Menschen, seine kulturellen Erzeugnisse sowie deren Veränderungen zu beschreiben und zu verstehen.

II.

Das Anliegen dieser Arbeit

Die vorliegende Arbeit nimmt diesen Sachverhalt der Evolutionstheorie als zentrales Paradigma eines gegenwärtigen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses auf, und untersucht davon ausgehend, was evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Phänomenen leisten können. Dieser Frage wird jedoch nicht abstrakt nachgegangen, sondern es wird konkret am Beispiel der christlichen Religion untersucht, was evolutionstheoretische Perspektiven zu ihrer Beschreibung, Analyse und Interpretation austragen können. Welche Erkenntnisse lassen sich

14 Vgl. zum Begriff der kulturellen Evolution exemplarisch Robert Boyd und Peter J. Richerson: Culture and the Evolutionary Process, Chicago / London 1985. Vgl. auch ders.: Not by Genes Alone. How culture transformed human evolution, Chicago / London 2005. Vgl. William H. Durham: Coevolution. Genes, Culture, and Human Diversity, Stanford (CA) 1991. Vgl. auch Susan J. Blackmore: Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist, Darmstadt 2000. Vgl. Alex Mesoudi: Cultural Evolution: How Darwinian Theory Can Explain Human Culture and Synthesize the Social Sciences, London / Chicago 2011. Vgl. Schurz, Gerhard: Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie, Heidelberg 2011. 15 Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 334. Vgl. zum Begriff der Evolution der Religionen auch Bellah, Religious Evolution, 23–50 (vgl. auch E.III in dieser Arbeit). 16 Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 332. 17 A.a.O., 333f. 18 Vollmer, Zur Tragweite des Evolutionsgedankens, 18.

Das Anliegen dieser Arbeit

gewinnen, wenn man die christliche Religion unter das Raster einer evolutionären Anthropologie oder einer Theorie der kulturellen Evolution legt? Um diese Frage zu beantworten, werden drei gegenwärtige evolutionstheoretische Entwürfe zur Beschreibung der christlichen Religion untersucht: Der Entwurf des Neutestsamentlers Gerd Theißen, derjenige des Philosophen Heiner Mühlmann und derjenige des Religionswissenschaftlers Robert Bellah. Diese Entwürfe setzen sich mit Annahmen einer evolutionären Anthropologie, einer Theorie der kulturellen Evolution sowie einer Theorie der Evolution der Religion auseinander und setzen diese Annahmen in Beziehung zur christlichen Religion. Ferner verweisen die Entwürfe nicht aufeinander, sodass davon auszugehen ist, dass sie unabhängig voneinander zu ihren jeweiligen Ergebnissen gelangt sind. Die drei Entwürfe werden auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihren Perspektiven befragt. Mögliche Gemeinsamkeiten weisen darauf hin, dass bestimmte evolutionstheoretische Perspektiven naheliegend und geeignet sind, um Aspekte der christlichen Religion zu plausibilisieren. Dabei kann es jedoch nicht um einen empirischen ‚Beweis’ für die christliche Religion gehen, sondern nur darum, dass bestimmte Aspekte der christlichen Religion dem Betrachter durch das Raster evolutionstheoretischer Perspektiven einleuchtend oder triftig erscheinen können. Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion haben daher eine plausibilisierende Funktion. Andererseits wird nicht nur danach gefragt, was evolutionstheoretische Perspektiven zur Plausibilisierung der christlichen Religion leisten können, sondern es wird auch nach den Grenzen solcher Beschreibungen gefragt. Welche Art von Erkenntnis kann durch die Evolutionstheorie überhaupt gewonnen werden? Welche Phänomene können durch evolutionstheoretische Perspektiven überhaupt erfasst werden? Potentielle Grenzen der Leistungskraft evolutionstheoretischer Perspektiven zeigen sich außerdem in – möglicherweise festzustellenden – Unterschieden zwischen den drei Entwürfen. Solche Unterschiede weisen darauf hin, dass evolutionstheoretische Perspektiven in sich vielstimmig sind. Diese Vielstimmigkeit kann im Sinne einer additiven Ergänzung der Perspektiven verstanden werden, kann aber auch auf Widersprüche zwischen den evolutionstheoretischen Perspektiven selbst hinweisen. Daher wird in dieser Arbeit am Beispiel der drei oben genannten Entwürfe untersucht, welche Potentiale und zugleich welche Grenzen evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion haben. Allerdings ist bei einem solchen Unterfangen Vorsicht vor einem essentialistischen Verständnis ‚der’ christlichen Religion geboten. Wie der Religionswissenschaftler Michael Bergunder gezeigt hat, ist Religion immer „nur in einer konkreten sprachlichen Artikulation, die mit keiner vorgängigen identisch sein kann, fassbar“19 . Nach Bergunder gibt es kein überzeitliches ‚Wesen’ der (christlichen) 19 Bergunder, Was ist Religion, 41.

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18

Einleitung

Religion, das aus konkreten historischen Kontexten zu destillieren wäre, sondern Religion existiert nie anders als konkret und kontextuell und daher nie anders als geschichtlich. Ein Allgemeinbegriff von Religion sei abzulehnen. Zugleich gilt laut Bergunder aber auch: Religion ist „ein sedimentierter Name“20 : Jede Religion enthalte eine Vielzahl an „Signifikanten“21 , die sich im Laufe der Jahrhunderte wandelten, aneinanderreihten, ergänzten oder auch verschwänden. Daher plädiert Bergunder dafür, Religionsgeschichte als „Genealogie“22 der Religion zu betreiben, wobei es nicht darum gehen könne, einen vermeintlich ‚reinen’ Ursprung oder ein vermeintliches Ziel der Religionsgeschichte auszumachen, welche objektiv aus der Religionsgeschichte abzulesen wären.23 Bergunders Überlegungen sind für die hier zu behandelnde Fragestellung relevant. Aus ihnen lässt sich ableiten, dass evolutionstheoretische Perspektiven nicht beanspruchen können, ein vorgängiges Wesen ‚der’ christlichen Religion zu erfassen. Doch können evolutionstheoretische Perspektiven einen bestimmten historischen Kontext untersuchen, in dem sich die christliche Religion in einer bestimmten Weise ausbildet. Die jeweilige Auswahl des religionshistorischen Kontextes aus einer Fülle möglicher anderer Kontexte ist dabei nie neutral, sondern immer durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und bestimmte hermeneutische Vorannahmen des Forschenden mitgeprägt. Die in dieser Arbeit mitschwingenden hermeneutischen Vorannahmen und das Erkenntnisinteresse sollen hier offengelegt werden: Aus der Vielfalt an Lesarten der christlichen Religion wird ein biblisch orientiertes Verständnis der christlichen Religion entwickelt. Doch sind biblische Texte polyvalent, sodass sich nicht einfach von ‚der’ biblischen Religion sprechen lässt. Der hier verwendete hermeneutische Schlüssel zur Bibelinterpretation orientiert sich daher am Gottes- und dem daraus abgeleiteten Nächstenliebegebot (Mk 12,29-31, was insbesondere den Feind, den Fremden und den Bedürftigen miteinschließt. Eine solche Bestimmung der Nächstenliebe ist im Neuen (zum Beispiel Mt 5,44f.; Lk 17,11-19; Lk 10,25-37; und im Alten Testament (zum Beispiel Ex 23,5; Lev 19,33f.; Dtn 24,14) gleichermaßen anzutreffen. Von diesem hermeneutischen Schlüssel ausgehend werden biblische Texte in ein Verhältnis zueinander gesetzt, bewertet und gegebenenfalls auch kritisiert. Von einem solchen hermeneutischen Vorverständnis herkommend wird die christliche Religion ferner daraufhin befragt, ob und inwieweit sie in bestimmten historischen Kontexten auf Nächstenliebe, soziale Gleichheit und soziale Gerechtigkeit hingewirkt hat. Damit soll allerdings nicht bestritten werden, dass

20 21 22 23

Ebd. A.a.O., 32. A.a.O., 48. Vgl. a.a.O., 42.

Begründung der Auswahl der drei zu untersuchenden Entwürfe

das Christentum in seiner langen Geschichte auch ungleiche Machtverteilung, Verelendung und Ausgrenzung von Menschen (mit)bewirkt hat.

III.

Begründung der Auswahl der drei zu untersuchenden Entwürfe

Um einen essentialistischen Religionsbegriff zu vermeiden, werden solche Entwürfe zur Beschreibung der christlichen Religion ausgewählt, welche die christliche Religion möglichst konkret und vor dem Hintergrund eines bestimmten historischen Kontexts betrachten. Diese Vorgaben erfüllen insgesamt die Arbeiten des Neutestamentlers Gerd Theißen, des Philosophen Heiner Mühlmann und des Religionswissenschaftlers Robert Bellah. Die drei Autoren untersuchen die christliche Religion erstens unter Rekurs auf die Bedeutung biblischer Texte, sodass automatisch differenziert wird zwischen den für normativ erachteten Texten der christlichen Religion und ihrer vielstimmigen Rezeption im Rahmen der weiteren Religionsgeschichte. Zweitens wird die christliche Religion auch aus soziologischer und kulturtheoretischer Sicht untersucht, indem gefragt wird, welche Formen der Vergemeinschaftung bzw. welche Praktiken und Rituale sie ausbildet. Drittens integriert jeder der drei evolutionstheoretischen Entwürfe zumindest partiell historische Perspektiven, das heißt ihre Verfasser fragen nicht abstrakt danach, was christliche Religion im Allgemeinen bedeutet, sondern beschreiben historische Kontexte, in denen die christliche Religion in bestimmten Ausprägungen erscheint. So machen sie deutlich, dass ein essentialistischer Zugriff auf die christliche Religion unter Ausblendung historischer Perspektiven zu kurz greift. Durch den Facettenreichtum der von den drei Autoren eingebrachten Perspektiven auf die christliche Religion wird die Beschreibung der christlichen Religion insgesamt komplexer als die der übrigen gegenwärtigen evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung von Religionen (vgl. unter B.III. in dieser Arbeit). Konkret interpretiert Gerd Theißen biblische Texte aus evolutionstheoretischer Perspektive so, dass diese Texte einen „Protest“24 gegen das alles Leben durchdringende Prinzip der Selektion darstellen. Als Hintergrundannahme wird von ihm vorausgesetzt, dass Selektion nicht nur in der biologischen Evolution, sondern auch in menschlicher Geschichte in Form eines „Kampf[es] um Lebenschancen“25 wirkt. In großer Nähe zu seinen sozialgeschichtlichen Arbeiten zur urchristlichen

24 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 143. 25 Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 208. Theißen spielt hier auf eine Formulierung von Charles Darwin an, der die Evolution als „Kampf ums Dasein“ bezeichnet hatte (vgl. Darwin, Die Entstehung der Arten, 112).

19

20

Einleitung

Religion26 argumentiert er dahingehend, dass biblische Texte einen „Ausgleich zwischen ‚bevorzugten‘ und ‚benachteiligten‘ Varianten menschlichen Lebens“27 fordern. In seinem evolutionstheoretischen Entwurf geht es Theißen darum zu zeigen, dass evolutionstheoretische Perspektiven nicht per se religions- bzw. christentumskritisch gewendet werden müssen. Evolutionstheoretische Perspektiven könnten vielmehr den lebenspraktischen Bezug biblischer Texte ausweisen: In der Forderung nach dem Schutz der Schwachen und nach Verhaltensweisen der grenzüberschreitenden Nächstenliebe nähmen biblische Texte die faktische Prägung menschlichen Lebens durch evolutionär gewordene Verhaltensweisen der begrenzten Fürsorge für nur die eigene Person, die eigene Gruppe oder Verwandtschaft wahr. Gleichzeitig brächen biblische Texte diese beschränkte Fürsorge in der Forderung nach der grundsätzlichen Zuwendung zu exkludierten Personen auf.28 Der Philosoph und Kulturtheoretiker Heiner Mühlmann entwickelt in seinen evolutionstheoretischen Arbeiten eine provokative, evolutionäre Kulturtheorie. Unter Rekurs auf Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen entwickelt er die These, dass Kulturen Krieg gegeneinander führen müssen, um ihre Identität und Stabilität in Abgrenzung und Unterscheidung von anderen Kulturen zu gewinnen. Eine Evolution der Kulturen liege dabei insofern vor, als dass jede Kultur sich nahezu unausweichlich, nicht durch bewusste menschliche Entscheidung oder Steuerung, entwickle hin zum Krieg gegen andere Kulturen.29 Obwohl Mühlmann hier auf den ersten Blick eine recht eindimensionale Kulturtheorie zu vertreten scheint, argumentiert er im Weiteren differenziert. Denn Kulturen sind nach Mühlmann nicht nur durch evolutionär im Menschen verankerte Neigungen zur Gewalt beeinflusst, sondern immer auch kreative Systeme, die ihre Identität durch Rituale und sinnstiftende Narrative bilden und sich so stabilisieren. In der Fähigkeit menschlicher Kulturen, Rituale und Narrative bewusst auszuwählen und zu inszenieren, ergebe sich eine Einflussmöglichkeit auf den ursprünglichen Gewaltcharakter der Kulturen. Von dieser Argumentation herkommend entfaltet Mühlmann das Spezifikum ‚des’ Christentums dergestalt, dass es – auf der Ebene neutestamentlicher Texte – Identität und Gemeinschaft schaffe, ohne dabei die sonst in menschlichen Gemeinschaften übliche und nötige Gewalt zu fordern. Das Christentum setze somit den Gewaltcharakter menschlicher

26 Theißen versteht die Jesusbewegung in sozialgeschichtlicher Hinsicht als eine „Wertrevolution“, bei der bestehende soziopolitische Überzeugungen umgekehrt würden (vgl. Theißen, Jesusbewegung, 243). 27 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 71. 28 Vgl. Theißen, Neutestamentliche Christologie, 244. 29 Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 7.

Gliederung der Arbeit

Gemeinschaften voraus und entwerfe im Neuen Testament zugleich solche Rituale und Narrative zur Identitätsbildung, die ohne Gewalt auskämen.30 Der Religionssoziologe Robert Bellah beschreibt – beeinflusst durch Arbeiten von Emile Durkheim –, dass Religionen dazu dienen können, Gruppenzusammenhalt zu fördern. Daher seien sie aus evolutionstheoretischer Sicht zunächst als ein zur Kooperation und damit zum Überleben der Gruppe förderliches Mittel zu verstehen.31 Doch seien Religionen nicht grundsätzlich oder ausschließlich Mittel zur Stabilisierung der Binnengruppe. Vielmehr differenziert Bellah zwischen unterschiedlichen Religionen, die entweder affirmativ oder kritisch zu bestehenden soziopolitischen Ordnungen Stellung bezögen. Insbesondere seit der Achsenzeit wären Religionen potentiell dazu in der Lage, die jeweilige soziopolitische Ordnung zu kritisieren, wie es zum Beispiel in den Narrativen und Ritualen des antiken Israel sowie des aus ihm hervorgehende Christentum geschehe.32 Die drei hier angerissenen Entwürfe werden anschließend verglichen. Dabei wird erstens untersucht, welche Unterschiede es zwischen den Entwürfen gibt und worin diese Unterschiede begründet liegen. Durch eine Analyse der Unterschiede sowie der Gründe für diese Unterschiede sollen die Grenzen der Leistungskraft evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion aufgezeigt werden. Zweitens werden die Entwürfe auf mögliche Gemeinsamkeiten in ihren evolutionstheoretischen Perspektiven auf die christliche Religion befragt. Festgestellte Gemeinsamkeiten benennen, wie und inwiefern evolutionstheoretische Perspektive bestimmte Aspekte der christlichen Religion sinnvoll erhellen und plausibilisieren können. Die Analyse solcher Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion soll so dazu beitragen, bestimmte Aspekte des christlichen Glaubens vor dem Hintergrund eines gegenwärtigen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses zu erschließen. Ihre Ergebnisse haben heuristischen Wert.

IV.

Gliederung der Arbeit

Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über den Begriff und die gegenwärtigen Anwendungsgebiete der Evolutionstheorie gegeben, um die oben aufgestellte These von der Evolutionstheorie als „tragende[m] Element eines modernen Weltbildes“33 ausführlicher zu begründen. Daran anschließend werden überblicksartig

30 31 32 33

Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 125. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 145. Vgl. a.a.O., 283. Vollmer, Zur Tragweite des Evolutionsgedankens, 18.

21

22

Einleitung

gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen dargestellt, wie sie von Evolutionsbiologen, aber auch von Anthropologen, Religionswissenschaftlern und Historikern entworfen worden sind. Es wird dargestellt, wie und mit welchem Ergebnis die Evolutionstheorie in gegenwärtiger Forschung zur Beschreibung von Religionen angewandt wird. Als Reaktion auf die Auswertung dieses Forschungsstands wird das Anliegen, die evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion bei Gerd Theißen, Heiner Mühlmann und Robert Bellah als Ergänzung zu den bisherigen Ansätzen vorzustellen, entfaltet. Im anschließenden Hauptteil der Arbeit werden die drei ausgewählten evolutionstheoretischen Entwürfe rekonstruiert. Die Reihenfolge der Rekonstruktion der Entwürfe orientiert sich an dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des jeweiligen Hauptwerks. Weil sowohl die evolutionstheoretischen Arbeiten Theißens als auch die Arbeiten Mühlmanns und Bellahs in der Forschung nur wenig rezipiert wurden, geschieht die Rekonstruktion ihrer Positionen zudem größtenteils werkimmanent. Die jeweiligen Positionen werden zudem werkgenetisch rekonstruiert. Im abschließenden Auswertungsteil der Arbeit werden die evolutionstheoretischen Perspektiven der drei Autoren verglichen sowie – anhand dieses Vergleichs – Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion ermittelt.

B.

Einführung in evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

I.

Die Theorie der biologischen Evolution

1.

Evolution der Arten

Der Begriff der Evolution zur Beschreibung der Entstehung der Artenvielfalt in der Natur stammt vom Naturforscher Charles Darwin (1809–1882). In seinem 1859 veröffentlichen Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ taucht das Substantiv „Evolution“ zwar nicht auf; Darwin spricht jedoch davon, dass sich Lebewesen über einen längeren Zeitraum entwickelt (engl. (to) evolve) hätten. Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass […] aus so einfachem Anfang sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.1

Das Charakteristische an Darwins Theorie ist, dass sie zur Beschreibung der Entstehung der Vielzahl an heute lebenden Arten keine separaten Schöpfungsakte eines transzendenten Gottes annimmt oder überhaupt von einer nachweisbaren äußeren Absicht bei der Entstehung der Vielfalt der Arten ausgeht.2 Mit dieser Annahme wies Darwin die seinerzeit anerkannte Position des Theologen William Paley zurück: Paley war 1802 in seinem Werk „Natural Theology or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity“ davon ausgegangen, dass die Komplexität der Lebewesen und deren Passung mit ihren jeweiligen Umwelten nicht allein das Resultat einer immanenten Entwicklung sein konnte, sondern das übernatürliche Handeln eines transzendenten Schöpfergottes verlangte.3 Darwin kritisierte diese Vorstellung Paleys.4 Stattdessen zeigte er auf, dass die Vielfalt

1 2 3 4

Darwin, Die Entstehung der Arten, 583. Vgl. a.a.O., 582. Vgl. so auch die Interpretation der Position Darwins bei Bowler, Evolution, 6. Vgl. Paley, Natural Theology, 27. Vgl. auch den Überblick bei Bowler, Evolution, 39. Vgl. Darwin, Die Entstehung der Arten, 570. Darwin bestreitet jedoch nicht die Möglichkeit, dass es überhaupt einen Schöpfergott geben kann. Vielmehr kann Darwin durchaus die Denkmöglichkeit benennen, dass ein Schöpfergott in einem ursprünglich Akt Leben geschaffen hat, das sich dann

24

Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

und Komplexität der Arten entwicklungsgeschichtlich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen ist, aus dem alle heute lebenden Arten in einem fast vier Milliarden Jahre währenden Prozess der „Deszendenz mit allmählicher Abänderung“5 hervorgegangen sind. Zufällig auftretende Unterschiede in den Merkmalen von Individuen führten dazu, dass diese in Relation zu anderen Individuen besser oder schlechter an ihre Umwelt angepasst seien, d. h. unterschiedlich gut überleben und sich fortpflanzen könnten. Weil nach Darwin außerdem mehr Lebewesen geboren werden als Ressourcen zu ihrer Erhaltung vorhanden sind, komme es notwendigerweise zu einem „Kampf ums Dasein“6 , bei dem die Individuen überlebten, die zufällig besser als andere Individuen einer Population an die Erfordernisse ihrer Umwelt angepasst seien. Sofern die Merkmale der Individuen, die für ihr Überleben verantwortlich sind, erblich seien, gäben die Individuen diese durch Fortpflanzung an die nächste Generation weiter. Als Folge dieses Auswahlmechanismus, den Darwin als „natürliche Zuchtwahl“7 beschreibt, komme es allmählich zu einer gerichteten, d. h. nicht zufälligen Veränderung und Ausdifferenzierung der Lebewesen und zur Entstehung einer Vielzahl an Arten. Daneben beschreibt Darwin das Wirken der „geschlechtliche[n] Zuchtwahl“8 in der Evolution als Grund für die Veränderung der Arten. Mit diesem Begriff benennt Darwin unterschiedliche Erfolge in der Fortpflanzung. Diese seien nicht darauf zurückzuführen, wie gut ein Lebewesen an seine naturräumliche Umwelt angepasst sei, sondern unterlägen dem Kriterium der Attraktivität bei Fortpflanzungspartnern

5 6

7 8

in einem zweiten Schritt durch Evolution verändert und ausdifferenziert hat: „Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat“ (Darwin, Die Entstehung der Arten, 583, vgl. auch a.a.O., 574). Vgl. auch Engels, Darwin, 59. Darwin, Die Entstehung der Arten, 577. A.a.O., 112. Vgl. auch Mayr, Das ist Evolution, 148. Den Gedanken, dass es mehr Menschen gibt als Nahrung zu ihrer Versorgung vorhanden ist, entnimmt Darwin Überlegungen des Ökonomen und Pfarrers Thomas Malthus. Dieser hatte 1798 in dem „Essay on the Principle of Population“ ein natürliches Missverhältnis zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsangebot angenommen (vgl. Malthus, Essay, 18). Darwin überträgt dieses Malthussche Bevölkerungsgesetz auf die Natur und nimmt dort ein vergleichbares Ungleichgewicht zwischen der Anzahl an Lebewesen und dem Nahrungsangebot an. Aufgrund dieses Missverhältnisses könnten faktisch nicht alle Lebewesen, die geboren würden, auch überleben. Der „Kampf ums Dasein“ (Darwin, Die Entstehung der Arten, 112) ist nach Darwin in der Natur daher unvermeidlich (vgl. auch Engels, Darwin, 70), wenngleich das Verständnis von Natur als Kampf in Form der Rede vom „Überleben der passendsten“ (Spencer, System der synthetischen Philosophie, 51) noch deutlicher bei Darwins Zeitgenossen Herbert Spencer ausgeprägt ist. Darwin, Die Entstehung der Arten, 39. A.a.O., 121.

Die Theorie der biologischen Evolution

und der Fähigkeit, sich gegen Konkurrenten um Fortpflanzungspartner durchzusetzen.9 2.

Die synthetische Evolutionstheorie

Darwins Theorie der Entstehung der Arten durch allmähliche Abänderung konnte nicht erklären, wie die spezifischen Merkmale eines Individuums, die für eine erfolgreiche Anpassung sorgen, an die Nachkommen weitergegeben werden. Darwin selbst ging zwar von einer Vererbung der Merkmale aus, doch erst die Entschlüsselung der DNA durch James D. Watson und Francis Crick konnte diese These 1954 empirisch belegen und konkretisieren. Durch die Entdeckung der DNA war die synthetische Evolutionstheorie geboren: eine Verbindung der Evolutionstheorie mit Erkenntnissen aus der Genetik, Ökologie und Populationswissenschaft, die bis heute noch grundlegend ist. Ernst Mayr, ein Hauptvertreter der synthetischen Evolutionstheorie, definiert Evolution als „die zeitliche Veränderung in den Eigenschaften der Populationen von Lebewesen.“10 Eine Population sei die Summe von „Individuen einer biologischen Art in einem bestimmten geografischen Gebiet [...], die sich potentiell untereinander kreuzen können.“11 Die Mitglieder einer Population verfügten über zufällig auftretende Merkmalsunterschiede, die durch Genmutationen und durch Rekombination von Genen hervorgerufen würden. Diese Merkmale beeinflussten Aussehen und Verhalten von Lebewesen, d. h. ihren Phänotyp.12 Aufgrund dieser unterschiedlichen Merkmale seien Populationsmitglieder unterschiedlich gut an ihre Umwelt angepasst, d. h. sie verfügten über eine niedrigere oder höhere Wahrscheinlichkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen (evolutionäre Fitness).13 Schutz vor Fressfeinden und erfolgreiche Nahrungs- oder Partnersuche seien mögliche Kriterien, an denen sich diese evolutionäre Fitness bemesse.14 Das differenzielle Überleben und die differenzielle Reproduktion von Lebewesen aufgrund unterschiedlich guter Anpassung im Vergleich mit den übrigen Mitgliedern wird von Evolutionsbiologen als natürliche Selektion bezeichnet.15 Sie

9 10 11 12 13 14 15

Vgl. a.a.O., 121–123. Mayr, Das ist Evolution, 25. Vgl. auch Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 2. Mayr, Das ist Evolution, 104. Vgl. auch Toepfer, Evolution, 130. Vgl. Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 24. Vgl. Mayr, Evolution, 187. Vgl. auch Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 55. Vgl. Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 54. Es gibt allerdings in der Forschung zur Evolution eine breite Diskussion darüber, ob Selektion nicht zugleich auf mehreren Ebenen wirkt (Mehrebenenselektion): auf der Ebene des Gens, des Individuums und der Gruppe (vgl. dazu die Diskussion bei Toepfer, Evolution, 47–59).

25

26

Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

sorge für den gerichteten Artenwandel.16 Denn durch natürliche Selektion würden die Gene genau derjenigen Lebewesen in die nächste Generation tradiert, die im Vergleich mit den anderen Mitgliedern ihrer Population besser an ihre Umwelt angepasst seien. Gleichzeitig funktioniere Selektion, indem die vergleichsweise schlechter angepassten Lebewesen ausstürben, Selektion sei also ein „Prozess der Beseitigung“17 . Die Wirkungen der Selektion seien unterschiedlich: Häufig erfolge durch Selektion eine Veränderung von einfachen zu komplexer aufgebauten Lebewesen. Es könne allerdings auch sein, dass einfache Lebensformen, wie beispielsweise Bakterien, im Lauf der Evolution erhalten blieben. Selektion könne also, abhängig von den Bedingungen der jeweiligen Umwelt, stabilisierend wirken, oder zu einer Veränderung von Arten führen. Eine solche Veränderung könne entweder eine Ausdifferenzierung von Arten oder eine Abänderung von Arten bedeuten, etwa wenn spätere Arten besser als frühere an die gegebene Umwelt angepasst seien.18 Als biologische Hintergrundannahme, um das Auftreten von natürlicher Selektion zu erklären, wird von Vertretern der synthetischen Evolutionstheorie ferner vorausgesetzt, dass innerhalb einer Population Konkurrenz um knappe Ressourcen herrscht und daher nicht alle Populationsmitglieder überleben können: „Jede Spezies bringt weitaus mehr Nachkommen hervor, als von einer Generation zur nächsten überleben können.“19 Noch heute wird die Evolution daher als „Kampf ums Überleben“20 bezeichnet. Allerdings diagnostizieren Vertreter der synthetischen Evolutionstheorie auch, dass natürliche Selektion nicht die einzige Triebkraft in der Evolution ist. Zufällige Veränderungen in der Verteilung von Genen (genetischer Drift)21 oder Veränderungen von Populationen durch Isolation oder Separation könnten die Evolutionsdynamik ebenfalls beeinflussen. Auch ökologische oder geologische Veränderungen sowie eine Veränderung in der Zusammensetzung des Verhältnisses von Fressfeinden, Parasiten und Konkurrenten um Ressourcen könnten den Gang der Evolution mitsteuern.22 Schließlich sei auch die Rolle der sexuellen Selektion

16 Ayala, Evolution, 30. Vgl. auch Krauss, Gene, Zufall, Selektion, 64. 17 Mayr, Das ist Evolution, 150. Vgl. auch Dobzhansky, Nothing in Biology, 126, der beschreibt, dass die meisten der in der Naturgeschichte existenten Arten der Vergangenheit aufgrund von Selektion heute ausgestorben sind, die Evolution also durch das Aussterben weniger gut angepassten Arten verlaufe. 18 Vgl. Ayala, Evolution, 30.37. 19 Mayr, Das ist Evolution, 149. Vgl. auch bereits Darwin, Die Entstehung der Arten, 97–101. 20 Mayr, Das ist Evolution, 187. 21 Vgl. Ayala, Evolution, 52. Vgl. auch Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 11. Vgl. Toepfer, Evolution, 74–77. 22 Vgl. Ayala, Evolution, 53.

Die Theorie der biologischen Evolution

miteinzubeziehen: Selbst wenn genügend Ressourcen vorhanden seien, um eine Population zu ernähren, käme es durch Vorlieben in der Partnerwahl zu differentieller Reproduktion und damit zu Selektion.23 Zusammengefasst hat die synthetische Evolutionstheorie innerhalb der Biologie eine vereinheitlichende Funktion. Durch sie kann eine Vielzahl an biologischen Einzelbeobachtungen in ein einheitliches Konzept integriert werden. Der Evolutionsbiologe Theodor Dobzhansky urteilt daher über die synthetische Evolutionstheorie: „[It] makes sense of a multitude of facts which are otherwise meaningless or extravagant.“24 3.

Die erweiterte evolutionäre Synthese

Die erweiterte evolutionäre Synthese bezeichnet eine Forschungsrichtung innerhalb der Evolutionstheorie seit den 2000er Jahren, die sich als Korrektur und als Ergänzung der synthetischen Evolutionstheorie versteht.25 Sie untersucht unter anderem den Zusammenhang zwischen Entwicklungsbiologie und Evolution. Es wird also danach gefragt, wie Ontogenese und Phylogenese zusammenhängen. Dabei wird die bisherige evolutionstheoretische Annahme der Korrelation eines Gens mit einem genau benennbaren phänotypischen Merkmal in Frage gestellt: „Die landläufige Annahme, dass die Gene simple Kausalfaktoren seien (also die Vorstellung, ein Gen sei verantwortlich für diese oder jene Eigenschaft eines Individuums), trifft nicht zu.“26 Die Aktivierung eines Gens könne von anderen Genen oder auch von der Umwelt abhängen, der der Phänotyp als ganzer ausgesetzt ist: „Ob eine bestimmte DNA-Sequenz etwas entstehen lässt oder nicht, was sie erzeugt, wo im Körper und zu welchem Zeitpunkt etwas produziert wird, hängt immer von anderen DNA-Sequenzen wie auch von den jeweiligen Umweltbedingungen ab.“27 Ferner wird die fast ausschließliche Konzentration auf den Vorgang der Selektion und auf das Konzept der Anpassung kritisiert. Der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould weist darauf hin, dass nicht alle phänotypischen Merkmale eines Individuums als Anpassung verstanden werden dürfen. Einige Merkmale eines Individuums könnten evolutionstheoretisch betrrachtet stattdessen ein Nebenprodukt eines anderen Merkmals sein, das wiederum Anpassungswert hätte. Selektion sei daher nicht das einzige Prinzip der Evolution.28

23 Vgl. Toepfer, Evolution, 12. 24 Dobzhansky, Nothing in Biology, 125. 25 Vgl. Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 38–53. Vgl. Toepfer, Evolution, 21–23. Vgl. auch Sumser, Evolution der Ethik, 30. 26 Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 18. 27 A.a.O. 19. 28 Vgl. Gould, Spandrels of San Marco, 591–594. Vgl. auch Bauer, Das kooperative Gen, 72f.

27

28

Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

Neben der Untersuchung der Frage, wie Gene und Merkmalsausprägung der Phänotypen zusammenhängen, fragt die erweiterte evolutionäre Synthese auch allgemeiner nach dem Aussehen und Verhalten des lebenden Organismus. In Untersuchungen zur Ontogenese zeige sich, dass der lebende Organismus über eine „phänotypische Plastizität“29 verfüge, das heißt, dass sich ein Organismus im Laufe seiner Entwicklung an unterschiedliche Umwelten anpassen könne, ohne dass diese unterschiedlichen Anpassungen jeweils ein dafür zuständiges Gen benötigten.30 Der Gen-Zentrismus früherer Evolutionstheorien wird in der neueren Forschung daher zurückgewiesen. Die erweiterte evolutionäre Synthese rückt so ergänzend zu den Genen den Phänotyp als Produkt der Evolution in den Blickpunkt. Zugleich untersucht sie, inwiefern dieser Phänotyp nicht nur als Produkt der Evolution, sondern auch als ein Akteur in der Evolution verstanden werden kann. Dies geschieht mithilfe des Konzepts der Nischenkonstruktion.31 4.

Nischenkonstruktion

Das Konzept der Nischenkonstruktion nimmt an, dass Lebewesen im Laufe ihres Lebens ihre Umwelten verändern und dadurch Einfluss auf die Evolution nehmen, der sie zugleich selbst ausgesetzt sind. Das Konzept der Nischenkonstruktion wird in dieser Lesart als Ergänzung zum evolutionstheoretischen Konzept der Anpassung verstanden. Die synthetische Evolutionstheorie hatte Anpassung als Entsprechung zwischen den Eigenschaften eines Lebewesens und den Anforderungen der Umwelt definiert: Lebewesen müssten den Bedingungen der Umwelt entsprechen, um zu überleben und sich fortzupflanzen. Die Angepasstheit eines Lebewesens bemesse sich daher anhand eines externen Faktors, nämlich der Umwelten, die von außen die Bedingungen vorgäben, durch welche die Eigenschaften eines Lebewesens überhaupt erst als gelungene oder unzureichende Anpassung qualifiziert würden.32 Gelungene Anpassung werde daher verstanden als Ergebnis eines „one-way process, exclusively involving the responses of organisms to environmentally imposed problems“33 . Ergänzend zu diesem Verständnis von Anpassung an vorgegebene, unveränderliche Umwelten hat die erweiterte evolutionäre Synthese das Konzept der Nischenkonstruktion in die Evolutionstheorie integriert. Ihre Begründer F. John

29 Vgl. West-Eberhard, Developmental plasticity and evolution, 11. Mary West-Eberhard spricht von der „adaptively flexible nature of phenotypes“ (a.a.O., 17). 30 Vgl. Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 38. 31 Vgl. Toepfer, Evolution, 21f. 32 Vgl. Sumser, Evolution der Ethik, 29. Vgl. auch Toepfer, Evolution, 21f. 33 Odling-Smee, Niche Construction, 240.

Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie

Odling-Smee, Kevin N. Laland und Marcus W. Feldman beschreiben, dass Lebewesen durch ihre Aktivitäten im Laufe ihres Lebens bewusst oder unbewusst Einfluss auf ihre Umwelten nehmen und diese Umwelten mitgestalten. Als Folge dieser gestaltenden Aktivität verändern die Organismen den Selektionsdruck, dem sie selbst oder andere Lebewesen unterliegen: „[T]he environment wil be viewed here as changing and coevolving with the organisms on which it acts selectively.“34 Evolution und Ontogenese werden in der Theorie der Nischenkonstruktion also miteinander verknüpft. Die Annahme, dass Lebewesen durch Beeinflussung ihrer Umwelten den Selektionsdruck der Evolution beeinflussen, gilt nicht nur für die biologische Evolution, sondern auch für den Bereich der menschlichen Kultur. Es ist daher von OdlingSmee vorgeschlagen worden, das Konzept der Nischenkonstruktion als verbindendes und bleibendes Prinzip in Natur- und Kulturgeschichte zu verwenden.35

II.

Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie

Die Theorie der Evolution wird nicht nur zur Beschreibung von Veränderungen in der Natur angewandt. Neben der Theorie der biologischen Evolution gibt es nämlich auch eine Theorie der chemischen Evolution, eine Theorie der Evolution des Kosmos und eine Theorie der Evolution von Galaxien.36 Die am häufigsten gebrauchte Verwendung der Evolutionstheorie jenseits der Theorie der biologischen Evolution ist ihre Anwendung zur systematisierenden Beschreibung kultureller Entwicklungen in Form einer Theorie der kulturellen Evolution. Insofern Religion als kulturelles Erzeugnis verstanden wird, lasse sich auch von einer Evolution der Religion reden.37 Die Theorie einer Evolution der Religion setzt daher die Theorie der kulturellen Evolution voraus. 1.

Die Theorie der kulturellen Evolution

Der Begriff der Kultur wird von Evolutionstheoretikern als Gegenbegriff zum Naturbegriff gebraucht: Natur bezeichne diejenigen phänotypischen Merkmale, die – bei entsprechenden Impulsen aus der Umwelt – unvermeidlich auftreten.38 Dagegen bezeichne der Begriff der Kultur

34 35 36 37 38

A.a.O., 2. Vgl. a.a.O., 281. Vgl. Vollmer, Zur Tragweite des Evolutionsgedankens, 19. Vgl. Sumser, Evolution der Ethik, 70. Vgl. auch Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 332. Vgl. Sumser, Evolution der Ethik, 84. Vgl. auch Mesoudi, Cultural Evolution, 3.

29

30

Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

information that is acquired from other individuals via social transmission mechanisms such as imitation, teaching, or language. ‚Information‘ here is intended as a broad term to refer to what social scientists and lay people might call knowledge, beliefs, attitudes, norms, preferences and skills, all of which may be acquired from other individuals via social transmission and consequently shared across social groups.39

Das Besondere der Kultur im Gegenüber zur Natur ist nach dieser Definition, dass kulturelle Überzeugungen, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Wissensbestände und Vorlieben (im Folgenden „Informationen“ genannt) durch Lernen von anderen übernommen werden und daher im Unterschied zur Natur nicht genetisch vorgegeben sind.40 Über die so bestimmte Differenz zwischen Natur und Kultur hinausgehend argumentieren einige Evolutionstheoretiker dahingehend, dass auch kulturelle Veränderungen einer Evolution unterliegen: Diese wird definiert als „allmähliche Veränderungen in der Art und Häufigkeit sozial vermittelter Verhaltensmuster, Präferenzen und Produkte [...] in einer Population.“41 Solche allmählichen Veränderungen seien nicht das Resultat des Zufalls oder willkürlicher menschlicher Gestaltung, sondern sie erfolgten – genau wie in der biologischen Evolution – gerichtet. Variation, Selektion und Reproduktion seien daher Wirkprinzipien sowohl der biologischen als auch der kulturellen Evolution – wenngleich auf jeweils unterschiedlichen Ebenen. Zwar könnten Menschen, so beobachtet der Psychologe Donald T. Campbell, ihre Umwelten nach ihren Absichten mitgestalten, doch seien nicht alle Gestaltungsabsichten in gleicher Weise durchführbar. Der Grund dafür sei, dass auch in menschlicher Kultur „externe Selektionskriterien“42 wirkten, an denen sich kulturelle Informationen messen lassen müssten. Dies zeige sich zum Beispiel darin, dass menschliche Gemeinschaften unabhängig voneinander ähnliche kulturelle Entwicklungen vollzogen hätten wie die Erfindung von Werkzeug oder Feuer:

39 Mesoudi, Cultural Evolution, 2f. Vgl. auch Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 140. Vgl. auch Boyd & Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 33. Vgl. Tomasello, Kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 257. Nach Tomasello sind Menschen im Unterschied zu allen anderen Tierarten dazu in der Lage „Artgenossen als intentionale Wesen“ (ebd.) zu verstehen. Deshalb seien Menschen viel erfolgreicher im „sozialen Lernen“ (ebd.) als andere Lebewesen, weil sie voraussetzen, dass ihr Gegenüber bei seinem Handeln eine bestimmte Absicht verfolge. Daher seien Menschen im Unterschied zu anderen Tieren bereit, auch solche Verhaltensweisen zu erlernen, deren Sinn sich ihnen auf den ersten Blick nicht erschließe. Sie seien somit fähig zum abstrakten „kulturellen Lernen“ (a.a.O., 105.). 40 Campbell, Social Change, 27. 41 Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 178. Vgl. ähnlich auch Sumser, Evolution der Ethik, 72f. 42 Campbell, Social change, 31.

Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie

For social evolution, the blind-variation-and-selective retention model would seem to make plausible the multiple independent invention of tools, rope making, fire, spear, bow-and-arrow, monogamy, the avunculate, and headship in social organization.43

Als Beispiel für eine solche kulturelle Evolution nennt Campbell die Entstehung von städtischen Gesellschaften.44 Er führt mehrere Gründe an, warum ein Leben in Städten Selektionsvorteile gegenüber einem Leben in gering besiedelten Gebieten mit sich brachte: Erstens kann das kostenintensive eigene Lernen durch die Beobachtung anderer verringert werden. Zweitens kann anfallende Arbeit durch Spezialisierung und Arbeitsteilung effektiver bewältigt werden. Drittens erhöht das Zusammenleben vieler Menschen den Schutz vor Feinden.45 Daher hat sich laut Campbell das Leben in Städten in der kulturellen Evolution als erfolgreich erwiesen. Doch Campbell problematisiert den Begriff der kulturellen Evolution zugleich. Er macht darauf aufmerksam, dass die Ebene, auf der Selektion stattfinde, schwer zu bestimmen sei. Selektion könne auf der Ebene der Kleingruppe, des Stamms oder einer noch größeren sozialen Einheit stattfinden. Zudem könnten die unterschiedlichen Ebenen der Selektion miteinander in Wechselwirkung stehen.46 Schließlich seien auch die Selektionskriterien der kulturellen Evolution schwieriger zu bestimmen als diejenigen der biologischen Evolution: „We know the physics of air, water and light to which the swimming, flying, and seeing apparatuses of the lower animals must conform. For the social evolution, we have no such semiindependent descriptions of the selective criteria.“47 Weil in menschlicher Kultur Informationen durch Lernen statt durch Gene weitergegeben würden, entkoppelten Informationen sich von den Selektionskriterien der biologischen Evolution: dem Überleben und der Fortpflanzung. The diffusion, imitation, and promotion systems are obviously capable of being selective in ways irrelevant to group effectiveness or social adaptedness. And if we exist in an epoch in which these mechanisms are unchecked for survival relevance, the total process may not be evolutionary in an adaptive sense.48

Die Arbeit von Campbell ist für alle weiteren Diskussionen der letzten Jahrzehnte um die Theorie einer kulturellen Evolution wegweisend geworden. Dass kulturelle 43 44 45 46 47 48

A.a.O., 38. Vgl. auch Mesoudi, Cultural Evolution, 36. Vgl. Campbell, Social change, 44. Vgl. a.a.O., 44f. Vgl. a.a.O., 29.31. A.a.O., 32. Ebd. Vgl. auch Boyd & Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 293.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

Evolution durch den Prozess von Variation, Wettbewerb zwischen den Varianten und Tradierung der selektierten Varianten verläuft, ist der gemeinsame Nenner jeder Theorie der kulturellen Evolution.49 Umstritten ist zwischen den Vertretern einer Theorie der kulturellen Evolution allerdings, wie bereits bei Campbell selbst, die Frage nach den Kriterien der kulturellen Selektion. Der Evolutionsbiologe William Durham ist zum Beispiel der Meinung, dass kulturelle Selektionsprozesse die genetische Fitness nicht schwächen: „[C]ultural selection, too, generally favors allomemes that improve, or at least do not diminish, the reproductive fitness of their selectors to current conditions.“50 Dagegen nehmen die Evolutionsbiologen Robert Boyd und Peter J. Richerson an, dass kulturelle Informationen zwar ursprünglich deshalb in der Evolution selektiert worden seien, weil sie die genetische Fitness des Informationsträgers erhöhten. Doch könne Kultur, einmal entstanden, auch eigene, von der genetischen Fitness unabhängige Selektionskriterien entwickeln: „[C]ultural evolution […] follow[s] the internal cultural logic of meaningful systems of fundamentally arbitrary cultural symbols; humans construct, and impose upon nature, a symbolic order of their own devising.“51 Als Beispiel dafür, dass die Selektionskriterien der biologischen Evolution in menschlicher Kultur an Bedeutung verlieren, verweist der Philosoph Gerhard Schurz darauf, dass viele Akademiker in westeuropäischen Ländern, die nach kulturellen Maßstäben erfolgreich seien, wenige oder gar keine Kinder hätten.52 Die Evolutionsbiologinnen Eva Jablonka und Marion J. Lamb betonen, dass die kulturelle Evolution durch menschliche Absichten mitgesteuert und so in ihrem Verlauf beeinflusst wird.53 Diese menschliche Einflussnahme auf die kulturelle Evolution sei der Grund, warum die Selektionskriterien der kulturellen Evolution so vielfältig seien und deshalb nur konkret von Fall zu Fall bestimmbar seien. Daher schlussfolgern sie, dass die Verwendung des Begriffs „kulturelle Evolution“ nur dann sinnvoll ist, wenn er durch die Analyse der jeweiligen kulturellen Umwelten,

49 Vgl. Boyd & Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 20. Vgl. Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 191. Vgl. Sumser, Evolution der Ethik, 70. Vgl. Mesoudi, Cultural Evolution, 26–31. Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, 306–312. 50 Durham, Coevolution, 456. 51 Boyd & Richerson, Culture and the Evolutionary Process, 293. Vgl. auch Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 230f: „In [...] Bereichen jedoch, wie [...] der Politik, Moral, Religion, der sozialen Konventionen, Kunststile und Schönheitsideale, sind die Selektionskriterien stark von gegebenen kulturellen Traditionen und Kontexten abhängig [...].“ Vgl. auch Dawkins, Das egoistische Gen, 310, der den Erfolg kultureller Information auf deren „psychologische Anziehungskraft“ zurückführt 52 Vgl. Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 265f. 53 Vgl. auch Mesoudi, Cultural Evolution, 47.: „We should therefore be prepared to accept that cultural evolution may, at least in some instances, be directed rather than blind and that there is a valid difference here between cultural and biological evolution.”

Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie

die die Selektionskriterien bereitstellen, konkretisiert wird. Menschliche Absichten sowie die jeweiligen soziopolitischen, ökonomischen und juristischen Umwelten müssten in eine Theorie der kulturellen Evolution miteinbezogen werden: „Die Selektion, Erzeugung, Weitergabe und der Erwerb kultureller Varianten können nicht isoliert voneinander betrachtet werden, auch nicht isoliert von den ökonomischen, juristischen und politischen Systemen, in die sie eingebettet sind und in denen sie konstruiert werden, und auch nicht von den Gewohnheiten der Menschen, die sie konstruieren.“54 Die Theorie der kulturellen Evolution ist in den Forschungen der letzten Jahre mithin erheblich erweitert worden und komplexer geworden. Nichtsdestotrotz wird zugleich fundamentale Kritik an der Theorie der kulturellen Evolution geäußert. So argumentiert der Philosoph und Biologe Georg Toepfer, dass die Anwendung „einfacher Erklärungsmuster für das breite Spektrum kultureller Phänomene“55 unzureichend sei. Allerdings räumt Toepfer ein, dass „der mögliche Antagonismus zwischen der natürlichen und kulturellen Evolution mittels der Modelle der kulturellen Evolution scharf herausgearbeitet werden kann“56 . Ähnlich wie Toepfer diagnostiziert auch der Kulturtheoretiker Jan Assmann eine mangelnde Vergleichbarkeit von biologischer und kultureller Evolution. Evolution sei ein dem Menschen nicht bewusster und in diesem Sinne „blinder“57 Prozess der allmählichen Veränderung. Zwar träten auch im Bereich menschlicher Kultur solche blinden allmählichen Entwicklungen auf, etwa bei der Entstehung und Veränderung von Sprache.58 Für die meisten kulturellen Entwicklungen gelte aber, dass sie durch menschliche Absichten mitgestaltet seien.59 Daher sei der Begriff der Evolution hier unbrauchbar. 2.

Die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie zur Beschreibung menschlichen Sozialverhaltens und menschlichen Wahrnehmens

Die Theorie der kulturellen Evolution ist nicht die einzige evolutionstheoretische Perspektive zur Beschreibung des Menschen und seines Verhaltens. Mit dem Menschen beschäftigt sich auch die in den 70er Jahren entstandene Soziobiologie und die auf ihr fußende, in den 90er Jahren entstandene evolutionäre Psychologie. Die

54 55 56 57 58 59

Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 238f. A.a.O., 103. A.a.O., 105. Assmann, Cultural Memory, 367. Vgl. a.a.O., 368. Ebd. Vgl. ähnlich auch Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 178, der beschreibt, dass Kultur grundsätzlich anders ablaufe als die biologische Evolution, weil Kultur auf bewussten Entscheidungen beruhe. Daher sei der Begriff „Evolution“ zur Beschreibung kultureller Veränderungen ungeeignet.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

Soziobiologie betrachtet tierisches und menschliches Sozialverhalten unter der Prämisse, dass es nicht nur durch Lernen angeeignet wird, sondern „die Gene einen starken Anteil an der Bildung sozialer Verhaltensmuster“60 haben. Das genaue Verhältnis von Genen und Lernen bleibt in der Soziobiologie jedoch häufig unklar.61 Ferner gehen Soziobiologen davon aus, dass Verhaltensweisen, die durch Gene angelegt sind, Produkte der Evolution sind, mithin in der evolutionären Vergangenheit überlebensdienlich waren.62 Soziobiologen betonen daher, dass Tiere und Menschen von Geburt an keine „tabula rasa“63 sind, die beliebig durch Lernen geformt werden können, sondern zumindest mit Verhaltenstendenzen ausgestattet sind, die zu ihrem Überleben im Laufe der Evolution beigetragen haben. Zum Beispiel sei Aggression gegen Konkurrenten um Nahrung und Sexualpartner ein evolutionär angelegtes Verhalten, denn Lebewesen, die sich Nahrung und Sexualpartner sichern konnten, überlebten und wurden die Vorfahren der heutigen Lebewesen.64 Die Soziobiologie nimmt daher einen intrinsischen Egoismus tierischen wie menschlichen Verhaltens an. Im Unterschied zur Soziobiologie bezieht die evolutionäre Psychologie auch die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in ihre Überlegungen mit ein. Die evolutionäre Psychologie betrachtet das menschliche Gehirn als Produkt der Evolution.65 Als solches verfüge es über Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, die in der 60 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 72. 61 Soziobiologische Beschreibungen zum Einfluss der Gene auf menschliches Sozialverhalten lassen häufig im Unklaren, wie stark der Einfluss der Gene auf das Verhalten ist. Äußerungen, die in die Nähe eines genetischen Determinismus weisen, sind ebenso vertreten wie Äußerungen, die betonen, dass menschliche Verhaltensweisen durch kulturelle Steuerung beeinflusst werden. Eine solche Unschärfe in den Aussagen lässt sich zum Beispiel beim Evolutionsbiologen Richard Dawkins beobachten, der einerseits sagt: „Wir sind Überlebensmaschinen – Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden. Dies ist eine Wahrheit, die mich immer noch mit Staunen erfüllt“ (Dawkins, Das egoistische Gen, 18). Mit dieser Aussage rückt Dawkins menschliches Verhalten in die Nähe eines Determinismus: Der Mensch erscheint in diesem Zitat als Maschine, die durch ihre Gene darauf programmiert ist, zu überleben. Andererseits betont Dawkins aber auch, dass Menschen ihre Gene gewissermaßen überlisten können und durch Lehren und Lernen Verhaltensweisen erwerben können, die jenseits des unbedingten Strebens nach dem eigenen Überleben liegen: „Laßt uns versuchen, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit zu lehren, denn wir sind egoistisch geboren. Laßt uns verstehen lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben, denn dann haben wir vielleicht die Chance ihre Pläne zu durchkreuzen – etwas, das keine andere Art bisher jemals angestrebt hat.“ (a.a.O., 26). 62 Vgl. Wuketits, Was ist Soziobiologie, 13. Vgl. auch Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 343f. 63 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 76. 64 Vgl. Pinker, Gewalt, 713: „Zur Natur des Menschen gehören Motive wie Raublust, Herrschaftstrieb und Rache, die uns zu Gewalt drängen, aber auch Motive, die uns – unter den richtigen Voraussetzungen – zu Frieden veranlassen, wie Mitgefühl, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und Vernunft.“ 65 Vgl. Lenzen, Evolutionstheorien, 114.

Anwendungsbereiche der Evolutionstheorie außerhalb der Biologie

evolutionären Vergangenheit zum Überleben und zur Reproduktion beigetragen hätten. Diese im Laufe der Evolution entstandenen „psychologische[n] Mechanismen“66 – die in der Forschung auch „kognitive Module “67 genannt werden – seien dem Menschen noch heute genetisch eingeschrieben.68 In diesem Sinn bemerken die Begründer der evolutionären Psychologie – John Tooby und Leda Cosmides –, dass das Gehirn eine Ansammlung von Mini-Computern ist, wobei jeder Mini-Computer durch die Evolution auf die Lösung eines genau bestimmbaren Überlebens- und Reproduktionsproblems aus der evolutionären Vergangenheit programmiert sei.69 Menschliche Wahrnehmung orientiere sich mithin automatisch und unbewusst an vorgegebenen psychologischen Mechanismen. Diese Thesen der evolutionären Psychologie sind ebenso wie die Thesen der Soziobiologie innerhalb der Evolutionsforschung auf breite Kritik gestoßen. Kritiker wie Stephen J. Gould wenden ein, dass es nicht nachweisbar sei, dass menschliche Wahrnehmung und menschliches Sozialverhalten tatsächlich das Resultat festgelegter kognitiver Dispositionen seien. Stattdessen könnten festgestellte Wahrnehmungsmuster und Verhaltensweisen auch durch Lernen erworben seien.70 Gene würden dann zwar die Bedingungen für die Möglichkeit menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Sozialverhaltens bereitstellen, Verhaltensweisen wären aber nicht durch Gene festgelegt. In diesem Sinne argumentieren die Evolutionsbiologinnen Eva Jablonka und Marion J. Lamb: „Allein durch die Weitergabe von Kultur kann erstaunlich viel erreicht werden – ohne irgendwelche genetischen Veränderungen.“71 Ähnlich kritisch äußert sich der Anthropologe Michael Tomasello: „Die Tatsache, daß die Kultur ein Produkt der Evolution ist, bedeutet nicht, daß jedes ihrer besonderen Merkmale seine eigenen genetischen Grundlagen hat.“72 Die Debatte über die Frage, inwieweit der Mensch Produkt der Natur und / oder Produkt der Kultur ist, wird mithin auch unter Evolutionsbiologen kontrovers diskutiert. Es besteht hier kein Forschungskonsens. Trotz dieser kontroversen Diskussionslage lässt sich festhalten, dass die Evolutionstheorie faktisch eine breit verwendete „Großtheorie“73 ist, durch die menschliches Verhalten, aber auch kulturelle Entwicklungen beschrieben werden. Für das Phänomen der Religion ist dieser Befund der Evolutionstheorie als ‚Großtheorie‘

66 67 68 69 70 71 72 73

Buss, Evolutionäre Psychologie, 83. Sumser, Evolution der Ethik, 63. Vgl. Tooby, Toward Mapping, 190. Vgl. auch Lenzen, Evolutionstheorien, 115f. Vgl. Tooby, Toward Mapping, 183. Vgl. Gould, Darwin nach Darwin, 215.217. Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 231. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 271. Schüler, Religion, Kognition, Evolution, 25.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

beachtenswert. Denn sofern man das Phänomen Religion als menschliches Erzeugnis und als kulturelles Produkt versteht, lässt es sich folglich auch mithilfe der oben genannten evolutionstheoretischen Perspektiven untersuchen. Im Folgenden soll daher dargestellt werden, welche evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion existieren.

III.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Im Folgenden wird ein schematischer Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zu evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religion gegeben. Der Überblick unterteilt die bestehenden Perspektiven in solche Ansätze, die die Ursache für das Auftreten von Religion in den Genen des Menschen begründet sehen, und in solche Ansätze, die Religionen (im Plural!) als Produkt menschlichen Lernens jenseits der Gene verstehen.74 Diejenigen Perspektiven, die die Ursache für die Entstehung von Religion in der menschlichen Kognition begründet liegen sehen, werden der „Cognitive science of religion“ (CSR) zugeordnet. Im Gefolge der evolutionären Psychologie geht dieser Forschungszweig davon aus, dass das menschliche Gehirn aus unterschiedlichen, bereichsspezifisch operierenden Mechanismen zusammengesetzt ist, die jeweils für eine ganz bestimmte Art und Weise der Informationsverarbeitung zuständig sind.75 Außerdem geht er davon aus, dass die Art und Weise menschlicher Informationsauswahl und -verarbeitung genetisch verankert ist und daher eine „anthropologische Universalie[...]“76 darstellt. Aus einer solchen Perspektive wird dann das Phänomen der Religion hinsichtlich der Frage untersucht: „Why has natural selection favored a human psychology that believes in the supernatural as well as the behavioral patterns that are manifestations of these beliefs?“77

74 Die hier vorgestellen evolutionstheoretischer Perspektiven auf Religion orientieren sich am Aufsatz von Lee A. Kirkpatrick: Religiosity, in: Evolutionary Perspectives on Social Psychology, hrsg. von Virgil Zeigler-Hill, Todd K. Shackelford und Lisa L. M. Welling, Heidelberg / New York / Dordrecht / London 2015, 69–79. In seinem Beitrag stellt Kirkpatrick zunächst die Positonen der cognitive science of religion vor, die Religion als Produkt der (genetisch angelegten) Kognitionsweise des Menschen verstehen. Er zieht jedoch in seiner Schlussfolgerung das Fazit, dass diese Ansätze durch „cultural evolutionary models“ (77) ergänzt werden müssen, die Religion als durch Lernen erworbenes Erzeugnis verstehen. Sich an diesem Fazit von Kirkpatrick orientierend beinhaltet die folgende Darstellung sowohl die Ansätze der cognitive science of religion als auch solche Ansätze, die Religion als Produkt sozialen Lernens verstehen. 75 Vgl. Kirkpatrick, Religiosity, 69. Vgl. auch Schüler, Religion Kognition, Evolution, 112. 76 Schüler, Religion, Kognition, Evolution, 115. 77 Sosis, Religious Behaviors, Badges, and Bans, 62.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Die Ansätze der CSR, die Entstehung von Religion evolutionär zu beschreiben, können ferner in zwei Untergruppen unterteilt werden: Religion wird entweder selbst als erfolgreiche kognitive Anpassung verstanden oder Religion wird als evolutionäres Nebenprodukt eines kognitiven Mechanismus verstanden, der zwar selbst eine erfolgreiche Anpassung darstellt, aber eben auch zur Ausprägung der nicht-adaptiven Religion geführt hat.78 Andere evolutionstheoretische Ansätze, die eine Alternative zur CSR bilden, betrachten Religionen als Produkt menschlicher Kultur, das heißt als Produkt von sozialem Lernen. Sie schließen in je unterschiedlicher Weise an die Beobachtung an, dass der Mensch im Laufe der kulturellen Evolution immer wieder mit Problemen des Überlebens konfrontiert wurde. Religionen auszubilden sei in diesen Situationen vorteilhaft gewesen. Denn Religionen könnten je nach bestehender sozialer, politischer und ökologischer Umwelt unterschiedliche Überzeugungen und Praktiken bereitstellen, die das Überleben förderten. Daher würden Religionen über Generationen hinweg durch Lernen weitergegeben und blieben so im Rahmen der kulturellen Evolution erhalten.79 1.

Interpretationen von Religion durch die „Cognitive science of religion“

1.1

Religion als kontraintuitives Denken

Der Kognitionswissenschaftler Pascal Boyer, Begründer der These von Religion als kontraintuitivem Denken, geht zunächst davon aus, dass das menschliche Gehirn automatisch und unbewusst „intuitive Ontologien“80 entwirft. Darunter zählt er die Ausbildung von Kategorien wie Person, Tier und Pflanze und die Unterscheidung von Phänomenen nach „belebt“ und „unbelebt“81 . Der evolutionäre Vorteil, solche Kategorien auszubilden, sei es, dass diese Kategorien Orientierung und Überleben in der Welt ermöglichten: „Intuitive ontological principles result in a series of stable expectations about the behaviour, aspect, internal structures and processes of such things as artefacts, plants, persons or animals.“82 Ferner sind diese intuitiven Ontologien nach Boyer zwar überlebensdienlich, aber aus erinnerungstheoretischer Sicht auch nicht weiter auffällig, weil Menschen

78 79 80 81 82

Vgl. Schüler, Religion, Kognition, Evolution, 162. Vgl. ausführlicher unter B.III.2. in dieser Arbeit. Boyer, What Makes Anthropomorphism Natural, 93. A.a.O., 89. A.a.O., 92. Vgl. auch Barret, Why would anyone believe in God, 9: „What mental tools provide is quick ‚best guesses‘ as to the identity and properties of objects and how to explain cause-and-effect relationships.“

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

sie ständig benutzten. Einprägsamer sind nach Boyer die sogenannten „counterintuitive properties“83 . Darunter versteht er eine Verletzung gewöhnlicher Ontologien. Kontraintuitiv sei zum Beispiel die Vorstellung einer Person, die durch Wände laufen könne, oder ewig existiere. Solche kontraintuitien Vorstellungen würden sich dem Gedächtnis gut einprägen. Diese Einprägsamkeit von kontraintuitiven Vorstellungen ist nach Boyer der Grund für den Erfolg und die Verbreitung von Religionen. Denn Religionen enthielten kontraintuive Annahmen: „Religious ontological assumptions are counter-intuitive in the precise sense that they violate intuitive ontological expectations delivered by domain-specific principles.“84 Als Beispiel für eine kontraintuitive religiöse Annahme führt Beyer das Dogma von der Jungfrauengeburt an.85 Der Kognitionswissenschaftler Justin L. Barrett nimmt ferner an, dass sich gerade solche Religionen, die aus wenigen kontraintuitiven Elementen und vielen Elementen der intuitiven Ontologie zusammengesetzt seien, dem Gedächtnis gut einprägten. Denn wenn es nur kontraintuitive Aussagen gebe, würde diesen zugleich das Raster der intuitiven Ontologie fehlen, vor dem her sie überhaupt erst als kontraintuitiv wahrnehmbar seien. Damit die Einprägsamkeit optimal sei, müssten die einzuprägenden Annahmen daher zu großen Teilen durch intutive Kategorien und nur zu geringen Teilen durch kontraintuitive Aussagen beschreibbar sein. Barrett spricht deshalb davon, dass eine Religion sich dem menschlichen Gedächtnis dann erfolgreich einpräge, wenn sie „minimally counterintuitive“86 sei. 1.2

Religion als Folge des hyperagency detection device

Auch der nächste Ansatz der „Cognitive science of religion“ geht davon aus, dass der religiöse Glaube an übernatürliche Mächte ein evolutionäres Nebenprodukt ist und selbst keine adaptiven Vorteile mit sich bringt. Dass Menschen an Gott glauben, hänge mit der spezifischen Funktionsweise des menschlichen Gehirns zusammen. Denn das menschliche Gehirn sei darauf geeicht, intentionale Akteure auch dort zu vermuten, wo gar keine Akteure existierten.87 Dieser Erklärungsansatz hat bereits Vorläufer in der Geschichte der Evolutionsforschung zur Entstehung von Religion. So schreibt bereits Charles Darwin im Jahr 1871 in „Die Abstammung des Menschen“, dass der Glaube an einen Gott eine Höherentwicklung des ursprünglicheren Glaubens an „unsichtbare oder geistige

83 84 85 86

Boyer, What Makes Anthropomorphism Natural, 92. A.a.O., 92. Vgl. a.a.O., 91. Vgl. auch Boyer, Religion explained, 76. Barrett, Why would anyone believe in god, 45. Vgl. auch Barrett, Codifying and Quantifying Counterintuitiveness in Religious Concepts, 308–338. 87 Vgl. Kirkpatrick, Religiosity, 72. Vgl. Voland, Soziobiologie, 227.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Kräfte“88 sei. Der Glaube an unsichtbare oder geistige Kräfte sei wiederum Folge der menschlichen Neigung anzunehmen, dass „Bewegung ohne sichtbare Ursache die Gegenwart eines fremdartigen, lebendigen Bewegers andeute“89 . Wenn der Mensch Bewegungen wahrnehme, für die er nicht unmittelbar einen sichtbaren Grund ausfindig machen könne, nehme er dennoch eine Absicht hinter der Bewegung an; nur vermute er, dass der Urheber unsichtbar sei oder rein geistig existieren müsse. Eine solche Neigung, personale Akteure hinter Bewegungen ohne sichtbare Ursache zu vermuten, habe der Mensch mit Tieren gemein, sodass hier von einer evolutionären Kontinuität auszugehen sei. Zur Erläuterung führt Darwin eine Beobachtung über seinen Hund an. Er habe beobachtet, wie sein Hund den Sonnenschirm in seinem Garten immer dann anknurre, wenn der Schirm durch den Wind bewegt werde. Der Hund nehme fälschlicherweise einen personalen Akteur als Ursache für die Bewegung des Schirms an.90 Darwin der Sache nach ähnlich argumentieren Vertreter der CSR. Sie gehen davon aus, dass es im Lauf der Evolution erfolgreich war, in Kategorien der Intentionalität zu denken. Wer ein Rascheln im Gebüsch einem Lebewesen zuordnete und darauf entsprechend mit Flucht oder Angriff reagierte, hatte eine größere Überlebenschance als jemand, der das Rascheln im Gebüsch keinem Lebewesen zuordnete und einem potentiellen Angriff so unvorbereitet begegnete: „If you bet that something is an agent and it isn’t, not much his lost. But if you bet that something is not an agent and it turns out to be one, you could be lunch.“91 Weil es dem Überleben gedient habe, habe sich im Laufe der Evolution daher das kognitive Modul „hyperagency detection device“ (HADD) ausgebildet.92 Menschen nähmen aufgrund dieses Moduls unbewusst und automatisch auch dann die Aktivität von intentionalen Akteuren an, wenn es hinter beobachteten Bewegungen oder Entwicklungen überhaupt keine intentionalen Akteure gebe.93 Zudem neigten Menschen dazu anzunehmen, dass diese intentionale Akteure menschlich oder menschenähnlich seien: „[W]e anthropomorphize because guessing that the world is humanlike is a good bet. It is a bet because the world is uncertain, ambiguous, and in need of interpretation. It is

88 89 90 91 92

Darwin, Die Abstammung des Menschen, 118. A.a.O., 119. Ebd. Barrett, Why would anyone believe in God, 31. Vgl. auch Guthrie, Faces in the Clouds, 6. Vgl. Barrett, Exploring the Natural Foundations of Religion, 29ff. Vgl. auch die Einordnung bei Schüler, Religion, Kognition, Evolution, 137. 93 Vgl. Barrett, Exploring the Natural Foundations of Religion, 32.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

a good bet because the most valuable interpretations usually are those that disclose the presence of whatever is most important to us. That usually is other humans.“94

Doch wie kommt es von der Anthropomorphisierung von Phänomenen zum Götterglauben? Der Kognitionswissenschaftler Justin L. Barrett geht davon aus, dass sich der Glaube an personale intentionale Akteure mit kontraintuitiven Annahmen (siehe oben unter B.III.1.1) über diese Akteure verbindet. Weil zwar angenommen werde, dass ein intentionaler Akteur am Werk sei, dieser aber nicht durch Beobachtung verifiziert werden könne, gingen Menschen davon aus, dass dieser Akteur über außergewöhnliche, kontraintuitive Eigenschaften verfügen müsse. Zum Beispiel glaubten Menschen, dass der vermutete Akteur unsichtbar sei oder körperlos existiere: Because of the human tendency to seek intentional explanations for a given state of affairs, counterintuitive agents provide ready explanations in ways that non-agents do not. In this way, selective pressure of the HADD might conribute to the prevalence of religious-agent concepts over other counterintutive concepts.95

Der Glaube an Gott sei daher sowohl Folge der fehlgeleiteten Aktivität des kognitiven Moduls „hyperagency detection device“ als auch der Annahme, dass der vermutete Akteur über außergewöhnliche Eigenschaften verfügen müsse. 1.3

Religion als teures Signal

Ein dritter Ansatz der CSR geht davon aus, dass Religion kein Nebenprodukt eines evolutionär erfolgreichen kognitiven Mechanismus ist. Stattdessen habe Religion selbst einen adaptiven Wert auf der Ebene der Gruppe. Denn Religion bewirke, dass einer Gruppe nur Mitglieder beiträten, die bereit seien, von ihren Ressourcen an die Gruppe abzugeben. Religiöse Praktiken wie Opfer oder Spenden, aber auch der anspruchsvolle Verhaltenskodex von Religionen stellten nämlich sogenannte „teure Signale“96 dar. Eine Person, die solchen kostenintensiven religiösen Forderungen nachkomme, mache damit indirekt zugleich deutlich, dass sie grundsätzlich bereit und in der Lage sei, eigene Ressourcen zugunsten der Gruppe einzusetzen. Trittbrettfahrer, die nur von den Vorteilen der Gruppe (Schutz, Teilen von Ressourcen) profitieren wollten, würden durch die kostenintensiven religiösen Auflagen

94 Guthrie, Faces in the Clouds, 3. 95 Barrett, Exploring the Natural Foundations of Religion, 32. 96 Kirkpatrick, Religiosity, 71.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

hingegen automatisch abgeschreckt. Religion diene somit dazu, eine Gruppe vor potentiellen Betrügern zu schützen.97 1.4

Religion als Mittel zur Herstellung von Koordination und Zusammenhalt in großen Gruppen

Auch die nächste innerhalb der „Cognitive Science of Religion“ anzusiedelnde Position geht davon aus, dass Religion eine erfolgreiche Anpassung auf der Ebene der Gruppe darstellt.98 Diese These entwickeln Vertreter der CSR unter Rückgriff auf bereits bestehende Arbeiten der Soziobiologie. In diesem Sinne hatte bereits der Soziobiologe Edward O. Wilson dafür plädiert, dass organisierte Religion ein Ausdruck des Tribalismus ist. […] Wohltätigkeit und andere altruistische Handlungen konzentrieren sich auf Religionsgenossen; wenn sie auch auf Außenstehende ausgedehnt werden, dann gewöhnlich aus missionarischen Gründen und um damit den Stamm und seine Verbündeten zu stärken.99

Religion auszubilden stellt nach Wilson auf der Ebene der Gruppenselektion, der Konkurrenz der Gruppen untereinander um überlebenswichtige Ressourcen, eine erfolgreiche Anpassung dar. Denn Mitglieder einer Gruppe, die über eine Religion verfüge, kooperierten besser miteinander als Mitglieder einer Gruppe ohne Religion. Daher seien Gruppen, die über eine Religion verfügten, insgesamt erfolgreicher im evolutionären Überlebenskampf als Gruppen ohne eine Religion. Deshalb sei „die Prädisposition zu religiösem Glauben […] aller Wahrscheinlichkeit nach ein unauslöschlicher Bestandteil der menschlichen Natur.“100 Diese These von Wilson aufgreifend, aber stärker ausdifferenzierend, argumentieren Evolutionspsychologen dahingehend, dass religiöse Überzeugungen den Zusammenhalt und die Kooperation innerhalb einer Gruppe erhöhen: „[W]e are predicting that a religion instructs believers to behave for the benefit of the group.“101 Religiöse Vorschriften regelten zwischenmenschliches Verhalten und begründeten die für das Funktionieren einer Gruppe notwendigen Regeln unter Verweis auf einen göttlichen Willen. Religion sei daher ein Mittel „for regulating human conduct“102 . Religiöse Vorschriften forderten vom Einzelnen ein Verhalten,

97 Vgl. Sosis, Religious Behaviors, Badges, and Bans, 67. 98 Vgl. für die folgende Darstellung ergänzend auch Haidt, The righteous mind, 246–267. Vgl. auch Whitehouse, Complex societies, 226–229. 99 Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 310. 100 Wilson, Biologie als Schicksal, 160. 101 Wilson, Darwin ‘s Cathedral, 96. 102 A.a.O., 94.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

das sich am Wohl der ganzen Gruppe ausrichte: „If the gods evolve (culturally) to condemn selfish and divisive behaviors, they can then be used to promote cooperation and trust within the group.“103 Durch die Begründung von Kooperation im Willen Gottes könne Kooperatione innerhalb der Gruppe auch dann erreicht werden, wenn die Mitglieder keine Verwandtschafts- oder Reziprozitätsbeziehungen untereinander pflegten.104 Zudem schafften die von Religionen praktizierten gemeinsamen Rituale ein Gefühl der Einheit, des Vertrauens und der Identität innerhalb der Gruppe: „[R]ituals led to the establishment of large scale religious identities.“105 Religion auszubilden, habe sich in der Evolution also bewährt, weil Gruppen, die über Religion verfügten, erfolgreicher kooperierten und eine stabilere Identität ausbildeten als Gruppen, die über keine Religion verfügten.106 Laut dem Evolutionsbiologen David S. Wilson gibt es zudem eine natürliche Dispositon der menschlichen Psyche, eine Gruppenmoral auszubilden. Religiöse Vorschriften und die psychische Ausstattung des Menschen entsprächen einander: „[T]he general expectation is that small groups of people are psychologically prepared to bind themselves into functional units. [...] [W]e should think of the psychological mechanism activated by religion as physiological in this sense.“107 Vorsichtiger als Edward O. Wilson betont David S. Wilson aber zugleich, dass es zwar eine genetische Disposition zur Ausbildung einer Gruppenmoral gibt, dass sich religiöse Vorschriften zur Hilfe für Gruppenmitglieder aber nicht allein auf eine solche genetische Disposition zurückführen ließen. Vielmehr sei Religion immer auch ein erlerntes Phänomen, was daran deutlich werde, dass es nicht nur eine einzige Religion, sondern eine Vielzahl an unterschiedlichen Religionen gebe. Wie genau das Verhältnis bzw. der Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und Lernen sei, wird von ihm allerdings nicht ausgeführt, sondern bewusst offengelassen: „There is great opportunity for a synthesis on this subject between the established branches of the social sciences and evolu- tionary biology [...]. [W]e should not think of religion as a purely cultural invention“.108

103 Haidt, The righteous mind, 256. 104 Wilson, Darwin ‘s Cathedral, 154. Vgl. auch Whitehouse, Complex societies, 227: „This suggests that, even if moralizing gods do not cause the evolution of complex societies, they may represent a cultural adaptation that is necessary to maintain cooperation in such societies once they have exceeed a certain size, perhaps owing to the need to subject diverse populations in mulit-ethnic empires to a comon higher-level power.“ 105 Haidt, The righteous mind, 266. 106 Wilson, Darwin‘s Cathedral, 138. Vgl. auch Haidt, The righteous mind, 256. 107 Wilson, Darwin’s Cathedral, 26.28. 108 A.a.O., 27.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

2.

Religionen als durch Lernen erworbene Überzeugungen und Verhaltensweisen

Im Unterschied zur „Cognitive science of religion“ gehen die folgenden evolutionstheoretischen Interpretationen davon aus, dass Religionen ein Produkt sozialen Lernens sind und nicht auf kognitive Module oder andere angeborene psychologische Mechanismen zurückzuführen sind. Die hier vorgestellten Ansätze stammen interessanterweise nicht von Evolutionsbiologen, sondern von einer Religionswissenschaftlerin, einem Zoologen sowie einem Historiker und Literaturwissenschaftler. 2.1

Religionen als evolvierende Einheiten

Die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn versteht Religionen in pointierter Abgrenzung zu Ansätzen der „Cognitive science of religion“. Sie formuliert, dass Religionen „nicht das Resultat unsinniger Verknüpfungen verschiedener Domains in unseren Gehirnen [sind], wie neuere kognitionswissenschaftliche Ansätze behaupten. [Religionen sind vielmehr] [...] sinnvolle weltanschauliche Vorstellungen und Praktiken, die an die Bedürfnisse einer Gesellschaft in einer ganz bestimmten naturräumlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Umwelt angepasst sind.“109 Wunn versteht Religionen aus einer pragmatischen Perspektive als sinnvoll, weil sie Verhaltensweisen begründen, die das (Über)Leben in konkreten Umwelten erleichtern. Diese These verdeutlicht sie am Beispiel der Ethnie der Azande in Zentralafrika: Wenn also für die Azande (Niam Niam) vor allem Hexerei in ihrer religiösen Weltsicht eine große Rolle spielt […], ist dies das Ergebnis einer Anpassung an die naturräumliche Umwelt einerseits und die soziale Umwelt andererseits: Die Savanne im Lebensraum der Azande ist lediglich für extensiven Ackerbau geeignet. Eine zu dichte Besiedlung würde die Tragfähigkeit der Böden rasch überfordern. Die Angst vor Hexerei führt nun dazu, dass die einzelnen Gehöfte der Azande in maximaler Entfernung zueinanderstehen, um die Gefahr, verhext zu werden, zu minimieren. Praktisches Resultat ist eine sehr niedrige Besiedlungsdichte, die das Ökosystem Savanne verkraften kann.110

Religionen sind nach Wunn daher erlernte Überzeugungen und Praktiken, die sich in Abhängigkeit von ihren natürlichen und soziopolitischen Umwelten verändern.

109 Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 332. Vgl. zum Begriff der Evolution der Religionen auch Bellah, Religious Evolution, 23–50 (vgl. ausführlich unter E.III in dieser Arbeit). 110 Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 332.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

Daher lasse sich von einer „Evolution der Religionen“111 sprechen. „Religionen verändern sich, wenn sich ihre Umwelt ändert. Die Art des Wandels ist gerichtet und reagiert direkt auf die durch die Umweltveränderung ausgelösten religiösen Bedürfnisse.“112 Strukturanalog zur biologischen Evolution würden im Rahmen der Evolution der Religionen genau diejenigen religiösen Überzeugungen und Praktiken tradiert, die für das Überleben in bestimmten sozialen, politischen, ökonomischen und naturräumlichen Gegebenheiten dienlich seien. Auf diese Weise komme es auch zur Ausdifferenzierung von Religionen, die jeweils auf unterschiedliche Herausforderungen der Umwelten reagierten. 2.2

Die Bibel als Dokument eines menschheitsgeschichtlichen Umbruchs: Vom Jäger zum Ackerbauern

Mit Ausnahme der Arbeit von Ina Wunn untersuchen die bisher vorgestellten evolutionstheoretischen Perspektiven das Phänomen Religion im Allgemeinen, ohne zwischen unterschiedlichen Religionen zu differenzieren. Im Unterschied dazu konzentrieren sich der Anthropologe und Zoologe Carel van Schaik sowie der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel in ihrem Entwurf von 2016 „Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät“ bei ihrer evolutionstheoretischen Interpretation allein auf biblische Texte und deren historische Kontexte. Die These der beiden Autoren ist es, dass biblische Texte Herausforderungen benennen, die durch die Sesshaftwerdung des Menschen vor etwa 12.000 Jahren entstanden sind. Denn die neolithische Revolution habe ein Missverhältnis erzeugt zwischen den kognitiven Fähigkeiten des Menschen und den Herausforderungen, die eine sesshafte Kultur an den Menschen stellte.113 Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen seien nämlich noch als Anpassung an ein Leben in kleinen Jäger- und Sammlergesellschaften entstanden: Menschen gingen gemeinsam jagen und teilten die Nahrung innerhalb der gesamten Gruppe. Ferner gab es keinen festen Besitz, da Jäger- und Sammlergesellschaften ständig umherzogen. Weil jedes Mitglied der Gruppe auf den anderen angewiesen war, kam es zu wechselseitiger Hilfe: Ausgeprägte Hierarchien existierten genauso wenig wie bedeutende Machtkonzentrationen. Man teilte die Ressourcen, insbesondere die Jagdbeute. [...] Kooperation war alles. Interdependenz, die gegenseitige Abhängigkeit der Gruppenmitglieder, bildete die

111 A.a.O., 2. 112 A.a.O., 277. 113 Vgl. Van Schaik / Michel, Tagebuch der Menschheit, 15: Die menschliche „psychologische Ausstattung, die sich unter ganz anderen Lebensverhältnissen entwickelt hatte, taugte nicht recht für die neuen Probleme [sesshafter Kulturen].“

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Grundlage des Zusammenlebens. Entscheidungen fällte die Gruppe gemeinsam, oft nach langen Diskussionen.114

Der Bruch mit dem Leben in Jäger- und Sammlergesellschaften durch die Sesshaftwerdung führte nach Van Schaik und Michel dazu, dass die bisher erfolgreichen Verhaltensweisen und psychischen Dispositionen des Menschen nicht mehr länger nützlich waren. Drei Probleme, die Van Schaik und Michel aus der Sesshaftwerdung ableiten, sollen im Folgenden benannt werden. Erstens wurde durch die Einführung der Landwirtschaft laut Van Schaik und Michel das Land zum Besitz einer bestimmten Familie oder Sippe, welche das Land bestellte. Dadurch trat erstens soziale Ungleichheit zwischen den Menschen auf, die in der Jäger- und Sammlergesellschaft noch hatte vermieden werden können.115 Die Bibel schildere die dadurch eskalierende Gewalt beispielhaft anhand der Geschichte von Kain und Abel.116 Zweitens stellte nach Van Schaik und Michel der Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft zur sesshaften Bauerngesellschaft am Anfang keinen Überlebensvorteil dar. Feldarbeit erwies sich als zeitintensiv und anstrengend. Missernten, z. B. durch Überschwemmungen oder übermäßige Trockenheit, konnten die Ernte eines ganzen Jahres zunichtemachen. Menschen waren nach Van Schaik und Michel daher unmittelbar nach der Sesshaftwerdung schlechter ernährt als früher. Aus dieser Perspektive lasse sich der Übergang von der Jäger- und Sammlergesellschaft hin zur Landwirtschaft als Übergang von einem sorgenfreieren in ein mühsameres Leben begreifen. Die Bibel spreche daher – in mythologischer Sprache, aber sachangemessen – von der Vertreibung aus dem Paradies.117 Drittens lasse sich die jesuanische Ethik als Versuch interpretieren, in einer unüberschaubaren hierarchisch gegliederten Gesellschaft wieder das egalitäre Ethos der Jäger- und Sammlergesellschaften einzuführen. Jesu Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben (vgl. Mk 12,31), sei eine Forderung nach Egalität und Gleichheit in den Beziehungen. Damit protestiere Jesus gegen die soziale Ungleichheit in sesshaften Gesellschaften. Doch sei soziale Gleichheit in großen, sozial ausdifferenzierten Gesellschaften aus der Eigenlogik der Gesellschaften heraus schwer zu begründen. Daher begründe Jesus diese Forderung unter Verweis auf „den moralischen Gott“118 , der von allen Menschen Nächstenliebe fordere.

114 115 116 117 118

A.a.O., 57f. Vgl. a.a.O., 67. Vgl. a.a.O., 81. Vgl. a.a.O., 60. A.a.O., 408.

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

Die Religion […] ist ein starkes Mittel, in anonymen Gesellschaften Gemeinschaft zu stiften. Reichte in den kleinen Jäger- und-Sammler-Gruppen einst die goldene Regel der Fairness, brauchte es nun in den großen Gesellschaften die Liebe zu Gott als sozialen Klebstoff. Nicht überraschend also, dass Jesus sie zuerst nennt.119

Relativierend betonen Van Schaik und Michel jedoch, dass Jesu Forderung nach einem egalitären Ethos sich nur auf die eigene Gruppe erstrecke, ähnlich wie sich bereits in Jäger- und Sammlergesellschaften das egalitäre Ethos nur auf die Mitglieder der eigenen Gruppe erstreckt habe. Es gehe Jesus, wie die beiden Autoren ziemlich unvermittelt behaupten, beim Gebot der Feindesliebe nicht darum, auch diejenigen zu lieben, die keine Juden seien.120 3.

Evolutionstheoretisch begründete Religionskritik am Beispiel von Richard Dawkins

Die bisher vorgestellten evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung von Religion sind nicht dezidiert religionskritisch. Zwar bestimmen sie die evolutionäre Funktion von Religion im Gruppenzusammenhalt oder verweisen auf das evolutionär erfolgreiche Denken in Kategorien der Kontraintuitivität oder der Intentionalität. Die Hypothese „Gott“ spielt bei diesen Perspektiven zur evolutionären Genese von Religion keine Rolle. Doch halten diese Perspektiven die Möglichkeit offen, zwischen Genese und Geltung der Religion zu unterscheiden, das heißt sie klammern die Frage nach der Wahrheit der Religion aus. So ist es theoretisch möglich, die dargestellte evolutionäre Genese von Religion zu bejahen und trotzdem an die Existenz Gottes zu glauben. In diesem Sinne bemerken zum Beispiel Van Schaik und Michel zu Beginn ihres Buches, dass sie „keine religiöse Aussage treffen“121 wollen und machen so deutlich, dass sie mit ihren evolutionstheoretischen Überlegungen auf einer anderen Ebene als der Ebene des Glaubens argumentieren. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins unterscheidet allerdings nicht zwischen Genese und Geltung der Religion. Er ist – ähnlich wie Edward O. Wilson (s.o. unter A.I.) – der Meinung, dass mit der funktionalen Erklärung der Religion durch die Evolutionstheorie zugleich der Wahrheitsanspruch der Religion hinfällig geworden ist. Denn die Evolutionstheorie rückt bei Dakwins an die Stelle der Religion und erhält den Rang einer letztgültigen Sinnstiftung:

119 Ebd. 120 Vgl a.a.O., 408f. 121 A.a.O., 7.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Intelligentes Leben auf einem Planeten erreicht einen Zustand der Reife, wenn es zum ersten Mal die Gründe für seine Existenz erkennt. Sollten jemals höher entwickelte Lebewesen aus dem Weltraum die Erde besuchen, so werden sie, um unsere Zivilisationsstufe einzuschätzen, zuerst die Frage stellen: „Haben sie die Evolution schon entdeckt? […] Wir brauchen nicht mehr auf Aberglauben zurückzugreifen, wenn wir uns mit den großen Rätseln konfrontiert sehen: Hat das Leben einen Sinn? Wozu sind wir da? Was ist der Mensch?122

Dawkins interpretiert Religion in seinem 1976 erstmals erschienenen und mittlerweile in dritter Auflage veröffentlichten Werk „The selfish Gene“ (dt. Das egoistische Gen) als ein „Virus“123 , als eine sich schnell verbreitende, aber schädliche Auffassung. Er begründet diese These evolutionstheoretisch in mehreren Gedankenschritten: Religion müsse als Produkt der kulturellen Evolution und damit als erlernte Überzeugung verstanden werden. Solche erlernten Überzeugungen nennt Dawkins Meme: Beispiele für Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen. So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien oder Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen Prozeß, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.124

Ähnlich wie bei der Tradierung von Genen im Rahmen der biologischen Evolution seien bei der Tradierung von Memen im Rahmen der kulturellen Evolution Kategorien wie Wahrheit oder Nützlichkeit keine Kriterien für den Verbreitungserfolg. Es entscheide allein die „psychologische Anziehungskraft“125 eines Mems darüber, ob und wie erfolgreich es tradiert werde. Mit anderen Worten formuliert: Das einzige Kriterium, woran sich nach Dawkins die Replikation von Memen in der kulturellen Evolution bemisst, ist ihre unterschiedlich gut ausgebildete Fähigkeit, vom menschlichen Gehirn erinnert zu werden. Für das Mem ‚Glaube an Gott’ bedeute dies Folgendes: Der Überlebenswert des Gott-Mems im Mempool ergibt sich aus seiner großen psychologischen Anziehungskraft. Es liefert eine auf den ersten Blick einleuchtende Antwort auf

122 Dawkins, Das egoistische Gen, 23. Vgl. für eine ähnliche religionskritische Lesart der Evolutionstheorie auch Dennett, Darwin’s Dangerous Idea, 185. 123 Dawkins, Das egoistische Gen, 309. 124 Ebd. 125 A.a.O., 310.

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unergründliche und beunruhigende Fragen über das Dasein. Es legt den Gedanken nahe, daß Ungerechtigkeiten auf dieser Welt vielleicht in der nächsten ausgeglichen werden. Die Arme des ewigen Gottes geben uns in unserer Unzulänglichkeit einen Halt, der – wie die Placebo-Pille des Arztes – dadurch nicht weniger wirksam wird, daß er nur in der Vorstellung besteht.126

Dawkins evolutionstheoretisch begründete Religionskritik ist von Theologen, aber auch Philosophen scharf kritisiert worden.127 So wird von theologischer und philosophischer Seite aus kritisiert, dass Dawkins in seiner religionskritischen Lesart der Evolutionstheorie nicht hinreichend zwischen Genese und Geltung unterscheide. Denn selbst wenn Dawkins’ Theorie von Gott als attraktivem ‚Mem‘ stimmen würde, dann wäre damit lediglich die evolutionäre Genese des Gottesglaubens beschrieben, die von der Geltung des Gottesglaubens, bzw. seiner Wahrheit, unterschieden werden müsse.128 Zudem vermische Dawkins die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Beschreibung der Prinzipien des Artenwandels mit einer Weltanschauung, wenn er die Evolutionstheorie in den Rang der einzig richtigen Sinndeutung menschlichen Lebens erhebe.129 Das Problematische an dieser Vermischung sei gar nicht die Tatsache, dass Dawkins die Evolutionstheorie über bloße naturwissenschaftliche Faktenbeschreibung hinausgehend weltanschaulich interpretiere. Vielmehr sei es problematisch, dass Dawkins diese weltanschauliche Interpretation der Evolutionstheorie nicht eigens reflektiere und es daher so scheine, als wäre eine solche Interpretation in einem naturwissenschaftlichen Sinn objektiv wahr und für jeden rational Denkenden die einzig überzeugende Option.130 Der Theologe Alister McGrath urteilt daher zu Recht, dass Dawkins‘ Atheismus nicht

126 A.a.O., 322. 127 Vgl. Körtner, Evolution, Ethik und Religion, 247–270. Vgl. auch Evers, Gotteswahn, 21–54. Vgl. McGrath, Dawkins ‘ God, bes. 125–138. Vgl. auch Midgley, Evolution as a Religion, 156f. 128 Vgl. Körtner, Evolution, Ethik und Religion, 255. Vgl. auch Evers, Gotteswahn, 44. 129 Vgl. McGrath, Dawkins‘ God, 7. 130 Vgl. Körtner, Evolution, Ethik und Religion, der Dawkins’ Anspruch „‚letztgültige darwinistische Erklärungen‘ zu bieten [...] [für] eine Variante schlechter Metaphysik“ hält. Vgl. auch Mary Midgley, Evolution as a religion, 158, die bemerkt, dass es die Aufgabe guter Naturwissenschaft sei, die faktische Verwobenheit naturwissenschaftlicher Fakten mit weltanschaulichen Elementen zu reflektieren und offenzulegen: „It is responsible objectivity – the far more difficult task of becoming more aware of one‘s world-picture, doing all one can to correct its more obvious faults, and showing it as plainly as possible to one‘s readers in order that they may know fully what they are accepting.“ Vgl. auch Evers, Gotteswahn, 33: „Für Dawkins allerdings gilt, dass wir Produkte der Evolution sind […] in einem so ausschließlichen Sinne, dass alle menschlichen Lebensphänomene einschließlich der historisch entstandenen Religionen durch Rückführung auf die Gesetzmäßigkeiten der Evolution erklärt werden müssen.“ Vgl. auch Peetz, Der Dawkins-Diskurs, 222–224.

Evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion

Folge der Evolutionstheorie ist. Denn die Evolutionstheorie liefert als naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung des Artenwandels methodisch gesehen gar keine Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes.131 Schließlich ist Dawkins‘ These, dass allein die „psychologische Anziehungskraft“132 über den Erfolg einer kulturellen Information entscheidet, zumindest erläuterungsbedürftig. Denn Dawkins berücksichtigt nicht, dass für die Tradierung von kulturellen Entitäten Kriterien wie innere Kohärenz, Plausibilität oder Rationalität mitverantwortlich sind. Zudem erfordern die meisten Tradierungsprozesse einen Akt des Lernens und der Rekonstruktion des Lerninhalts durch den Lernenden selbst, also einen durchaus selbstständigen und kreativen Vorgang. Dawkins’ Mem-Konzept gelingt es jedoch nicht, einen solch komplexen Lernvorgang angemessen zu beschreiben. In diesem Sinne urteilen die Evolutionsbiologinnen Eva Jablonka und Marion Lamb: Obwohl das Mem-Konzept eine intellektuell überschaubare Theorie der kulturellen Evolution zu bieten scheint, funktioniert das nur, weil sie sich auf die Selektion kopierter Vorstellungen und Verhaltensweisen konzentriert und die viel schwierigeren und komplizierteren Themen wie Ursprung, soziale Konstruktion und Interaktion außer Acht lässt. […] Wer die Verbreitung menschlicher Gewohnheiten und Ideen mit der Replikation egoistischer Meme erklärt, verschleiert diesen einzigartigen Aspekt der Evolution des Menschen.133

Im Anschluss an diese vielstimmigen Kritiken lässt sich schlussfolgern, dass Dawkins’ evolutionstheoretisch begründete Religionskritik vereinfachend und polemisch ist. Doch war Dawkins‘ Buch „Das egoistische Gen“ trotz seiner teils kritischen Rezeption ein Bestseller, der in 23 Sprachen übersetzt wurde und bereits in dritter Auflage erschienen ist. Im Rahmen einer Umfrage anlässlich der 30jährigen Verleihung des Preises für das beste wissenschaftliche Buch der Royal Society wurde „Das egoistische Gen“ 2017 ferner zum einflussreichsten wissenschaftlichen Buch aller Zeiten gewählt.134 Die breite Rezeption und die Auszeichnung dieses Buches

131 Vgl. McGrath, Dawkins‘ God, 92: „If the great debate about God were to be determined soley on Darwinian grounds, the outcome is agnosticism – a principled, scrupulous insistence that the evidence is insufficient to allow a safe verdict to be reached.“ 132 Dawkins, Das egoistische Gen, 310. 133 Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 229. 134 Vgl. Armitstead, Dawkins sees off Darwin, unter: https://www.theguardian.com/books/booksblog/ 2017/jul/20/dawkins-sees-off-darwin-in-vote-for-most-influential-science-book (aufgerufen am 12.08.2019).

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

machen deutlich, dass – trotz der recht groben These von Religion als Mem – evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung von Religion viel zugetraut wird.

IV.

Auswertung der bisherigen evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religionen

Die hier dargestellten evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung von Religionen sind aus drei Gründen recht unterschiedlich. Der erste Grund für diese Unterschiede ist, dass die Evolutionstheorie eine sehr komplexe Theorie „mit nur locker verbundenen Teiltheorien“135 ist. Abhängig davon, welche Teiltheorie man herausgreift und wie man diese Teiltheorien interpretiert, führt die evolutionstheoretische Beschreibung von Religion zu unterschiedlichen Ergebnissen. So kann Religion entweder als Produkt evolutionär erfolgreicher Kognitionsmechanismen (vgl. Pascal Boyer) oder als erlerntes, kulturelles Produkt verstanden werden (vgl. Ina Wunn). Schließlich kann Religion auch als kulturell erlernte Antwort auf Herausforderungen verstanden werden, die durch das Missverhältnis zwischen der genetischen Ausstattung des Menschen und den Herausforderungen der Kultur entstehen (vgl. Carel van Schaik, Kai Michel). Der zweite Grund für die festgestellte Vielstimmigkeit der evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religionen liegt darin, dass jeweils unterschiedliche Dimensionen von Religion betrachtet werden. Die These von Religion als Folge der menschlichen Neigung, hinter unverständlichen oder unbekannten Phänomen Intentionalität zu vermuten (z. B. Steward E. Guthrie, macht einen religiösen Glaubenssatz – die Überzeugung von der Existenz von Gott oder Göttern – zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Das evolutionstheoretische Theorem der Gruppenselektion (z. B. Edward O. Wilson, David S. Wilson) untersucht Religionen hingegen aus soziologischer Sicht und fragt nach dem Überlebensvorteil religiöser Gruppen gegenüber nicht religiösen. Je nach dem, welchen Aspekt von Religion man herausgreift, bieten sich unterschiedliche evolutionstheoretische Perspektiven zu seiner Analyse an. Der dritte Grund für die Vielstimmigkeit der Perspektiven ist, dass die Evolutionstheorie jenseits ihres naturwissenschaftlichen Ursprungs weltanschaulich interpretiert werden kann. Dies tun zum Beispiel Richard Dawkins und Edward O. Wilson, wenn sie die Evolutionstheorie als Hinweis auf die Nichtexistenz Gottes interpretieren. Zwar kann die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie

135 Köchy, Die Idee der Evolution, 69.

Auswertung der bisherigen evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religionen

methodisch aus sich heraus keinen Beweis für oder gegen die Existenz Gottes liefern. Weil es jedoch möglich ist, die Evolutionsthoerie weltanschaulich im Sinne eines Atheismus zu deuten, gibt es zwangsläufig mehr als eine Interpretation der Evolutionstheorie. Schließlich erscheinen an den bisher vorgestellten evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religion vier Punkte problematisch bzw. ergänzungsbedürftig: Erstens gebraucht die „Cognitive science of religion“ Religion als einen Allgemeinbegriff. Beispielsweise spricht sie davon, dass Religion zur Stabilisierung der eigenen Gruppe diene (s.o.). Doch ist diese Sicht zu einseitig. Am Beispiel der christlichen Religion lässt sich dagegen auf bestimmte biblische Texte verweisen, die bewusst die Grenze zwischen der eigenen Gruppe und fremden Gruppen unterlaufen. So geht es zum Beispiel im matthäischen Gebot, die Feinde zu lieben (vgl. Mt 5,44f.) um „eine programmatische, prinzipielle Entgrenzung der Bestimmung des Nächsten: Selbst der Feind ist zu lieben.“136 Daher lässt sich fragen, ob ein Allgemeinbegriff von Religion nicht dazu führt, die Spezifika einer jeden konkreten Religion – ihre normativen Texte, ihre religiösen Praktiken, sowie ihre komplexe Religionsgeschichte – zu unterschlagen und dadurch zu vereinfachten Urteilen zu gelangen. Deshalb wird als alternativer Zugang vorgeschlagen, eine konkrete Religion in einer konkreten historischen Ausprägung zu betrachten, ohne zugleich den Anspruch zu erheben, damit das ‚Wesen’ dieser Religion zu definieren. Zweitens lässt sich gegen den Ansatz der „Cognitive science of religion“ einwenden, dass sie das Phänomen der Religion reduktionistisch behandelt, weil sie Religion lediglich unter der Perspektive der menschlichen Kognition untersucht. In diesem Sinne kritisiert etwa der Religionswissenschaftler Sebastian Schüler, dass die von der „Cognitive science of religion“ betriebene Reduktion der Religion auf kognitive Zustände die „sozialen Dynamiken“ und „körperlich-emotionale[n] Faktoren“137 von Religion nicht erfasse. Im Anschluss an diese Kritik schlussfolgert er, dass der Ansatz der „Cognitive science of religion“ durch andere Ansätze, die Religion als erlernte soziale Praktiken und Überzeugungen beschrieben, zumindest ergänzt werden müsse.138 Diese Kritik aufnehmend wird dafür plädiert, dass evolutionstheoretische Perspektiven auf Religionen auch kulturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven miteinbeziehen müssen. Religion lediglich

136 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 97. 137 Schüler, Religion, Kognition, Evolution, 160. 138 Ebd.: „Die Entstehung kognitiver Kapazitäten und Dispositionen in der Evolution des Menschen muss also auch körperliche Wahrnehmung sowie kollektive Repräsentationen berücksichtigen. Erst vor diesem Hintergrund kann eine Cognitive Science of Religion sich vorsichtig der Frage nach Entstehung und Weitergabe religiöser Repräsentationen nähern.“

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Evolutionstheoretische Konzepte und gegenwärtige evolutionstheoretische Perspektiven

unter dem Aspekt zu untersuchen, ob die menschliche Psyche eine Neigung zur Ausbildung von Religion hat, reicht zu kurz. Drittens ist festzustellen, dass sich das evolutionstheoretische Modell von Ina Wunn auf die Frage konzentriert, inwieweit Religionen dabei helfen, sich an gegebene natürliche oder vom Menschen geschaffene Umwelten anzupassen.139 Dieses Modell kann jedoch nicht erfassen, dass Religionen nicht nur auf ihre Umwelten reagieren, sondern diese selbst auch mitgestalten. Letzterer Aspekt wird hingegen von Van Schaik und Michel am Beispiel biblischer Texte herausgearbeitet. Die Bibel, so interpretieren sie, ist ein Buch, was nicht nur die Herausforderungen der Umwelten, denen ihre Verfasser ausgesetzt waren, benennt, sondern zugleich Überzeugungen und Praktiken bereithält, durch die die jeweiligen Herausforderungen sinnvoll bearbeitet werden können: „Die Bibel ist aber mehr als nur ein Spiegel historischer Umstände. Sie präsentiert uns auch die ambitionierten Strategien, den ‚größten Fehler der Menschheit‘ [die Sesshaftwerdung] zu entschärfen und die aus ihm resultierenden Kalamitäten zu beseitigen.“140 Doch ist viertens festzustellen, dass auch die Interpretation von Van Schaik und Michel an einigen Punkten verkürzt ist. Van Schaiks und Michels These, dass die jesuanische Ethik letztendlich die Wiedereinführung des egalitären Gruppen-Ethos’ der Steinzeit fordere, ist fraglich. Im Widerspruch dazu interpretiert beispielsweise der Kultursoziologe Gerhard Schmied, dass Jesu Aufforderung zur Feindesliebe gerade die Grenze zwischen Innen- und Außengruppe überschreite und dass darin das Besondere der jesuanischen Verkündigung liege.141 Insofern ist zu fragen, ob Van Schaiks und Michels These über die jesuanische Gruppenethik wirklich zutreffend ist. Aufgrund der festgestellten offenen Fragen gegenwärtiger evolutionstheoretischer Perspektiven zum Phänomen der Religion(en) ist eine Auseinandersetzung mit der Leistungskraft evolutionstheoretischer Perspektiven anhand einer konkreten Religion, nicht anhand eines Allgemeinbegriffs von Religion, nötig. Im Fall dieser Arbeit ist dies die christliche Religion. Sie wird religionshistorisch im Ausgang aus der Religion des antiken Israel verortet (Robert Bellah), hinsichtlich der exegetischen Bedeutung biblischer Texte untersucht (Gerd Theißen und Heiner Mühlmann) sowie hinsichtlich ausgewählter Rituale betrachtet (Gerd Theißen und Heiner Mühlmann). So soll durch die Darstellung der Arbeiten von Theißen,

139 Vgl. Wunn, Barbaren, Geister, Gotteskrieger, 334: „An dieser Stelle wirkt dann die Selektion, die entsprechend der sozialen, ökonomischen und politischen Umwelt die Religion prägt und sie zur Anpassung zwingt.“ 140 Van Schaik / Michel, Tagebuch der Menschheit, 16. 141 Vgl. Schmied, Religion – eine List der Gene, 87. Vgl. ähnlich auch die Interpretation des Feindesliebegebots bei Meisinger, Liebesgebot, 43–51. Vgl. auch Theißen, Spuren Gottes in der Evolution, 450.

Auswertung der bisherigen evolutionstheoretischen Perspektiven auf Religionen

Mühlmann und Bellah eine evolutionstheoretische Beschreibung der christlichen Religion gelingen, die möglichst konkret ist und zugleich die vielfältigen Dimensionen, unter denen die christliche Religion betrachtet werden kann, so gut wie möglich aufgreift.

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C.

Gerd Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

I.

Biographischer Überblick und Thema der Arbeiten von Gerd Theißen

Der 1943 in Rheydt im Rheinland geborene und in reformierter Tradition aufgewachsene Neutestamentler Gerd Theißen studierte von 1962–68 evangelische Theologie in Bonn. Systematisch-theologisch faszinierten ihn während seines Studiums vor allem die Arbeiten von Friedrich Schleiermacher und Paul Tillich sowie Albert Schweitzers Ethik einer Ehrfurcht vor dem Leben.1 Nach einer Promotion über den Hebräerbrief2 im Jahr 1968 habilitierte sich Theißen 1972 mit einer formgeschichtlichen Arbeit zu Wundergeschichten.3 Das Hauptmerkmal seiner daran anschließenden Forschungen war die Anwendung religionssoziologischer Perspektiven, zunächst mit Blick auf die Rekonstruktion des historischen Jesus, später mit Blick auf das Urchristentum insgesamt.4 Dazu bediente sich Theißen auch biblischer Texte, denn diese ließen Rückschlüsse auf die Lebenswelt ihrer Verfasser bzw. auf das Urchristentum zu.5 Mit diesem Ansatz, soziologische Perspektiven zur Interpretation biblischer Texte heranzuziehen, leistete Theißen Ende der 70er Jahre Pionierarbeit;6 mittlerweile werden soziologische Methoden vielfach in der Exegese angewandt.7 Zudem untersuchte Theißen biblische Text mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven, so etwa in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“

1 Vgl. Theißen, Von der Literatursoziologie, 167. Vgl. ders., Biblischer Glaube und Evolution, 203. 2 Vgl. Gerd Theißen: Untersuchungen zum Hebräerbrief, StNT 2, Gütersloh 1969. 3 Vgl. ders.: Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 7 1998. 4 Vgl. in Auswahl: Gerd Theißen: Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, München 1977. Ders.: Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen, 3. erweiterte Auflage, 1989. Ders.: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. Ders.: Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004. 5 Vgl. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 12: „Es ergibt sich eine Korrespondenz zwischen den sozialen Trägern der Überlieferung und der Überlieferung selbst.“ 6 Vgl. Lampe, Gerd Theißen als Grenzgänger, 10. 7 Vgl. exemplarisch Dominic Crossan: The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1993.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

(1980),8 in seiner Monographie „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“ (1984),9 im Aufsatz „Evolutionäre Religionstheorie und biblische Hermeneutik“ (1985),10 aber auch in neueren Aufsätzen seit 2004.11 Aufgrund dieser Vielfalt an Interpretationsperspektiven auf biblische Texte bezeichnet Peter Lampe Gerd Theißen in einer Festschrift zu dessen 65. Geburtstag als einen „Grenzgänger“12 , der in vermeintlichen Tabuzonen innovative Forschungsfelder entdecke. Die Einbeziehung explizit nicht-theologischer Perspektiven in seine exegetischen sowie systematisch-theologischen Arbeiten ist somit ein Charakteristikum von Theißens Hermeneutik und Methodik. Theißen begründet seinen Ansatz damit, dass die christliche Religion zunächst einmal ein menschliches Zeichensystem sei. Als solches lasse sie sich ‚von unten‘ analysieren mittels nicht-theologischer, anderer fachwissenschaftlicher Perspektiven: Die christliche Religion ist eine wunderbare Kathedrale aus Zeichen [...] Man kann solche Kathedralen als Tourist besuchen, ohne an ihrem Gottesdienst teilzunehmen. [...] Daher dieser Versuch einer Theorie der urchristlichen Religion: Sie ist eine Besichtigung und Erklärung der urchristlichen Zeichenwelt, die jedem die Freiheit lässt, sie kennenzulernen und ohne Gebet zu verlassen.13

Obwohl Theißen somit nicht-theologische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion verwendet, geht er zugleich davon aus, dass die christliche Religion, wie auch Religionen im Allgemeinen, nicht in diesen Beschreibungen aufgehen. Außenperspektiven auf die christliche Religion und eine theologische Innenperspektive müssten sich vielmehr ergänzen. So bemerkt Theißen im Anschluss an das oben genannte Zitat: „Freuen würde mich freilich, wenn die Besucher

8 Gerd Theißen: Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein, in: Neutestamentliche Grenzgänge. Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens, hrsg. von Peter Lampe u. Helmut Schwier, NTOA 75, Göttingen 2010, 228–247. Der Vortrag wurde zwar schon 1980 gehalten, aber erst 2010 veröffentlicht. 9 Vgl. ders.: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984. 10 Vgl. ders.: Evolutionare Religionstheorie und biblische Hermeneutik, WzM 37 (1985), 107–118. 11 Vgl. ders: Evolution, in: Im Anfang war (k)ein Gott. Naturwissenschaftliche und theologische Perspektiven, hrsg. von Tobias Daniel Wabbel, Düsseldorf 2004, 147–158. Ders.: Biblischer Glaube und Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ, in: Ders.: Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt. „Neutestamentliche Grenzgänge“ im Dialog, NTOA 78, Göttingen 2011, 188–237. Ders: Bibelverständnis und Hilfsmotivation. Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Polyphones Verstehen: Entwürfe zur Bibelhermeneutik, BVB 23, Münster 2014, 295–321. Ders.: Spuren Gottes in der Evolution? Evolutionäre Religionstheorie und biblische Hermeneutik, in: Polyphones Verstehen: Entwürfe zur Bibelhermeneutik, BVB 23, Münster 2014, 421–457. 12 Lampe, Gerd Theißen als Grenzgänger, 10. 13 Theißen, Religion der ersten Christen, 410f.

Theißens Religionsbegriff

[der Kathedrale] verstünden, warum man in solch einer Kathedrale beten kann und warum dies nach Absicht ihrer Konstrukteure und Erbauer der primäre Sinn dieses Ortes ist.“14 Dieser Ansatz, eine theologische Innenperspektive mit Außenperspektiven auf die christliche Religion zu verbinden, prägt auch Theißens evolutionstheoretischen Arbeiten zur christlichen Religion.

II.

Theißens Religionsbegriff

Theißen entwickelt in seinem frühesten religionsphilosophischen Werk von 1978 „Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?“ eine Religionstheorie, die er skizzenhaft in eine verallgemeinerte Evolutionstheorie einbettet. Dazu bestimmt Theißen zunächst das Proprium von Religion in einer spezifischen Form der Erfahrung, genauer: der „Resonanzerfahrung“15 , wenn er schreibt: Für ein empirisches Wahrheitsbewußtsein kann Religion nur dann Wahrheit aufweisen, wenn es religiöse Erfahrung gibt, d. h. wenn man auf intersubjektiv zugängliche Aspekte der Wirklichkeit verweisen kann, die für religiöse Aussagen eine Basis darstellen.16

Resonanzerfahrungen sind nach Theißen menschliche Erfahrungen ‚von unten‘. Doch sei es das Besondere an Resonanzerfahrungen, dass sie sich auf eine vorgängige, allgemeine Wirklichkeit bezögen, die Theißen mit Gott bzw. dem Heiligen identifiziert. In Resonanzerfahrungen erlebe sich das Subjekt in Entsprechung zu dieser vorgängigen Wirklichkeit. Eine solche Passung von Individuum und Wirklichkeit ist für Theißen objektiv gegeben. Er betont daher: „Es gibt [...] dem Menschen verwandte Strukturen des Heiligen in der objektiven Realität“17 . Resonanzerfahrungen seien Erfahrungen einer „Strukturverwandtschaft zwischen unserem Dasein und der umgebenden Wirklichkeit“18 . In späteren religionstheoretischen Überlegungen aus dem Jahr 2000 modifiziert Theißen den hier skizzierten allgemeinen Religionsbegriff. Zwar geht er weiter davon aus, dass Religion auf eine Gesamtwirklichkeit bezogen ist. Religion, obwohl menschliches Werk, ist daher „Poesie des Heiligen“19 . Doch definiert Theißen Religion in späteren Arbeiten nicht primär über einen als universell verstandenen 14 15 16 17 18 19

A.a.O., 411. Theißen, Argumente, 48. A.a.O., 16. A.a.O., 46. A.a.O., 91. Theißen, Religion der ersten Christen, 392.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Erfahrungsbegriff, sondern als ein „kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt“.20 Theißen begründet den von ihm angenommenen realistischen Gehalt religiöser Erfahrungen bzw. kultureller Zeichen in einem zweiten Schritt bereits in seinem ersten religionsphilosophischen Werk mithilfe der Evolutionstheorie. Religiösen Resonanzerfahrungen bzw. kulturellen Zeichen sei genau deshalb ein Wahrheitsgehalt zuzusprechen, weil sie in einem langen evolutionären Prozess entstanden seien. Sie ließen sich aus evolutionstheoretischer Perspektive als gelungene Anpassung an eine vorgegebene Wirklichkeit verstehen: [D]er Mensch tritt keineswegs mit einem spezifischen Verlangen nach Resonanz an die Wirklichkeit heran. Er weiß noch gar nicht, was er in ihr suchen soll. Erst in langen und langwierigen Anpassungsprozessen an die objektiven Strukturen der Wirklichkeit wird in ihm das Verlangen nach Resonanz in seinen vielfältigen Formen wach.21

Weil unzureichende Anpassungen im Laufe der Evolution ausselektiert würden, religiöse Erfahrungen und Zeichensysteme sich aber bis heute erhalten haben, geht Theißen davon aus, dass diese Erfahrungen und Zeichensysteme zutreffende Annahmen über eine vorgegebene, vorgängige Wirklichkeit machen.22 Daher plausibilisiert die Evolutionstheorie laut Theißen den realistischen Gehalt religiöser Erfahrungen bzw. religiöser Zeichensysteme.

III.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

1.

Überlegungen in „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“

Theißens evolutionstheoretische Arbeiten zur christlichen Religion, die in einem Zeitraum von über 30 Jahren entstanden sind, sind von der theologischen Forschungsgemeinschaft nur spärlich rezipiert worden.23 Die Analyse seiner Arbeiten

20 A.a.O., 19. 21 Theißen, Argumente, 83f. 22 Vgl. a.O., 118f.: „Vielmehr steckt dahinter die Überzeugung, daß das religiöse Bewußtsein den gleichen Prinzipien unterliegt wie die gesamte Evolution, ja, die gesamte Entwicklung unseres Verhaltens und Wissens.“ 23 Vgl. die Sekundärliteratur zu Theißens evolutionstheoretischen Arbeiten: Siguard Daecke: Putting an End to Selection and Completing Evolution: Jesus Christ in the Light of Evolution, in: Evolution and Creation. A European Perspective, hrsg. von Svend Andersen, Aarhus 1987, 153–161. Drees, Willem B.: Religion, Science and Naturalism, Cambridge / New York / Melbourne 1996, 224–226. Ulrich H.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

bleibt daher größtenteils werkimmanent und arbeitet die wenige vorhandene Literatur an den passenden Stellen ein. Ähnlich wie in seiner ersten religionsphilosophischen Arbeit definiert Theißen Religion in einem 1980 gehaltenen Vortrag „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“ als „Versuch, menschliches Leben als Antwort auf die Gesamtwirklichkeit zu leben.“24 Religiöse Resonanzerfahrungen verwiesen auf eine Wirklichkeit, mit der sich der Mensch in partieller Übereinstimmung befinde. Theißen begründet diese These evolutionstheoretisch: Religiöse Resonanzerfahrungen seien als „gelungene Anpassung an [die] Grundbedingungen [der Wirklichkeit]“25 zu verstehen. Theißen vertritt hier einen weiten Evolutionsbegriff, wonach Evolution nicht nur die Geschichte der Natur umfasst, sondern auch als Beschreibungskategorie für menschliche Geschichte dienen kann, sodass sich hier von einer „kulturellen Evolution“26 sprechen lasse. Indem Theißen die christliche Religion als Produkt der kulturellen Evolution versteht, entwickelt er so eine neue Interpretationskategorie, um Inhalte der christlichen Religion vor dem „Paradigma unseres gegenwärtigen Denkens“27 auszulegen. Insbesondere die Begriffe Mutation und Selektion werden von Theißen im Folgenden als evolutionstheoretische Ausgangskategorien verwendet, um die christliche Religion neu zu erschließen. Konkret bezieht Theißen sich im Folgenden auf eine evolutionstheoretische Interpretation neutestamentlicher Glaubensüberzeugungen. 1.1

Der Mutationsbegriff als Verstehenshintergrund für die in neutestamentlichen Texten beschriebene Einzigartigkeit Jesu Christi

Als Ausgangsüberlegung für seine Verwendung des Mutationsbegriffs zur Interpretation neutestamentlicher Glaubensüberzeugungen nimmt Theißen zunächst einen unaufhebbar scheinenden Widerspruch zwischen einem modernen Bewusstsein und dem Selbstverständnis neutestamentlicher Texte an. Dieser Widerspruch

24 25 26 27

J. Körtner: Theologie in dürftiger Zeit. Ein Essay, München 1990, 49–52. Ulrich Lüke: Evolutionäre Erkenntnistheorie und Theologie. Eine kritische Auseinandersetzung aus fundamentaltheologischer Perspektive. Mit einem Geleitwort von Gerhard Vollmer, Stuttgart 1990, 119–128. Markus Mühling: Resonanzen: Neurobiologie, Evolution und Theologie. Evolutionäre Nischenkonstruktion, das ökologische Gehirn und narativ-relationale Theologie, RThN 30, Göttingen 2016, 249–250. Wentzel van Huyssteen: Evolution, knowledge and Christian faith: Gerd Theissen and the credibility of theology, HTS 44/1 (1988), 6–22. Theißen, Neutestamentliche Christologie, 239. Theißen, Bibelhermeneutik und Kritik, 239. Theißen, Neutestamentliche Christologie, 232. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 11.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

gründe darin, dass ein modernes Bewusstsein „Relativität, Bedingtheit und Immanenz [als] „fast apriorische Kategorien“28 zum Verständnis von Wirklichkeit anwende, wie Theißen unter Aufgriff einer These von Ernst Troeltsch29 erläutert. Die neutestamentlichen Texte gingen im Widerspruch zu diesem modernen Bewusstsein scheinbar entgegengesetzt davon aus, dass sich in Jesus Christus eine prinzipiell fremde Welt eröffne und dass die Gestalt Jesu einzigartig und unbedingt (vgl. 2. Kor 5,17) – mithin nicht durch Vorhergehendes determiniert und mit nichts Vorhergehendem vergleichbar – sei.30 Theißen möchte nun zwischen diesen beiden scheinbar unvereinbaren Wirklichkeitsverständnissen vermitteln. Er tut dies unter Bezugnahme auf den Mutationsbegriff der Evolutionstheorie, der es erlaube, das Vorkommen von Neuem in Natur- und Kulturgeschichte zu denken. Zwar definiert Theißen Mutation zunächst als „Veränderungen der genetischen Information“31 und verortet den Mutationsbegriff somit im Bereich der biologischen Evolution. Doch lasse sich auch die menschliche Kulturgeschichte als Evolution verstehen und beschreiben. Insofern sei es angemessen, den Mutationsbegriff auch zur Beschreibung dieser ‚kulturellen Evolution’ zu verwenden: Ich kann hier nur meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die Evolutionstheorie auf dem jetzigen Stand unseres Wissens und Irrens am besten geeignet ist, die Einheit der Wirklichkeit begrifflich dazustellen, und d. h. eine durchgehende Kontinuität von der materiellen über die biologische bis zur kulturellen Evolution aufzuweisen, wobei jede Evolutionsstufe neue Prinzipien einführt.32

Insgesamt sieht Theißen zwischen der Geschichte der Natur und menschlicher Geschichte genug Kontinuitäten, um den Begriff der Mutation auch auf die kulturelle Evolution auszuweiten. Eine Mutation meine dann eine „Neukombination traditioneller Elemente“33 , zum Beispiel neue Ideen, Innovationen oder neue Verhaltensweisen. Die erweiterte Evolutionstheorie plausibilisiere so ein Verständnis

28 A.a.O., 229. 29 Theißen bezieht sich hier auf die von Troeltsch im Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ entfaltete Geschichtshermeneutik, laut der geschichtliche Ereignisse durch Analogie und Korrelation mit anderen geschichtlichen Ereignissen gekennzeichnet sind. Vgl. Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie [1908], in: Ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. II, Tübingen 1913, 729–753. Vgl. auch Theißen, Neutestamentliche Christologie, 229. 30 Vgl. Theißen, Neutestamentliche Christologie, 229. 31 A.a.O., 231. 32 A.a.O., 232. 33 A.a.O., 234.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

von menschlicher Kultur als Ort, in dem fundamental Neues auftreten könne. Mithilfe des Mutationsbegriffs könne daher die neutestamentliche Rede von der Einzigartigkeit Jesu Christi für ein modernes Bewusstsein zumindest denkmöglich werden. Jesus Christus sei eine „Mutation“34 . Außerdem legt der Mutationsbegriff nach Theißen nahe, dass Wirklichkeit im Laufe der Natur- und Kulturgeschichte unter immer neuen Aspekten erschlossen wird: Theißen weist darauf hin, dass es bereits in der biologischen Evolution zu Mutationen gekommen sei, durch die neue Aspekte der Wirklichkeit erschlossen worden wären; zum Beispiel hätten Meerestiere im Lauf der Evolution das trockene Land entdeckt und bevölkert. Auch menschliche Ideen und Innovationen im Rahmen der kulturellen Evolution ermöglichten neue Lebensweisen, die zuvor noch als unmöglich vorgestellt worden wären. Jede der großen produktiven Mutationen besteht in einer Erschließung eines neuen Lebensraumes, sei es durch Entwicklung neuer Organe, sei es durch Entwicklung neuer Verhaltensweisen, die neue ökologische Nischen bewohnbar machen.35

Aus theologischer Perspektive ließen sich solche erfolgreichen Mutationen als „Offenbarung“36 interpretieren. Mutationen, durch die neue Lebensweisen möglich würden, und der theologische Begriff der Offenbarung – verstanden als Selbsterschließung einer bisher verborgenen Wirklichkeit – benennen nach Theißen dasselbe Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln: Dennoch eröffnet gerade die Mutationsmetaphorik die Möglichkeit, mit einer über die bisherige Geschichte hinausgehenden Offenbarung zu rechnen, wenn wir „Offenbarung“ als Erschließung von Bereichen definieren, die sonst prinzipiell unzulänglich waren.37

Indem Theißen bestimmte Mutationen im Rahmen der Evolution als religiöse Offenbarungen versteht, nimmt er Anleihen bei einer natürlichen Theologie, die in bestimmten Abläufen der Natur- und Kulturgeschichte (in erfolgreichen Mutationen) einen Verweis auf Gottes Wirklichkeit sieht. Dass Theißen zugleich aber eine Position zurückweist, wonach der faktische Verlauf der Natur- und Kulturgeschiche grundsätzlich Gottes Wesen und Willen entspricht, macht er in seiner anschließenden Überlegung deutlich.

34 35 36 37

A.a.O., 245. A.a.O., 234. A.a.O., 238. A.a.O., 237f.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

1.2

Neutestamentliche Texte als Kritik am Selektionsprinzip

Zunächst diagnostiziert Theißen, dass die biologische Evolution durch Selektion gekennzeichnet ist. Selektion führe zu einer nicht zufälligen, gerichteten Veränderung der Arten und ermögliche im Laufe der Evolution eine schrittweise bessere Anpassung an die Erfordernisse der Umwelten.38 Obwohl das Selektionsprinzip mithin ein unverzichtbares Funktionsprinzip der biologischen Evolution ist, sei es in der kulturellen Evolution gelungen, Selektionsvorgänge einzuschränken und mehr Leben zu ermöglichen, als in der biologischen Evolution zu existieren vermochte. Diese Selektionsminderung lasse sich am klarsten im Urchristentum ausmachen: Die antiselektionistische Revolte des Urchristentums bringt m.E. innerhalb der bisherigen kulturellen Evolution am klarsten den Übergang zu einer kosmischen Epoche zum Ausdruck, die nicht mehr ausschließlich von den Gesetzen biologischer Evolution beherrscht und in der das Selektionsprinzip durch das Solidaritätsprinzip abgelöst wird. Hinweise auf diesen Übergang finden sich überall in der Menschheitsgeschichte. Kultur beginnt überall dort, wo die Macht der Selektion eingeschränkt wird.39

Als Belegstellen für neutestamentliche Texte, die eine solche ‚antiselektionistische Revolte‘ propagierten, verweist Theißen auf die Forderung der Feindesliebe (vgl. Mt 5,43ff.), die Kritik an sozialen Hierarchien und dem Recht des Stärkeren zugunsten eines freiwilligen Statusverzichts (vgl. Mk 10,42-45), den Einsatz für Schwache in der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37) sowie die „Identifikation mit den aussichtslos Erkrankten“40 in den Wundergeschichten. In diesen Texten werde Hilfe gegenüber kranken, marginalisierten oder diskriminierten Personengruppen gefordert. Statt die eigene Macht zulasten anderer durchzusetzen, werde der Verzicht auf die eigene Macht und Hilfe gegenüber Bedürftigen gefordert: Selektion bedeutet: Bevorzugung des in der Hierarchie oben Stehenden, damit jene sich durchsetzen, die ihre Tüchtigkeit im Gerangel um die Hackordnung erwiesen haben. Das Neue Testament aber sagt: ‚Wer unter euch der Erste sein will, sei der Sklave aller‘ (Mk 10,44).41

38 Theißen, Neutestamentliche Christologie, 244: „Nur weil Dysfunktionales verringerte Lebenschancen erhält – also weniger Raum, weniger Nahrung, weniger Sicherheit –, nur weil es schließlich zugrunde geht, ist Entwicklung zu größerer Funktionalität möglich.“ Vgl. ähnlich wie Theißen auch Mayr, Das ist Evolution, 150. 39 Theißen, Neutestamentliche Christologie, 244. 40 A.a.O., 243. 41 Ebd.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

An sein Verständnis des neutestamentlichen Glaubens als Kritik am Selektionsprinzip anschließend, übersetzt Theißen die neutestamentliche Überzeugung, dass in Christus die Wende von einer alten, unheilvollen zu einer neuen Schöpfung eingetreten ist (vgl. 2. Kor 5,17), evolutionstheoretisch.42 Er interpretiert diese Überzeugung so, dass mit der Rede von der neuen Welt kein jenseitiges Reich gemeint sei, was ‚von oben’ in diese Welt einbreche. Der Wahrheitsgehalt dieser Überzeugung erschließe sich vielmehr aus evolutionstheoretischer Perspektive: Die Rede von einer neuen Schöpfung sei mythologischer Ausdruck des evolutionstheoretischen Sachverhalts, dass sich der Mensch am Übergang von der biologischen zur kulturellen Evolution befinde. Die biologische Evolution sei die alte Welt, von der sich der Mensch zu lösen habe, die neue Schöpfung sei die Welt der kulturellen Evolution. Inhaltlich sei der Übergang zwischen biologischer und kultureller Evolution durch die Verringerung von Selektion und durch die Verstärkung von Solidarität und Hilfe gegenüber den Schwachen gekennzeichnet. Am deutlichsten werde dies in der Mutation Jesus von Nazareth, der in seiner unbedingten Kritik gegen das Selektionsprinzip Vorreiter der kulturellen Evolution sei. So wiesen die Person Jesu Christi und die von ihm inspirierten neutestamentlichen Texte in ihrem unbedingten Protest gegen das Selektionsprinzip auf eine mögliche Richtung der kulturellen Evolution hin. Wir leben alle katà sárka, aber wir sind dazu berufen, katà pneûma zu leben, nach den Verhaltensmustern einer neuen Welt. Dieser Grundstruktur menschlicher Geschichte als eines Konfliktes zweier Welten gibt das Urchristentum klaren Ausdruck.43

Zusammenfassend legt Theißen seinem Vortrag eine erweiterterte Theorie der Evolution zugrunde, die auch den Bereich menschlicher Kultur inklusive der Religion als kulturelles Erzeugnis umfasst. An dieses ‚weite’ Verstänidnis von Evolution anschließend interpretiert Theißen neutestamentliche Überzeugungen mithilfe der Evolutionsthoerie, um diese Überzeugungen als realistisch auszuweisen. Neutestamentliche Texte beschrieben in mythologischer Sprache die evolvierende Welt, ja, seien in ihrem Protest gegen das Selektionsprinzip selbst Mitgestalter des evolutionären Fortschritts. Jesus sei eine Mutation, die in ihrem unbedingten Protest gegen das Selektionsprinzip nach vorne auf eine neue Richtung der Evolution verweise. Theißen webt so biblische und evolutionsthehoretische Perspektiven zu einer kreativen, eigenständigen Theorie ineinander. Auffällig ist, dass Theißen sich in seiner evolutionstheoretischen Interpretation des Neuen Testaments als antiselektionistisch nur auf bestimmte Texte stützt, die

42 Vgl. a.a.O., 243. 43 Ebd.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

sich im Sinne eines universalen Hilfsethos’ interpretieren lassen. Andere Texte, die Hilfe auf den Kreis der Glaubenden beschränken (vgl. zum Beispiel Joh 13,34), werden hingegen nicht erwähnt. Theißens Auswahl neutestamentlicher Texte ist daher von einem bestimmten hermeneutischen Vorverständnis des christlichen Glaubens mitgeprägt. Als kritische Überlegung für die weitere Untersuchung sei angemerkt, dass Theißens Verständnis von ‚Wirklichkeit’ in diesem Vortrag von 1980 nicht eingehender erläutert wird und Unklarheiten bleiben. Wie verhält sich das evolutionstheoretische Konzept der Anpassung an vorgegebene lokale Umwelten zu Theißens metaphysischer These, wonach die kulturelle Evolution Anbruch einer ‚neuen Welt’ ist (vgl. genauer unter C.III.2.1.2 in dieser Arbeit)? 2.

Theißens evolutionstheoretische Überlegungen in „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“

1984 verfasste Theißen die Monographie „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“ zum Thema einer Interpretation der christlichen Religion mithilfe evolutionstheoretischer Kategorien als Ausarbeitung seines ersten Vortrags. Zu Beginn des Buchs nimmt er zunächst eine Verhältnisbestimmung zwischen der Evolutionstheorie und dem biblischen Glauben vor. In den darauffolgenden drei Teilen interpretiert er von dieser Verhältnisbestimmung ausgehend den biblischen Glauben als „Protest gegen das Selektionsprinzip“44 . Wenn Theißen von ‚dem’ biblischen Glauben spricht, hat er dabei allerdings eine ganz bestimmte, trinitätstheologisch ausgerichtete Interpretation biblischer Texte vor Augen: Er interpretiert biblische Texte hinsichtlich der Frage nach dem Glauben an den einen und einzigen Gott (Monotheismus), hinsichtlich der Frage nach der Christologie und hinsichtlich der Frage nach der Pneumatologie. 2.1

Theißens methodische Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Evolutionstheorie und christlichem Glauben

2.1.1

Die Evolutionstheorie als Naturgeschichte und menschliche Geschichte umgreifende Rahmentheorie

Theißen versteht die Evolutionstheorie als den derzeit „umfassendste[n] Rahmen humanwissenschaftlicher Erkenntnisse“45 , in den sich nicht nur Entwicklungen im Rahmen der Natur, sondern auch das Verhalten des Menschen inklusive seiner

44 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 143. 45 A.a.O., 11.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

Kultur einzeichnen ließen. Theißen vertritt in diesem Sinne neben der biologischen Evolutionstheorie auch die Theorie einer kulturellen Evolution. Nach allgemeinwissenschaftlichem Verständnis beschreibt die Theorie der biologischen Evolution einen Vorgang der Ausdifferenzierung und Veränderung von ursprünglich nur sehr wenigen Arten im Laufe der Naturgeschichte. Die wichtigsten Steuerungsprinzipien der biologischen Evolution sind die natürliche Selektion, die definiert wird als differenzielles Überleben der Lebewesen einer Population aufgrund unterschiedlich guter Anpassung an ihre Umwelten, und die sexuelle Selektion (Unterschiede in der Häufigkeit der Fortpflanzung). Selektion bedeutet also, dass nicht alle Lebewesen mit gleicher Wahrscheinlichkeit überleben und sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit fortpflanzen. Insofern werden Gene nicht zufällig, sondern gerichtet tradiert, was im Laufe der Evolution zu einer Veränderung von Arten führt im Sinne einer besseren Angepasstheit oder im Sinne einer Ausdifferenzierung der Arten. Diese Definition aus der Evolutionsbiologie (vgl. auch B.I.2 in dieser Arbeit)46 setzt Theißen voraus und erweitert sie um den Begriff der kulturellen Evolution. Er verwendet den Begriff der Kultur in einem weiten Sinne: Kultur liege dann vor, wenn Informationen durch Lernen erworben und tradiert würden im Unterschied zur Informationsweitergabe durch Gene in der Natur: „Tradition ist die nichtgenetische Informationsübertragung von einer Generation auf die nächste.“47 Zwar verfügten einige Tiere ebenfalls über diese Fähigkeit zur Informationsweitergabe durch Lernen, doch sei die menschliche Fähigkeit zum Lernen herausragend. Insofern denkt Theißen, wenn er von Kultur spricht, an den Menschen und menschliche Geschichte. Kulturelle Entwicklungen seien ferner deshalb als Evolution beschreibbar, weil die Prinzipien, nach denen bereits die biologische Evolution funktioniere, auch auf kulturelle Entwicklungen anwendbar seien. Aus einer Fülle an unterschiedlichen Ideen, Überzeugungen oder Verhaltensweisen, kurz: aus einer Anzahl an unterschiedlichen kulturellen Varianten, würden nicht zufällig, sondern gerichtet bestimmte Varianten ausgewählt und durch Lernen in die nächste Generation tradiert.48 Variation, Selektion und Tradierung sind nach Theißen daher sowohl in der biologischen als auch in der kulturellen Evolution wirksame Prinzipien, sodass sich von einer „Strukturverwandtschaft“49 zwischen biologischer und kultureller Evolution sprechen lasse.

46 Vgl. exemplarisch Ayala, Evolution, 8–11. Vgl. auch Mayr, Das ist Evolution, 25. 47 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 34. 48 Vgl. a.a.O. 25: Kultur setze „1. Die Entstehung von Variabilität, 2. eine Auswahl unter den Varianten und 3. deren Bewahrung voraus.“ 49 A.a.O., 35.

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Weil die kulturelle Evolution allerdings nicht durch die Tradierung von Genen, sondern durch die Tradierung von durch Lernen erworbenen Verhaltensweisen und Erkenntnissen ablaufe, spiele der Fortpflanzungserfolg von Individuen für den Verlauf der kulturellen Evolution eine geringere Rolle: Denn Verhaltensweisen könnten auch unabhängig vom Fortpflanzungserfolg des Verhaltensträgers tradiert werden. Die kulturelle Evolution verfüge somit gegenüber der biologischen Evolution über eigene Selektionsmechanismen.50 Theißen spricht deshalb auch von einer Transzendenz der Prozessformen der biologischen Evolution durch die Prozessformen kultureller Evolution und insofern von einer „Evolution der Evolution“51 . Mit dieser Beschreibung der kulturellen Evolution entspricht Theißen dem gegenwärtigen Forschungsstand (vgl. auch unter B.II.1).52 2.1.1.1 Kultur als Ineinander von Selektion und Selektionsminderung

Menschliche Kultur ist nach Theißen außerdem ein Zusammenspiel von Selektion und Selektionsminderung: Der selektionsmindernde Charakter der Kultur im Vergleich zur Natur liege zunächst darin begründet, dass der Mensch als Kulturwesen über intentionale Verhaltensweisen verfüge, durch die er seine Umwelt bewusster gestalten könne als im Rahmen der biologischen Evolution. Der Mensch gestalte seine Umwelten zudem so, dass diese im Vergleich zur biologischen Evolution mehr Lebenschancen böten, zum Beispiel durch Häuser- oder Ackerbau. Durch Werkzeuge und Technik könne er ferner besser an überlebenswichtige Ressourcen gelangen, als dies in der Natur möglich sei. Außerdem ermögliche menschliche Kultur Aufgabenteilung und Spezialisierung, sodass Menschen denjenigen Aufgabenbereich oder diejenige Tätigkeit auswählen könnten, der oder die ihren Fähigkeiten am meisten entspricht. Der Mensch könne so „durch die Konstruktion künstlicher ‚Lebensräume‘ die Chance erhöhen, daß jeder Mensch eine für seine Anlagen und Interessen ‚angepaßte‘ Lebenswelt findet“.53 Darüber hinaus könne der Mensch bewusst einen „sozialen Ausgleich“54 zwischen ungleichartigen Individuen schaffen, indem er denjenigen helfe, die weniger Lebensmöglichkeiten als andere hätten.55 Neben diesen selektionsmindernden Tendenzen komme es in menschlicher Kultur zugleich aber weiterhin zu Selektionsprozessen: Selektion erfolge einmal auf der Ebene der Auswahl von Verhaltensweisen oder von erlernten Einsichten

50 Ebd. 51 A.a.O., 35. 52 Vgl. ähnlich wie Theißen: Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 178. Vgl. auch Campbell, Social Change, 27. Vgl. auch Mesoudi, Cultural Evolution, 36. 53 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 31. 54 A.a.O., 70. 55 Vgl. a.a.O., 71.

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(„weiche Selektion“) und zum anderen käme es auch in der Kultur zu tödlichen Selektionsprozessen („harte Selektion“).56 Weiche Selektion meine, dass der Mensch durch seine Lernfähigkeit Anpassung durch Verhaltensänderung herbeiführen könne. Nicht der Mensch selbst müsse sterben (harte Selektion), sondern bestimmte „Verhaltensmuster“57 und bestimmte Überzeugungen müssten aufgegeben werden. Der Grund für eine solche notwendige Anpassung sei, dass auch die menschliche Kultur genau wie die nicht-menschliche Natur dem Druck unterliege, sich an eine vorgegebene Realität anzupassen.58 Theißen formuliert, dass auch die menschliche Kultur als Ganzes dem Selektionsdruck der Realität unterliegt. Menschliches Lernen durch erinnerte, wahrgenommene oder antizipierte Verstärkung ist nur erfolgreich, wenn es zu angemessenen Reaktionen auf die Gesamtwirklichkeit mit all ihren Bedingungen führt. Die kulturellen Verstärkungssysteme sind selbst nur Anpassungsformen an die außermenschliche Realität.59

Die harte Selektion im Rahmen der kulturellen Evolution geschehe auf zweifache Weise: Erstens beruhe die kulturelle Evolution auf der Lernfähigkeit von Menschen. Menschen mit einer geringeren Lernfähigkeit hätten folglich in menschlicher Kultur eine geringere Überlebenschance. Kultur übe so selbst einen harten Selektionsdruck aus hin zu einer erhöhten Lernfähigkeit.60 Zweitens ermögliche es diese kulturelle Lernfähigkeit, z. B. durch Waffenherstellung harte Selektion zu betreiben und mehr Menschenleben auszulöschen, als es im Rahmen der biologischen Evolution möglich gewesen sei. Kultur schaffe so selbst

56 Vgl. a.a.O., 32. 57 A.a.O.33. Theißen bezieht sich in diesem Zusammenhang zustimmend auf eine von Karl Raimund Popper geäußerte These, wonach im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisse falsche Hypothesen ‚aussterben‘, stattdass, wie in der biologischen Evolution, unangepasstes Leben ausstirbt: „Während also das tierische und das vorwissenschaftliche Wissen hauptsächlich dadurch wächst, daß diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst augemerzt werden, läßt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden.“ (Karl Raimund Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 2 1974, 289; vgl. auch Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 33 (Anm. 14)). 58 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 70: „Der Mensch unterliegt auch bei ‚weicher‘ Selektion dem Selektionsdruck der Wirklichkeit. Er muß bestimmte Ideen und Verhaltensweisen ‚prämieren‘, so daß deren Verbreitungswahrscheinlichkeit größer ist als die anderer Ideen und Verhaltensweisen. Er muß seine Ideen und Leistungen einer harten Konkurrenz aussetzen, so daß er Kultur als zermürbenden Selektionsdruck erfahren kann.“ 59 A.a.O., 33. 60 Vgl. a.a.O., 32: „Fehlende Kulturfähigkeit aber unterwirft uns wieder den Gesetzen harter Selektion.“

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durch ihre im Vergleich zur biologischenEvolutionverstärkte Fähigkeit, gestaltend auf Umwelten einzuwirken, neue Selektion: „Die eigene Kultur wird für den Menschen zur Bedrohung, hinter der die nach wie vor existierenden Bedrohungen aus der natürlichen Umwelt zurückzutreten scheinen.“61 Kritisch muss allerdings angemerkt werden, dass Theißen nicht erklärt, welche Selektionsprozesse er als notwendige Anpassungen an eine vorgegebene Realität versteht und welche Selektionsprozesse er als Ausdruck menschlicher Gewalt versteht. Wann sind Selektionsprozesse als Folge einer unzureichenden Anpassung an die von Theißen postulierte Gesamtwirklichkeit ‚notwendig‘ und wann sind Selektionsprozesse lediglich Ausdruck kontingenter kultureller Setzung und könnten daher auch ganz anders ausfallen? Theißens Argumentation ist hier nicht eindeutig (vgl. auch unter C.III.2.1.3.1). 2.1.1.2 Theißens Verwendung der evolutionären Erkenntnistheorie für den Bereich der Natur und der Kultur

Theißens Annahme, dass auch kulturelle Erzeugnisse dem Selektionsdruck einer äußeren Wirklichkeit unterliegen, ist für seine Verhältnisbestimmung von christlichem Glauben und Evolution zentral. Denn der christliche Glaube stelle als kulturelles Erzeugnis eine Form der Anpassung an eine vorgegebene Wirklichkeit dar. Diese These begründet Theißen unter Rekurs auf die evolutionäre Erkenntnistheorie.62 Er rekurriert dabei auf Gedanken des Philosophen Gerhard Vollmer und des Evolutionsbiologen Konrad Lorenz, transformiert diese Gedanken aber unter Aufnahme von Thesen des Philosophen Karl R. Popper. Vollmer und Lorenz hatten in den 70er Jahren die evolutionäre Erkenntnistheorie entwickelt, welche annimmt, dass der menschliche Erkenntnisapparat in einem evolutionären Prozess von Mutation und Selektion in Anpassung an eine beobachterunabhängig gegebene Wirklichkeit entstanden ist. Da die Selektion nur das bewahre, was nützlich zum Überleben ist, sei davon auszugehen, dass der menschliche Erkenntnisapparat Wirklichkeit präzise genug erfasse, um Überleben zu ermöglichen. Menschliches Erkennen sei daher keine von der gegebenen Wirklichkeit unabhängige Konstruktion, sondern enthalte realistische Informationen über eine „äußere Wirklichkeit“63 . Es gebe – so zeige die evolutionäre Erkenntnistheorie – eine Korrelation zwischen den Phänomenen, wie sie dem Betrachter erschienen, und der Wirklichkeit ‚an sich’, wenngleich die Phänomene mit der Wirklichkeit ‚an sich’ nicht deckungsgleich seien. Die noch von Immanul Kant

61 Ebd. 62 Vgl. a.a.O., 23. 63 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 18.

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angenommene Unkenntnis des Dings ‚an sich’ wird von Vollmer und Lorenz also unter Verweis auf die Evolutionstheorie revidiert. Diese erkenntnistheoretische Haltung entspringt dem Wissen, daß unser Erkenntnisapparat selbst ein Ding der realen Wirklichkeit ist, das in „Auseinandersetzung mit“ und in „Anpassung an“ ebenso wirkliche Dinge seine gegenwärtige Form erhalten hat. Auf dieses Wissen gründet sich unsere Überzeugung, daß allem, was unser Erkenntnisapparat uns über die äußere Wirklichkeit mitteilt, etwas Wirkliches entspricht. Die „Brillen“ unserer Denk- und Anschauungsformen, wie Kausalität, Substantialität, Raum und Zeit, sind Funktionen einer neurosensorischen Organisation, die im Dienste der Arterhaltung entstanden ist.64

Die evolutionäre Erkenntnistheorie lässt sich nach Vollmer und Lorenz allerdings nur auf solche Gegenstände und Bereiche anwenden, die mit dem Überleben und der Fortpflanzung zu tun haben. Sie bezieht sich also auf funktionales Erkennen in einem genau abgegrenzten Bereich.65 Jenseits des Bereichs, der das unmittelbare Überleben und die Fortpflanzung betrifft, treffen Lorenz und Vollmer jedoch keine Aussagen über die Beschaffenheit der angenommenen äußeren Wirklichkeit. Theißen appliziert die evolutionäre Erkenntnistheorie unter Verweis auf Karl R. Popper66 hingegen recht kühn auch auf Erzeugnisse der menschlichen Kultur: Auch diese seien in einem evolutionären Prozess entstanden, sodass davon auszugehen sei, dass zum Beispiel Wissenschaft und Religion wahre Informationen über die Beschaffenheit einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit enthielten.

64 Ebd. 65 Vgl. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 214: „Die Evolutionäre Erkenntnistheorie jedenfalls, die in diesem Buch entwickelt wird, ist vorwiegend biologisch orientiert, behandelt also vor allem die Evolution der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Sie bezieht dabei, im Gegensatz etwa zu Popper, einen ausgesprochen naturalistischen Standpunkt.“ 66 Vgl. dazu Karl Raimund Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 2 1974, 289. Karl Popper entwickelt hier eine „darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts“ (ebd.). Genau wie bei Tieren in der biologischen Evolution gehe es auch in der Wissenschaft um das Lösen von Problemen. Wissenschaftliche Hypothesen, die im Vergleich mit anderen Hypothesen Probleme besser lösten, würden tradiert, andere Hypothesen stürben aus. Auf diese Weise komme es zu einem „Erkenntnisfortschritt“ (ebd.) bezüglich der Beschaffenheit einer beobachterunabhängig existierenden Wirklichkeit. Theißen verweist in Form eines direkten Zitats Poppers auf diese Annahme (vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 33 (Anm. 14)), weitet Poppers These dann aber auch auf Religion und Kunst aus, freilich ohne darzustellen, inwiefern diese Ausweitung durch Popper selbst gedeckt ist. Religion, Wissenschaft und Kunst beziehen sich nach Theißen alle auf dieselbe vorgegebene Wirklichkeit und stellen unterschiedliche Formen der „Auseinandersetzung“ (a.a.O., 24) mit ihr dar.

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Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

So wie sich das Leben in der biologischen Evolution durch Mutation und Selektion zu immer neuen Anpassungsformen an die Realität entwickelt hat, so hat auch die Kultur verschiedene Anpassungsformen an die Grundbedingungen der Realität entwickelt – wie Wissenschaft [...] und Religion. Nur wenn diese sich komplementär ergänzen, werden sie dem Reichtum der Wirklichkeit gerecht. Jede von ihnen ist eine eigenständige Form der Auseinandersetzung mit ihr.67

Theißen argumentiert so dahingehend, dass religiöse Überzeugungen Wirklichkeit nicht willkürlich konstruieren oder fingieren. Vielmehr bilde Religion, weil sie eine gelungene evolutionäre Anpassung sei, bestimmte Aspekte der Wirklichkeit relativ zutreffend ab. Theißen vertritt mithin unter Verweis auf die evolutionäre Erkenntnistheorie einen kritischen Realismus für religiöse Aussagen.68 Insofern hat nach Theißen zum Beispiel die religiöse Rede von Gott einen realistischen Gehalt; sie ist keine Fiktion oder bloße Konstruktion.

67 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 24. Die Annahme, dass Wirklichkeit nicht nur nur durch naturwissenschaftliche Perspektiven erschlossen werden kann, wird auch durch andere Theologen vertreten, sodass Theißens Position als theologisch anschlussfähig gelten kann: Beispielsweise unterscheidet Dirk Evers zwischen drei Hinsichten, Wirklichkeit zu verstehen, wobei sich diese drei Hinsichten wechselseitig ergänzen könnten (vgl. Evers, Wirklichkeit – „Was der Fall“ ist, 93). Er unterscheidet zwischen einer Dimension von Wirklichkeit, die durch naturwissenschaftliches Forschen erkannt werden könne, einer zweiten Dimension von Wirklichkeit, „aus der heraus wir existieren“ (a.a.O., 98), und einer dritten Dimension von Wirklichkeit, die es mit der Erschließung von Möglichkeiten zu tun habe, die verwirklicht, aber auch verwirkt werden könnten (vgl. a.a.O., 101). Gerade die Theologie habe es vor allem mit dieser dritten Dimension von Wirklichkeit zu tun, denn der Glaube sei das Vertrauen darauf, „dass das Wirkliche nicht der schlechthin abgeschlossene Raum des Faktischen ist, sondern auf das provozierende Du Gottes bezogen ist“ (a.a.O., 106). Ferner betont auch Wolfgang Schoberth, dass naturwissenschaftliche Perspektiven auf Wirklichkeit aufgrund ihrer Methode und ihres Erkenntnisinteresses überhaupt nur bestimmte Ausschnitte von Wirklichkeit wahrnehmen könnten und dass theologische Perspektiven demgegenüber andere Aspekte der Wirklichkeit erschlössen (vgl. Schoberth, Das Universum und die Welt, in der wir leben, 352). Vgl. ähnlich auch Mutschler, Die Welterklärung der Physik und die Lebenswelt des Menschen, 45: „Gefährlich wird es, wenn man die Welt auf physikalische Inhalte reduziert und glaubt, dasjenige existiere nicht, was sich nicht durch eine physikalische Formel ausdrücken läßt.“ 68 Vgl. auch die Einschätzung der erkenntnistheoretischen Position Theißens durch Wentzel van Huyssteen, Evolution, knowledge and Christian faith, 20, laut der Theißen einen „kritischen Realismus“ (critical realism) für religiöse Aussagen vertritt. Diesen kritischen Realismus stütze Theißen, indem er religiöse Aussage als Anpassung an Wirklichkeit verstehe; ein Denkversuch, mit dem van Huyssteen grundsätzlich sympathisiert: „I would add that not only scientific knowledge but indeed also theological reflection could be viewed as ‚forms of adaptation‘ to reality“ (a.a.O., 19).

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2.1.2

Theißens Bestimmung von Gott als Ziel evolutionärer Anpassung

Seine These, dass der religiösen Rede von Gott ein realistischer Gehalt zukommt, konkretisiert Theißen im Folgenden. Denn er setzt die Größe „Gott“ mit dem von ihm verwendeten Begriff der „Realität“ oder „Gesamtwirklichkeit“69 als Ziel evolutionärer Anpassung ineins. Was aber ist jene geheimnisvolle letzte Wirklichkeit, auf die hin alle unsere organischen, intellektuellen und religiösen Strukturen Anpassungsversuche entwerfen? Die religiöse Tradition kennt nur einen angemessenen Begriff für sie: Gott. Er ist das unbekannte Woraufhin aller Anpassungsversuche. Alle organischen, intellektuellen, sozialen, religiösen, ästhetischen Strukturen sind Hypothesen, um jene letzte Wirklichkeit unter irgendeinem Aspekt abzubilden, ihr zu entsprechen und ihr gerecht zu werden.70

Die Größe Gott wird in Theißens Interpretation der Evolutionstheorie daher zum integralen Bestandteil der Evolutionstheorie selbst. Doch ist das Verständnis Gottes als einer Gesamtwirklichkeit, an die im Laufe der Evolution Anpassung erfolgt, bereits aus theologischer Sicht keineswegs so selbstverständlich oder selbstevident, wie es in Theißens Darstellung scheint. Theißen verweist selbst darauf, dass seine Konzeption von Gott als Gesamtwirklichkeit und Ziel der Evolutionsgeschichte von einer ganz bestimmten theologischen Konzeption, nämlich Wolfhart Pannenbergs Konzeption der Offenbarung als Universalgeschichte, inspiriert ist. Pannenberg, der Gott als „alles bestimmende[...] Wirklichkeit“71 definiert, geht von einer „indirekten Selbstoffenbarung Gottes im Spiegel seines Geschichtshandelns“72 aus und stellt die These auf, dass sich Gott im Verlauf der Universalgeschichte offenbart, wenngleich Gottes Wesen und Wille erst am Ende der Universalgeschichte für alle zweifelsfrei erkennbar wird. An dieses Verständnis von Offenbarung im und durch den Prozess der Geschichte schließt Theißen nach eigenen Angaben an, wenn er die Evolution in Natur und Kultur als einen fortschreitenden Prozess der Anpassung an Gott versteht.73 Das Konzept der Anpassung an eine Gesamtwirklichkeit wird im gegenwärtigen Forschungsstand zur Evolutionstheorie jedoch überhaupt nicht vertreten.74 Des-

69 70 71 72 73

Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 33. A.a.O., 46. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 302. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, 16. Vgl. Theißen, Glaubenssätze (Anm. 33), 44. „Mein Versuch, den christlichen Glauben evolutionär zu deuten, ist durch die universalgeschichtliche Hermeneutik von Wolfhart Pannenberg (geb. 1928) inspiriert, die allerdings auf die Geschichte der Natur ausgeweitet wird.“ 74 Vgl. Lüke, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 127.

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halb versucht Theißen, dieses Konzept zu plausibilisieren, indem er auf Beispiele in der Evolution hinweist, die nahelegten, dass es eine einheitliche Wirklichkeit gebe, auf die die Evolution zulaufe: Im Laufe der Evolution sei es beispielsweise immer wieder zur Entwicklung stabiler Konfigurationen gekommen. Diese Entwicklung begegne in der Verbindung von Atomen zu Molekülen, von Molekülen zu Molekülketten, über sich selbst reproduzierende Polymere bis hin zum Menschen, der nach „dauerhaften Organisationsformen von Materie, Leben und Gesellschaft“75 suche. In der Entwicklung stabiler Konfigurationen zeigten alle Organismen mithin eine gemeinsame Tendenz zur Komplexitätssteigerung auf, sodass dieser Umstand die Existenz einer „geheimnisvolle[n] Wirklichkeit an sich“76 nahelege. Theißen weist also auf konvergente Entwicklungen in der Evolution hin, um sein Konzept der evolutionären Anpassung an eine vorgängige, einheitliche Wirklichkeit zu plausibilisieren.77 2.1.2.1 Gott als natürliche Selektion und als unbedingte Variationstoleranz?

Theißen nimmt in seiner Beschreibung Gottes mithilfe evolutionstheoretischer Überlegungen erstens an, dass es eine „verborgene zentrale Wirklichkeit“78 gibt, an die im Laufe der Evolution Anpassung erfolge. Zweitens nimmt Theißen an, dass diese evolutionär beschreibbare Wirklichkeit theologisch mit dem gemeint sei, was durch den Begriff ‚Gott‘ bezeichnet werde: Für diese Wirklichkeit gebe es kein besseres Wort als ‚Gott‘ […], den alten Namen für die unbekannte Größe hinter all unseren Resonanz- und Absurditätserfahrungen, das Woraufhin aller Anpassungsstrukturen und den Ursprung selektiven Drucks.79

In dieser Beschreibung Gottes als Ursprung von Selektionsdruck greift Theißen auf einen ähnlich lautenden Gedankengang des amerikanischen Theologen und Meteorologen Ralph W. Burhoe zurück.80 Burhoe beschreibt Gott als Wirklichkeit, an die im Laufe der Evolution Anpassung erfolgt: Weil die Evolution wiederum

75 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 43. 76 A.a.O., 44. 77 Der Paläontologe Simon Conway Morris spricht ähnlich wie Theißen davon, dass Arten, die unabhängig voneinander evolvieren, doch überraschende Strukturanalogien aufweisen (konvergente Evolution), z. B. im anatomischen Bauplan. Diese Strukturanalogien seien auf funktionale Sachzwänge in der Natur zurückzuführen, die dazu führten, dass sich bestimmte anatomische Baupläne immer wieder bei unterschiedlichen Lebewesen in der Evolution durchsetzten (vgl. Conway Morris, Life‘s Solution, 122.125). 78 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 52. 79 Ebd. 80 Vgl. Theißen, Glaubenssätze (Anm. 33), 44.

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durch das Aussterben von dysfunktionalem Leben erfolgt, schlussfolgert Burhoe, dass Gott durch die natürliche Selektion wirkt. The scientific pictures join the religious myths in saying that the same system of reality and power that created the earth and life upon it also created, sustains, and judges human life, including our religions. It makes little difference whether we name it natural selection or God, so long as we recognize it as that to which we must bow our heads and adapt.81

Ähnlich wie Burhoe verwendet auch Theißen einen Begriff aus dem Wortfeld ‚richten‘, um zu beschreiben, dass Gott nicht alle Lebensformen und Lebensäußerungen gelten lässt: Hinter den verschiedenen Formen des Realitätsdrucks, hinter Selektionsdruck (im engeren Sinne), geschichtlichen Katastrophen, Identitätskrisen und der Falsifikation unserer Hypothesen, steht letztlich dieselbe zentrale Wirklichkeit, die menschlichem Eigenwillen und allem Leben Grenzen setzt, die eine harte Erziehung zur Realität aufnötigt und oft grausam und unerbittlich verfährt. […] Diese letzte Realität ist ‚Richter‘ über alle hypothetischen Entwürfe des evolutionären Prozesses, Richter über alle Organismen, Handlungen, Worte und Gedanken.82

In anderen Passagen widerspricht Theißen seiner hier geäußerten Theorie jedoch zugleich wieder, wenn er sagt: „Gott ist nicht Selektion, er verbirgt sich in ihr als deus absconditus.“83 Die Gesamtwirklichkeit sei nur scheinbar durch Selektionsdruck charakterisiert; in Wirklichkeit sei sie „unbedingte[…] Variationstoleranz“84 . Wie begründet Theißen diese These von der unbedingten Variationstoleranz der Gesamtwirklichkeit und wie gelangt er zu dieser widersprüchlichen Verhältnisbestimmung? 2.1.2.2 Die Verringerung der harten Selektion im Rahmen der kulturellen Evolution als Verweis auf die Variationstoleranz Gottes

Die kulturelle Evolution ist nach Theißen im Vergleich zur biologischenEvolution durch eine Minderung des natürlichen Selektionsdrucks gekennzeichnet. Diese Selektionsminderung durch die kulturelle Evolution interpretiert Theißen als Ausdruck dessen, dass sich eine vorgegebene Wirklichkeit im Laufe der Evolution als

81 82 83 84

Burhoe, Toward a Scientific Theology, 21. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 50. Theißen, Glaubenssätze (Anm. 33), 44 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 158.

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immer variationstoleranter erschließt. Verlängere man diese Entwicklung in die Zukunft, werde sich Wirklichkeit als unbedingt variationstolerant zeigen: Wenn sich ihm [dem Menschen] die zentrale Wirklichkeit ganz enthüllte, dann wird sie sich als eine Wirklichkeit offenbaren, welche eine unbedingte Variationstoleranz hat, angesichts der alle Menschen gleich wert sind. Die Öffnung für diese umfassendere Wirklichkeit ist Religion. Die These dieses Buchs lautet: Wenn Kultur generell ein selektionsmindernder Prozeß ist, so ist die Religion das Herz menschlicher Kultur. Sie ist ein Aufstand gegen das Selektionsprinzip.85

Indem die kulturelle Evolution über die biologische Evolution hinausgehend das Selektionsprinzip unterwandere, entspreche sie schon jetzt der zentralen Wirklichkeit und weise auf eine „Tendenz“86 der Evolution hin: das Ende von tödlichen Selektionsprozessen.87 Die Reduktion der natürlichen Selektion stelle dann selbst eine gelungene Anpassung an die Gesamtwirklichkeit dar: Die zentrale Wirklichkeit wird letztlich nur solche Anpassungsversuche menschlicher Lebensformen zulassen, in denen die Deklassierten Kriterium menschlichen Zusammenlebens sind. Die Haltung zu ihnen wäre dann nicht nur eine Frage unserer Humanität, sondern der Verträglichkeit von Gesellschaft und Leben mit dem, was aller Wirklichkeit seine Struktur gegeben hat: mit Gott.88

Insofern wird der Selektionsdruck in der kulturellen Evolution nach Theißen nicht völlig abgeschafft, wohl aber wird er so verlagert, dass es einen ‚weichen’ Selektionsdruck hin zu einem moralischen „Verhalten“89 gibt: Gut angepasst ist derjenige, der Selektion reduziert. Die weiche Selektion im Rahmen der kulturellen Evolution betreffe außerdem nicht nur den Bereich des moralischen Verhaltens. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse unterlägen einer weichen Selektion, wobei diejenigen Erkenntnisse, die Wirklichkeit angemessener beschrieben als andere, erhalten würden.90 Theißens widersprüchliche Verhältnisbestimmung, wonach Gott einerseits unbedingte Variationstoleranz und andererseits Ursprung selektiven Drucks ist, ist mithin darauf zurückzuführen, dass Theißen methodisch einerseits den Ansatz

85 86 87 88 89 90

A.a.O., 71. A.a.O., 207. Vgl. a.a.O., 110. A.a.O., 155. Ebd. Vgl. a.a.O., 51f.

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einer natürlichen Theologie verfolgt, aus der Verfasstheit und den Ordnungen der Welt auf Gott selbst zu schließen. Da die Evolution faktisch immer auch durch Selektion verläuft, ordnet Theißen Selektionsprozesse der Wirklichkeit Gottes zu. Andererseits definiert Theißen Gott kontrafaktisch zu stattfindender Selektion als unbedingte Variationstoleranz. Eine solche Bestimmung Gottes ist nicht eindeutig aus dem Verlauf von Natur- und Kulturgeschichte abzulesen, da in beiden Bereichen Leben zumindest partiell auf Kosten anderen Lebens lebt, ja „Missbildungen, Fehlentwicklungen und Tod die Voraussetzung für die Lebensfähigkeit der verbleibenden Lebewesen“91 sind. Bei der Betonung der unbedingten Variationstoleranz Gottes steht daher keine natürliche Theologie, sondern vielmehr Theißens christlicher Glaube an den Gott der Liebe, der das Leben seiner Geschöpfe will, Pate.92 Von dieser theologischen Überzeugung herkommend verortet Theißen die partielle Selektionsminderung bzw. die Umwandlung von harter zu weicher Selektion im Rahmen der kulturellen Evolution als Verweis auf Gottes lebensfreundliche Wirklichkeit als Ziel evolutionärer Anpassung. 2.1.3

Schwierigkeiten der Rede von Gott als Ziel evolutionärer Anpassung

Daher lässt sich unter Zuhilfenahme eines Terminus des Physikers und Theologen Ian G. Barbour feststellen, dass Theißens Entwurf eine „Integration“93 von evolutionstheoretischen und theologischen Perspektiven darstellt, wobei theologische und evolutionstheoretische Perspektiven wechselseitig aufeinander bezogen werden: Zum einen wird die Evolution von Theißen theologisch so interpretiert, dass Gott das Ziel aller evolutionären Anpassung ist. Zum anderen übersetzt Theißen die theologische Überzeugung, dass Gott Liebe ist, evolutionstheoretisch in dem Sinn, dass Variationstoleranz und Selektionsminderung das heimliche Ziel der Evolution darstellen. Die Evolutionstheorie und der christliche Glaube werden so „in einer umfassenden Metaphysik zusammengeführt.“94 Dieser Versuch Theißens, Gott als Element in die Evolution selbst einzutragen, ist jedoch aus evolutionstheoretischen, methodischen und theologischen Gründen problematisch. Im Folgenden soll daher eine Kritik der Position Theißens vorgenommen werden und zugleich dahingehend argumentiert werden, dass die Größe Gott nicht aus der Evolution selbst abgeleitet werden kann, dass der christliche Glaube an Gott aber umgekehrt dazu dienen kann, das Verhalten des Menschen

91 Körtner, Schöpfung, Kosmologie und Evolution, 81. 92 Markus Mühling interpretiert daher zu Recht, dass Theißens evolutionstheoretische Perspektiven von ganz bestimmten „theologischen [...] [und] konzeptionellen Entscheidungen“ (Mühling, Resonanzen, 250) abhängig sind, die Theißen in die Evolution einträgt. 93 Barbour, Wissenschaft und Glaube, 147. 94 Ebd.

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in der Evolution zu orientieren. Der christliche Glaube enthält in diesem Sinne lebensdienliches „Orientierungswissen“95 . 2.1.3.1 Evolutionstheoretische Einwände gegen die Annahme einer Gesamtwirklichkeit als Ziel evolutionärer Anpassung

Die Unschärfe in Theißens Überlegung liegt erstens darin, dass er den Prozess der evolutionären Veränderung mit einer fortschreitenden Anpassung an eine Gesamtwirklichkeit gleichsetzt. Die biologische ebenso wie die kulturelle Evolutionstheorie kennen jedoch methodisch und inhaltlich keine Gesamtwirklichkeit. Vielmehr untersuchen sie nur, wie Anpassung an konkrete lokale Umwelten geschieht, ohne dass diese Umwelten noch einmal in das Konzept einer umfassenderen Wirklichkeit eingebettet würden.96 Umwelten sind zudem nicht für alle gleich, sondern unterschiedliche Arten haben je unterschiedliche Umwelten, wie der Evolutionsbiologe Jan Zrzavy bemerkt: „Eine Maus konkurriert vielleicht mit einem Sperling um ein paar Körner, aber bestimmt konkurriert sie mit einer anderen Maus um vieles mehr“.97 In einer ähnlichen Weise betont auch der Evolutionsbiologe Veiko Krauß die Abhängigkeit der Selektionskriterien von der jeweiligen konkreten Umwelt: „[Der] Phänotyp des einzelnen Organismus wird in seiner konkreten Umwelt [...] einen mehr oder weniger großen, vielleicht auch gar keinen Fortpflanzungserfolg haben. Erst dieser Erfolg oder Misserfolg ist die Selektion.“98 Insofern fällt der evolutionstheoretische Begriff der unterschiedlichen lokalen Umwelten gerade nicht mit Theißens Konzept einer universellen und unveränderlichen Gesamtwirklichkeit als Ziel evolutionärer Anpassung zusammen. Zweitens nimmt das evolutionstheoretische Konzept der Anpassung im Jahr 1984, als Theißen seinen Entwurf vorlegt, in der Evolutionsforschung eine sehr dominante Stellung ein.99 Die neuere Evolutionsforschung betont demgegenüber jedoch stärker, dass nicht alle phänotypischen Merkmale eines Lebewesens als Anpassungen verstanden werden müssen, sondern zum Beispiel auch als Nebenprodukt (by-product) eines anderen Merkmals, das wiederum Anpassungswert hat, auftreten können.100 Bereits in der Natur lassen sich also nicht alle Eigenschaften

95 Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 349. 96 Vgl. auch die meines Erachtens berechtigte Kritik von Ulrich Lüke, der darauf hinweist, dass es laut der Evolutionsbiologie hinter den konkreten Umwelten gar keine Gesamtwirklichkeit gibt, sondern die jeweilige Umwelt die Bedingungen setzt, an die Anpassung erfolgt (vgl. Lüke, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 127). 97 Zrzavy, Evolution, 80. 98 Krauß, Gene, Zufalle, Selektion, 24. 99 Vgl. dazu Bowler, Evolution, 362. Vgl. auch Sumser, Evolution der Ethik, 28. 100 Vgl. Gould, Spandrels of San Marco, 581–598. Vgl. auch Bowler, Evolution, 363.

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oder Verhaltensweisen von Lebewesen als evolutionäre Anpassung beschreiben, umso mehr gilt dies auch für menschliche Kultur. Drittens wird in der neueren Forschung zur Evolution die Fähigkeit der Lebewesen zur Nischenkonstruktion betont (vgl. auch B.I.4 in dieser Arbeit). Diese Theorie geht davon aus, dass Lebewesen durch ihr Handeln schon immer ihre Umwelten mitgestalten – ob bewusst oder unbewusst. Eine Umwelt ist mithin nichts Statisches oder Unveränderliches, wie der Evolutionsbiologe F. John Odling-Smee herausgearbeitet hat. Indem Lebewesen ihre Umwelten mitgestalten, verändern sie zugleich den Selektionsdruck, dem sie ausgesetzt sind. However, organisms also interact with environments, take energy and resources from environments, make micro- and macrohabitat choices with respect to environments, construct artifacts, emit detritus and die in environments, and by doing all these things, modify at least some of the natural selection pressures present in their own, and in each other’s local environments.101

Als Beispiel für eine solche Nischenkonstruktion nennt Odling-Smee den Regenwurm. Dieser gräbt sich durch die Erde und gibt dabei Ausscheidungen frei, die organischen Kohlenstoff, Stickstoff und Polysaccharide enthalten. Durch diese Ausscheidungen können pflanzliche Nährstoffe besser recycled werden und Pflanzen besser wachsen. Die Aktivität des Regenwurms hat also Einfluss auf den Selektionsdruck, dem Pflanzen unterliegen.102 Mithilfe des Paradigmas der Nischenkonstruktion wird daher ein einseitiges Verständnis von Evolution als Anpassung an vorgegebene Umwelten kritisiert. Evolutionäre Umwelten sind einerseits vorgegeben und werden andererseits durch die Lebewesen selbst mithervorgebracht. Viertens enthalten nach Theißen unterschiedliche kulturelle Erzeugnisse – wie zum Beispiel Wissenschaft und Religion – wahre Informationen über eine externe Wirklichkeit. Diese These entwickelt Theißen unter Rekurs auf die evolutionäre Erkenntnistheorie in ihrer Interpretation durch Karl R. Popper: Demnach sind auch kulturelle Erzeugnisse – wie Wissenschaft und Religion – als evolutionäre Anpassungen zu verstehen, die Informationen über eine vorgängige Wirklichkeit enthalten. Gegen diese These muss jedoch eingewandt werden, dass die Kriterien, die über den Erfolg eines kulturellen Erzeugnisses entscheiden, kontextabhängig sind und sich nicht zwangsläufig am Kriterium der Wahrheit oder Wirklichkeitsgemäßheit orientieren müssen. Vielmehr können kulturelle Erzeugnisse auch deshalb tradiert werden, weil sie ihren Trägern Macht verschaffen, weil sie ästhetisch ansprechend sind oder in irgendeiner Art und Weise nützlich sind, wobei Nutzen

101 Odling-Smee, Niche-construction, 1. 102 Vgl. a.a.O., 11.

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nicht einfach mit Wahrheit oder Wirklichkeitsgemäßheit gleichzusetzen ist. Der Philosoph Gerhard Schurz bemerkt in diesem Sinne: Was für die Beibehaltung eines Mems [einer kulturellen Information] wichtig ist, hängt nämlich völlig vom kulturellen Kontext bzw. Bereich ab. Man kann nicht allgemein sagen, jene Meme setzen sich durch, die eher der Wahrheit dienen, oder aber eher der Illusion, der Macht oder der Schönheit, ohne den Kontext bzw. den Bereich zu spezifizieren.103

In eine ähnliche Stoßrichtung geht die vom Religionsphilosophen Willem B. Drees geäußerte Kritik an Theißens These, dass kulturelle Ideen oder Verhaltensweisen eine Anpassung an eine vorgegebene Wirklichkeit darstellen. Die Funktionalität eines Verhaltens oder einer Überzeugung in einem bestimmten kulturellen Kontext sagt laut Drees nämlich nichts über ihren Wahrheitsgehalt im Sinne einer ontologischen Übereinstimmung mit einer äußeren Wirklichkeit aus. Theissen moves from observations about beliefs which were functional in specific contexts, [...] to an ontological claim with universal scope about the tolerance for variation exhibited by the ultimate or central reality. However, evolutionary theory always considers adaptation with respect to actual environments, local realities.104

Drees ist darin zuzustimmen, dass sich vom evolutionären Nutzen eines Verhaltens oder einer Überzeugung nicht zwingend auf die Wahrheit dieser Überzeugung schließen lässt. Zum Beispiel kann der Glaube an Gott evolutionär vorteilhaft sein, weil er Gemeinschaft zwischen Menschen stiftet und dadurch Kooperation ermöglicht, sodass Überleben ermöglicht wird. Damit ist jedoch noch nicht zwangsläufig etwas über die Wahrheit dieses Glaubens ausgesagt. Der von Theißen angenommene Zusammenhang zwischen der evolutionären Funktionalität einer Überzeugung und der Beschaffenheit einer äußeren Wirklichkeit ist daher nicht automatisch gegeben. Zudem stellt sich die Frage, ob es aus evolutionstheoretischer Perspektive überhaupt eine vorgegebene, unveränderliche Wirklichkeit gibt, oder ob Wirklichkeit nicht immer schon durch Lebewesen mitgestaltet wird, wie es das evolutionstheoretische Konzept der Nischenkonstruktion selbst nahelegt. Insofern bleibt Theißens Ineinssetzung von evolutionärer Funktionalität mit Wahrheit bzw. von evolutionärer Anpassung mit Wirklichkeitsgemäßheit zumindest erläuterungsbedürftig.

103 Schurz, Evolution in Natur und Kultur, 230. 104 Drees, Religion, Science and Naturalism, 225.

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2.1.3.2 Methodischer Einwand gegen die Annahme einer Gesamtwirklichkeit als Ziel evolutionärer Anpassung

Ferner lässt sich gegen Theißens Ansatz, Gott als Ziel evolutionärer Anpassung zu begreifen, ein methodischer Einwand erheben. Die Überlegungen des Theologen Christian Link zum Verhältnis von naturwissenschaftlichen und theologischen Aussagen sind hier, exemplarisch für viele andere, weiterführend: Link argumentiert dahingehend, dass die Naturwissenschaften methodisch keine Aussagen treffen können, die sich nicht auf empirisch untersuchbare Vorgänge beziehen: „Naturwissenschaftliche Erklärungen sind richtig für den, der von ihnen erwartet, was sie bieten können: ein modellhaftes, auf Widerruf erstelltes Bild physikalischer Abläufe.“105 Naturwissenschaften lieferten „ein mathematisch beschreibbares, in bestimmten Grenzen ‚verifizierbares‘ Bild der Welt“.106 Weltanschauliche Fragen nach Sinn oder persönlicher Lebensorientierung, aber auch die Frage nach einer die empirischen Phänomene umgreifenden Gesamtdeutung der Wirklichkeit lägen außerhalb ihrer Methode. Aufgrund dieser methodischen Selbstbeschränkung der Naturwissenschaften lasse sich keine Naturwissenschaft und Theologie verbindende Metaphysik begründen: Das „Band, das die wissenschaftlich erkennbare Natur an einen göttlichen Ursprung binden könnte, [ist] methodisch durchschnitten“107 . Ähnlich bemerkt auch Ulrich Körtner, dass der Glaube an Gott auf einer „eigenen, von der naturwissenschaftlichen Empirie unterschiedenen“108 Ebene liegt. Es handle sich beim Glauben um eine „elementare Gewissheit“109 , die nicht aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableitbar sei. Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich festhalten, dass sich solche Größen, die nicht empirisch benannt oder untersucht werden können, nicht aus der Evolutionstheorie als einer naturwissenschaftlichen Theorie ableiten lassen können. 2.1.3.3 Einwände gegen den Fortschrittsgedanken

Schließlich trägt Theißen mit seiner Annahme der erfolgreicheren Selektionsminderung im Laufe der Evolution einen Fortschrittsgedanken in die Evolution ein. Er ist der Meinung, dass die evolutionäre Anpassung an eine variationstoleran-

105 Link, Wahrnehmung der Natur als Schöpfung, 59. 106 Link, eine Wirklichkeit – zwei Welten, 66. Vgl. auch Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, 100: „Alle wissenschaftlichen Erklärungen beschreiben also regelhafte Funktionszusammenhänge zwischen endlichen Ursachen innerhalb der Welt“. 107 Link, Wahrnehmung der Natur als Schöpfung, 60. Vgl. auch Körtner, Schöpfung, Kosmologie und Evolution, 76. Ulrich Körtner bemerkt, dass durch den Wegfall des Telelologiebegriffs in den modernen Naturwissenschaften die Verbindung von Evolution und Schöpfungsglauben aufgehoben wurde. 108 Körtner, Evolution, Ethik und Religion, 249. 109 Ebd.

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te Gesamtwirklichkeit, an Gott, „dem evolutionären Spiel von ‚trial-and-error‘ immanent“110 ist. Die Evolution habe ein „inneres Ziel“111 , das zwar aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht unmittelbar erkennbar sei, da Naturwissenschaften nur emirisch messbare Phänomene untersuchten. Doch könne aus einer theologischen Perspektive davon ausgegangen werden, dass sich die Gesamtwirklichkeit, Gott, im Laufe der Evolution immer besser erschließe.112 Eine solche Annahme wird von theologischer Seite aus kritisiert: Die Wirklichkeit Gottes sei mit keinem innerweltlichen Zustand – und sei er noch so fortschrittlich – gleichzusetzen. Gottes Sein und damit auch das eschatologische Ziel dieser Welt lägen auf einer anderen anderen Ebene als der Ebene der Evolution: Das Ziel [der Welt] kann nicht als ein Resultat natürlicher Prozesse verstanden werden, d. h. es kann nicht als Ergebnis rein immanenter Prozesse, Regeln und Gesetze verstanden werden. Der vollendete Zustand der Welt ist damit nicht selbst ein Teil der Welt. Die Welt ist limitiert, der vollendete Zustand der Welt nicht.113

Auch evolutionstheoretische Perspektiven sind skeptisch gegenüber einer Interpretation der Evolution im Sinne eines moralischen oder ethischen Fortschritts. Die biologische Evolution habe nicht zu einem Rückgang von Grausamkeit geführt, sondern Lebewesen hervorgebracht, die sowohl aggressive, zerstörerische, als auch kooperative Verhaltensweisen zeigten. So neigten sozial lebende Tiere zur Kooperation gegenüber ihrer eigenen Gruppe und ihren Verwandten und zur Aggression gegenüber fremden Gruppen.114 Evolutionsbiologen wie Stephen Pinker bezeich110 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 213. 111 Ebd. 112 So auch die Interpretation der Position Theißens durch Siguard Daecke, Putting an End to Selection, 158. Für Theißen sei die Anpassung an die göttliche Gesamtwirklichkeit „an aim inherent in the evolutionary process.“ Vorsichtiger ist die Position von Markus Mühling, wonach Theißen ein „eher optimistische[s] Verständnis des Protests gegen den Selektionsdruck“ hat (Mühling, Resonanzen, 252). 113 Mühling, Resonanzen, 213. Vgl. auch Kessler, Kreative Schöpfung, 51: „Nach biblisch-christlicher Sicht geht es ja nicht nur um die Entfaltung dessen, was in der Werde-Welt drin ist und – unter dem transzendentalen göttlichen Druck und Lockruf in aktiver Selbstüberbietung (bis hin zum Auftreten des homo sapiens) – evolvieren kann. Es geht (Gott) von Anfang an um ein Ziel, das die Evolution so radikal überschreitet, dass diese es nicht produzieren kann. […] Es geht um einen in Natur und Evolution nicht selber liegenden Sinn der ganzen Einrichtung.“ Vgl. ähnlich auch die Zurückweisung der Möglichkeit, dass die Welt eine Fortschrittsgeschichte durchläuft, bei Gregor Etzelmüller, Trauer, Wut, Klage, 223. 114 Vgl. Vogel, Vom Töten zum Mord, 55: „Aufwerten nach innen, Abwerten nach außen: das janusköpfige Phänomen der ‚doppelten Moral‘! Es ist offensichtlich in unseren Genen angelegt als Bestandteil und Folge einer seit Jahrmillionen erfolgreichen biogenetischen Reproduktionsstrategie, genetisch Verwandten eher zu trauen als Nichtverwandten.“

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nen den Menschen aufgrund seines evolutionären Erbes als ambivalentes Wesen – als „Dämon“ und „Engel“115 zugleich. Betrachtet man neben der biologischen Evolution auch die menschliche Geschichte, so scheint auch sie insgesamt ambivalent und prinzipiell mehrdeutig interpretierbar. Ein der kulturellen Evolution immanenter Fortschritt zu einer lebenswerteren Welt für alle, den Theißen mit seinem Verständnis der Evolution als Anpassung an eine variationstolerante Gesamtwirklichkeit impliziert, kann hier nicht beobachtet werden. Zugleich betont Theißen allerdings auch selbst, dass eine Evolution menschlicher Geschichte hin auf das Reich Gottes aus eschatologischer Sicht keineswegs zwingend ist. Der eschatologische Gerichtsgedanke unterstreiche vielmehr die radikale Diastase zwischen dieser Welt und der Wirklichkeit Gottes: [Urchristlicher Glaube] deutet ja das Ziel der Geschichte mit einem mythischen Bild, das eine Korrektur, ja eine Kritik jeder teleologischen Gewißheit enthält: Das Ende kommt mit einem Gericht, dem alle Menschen unterworfen sind. Dies mythische Bild vom endzeitlichen Gericht sagt, es sei keineswegs selbstverständlich, daß menschliches Leben sein inneres Ziel erreicht.116

Ulrich Körtner kritisiert daher zu Recht Theißens „unausgeglichene […] teleologische […] Deutung der Evolution“117 . Theißen interpretiert die Evolution an manchen Stellen im Sinne einer Fortschrittsgeschichte, weist ein solches Verständnis an anderer Stelle aber wieder zurück. Ferner macht er nicht deutlich, in welchem Verhältnis beide Interpretationen zueinanderstehen (vgl. auch unter C.III.2.1.2.2). 2.1.4

Eine alternative Verhältnisbestimmung von Evolutionstheorie und christlichem Glauben: Christlicher Glaube als Möglichkeitssinn

Wie im Folgenden deutlich wird, beschreibt Theißen das Verhältnis von Evolutionstheorie und christlichem Glauben in Predigten und religionsphilosophischen Texten aber auch noch auf eine andere Weise, die den oben genannten kritischen Einwänden entgeht. Diese Verhältnisbestimmung soll als bessere Alternative zur obigen Verhältnisbestimmung entwickelt werden: Ohne direkten Bezug auf seine evolutionstheoretischen Arbeiten beschreibt Theißen in einer Predigt den christlichen Glauben als eine Art „Möglichkeitssinn“118 , der sich nicht mit dem jeweils Gegebenen zufriedengibt, sondern zu gegebenen

115 116 117 118

Pinker, Gewalt, 712.846. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 214. Körtner, Theologie in dürftiger Zeit, 49 (Anm. 84). Theißen, Die Welt sehen – und trotzdem Gott loben, 70.

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Situationen auf Distanz geht. Ein solcher Möglichkeitssinn gründe sich darin, dass Gott im christlichen Glauben in Distanz zur bestehenden Welt gedacht werde – Gott ist Schöpfer der Welt, aber nicht ein Teil derselben. Von diesem Glauben herkommend könnten bestehende Zustände als gestalt- und veränderbar wahrgenommen werden. Die Suche nach der Verwirklichung neuer Möglichkeiten sei daher die dem christlichen Glauben eigene Perspektive auf Wirklichkeit: Auf Gott stoßen wir immer dann, wenn uns aufgeht, alles könnte auch nicht und alles könnte auch anders sein. Alles ist nicht notwendig so, wie es ist. Glaube ist Möglichkeitssinn, der über die Wirklichkeit hinausgreift. […] Die Welt ist nicht das, was sie ist. Sie wird verwandelt ins Reich Gottes. Kranke sind nicht nur das, was sie sind, sie werden geheilt. […] Arme sind nicht mehr ohnmächtig. Ihnen gehört die Macht.119

Aus der Vielzahl an Möglichkeiten, wie das, was ist, anders werden könnte, benennt Theißen genau diejenigen Möglichkeiten, durch die die Not von Armen und Kranken gelindert wird. Die Auswahl genau dieser Möglichkeiten liegt in Theißens Verständnis des christlichen Glaubens begründet, wonach Gott, die alles orientierende Wirklichkeit, unbedingt gütig ist und das Leben aller will. Deshalb begründet der christliche Glaube nach Theißen ein Verhalten, das soziale Ungerechtigkeit, physische Krankheit und Elend bekämpft. Jedoch sei ein solches Verhalten angesichts der Ambivalenz und Fragmentarizität allen Lebens nicht eindeutig aus der Beschaffenheit der Welt selbst zu deduzieren.120 Es erfordere vielmehr „religiöse Sensibilität“121 , damit die bestehende Welt zum „Gleichnis“ Gottes werde: Wir erleben in der empirischen Wirklichkeit immer nur Fragmentarisches. Aber ein inneres Programm des Wahrnehmens und Deutens lässt uns alles zu einem Ganzen vollenden, das es so in der Wirklichkeit nirgendwo gibt. […] Die Welt wird zum Gleichnis.122

Das heißt aber umgekehrt: Erst wenn ein Mensch bereits glaubt, dass es eine letztgültige Wirklichkeit gibt, die von Liebe und Güte geprägt ist, kann er die partiellen Erscheinungen von Liebe und Güte in der Welt als Spur und als Verweis auf diese letztgültige Wirklichkeit verstehen. Eine bestimmte, theologisch geschulte Wahrnehmung lässt ihn die Welt dann in einem neuen Licht sehen.123 119 A.a.O., 70–71. 120 Vgl. ähnlich auch Alister McGrath, The Open Secret, 18: „Nature, as we have emphasized, is open to multiple interpretations.” 121 Theißen, Religionsphilosophische Gedanken über Gott, 108. 122 Ebd. 123 Vgl. so Christian Link, der von einer christlichen „Neudefinition der Welt“ spricht (Link, Welt als Gleichnis, 302).

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

Die Stärke von Theißens Arbeit liegt daher nicht in seinem spekulativen Versuch, die Größe Gott als Ziel evolutionärer Anpassung in die Evolution selbst einzutragen. Vielmehr liegt die Stärke seiner Arbeit darin, dass er mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven die empirische Welt als einen dynamischen Möglichkeitsspielraum zu sehen lehrt, in dem sich Veränderungen („Mutationen“) ereignen. Ferner macht er unter Verweis auf evolutionstheoretische Beobachtungen deutlich, dass der Gang der Evolution nicht extern und unveränderlich vorgegeben ist, sondern vom Menschen mitgestaltet und verändert wird („Nischenkonstruktion“). Wie der Mensch konkret in der Evolution handeln soll, ist methodisch (aufgrund der Unterscheidung von Sein und Sollen) und inhaltlich angesichts der Mehrdeutigkeit und Ambivalenz der Evolution aus dieser selbst nicht abzulesen. Das Verhalten des Menschen in der Evolution kann allerdings durch den christlichen Glauben orientiert werden: Der Mensch kann dann durch bewusstes Handeln biologische und kulturelle Selektionsprozesse reduzieren, weil er an einen Gott der Güte, der Liebe und des Lebens glaubt. Wie und inwiefern der christliche Glaube in dieser Lesart Theißens zu einer solchen Verbesserung von Lebensmöglichkeiten anregt, wird im Folgenden dargestellt. 2.2

Jenseits des Selektionsprinzips – Theißens evolutionstheoretische Perspektiven auf den biblischen Monotheismus

Theißen untersucht anhand ausgewählter biblischer Texte den Monotheismus im antiken Israel hinsichtlich der Frage, wie dieser sich zu kulturellen Selektionsprozessen verhält. Er arbeitet heraus, dass der Glaube an den einen und einzigen Gott auf der Ebene biblischer Texte sozialethische Forderungen stützte – der Glaube an Gott begründete Hilfe gegenüber Recht- und Mittellosen. 2.2.1

Der Monotheismus in Israel um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. im Gegenüber zum Polytheismus

Der Glaube, wonach es nur einen einzigen Gott gibt, entstand im antiken Israel im Zuge der Zerstörung des Staates Juda sowie der Deportierung der judäischen Oberschichts ins babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr. Dort bildete sich bei den Deportierten die Überzeugung heraus, dass ihr Gott JHWH nicht etwa den Babyloniern und deren Göttern unterlegen war, sondern sich der Babylonier bedient hatte, um sein Volk für den Abfall von der Alleinverehrung JHWHs zu strafen (so zum Beispiel Dtn 28,32). JHWH wurde als der einzige Gott überhaupt verstanden (exklusiver Monotheismus).124 Eine solche theologische Überzeugung der Exklusivität des eigenen Gottes, die sich vor allem in dtr Texten findet, scheint auf den ersten

124 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 97.

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Blick wenig geeignet, Selektion zu reduzieren, sondern vielmehr Intoleranz, Ausgrenzung und potentiell sogar Gewalt gegenüber denjenigen, die bloße Götzen verehren, nahezulegen. Theißen interpretiert und bewertet den Monotheismus in Israel vor dem Hintergrund der antiken polytheistischen Umwelt jedoch anders. Er weist zunächst darauf hin, dass die Vielzahl der Götter in polytheistischen Religionen „Spiegelbild der arbeitsteilig-differenzierten Gesellschaft“125 ist. So repräsentiere im Polytheismus jeder Gott einen anderen Lebensbereich sowie je eigene, dem jeweiligen Lebensbereich zugeordnete Werte. Die Vielzahl an Göttern sei mithin Ausdruck dessen, dass polytheistische Gesellschaften eine Vielzahl an miteinander konkurrierenden Lebensbereichen und Werten verträten. In diesem Sinn interpretiert Theißen den Glauben an mehrere Götter so, dass „die friedlichen und unfriedlichen Beziehungen in der Götterfamilie die Konflikte zwischen Völkern und Gesellschaften widerspiegeln.“126 Insofern habe der Glaube an mehrere Götter die Funktion, friedliche ebenso wie gewalttätige Strukturen innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Staaten zu stützen. Demgegenüber sei es das Neuartige eines exklusiven Monotheismus, dass ein Gott, d. h. ein „Wert“127 , zur Norm für alle anderen Verhaltensweisen gemacht werde und dass dieser eine Wert kritisch gegen die Vielzahl bestehender Werte angeführt werde. Daher sei ein exklusiver Monotheismus häufig „gesellschaftskritisch“128 und „herrscherkritisch“129 . Denn zum Beispiel verbinde sich der Glaube an den einen und einzigen Gott in alttestamentlichen Texten mit der Überzeugung, dass dieser Gott „ein Gott der Entronnenen, der Flüchtigen, der Exilierten, Deportierten und Kriegsgefangenen“130 ist. Laut alttestsamentlicher Überlieferungen stehe der eine und einzige Gott nicht auf der Seite der Sieger und Herrscher der Geschichte, sondern ergreife Partei für die Ausgegrenzten, Elenden, und Rechtlosen, wie beispielhaft in der Exoduserzählung deutlich werde.131 Berücksichtige man, dass der Glaube an den einen und einzigen Gott in einer Zeit aufkam, als Israel von benachbarten Großmächten erobert und die Oberschicht der 125 126 127 128 129 130 131

A.a.O., 96. Ebd. A.a.O., 97. Ebd. A.a.O., 98. A.a.O., 99. Die prekäre Situation Israels ist Gegenstand zahlreicher alttestamentlicher Erzählungen: Bereits Jakob, der Erzvater Israels, ist ein Getriebener und muss – allerdings nicht unverschuldet – zuerst vor seinem Bruder Esau (Gen 28) und dann vor seinem Onkel Laben (Gen 31) fliehen. Das Volk Israel wird in Ägypten versklavt und zur Zwangsarbeit verpflichtet (Ex 1). Dtn 7,7 betont, dass Israel „das kleinste unter allen Völkern“ ist. Das Richterbuch berichtet, dass Israel bereits in der vorstaatlichen Zeit gegen herandrängende Nachbarvölker um seine Existenz kämpfen musste.

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Bevölkerung deportiert worden war, werde aus dieser historischen Situation Israels heraus verständlich, warum der Gott Israels einen „Zug nach unten“132 aufweise: Denn Israel erfahre in dieser Zeit die Brüchigkeit der eigenen Gesellschaftsordnung. Gott stand, so deutete man den Niedergang der Eliten und der bestehenden Gesellschaftsordnung theologisch, nicht auf der Seite der gesellschaftlichen Eliten, sondern auf der Seite der Außenseiter und Niedrigen. Weil der eine und einzige Gott als Gott für die Schwachen verstanden werde, werde der Einsatz für Marginalisierte zur sozialen Verpflichtung, um diesem Gott zu entsprechen. Daher ließen sich im Alten Testament zahlreiche Bestimmungen zum Schutz rechtloser und bedürftiger Personen finden, die theologisch begründet würden (vgl. exemplarisch Lev 19,33f.): „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott.“ Die monotheistische Überzeugung, dass nicht die jeweils gegebene partikulare Umwelt, sondern die (geglaubte) Wirklichkeit des transzendenten Gottes JHWH das menschliche Verhalten orientieren soll, schafft nach Theißen schließlich Distanz zu den gegebenen Lebensumständen. Denn der Glaube daran, dass es eine „unendliche Fülle auf dem Grund der Wirklichkeit [gibt], durch die jeder Konkurrenzund Verteilungskampf begrenzt wird“133 , begründe und ermögliche ein Verhalten, das sich nicht absolut an den gegebenen Lebensumständen orientiere. Ein Konkurrenzkampf um Ressourcen sei aus diesem theologischen Blickwinkel heraus nicht mehr nötig. Wer frei geworden ist, die Wirklichkeit nicht mehr nur unter dem Aspekt des Überlebens und Sich-vermehrens erleben zu müssen, der ist auch frei davon, Lebenschancen immer nur auf Kosten anderer verwirklichen zu müssen. Er ist nicht nur für sein Leben verantwortlich, sondern für alles Leben, auch für konkurrierendes, schwächeres Leben.134 2.2.2

Die Ambivalenz des biblischen Monotheismus

Theißens schematische Überlegungen konzentrieren sich auf eine Interpretation und Rezeption des biblischen Monotheismus, die vor allem dessen sozialethische Dimension betont. Andere Interpretations- und Rezeptionsmöglichkeiten werden von Theißen jedoch nicht diskutiert. Ergänzend ist demgegenüber festzuhalten, dass ein monotheistischer Glaube auch dazu führen kann, eine Unterscheidung

132 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 99. 133 A.a.O., 100. 134 A.a.O., 110.

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zwischen den Gläubigen und allen anderen einzuführen, die sich hin zu einer gewaltsamen Diskriminierung der anderen entwickeln kann. In diesem Sinn spricht zum Beispiel der Ägyptologe Jan Assmann, der sich seit 1988 in mehreren Werken zum Thema des biblischen Monotheismus äußert,135 von einer „strukturelle[n][...] Intoleranz“136 des Monotheismus. Religionen, die zwischen wahr und falsch unterschieden, „müssen intolerant sein, d. h. sie müssen einen klaren Begriff von dem haben, was sie als mit ihren Wahrheiten unvereinbar empfinden, wenn anders diese Wahrheiten jene lebensgestaltende Autorität, Normativität und Verbindlichkeit haben sollen, die sie beanspruchen.“137 Der exklusive Monotheismus habe mit seiner Unterscheidung von wahrem und falschem Gott „eine neue Form von Haß in die Welt gebracht […] den Haß auf Heiden, Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter“.138 Weil der monotheistische Glaube eine Religion der Exklusion sei, wohne ihm implizit und notwendigerweise ein ausgrenzendes Element und damit eine „Semantik der Gewalt“139 inne. Diese negative Seite des Monotheismus habe allerdings auch eine positive Kehrseite: Denn durch den Monotheismus sei eine bisher nie dagewesene „Kraft der Negation“140 in die Religion eingetragen worden. Weil der eine Gott nach biblischem Glauben transzendent sei, könne folglich keine Struktur, Institution oder Person in dieser Welt diesen Gott angemessen repräsentieren. Mit dem biblischen Glauben an den einen Gott ging daher nach Assmann „ein innere[r] [...] Vorbehalt gegenüber dem nur ‚Weltlichen’ und eine Relativierung restloser Weltbeheimatung“141 einher. Diese Unterscheidung zwischen Welt und Gott ermöglichte eine Kritik weltlicher Verhältnisse, Strukturen und Ordnungen. Besonders deutlich werde dies in der Bewertung menschlicher Herrschaft durch den Monotheismus. Weil Gott und Herrscher im biblischen Monotheismus unterschieden würden, werde es unter Verweis auf Gott möglich, menschliche Herrschaft zu kritisieren: Erst im Rahmen einer Religion, in der Gott nicht nur als Richter, sondern auch als Gesetzgeber auftritt, wird der Gedanke denkbar, daß das Urteil der Menschen und das

135 Vgl. Jan Assmann: Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998. Ders.: Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München 2003. Ders.: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015. Ders: Totale Religion: Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016. 136 Assmann, Mosaische Unterscheidung, 26. 137 Ebd. 138 A.a.O., 29. 139 A.a.O., 36. Den Monotheismus ausschließlich als „universale […] Bruderliebe zu verklären“ (a.a.O., 37) werde dem semantischen Befund nicht gerecht. 140 A.a.O., 37. 141 A.a.O., 63.

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Urteil Gottes weit auseinandergehen. [...] Das ist in der Tat erst die Errungenschaft des biblischen Monotheismus.142

Assmann ist darin zuzustimmen, dass ein exklusiver Monotheismus nicht per se einen Fortschritt an sozialer Gerechtigkeit und Nächstenliebe bedeutet. Die Verehrung eines Gottes als einzig existierender Gott kann immer auch in Gewalt gegen diejenigen umschlagen, die diese starke, tiefe Überzeugung nicht teilen (vgl. exemplarisch für eine solche Position Dtn 13). Der biblische Monotheismus ist daher ein ambivalentes Phänomen. Das im Monotheismus enthaltene Gewaltpotential ist in späteren evolutionstheoretischen Arbeiten auch von Theißen angemerkt worden.143 Nichtsdestoweniger ist es nach Theißen hermeneutisch und theologisch möglich, solche von einer Semantik der religiösen Gewalt geprägten biblischen Textstellen von anderen biblischen Textstellen her zu kritisieren. Orientiere man sich an der jesuanischen Verkündigung des Reichs Gottes als Reich für die Armen, Schwachen und Ausgegrenzten (vgl. Lk 4,18), aber auch an der Exoduserzählung von der Befreiung eines versklavten Volks durch Gott, ergebe sich ein Verständnis des Monotheismus, wonach Gott auf der Seite der Schwachen und Bedürftigen steht. In einer solchen Lesart motiviert der Glaube an den einen und einzigen Gott zur Hilfe gegenüber Schwachen – nicht aber zur Gewalt gegenüber Andersgläubigen: Biblischer Glaube ist ein Aufruhr gegen das Selektionsprinzip. Die in ihm sich offenbarende Wirklichkeit Gottes handelt antiselektionistisch und verpflichtet zu antiselektionistischem Verhalten – wenn man die mannigfaltigen Stimmen in der Bibel von der Gestalt Jesu von Nazareth her ordnet, gegeneinander abwägt und gegebenenfalls auch kritisiert: Jahwe rettet die Sklaven aus Ägypten und führt die Exilierten zurück […] Er schützt die Armen und Schwachen.144

Sowohl Assmann als auch Theißen weisen somit unabhängig voneinander zu Recht darauf hin, dass der biblische Monotheismus – sofern er Gott als Anwalt der Schwachen versteht – eine hohe sozialkritische und sozialethische Kraft entfaltet: Bestimmte biblische Texte fordern den Schutz gesellschaftlicher Randgruppen und begründen dies im Willen Gottes selbst – auch gegen den gesellschaftlichen status

142 A.a.O., 80. 143 Vgl. Theißen, Spuren Gottes in der Evolution, 433: „Alle Religionen – auch die jüdische und christliche – sind ambivalent. Sie sind nicht davor gefeit, zum sublimen Instrument im Verteilungskampf zwischen Klassen und Völkern zu werden.“ 144 Theißen, Evolutionäre Religionstheorie, 114f.

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quo und gegen das Eigeninteresse des Einzelnen.145 Die Leistungskraft des biblischen Monotheismus besteht in dieser Lesart daher nicht in einer gewaltsamen Abgrenzung von denen, die nicht an diesen einen Gott glauben, sondern in der Kraft, auf soziale Gleichheit und Gerechtigkeit hinzuwirken. 2.3

Theißens evolutionstheoretische Interpretation neutestamentlicher Christologie

Im dritten Teil seines Buches untersucht Theißen die neutestamentliche Christologie unter evolutionstheoretischen Aspekten. Er interpretiert die im Neuen Testament beschriebene Verkündigung Jesu als unbedingte Kritik sowohl gegen natürliche als auch gegen kulturelle Selektion. Als Ausgangsbeleg dafür, dass sich in Jesu Forderung der Nächstenliebe ein Protest gegen das Selektionsprinzip artikuliert, verweist Theißen auf Gal 5,14f.: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom anderen aufgefressen werdet.“ Theißen interpretiert dieses Zitat aus evolutionstheoretischer Perspektive: In der Evolution herrsche häufig ein Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen, bei dem derjenige, der diese Ressourcen am erfolgreichsten für sich horte, letzlich überlebe. Aggression und Selbstdurchsetzung seien daher evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen im Kampf um knappe Ressourcen. Ein solcher Konkurrenzkampf könne nun auch beim Menschen beobachtet werden, der in Kontinuität zu seinen evolutionären Vorfahren Verhaltensweisen der Aggression auspräge. Genau solche aggressiven Verhaltensweisen würden in Gal 5,14 benannt, wenn menschliches Verhalten mit den Verben ‚beißen‘, ‚fressen‘ und ‚auffressen‘ beschrieben werde. Statt eines solchen Verhaltens fordere Gal 5,14 ein auf Ausgleich und Hilfe zielendes Verhalten. Das jesuanische Gebot der Nächstenliebe werde so implizit mit einem evolutionär erfolgreichen Verhalten der Selbstdurchsetzung zulasten anderer kontrastiert.146

145 Auf diesen Sachverhalt hat auch die alttestamentliche Wissenschaft hingewiesen: Vgl. exemplarisch Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85: „Durch genealogisch oder lokal begründete Gemeinschaft allein ist ein Schutz für die gerade aus genealogischen Zusammenhängen herausgerissenen Fremdlinge und Sklaven nicht zu legitimieren. Wo die Legitimation des Ethos aus dem gesellschaftlich Gegebenen heraus versagt, greift die theologische Legitimation, die die Forderung des Schutzes für den sozial Schwachen auch über Gemeinschaftsgrenzen hinweg einsichtig machen kann. Gott als der Barmherzige begründet ein Ethos der Solidarität und der Barmherzigkeit mit dem Schwachen in der Gesellschaft. Wie Gott mit dem Menschen umgeht, so soll sich der Mensch zum Menschen verhalten.“ 146 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 136.

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Ferner interpretiert Theißen die jesuanische Verkündigung der Güte Gottes evolutionstheoretisch. Indem Jesus Gott als gütig verkünde, entfalte er eine alternative Perspektive auf Wirklichkeit jenseits der Erfahrung von umkämpfen Ressourcen, umkämpften Lebenschancen und Selektion. Gott erscheint als der, der Lebenschancen gerade denen gibt, die eigentlich dem Gericht verfallen sind und daher scheitern müßten. Der Zuspruch einer unbedingten Lebenschance – unabhängig von der Drohung des Gerichts – ist das Zentrum der Verkündigung Jesu und des Neuen Testamentes.147

Im Vertrauen auf die Güte Gottes, der Menschen Leben(schancen) gibt, müssten Menschen einander nicht mehr als Konkurrenten um knappe Ressourcen begreifen und bekämpfen. Vielmehr könnten sich Menschen freigiebig und großzügig gegenüber dem Bedürftigen, dem Fremden und dem Feind verhalten. Der Glaube an Gottes Güte begründet und motiviert im Rahmen der jesuanischen Verkündigung laut Theißen mithin die Forderung nach Verhaltensweisen der Güte und des großzügigen Gebens untereinander. 2.3.1

Evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen als Verstehenshintergrund für die sozialethischen Forderungen Jesu

Jesu Überzeugung von der Güte Gottes führt nach Theißen dazu, dass Jesus Verhaltensweisen fordern kann, die sich jenseits des Verhaltens bewegen, was in der evolutionären Vergangenheit des Menschen vorteilhaft war. Evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen bieten nach Theißen mithin einen Verstehenshintergrund, vor dem das Markante des jesuanischen Ethos deutlich wird. Zur Rekonstruktion dieser evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen bezieht sich Theißen auf Überlegungen der Soziobiologie. Die Soziobiologie, eine in den 70er Jahren entstandene Forschungsrichtung innerhalb der Evolutionsbiologie, untersucht das „Sozialverhalten […] der Lebewesen auf evolutionsbiologischer und genetischer Grundlage“148 (vgl. auch B.II.2 in dieser Arbeit). Sie geht axiomatisch davon aus, dass tierisches und menschliches Sozialverhalten ein Produkt der Evolution ist und ihm eine „genetische Basis“149 zugrundeliegt. Allerdings gibt die Soziobiologie nicht eindeutig an, ob Gene ein bestimmtes Verhalten determinieren, oder ob Gene zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein auftretendes Sozialverhalten sind.150 Fest steht laut

147 148 149 150

A.a.O., 145. Wuketits, Was ist Soziobiologie, 12. Ebd. Vgl. für einen Überblick über die Diskussion: Bayertz, Evolution und Ethik, 24–28.

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der Soziobiologie jedoch zumindest, dass Lebewesen Produkte der Evolution sind und als solche über Verhaltensweisen verfügen, die ihnen im Laufe der Evolution das Überleben ermöglicht haben. In diesem Sinne bemerkt der Soziobiologe Richard Dawkins: Die natürliche Selektion hat uns geschaffen, und man muß sie verstehen, um unsere eigene Identität verstehen zu können.151

Die Soziobiologie benennt ferner konkrete Verhaltensweisen, die im Lauf der biologischen Evolution bewahrt worden seien, weil sie das Überleben der Lebewesen, die dieses Verhalten zeigten, ermöglichten. Solche Verhaltensweisen prägten auch noch heutiges menschliches Verhalten.152 Altruistisches Verhalten, bei dem die eigenen Überlebens- und Reproduktionschancen zunächst gemindert würden, sei evolutionär erfolgreich gewesen, wenn es sich in den Grenzen der eigenen Verwandtschaft (kin altruism)153 bewegt habe oder auf Gegenseitigkeit (reciprocal altruism)154 beruht habe. Denn Verwandte trügen zu einem großen Teil die gleichen Gene wie der Helfende in sich, sodass Hilfe ihnen gegenüber aus der Sicht der Genreproduktion keinen Nachteil für den Helfenden selbst bedeutet habe. „Zwar bleibt man selbst nachkommenlos, sorgt aber für einen erhöhten Reproduktionserfolg des siegreichen Verwandten und maximiert auf diesem indirekten Weg seine Gesamtfitness.“155 Auch Hilfe auf Gegenseitigkeit sei ein evolutionär erfolgreiches Verhalten, weil die einmal erbrachte Hilfsleistung erwidert werde und so kein Überlebensnachteil für den Helfenden selbst entstand.156 Außerdem sei ein Verhalten der Kooperation innerhalb der eigenen Gruppe evolutionär erfolgreich gewesen. Indem Gruppenmitglieder untereinander kooperierten, konnte Beute erfolgreicher erlegt und der Schutz vor Fressfeinden erhöht werden. So wurde die Gruppe als ganze und damit auch der Einzelne als Mitglied dieser Gruppe geschützt.157 Waren Ressourcen wie zum Beispiel Nahrung 151 Dawkins, Das egoistische Gen, 27. 152 Vgl. Wuketits, Was ist Soziobiologie, 54. 153 Der Begriff ‚kin altruism‘ geht auf William D. Hamilton zurück. Vgl. ders.: The evolution of altruistic behavior, The American Naturalist 97 (1963), 354–356. 154 Geprägt wurde der Ausdruck ‚reziproker Altruismus‘ von Robert Trivers. Vgl. ders.: The Evolution of Reciprocal Altruism, Quarterly Review of Biology 46 (1971), 35–57. 155 Voland, Soziobiologie, 81. Vgl. auch Dawkins, Das egoistische Gen, 162. 156 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 60. 157 Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, 270f. „Wenn Tiere in Gruppen zusammenleben, muß dies ihren Genen mehr Nutzen bringen, als es sie Investitionen kostet. Ein Rudel Hyänen kann ein soviel größeres Beutetier fangen als eine einzelne Hyäne, daß es sich für jedes egoistische Individuum bezahlt macht, im Rudel zu jagen, obwohl das bedeutet, daß die Nahrung geteilt werden muß.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

knapp, war außerdem ein solches Verhalten erfolgreich, bei dem Ressourcen vor fremden Gruppen verteidigt und für die eigene Gruppe gesichert wurden. Die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und fremden Gruppen, sowie Aggression nach außen, waren mithin evolutionär erfolgreiche Verhaltensmuster. Der Soziobiologe Eckart Voland spricht daher auch von einem evolutionär angelegten „‚in-Group/Out-Group-Denken‘, gewachsen in der Konkurrenz autonomer Gruppen um Lebenschancen“.158 Bei sozial lebenden Tieren habe sich schließlich eine hierarchische Organisation der Gruppe als Vorteil für die Koordination innerhalb der Gruppe erwiesen. Diese hierarchische Organisation beinhalte unter anderem, dass der Ranghohe den ersten Zugang zu überlebens- und fortpflanzungswichtigen Ressourcen erhalte. Ein hoher Status innerhalb der Gruppe sei in der Evolution daher vorteilhaft für die Tradierung der eigenen Gene gewesen. Sozialer Wetteifer unter gesellig lebenden Tieren steht im Dienst fitnesssteigernder Reproduktionsstrategien und kann von daher als biologische Angepasstheit verstanden werden. Dies gilt besonders auch fur unsere nachsten Verwandten, die nichtmenschlichen Primaten, in deren Sozialverbanden besonders elaboriertes Dominanzverhalten zu beobachten ist.159

In einem zweiten Schritt schlussfolgert der Soziobiologe Eckart Voland, dass auch das Verhalten des evolutionär gewordenen Menschen vom Streben nach einem hohen Status geprägt sei: „Man darf deshalb vermuten, dass Streben nach sozialer Vormachtstellung im Verlauf der menschlichen Stammesgeschichte seine ursprüngliche biologische Funktion bewahrt hat und dass der soziale Wetteifer in heutigen Gesellschaften als Verlängerung eines adaptiven Prinzips zu verstehen sein könnte.“160 Insgesamt habe die biologische Evolution daher die Ausprägung von Verhaltensweisen begünstigt, welche das eigene Überleben, das Überleben der Verwandten und das Überleben der Gruppe, in der man lebte, förderten. Prosoziales Verhalten,

[…] Viele der mußmaßlichen Vorteile des Gruppenlebens haben damit zu tun, daß die Tiere zu verhindern suchen, Räubern zum Opfer zu fallen.“ Vgl. auch Wuketits, Was ist Soziobiologie, 61. 158 Voland, Soziobiologie, 85. 159 Voland, Soziobiologie, 54. Vgl. auch Wilson, Sociobiology, 287: „In the language of sociobiogy, to dominate is to possess priority of access to the necessities of life and reproduction. This is not a circular definition, itis a statement of a strong correlation observed in nature. With rare exceptions, the aggressively superior animal displaces the subordinate from food, from mates, and from nest sites.“ 160 Voland, Soziobiologie, 54.

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so schlussfolgert der Biologe Franz M. Wuketits, ist mithin nur in engen Grenzen evolutionär erfolgreich gewesen: „Das Prinzip Eigennutz ist allgegenwärtig.“161 2.3.2

Jesu Ethos als Forderung nach der Transzendierung evolutionär erfolgreicher Verhaltensweisen

Theißen stimmt den oben dargestellten soziobiologischen Theorien zur evolutionären Genese aggressiver und auf einen hohen Status abzielender Verhaltenstendenzen des Menschen zu. Daran anknüpfend bestimmt Theißen das jesuanische Ethos als Gegenentwurf zu bestimmten, evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen. Statt Aggression gegen Außengruppen fordere Jesus Solidarität „nicht nur mit den (genetisch und kulturell) Verwandten, sondern mit jedermann, ja sogar mit dem Feind“162 (vgl. Mt 5,43ff.). Ferner sei in der biologischen Evolution dominantes Verhalten erfolgreich gewesen, da der Dominante den ersten Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen hatte. Dagegen fordere Jesus: „Wer unter euch der erste sein will, sei der Sklave aller“ (Mk 10,44). Statt Machtstreben auf Kosten anderer zu praktizieren, fordere Jesus in einer „Umwertung der Werte“163 Statusverzicht zugunsten derjenigen mit niedrigem Status.164 Dienst an Bedürftigen werde zum geforderten Verhalten auch ohne die Aussicht auf einen unmittelbaren Lohn oder eine Gegenleistung. Im Rahmen der biologischenEvolution habe zudem der Starke und Gesunde eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Der Kranke oder Schwache sterbe früher und falle aus der Geschichte der Evolution heraus, wenn er keine Nachkommen hinterlasse. Jesus bestimme Nächstenliebe hingegen als Liebe zum Schwachen (Lk 10,25-37). Ein solches Verhalten widerspreche dem evolutionsbiologisch prämierten Verhalten, Energien nur in die Steigerung der eigenen Ressourcen zu stecken. Unter Verweis auf die Soziobiologie argumentiert Theißen zusammenfassend dahingehend, dass Jesus laut dem Neuen Testament genau die Verhaltensweisen fordert, die konträr zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen stehen und die als „atavistische“165 Verhaltensweisen menschliches Verhalten noch heute prägen.

161 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 55. 162 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 154. 163 Theißen, Religion der ersten Christen, 166. Theißen spielt hier auf Friedrich Nietzsches These an, wonach das Christentum die Werte der Antike verkehrt habe und denjenigen, der in der Antike einen hohen Status innehatte, für niedrig erklärt habe; eine Person mit niedrigem Status jedoch für hoch erklärt habe (vgl. Nietzsche, Genealogie der Moral, 777). 164 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 146. 165 A.a.O., 155.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

2.3.3

Die antiselektionistischen Forderungen Jesu als Protest gegen den Selektionsdruck der Kultur

Im Rahmen der kulturellen Evolution ist der Selektionsdruck der biologischen Evolution nach Theißen durch intentionale Nischenbildung, durch erlernte Verhaltensweisen und durch bewusste Solidarität mit Schwachen teilweise abgemildert worden. Doch habe die kulturelle Evolution auch neuen Selektionsdruck geschaffen, der wiederum menschliches Leben bedrohe: Die Last der Kultur wird daher bei fortschreitender Entwicklung ein immer größeres Problem, während die Auseinandersetzung mit der Natur zurückzutreten scheint. […] In der Verkündigung Jesu gibt es nun einen unverkennbaren Zug, auch sozialen Druck einzuschränken.166

Auch gegenüber dem Selektionsdruck der Kultur zeige Jesus eine antiselektionistische Haltung, indem er Freiheit von sozialen Vorschriften fordere.167 Konkret zeige sich dies in der Forderung Jesu, öffentlich zu vollziehende, kulturelle Handlungen – wie das Gebet, Fasten oder die Almosengabe – der Sozialkontrolle zu entziehen (vgl. Mt 6,1-6.16-18).168 Des Weiteren relativiere und kritisiere Jesus soziale Ordnungsstrukturen und Institutionen wie Familie, Volk, Staat und den römischen Kaiser169 (vgl. Mk 12,17) als orientierende Instanzen: Stattdessen fordere er den Bruch mit der Familie (vgl. Lk 14,26) und stelle Fremde wie die Niniviten als Vorbilder im Vergleich zu Israel dar (vgl. Mt 12,41). Auch der Rekurs auf religiöse Traditionen zur Normierung von kulturellem Verhalten werde von Jesus insofern kritisiert, als dass Jesus die Zustimmung zu religiöser Tradition von seiner Einsicht in Gottes Willen abhängig mache. Das jesuanische „Ihr habt gehört […] Ich aber sage euch“ (vgl. exemplarisch Mt 5,27f.) interpretiert Theißen als Ausdruck der Unabhängigkeit Jesu gegenüber den religiösen Traditionen seiner Zeit. Auch die Normrelativierungen Jesu, wie zum Beispiel die Relativierung kultischer Reinheitsvorschriften oder seine Akzeptanz der Anwesenheit einer Prostituierten im Rahmen eines Essens, sei in diesem Zusammenhang als „Freiheit gegenüber dem Druck der Kultur“170 aufzufassen. Kultureller Selektionsdruck bedeute ferner, dass derjenige, der sich sozialen Ordnungen entziehe, von der Gesellschaft mit Sanktionen belegt werde. Jesus habe diesen sozialen Druck ausgehalten bis hin zur

166 167 168 169 170

A.a.O., 147. Vgl. a.a.O., 148. Vgl. a.a.O., 149. Vgl. a.a.O., 148. A.a.O., 147.

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Anklage und Hinrichtung.171 Er wende sich somit nicht nur gegen den natürlichen Selektionsdruck, sondern auch gegen den Selektionsdruck der Kultur. 2.4

Theißens evolutionstheoretische Perspektiven zur Pneumatologie, zur Harmatiologie und zur Ekklesiologie

Im vierten Teil seines Buches verwendet Theißen evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der neutestamentlichen Rede vom Heiligen Geist. Er charakterisiert den Heiligen Geist so, dass er immer wieder Menschen ergreife und sie zu antiselektionistischem Verhalten in der Nachfolge Christi bewege. Insofern bejahe der Heilige Geist „die Realisiserbarkeit dessen, was in Jesus von Nazareth erschienen ist“172 . Ausgehend von einem solchen Verständnis des Geistes behandelt Theißen auch hamartiologische, ekklesiologische und eschatologische Aussagen173 des Neuen Testaments mithilfe evolutionstheoretischer Kategorien. 2.4.1

Der Heilige Geist als Widerspruch zu biologischen und kulturellen Verhaltensweisen κατὰ σάρκα

Theißen beschreibt den Heiligen Geist als „antiselektionistische[...] Motivation“174 im Widerspruch zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen der Selbstdurchsetzung zulasten anderer. Diese Beschreibung des Heiligen Geistet entwickelt Theißen im Anschluss an die paulinische Rede von einem Leben gemäß dem Geist, κατὰ πνεῦμα (Röm 8,4), dem Paulus ein Leben gemäß dem Fleisch, „κατὰ σάρκα“ (Röm 8,4), entgegenstelle. Verhaltensweisen nach dem Fleisch umfassten nach Paulus sexuelle und konsumorientierte Sünden wie „Unzucht, [...] Ausschweifung, [...] Saufen, Fressen“ (Gal 5,19ff.). Verhalten κατὰ πνεῦμα (Röm 8,4) umfasse laut Paulus „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut“ (Gal 5,14f.).175 Theißen schreibt nun den von Paulus genannten sexuellen und komsumorientierten Sünden κατὰ σάρκα aus evolutionstheoretischer Perspektive eine „biologische Wurzel“176 zu. Dies wird in der Tat gerade auch von Soziobiologen hervorgehoben: Erfolgreiche Nahrungsaufnahme und erfolgreiche Reproduktion sind laut der Soziobiologie im Rahmen der biologischen Evolution die Verhal-

171 Vgl. a.a.O., 147f. 172 A.a.O., 163. 173 Theißens evolutionstheoretische Interpretation christlicher Eschatologie wurde bereits im Kap. C.III.2.1.3.3 mitverhandelt, sodass sie hier nicht eigens besprochen wird. 174 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 181. 175 Vgl. a.a.O., 183. 176 A.a.O., 168.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

tensweisen, auf die hin selektiert wurde.177 Daher ist es gemäß soziobiologischen Überlegungen naheliegend, dass diese Verhaltensweisen eine „genetische Basis“178 haben und deshalb auch beim heutigen Menschen auftreten. Aggressivität, die Paulus mit Begriffen der „Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zank, Zwietracht, Spaltungen“ (Gal 5,20) beschreibt, wird von Theißen ebenfalls als biologisch fundierte Verhaltensweise verstanden.179 Paulus selbst assoziiere Aggressivität mit tierischem Verhalten: „Wenn ihr einander beißt und auffreßt, so seht zu, daß ihr nicht voneinander verschlungen werdet.“ (Gal 5,15). Dass agggressives Verhalten gegenüber potentiellen Konkurrenten um Nahrung und Fortpflanzungspartner im Laufe der Evolution einen Reproduktionsvorteil mit sich brachte, wird auch von Soziobiologen hervorgehoben.180 Mit dieser Interpretation paulinischer Textstellen verortet Theißen den Menschen grundsätzlich negativ – er wird nicht erst durch Erziehung oder persönliche Erlebnisse schlecht, sondern ist qua biologischer Evolution auf ein aggressives Verhalten zulasten anderer hin angelegt. In Aufnahme dieser These aus der evolutionären Verhaltensforschung plausibilisiert Theißen die theologische Rede von der Sünde. Sünde bedeute, dass jeder Mensch aufgrund seines biologischen Erbes automatisch auf die Steigerung eigener Ressourcen zulasten anderer abziele. Die Neigung zur Selbstdurchsetzung zulasten anderer sei als evolutionär erfolgreiches Verhalten mithin Teil der conditio humana. In diesem Sinne neige der Mensch tatsächlich „von ‚Natur‘ aus zur Sünde“181 . Einen genetischen Determinismus, wonach Menschen aufgrund genetischer Programmierung gar nicht anders können, als ihren aggressiven Neigungen nachzugehen, vertritt Theißen allerdings nicht: „Uns ist bewußt, daß wir prädisponierten Verhaltenstendenzen nicht automatisch folgen müssen. Wir können sie steuern. Aber wir erleiden allzu oft eine Niederlage dabei.“182 Ein Verhalten der Selbstdurch-

177 Vgl. Dawkins, Das egoistische Gen, 225: „Der Begriff ‚Fitneß‘ bedeutet in diesem Zusammenhang Fortpflanzungserfolg.“ 178 Wuketits, Was ist Soziobiologie, 12. 179 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 168. 180 Vgl. Wilson, Sociobiology, 287. Edward O. Wilson beschreibt, dass bei sozial lebenden Tieren aggressive Verhaltensweisen im Kampf um die Führungsposition innerhalb der Gruppe praktiziert werden. Die Führungsposition versprach wiederum Vorteile bei der Fortpflanzung. Auch der Mensch neigt nach Wilson zu einem aggressiven Verhalten insbesondere im Kampf um die obersten Plätze innerhalb der Gruppe und gegenüber Fremden: „Cooperativeness toward groupmates might be coupled with aggressivity toward strangers, creativeness with a desire to own and dominate“ (a.a.O., 575). 181 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 183. 182 A.a.O., 171.

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setzung zu lasten anderer ist nach Theißen also ein zwar naheligendes, aber kein unausweichliches menschliches Verhalten.183 Ein Verhalten κατὰ σάρκα könne bei Paulus schließlich auch kulturell erlerntes Verhalten bezeichnen. Konkret habe Paulus ethnozentristisches Verhalten vor Augen, bei dem die eigene Kultur oder Gemeinschaft als anderen Kulturen oder Gemeinschaften überlegen betrachtet werde und Hilfe und Unterstützung nur der eigenen Gruppe zuteilwerde. Eine solche Abgrenzung von anderen Gruppen hat nach Theißen zwar Wurzeln in der biologischen Evolution, weil Kooperation nach innen und Aggression nach außen evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen sind. Die Abgrenzung von einer konkreten Gemeinschaft sei dann aber wiederum ein Produkt kulturellen Lernens. Paulus kritisiere ein solches ethnozentristisches Verhalten und fordere zu einem Verhalten κατὰ πνεῦμα auf, durch das bestehende Grenzziehungen unterlaufen würden.184 Theißen verweist zur Konkretisierung auf Gal 3,28: „Da ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann noch Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“. Laut Theißen lässt sich die theologische Rede vom Heiligen Geist aus evolutionstheoretischer Sicht daher als Motivation zu prosozialem Verhalten jenseits des eigenen Überlebens- oder Reproduktionsvorteils verstehen. 2.4.2

Die Rolle der menschlichen Symbolfähigkeit bei der Wahrnehmung des Anderen

Theißen ergänzt, dass – neben einer solchen geistigen oder spirituellen Motivation zu einem prosozialen Verhalten jenseits des eigenen Überlebens- oder Reproduktionsvorteils – überhaupt erst die prinzipielle menschliche Möglichkeit zu einem solchen Verhalten gegeben sein müsse. Dass es eine solche Verhaltensmöglichkeit gebe, sei angesichts des evolutionären Erbes des Menschen, das ein Verhalten der Selbstdurchsetzung zu lasten anderer nahelege, nicht selbstverständlich.185 Vielmehr handle es sich dabei um eine bewusste Kulturleistung des Menschen. Theißen bestimmt diese menschliche Kulturleistung als Symbolfähigkeit. Der Mensch könne bewusst Symbole, das heißt Zeichen, die auf etwas anderes jenseits

183 Vgl. a.a.O., 169f.: „Während der Begriff ‚sarx‘ die zu überwindenden Antriebe im Menschen meint, die in seiner biologischen Natur […] begründet sind, bezeichnet der Begriff ‚soma‘ jene biolgoisch bedingten Antriebe, die der Mensch ‚sublimieren‘ und für prosoziale Zwecke einsetzen kann.“ Vgl. auch Theißen, Das transformative Menschenbild der Bibel, 279f. 184 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 172. 185 Vgl. dazu auch Wilson, Sociobiology, 3: „How can altruism, which by definition, reduces personal fitness, probably evolve by natural selection?“.

Theißens frühe evolutionstheoretische Arbeiten

ihrer selbst verwiesen, entwickeln (siehe auch unter C.III.2.1.1.1).186 Durch die Fähigkeit des kreativen Zeichengebrauchs verfüge der Mensch über die Möglichkeit zur Begründung der Ausdehnung von Hilfe auch auf Personen jenseits der eigenen Gruppe oder der Verwandten. Denn durch symbolische Übertragung könne er in jedem Menschen ‚Bruder‘ und ‚Schwester‘ sehen, auch dann, wenn der andere Mensch im genetischen Sinne weder Bruder noch Schwester ist.187

Als Beispiel für die Funktion von Symbolen bei der Begründung von Hilfe verweist Theißen auf die metaphorische Selbstbezeichnung der Christen als Brüder und Schwestern untereinander (vgl. z. B. 1. Kor 1,11). Der Gebrauch einer solchen Metapher begründe und schaffe auf der Ebene der Sprache Nähe und Zusammengehörigkeit unter den Christen, obwohl keine Verwandtschaftsbeziehungen im biologischen Sinn zwischen ihnen vorlägen. Ferner impliziere die von Paulus verwendete Bezeichnung der korinthischen Gemeinde als ein Leib mit unterschiedlichen Gliedern (vgl. 1. Kor 12,12-31), dass alle Glieder aufeinander angewiesen und unverzichtbar für das Fortbestehen der anderen Glieder seien. Hierarchisierungen innerhalb der christlichen Gemeinde würden durch diese Metapher kritisiert und stattdessen durch alternative sprachliche Konstruktionen Beziehungen der Gegenseitigkeit und Gleichheit konstruiert. Ein sprachliches Zeichen kann nach Theißen also durch seine imaginative, konstruierende Kraft Hilfe jenseits von evolutionärem Eigennutz begründen: Der andere Mensch wird wie Bruder und Schwester erlebt, wie das Glied des eigenen Körpers. Die genetische Konkurrenz mit ihm wird ausgeschaltet – kraft der unendlichen

186 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 178: „Dem Menschen ist es gelungen, sich von dem populationsgenetischen Gesetz zu emanzipieren, daß nur mit erhöhter Fortpflanzungswahrscheinlichkeit gekoppelte Verhaltensmuster sich durchsetzen können.“ 187 A.a.O., 179. Mit dieser These nimmt Theißen Anleihen beim amerikanischen Theologen und Meteorologen Ralph W. Burhoe. Religion ermöglicht laut Burhoe prosoziales Verhalten auch gegenüber Fremden, weil Religion solche kulturellen Einstellungen, Überzeugungen, Ideen und Verhaltensweisen vermittle, die im anderen einen Bruder oder eine Schwester sehen lernen ließen, selbst wenn der andere kein Bruder oder keine Schwester im Sinne einer biologischen Verwandtschaft sei: „[W]e may have an explanation on the basis of an analogue of genetic natural selection for the very mystifying human behavior of risking one’s life even more readily for one’s spiritual or cultural ‚brother’ than for one’s genetic brother […] Religion, I suggest, is the key and hitherto missing link in the scientific explanation of how ape-men are transformed to civilized altruism” (Burhoe, Religion’s Role in Human Evolution, 148f.). Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 179.

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Leidenschaft des Glaubens, die in den symbolischen Bildern eine verpflichtende Macht erfährt.188

Diese spezifisch menschliche Möglichkeit zum Symbolgebrauch durch die Übertragung eines bereits bekannten Sachverhalts auf einen neuen Sachverhalt ist nach Theißen jedoch grundsätzlich ambivalent: Sie könne auch dazu missbraucht werden, dass der Andere als „Dämon“189 symbolisiert und wahrgenommen werde. Dass sie im Rahmen prosozialer Motivation genutzt werde, um die Wahrnehmung eines fremden Menschen als Bruder oder Schwester zu begründen und einzuüben, sei daher nicht selbstverständlich oder kulturell erzwingbar. Vielmehr bedürfe es eines „Ergriffenwerden[s] unseres Geistes durch den ‚Heiligen Geist‘ antiselektionistischer Motivation“190 . Theißen verbindet also zeichentheoretische Überlegungen mit Überlegungen zur Motivation oder Inspiration zu einem bestimmten Verhalten – und verknüpft so sprachwissenschaftliche mit geisttheologischen Perspektiven. 2.4.3

Die Ambivalenz der Kirche als Kritikerin und Vertreterin von Selektionsprozessen

Abschließend befasst sich Theißen mit dem ambivalenten Verhältnis zwischen dem oben dargestellten Verständnis des Geistes als antiselektionistischer Motivation und dem institutionellen Charakter der Kirche. Er konstatiert, dass die Kirche gemäß neutestamentlicher Texte zwar darauf verpflichtet sei, Selektion zu verringern, die Kirche aber selbst immer wieder zum Mittel werde, wodurch Lebensmöglichkeiten im sozialen Verteilungskampf ungleich verteilt würden.191 Als soziale Institution sei die Kirche nämlich automatisch Teil des menschlichen Verteilungskampfes um Leben, Macht und Güter und Teil der „Eigendynamik geschichtlicher Selbstbehauptung“192 . Ferner verfüge die Kirche aufgrund ihres Charakters als Institution, die sich im Laufe der Geschichte behaupten muss, unvermeidlich über „hierarchische[…], rechtliche[…] und ökonomische[…] Strukturen“193 . Die institutionalisierte Kirche habe so notwendigerweise Kompromisscharakter. Die Schärfe der antiselektionistischen Forderung müsse deshalb gegen faktisch auch in der Kirche stattfindende Selektionsprozesse immer wieder in Erinnerung gerufen werden durch Ausnahmeexistenzen, die als „Salz der Erde“ (Mt 5,13) beständig kritisch auf die Verflechtung der Kirche in kulturelle Selbstdurchsetzungsprozesse hinzuwei-

188 189 190 191 192 193

Ebd. A.a.O., 181. Ebd. Vgl. a.a.O., 190. A.a.O., 164f. A.a.O., 190.

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

sen hätten.194 Um ihre Identität zu bewahren, müsse sich Kirche zu Antiselektion bekennen und dort kritisch Stellung beziehen, wo Selektion stattfinde.195 Theißen beschreibt die empirische Kirche daher als einen Ort, in dem Antiselektion nur anfangsweise praktiziert wird und die Kirche zugleich immer auch selbst Selektion ausübt. Insofern führt er eine Unterscheidung ein zwischen dem christlichen Glauben mit seiner Verpflichtung zur unbedingten Hilfe gegenüber Bedürftigen und der faktischen christlichen Religions- bzw. Kirchengeschichte.

IV.

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

Der Grundgedanke, dass biblische Texte gegen natürliche und kulturelle Selektion protestieren, indem sie zu gruppen- und statusübergreifender Nächstenliebe auffordern, bleibt auch in Theißens neueren evolutionstheoretischen Arbeiten erhalten. Seine 1984 entwickelte, Evolution und biblischen Glauben zusammenführende Metatheorie, wonach Gott Ziel evolutionärer Anpassung ist, tritt in Theißens neueren evolutionstheoretischen Arbeiten ab 2011 allerdings zurück. Dieses Zurücktreten ist möglicherweise einer veränderten Forschungslage zur Evolution geschuldet. Denn das primäre Verständnis von Evolution als „Anpassung“ war für die Forschung zur Evolution in den 70er und 80er Jahren zentral.196 Neuere evolutionstheoretische Forschungen betonen demgegenüber jedoch, dass nicht alle Verhaltensweisen von Lebewesen evolutionstheoretisch als Anpassungen verstanden werden können. Es könne sich bei beobachtetem Verhalten stattdessen auch um ein Nebenprodukt einer erfolgreichen Anpassung handeln.197 Zudem seien Lebewesen zwar einerseits Objekte der Evolution, inosfern sie sich an vorgegebene Umwelten anpassen müssten. Doch zugleich seien Lebewesen auch Nischenkonstrukteure, d. h. sie nähmen bewusst oder unbewusst im Laufe ihres Lebens Einfluss auf ihre jeweiligen Umwelten, gestalteten diese mit und veränderten so den Selektionsdruck, dem sie selbst oder andere Lebewesen ausgesetzt seien (siehe unter B.I.4 in dieser Arbeit).198 Evolutionäre Umwelten sind laut diesem neueren Forschungsstand zur Evolution daher weder ausschließlich das Resultat von Konstruktionsprozessen noch ausschließlich extern und unveränderlich vorgegeben, sondern die gegebenen Umwelten werden von den Lebewesen zugleich mitgestaltet.

194 195 196 197 198

Vgl. a.a.O., 203. Vgl. ebd. Vgl. Toepfer, Evolution, 67–70. Vgl. Gould, The Spandrels of San Marco, 591. Vgl. das Standardwerk von Odling-Smee, F. John / Laland, Kevin N. / Feldman, Marcus W.: Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton / Oxford 2003.

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In seinen neueren evolutionstheoretischen Arbeiten widmet sich Theißen der Frage, wie prosoziales und kooperatives Verhalten im Laufe der Evolution hat entstehen können. Er untersucht, wie das biblische Ethos der Nächstenliebe auf prosozialen Tendenzen in der Natur aufbaut, diese Tendenzen jedoch noch einmal übersteigt. Damit weist er ein Verständnis der biologischen Evolution als ausschließlich gewalttätig zurück und bestimmt das biblische Ethos nicht nur als Protest gegen die menschliche Natur, sondern zugleich auch im Anschluss an diese. 1.

Das biblische Ethos der Anti-Selektion in Kontinuität und im Widerspruch zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen

1.1

Die positivere Bewertung der Rolle der Natur

Theißen beginnt seine Überlegungen durch den Verweis auf neuere evolutionstheoretische Erkenntnisse: Diese Perspektiven machten auf eine gewisse „Fehlerfreundlichkeit“199 in der Natur aufmerksam. Selektion sei nicht das allein bestimmende Prinzip in der Evolution, sondern Selektion lasse einen Spielraum für unterschiedliche Anpassungen und Verhaltensweisen zu. Nicht alle diese Anpassungen und Verhaltensweisen seien in Bezug auf die Förderung der eigenen Überlebens- und Reproduktionschancen optimal. Selektion lasse sich diesem Verständnis nach nicht als Auswahl der Besten beschreiben, sondern eher als Tod der am wenigsten Geeigneten.200 Durch diese Erläuterung weist Theißen ein Verständnis von Selektion als alles dominierendes Prizip in der Evolution zurück. Stärker als in früheren Arbeiten betont Theißen außerdem – ebenfalls unter Aufnahme neuerer evolutionstheoretischer Erkenntnisse –, dass prosoziale Verhaltensweisen nicht erst durch menschliche Kultur entstünden, sondern bereits in der biologischen Evolution hervorgebracht würden: Kooperation und Hilfe würden bereits bei sozial lebenden Tieren und insbesondere bei Primaten praktiziert: Übersehen wird oft, dass es neben dem ‚egoistischen Gen‘ [eine Anspielung auf das 1976 erstmals erschienene, gleichnamige Werk des Soziobiologen Richard Dawkins] auch das ‚kooperative Gen‘ gibt. Wir finden in der Natur nicht nur den struggle for life, sondern auch eine Kooperation auf allen Ebenen – nicht nur bei der sexuellen Verbindung und Vermehrung […] Vor allem die Erforschung des Verhaltens von Primaten

199 Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 194. 200 Ebd. Vgl. zum Verständnis von Selektion als Tod der am wenigsten gut Angepassten auch Mayr, Das ist Evolution, 151. Vgl. auch Thompson, Mind in Life, 212. Der Philosoph Evan Thompson kritisiert evolutionstheoretische Modelle, die einseitig den Selektionscharakter der Evolution betonten und so Selektion zu einer Art „säkularer Ersatzreligion“ (ebd.) machten.

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

hat gezeigt: Es gibt schon im Tierreich soziales Verhalten: Empathie, Diplomatie und Versöhnungsbereitschaft.201

Hier bezieht sich Theißen auf die vom Ethologen Frans de Waal betonte Neigung von Primaten zu Kooperation, Empathie und Hilfe gegenüber Gruppenmitgliedern. Diese Verhaltensweisen seien in der biologischen Evolution erfolgreich gewesen, weil sie das soziale Zusammenleben erleichtert hätten und damit insgesamt das Überleben auch des Einzelnen befördert hätten. Kooperierten Gruppenmitglieder untereinander, bzw. halfen sie Artgenossen innerhalb der eigenen Gruppe, war die Gruppe insgesamt stabil, sodass sich daraus wiederum Vorteile für das Überleben des Einzelnen in der Gruppe ergaben. Ein Verhalten der Hilfe und Kooperation innerhalb der Gruppe begünstigte so indirekt auch das Überleben dessen, der half und kooperierte: „Es spricht nichts dagegen, Tiere (und Menschen) als Produkt evolutionärer Kräfte zu beschreiben, die das Handeln im eigenen Interesse fördern, solange man sich klarmacht, dass dies keineswegs die Evolution altruistischer und empathisierender Tendenzen ausschließt.“202 Kooperation, Empathie und Hilfe sind nach De Waal also bereits in der biologischen Evolution entstandene soziale Instinkte, die das Überleben des Verhaltensträgers ermöglichten. Darüberhinausgehend merkt De Waal allerdings an, dass solche einmal entstandenen prosozialen Verhaltensweisen bereits im Tierreich nicht auf Verwandte oder Mitglieder der eigenen Gruppe beschränkt bleiben, sondern teilweise auch auf Fremde ausgedehnt werden. „Bei vielen Tieren erstrecken sich solche Reaktionen jedoch […] bis in Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Erwachsenen hinein“203 . Zum Beispiel sei beobachtet worden, dass erwachsene Schimpansen gelegentlich verwaiste Schimpansenbabys aufzogen, ohne dass die erwachsenen Schimpansen einen evolutionären Vorteil von einem solchen Verhalten hatten.204 Obwohl soziale Instinkte also ursprünglich aufgrund des mit ihnen einhergehenden Überlebens- und Reproduktionsvorteils in der Evolution bewahrt worden seien, könnten sie bereits im Tierreich potentiell auch jenseits der Grenzen von Verwandtschaft und Gruppenzugehörigkeit eingesetzt werden. Soziale Instinkte seien demnach nicht auf ihren Entstehungskontext festgelegt. Wenn Menschen nun ein Ethos entwickelten, was Prosozialität, Fairness und Hilfe gegenüber Schwächeren fordere, dann täten sie dies einerseits im Anschluss an ihre im Lauf der biologischen Evolution entstandenen sozialen Instinkte. Diese sozialen Instinkte würden andererseits in einer im Vergleich zur bisherigen Evolu-

201 202 203 204

Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 194. Vgl. auch Bauer, Das kooperative Gen, 154f. De Waal, Primaten und Philosophen, 32. A.a.O., 33. Vgl. a.a.O., 48–52.

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tion fundamentalen Weise ausgeweitet, wenn sie als grundsätzliche und nicht nur gelegentliche Verhaltensweisen auch gegenüber Fremden gefordert würden: Wir halten nicht scheinheilig alle zum Narren, wenn wir uns moralisch verhalten, sondern treffen Entscheidungen, die aus sozialen Instinkten erfolgen, welche älter sind als unsere Spezies, auch wenn wir diese erweitern um die einzigartige menschliche Komplexität der leidenschaftslosen Sorge für andere und für die Gesellschaft als ganze.205

Ähnlich wie De Waal argumentiert auch Theißen dahingehend, dass in der biologischen Evolution entstandene, kooperative Verhaltensweisen in menschlichen Gesellschaften durch bewusste Steuerung und kulturelle Setzung weiter ausgebaut werden können mit dem Ziel, Kooperation auch jenseits der eigenen Gruppe zu praktizieren.206 Ganz konkret entwickelten biblische Texte in diesem Sinn im Gegenüber zu den evolutionären „Mischformen von Moral“207 ein „extremes Ethos“208 . Dieses Ethos fordere nicht nur eine gelegentliche Zuwendung zu Schwachen, sondern eine grundsätzliche. 1.2

Schutz der Schwachen als Verzerrung des Verlaufs der Evolution?

Im Folgenden setzt sich Theißen mit einer unter Verweis auf die Evolutionstheorie angeführten Kritik an der unbedingten Hilfe gegenüber Schwachen auseinander. Eine solche Kritik wurde unter anderem von Friedrich Nietzsche geäußert. Hilfe gegenüber Schwachen wurde von Nietzsche als Verzerrung des Verlaufs der Evolution, welche die Schwachen aussiebe, verstanden. Erst ein moralisierendes Judenbzw. Christentum habe Mitleid mit den Schwachen gefordert und praktiziert und dadurch zu einer Degeneration des Gangs der Evolution geführt. In diesem Sinn bemerkt Nietzsche: Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist.209

Gegen diese Position führt Theißen unter Verweis auf die Arbeiten des Verhaltensforschers Frans de Waal die Beobachtung an, dass Kooperation und Empathie

205 206 207 208 209

A.a.O., 75. Vgl. Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 194. A.a.O., 209. A.a.O., 211. Nietzsche, Der Antichrist, 614.

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

bereits in der Natur praktiziert werden, vor allem bei sozial lebenden Tieren.210 Insofern sei bereits in der Natur eine Art „Protomoral“211 angelegt. Zum Beispiel lasse sich Empathie als vorreflexives Vermögen, „die Gefühle anderer so nachvollziehen zu können, dass man von ihnen ergriffen wird“212 , bereits bei Menschenaffen beobachten.213 Die Natur ist, so lässt sich im Anschluss an Theißen und De Waal schlussfolgern, keine Gladiatorenarena, in der ein ständiger Kampf herrscht und der Tod des Schwächeren das einzig mögliche Ergebnis darstellt. Vielmehr kommt es bereits in der Natur zu Verhaltensweisen der Kooperation und Empathie. Sogar ein Verhalten der einseitigen Hilfe gegenüber Nicht-Verwandten, bei dem der Helfende keinen Ausgleich für seine Hilfe erfährt, lässt sich in der Natur beobachten – allerdings sind solche Verhaltensweisen eine seltene Ausnahme.214 Somit ist festzustellen, dass die Natur weder ein blutiger Krieg aller gegen alle ist, noch ausnahmslos nur solche Verhaltensweisen zulässt, die das eigene Überleben bzw. die eigenen Reproduktionschancen fördern. Vielmehr erlaubt bereits die Natur einen kleinen Spielraum für gelegentliche selbstlose Verhaltensweisen. Ein grundsätzliches Verhalten der Hilfe gegenüber Bedürftigen, die nicht der eigenen Familie oder Gruppe angehören, lässt sich in der Natur jedoch nicht beobachten. Schließlich macht Theißen gegen die Position Nietzsches deutlich, dass die Definition der ‚Starken’ bzw. ‚Überlebenstüchtigen’ in der Evolution immer vom jeweiligen Kontext abhängt, in dem bestimmte Eigenschaften als Stärke oder als Schwäche erscheinen. Je nach Umwelt würden andere Anforderungen an eine Population gestellt. Außerdem könnten durch Zufall neue Ressourcen auftauchen, durch die der Selektionsdruck verringert werde: Schutz und Hilfe sind evolutionär nicht nur dysfunktionale Gegenselektion, sondern als Zufallsfaktor in die Evolution eingebaut: Viele Formen des Lebens hätten sich nicht

210 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 209: „Man könnte unsere Situation in der Natur so deuten: Sie legt uns zwei Möglichkeiten vor: den Weg von Konkurrenz und Kampf auf der einen, den Weg von Zusammenarbeit und Liebe auf der anderen Seite.“ 211 Ebd. 212 De Waal, Primaten und Philosophen, 33. 213 A.a.O., 51. 214 In Kritik an der Behauptung von Richard Dawkins, dass Lebewesen Vehikel ihrer egoistischen Gene seien, plädiert De Waal dafür, dass bereits im Tierreich prosoziale und kooperative Verhaltensweisen auch dann praktiziert werden, wenn für den Helfenden selbst kein evolutionärer Vorteil daraus erwächst. Diese Beobachtung nennt De Waal einen „befreiende[n] Gedanke[n], der uns lehrt, dass die ursprüngliche Bestimmung einer Sache nicht mit ihren möglichen späteren Anwendungen übereinstimmen muss“ (De Waal, Der Mensch, der Bonobo, und die Zehn Gebote, 79).

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entwickelt, wären nicht durch Separation Schutzräume entstanden, wo sie sich ohne Konkurrenz entfalten konnten.215

Daher lässt sich schlussfolgern: Wenn bereits in der Natur je und je neu austariert wird, welche Lebewesen überleben, so gilt dies umso mehr für menschliche Kultur, in der Menschen ihre Lebensbedingungen in hohem Maße selbst gestalten. In einer ähnlichen Weise argumentiert der Sozialethiker Markus Vogt: „[D]ie Definition der Schwachen [hängt] von der jeweiligen Umwelt [ab] […], die die Bedingungen setzt, unter denen bestimmte Eigenschaften als Schwäche oder als Stärke erscheinen.“216 Weil die Kategorie des Schwachen oder Starken in menschlichen Gemeinschaften nie unvermeidlich gegeben ist, sondern immer von kulturellen Setzungen abhängt, ist Nietzsches These, wonach Schwache und Starke von Natur aus, d. h. unveränderlich schwach oder stark sind, zurückzuweisen. Vielmehr können durch alternative kulturelle Konstruktionen die Bedingungen so geändert werden, dass bis dato Schwache nicht mehr schwach sein müssen, sondern ihre Stärken entdecken und entwickeln können.217 Die Nietzscheanische Kritik an Hilfe gegenüber Schwachen als Degeneration des Gangs der Evolution erweist sich bei Theißen daher aus evolutions- und kulturtheoretischer Perspektive als unhaltbar. 2.

Lk 10,25-37 im Gegenüber zu einem Verständnis von selbstloser Hilfe als evolutionäre Unmöglichkeit

Hatte Theißen in seinen frühen evolutionstheoretischen Arbeiten die Theorien der Soziobiologie, wonach menschliches Sozialverhalten in der Regel unbewusst auf die Verbreitung der eigenen Gene abzielt, positiv rezipiert, um vor diesem Hintergrund das neutestamentliche Ethos als Widerspruch zu diesen evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen zu positionieren, so nimmt er im folgenden Aufsatz eine andere Perspektive ein. Er stellt heraus, dass die Soziobiologie an einigen Stellen dazu neigt, ihre Thesen zu verabsolutieren. Theißen kritisiert in diesem Zusammenhang die These des Soziobiologen Edward O. Wilson, dass auch heute bei Menschen nur solche Verhaltensweisen aufträten, die der Förderung der eigenen Gene dienten. Denn andernfalls, so das Argument von Wilson, würden Menschen

215 Theißen, Bibelverständnis und Hilfsmotivation, 299. 216 Vogt, Sozialdarwinismus, 137. 217 Vgl. dazu Vogt, Die Stärke der Schwachen, 9: „Anthropologisch und kulturell sind Krisen oft auch besondere Chancen. Eine Gesellschaft, die Menschen, die in den standardisierten Bewertungssystemen nicht reibungslos funktionieren und folglich schwach erscheinen, schnell ausgrenzt, beraubt sich möglicherweise der kreativsten Potentiale künftiger Leistungsträger. Solidarität mit Menschen in Krisen und Distanz gegenüber kurzfristiger Ergebnisorientierung kann ein Entdeckungsverfahren für schöpferische Talente von morgen sein. Innovation braucht Schonräume.“

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

aussterben.218 Theißen interpretiert Wilsons Position daher so, dass selbstlose Hilfe eine evolutionäre Unmöglichkeit darstelle: Echter Altruismus könne sich unter Menschen nicht durchsetzen, weil Menschen, welche die Förderung ihrer eigenen Gene unterlassen, diese (und damit sich selbst) aus der Geschichte hinauskatapultieren [...] Echter Altruismus wäre evolutionär dysfunktional.219

In Auseinandersetzung mit dieser Position untersucht Theißen das in Lk 10,25-37 dargestellte Hilfsethos. Er macht deutlich, dass die oben geäußerte These Wilsons aus der Perspektive dieses Gleichnisses zu kurz greift. Denn konträr zur Sichtweise von selbstloser Hilfe als evolutionäre Unmöglichkeit demonstriere Lk 10,25-37 die grundsätzliche Möglichkeit des Menschen zu selbstloser Hilfe. Diese Möglichkeit, selbstlose Hilfe zu leisten, scheine implizit in der Frage auf, die Jesus an den Schriftgelehrten richte: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem der Nächste geworden, der unter die Räuber gefallen war?“220 (Lk 10,36). In dieser Frage gehe es nicht darum, den Nächsten von vorneherein einer bestimmten Gruppe zuzuordnen und dann – von dieser Gruppenzuordnung ausgehend – Hilfe zu leisten oder auch zu verweigern. Statt sich an berechnenden Erwägungen zum Nutzen der Hilfe für den Helfenden zu orientieren, werde die Praxis der Hilfe gegenüber einem anderen stattdessen performativ als ein „Nahe-Kommen“ verstanden. „Hilfe“, so erläutert Theißen, „ist in der Samariterperikope [...] nicht Ausdruck eines vorgegebenen Status, sondern begründet Status.“221 Ein solches Verständnis von Hilfe als Nahe-Kommen drücke aus, dass Menschen durch ihr je konkretes Verhalten Beziehungen von Nähe und Distanz, von Hilfe oder von Vernachlässigung, überhaupt erst schaffen. Die Frage: Wer ist mein Nächster? lässt sich dann so beantworten: Es ist kein vorgegebener und abgegrenzter Kreis von Menschen, sondern alle, denen man „nahekommen“ kann, indem man ihnen hilft. Der „Nächste“ ist kein Status, aus dem die Pflicht zu Hilfe und Liebe folgt, sondern umgekehrt: Hilfe und Liebe machen uns gegenseitig zu „Nächsten“. Dieser Nächste kann uns räumlich, genetisch, kulturell und religiös fern stehen. Sofern wir uns ihm „nähern“ und ihm effektiv Hilfe leisten können, wird er unser „Nächster“.222

218 Vgl. Wilson, Biologie als Schicksal, 145: „Gefallene Helden haben keine Kinder. Wenn die Selbstaufopferung zu einer geringeren Nachkommenzahl führt, ist damit zu rechnen, daß die Gene, aus denen Helden entstehen können, allmählich aus der Population verschwinden.“ 219 Theißen, Bibelverständnis und Hilfsmotivation, 299. 220 A.a.O., 309. 221 Ebd. 222 A.a.O., 310.

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Kommt man von einem solchen Verständnis von Hilfe her, lässt sich mit Theißen eine Kritik an der These von selbstloser Hilfe als evolutionäre Unmöglichkeit formulieren. Zwar ist Hilfe im Lauf der Evolution wohl deshalb erfolgreich tradiert worden, weil sie als Hilfe auf Gegenseitigkeit und als Hilfe gegenüber Verwandten auch das Leben des Helfenden schützte. Doch übersehen bestimmte soziobiologische Perspektiven, dass Hilfe, war sie evolutionär einmal entstanden, auch unabhängig vom Reproduktionsvorteil für die eigene Person, für Verwandte oder für die eigene Gruppe praktiziert werden konnte. Unter Verweis auf die Erzählung vom barmherzigen Samariter plädiert Theißen daher für eine evolutionäre Anthropologie, die die Möglichkeit des Menschen betont, sich von einem Kosten-Nutzen-Denken zu distanzieren. Menschen seien zu vielfältiger Wahrnehmung imstande und nicht darauf festgelegt, einen anderen nur unter der Perspektive des Überlebens- und Reproduktionsvorteils für die eigene Person wahrzunehmen. In diesem Sinne ermögliche die alternative Wahrnehmung des anderen als bedürftiger Mitmensch ein Verhalten der Zuwendung jenseits der Frage des evolutionären Eigennutzes. Schließlich macht Theißen mit seiner Interpretation des Samaritergleichnisses deutlich, dass Hilfe gegenüber Bedürftigen nicht notwendigerweise auf eine christliche Begründung oder christliche Motivation angewiesen ist. Denn das Gleichnis erzähle nur vom Mitleid (ἐσπλαγχνίσθη) des Samariters (vgl. Lk 10,33), das den Samariter dazu bewege, dem Bedürftigen zu helfen.223 Mitleid sei wiederum eine allgemein-menschliche Regung mit Wurzeln in der biologischen Evolution; religiöse Motive des Samariters würden hingegen nicht erwähnt.224 Insofern interpretiert Theißen Lk 10,25-37 als Plädoyer für die allgemein-menschliche Bereitschaft und Möglichkeit zu grenzüberschreitender Hilfe, ohne dass diese Hilfe dem Helfenden einen Reproduktions- oder Überlebensvorteil einbringen muss.225 3.

Religionen als gestaltende Kräfte innerhalb der Evolution (Nischenkonstruktion)

Schließlich setzt sich Theißen kritisch mit evolutionären Religionstheorien auseinander, die Religion entweder als Mittel zur Kooperation in der Gruppe (vgl. B.III.1.4) oder als Mittel zur Legitimierung gesellschaftlicher Strukturen verstehen (vgl. B.III.2.1). Theißen argumentiert für die Unzulänglichkeit eines Verständnisses von Religion als Stabilisator der Gruppe und betont demgegenüber, dass sich zum Beispiel die

223 Vgl. a.a.O., 301: „Der Samariter handelt, weil er den Halbtoten sieht, weil er Mitleid fühlt.“ 224 Ebd. 225 Vgl. a.a.O., 302: „Hilfsmotivation ist souverän gegenüber kulturellen und religiösen Grenzen.“

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

christliche Religion durchaus kritisch gegenüber der eigenen Gruppenzugehörigkeit verhalten könne, indem die Liebe auch gegenüber Fremden und Feinden jenseits der Gruppe der Christen gefordert werde. „Die Ethik Jesu macht mit der Feindesliebe die Durchbrechung traditioneller Abgrenzungen zur Pflicht.“226 Ferner macht Theißen deutlich, dass Religionen immer schon ein Ineinander von natürlichen Prädispositionen des Menschen, und erlernten Deutungen und Konstruktionen seien. Religion ausschließlich als Produkt der biologischen Evolution zu verstehen, greife daher zu kurz: Beruhen nicht schon die ersten „evolutionären“ Vorteile [der Religion] auf einem Zusammenspiel von Biologie und Kultur? [...] [W]urde die anthropomorphe Deutung der Welt, die Mythen der Vorväter, das Ethos des Stammes und seine Riten – nicht schon immer durch kulturelle Tradition übermittelt?227

Des Weiteren widerspricht Theißen einer kulturellen Religionstheorie, die die Funktion der Religion darin gegeben sieht, gesellschaftliche Ordnungen zu stützen.228 Dagegen wendet Theißen – unter Zuhilfenahme einer vom Religionswissenschaftler Theo Sundermeier eingeführten Unterscheidung von Religionen in Primärund Sekundärreligionen229 – ein, dass es Religionen gebe, die bestehende gesellschaftliche Ordnungen bewusst kritisierten: Kritisiert werde in diesen so genannten Sekundärreligionen, zu denen Theißen Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus zählt, die Vorstellung eines Gottes, der die bestehende Gesellschaftsordnung stützt. Stattdessen käme in Sekundärreligionen die Überzeugung auf, dass Gott die gesellschaftliche Ordnung transzendiere: Weil Gott als der „Ganz Andere“230 begriffen werde, trete er potentiell in Widerspruch zu bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen. Mittels des Begriffs der Sekundärreligionen plädiert Theißen somit dafür, dass eine gesellschaftskritische Ausrichtung kein Proprium der christlichen Religion ist, sondern in unterschiedlichen Religionen auftritt.231 Sekundärreligionen ließen sich aus der Sicht der Theorie der kulturellen Evolution ferner nicht als bloße Anpassung an vorgegebene kulturräumliche Umwelten verstehen, sondern diese Religionen hätten selbst eine Umwelten verändernde,

226 Theißen, Spuren Gottes in der Evolution, 442. 227 A.a.O., 443. 228 Vgl. a.a.O., 444. Theißen verweist als Beispiel für einen Vertreter einer solchen kulturellen Religionstheorie auf den Altphilologen Walter Burkert. Vgl. auch Burkert, Homo Necans, 44. 229 Vgl. Sundermeier, Religion – was ist das, 38–47. 230 Theißen, Spuren Gottes in der Evolution, 448. 231 Ebd: „Die Schriftreligionen entstanden alle durch Kritik an dieser primärreligiösen Heiligung der Welt. […] Kritisiert wird die Gottesvorstellung aufgrund einer radikaleren Transzendenzerfahrung: Erst jetzt wird Religion zum Erleben des ‚Ganz Anderen’.“

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gestaltende Kraft.232 Sie seien kreativ, denn sie reproduzierten nicht bloß kulturell geschaffene Strukturen oder Grenzziehungen, sondern griffen interpretierend und gestaltend in diese ein: Obwohl Theißen den Begriff in diesem Zusammenhang selbst nicht nennt, lassen sich die christliche Religion und andere Religionen aus evolutionstheoretischer Perspektive daher so interpretieren, dass diese Religionen ‚Nischenkonstruktion‘ leisten. Sie verhalten sich kreativ-gestalterisch zu ihren vorgefundenen kulturellen Umwelten. So gestalteten sie die kulturelle Evolution mit (vgl. zum Begriff der Nischenkonstruktion B.I.4).233 4.

Theißens religionssoziologische Konkretisierung status- und gruppenübergreifender Nächstenliebe am Beispiel urchristlicher Gemeinden

Über weite Strecken seiner evolutionstheoretischen Perspektiven auf die christliche Religion konzentriert sich Theißen auf biblische Texte, deren Inhalte er mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven interpretiert. Konkret verortet er das biblische Ethos als ausgeweitete Nächstenliebe und als Statusverzicht der Mächtigen im Gegenüber zu evolutionär gewordenen Verhaltensweisen.234 Doch sind gruppenübergreifende Nächstenliebe und Statusverzicht der Mächtigen nicht nur Forderungen auf der Ebene biblischer Texte. Vielmehr stellt Theißen die sozialgeschichtliche These auf, dass biblische Texte auch auf das Selbstverständnis der ersten Christen und ihr Gemeindeleben zurückgewirkt haben bis hinein in elementare leibliche Vollzüge wie das gemeinsam gefeierte Abendmahl. Der christliche Glaube bestehe aus einer „Einheit von Lebens- und Zeichenwelt“235 , weil neutestamentliche Texte in Gemeinden gelesen und pragmatisch auf das Gemeindeleben appliziert wurden. Um zu verstehen, wie soziale Interaktionen in den urchristlichen Gemeinden verliefen,236 rekonstruiert Theißen zunächst die sozialen Strukturen der urchristlichen Gemeinden. Urchristliche Gemeinden waren nach Theißen primär ein urbanes

232 Vgl. a.a.O., 425. 233 Vgl. zum Verständnis des christlichen Glaubens als Nischenkonstrukteurin Markus Mühling, Resonanzen, 245: „Wenn die kommunitäre Lebensform des Glaubens – die Kirche – nicht nur ihre eigenen Medien des kulturellen Vokabulars zur Kommunikation des Evangeliums hervorbringt […] und wenn diese sozialen Ausdrücke des Glaubens nicht nur bei der Konstruktion von Gemeinschaften eine Rolle spielen, die den adaptionellen Bedürfnissen einer Gesellschaft entsprechen, dann kann auch der Glaube so verstanden werden, dass er seine eigene Nische konstruiert – eben indem er die Gesellschaft als Ganze mehr oder weniger verändert, selbst wenn das nicht intendiert sein mag.“ 234 Vgl. Theißen, Nächstenliebe und Statusverzicht, 121. 235 Theißen, Religion der ersten Christen, 409. 236 Vgl. Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 415.

Theißens neuere evolutionstheoretische Arbeiten

Phänomen. Sie bestanden vornehmlich, aber nicht ausschließlich, aus Leuten der Unterschicht. Etwa ein Fünftel der Gemeindemitglieder waren nach Theißen Sklaven, die Mehrheit der Gemeindemitglieder bestand aus Freigelassenen sowie ein paar freien Bürgern.237 Diesen drei Gruppierungen der Unterschicht stand eine kleine Minderheit von Dekurionen und Stadträten gegenüber, die der lokalen Elite angehörten und damit Teil der Oberschicht waren.238 Das bedeutete, dass es in urchristlichen Gemeinden wenige relativ Wohlhabende und viele Arme am Rande des Existenzminimums gab.239 Durch diese Personenkonstellation war nach Theißen die Gefahr gegeben, dass wenige Reiche die Geschicke der Gemeinde lenkten und im besten Fall zu Patronen der Armen wurden. Christliche Nächstenliebe würde in einem solchen Fall weder zu einer Veränderung sozialer Ungleichheiten noch zur Aufhebung von Ausgrenzung führen.240 Theißen beschreibt nun, dass die urchristlichen Gemeinden einer Abhängigkeit der vielen Armen von den wenigen Reichen entgegenzuwirken suchten. Der Glaube an Christus sei, zumindest in Selbstdarstellungen der ersten Christen,241 das verbindende Element, das die Gleichheit der Mitglieder der Gemeinde begründete unabhängig vom sozialen Status des Glaubenden.242 Weil sich die ersten Christen nach Theißen in theologischer Perspektive einen hohen Status als Söhne und Töchter Gottes zusprachen, konnten sie sich außerdem freimütig und selbstbewusst Verhaltensweisen zumuten, die sonst nur mit Mitgliedern der antiken Oberschicht assoziiert waren. Die antike „Wohltätigkeitsmentalität“243 , die freiwillige Gabe der Oberschicht an die Armen, wurde in urchristlichen Gemeinden daher auch von Mitgliedern der Unterschicht praktiziert. Diese Forderung konnte nach Theißen so weit gehen, dass arme Gemeindemitglieder fasteten, um Geld, was sie sonst für Nahrung ausgeben würden, spenden zu können.244 Solche Spenden durch ärme-

237 Vgl. Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 423. 238 Vgl. a.a.O., 422. Theißen geht allerdings davon aus, dass weniger als 1% der Gemeindemitglieder der Oberschicht angehörten (vgl. a.a.O., 423). 239 Vgl. a.a.O., 424. 240 Theißen verweist als Beleg für diese kritische Einschätzung des urchristlichen Hilfsethos auf die Arbeit von Hendrik Bolkestein: Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem Moral und Gesellschaft, Utrecht 1939 = Groningen 1967 (vgl. Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 413). 241 Vgl. Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 415. 242 Vgl. a.a.O., 417.435. 243 A.a.O., 427. 244 Vgl. a.a.O., 431. Vgl. auch Theißen, Die Witwe als Wohltäterin, 180f. für eine exegetische Einzeluntersuchung. Theißen interpretiert die Erzählung vom Scherflein der Witwe (Mk 12,41-44) als Beispiel für diakonisches Fasten. Die arme Witwe gibt trotz ihrer Armut freigiebig das Wenige, was sie hat, auch wenn sie dafür fasten muss. Dabei zeige sie trotz ihrer Armut eine Freimütigkeit und Großzügigkeit im Umgang mit Besitz, wie sie sonst nur Angehörigen der Oberschicht

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re Gemeindemitglieder bewirkten, dass Strukturen der Abhängigkeit der vielen Armen von den wenigen Reichen vermieden wurden: Im Christentum soll nicht gelten, was sonst überall selbstverständlich war, dass die Reichen und Überlegenen die großen Spender sind, vielmehr gilt: Die Armen sind gleichberechtigte Spender! Sie geben nicht nur nach Maß, sondern notfalls ihren ganzen Lebensunterhalt. Ein traditioneller Oberschichtwert, die Möglichkeit, durch Spenden und Wohltaten Ansehen zu erwerben, wird hier auf alle übertragen, auch auf die ganz Armen!245

Auch bei der wöchentlichen Feier des Herrenmahls wurden nach Theißen bestehende soziale Zuschreibungen ausgesetzt. Anders als andere antike Vereine, deren Mitglieder sich nur circa sechsmal im Jahr zu einem Essen trafen, boten die christlichen Gemeinden ihren Mitgliedern nach Theißen eine wöchentliche gemeinsame Mahlzeit an. Auch der Ort der Versammlung war bezeichnend: Es handelte sich in der Regel um Privathäuser der wenigen Wohlhabenden, in denen die Gemeindemitglieder zusammenkamen.246 Dass Leute aus der Unterschicht wöchentlich bei Wohlhabenden speisten, war nach Theißenaus sozialgeschichtlicher Sicht ein Novum in der antiken Welt. Zudem brachte jedes Gemeindemitglied abhängig von seinen Möglichkeiten zwar unterschiedliche Mengen an Essen mit. Das Essen wurde dann jedoch zu gleichen Teilen unter allen aufgeteilt, auch unter denen, die nichts oder nur wenig mitbrachten. So wurde es möglich, dass alle das Mahl trotz teilweise geringer eigener Ressourcen zusammen feiern konnten.247 Freilich stellt diese Beschreibung, wie Theißen selbst einräumt, einen Idealzustand dar. Dass gerade im Rahmen urchristlicher Mahlfeiern das Thema Status faktisch eine wichtige Rolle spielte und eine Gleichheit in den Beziehungen häufig nicht bestand, zeigt bereits 1. Kor 11,17-34. Dort kritisiert Paulus, dass die Reichen in der korinthischen Gemeinde ihre mitgebrachten Speisen verzehren, noch bevor die ärmeren Gemeindemitglieder, die aufgrund beruflicher Verpflichtungen erst später zum Abendmahl kommen können, eingetroffen sind. Weil die Armen

zugemutet und zugetraut würde. Eine arme Witwe werde so zum Subjekt der Hilfe. Die Erzählung vom Scherflein der Witwe will nach Theißen deutlich machen, dass Arme nicht nur Objekte von Hilfe und damit potentiell abhängig von Reicheren sind. Die Erzählung, dass eine arme Witwe ihr Weniges spendet, intendiere in pragmatischer Hinsicht vielmehr eine Sichtweise, wonach arme Menschen in den urchristlichen Gemeinden auch selbstbewusste und selbstbestimmte Täter von Hilfe sein können. 245 Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 427. 246 Vgl. a.a.O., 434f. 247 Vgl. a.a.O., 433f.

Gesamtauswertung zu Gerd Theißen

nicht genügend für ihre eigene Sättigung mitbringen konnten, blieben sie hungrig, während die Reichen bereits satt waren.248

V.

Gesamtauswertung zu Gerd Theißen

Die Evolutionstheorie plausibilisiert laut Theißen ein Bild von Natur- und Kulturgeschichte als veränderlichem Möglichkeitsspielraum: Die Entdeckung von Genmutationen mache deutlich, dass bereits in der Natur unableitbar Neues auftrete. Umso mehr gelte dies für den Raum der (menschlichen) Kultur, in der statt neuer genetischer Varianten neue Ideen und Verhaltensweisen aufträten (kulturelle Evolution).249 Zugleich definiert Theißen Evolution als Kampf ums Überleben. Nicht nur die biologische Evolution, sondern auch die menschliche Geschichte sei ein „Verteilungskampf um Lebenschancen“250 . Das Streben nach Ressourcen, Prestige und Ansehen in der Gruppe bestimme nicht nur die Naturgeschichte, sondern auch menschliche Kulturgeschichte. Diese beiden evolutionstheoretischen Annahmen – Natur und Geschichte als dynamischer Möglichkeitsspielraum und Natur und Geschichte als Verteilungskampf um Lebenschancen – sind die Grundpfeiler von Theißens Begriff der Evolution. Von ihnen herkommend interpretiert Theißen die biologische und die kulturelle Evolution so, dass in ihr zwar ein Kampf ums Überleben herrscht, dieser Kampf jedoch nicht unveränderlich gegeben ist. Insbesondere Menschen griffen immer schon gestaltend in die Evolution ein und könnten so potentiell den Selektionsdruck reduzieren.251 Dass Menschen ihr Handeln an der Minderung von Selektion orientieren sollen, ist nach Theißen die zentrale Forderung des christlichen Glaubens, die in der Überzeugung von der Menschenfreundlichkeit Gottes gründet, der die Glaubenden durch ihr Verhalten zu entsprechen suchen.

248 Vgl. dazu Theißen, Soziale Integration und sakramentales Handeln, 290–317. Vgl. auch Lampe, Das korinthische Herrenmahl, 183–213. 249 Theißen, Neutestamentliche Christologie, 245: „Die Mutationsmetapher kann als Modell zum Ausdruck bringen, dass eine evolutionäre Sicht der Welt prinzipiell mit neuen Gestalten des Lebens rechnen muss, die über unsere Möglichkeiten hinausgehen.“ 250 Theißen, Jesusbewegung, 245. 251 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 31: „Kultur ist Selektionsminderung durch Verhaltensänderung und Verhaltensdifferenzierung.“

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1.

Evolution als Zusammenspiel aus Anpassung an Umwelten und Nischenkonstruktion

In Theißens 1984 erschienener Monographie „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“ ist sein Verständnis von Evolution stark durch den Begriff der Anpassung geprägt, den er so versteht, dass eine unveränderliche Gesamtwirklichkeit die Bedingungen vorgibt, an die sich Lebewesen anpassen müssen. Lebewesen erscheinen so als Objekte der Evolution.252 Diese prominente Stellung des Konzepts der Anpassung entsprach dem damaligen Stand der Evolutionstheorie, die die Eigenschaften eines jeden Organismus grundsätzlich als Anpassung verstand. Ein solches adaptationistisches Verständnis der Evolution ist in neueren evolutionstheoretischen Forschungen, der Erweiterten Evolutionären Synthese, seit den 2000er Jahren kritisiert worden.253 Ein Kritikpunkt lautet, dass der Begriff der Anpassung ausdrücke, dass Lebewesen sich einseitig nach den von der Umwelt vorgegebenen Bedingungen richten müssten, d. h. ausschließlich Objekte der Evolution seien. Neuere Forschungen verstehen Evolution hingegen stärker als ein Zusammenspiel aus Anpassung an vorgegebene Bedingungen und aus Gestaltung von Umwelten (Nischenkonstruktion): „Durch Nischenkonstruktion wird der Selektionsdruck der Umwelt mitverändert und die Organismen werden zu Ko-Direktoren ihrer eigenen Evolution.“254 Die jeweilige nischengestaltende Aktivität der Lebewesen hat daher Auswirkungen auf die Bestimmung des Selektionsdrucks.255 Diesen Sachverhalt aufgreifend entwickelt der Philosoph Evan Thompson den Begriff der „enaktiven Evolution“256 , wonach Umwelten und Lebewesen in Wechselwirkung zueinanderstehen: Lebewesen beeinflussen ihre Umwelten und werden andererseits wiederum von den Umwelten beeinflusst, an die sie sich anpassen müssen. Unter Aufgriff der Theorie der enaktiven Evolution schlussfolgert der Theologe Alexander Maßmann

252 Vgl. a.a.O., 46: „Was aber ist jene geheimnisvolle letzte Wirklichkeit, auf die hin alle unsere organischen, intellektuellen und religiösen Strukturen Anpassungsversuche entwerfen?“ 253 Vgl. Sumser, Evolution der Ethik, 29: „Die Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten birgt die Versuchung, für nahezu jedes Merkmal eine Adaptations-Geschichte nicht nur zu finden, sondern auch zu erfinden.“ 254 A.a.O., 57. 255 Vgl. Odling-Smee, Niche Construction, 1–3. 256 Thompson, Mind in Life, 218. Evan Thompson versteht enaktive Evolution als „living beings laying down historical pathways through their own dynamics and those of the environments to which they are structurally coupled”. Insofern haben Lebewesen nach Thompson eine konstitutive Rolle bei der Gestaltung der Umwelten, an die Anpassung erfolgt, und sind daher immer auch Subjekte der Evolution.

Gesamtauswertung zu Gerd Theißen

zu Recht, dass Lebewesen im Rahmen der Evolution „Aktivität und Passivität“257 zuzuschreiben ist. Außerdem betonen neuere Erkenntnisse in der Evolutionsforschung stärker als frühere Forschungen, dass bereits in der Natur Empathie und Kooperation entstanden sind und insofern die Metapher von der biologischen Evolution als „Kampf ums Dasein“258 eine Gewalttätigkeit und Grausamkeit suggeriert, die in dieser Einseitigkeit in der Natur nicht vorkommt. Hilfe und Empathie sind, wie insbesondere der Verhaltensbiologe Frans de Waal gezeigt hat, nichts, was sozial lebenden Tieren fremd wäre.259 Ein Verständnis von Evolution als ausschließlicher Kampf um Ressourcen, Status und Macht muss daher zurückgewiesen werden. Theißen greift diese evolutionstheoretischen Erkenntnisse in seinen neueren evolutionstheoretischen Arbeiten ab 2011 auf. Er verweist auf selektionsmindernde Verhaltensweisen, die bereits in der Natur aufkommen (Hilfe gegenüber Verwandten und Mitgliedern der eigenen Gruppe sowie die grundsätzliche Neigung zu Kooperation und Empathie),260 und arbeitet zu Recht heraus, dass Selektionsprozesse bereits in der Natur keine ausschließlich externen Größen sind, sondern durch die Aktivität der Lebewesen („Nischenkonstruktion“) mitgestaltet werden.261 2.

Schwierigkeiten mit Theißens Verortung Gottes als Ziel der Evolution

Problematisch ist Theißens Versuch, biologische und kulturelle Evolution in eine evolutionäre Metatheorie zu integrieren. Im Zuge dessen hatte Theißen in seiner frühen Arbeit von 1984 die These aufgestellt, dass sich sowohl die biologische als auch die kulturelle Evolution als Formen der Anpassungen an eine vorgegebene objektive Wirklichkeit verstehen lassen. In diesem Sinne hatte Theißen bemerkt: Der ganze evolutionäre Weltprozeß – von den kleinsten mikrophysikalischen Gegebenheiten bis hin zu den Galaxien, von Einzellern bis zum Großhirn, von den skurrilsten Mythen bis zu den differenziertesten theoretischen Systemen – tastet danach, immer

257 Maßmann, Auf der Grenze, 326. Alexander Maßmann argumentiert dahingehend, dass Lebewesen einerseits Produkte der Selektion sind und damit in der Evolution als passiv zu denken sind. Auf der anderen Seite betont er mit Evan Thompson die Fähigkeit der Lebewesen zur Gestaltung ihrer Umwelten und damit zur Veränderung des Selektionsdrucks. 258 Darwin, Die Entstehung der Arten, 94. 259 Vgl. De Waal, Primaten und Philosophen, 43–48. 260 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 194. 261 Vgl. Theißen, Die Legitimitätskrise des Helfens, 299: „Schutz und Hilfe sind evolutionär nicht nur dysfunktionale Gegenselektion, sondern als Zufallsfaktor in die Evolution eingebaut.“

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adäquatere Anpassungsstrukturen an diese letzte Realität zu finden. Kurz: Die Welt ist eine Hypothese, um Gott gerecht zu werden.262

Dagegen wurde in dieser Arbeit erstens eingewandt, dass Evolution nicht nur durch Anpassung, sondern auch durch Nischenkonstruktion verläuft, sodass das Verständnis von Evolution als ausschließlicher Anpassung an eine unveränderliche, vorgegebene Wirklichkeit zu einseitig ist.263 Wirklichkeit ist aus dieser evolutionstheoretischen Perspektive sowohl beobachterunabhängig gegeben, als auch durch Lebewesen immer schon mitgestaltet. Zweitens ist das Konzept der Gesamtwirklichkeit, das Theißen in Anlehnung an Pannenberg zur Beschreibung des Ziels von Naturgeschichte und menschlicher Geschichte verwendet, kein Begriff, mit dem die Evolutionstheorie operiert. Stattdessen nennt die Evolutionstheorie empirisch beschreibbare, lokale Umwelten , an die Anpassung erfolgt, ohne dahinter die Existenz einer Gesamtwirklichkeit anzunehmen.264 Drittens ist Theißens Bestimmung von Gott als Woraufhin evolutionärer Anpassung aus methodischen Gründen problematisch. Methodisch problematisch ist sie deshalb, weil die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie auf empirisch beschreibbare Phänomene rekurriert, aber nicht auf eine jene Phänomene umgreifende Gesamtwirklichkeit. Die Rede von Gott, wie überhaupt jede metaphysische Aussage, liegt daher außerhalb des Bereichs, den sie methodisch erfassen kann.265 Viertens ist auch aus theologischer Sicht die Annahme von Gott als Ziel evolutionärer Anpassung problematisch, da diese Annahme eine schrittweise Entwicklung der Evolution auf Gott hin impliziert. Insbesondere die eschatologische Lehre von

262 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 46. 263 Odling-Smee, Niche Construction, 370: „[We] have invited the reader think about niche construction differently by regarding it not as just a product of evolution, but as a co-contributor, with natural selection, to the evolutionary process itself. From this perspective, niche construction is more than just the expression of adaptations, it is a broader evolutionary process of which the usual notion of adaptation is just a part.” 264 Vgl. dazu exemplarisch die Beschreibung der Selektion als differenzieller Fortpflanzungserfolg in Abhängigkeit von den jeweiligen Umwelten beim Evolutionsbiologen Veiko Krauß: „[Der] Phänotyp des einzelnen Organismus wird in seiner konkreten Umwelt [...] einen mehr oder weniger großen, vielleicht auch gar keinen Fortpflanzungserfolg haben. Erst dieser Erfolg oder Misserfolg ist die Selektion.“ (Krauß, Gene, Zufall, Selektion, 24). Vgl. auch Ayala, Evolution, 31: „An unterschiedlichen Orten oder unter unterschiedlichen Bedingungen bevorzugt die natürliche Auslese jeweils andere Merkmale: genau jene, die den Organismus besser an die jeweiligen Lebensumstände anpassen“. 265 Vgl. Link, Wahrnehmung der Natur als Schöpfung, 60: Das „Band, das die wissenschaftlich erkennbare Natur an einen göttlichen Ursprung binden könnte, [ist] methodisch durchschnitten“.

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einem göttlichen Gericht betont gegenüber einem solchen latenten Fortschrittsdenken die Diastase zwischen Gott und Welt in einer Weise, dass deutlich wird, dass die Welt nicht ‚von sich aus‘ Gott entsprechen kann.266 Fünftens scheint der Verfasserin angesichts der bleibenden Bedrohungen, denen die Erde durch natürliche Katastrophen (zum Beispiel Erdbeben), wie auch menschengemachte Katastrophen (zum Beispiel Klimawandel, damit zusammenhängendes Artensterben, Genozid) ausgesetzt ist, Theißens Annahme einer fortschreitenden Selektionsminderung im Rahmen menschlicher Geschichte – die kulturelle Evolution als Anbruch einer „neuen Welt“267 – nicht überzeugend. Somit geht der christliche Glaube an Gott als unbedingt lebensfreundliche Wirklichkeit über das hinaus, was aus der Evolution selbst ersichtlich wird. Doch kann der vorgängige christliche Glaube andererseits zum Ausgangspunkt werden, von dem herkommend das Verhalten des Menschen in der Evolution orientiert werden kann. Diese Verhaltensorientierung lässt sich dann wiederum im Sinne Theißens so formulieren, dass der Mensch dazu aufgerufen ist, Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten für alle Menschen gleichermaßen zu realisieren, weil dies der geglaubten Wirklichkeit Gottes als „unbedingte[r] Variationstoleranz“268 entspricht. Der christliche Glaube stellt so eine mögliche Orientierungsgröße für menschliches Verhalten in der Evolution dar. 3.

Schwierigkeiten mit dem Selektionsbegriff zur Beschreibung von Ausgrenzungsprozessen in der Kultur

In seinem ursprünglichen Kontext im Rahmen der biologischen Evolutionstheorie beschreibt der Begriff Selektion, dass Lebewesen im Vergleich mit den übrigen Mitgliedern ihrer Population besser oder schlechter an ihre Umwelt angepasst sind. Aus dieser unterschiedlich guten Anpassung resultieren Unterschiede im Überleben und in der Fortpflanzung der Lebewesen bzw. der Tradierung der Gene in die nächste Generation. Selektion geschieht also nicht zufällig, sondern gerichtet. Sie bezeichnet den Vorgang der „differenzielle[n] Reproduktion der erblichen Variationen“269 . Theißen verwendet den Selektionsbegriff jedoch in einem etwas anderen Sinn. Er wendet ihn auf die im Neuen Testament genannten Armen, Kranken, Fremden und Sünder an und beschreibt die im Neuen Testament geforderte Zuwendung zu

266 Vgl. Mühling, Resonanzen, 213: „Das Ziel [der Welt] kann nicht als ein Resultat natürlicher Prozesse verstanden werden, d. h. es kann nicht als Ergebnis rein immanenter Prozesse, Regeln und Gesetze verstanden werden. Der vollendete Zustand der Welt ist damit nicht selbst ein Teil der Welt.“ 267 Theißen, Neutestamentliche Christologie, 243. 268 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 71. 269 Ayala, Evolution, 30.

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diesen Personengruppen als „antiselektionistische[...] Revolte“270 . Allerdings ist zum Beispiel der Fremde in biologischer Hinsicht keineswegs schlecht angepasst. Vielmehr ist die Bezeichnung einer Person als ‚fremd‘ Folge kultureller Konstruktion. Insofern darf Theißens Selektionsbegriff hier nicht in einem biologischen Sinne verstanden werden. Viele der Selektionsvorgänge, gegen die sich neutestamentliche Texte laut Theißen wenden, geschehen aufgrund kultureller Konstruktion und nicht aufgrund einer mangelnden biologischen Angepasstheit an vorgegebene Umwelten. Außerdem bezieht sich der Selektionsbegriff der biologischen Evolution auf differenzielles Überleben und differenzielle Fortpflanzung. Die neutestamentlichen Texte, die Theißen als antiselektionistisch interpretiert, nennen jedoch marginalisierte Menschengruppen, wie Fremde (vgl. Mt 25,38) oder Sünder (vgl. Lk 7,36-50),271 die nicht direkt vom Tod, sondern von Diskriminierung betroffen sind. Daher verwendet Theißen den Begriff der Selektion deutlich anders, als er in der Theorie der biologischen Evolution verwendet wird. Angesichts der genannten Unterschiede zwischen Natur und Kultur lässt sich daher fragen, ob es angemessen ist, den Selektionsbegriff sowohl für differenzielles Überleben und differenzielle Reprodution in der Natur als auch für den Vorgang der Marginalisierung in der Kultur zu verwenden. Die Verwendung des Selektionsbegriffs für zwei so unterschiedliche Phänomene führt dann zu Verständnisproblemen. 4.

Das biblische Sozialethos vor dem Hintergrund einer evolutionären Anthropologie

Obwohl der Selektionsbegriff also nur eingeschränkt zur Beschreibung von Prozessen der Ausgrenzung und Verelendung von Personen in menschlicher Geschichte verwendet werden kann, lässt sich im Anschluss an Theißen doch festhalten, dass Menschen aufgrund ihres evolutionären Erbes zu einem Verhalten des Strebens nach Ressourcen und nach Status auf Kosten anderer neigen. Diese Verhaltenstendenzen stehen in Kontinuität mit der biologischen Evolution, in der diese Verhaltensweisen selektionsprämiert waren, wie die Soziobiologie herausgearbeitet hat.272

270 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 146. Vgl. auch ebd.: „Selektion bedeutet: Aggresesion gegen den Fremden, der das eigene Territorium bedroht. Das Neue Testament fordert Feindesliebe und verheißt den Sanftmütigen den Besitz des Landes, denen, die auf Gewalt verzichten.“ 271 Vgl. a.a.O., 145: „Gott erscheint nicht mehr als vernichtende Macht – anders ausgedrückt: nicht als Inbegriff der vom Selektionsdruck ausgehenden Bedrohung […]. Gott bietet dem Sünder Leben an.“ 272 Vgl. Wuketits, Gene, Kultur und Moral, 112f. Vgl. auch Voland, Soziobiologie, 54.

Gesamtauswertung zu Gerd Theißen

Von einer solchen evolutionären Anthropologie herkommend lässt sich dann mit Theißen das Eigentümliche des biblischen Sozialethos präzise im Gegenüber zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen verorten. Das biblische Sozialethos kritisiert das Streben nach Status zulasten anderer und fordert, dass nicht eigene Lebensmöglichkeiten auf Kosten anderer verwirklicht werden, sondern dass gegenseitige Hilfe und der Verzicht auf einen hohen Status sowie die Abgabe eigener Güter zugunsten Marginalisierter praktiziert werden. Lebensmöglichkeiten sollen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander entwickelt und verwirklicht werden. Eine evolutionstheoretische Perspektive dient so als Verstehenshintergrund, von dem her der hohe Anspruch und der hohe Anforderungscharakter des biblischen Sozialethos deutlich wird: Denn Hilfe gegenüber Bedürftigen, die nicht der eigenen Familie oder Gruppe angehören, kommt in der Natur zwar gelegentlich vor; ist insgesamt jedoch eine Seltenheit.273 Auch menschliche Gemeinschaften neigen in Kontinuität zum evolutionär erfolgreichen Verhalten der biologischen Evolution dazu, die eigene Gruppe oder Familie Fremden vorzuziehen.274 Theißen zeigt ferner eindrücklich, dass ein gruppen- und statusumgreifendes Sozialethos bereits im Alten Testament eng mit theologischen Überzeugungen vom Wesen und Willen Gottes verknüpft wird. Hilfe gegenüber Personengruppen, die durch verwandtschaftliche und gesellschaftliche Versorgungsnetzte durchfallen, also beispielsweise Fremde, Witwe und Waisen, wird im Alten Testament unter anderem durch den Verweis auf den Willen Gottes gefordert. Weil Gott dort selbst für Marginalisierte eintritt – wie sich konkret in der Befreiung Israels aus ägyptischer Knechtschaft zeigt –, darum sollen auch Menschen einander jenseits eigener Verwandtschaftsbeziehungen helfen – gerade dann wenn Personen ansonsten rechtoder schutzlos sind (vgl. exemplarisch Ex 22,20-23; Lev 19,33f.; Dtn 24,17f.).275 Durch eine solche theologische Begründung im Willen Gottes wird die Praxis des Helfens auch dann begründet, wenn sie für den Einzelnen aus der Perspektive des Eigennutzes nicht unmittelbar vorteilhaft erscheint.276 Auch im Neuen Testament wird, wie Theißen nachvollziehbar herausarbeitet, das Streben nach einem hohen Status zulasten anderer kritisiert. Stattdessen wird zur Hilfe gegenüber Marginalisierten und Bedürftigen aufgefordert. Beispielsweise stellen die Weltgerichtsrede in Mt 25,31-46 oder die Ermahnungen in Phil 2,5-11

273 Vgl. De Waal, Primaten und Philosophen, 73. 274 Vgl. Vogel, Vom Töten zum Mord, 55. 275 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 99: „Der eine und einzige Gott der Bibel ist ein Gott der Entronnenen, der Flüchtigen, der Exilierten, Deportierten und Kriegsgefangenen. […] Der Gott der biblischen Geschichten hat […] einen ‚Zug nach unten‘.“ 276 A.a.O., 109: „Wo es zum Lebensauftrag des Menschen wird, diesem Gott zu entsprechen, ist klar: Ein Leben als Antwort auf diesen Gott kennt höhere Werte als Leben und Überleben und die Erhöhung der eigenen Fortpflanzungschancen.“

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Perspektiven auf Hilfe dar, die eingefahrene Gruppen- und Statusgrenzen überschreiten: In Mt 25,31-46 wird der Menschensohn und endzeitliche Richter als in den Bedürftigen selbst anwesend verstanden. Aus dieser theologischen Perspektive heraus ist Bedürftigen zu helfen unabhängig davon, ob sie Verwandte oder Mitglieder der eigenen Gruppe sind. In den Bedürftigen begegnet Gott selbst.277 Ferner wird in Phil 2,5-11 der freiwillige Statusverzicht des Gottessohns als Vorbild für den gegenseitigen Dienst aneinander begriffen. Weil der Sohn Gottes sich selbst erniedrigt, um den Menschen zu dienen, sollen auch Menschen in der Imitation des Gottessohns einander dienen. Theologische Überzeugungen sind nach Theißen also keinesfalls irrelevant zur Begründung und zur Praxis eines grenzüberschreitenden Sozialethos, sondern sie sind – auf der Ebene biblischer Texte – untrennbar mit sozialethischen Forderungen verknüpft und begründen diese. In diesem Sinne bemerkt Theißen: „Gott selbst vollzog jene Umwertung der Werte, die aus Macht Schwäche, aus Besitz Armut, aus Weisheit Torheit und aus Sünde Gerechtigkeit machte.“278 Doch bleibt es nicht allein bei der Entstehung theologischer Narrative von Nächstenliebe und Statusverzicht, wie Theißen zu Recht bemerkt, sondern diese Narrative wirken wiederum gestaltend auf die soziale Interaktion der ersten Christen zurück. Als religionssoziologisches Beispiel lässt sich auf die Praxis des wöchentlichen Abendmahls in den urchristlichen Gemeinden verweisen. Dabei nahmen Menschen von unterschiedlichem Status, die aufgrund ihrer Statusdifferenz sonst nicht zusammen aßen, wöchentlich eine Mahlzeit zusammen ein. Dieses Faktum verdient Beachtung, weil es zeigt, dass neutestamentliche Narrative nicht nur ein Phänomen auf der Textebene sind, sondern eine veränderte soziale Praxis inspiriert haben.279 Die Frage danach, wie sich biblische Narrative und soziale Praktiken der urchristlichen Gemeinden zu evolutionär angelegten Verhaltenstendenzen verhalten, beschäftigt auch Heiner Mühlmann, den Verfasser des im nächsten Kapitel zu untersuchenden evolutionstheoretischen Entwurfs zur Beschreibung der christlichen Religion.

277 Vgl. Theißen, Bibelverständnis und Hilfsmotivation, 311: „Wo in vollem Ernst geglaubt wird, dass in Notleidenden die ‚geringsten Brüder‘ begegnen, mit denen sich der Weltenrichter selbst identifiziert (Mt 25,31-46, da werden Energien für fremde Menschen mobilisierbar“. 278 Theißen, Religion der ersten Christen, 166. 279 Vgl. Theißen, Gemeindestrukturen und Hilfsethos, 409.

D.

Heiner Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

I.

Einführung in Mühlmanns Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Kulturtheorie, Evolutionstheorie und Neurowissenschaften

Heiner Mühlmann wurde 1938 in Regensburg geboren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Köln, Paris, Rom und München wurde er 1981 in München promoviert mit einer Arbeit über Humanistische Rhetorik und Rechtsphilosophie. Später habilitierte er sich bei Bazon Brock, seinerzeit Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität in Wuppertal, mit einer Arbeit zur Katastrophentheorie, Graphentheorie und Architektur.1 Heiner Mühlmann ist seit 2004 Gastprofessor am Institut für Design and Technologie an der Zürcher Hochschule der Künste und war von 2005 bis 2014 Gastprofessor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er lehrte auch an der Universität Münster sowie am Pariser Collège International de Philosophie. Fragt man nach einem Leitmotiv seiner Forschungen, so scheint es gerade in der Verbindung von üblicherweise getrennt auftretenden Forschungsbereichen zu liegen. Mühlmann entwickelt dazu eine Kulturtheorie und verbindet diese mit evolutionstheoretischen Überlegungen. Zudem integriert er neurowissenschaftliche Perspektiven in seine Arbeit: Er geht davon aus, dass das Gehirn über neuronal messbare Wahrnehmungsmuster verfügt, die im Laufe der Evolution zum Überleben nützlich waren und die genetisch fixiert wurden, sodass sie sich bis heute erhalten haben. Dieser Ansatz Mühlmanns wird ersichtlich, wenn man sich den Gegenstand der von Mühlmann 2004 mitgegründeten neuroanthropologischen Forschungsgruppe TRACE (Akronym für: Transmission in Rhetorics, Arts and Cultural Evolution) ansieht: „TRACE entwickelt kulturelle Evolutionstheorien und überprüft diese Theorien durch neurowissenschaftliche Experimente.“2 Exemplarisch für dieses Anliegen von TRACE sind Mühlmanns eigene Arbeiten, insbesondere seine Monographie „Die Natur der Kulturen“ (1996 in erster Auflage und 2011 in zweiter, erweiterter Auflage erschienen) sowie seine daran anknüpfenden und darauf aufbauenden Arbeiten zum Christentum (2007/2017).

1 Vgl. Zentrum für Kunst und Medien, Heiner Mühlmann, https://zkm.de/de/person/heiner-muhlmann (aufgerufen am 06.11.20). 2 Rainer Gabriel, Homepage TRACE, http://www.trace-culturalevolution.com/index.htm (aufgerufen am 06.11.20).

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Mühlmanns Arbeiten zu einer evolutionären Kulturtheorie bzw. zum Christentum sind in der theologischen, kulturwissenschaftlichen und pilosophischen Forschung jedoch kaum rezipiert worden. Daher werden Mühlmanns Arbeiten im Folgenden fast ohne Bezug auf Sekundärliteratur dargestellt; auf die wenige Literatur, die es gibt, wird an entsprechender Stelle verwiesen.3 Mühlmann entwickelt in „Die Natur der Kulturen“ eine aus heutiger Sicht zunächst fremdartige, weil biologistisch erscheinende Kulturtheorie, wonach menschliche Kulturen nicht zufällig, sondern nach vergleichbaren Regeln evolvieren und sich stabilisieren. Der gemeinsame Nenner von Kulturen liege darin, dass sie sich durch Krieg und Gewalt nach außen und nach innen bildeten und erhielten, wie Mühlmann mit Verweis auf Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“4 bemerkt. Denn das gemeinsame Erleben von Gewalt vereine die Gruppe. Je nachdem, wie stark ein kulturelles Erzeugnis oder eine Person mit Krieg assoziiert werde, desto höher sei ihr Rang innerhalb der Gemeinschaft. Da kulturelles Verhalten jedoch immer auch durch Lernen erworben werde, biete sich hier zugleich eine Chance zur Einflussnahme auf den ursprünglichen Gewaltcharakter von Kulturen an.5 Eine solche Einflussnahme sieht Mühlmann im Christentum gegeben. Es biete eine Möglichkeit, die Identität einer Gemeinschaft auf eine solche Weise zu begründen und zu gestalten, dass diese zu ihrer Konstituierung und Stabilisierung keiner Gewalt bedürfe (vgl. D.III.3). Um diese Thesen zu erläutern, wird im Folgenden zunächst Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie dargestellt. In einem zweiten Schritt wird dann sein Verständnis des Christentums vor dem Hintergrund dieser Kulturtheorie entfaltet.

3 Vgl. Dirk Baecker: Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie 3 (1997), 183–185. Vgl. außerdem Thomas Thiel: Heiner Mühlmann, Die Natur der arabischen Kultur. Kultur im Eskalationsstil, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 09.02.2012, unter: https://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/heiner-muehlmann-die-natur-der-arabischen-kulturkulturtheorie-im-eskalationsstil-11642393.html (aufgerufen am 06.11.20). 4 Samuel Huntington stellt die These auf, dass Kulturen, um Identität zu erzeugen und sich so zu stabilisieren, andere Kulturen bräuchten, von denen sie sich abgrenzten. Daher träten mit innerer Notwendigkeit „Bruchlinienkriege“ (Huntington, Kampf der Kulturen, 400) zwischen den Kulturen auf. Mühlmann bewertet Huntingtons These vom Kampf der Kulturen ausdrücklich als sachangemessen (vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 10). 5 Auch mit seinem Plädoyer, den Kampf der Kulturen zu beenden, entspricht Mühlmanns Position derjenigen von Samuel Huntington (vgl. Huntington, Kampf der Kulturen, 524–531).

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

II.

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

1.

Begriff der Kultur

Mühlmann verwendet den Begriff der Kultur erstens als Gegenbegriff zur Natur, weil in der Kultur Informationen durch Lernen statt durch Gene übertragen werden könnten: „Während es in der eigentlichen Genetik um die Vererbung von phylogenetisch erworbenen Merkmalen, also von genetisch Gelerntem geht, werden in der Kultur ontogenetisch gelernte Merkmal vererbt.“6 Mühlmann spricht zweitens auch von Kulturen im Plural, die er begreift als menschliche Gemeinschaften, die sich durch eine gemeinsam geteilte Religion, aber auch durch eine gemeinsam geteilte Geschichte und gemeinsame Werte auszeichnen. Im Unterschied zu Gemeinschaften, die nur für kurze Zeit miteinander kooperierten und sich danach wieder auflösten, seien Kulturen generationenübergreifende Gemeinschaften.7 Darunter zählt Mühlmann „die gräko-römische Europakultur, […] kleine Protokulturen, Subkulturen und Störkulturen wie Hooliganismus, Ghetto-Kulturen, Skinhead Banden“8 unter dem Begriff der Kulturen. Jede dieser Kulturen sei ein sich selbst organisierendes System,9 das „Krieg erzeugt und durch Krieg erzeugt wird.“10 Diese Definition von Kulturen wird im Folgenden erläutert. Kriege zwischen unterschiedlichen Kulturen seien eine Art Katalysator, durch die Kulturen überhaupt erst entstehen und sich langfristig stabilisieren könnten, weil sie zu ihrer Erhaltung eine gemeinsame Identität benötigten, die erst in Abgrenzung von anderen Kulturen gefunden werde. Kriege gegen andere Gemeinschaften oder Kulturen förderten dabei sowohl die Kooperation nach innen als auch die Abgrenzung nach außen gegen den gemeinsamen Feind: Der kulturrelativistische Ansatz geht davon aus, dass die Beschreibbarkeit von Kulturen nur durch ihre Unterscheidungsmerkmale ermöglicht wird. […] Kulturen entwickeln von sich aus Unterscheidungsdynamiken: Kulturen kämpfen oft gegen andere Kulturen.11

Kriege zwischen den Kulturen sind nach Mühlmann daher keine beliebigen kulturellen Verhaltensmuster, die jederzeit auch anders gestaltet werden könnten,

6 Vgl. Mühlmann, Kampf der Kulturen, 25. 7 Vgl. ebd.: „Denn kulturell wird ein individuell und ontogenetisch erlerntes Merkmal erst, wenn es in die nächste Generation vererbt wird.“ 8 A.a.O., 43. 9 Vgl. a.a.O., 41. 10 A.a.O., 7. 11 A.a.O., 9.

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sondern Kulturen sind für ihren Fortbestand auf „das Konkurrieren mit anderen Kulturen“12 angewiesen. Im Anschluss an diese Definition erläutert Mühlmann, dass sich Kulturen aus zwei Gründen mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven beschreiben lassen. Der erste Grund sei das evolutionsbiologische Erbe des Menschen: Bestimmte evolutionär gewordene Wahrnehmungsmuster, wie die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und fremden Gruppen, gehörten zur evolutionsbiologischen Ausstattung des Menschen. Sie seien genetisch im Menschen angelegt und daher unauslöschlicher Bestandteil menschlichen Wahrnehmens. Dass Kulturen sich durch Krieg stabilisieren, sei insofern keine willkürliche kulturelle Setzung, sondern entspreche der evolutionsbiologisch verankerten Neigung, bei der Begegnung mit anderen Menschen stets Zugehörigkeiten zur eigenen Gruppe oder zu anderen Gruppen zu erkennen. Auf diese Weise werden Inklusions- und Exklusionsbezüge hergestellt. Das Erzeugen von Inklusion und Exklusion wird übrigens von der Kulturanthropologie […] für ein kulturelles Universal gehalten.13

Der zweite Grund für die Verwendung evolutionstheoretischer Perspektiven liege darin, dass sich die Veränderungen, die Kulturen durchliefen, selbst als Evolution bezeichnen ließen. Die Genese und Stabilisierung von Kulturen folgten nämlich nicht beliebigen, vom Menschen selbst gewählten Regeln, sondern funktionalen Sachzwängen. Diejenigen Merkmale, die das Überleben einer Kultur ermöglichten, würden generationenübergreifend durch Lernen tradiert. Andere kulturelle Merkmale, die den Fortbestand einer Kultur gefährdeten, würden nicht weiter tradiert bzw. die Kultur, die ausschließlich über diese Merkmale verfüge, sterbe aus: „Kulturelle Merkmale werden wie genetische Merkmale selektiert, indem sie an den adaptativen Vorteilen gemessen werden, die sie bewirken.“14 Daher befänden sich Kulturen „in einer formalen Analogie zur DNA-Genetik“.15 Sie seien „[e]volvierende Systeme“16 . In bewusster Abgrenzung von einem humanistischen Verständnis von Kultur als menschlicher Errungenschaft und als Resultat rationaler Entscheidung und Gestaltung versteht Mühlmann Kultur als „wildes Tier, dessen Verhalten sich dem direkten Einfluss der Menschen entzieht.“17 Mühlmann definiert den Begriff der Evolution daher im Sinne eines automatischen, funktionalen und unbewussten Vorgangs. 12 13 14 15 16 17

Ebd. A.a.O., 29. A.a.O., 44. A.a.O., 25. A.a.O., 41. A.a.O., 21.

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

2.

Das 5-Phasen-Modell zur Beschreibung der Entstehung und Entwicklung menschlicher Kulturen

Konkret nimmt Mühlmann in seiner Theorie der Evolution der Kulturen fünf aufeinander folgende Entwicklungsstufen an, die jede Kultur automatisch durchlaufe, um sich zu konstituieren und generationenübergreifend zu stabilisieren. 2.1

Erste Phase: Lokale Regeln als Vorbedingung zur Entstehung einer Kultur

Jede menschliche Kultur beruhe auf der Voraussetzung, dass sich zunächst eine Menschengruppe zusammenfinde, die bestimmte Gemeinsamkeiten – „lokale Regeln“18 – teile. Solche lokalen Regeln beinhalteten ein „technisches Merkmal“, „Kooperation“ und „Allelopathie“.19 Unter einem technischen Merkmal versteht Mühlmann durch Lernen gemachte Erfindungen oder Entdeckungen, wie etwa Werkzeuge, die Erfindung des Rads, die Erfindung des Gelds, aber auch den Gebrauch von Symbolen. Die zweite Vorbedingung für das Entstehen einer Kultur sei die anfängliche Kooperation zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Arbeitsteilung und die Weitergabe von Wissen an andere seien Strukturen der Kooperation, durch die sich eine Gemeinschaft vorläufig stabilisiere. So entstehe ein erstes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Gruppenmitgliedern.20 Die dritte lokale Regel einer entstehenden Kultur, die Allelopathie, bezeichne die Gefühlsreaktion, die bewirkt wird durch das ständige feedback der Gefühlsäußerungen aller Kommunikationspartner einer Gruppe. Allelopathie ist das Verhalten, das aus dem Verhalten der nächsten Nachbarn resultiert und dann wieder auf das Verhalten der Nachbarn zurückwirkt.21

Emotionen würden durch den wechselseitigen Nachvollzug der Emotionen des jeweils anderen verstärkt. So könnten sie sich schnell und intensiv innerhalb der ganzen Gruppe ausbreiten. Geteilte Emotionen bewirkten ein Gefühl der gegenseitigen Zusammengehörigkeit, welches wiederum den wahrgenommenen Gegensatz zwischen der eigenen Gruppe und allen anderen erhöhe. Mit der Herausbildung dieser drei gruppeninternen Merkmale seien die Vorbedingungen zur Entstehung jeder Kultur gegeben. Doch eine Kultur existiere erst

18 19 20 21

A.a.O., 41. A.a.O., 43. Vgl. a.a.O., 46f. A.a.O., 50.

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dann, wenn eine Gemeinschaft generationenübergreifend Bestand habe. Bis eine solche Gemeinschaft entstehe, existierten die oben skizzierten technischen Merkmale als eine „ungeordnete Gesamtmenge“22 , die noch nicht in eine Hierarchie an Wertigkeit gebracht worden sei. Damit eine Kultur entsteht, braucht es nach Mühlmann zusätzlich eine von allen Mitgliedern einer Kultur geteilte „Regeleinstellung“23 , die die Fülle technischer Merkmale sinnvoll ordnet und eine Hierarchie dessen etabliert, was und wer in einer Kultur wichtig ist. 2.2

Der Ausgrenzungseffekt als notwendige Folge der lokalen Regeln

Bereits in kleinen menschlichen Gruppierungen, die noch nicht generationenübergreifend Bestand haben, tritt nach Mühlmann nach einiger Zeit ein „Ausgrenzungseffekt“24 auf, wenn diese Gemeinschaften beginnen, zwischen der eigenen und fremden Gruppen zu unterscheiden, wobei die eigene Gruppe in der Regel als anderen Gruppen überlegen verstanden wird.25 Konkret werde diese Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und fremden Gruppen durch fünf verschiedene Faktoren erzeugt bzw., einmal entstanden, verstärkt: Erstens könne erfolgreiche Kooperation innerhalb einer Gruppe Wohlstand erzeugen und auf diese Weise einen Unterschied gegenüber anderen Gruppen erzeugen, die über weniger Wohlstand verfügten. Zweitens unterschieden sich Gruppen durch verschiedene technische Errungenschaften, aber auch durch Kleidung oder unterschiedliche Nahrung voneinander, was ebenfalls die Wahrnehmung von Fremdgruppen als ‚anders‘ begünstige. Drittens könnten die so erzeugten Unterschiede zwischen den Gemeinschaften durch Lernen über Generationen hinweg tradiert werden, sodass sich Unterschiede im Laufe der Generationen verstetigten oder sogar verstärkten: „Die Vererbbarkeit der Merkmale durch soziales Lernen verstärkt durch Langzeitigkeit bzw. durch das kulturelle Phänomen der Traditionsliebe den Unterschied zu anderen Populationen.“26 Viertens neigten Menschen aufgrund ihres evolutionären Erbes dazu, Kooperation und Hilfe tendenziell nur gegenüber Mitgliedern der eigenen Gruppe zu praktizieren, wie Mühlmann unter Verweis auf die Soziobiologie bemerkt.27 Durch die Beschränkung der Hilfe auf die eigene Gruppe werde die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen noch einmal verstärkt: „Altruismus, der nur innerhalb einer

22 23 24 25 26 27

A.a.O., 43f. A.a.O., 96. A.a.O., 50.74. Vgl. a.a.O., 75. A.a.O., 75. Vgl. exemplarisch Voland, Soziobiologie, 85: „Ein ‚In-Group/Out-Group-Denken‘, gewachsen in der Konkurrenz autonomer Gruppen um Lebenschancen, speist den ‚Dualismus der Ethik‘.“

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

Population praktiziert wird, [verstärkt] das Diskriminierungspotential der Population.“28 Fünftens seien Menschen von Natur aus allelopathisch: Sie seien dazu in der Lage, die Emotionen ihres Gegenübers nachzuvollziehen und zu spiegeln. So könne es zur gegenseitigen Verstärkung der Emotionen kommen. Solche intensiven Emotionen seien auf den Kreis der Personen begrenzt, mit denen man häufig Kontakt habe. Allelopathie begünstige deshalb die emotionale Identifikation mit der eigenen Gruppe und ihre Wahrnehmung als vertraut im Gegenüber zur Wahrnehmung anderer Gruppen als fremd.29 2.3

Zweite Phase: Kriege als maximale Stressereignisse

Menschliche Gemeinschaften konstituieren sich nach Mühlmann in einem ersten Schritt durch ihre bewusst und unbewusst erzeugte Unterscheidung von Anderen, die als nicht der eigenen Gruppe zugehörig wahrgenommen würden. Die so gezogenen Unterscheidungslinien erzeugten in einem zweiten Schritt ein Gefühl des Stresses. Der Stress könne dabei entweder durch eine reale Bedrohung der eigenen Gruppe durch andere Gruppen, die beispielsweise um dieselben Ressourcen konkurrierten, hervorgerufen werden. Alternativ könne der wahrgenommene Stress aber auch eine „paranoide Projektion“30 in den Köpfen der Mitglieder der Gruppe sein, der keine tatsächliche Bedrohung durch eine andere Gruppe entsprechen müsse. Ob der Stress einer tatsächlichen oder imaginierten Bedrohung entspringt, sei für die weitere Entwicklung der Kulturen jedoch irrelevant; bedeutsam sei allein die Existenz des Gefühls von Stress. Nach Mühlmann ist das Aufkommen einer Stresssituation für die Entstehung von Kulturen insofern unverzichtbar, als dass Stress die Kooperation und das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der eigenen Gruppe im Verbund gegen den äußeren Stressor noch weiter stärkt als zuvor. Kampf gegen äußere Bedrohungen und Kooperation nach innen erscheinen so als zwei Seiten einer Medaille: Doch Kooperation ist immer mit Konflikt verbunden. Nur wo es Kooperation gibt, kann es Konflikt und Betrug geben, und wo es Konflikt und Betrug gibt, muss es Kooperation geben, denn ohne Kooperationsbereitschaft kann man niemanden betrügen.31

28 Mühlmann, Natur der Kulturen, 75. Vgl. auch Voland, Soziobiologie, 84. Vgl. auch C.III.2.3.1 in dieser Arbeit. 29 Vgl. Mühlman, Natur der Kulturen, 75. 30 A.a.O., 76. 31 Mühlmann, MSC, 27. Vgl. auch Mühlmann, Natur der Kulturen, 79.

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Konkret bedeute dies, dass Stress in entstehenden Kulturen als „kognitive[r] Energieschalter“32 oder als „globaler Energiefluss“33 fungiere, also als eine die Gemeinschaft stabilisierende Kraft wirke. Eine Gemeinschaft funktioniere in dieser Hinsicht ähnlich wie ein lebender Organismus, der auf die Zuführung von Energie von außen angewiesen sei, um sich zu erhalten.34 Die Erfahrung von gemeinsamem Stress wirke so wie eine äußere Energiezufuhr, durch die sich die Gemeinschaft stabilisieren könne.35 Erreiche der Stress zwischen lokalen Gemeinschaften seine größtmögliche Intensität, führe er zu Kriegen zwischen diesen Gemeinschaften. Mühlmann nennt solche Kriege Ereignisse von „Maximal-Stress-Cooperation“ (MSC).36 Er erläutert diesen Begriff folgendermaßen: Einen Krieg bezeichnet er als ein maximales Stressereignis, weil im Krieg das eigene Leben stärker bedroht werde als in anderen Stresssituationen. Weil die Erfahrung gemeinsam geteilten Stresses außerdem zu einer verstärkten Kooperation innerhalb der Gruppe führe, könne auch von einer Stress-Kooperation gesprochen werden. Der Krieg erzeuge also eine Extremsituation für eine Gemeinschaft, die den Nährboden bilde, damit eine Kultur als generationenübergreifende Identitäts- und Wertegemeinschaft entstehe. Mögliche interne Konflikte innerhalb der Gemeinschaft würden durch das Stressereignis Krieg nach außen gelenkt und so die Gemeinschaft nach innen befriedet: Die Einheit von Stress und Kooperation bewirkt, dass Populationen kollektiv auf Stressoren reagieren, dass auf diese Weise der Konfliktanteil dieser Konflikt-Kooperationseinheit nach außen gelenkt wird und dass schließlich im Innern der Konflikt-Kooperationseinheit die Kooperation übrig bleibt […].37 2.4

Dritte Phase: Die Entstehung einer kulturellen Regeleinstellung nach dem Stressereignis

Kriege als gemeinsam erlebte Ereignisse maximalen Stresses schweißten Gemeinschaften zwar vorübergehend zusammen. Doch nach Mühlmann bedarf es zur generationenübergreifenden Stabilisierung einer Gemeinschaft einer von allen Mitgliedern gleichermaßen anerkannten Regel. Diese Regel diene dazu, Verhaltensweisen, kulturelle Erzeugnisse und die soziale Hierarchie innerhalb der Gemeinschaft

32 33 34 35

Mühlmann, Natur der Kulturen, 76. A.a.O., 85. Vgl. a.a.O., 41f. Vgl. a.a.O., 76. Mühlmann spricht davon, dass menschliche Kulturen „Unterschied[e] zwischen Insider und Outsider“ (ebd.) kreiieren, wodurch die Gruppenidentität konstituiert werde. 36 A.a.O., 79f. 37 Mühlmann, MSC, 31.

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zu steuern, zu stabilisieren und zu bewerten. Mühlmann bezeichnet eine solche Regel auch als „globale Ordnung“38 , als „Regeleinstellung“39 oder als „Regel der Regeln“40 . Diese Metaregel zur Bewertung kultureller Verhaltensweisen, Erzeugnisse und Personen entsteht nach Mühlmann ganz automatisch in der Zeit nach dem Krieg.41 Dass es überhaupt möglich sei, eine solche gemeinsam geteilte Regel zu finden, liege darin begründet, dass der erfahrene Krieg ein so traumatisches Ereignis sei, dass er sich jedem Gruppenmitglied gleichermaßen intensiv ins Gedächtnis einpräge. Insofern erzeuge Krieg eine von allen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilte Emotion, die verbindend wirke. Der Krieg sei daher ein „kulturelles Gründungsereignis […]“42 , für das gelte: Kulturelle Gründungsereignisse müssen MSC-Ereignisse sein, weil der Stressanteil des MSC-Phänomens starke Emotionen auslöst und weil unter allen potentiellen Gedächtnisinhalten derjenige die größte Chance hat, sich nachhaltig der kollektiven Erinnerung einzuprägen, der die stärksten Emotionen auslöst.43

Weil Krieg aus mnemonischer Sicht so einprägsam und aus soziologischer Sicht so verbindend ist, ist er nach Mühlmann das ideale Ausgangsereignis, von dem herkommend Kulturen eine Regeleinstellung für sich finden, die all ihre Erzeugnisse und Praktiken an ihrer Beteiligung am Kriegserfolg bemisst und bewertet. Mithin erfolge in der Phase nach dem Krieg die Herstellung einer „globalen Ordnung durch Selbstbewertung und Regeleinstellung“44 . Kennzeichen dieser globalen Ordnung sei es, dass das bisherige „Regel-Aggregat“45 , d. h. die unstrukturierte lose Sammlung lokaler Regeln, in ein „polarisiertes System mit Höchstbewertungen und Niedrigstbewertungen“46 umgestaltet werde. Gelinge eine positive Bewertung des Kriegsereignisses durch die Gemeinschaft, entstehe daher eine Bewertungsskala, die allen bisherigen Regeln einen neuen Rang zuweist, wobei die Regeln, die unmittelbar dem MSC-Erfolg dienen, den höchsten Rang einnehmen werden.47

38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Mühlmann, Natur der Kulturen, 95. A.a.O., 96. A.a.O., 97. Vgl. a.a.O., 93. Mühlmann, MSC, 40. Ebd. Mühlmann, Natur der Kulturen, 96. Ebd. Ebd. Ebd.

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Dies bedeute, dass eine Kultur, die einen Krieg gewonnen hat, bzw. einen vorangegangenen Krieg positiv bewertet,48 alle ihre kulturellen Erzeugnisse – wie zum Beispiel Architektur, Kunst, Musik, Politik, Gesellschaft, Sprache, Religion – an ihrer Nähe zum vorangegangenen Krieg bemisst. Ausgehend von dieser Regeleinstellung würden diejenigen kulturellen Erzeugnisse, die mit Krieg assoziiert würden, als wichtig angesehen und erhielten eine hohe Bedeutung innerhalb der Gemeinschaft. Auch die soziale Hierarchie innerhalb der Gemeinschaft werde unter normierendem Rückgriff auf das Kriegsereignis etabliert und legitimiert, wobei diejenigen, die für den Kriegserfolg verantwortlich gemacht würden, einen hohen gesellschaftlichen Rang erhielten.49 Die Orientierung am vorangegangenen Krieg sei somit das Kriterium, an dem sich kulturelle Identität und die Werte einer Gemeinschaft ausrichteten. Erst durch die Findung einer solchen gemeinsam geteilten Metaregel ist nach Mühlmann aus einer vorübergehenden Gemeinschaft eine Kultur im Sinne einer generationenübergreifenden Gemeinschaft geworden.50 Mühlmann verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Kriegen als kollektiven Stressereignissen und der aus diesen Stressereignissen abgeleiteten Bewertung dessen, was in einer Kultur als wichtig gilt, an einem Beispiel. Er verweist darauf, dass in der griechisch-römischen Antike öffentliche und private Gebäude mit unterschiedlicher kultureller Wertigkeit versehen waren und dass diese Wertigkeit sich daran bemessen hätte, wie sehr die jeweiligen Gebäude mit Krieg assoziiert worden seien. Die Stadtmauern und städtischen Befestigungsanlagen hatten nach Mühlmann folglich den höchsten Rang unter den Gebäuden in der griechisch-römischen Antike: Denn diese waren notwendig für eine erfolgreiche Kriegsführung, um die eigene Gemeinschaft vor Angreifern zu schützen bzw. eroberte Gebiete zu sichern.51 Im Gegensatz zur Bewertung von Befestigungsanlagen als kulturell bedeutsam hatten laut Mühlmann die privaten Räumlichkeiten in Wohnhäusern eine geringe kulturelle Wertigkeit. Schlafräume und Gärten waren zum Beispiel mit Ornament versehen, „das deutlich als niedrig erkennbar war“52 . Die Architektur einer Kultur ist nach Mühlmann also ebenso wie andere Erzeugnisse einer Kultur Resultat der Orientierung an Kriegsereignissen.

48 Vgl. Mühlmann, MSC, 53.59. Interessanterweise ist nach Mühlmann nicht unbedingt der tatsächliche Erfolg im Krieg Voraussetzung dafür, dass eine Kultur sich stabilisiert. Es reicht, dass das traumatische Kriegsereignis auf irgendeine Art und Weise positiv erinnert wird, damit es seine gemeinschaftsbildende Wirkung entfalten kann. 49 Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 96. Vgl. auch die Einschätzung von Dirk Baecker, wonach Mühlmann eine Kulturtheorie entwirft, in der der „Feldherr mit allen dazugehörenden Anzeichen des pathos den Wert des Erhabenen“ erhält (Baecker, Rezension zu Heiner Mühlmann, 184). 50 Vgl. Mühlman, Natur der Kulturen, 169. 51 Vgl. a.a.O., 107. 52 Ebd.

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

Architektur dieser Art ist nicht Resultat freien genetischen Handelns. Sie wird vererbt und gehört damit in den Bereich kulturellen Instinktverhaltens.53 2.5

Vierte und fünfte Phase: Iteration und Degeneration

In der vierten Phase der Evolution von Kulturen, der Iteration, geht es nach Mühlmann darum, wie die entstandene kulturelle „Regeleinstellung“54 in die nächste Generation tradiert wird. Insgesamt versteht Mühlmann den Zusammenhang von maximalen Stressereignissen wie Kriegen und den daran anschließenden kulturellen Regeleinstellungen als sich wiederholend.55 Nach jedem Krieg komme es zu einer Regeleinstellung. Diese bilde solange den gültigen Wertmaßstab, bis ein neuer Krieg ausbreche und daran anschließend eine neue Regeleinstellung gefunden werde.56 In der Zeit zwischen Kriegen könne die in einer Kultur etablierte Regeleinstellung aus zwei unterschiedlichen Gründen befolgt werden. Sie könne deshalb befolgt, weil die Mitglieder einer Kultur das Kriegsereignis selbst erlebt hätten und emotional davon affiziert seien. Diese Personen befolgten die an den Krieg sich anschließende Regeleinstellung aus der inneren Überzeugung von ihrer Richtigkeit heraus. Doch nicht alle Mitglieder einer Kultur hätten das Stressereignis Krieg selbst miterlebt, wenn sie erst nach dem Krieg geboren worden seien. Daher befolgten diese anderen Mitglieder die kulturelle Regeleinstellung nicht aus der inneren Überzeugung von ihrer Richtigkeit heraus, sondern opportunistisch alleine deshalb, weil sie sich der geltenden Norm anschließen wollten.57 Mühlmann weist nun darauf hin, dass die Tradierung der Regeleinstellung in die nächste Generation schwierig wird, wenn es nicht in jeder Generation mindestens ein starkes Stressereignis gibt.58 Denn wenn die Gruppe derjenigen, die die Regeleinstellung aufgrund ihrer eigenen Erfahrung des Kriegs als unbedingt verbindlich wahrnehmen, schrumpfe, werde die Befolgung der Regeleinstellung immer mehr zu einer Frage des persönlichen Geschmacks. Es komme dann verstärkt auch zu einer Nichtbefolgung der kulturellen Regeleinstellung.59 Damit eine solche „Degeneration“60 (fünfte Phase) vermieden werde, müssten Kulturen gezielt eine Praxis der Erinnerung an dieses Stressereignis einführen in Form von normativen

53 54 55 56 57 58 59 60

A.a.O., 109. A.a.O., 96. Vgl. a.a.O., 231. Vgl. a.a.O., 190.192. Vgl. a.a.O., 178. Vgl. a.a.O., 183. Vgl. a.a.O., 184. Vgl. a.a.O., 193.

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und normierenden Erzählungen.61 Damit Menschen diese Narrative so intensiv erfahren, dass es zur Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls kommt, müssten diese Narrative ferner in erlebte, ganzheitliche Erfahrungen rückübersetzt werden. Nach Mühlmann geschieht dies durch die „Enkulturierungstechnik ‚Liturgie‘“62 . Durch das Erleben von an Krieg und Gewalt erinnernden ‚Liturgien‘ könnten Menschen so geprägt werden, dass sie die dort präsentierten Bewertungsmaßstäbe dessen, was in einer Kultur als wichtig und was als unwichtig gilt, für sich übernähmen. Als Beispiele für solche ‚Liturgien‘ nennt Mühlmann militärische Erinnerungsparaden und Nationalfeiertage.63 Eine Degeneration von Kulturen sieht Mühlmann dann gegeben, wenn der Zusammenhang zwischen einem Stressereignis und der anschließenden Bewertung dieses Stressereignisses aufgebrochen wird. Dies bedeute, dass eine Kultur weiter Krieg führe, doch in ihren kulturellen Regeleinstellungen nicht darauf Bezug nehme. Kulturelle Werte und faktisch stattfindende Kriege würden so voneinander entkoppelt. Mühlmann sieht eine solche Entwicklung als negativ an: Aufgrund der Unwissenheit der Mitglieder einer Kultur hinsichtlich der Tatsache, dass ihre Kultur eine Kriegskultur ist, könne sich Krieg ungehemmter entfalten „ohne den ständigen regulierenden Eingriff des Mitgefühls aller“64 . Die Entstehung einer autonomen, selbstreferentiellen kulturellen Regeleinstellung helfe mithin nicht, Kriege zu verhindern, sondern erzeuge „Krieg ohne common sense.“65 3.

Bewertung von Mühlmanns Kulturtheorie

Mühlmann entwickelt eine evolutionäre Kulturtheorie, wonach die Entstehung und Entwicklung von Kulturen die Folge unabänderlicher, selbstregulativer Entwicklungen sind, die vom Menschen nur äußerst schwer beeinflusst werden könnten. Mühlmann vertritt mithin einen „genetischen Kulturbegriff “66 . Alle Kulturen durchliefen automatisch eine Entwicklung hin zum Krieg als kulturstabilisierendem Ereignis, sodass sich von einer Evolution der Kulturen hin zum Krieg sprechen lasse. Der Begriff der Evolution bezeichnet in Mühlmanns Interpretation daher einen automatischen, mit innerer Notwendigkeit ablaufenden Vorgang. Zur inhaltlichen Konkretisierung dieses Evolutionsbegriffs entwickelt Mühlmann die These der Identitätsbildung und Konstituierung von Gruppen durch

61 62 63 64 65 66

Mühlmann, MSC, 45. A.a.O., 41. Vgl. a.a.O., 45.50. Mühlmann, Natur der Kulturen, 224. Ebd. Baecker, Rezension zu Heiner Mühlmann, 183.

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

starke, auch gewaltsame Abgrenzung von anderen. In Mühlmanns Interpretation ist Krieg gegen andere Gruppen daher das wahrscheinlichste Verhalten aller menschlichen Gemeinschaften, um generationenübergreifende Stabilität zu erlangen. Ähnlich urteilt der Kulturwissenschaftler Thomas Thiel über Mühlmans evolutionäre Kulturtheorie: „Die Bewältigung eines großen Schocks, eines Kriegs, einer Revolution, einer Naturkatastrophe ist [nach Mühlmann] der kleinste gemeinsame Nenner aller Kulturformen.“67 Mit seiner genetischen Kulturtheorie weise Mühlmann ein humanistisches Verständnis von Kultur als menschlicher Fortschrittsgeschichte und als Errungenschaft zurück.68 Doch lässt sich fragen, ob Mühlmanns Verständnis von menschlichen Gemeinschaften als Kriegskulturen angemessen ist. Ist Krieg wirklich der einzig mögliche Faktor, der stark genug ist, die Werte und Überzeugungen von Gemeinschaften hinsichtlich dessen, was als gut und wichtig gilt, zu beeinflussen? Andere Aspekte menschlicher Gemeinschaften, die Identitätsbildung ohne Gewalt ermöglichen, werden von Mühlmann nicht erwähnt. Musik, Kunst, Wissenschaft, aber auch Parteien oder Religionen können jedoch, zumindest aus der Perspektive heutiger Gesellschaften, durchaus Identitätsangebote machen, die nicht auf Krieg als Mittel zur Identitätsstiftung setzen. Auch lässt sich fragen, ob Mühlmann die Rolle des Individuums, die Rolle von menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit sowie die Möglichkeiten menschlicher Einflussnahme auf kulturelle Entwicklungen nicht zu gering veranschlagt. Denn der Einzelne erscheint bei Mühmann lediglich in seiner Eingebundenheit in die Gemeinschaft, welche Regeln der Entwicklung unterliegt, die vom Menschen kaum steuerbar sind. Insofern lässt sich fragen, ob Mühlmanns Kulturbegriff nicht zu einseitig ist, weil er letztlich den einzelnen Menschen dem Krieg als übergreifendem Prinzip kultureller Selbstorganisation unterordnet. In diesem Sinne bewertet Thiel Mühlmanns Kulturtheorie als „grobkörnig“: Mühlmann pflege einen „Eskalationsstil“69 und reduziere politische und gesellschaftliche Denkkategorien auf die Biologie. Insgesamt ist festzuhalten, dass Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie spekulativ ist und von seinem hermeneutischen Vorverständnis von Kulturen als Gewaltprodukten und Gewaltereignissen mitgeprägt ist.

67 Thiel, Heiner Mühlmann: Die Natur der arabischen Kultur, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/heiner-muehlmann-die-natur-der-arabischen-kulturkulturtheorie-im-eskalationsstil-11642393.html (aufgerufen am 05.11.2020). 68 Vgl. Baecker, Rezension zu Heiner Mühlmann, 185. 69 Thiel, Heiner Mühlmann: Die Natur der arabischen Kultur, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/heiner-muehlmann-die-natur-der-arabischen-kulturkulturtheorie-im-eskalationsstil-11642393.html (aufgerufen am 05.11.2020).

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4.

Überleitung

Abschließend ist jedoch festzuhalten, dass Mühlmann seine Theorie von Kulturen als Kriegssystemen nicht dazu verwendet, Kriege als unvermeidlich zu rechtfertigen. Vielmehr geht es Mühlmann darum, den Kriegscharakter der Kulturen in einem ersten Schritt aufzudecken, um dann in einem zweiten Schritt über Mittel und Wege der Eindämmung des Kriegs nachzudenken.70 Es geht Mühlmann mithin um eine „Zähmung und [...] Zivilisierung der Kultur“71 und um eine Durchbrechung ihres zyklischen Kriegscharakters. Nur skizzenhaft verweist Mühlmann hierzu am Ende seines Buchs „Die Natur der Kulturen“ auf eine solche Möglichkeit menschlicher Einflussnahme. Sie liege darin begründet, dass Kulturen durch die Auswahl der oben genannten „Liturgie[n]“72 selbst steuern könnten, welche Bewertungsmaßstäbe in einer Kultur tradiert würden. Insofern tut sich nach Mühlmann durch diese Liturgien ein Spielraum auf, die Entwicklung von Kulturen zu beeinflussen und zwar in dem Sinne, dass in öffentlichen Vollzügen genau solche Liturgien präsentiert würden, die nicht Krieg und Gewalt den höchsten Rang zusprächen. Durch die Einübung friedlicher Liturgien könne zivilisierend auf den Kriegscharakter der Kulturen eingewirkt werden. Oder wird eine Möglichkeit gefunden, die Kulturen mit weniger Krieg funktionstüchtig zu erhalten? Wenn MSC den globalen Energiefluss der Kulturen regelt und wenn aus diesem Energiefluss kulturelle Ordnung entsteht, ist es dann möglich, energiesparende Kulturen zu designen? Könnte man reale Stresserfahrungen durch simulierte Stresserfahrungen ersetzen?73

Im Anschluss an diese skizzenhaften Überlegungen Mühlmanns werden im Folgenden seine Arbeiten zu einer Theorie des Christentums vor dem Hintergrund dieser evolutionären Kulturtheorie nachgezeichnet. Das Christentum, so seine in diesen späteren Werken entwickelte These, gestaltet kulturelle Liturgien auf eine neue Weise, sodass ein alternatives Bewertungssystem dessen, was in einer Kultur als wichtig und was als unwichtig gilt, geschaffen wird. Das Christentum konstruiert in Mühlmanns Interpretation Gruppenidentitäten so, dass diese sich zu ihrer Stabilisierung nicht auf Gewalt berufen, sondern Gewalt als Mittel zur Stabilisierung von Gruppenidentität gerade kritisieren. Diese Manipulation kultureller Bewertungssysteme geschehe im Christentum so erfolgreich, dass man meinen könne,

70 71 72 73

Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 237. Baecker, Rezension zu Heiner Mühlmann, 185. Mühlmann, MSC, 41. Mühlmann, Natur der Kulturen, 237.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

„Jesus sei ein übermenschlicher Evolutionstheoretiker gewesen oder ein Gott, der fähig ist, sich in kulturelle Evolutionsprozesse einzuhacken.“74

III.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

2007 und 2017 veröffentlichte Mühlmann Arbeiten, in denen er die „Natur des Christentums“75 unter Aufgriff seiner oben erläuterten evolutionären Kulturtheorie beschreibt. Er verwendet bewusst den Begriff der „Natur“ des Christentums, weil er das Christentum nicht historisch-deskriptiv als Christentumsgeschichte darstellen möchte, sondern grundsätzlicher nach dem Eigentümlichen des Christentums fragt. Die Frage nach dem Eigentümlichen des Christentums ist aus geschichtsund religionswissenschaftlicher Perspektive allerdings problematisch, weil die Rede von ‚dem‘ eigentümlich Christlichen angesichts der vielfältigen und historisch variierenden Interpretationen dessen, was ‚christlich‘ bedeutet, unscharf erscheint.76 Doch lässt sich Mühlmanns Anliegen dahingehend deuten und konkretisieren, dass es ihm um ein bestimmtes Verständnis der christlichen Religion geht vor einem bestimmten historischen Hintergrund und von einer bestimmten Interpretation biblischer Texte herkommend. Denn Mühlmann untersucht in seinen Arbeiten neutestamentliche Narrative und Rituale entstehungsgeschichtlich vor dem Hintergrund der antiken römischen Kultur und religionsgeschichtlich im Vergleich mit anderen antiken religiösen Praktiken. Mithin fragt er nicht abstrakt, sondern durchaus geschichtlich konkret danach, wie neutestamentliche Narrative und Rituale vor einem bestimmten religiösen und soziopolitischen Hintergrund zu verstehen sind.77 1.

Mühlmanns Verständnis des antiken Schlachtopfers

In „Die Natur der Kulturen“ hatte Mühlmann den Krieg gegen fremde Gruppen als Stressereignis bestimmt, das die Entstehung einer gemeinschaftsbildenden und stabilisierenden Regeleinstellung einer jeden Kultur ermöglicht. In seiner 2007 veröffentlichten Monographie „Jesus überlistet Darwin “ untersucht Mühlmann

74 Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 53. 75 Heiner Mühlmann: Die Natur des Christentums. Mit einem Vorwort von Bazon Brock, TRACE, Paderborn 2017. 76 Vgl. die Diskussion um die Frage nach dem Wesen des Christentums bei Härle, Wesen des Christentums, 9–20. 77 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 122: „Ohne die römische Kultur im Unbewussten könnte die christliche Botschaft nicht funktionieren.“

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

nun konkret die griechisch-römische Kultur unter der Frage, wie sich diese Kultur durch Gewalthandlungen nach innen und außen stabilisiert. Er wählt deshalb die antike griechisch-römische Kultur aus, weil er so den geschichtlichen Kontext beschreiben kann, vor dem das Christentum entstanden ist. So stellt er zunächst die Funktion und Bedeutung des Schlachtopfers in antiken Religionen vor, um vor diesem Hintergrund dann das christliche Ritual des Abendmahls zu beschreiben. In allen Religionen, die Jesus vorfand, als er auf der Erde lebte, gab es Tieropfer. […] Rituelle Schlachtopfer waren die wichtigsten Ereignisse der römischen und der griechischen Religion.78

In der Interpretation des Schlachtopfers als zentralem Ritual der antiken griechischrömischen Kultur lehnt sich Mühlmann an Überlegungen des Altphilologen Walter Burkert zur Rolle von Schlachtopfern in der Antike an, die dieser in dem Werk „Homo Necans“ entwickelt.79 Dort entwirft Burkert eine Theorie des antiken Schlachtopfers vor dem Hintergrund evolutionstheoretischer Überlegungen. Das antike Schlachtopfer ist nach Burkert Transfer eines Verhaltens aus der Jäger- und Sammlergesellschaft. In dieser Gesellschaft schuf die zum Überleben notwendige Jagd und Tötung von Tieren Gemeinschaft unter den Jagenden und lenkte zugleich Aggressionen auf die zu erlegende Beute.80 Nach Burkert wurde diese Jagd in sesshaften Kulturen in der Durchführung des Schlachtopfers nachgeahmt. Obwohl die Tötung des Opfertiers einerseits mit Schuldgefühlen beladen war, schuf sie zugleich, ähnlich wie in der Jagd, „Zusammengehörigkeit“81 unter den Beteiligten. Mühlmann schließt mit seiner Interpretation des antiken Schlachtopfers an die Arbeit von Walter Burkert an und beschreibt das antike Schlachtopfer als kollektiv erfahrenes Stressereignis, bei dem durch die gewaltsame Tötung des Tieres bei allen Beteiligten starke Emotionen wie Angst, Befremden, aber auch Faszination ausgelöst würden.82 Diese geteilten Emotionen erzeugten aus religionssoziologischer Perspektive erstens ein Gemeinschaftsgefühl unter den Beteiligten: Durch die Teilnahme an blutigen Opferritualen wurden Gruppen gebildet, die starke Zusammengehörigkeitsgefühle entwickelten. Entscheidenden Einfluss hatte dabei die für alle

78 A.a.O., 1. 79 Vgl. Walter Burkert: Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin / New York, 2., um ein Nachwort erweiterte Auflage, 1997. Vgl. auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 1, wo Mühlmann Burkerts Beschreibung des Ablaufs eines antiken Schlachtopfers nachzeichnet. 80 Vgl. Burkert, Homo necans, 26. 81 A.a.O., 44. 82 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 34. Vgl. auch ders., Natur des Christentums, 37.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

gleiche Erinnerung an das Geschehen, das sich während des grausamen Rituals abspielte. Denn von diesem Geschehen wurden hochintensive Emotionen ausgelöst. Kollektive Emotionen aber sind deshalb so wichtig, weil sie die Entstehung von unauslöschlichen Emotionen bewirken.83

Zweitens drücke das Opferritual soziale Hierarchien aus, wobei derjenige, der im Rahmen der Durchführung des Rituals eine wichtige Funktion innehabe, auch gesamtgesellschaftlich einen hohen Rang bekleide. Das Ritual diene mithin der Regelung und der Inszenierung gesellschaftlicher Hierarchien.84 Die Durchführung des Tieropfers dient nach Mühlmann schließlich noch auf eine dritte Weise der Stabilisierung der griechisch-römischen Kultur. Denn die regelmäßige Beteiligung an Tieropfern, entweder als Beobachter oder als aktiver Teilnehmer, baue durch den „Opfervoyeurismus die Tötungshemmung“85 ab. Wer regelmäßig Gewalt erlebe, gewöhne sich an sie. Gewalt werde dadurch alltäglich und damit als selbstverständlich betrachtet. Dies erleichtere die Akzeptanz von Kriegen als Mittel kultureller Selbstorganisation. Das antike Schlachtopfer der griechischrömischen Kultur hat nach Mühlmann aus soziologischer Perspektive also den gleichen Effekt wie der Krieg. Es konstituiert als gemeinsam erlebtes Stressereignis sowohl den sozialen Zusammenhalt und die Identität der Gruppe nach außen als auch die Hierarchie innerhalb der Gruppe. 2.

Kognitive Module und Enkulturierung als Prägekräfte für menschliches Wahrnehmen und Verhalten

Mühlmanns Interpretation des Schlachtopfers enthält implizit eine Anthropologie, die den Menschen als jemanden begreift, der eine Gruppe hinsichtlich von Hierarchie wahrnimmt und der seine soziale Identität durch Abgrenzung von anderen Gruppen bildet. Mühlmann plausibilisiert eine solche Anthropologie unter Rückgriff auf Thesen der evolutionären Psychologie, die auf die Existenz sogenannter „[k]ognitive[r] Module“86 hinweist. Im Anschluss an die evolutionäre Psychologie versteht Mühlmann unter kognitiven Modulen genetisch angelegte Wahrnehmungsmuster, die unter anderem auf die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außengruppe sowie auf die Wahrnehmung einer Gruppe hinsichtlich der internen Rangordnung der Gruppenmitglieder ausgerichtet sind. Solche Wahr-

83 Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 1. 84 Vgl. a.a.O., 2: „Die Reihenfolge der Prozessionsteilnehmer machte das gesellschaftliche ranking erkennbar.“ Vgl. ähnlich auch die Bewertung des Schlachtopfers bei Zaidman, Die Religion der Griechen, 29. Vgl. auch Burkert, Homo Necans, 47. 85 Mühlmann, Natur des Christentums, 79. 86 A.a.O., 34.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

nehmungsmuster seien im Laufe der Evolution nützlich zum Überleben gewesen und hätten sich daher bis heute erhalten.87 Doch Mühlmann benennt neben den kognitiven Modulen noch eine zweite wichtige Orientierungsgröße für menschliches Verhalten: die Gestaltungs- und Prägekraft der Kultur. Dies bedeute, dass menschliches Verhalten nicht nur instinktiv erfolge, sondern Menschen Verhaltensweisen durch Lernen erwerben könnten. In der kulturellen Evolution gebe es im Unterschied zur Geschichte der Natur daher die Möglichkeit der „Enkulturierung“88 . Als Kulturwesen sei der Mensch dazu in der Lage, Werte und Verhaltensweisen selbst zu entwerfen sowie durch Lernen einzuüben. In diesem Sinne sei das antike Schlachtopfer ein kulturelles Ereignis, durch das die griechisch-römische Kultur ihre Werte entwerfe und im Ritual zeichenhaft einübe. Mithilfe dieser beiden Komponenten – den kognitiven Modulen sowie der Theorie der Enkulturierung – lässt sich nach Mühlman nicht nur die griechisch-römische Kultur samt ihrer Opferrituale, sondern auch das Christentum interpretieren. 2.1

Kognitive Module als genetisch angelegte Strukturen menschlicher Wahrnehmung

Die Theorie der kognitiven Module stammt aus der evolutionären Psychologie, die von John Tooby und Leda Cosmides begründet wurde (vgl. auch B.II.2. in dieser Arbeit). Sie existiert als spezialisierter Forschungsbereich im Rahmen der Evolutionsforschung seit den 90er Jahren und verfolgt den Ansatz, eine „Brücke zwischen Biologie und Psychologie“89 zu bauen, indem sie eine „Theorie der genetischen Evolution der menschlichen Psychololgie“90 erstellt. Mithin betrachtet die evolutionäre Psychologie das menschliche Gehirn als Produkt evolutionärer Anpassung aus der Zeit der Jäger- und Sammlergesellschaft: „Das Verhalten des Menschen ist von genetisch fixierten Strukturen geprägt, die sich im Laufe der Evolution als nützlich für das Überleben des Homo sapiens erwiesen haben.“91 Das menschliche Gehirn bestehe aus abgegrenzten Bereichen, die jeweils die Funktion hätten, Probleme der Reproduktion und des Überlebens, die sich den Menschen während der Steinzeit stellten, automatisch zu erfassen und zu lösen. Probleme des Überlebens und der Fortpflanzung würden vom Gehirn nicht in jeder Situation jeweils neu durch bewusstes Nachdenken gelöst, da dies zu fehleranfällig sei und zu lange dauere. Angesichts der Herausforderung, das tägliche Überleben zu meistern, sei 87 88 89 90 91

Vgl. a.a.O., 35. A.a.O., 18. Lenzen, Evolutionstheorien, 114. Sumser, Evolution der Ethik, 63. Lenzen, Evolutionstheorien, 115.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

es vorteilhafter gewesen, wenn solche überlebenswichtigen Entscheidungen automatisiert getroffen würden.92 Deshalb hätten sich im Laufe der Evolution genetisch angelegte, bereichsspezifische „psychologische Mechanismen“93 – manche Evolutionsbiologen sprechen auch von „spezialisierten Modulen“94 – herausgebildet, durch die automatisch und unbewusst aus der Vielzahl an Umwelteindrücken ganz bestimmte Reize ausgewählt würden. Solche Reize würden durch die Module in einer bestimmten Weise verarbeitet und zögen bestimmte „Intuitionen“95 nach sich. Obwohl es unter den evolutionären Psychologen keine Übereinstimmung gibt, wie viele kognitive Module es gibt und wie sie voneinander abgegrenzt werden,96 werden in der evolutionspsychologischen Literatur doch Beispiele für solche Module genannt, wie etwa ein Modul für Gesichtserkennung, Spracherwerb, eine intuitive Psychologie oder ein intuitives Wirtschaftswissen.97 Dass Menschen in Kategorien von Kosten und Nutzen denken, ist laut der Evolutionspsychologen John Tooby und Leda Cosmides kein Zufall, und auch nicht Folge einer bestimmten Sozialisation, sondern auf eine genetisch angelegte „computational machinery“98 im Gehirn zurückzuführen, die Situationen automatisch darauf hin befrage, welche Ressourcen sie der eigenen Person abverlangen und welche Ressourcen sie einbringen. Die hier skizzierte Theorie der kognitiven Module ist von Evolutionsbiologen, Anthropologen und Kulturwissenschaftlern scharf kritisiert worden. Die zwei immer wieder genannten Hauptkritikpunkte lauten, dass die These von automatisiert arbeitenden kognitiven Modulen erstens schwer überpüfbar sei99 und dass sich

92 Vgl. Tooby / Cosmides, The psychological foundations of culture, 111: „As discussed at length, domaingeneral, content-independent mechanisms are inefficient, handicapped, or inert compared to systems that also include specialized techniques for solving particular families of adaptive problems.“ 93 Buss, Evolutionäre Psychologie, 83. 94 Lenzen, Evolutionstheorien, 115. 95 Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 318. 96 Vgl. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 255: „Das Hauptproblem für Theorien der Modularität war jedoch immer folgendes: Welche Module gibt es, und wie können wir sie identifizieren?“. Vgl. auch Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 319, der konstatiert, dass sich die Kognitionswissenschaftler „nicht auf eine Grays Anatomy des Geistes geeinigt“ haben. 97 Vgl. Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 319f. Vgl. auch Sperber / Hirschfeld, The cognitive foundations, 40. 98 Tooby / Cosmides, Friendship and the Banker’s Paradox, 128. 99 Vgl. Gould, The spandrels of San Marco, 587. Der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould kritisiert hier, dass die Aussage, wonach ein beobachtetes Verhalten eine evolutionäre Anpassung darstelle, nicht mehr als eine „stor[y]” sei, die schwerlich bewiesen werden könne. Der Ansatz der evolutionären Psychologie, beobachtete Merkmale als Anpassung zu verstehen, sei daher spekulativ. Vgl. auch die Kritik bei Sebastian Schüler, Religion, Kognition und Evolution, 114: „Aus wissenschaftstheoretischer Sicht wirken solche Annahmen kognitiver Mechanismen daher oftmals wie Ex-post-Zuschreibungen, die sich weder bestätigen noch widerlegen lassen. Zu jeder im Labor gefundenen kognitiven Funktion kann entsprechend ein Grund für deren evolutionäre Entwicklung angenommen werden.“

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

zweitens menschliche Verhaltensweisen besser als Produkt von sozialem Lernen erklären ließen.100 Die Debatte, ob der Mensch Produkt der Natur oder der Kultur ist, bzw. wie sich beide Bereiche zueinander verhalten, ist mithin auch unter Evolutionstheoretikern umstritten.101 2.2

Funktionsweisen von für das Sozialverhalten relevanten kognitiven Modulen

Im Anschluss an die evolutionäre Psychologie definiert Mühlmann kognitive Module als „Fertigbauteile des kognitiven Gesamtverhaltens“102 . Solche Fertigbauteile stellten eine Art Vorurteil dar, durch das der Mensch die ihm begegnende Umwelt schnell mithilfe vorgefertigter Wahrnehmungsmuster strukturieren könne. Solche Vorurteile, wie zum Beispiel die Angst vor Fremden, seien im Lauf der Evolution bewahrt worden, weil sie zum Überleben nützlich waren. Doch das Vorurteil hat auch einen evolutionären Hintergrund, der bewirkt, dass die Menschen allgemein zu Vorurteilen neigen, in unserem Beispiel zum Vorurteil der Xenophobie, weil in der genetischen Evolution Menschen mit einer schnell erlernten Grundausrüstung von fertigen Urteilen im Durchschnitt größere Fitness erreichten, öfter überlebten, sich öfter paarten, d. h. öfter ihre Gene und ihr kulturelles Verhalten auf die nächste Genration übertrugen.103

Mühlmann spricht folglich von „Instinkten“104 und einer „angeborenen Kognitionspräferenz“105 , die menschliches Wahrnehmen automatisch und unbewusst steuerten. Zur Konkretisierung dieser Annahme wählt Mühlmann zwei kognitive Module aus und beschreibt ihre Auswirkungen auf menschliches Sozialverhalten. Als Referenzgröße für die Beschreibung dieser Module verweist er auf einen Aufsatz der Evolutionsbiologen Dan Sperber und Lawrence Hirschfeld.106

100 Vgl. Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 231. Vgl. auch West-Eberhard, Developmental plasticity and evolution, 11, Vgl. auch Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 104f. Nach Tomasello erwerben bereits Kinder viele ihrer Verhaltensweisen durch „kulturelles Lernen“. 101 Vgl. dazu den Überblick bei Pinker, Why nature & nurture won’t go away, 5–17. 102 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 19. 103 A.a.O., 12. 104 Vgl. a.a.O., 29. 105 Mühlmann, Natur des Christentums, 35. 106 Vgl. Dan Sperber / Lawrence Hirschfeld: The cognitive foundations of cultural stability and diversity, TRENDS in Cognitive Sciences 8/1 (2004), 40–46. Allerdings gibt es im Forschungsbereich der evolutionären Psychologie keine Übereinstimmung, wie viele und welche kognitiven Module es genau gibt (vgl. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 255). Mühlmanns

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

Unter dem kognitiven Modul folk sociology versteht Mühlmann die in der menschlichen Psyche angelegte „voreilige[…] Neigung, in Mengen von Individuen immer Inklusions- [und] Exklusionsbeziehungen zu erkennen.“107 Eine solche Unterscheidung zwischen Binnen- und Außengruppe habe sich evolutionär bewährt, weil angesichts der Konkurrenz um knappe Ressourcen ein Verhalten, das die Ressourcen vor allem der eigenen Gruppe zukommen ließ, das Überleben auch des Einzelnen in der Gruppe begünstigte (vgl. auch D.II.2.2 in dieser Arbeit). Das zweite kognitive Modul ranking inference bezeichne die „unerlässliche Binnenorganisation einer erfolgreichen Gruppe“108 durch Hierarchiebildung. Eine klare Rangordnung hat sich nach Mühlmann im Laufe der Evolution als vorteilhaft herausgestellt. Denn ohne eine feste Hierarchie hätte die Binnenorganisation der Gruppe bei jedem Interessenskonflikt neu ausgelotet werden müssen. In Form eines kognitiven Moduls sei die Wahrnehmung einer Gruppe unter der Perspektive der Hierarchie ihrer Mitglieder noch heute automatisch im Menschen angelegt.109 Eine solche Wahrnehmung der Welt durch kognitive Module ist nach Mühlmann allerdings sehr begrenzt, einseitig und ungenau, da sie nur das an den Umwelten erkennt, was den vorgefertigten Mustern im Gehirn entspricht. Die Wahrnehmung von Ereignissen verläuft nach Mühlmann mithin in vorgefertigen Bahnen. Der schablonenartige Charakter dieses Kognitionstyps wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass Kognitive Module mit einem Positiv-Negativ-Schematismus arbeiten. Im Individuum ist eine Negativform des zu beurteilenden Wahrnehmungsobjekts vorhanden. Diesem Negativ muss ein Positiv, nämlich das zu beurteilende Wahrnehmungsobjekt, genau entsprechen. Dann reagiert das Kognitive Modul und erzielt einen Erkennungstreffer.110

Es sei allerdings das Besondere der Kultur, dass die kognitiven Module nicht durch natürliche Ereignisse stimuliert würden, sondern durch kulturell konstruierte: „Nun gibt es auf der Welt nicht nur natürliche Positive, durch die Negative und

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108 109 110

in Anlehnung an die Arbeit von Dan Sperber und Lawrence Hirschfeld vorgestellte Kategorisierung der kognitiven Module bleibt daher spekulativ. Mühlmann, Natur des Christentums, 35. Vgl. auch Sperber / Hirschfeld, The cognitive foundations, 43. Sperber und Hirschfeld definieren folk sociology als mentale „capacity to sort conspecifics into inductively rich categories“ (ebd.). Eine solche Kategorie sei die Unterscheidung zwischen Fremden und der eigenen Gruppe, der man sich durch gemeinsame Kooperation oder durch andere geteilte Merkmale verbunden fühle. Vgl. Mühlman, Jesus überlistet Darwin, 29. Vgl. auch Mühlmann, Natur des Christentums, 36. Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 29. Mühlmann, Natur des Christentums, 35f.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

damit Modulare Kognitive Prozesse in Neurosystemen stimuliert werden. Wie alle Kino-, Theater- und Konzertbesucher wissen, gibt es auch artifizielle Positive, die auf dem Gebiet der Stimulierung von Neurosystemen hervorragende Arbeit leisten.“111 Mithilfe solcher kulturellen Erzeugnisse ergibt sich für Mühlmann die Möglichkeit zur bewussten Steuerung der kognitiven Module und damit auch zur Beeinflussung des Gewaltcharakters von Kulturen. Hier öffnet sich ein Raum, in dem smarte Kulturdesigner erfolgreich operieren können. Und dieser Raum der instabilen Beziehungen zwischen manipulierbaren Positiven und Enkulturierungsnegativen ist zugleich der einzige Raum, in dem die Möglichkeit der intelligenten Einwirkung auf Evolution durch Design existiert.112 2.3

Mühlmanns Verwendung der Theorie der kognitiven Module vor dem Hintergrund des Diskurses „Nature vs. Nurture“

Die bisherige Darstellung der Position Mühlmanns verdeutlicht seine Nähe zur evolutionären Psychologie . Diese geht davon aus, dass „soziale Probleme [nicht] reparable Mängel unserer Institutionen [...] [sondern] unabweisliche Tragödien der Conditio humana“113 sind. Mit diesem Zitat drückt der Evolutionsbiologe Steven Pinker die Überzeugung aus, dass Gewalt nicht das Resultat einer schlechten Sozialisation ist, sondern auf die Evolution zurückgeht, die den Menschen mit solchen Wahrnehmungsmustern ausgestattet hat, die Gewalt wahrscheinlich machen.114 Mühlmann vertritt ähnlich wie Pinker eine evolutionäre Anthropologie, die evolutionär gewordenen psychologischen Mechanismen eine wichtige Rolle bei der Formung von Sozialverhalten zuschreibt. Doch ergänzt er diesen Ansatz im Folgenden, indem er ihm stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtete Perspektiven beigesellt, die den Menschen als ein Wesen beschreiben, dessen Verhalten durch Lernprozesse geprägt ist. Damit geht Mühlman implizit auf Kritiker der Theorie der evolutionären Psychologie ein, die ihr vorwerfen, den Einfluss kulturellen Lernens auf menschliches Verhalten zu unterschätzen.115 Mühlmann ergänzt seine

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A.a.O., 42. A.a.O., 93. Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 27. Vgl. a.a.O., 348. Beispielsweise argumentieren die Evolutionsbiologinnen Eva Jablonka und Marion Lamb dahingehend, dass viele menschliche Verhaltensweisen besser als Folge von sozialem Lernen statt als Folge automatisierter modularer Prozesse erklärt werden können: So scheine es aufgrund der Leichtigkeit, mit der Kinder überall auf der Welt lesen und schreiben lernten, zwar auf den ersten Blick so, als existiere ein „Lese- und Schreibmodul“ (Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 231). Doch seien Lese- und Schreibfähigkeiten „noch sehr junge Kulturpraktiken [...], [sodass es] dafür

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

Verwendung von Theoremen der evolutionären Psychologie deshalb durch eine Theorie der Enkulturierung. Demnach sind Menschen durch Lernen dazu in der Lage, Verhaltensweisen zu erwerben, die nicht genetisch angelegt sind.116 In der Fähigkeit des Menschen zu sozialem Lernen tue sich ein Gestaltungsspielraum jenseits der Prägekraft evolutionär erfolgreicher psychologischer Mechanismen auf. Auch der gegen die Modultheorie erhobene Vorwurf, sie begreife menschliches Wahrnehmen allein als kognitiven Prozess und übersehe deren soziale und körperliche Dimensionen,117 wird von Mühlmann aufgenommen. In diesem Sinne betont er im Rahmen seiner Theorie der Enkulturierung, dass Wahrnehmungen immer durch den Körper und durch Emotionen erfolgen. Ein Ereignis präge sich erst dann dem Menschen dauerhaft und erfolgreich ein, wenn es nicht nur kognitive Inhalte, sondern auch körperliche, emotionale und soziale Dimensionen umfasse.118 Zusammenfassend spielen die Erkenntnisse zur evolutionär gewordenen Psyche des Menschen für Mühlmanns evolutionäre Anthropologie zwar eine wichtige Rolle, doch erhalten sie bei ihm erst in Kombination mit Erkenntnissen zur Kultur- und Lernfähigkeit des Menschen ihren angemessenen Ort. Möchte man von dieser Perspektive herkommend Mühlmanns Position in die Debatte „nature vs. nurture“119 einordnen, so nimmt er eine Position ein, die Aspekte beider Seiten aufzugreifen und miteinander zu verzahnen sucht.

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keine direkte genetische Selektion im Verlauf der Evolution des Menschen gegeben“ habe (a.a.O., 233). Die häufige oder sogar universelle Verbreitung eines bestimmten Verhaltens sei daher kein zwingender Beweis für die Existenz eines kognitiven Moduls. Stattdessen solle „man den großen Einfluss der kulturellen Evolution ernst nehmen“ (a.a.O., 236). Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18f. Vgl. dazu die Kritik bei Schüler, Religion, Kognition und Evolution, 160. Der Religionswissenschaftler Sebastian Schüler kommt zu dem Schluss, dass das Verständnis menschlichen Verhaltens als Produkt kognitiver Module nicht völlig falsch, aber zu einseitig ist. Die evolutionäre Psychologie unterschlage nämlich, dass menschliches Erleben und Verhalten immer auch von körperlichen und sozialen Prozessen mitgeformt werde. „Kognitive Prozesse sind immer auch Ergebnis dynamischer verkörperter Anpassungen und nicht nur Ergebnis evolutionär gewachsener und selektierter Module für Problemlösungen. [...] Die Entstehung kognitiver Kapazitäten und Dispositionen in der Evolution des Menschen muss also auch körperliche Wahrnehmung sowie kollektive Repräsentationen berücksichtigen.“ Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18.37. Vgl. Steven Pinker: Why nature and nurture won‘t go away, Daedalus 133/4 (2004), 5–17.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

2.4

Enkulturierung als Verinnerlichung kultureller Lerninhalte

Nach Mühlmann ist menschliches Wahrnehmen und Verhalten nicht nur durch kognitive Module geprägt, sondern auch durch Prozesse der „Enkulturierung“120 . Darunter versteht Mühlmann die „Einspeicherung [kultureller Lerninhalte] in die Gedächtnissyteme“121 . Mithilfe der Enkulturierung übernehme ein Individuum für sich genau die Überzeugungen und Praktiken, die in einer Gemeinschaft für normativ erachtet würden. Enkulturierung gelinge ferner dann am besten, wenn sich die zu enkulturierenden Überzeugungen und Praktiken dem menschlichen Gedächtnis auf den folgenden drei unterschiedlichen Ebenen zugleich einprägten: Erstens benötige eine erfolgreiche Enkulturierung die „Einspeicherung [kultureller Lerninhalte] ins deklarative Gedächtnis“122 . Damit sei gemeint, dass kognitiv zu lernende Inhalte abrufbar im Gedächtnis gespeichert würden. Es handle sich dabei um leicht abprüfbares und reproduzierbares Faktenwissen. Die „Einspeicherung[...] in das Körpergedächtnis“123 sei die zweite Bedingung, damit Enkulturierung gelinge. Damit ein Ereignis erinnert werde, müsse es nicht nur Faktenwissen enthalten, sondern auch körperliche Vollzüge, die von denjenigen, die sich an dieses Ereignis erinnerten, eingeübt würden. Solche Vollzüge würden sich bei ausreichender Wiederholung dem Körpergedächtnis so einprägen, dass sie automatisiert würden, wie am Beispiel des Klavierspielens oder Autofahrens ersichtlich werde. Nach einer Zeit des Übens gingen diese körperlichen Handlungen automatisch vonstatten, ohne dass die handelnde Person die Bewegung der Finger beim Klavierspielen oder die Bewegung der Füße beim Autofahren bewusst steuern müsse.124 Der Mensch ist nach Mühlmann folglich nicht nur als denkender Mensch zu begreifen, sondern er ist zugleich auch immer der übende und durch dieses Üben wiederum geprägte Mensch.125 Enkulturierung misslinge, wenn diese elementare Dimension menschlichen Erlebens – der Köper wird durch ein Ereignis

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Mühlmann, Natur des Christentums, 18. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 19. Vgl. auch Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, 25, auf dessen Arbeit Mühlmann in einer Fußnote verweist (vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 19 (Anm. 4)). Peter Sloterdijk versteht den Menschen nicht primär als ein durch Rationalität bestimmtes Wesen, sondern als geprägt durch „unsichtbare[...] Trainingsprogramme“ (Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, 644). Der Mensch sei „nicht so sehr von Dämonen als von Automatismen beherrscht“ (a.a.O., 640). Dazu zählten „verkörperte Praktiken“ (a.a.O., 25), aber auch „eingefleischte Leidenschaften“ und „erworbene Gewohnheiten“ (a.a.O., 640). Der Mensch wird nach Sloterdijk in seinem Denken und Handeln also durch seine Routinen geprägt: Er ist, was er regelmäßig tut. An diese These Sloterdijks schließt Mühlmann inhaltlich an.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

affiziert und reagiert darauf auf eine bestimmte Weise – nicht miteinbezogen werde. Damit ein kultureller Wert erfolgreich internalisiert werde, müsse er daher mit sich wiederholenden körperlichen Praktiken verbunden werden. Drittens nennt Mühlmann die Emotionalität eines Ereignisses als Voraussetzung für dessen erfolgreiche Enkulturierung. Je stärker Emotionen angesprochen würden, umso nachhaltiger werde das dazugehörige Ereignis im Gedächtnis eingespeichert. Ereignisse, die von Aggression, Angst oder Entsetzen geprägt seien, wie das Schlachten eines Tiers im Rahmen eines Rituals oder auch die Erfahrung eines Kriegs, hätten eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich dem Gedächtnis einzuprägen als weniger emotionale Ereignisse. Grund dafür sei das kognitive Modul „emotionales episodisches Gedächtnis“, das auf die Wahrnehmung von mit starken Emotionen verbundenen Ereignissen angelegt sei und diese im Gedächnis einspeichere.126 2.5

Enkulturierung durch Rituale und Narrative

Nachdem er das Konzept der Enkulturierung im Allgemeinen beschrieben hat, erläutert Mühlmann, durch welche kulturellen Ereignisse sich Enkulturierung konkret vollzieht. Er tut dies am Beispiel der griechisch-römischen Antike, um dann vor diesem Hintergrund die Formen der Enkulturierung durch das Christentum zu entfalten. Als erstes kulturelles Ereignis nennt Mühlmann das bereits von ihm angeführte Schlachtopfer, das sowohl in griechischen als auch in römischen Kulten (z. B. im römischen Mithraskult)127 eine zentrale Rolle spiele. Es drücke die Werte der griechisch-römischen Kultur aus und diene zugleich dazu, dass die Beteiligten diese Werte durch den (Mit)Vollzug des Schlachtopfers für sich übernähmen. Insofern definiert Mühlmann das antike Schlachtopfer als ein „Enkulturierungsereignis“128 und als ein „Enkulturierungsritual“129 . Die antike griechisch-römische Kultur verfüge neben Ritualen noch über eine zweite Weise der Enkulturierung. Diese geschehe durch sinnstiftende Erzählungen, durch Mythen. Mythen dienten dazu, eine bestehende Ritualpraxis unter Verweis auf ein prähistorisches Gründungsereignis zu legitimieren und hätten so

126 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 20: „Die Kombination von emotionalem und episodischem Gedächtnis wirkt optimierend“. 127 Vgl. so auch Christ, Die römische Kaiserzeit, 100. 128 Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 50. 129 A.a.O., 39.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

ätiologische Funktion.130 Mühlmann bezeichnet sie daher als ein „Enkulturierungsmodul“131 . Beide Formen der Enkulturierung – durch eine Erzählung und durch ein Ritual – müssten zusammen auftreten, damit Enkulturierung als Ganzes funktioniere.132 Denn der Mythos spreche als Erzählung vor allem das deklarative Gedächtnis an; hier würden kognitive Informationen eingeprägt. Durch das Ritual würden hingegen stärker das emotionale episodische Gedächtnis und das Körpergedächtnis angesprochen. Deshalb sichere erst die Verbindung von Ritual und Mythos eine erfolgreiche Enkulturierung der kulturellen Regeleinstellung in das menschliche Gedächtnis.133 Von einer solchen Theorie der Enkulturierung herkommend untersucht und interpretiert Mühlmann im Folgenden neutestamentliche Narrative und das Ritual des Abendmahls. Er versteht diese in pointiertem Gegensatz zu den Narrativen und Ritualen des Römischen Reichs, vor dessen Hintergrund sich das Christentum religionsgeschichtlich herausbildet. 3.

Die Enkulturierung durch das Christentum

3.1

Das Abendmahl als alternatives Enkulturierungsereignis im Gegenüber zum Schlachtopfer

Die Gewöhnung der Menschen an Gewalt durch die Teilnahme an Tieropfern war nach Mühlmann die im Römischen Reich praktizierte Art und Weise der Enkultulturation. Denn „Gewalt nach innen und außen“134 seien die Funktionsprinzipien des Römischen Reichs. Weil der militärische Erfolg der Nahkampflegionen für Rom von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung überlebensentscheidend war, musste diese Kultur die Grausamkeit zum Normalverhalten machen. Im Kern der römischen Wichtigkeitsmarkierung steckte folglich die Grausamkeitserfahrung.135

Inwiefern stellt das Christentum nach Mühlmann nun eine alternative Weise der Enkulturierung dar, die nicht auf die Prägekraft von Gewalt setzt?

130 131 132 133 134 135

Vgl. a.a.O., 37ff. Vgl. auch Zaidman, Die Religion der Griechen, 165ff. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 56. Vgl. a.O., 50. Vgl. a.a.O., 46. Mühlmann, Natur des Christentums, 85. A.a.O., 118.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

Mühlmann beantwortet diese Frage mithilfe einer Analyse neutestamentlicher Narrative und einer Analyse der neutestamentlichen Beschreibung des Abendmahls, das er als Ersatz zum antiken Schlachtopfer versteht. Seine These ist es, dass das Christentum in Form von gewaltreduzierenden Ritualen und Narrativen eine alternative Enkulturierung ermöglicht, bei der gerade der Verzicht auf Gewalt Identität und Gemeinschaft stiftet. Seit der Gründung [der christlichen Religion] durch die Hinrichtung des Messias und seit der Abschaffung der realen Tötungsopfer ist es für Christen nicht möglich, sich in Tötungskulturen zu enkulturieren, und es ist ihnen eigentlich nicht erlaubt, mit Tötungskulturen zu kooperieren. Dabei bezieht sich dieses kulturelle Unterlassungsgebot auf das komplette Tötungsprogramm „Opfer und Krieg“.136

Für die inhaltliche Interpretation des Abendmahls bedient Mühlmann sich der neutestamentlichen Interpretation des Kreuzestodes Christi als einmaliges Opfer zur Sühne, die sich so allerdings nur im Hebräerbrief (vgl. insbesondere Hebr 8,110,18) findet.137 Insofern es dem Opfertod Jesu eine zentrale theologische Stellung einräume, schließe das Neue Testament erst einmal an die hohe Bedeutung des Opfers in der Antike an. Die neutestamentliche Interpretation des Todes Jesu als Opfer stelle auf der narrativen Ebene sogar eine Intensivierung der Gewalt dar, da kein Tier, sondern ein Mensch getötet werde.138 Nach Mühlmann ist der Tod Jesu laut neutestamentlichem Verständnis jedoch zugleich das Gründungsereignis für einen neuen Bund mit Gott (vgl. Mt 26,28). Als Folge dieses neuen Bundes seien keine weiteren Opfer mehr nötig. Bereits aus diesem Grund lasse sich die christliche Religion als gewaltreduzierend im Vergleich mit der antiken griechisch-römischen Kultur verstehen, die eine wiederholte Opferpraxis fordere. Das neutestamentliche Verständnis von Jesu Tod als einmaligem Opfer hat nach Mühlmann außerdem Folgen für die Form der Abendmahlsfeier: Im Abendmahl werde keine Opferhandlung vollzogen. Hostie und Wein würden zwar als Verweise auf Jesu Leib und Jesu Blut gedeutet und gemeinsam gegessen und getrunken. Doch handle es sich beim gemeinsamen Essen und Trinken um eine Vergegenwärtigung von Jesu Opfer durch bloße Zeichen. Die Aggressivität und die Gewalt, die sich

136 A.a.O., 125. 137 Neben dieser Interpretation des Kreuzestodes finden sich im Neuen Testament auch andere Interpretationen, die Jesu Tod als Folge menschlicher Gewalt deuten (vgl. Apg 2,23), als Folge seiner „Proexistenz“ (Böttrich, Proexistenz im Leiden und Sterben, 413) verstehen (vgl. Lk 19,22) oder als Unheil abwendendes Sterben zugunsten anderer interpretieren (vgl. Röm 5,8), ohne dass dabei Opferkategorien zur Beschreibung verwendet werden (vgl. Breytenbach, Versöhnung, 171). Mühlmanns Interpretation des Todes Jesu als Opfer ist daher selektiv. 138 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 75.

145

146

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

in der Tötung eines Tiers im Rahmen des antiken Schlachtopfers zeigten, würden beim Abendmahl hingegen vermieden.139 Das Abendmahl stifte Identität und Gemeinschaft unter den Beteiligten stattdessen durch ein gemeinsames Essen und die geteilte Erinnerung an Jesu Tod. Das einmalige historische Opfer wird gespeichert […] in neuen Ritualen, die keine Opferrituale sind, sondern Opferrituale nur noch simulieren. Denn es fließt kein Blut mehr. Das ist wie die Ersetzung des Mensurenfechtens durch Fechtpantomimem.140

Aus der Perspektive der Theorie der Enkulturierung betrachtet ist das Abendmahl nach Mühlmann trotz seines gewaltreduzierenden Charakters jedoch nicht weniger einprägsam als das Schlachtopfer. Denn das Abendmahl spreche sowohl das deklarative Gedächtnis als auch das Körpergedächtnis und das emotionale Gedächtnis an und eigne sich daher hervorragend als Mittel zur Enkulturierung: Durch das gemeinsame Essen und Trinken würden das Körpergedächtnis angesprochen und ein Gemeinschaftsgefühl unter den Feiernden erzeugt. Ferner würden durch die mittels der Einsetzungsworte hervorgerufenen Erinnerungen an Jesu Tod starke Emotionen bei den Teilnehmenden des Abendmahls ausgelöst. Hierdurch könne sich das erinnerte Ereignis gut dem emotionalen Gedächtnis einprägen. Schließlich sei die im Abendmahl enthaltene Überzeugung von Jesu Tod zugunsten der Menschen ein Inhalt, der kognitiv gelernt werden könne und sich insofern auch dem deklarativen Gedächtnis einpräge.141 3.2

Neutestamentliche Narrative als alternative Enkulturierungsmodule

Als zweite Art und Weise der Enkulturierung hatte Mühlmann neben dem Ritual den Mythos bzw. das Narrativ genannt, das dazu diene, die Durchführung von Ritualen in erzählerischer Form zu begründen und zu legitimieren. Auch das Christentum verfüge über solche Narrative und funktioniere insofern auf formaler Ebene vergleichbar mit den Narrativen der römischen Umwelt. Doch inhaltlich unterschieden sich neutestamentliche Narrative von den im Römischen Reich geltenden Narrativen hinsichtlich dessen, was wichtig und gut sei: Denn in den identitätsstiftenden Narrativen des Römischen Reichs werde das Attribut der Hoheit und Wichtigkeit an Personen mit kriegerischer Todes- und Tötungsbereitschaft vergeben, während christliche Narrative ein alternatives Verständnis von Hoheit enthielten, wonach diese gerade in der Zuwendung zu den Niedrigen bestehe.

139 Vgl. a.a.O., 53f. 140 Mühlmann, Natur des Christentums, 78. 141 Vgl. a.a.O., 83f.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

3.2.1

Hoheit durch Todes- und Tötungsbereitschaft im Krieg als Enkulturierungsmodul des Römischen Reiches

Geburt und Tod sind Zeitpunkte des Übergangs von einer Generation zur nächsten. Solche Übergänge sind nach Mühlmann nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für eine Kultur insgesamt von existentieller Bedeutung. Denn eine Kultur sei zu ihrem Fortbestehen auf generationenübergreifende Identität, Werte und Institutionen angewiesen. Kulturen müssen Generationen übergreifende Stabilität erlangen. Deshalb sind die Übergänge, die von einer Generation zur nächsten führen, besonders wichtig. Das Verhalten der Menschen wird konsequenterweise von kulturellen Evaluationssystemen besonders unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für die Generationen-Passagen beurteilt.142

Im Römischen Reich würden solche universell existierenden „Ablösungskrisen beim Generationenwechsel“143 nun auf eine solche Weise bearbeitet, dass all das, was für eine generationenübergreifende Stabilität des Römischen Reichs sorge und damit dessen Fortbestand sichere, als wichtig und hoheitlich bewertet werde.144 Daher erhielten im Römischen Reich genau diejenigen Verhaltensweisen die Bewertung ‚wichtig‘ oder ‚hoheitlich‘, die mit Krieg und Eroberung zu tun hätten. Denn das Römische Reich verstehe sich als Eroberungskultur und die Tradierung dieses Selbstverständnisses in die nächste Generation sei für die Bewahrung der Identität und der Stabilität des Römischen Reichs unverzichtbar. Erzeugung von Hoheit ist das römische Resultat, das aus dem Schmerz der GenerationenPassage hervorgeht. Es handelt sich dabei um Hoheit durch dynastische Geburt und um Hoheit durch kulturelle Tötungs- und Todesbereitschaft. Diese Hoheit ist das Eichmass der Ranking-Erkennung.145

Wer sich entweder im Krieg für das Römische Reich opfere oder die Feinde des Römischen Reichs töte, werde als wichtig erachtet und erhalte einen hohen Rang in der Gesellschaft. Der Idealtypus „ruhmreicher Krieger“146 ist nach Mühlmann daher für das Römische Reich der Maßstab, an dem der gesellschaftliche Wert und die gesellschaftliche Wichtigkeit eines Individuums bemessen würden.

142 143 144 145 146

A.a.O., 67. A.a.O., 70. Vgl. ebd. Ebd. A.a.O., 69.

147

148

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

3.2.2

Christus als Gegenfigur zum römischen Krieger und die Aufhebung der römischen Rangordnung im Neuen Testament

Das Neue Testament attackiere diese im Römischen Reich geltenden Werte und proklamiere in ihren Narrativen genau entgegengesetzte Werte zur Identitätsbildung: Erstens würde Jesu Geburt in den Evangelien zwar ausführlich beschrieben; allerdings so, dass Jesus als Gegenfigur zum Krieger und zum Aristokraten erscheine.147 Das Lukasevangelium verkündige die Geburt des Gottessohns in einem Stall als Sohn gewöhnlicher Eltern (vgl. Lk 2,7). Eine solcher Herkunft widerspreche den Vorstellungen von Hoheit als mit aristokratischer Abstammung und mit kriegerischem Kampf verknüpft.148 Zweitens fordere Jesus in den Evangelien die Mächtigen dazu auf, sich den Niedrigen, die über keine Macht und keinen hohen sozialen Rang verfügten, zuzuwenden.149 Als neutestamentliche Belegstelle für diese Forderung nennt Mühlmann die Endgerichtsrede in Mt 25,31-46. Das Bestehen eines Menschen im Endgericht werde nach diesem Gleichnis daran gemessen, ob er Bedürftigen geholfen habe. Dass Hilfe gegenüber Bedürftigen der endzeitliche Maßstab zur Beurteilung des Verhaltens ist, stehe im Gegensatz zu den Wertmaßstäben des Römischen Reichs, nach denen der „Krieger“150 eine hohe Wertschätzung und Wichtigkeit erhalte. Nach Mt 25,35-36 sei Gott hingegen gerade in den Niedrigen und Bedürftigen anwesend. Deshalb werde ein Verhalten des Verzichts auf Macht zugunsten der Bedürftigen und Niedrigen im Neuen Testament positiv bewertet: Die mächtigen [sic!] sollen sich verhalten, so lautet die Weisung, als hätten sie keine Macht. Das ist mit der christlichen Tugend der Demut gemeint.151

Drittens fordere Jesus im Neuen Testament nicht nur die Zuwendung der Mächtigen zu den Niedrigen unter Zurückstellung ihres hohen Rangs, sondern sein eigenes Leben und insbesondere sein Tod am Kreuz seien nach römischem Bewertungsmaßstab als niedrig einzustufen. Im Neuen Testament werde diese Niedrigkeit Jesu im Glauben an die Messianität des Gekreuzigten jedoch kontrafaktisch als Hoheit gedeutet. Indem der Sohn Gottes im Neuen Testament mit kultureller Niedrigkeit assoziiert werde, proklamiere das Neue Testament „die paradoxale Situation, dass das Höchste im Niedrigen erscheint.“152 Die Überzeugung, dass im entehrenden Tod eines Menschen der Sohn Gottes stirbt und eine Position sozialer und 147 148 149 150 151 152

Vgl. a.a.O., 69. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 73. A.a.O., 73. A.a.O., 87. A.a.O., 56.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

kultureller Niedrigkeit übernimmt, stelle einen frontalen Angriff auf das römische Wertesystem dar mit seiner Hochschätzung von kriegerischer „Todes- und Tötungsbereitschaft“153 . Ein gutes Verhalten bestehe nach neutestamentlichem Verständnis daher genau darin, dass die römische Unterscheidung zwischen hoch und niedrig für irrelevant erklärt werde. Ein schlechtes Verhalten bestehe hingegen in der Akzeptanz des römischen Wertesystems. Man handelt tugendhaft, indem man Niedrigkeit wie Hoheit behandelt. Auf diese Weise werden gute Taten vollbracht. Gute und schlechte Taten bilden das neue Evaluationssystem. Damit tritt das Begriffspaar gut / böse an die Stelle von hoch / niedrig. Und, was sehr bedeutend ist: Gut / böse resultiert aus der Vernichtung von hoch / niedrig, denn gut ist, wer hoch / niedrig nicht beachtet. Die Regeleinstellung des decorum [des in der römischen Kultur Schicklichen] wird durch eine spirituelle Norm ersetzt.154

Christen seien durch ihren Glauben an die Hoheit eines in Niedrigkeit und Schande Gestorbenen daher eine Gemeinschaft, „die das Ranking revoltiert“155 . Das Eigentümliche des christlichen Glaubens lässt sich nach Mühlmann somit erst dann angemessen erkennen, wenn man es in seiner Gegenüberstellung zum Wertesystem des Römischen Reiches versteht: Denn wenn es zutrifft, dass die zentrale Botschaft des Christentums weder der Begriff „Gott“ noch der Begriff „göttliche Wahrheit“, noch das Prinzip des Guten ist, sondern die Aufforderung, immer und überall die Niedrigkeit zu erhöhen, weil die Kreuzigung Vorbild für die Erhöhung der Niedrigkeit ist, dann muss in dieser Aufforderung irgendwo die Erinnerung an eine Kultur enthalten sein, in der die Trennung von Hoheit und Niedrigkeit die Grundlage aller Wichtigkeit war. Grundlage aller Wichtigkeit bedeutet: entscheidend für das Überleben.156

153 154 155 156

Ebd. A.a.O., 73. A.a.O., 75. A.a.O., 121f. Mit dieser Theorie des Christentums als Gegenbewegung zum Römischen Reich befindet sich Mühlmann in ideengeschichtlicher Hinsicht in großer Nähe zu Friedrich Nietzsche, der das Christentum als „Umwertung der Werte“ (Nietzsche, Genealogie der Moral, 777) des Römischen Reichs verstand. Nach Nietzsche gilt im Römische Reich ein Wertmaßstab, demzufolge der Krieger als ‚gut‘ angesehen wird: „Das lateinische bonus glaube ich als ‚den Krieger‘ auslegen zu dürfen. [...] Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine Güte ausmachte“ (a.a.O., 777). Im Römischen Reich gelte demnach die Wertsetzung, wonach „gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt“ (a.a.O., 779) ist. Diese Wertsetzung ist für Nietzsche die ursprüngliche und natürliche Wertsetzung, weil sie „spontan“ und „von sich aus“ entstehe (vgl. a.a.O., 785). Erst durch das Judentum, und in

149

150

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

4.

Die Suspendierung der kognitiven Module folk sociology und ranking inference im Neuen Testament

Doch lässt sich gegen diese These Mühlmanns einwenden, dass das genetisch angelegte kognitive Modul folk sociology es verunmöglicht, dass Menschen ihre Mitmenschen jemals anders als durch die Unterscheidung von Binnengruppe und Außengruppe wahrnehmen. In diesem Sinne hatte Mühlmann selbst bemerkt: „[E]in kognitives Modul kann nicht abgeschaltet werden.“157 Wie sollte es im Christentum daher überhaupt gelingen, gemeinschaftlichen Zusammenhalt ohne Gewalt zu stiften? Mühlmann reagiert auf eine solche Anfrage mit der Erläuterung, dass die kognitiven Module zwar bleibende Muster sind, durch die alle Menschen einander wahrnehmen. Doch gelinge es im Christentum – so, wie es sich auf der Ebene neutestamentlicher Texte darstelle –, diese kognitiven Module inhaltlich so zu bedienen, dass es nicht zu Gewalt gegen Außengruppen komme und die Entstehung von Rang innerhalb der christlichen Gemeinschaft zumindest erschwert werde. 4.1

Der Umgang mit dem Modul folk sociology im Neuen Testament

Das Römische Reich etablierte laut Mühlmann sozialen Rang anhand des Kriteriums der Todes- und Tötungsbereitschaft von Individuen. Ferner wurden einmal etablierte soziale Hierarchien durch das Ritual des Schlachtopfers reproduziert und performativ eingeübt. Derjenige, der beim Opfer die Macht hatte, über Leben und Tod des Tieres zu entscheiden, besaß nach Mühlmann den höchsten sozialen Rang.158 Im Christentum werde die Verbindung von einem hohen Rang mit der Macht, über Leben und Tod zu bestimmen, kritisiert und für nichtig erklärt. Gerade die Zurückweisung der Verbindung von Hoheit und Tötungsmacht werde im Christentum als „Tugend“159 angesehen. Das Festhalten an der Verknüpfung eines hohen Status mit der Macht, Leben zu nehmen, werde hingegen als „verflucht“ und „böse“ dessen Gefolge auch durch das Christentum, sei es zu einer „Umwertung von deren [den römischen] Werten“ (a.a.O., 779) gekommen, seien andere Ideale statt der bisherigen, ursprünglichen Ideale „ausgedacht“ (a.a.O., 789) worden. Im Widerspruch zu den bisherigen Werten gelte im Judenwie im Christentum folgende Wertsetzung: „[D]ie Elenden sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit“ (vgl. a.a.O., 779). 157 Mühlmann, Natur des Christentums, 72. 158 Vgl. ebd. Vgl. auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 61: „Der Urteilsspruch ‚sacer esto‘ stellt den Vollzug von Heiligung als Verurteilung zum Tode dar. […] Auch das Töten beim Tieropfer war Heiligung und wurde mit demselben Wort ‚sacer‘ (gr. ‚hieros‘) benannt.“ 159 Mühlmann, Natur des Christentums, 87.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

betrachtet.160 Mühlmann spricht daher von einer „Umbewertung des irdischen Geschehens durch den Messianismus“161 . Aus diesem neu eingeführten Bewertungsmaßstab für kulturelles Verhalten entwickle das Christentum in einem zweiten Schritt eine eigene Gruppenidentität. Es unterscheide zwischen der Gruppe der Christen als Anhänger des Messias, die „Rankinglosigkeit“162 praktizierten, und allen anderen, die keine Anhänger des Messias waren und keine Ranglosigkeit praktizierten. Insofern bedient nach Mühlmann auch die christliche Religion das Modul folk sociology, indem sie zwischen der Gruppe der Christen und allen anderen unterscheidet. Doch werde diese Unterscheidung durch zwei theologische Überzeugungen zugleich so gefasst, dass sie nicht zu Gewalthandlungen nach außen führe. Die erste theologische Überzeugung bestehe darin, dass das Reich Gottes, dem sich die Anhänger des Messias zugehörig fühlten, als zukünftig und „nicht von dieser Welt“163 vorgestellt werde. Dies führe dazu, dass bestehende irdische Konflikte und Kriege gerade nicht religiös legitimiert oder überhöht werden könnten, da das Reich der Messiasanhänger mit keinem irdisch beschreibbaren oder irdisch erreichbaren Ort zusammenfalle. Weil das Reich Gottes als ganz anders als all das, was irdisch vorgefunden ist, geglaubt werde, ermögliche dieser Glaube eine kritische Distanz zu gegebenen Kulturen und deren Konfliktlinien und verhindere eine absolute Identifizierung der Christen mit einer existierenden politischen Situation. Die zweite theologische Überzeugung, dass das Reich Gottes erst durch den Messias errichtet werde, stelle einen eschatologischen Vorbehalt dar. Er bewirke, dass die Messiasanhänger nicht meinten, durch eigenes Handeln das Reich Gottes schon jetzt verwirklichen zu können oder zu müssen. Durch diesen eschatologischen Vorbehalt werde verhindert, dass politische oder soziale Gewalt unter dem Vorwand oder der Überzeugung, das Reich Gottes zu errichten, religiös legitimiert werde. Mühlmann bemerkt dazu: „Die stressfähige tribalistische Gruppe der Tieropferzeit vergisst sich somit selbst.“164 Die instinktive Unterscheidung zwischen Binnen- und Außengruppe bleibt nach Mühlmann zusammenfassend zwar auch im Christentum bestehen, doch verbindet sie sich aufgrund ihrer Kopplung mit bestimmten theologischen Überzeugungen nicht mit Gewalt gegenüber Außengruppen. Daher bewertet Mühlmann das Selbstverständnis der Christen, soweit es sich anhand neutestamentlicher Texte rekonstruieren lässt, im Vergleich zur griechisch-römischen Kultur als ein stärker spiritualisiertes: „Der eigentliche Effekt, der durch das Einführen des falschen 160 161 162 163 164

A.a.O., 73. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 62. Mühlmann, Natur des Christentums, 75. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 63. A.a.O., 85.

151

152

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Positivs ausgelöst wird, ist ein Zugewinn an Spiritualität.“165 Christliche Identität formiere sich gerade im Verweis auf die nur relative Rolle aller bestehenden irdischen Identitäten – auch der eigenen – und im Warten auf die erst zukünftig mit der Wiederkunft Christi vollständig erscheinende Identität: Daher könnten Christen über sich selbst sagen: Wir, die dem Reich angehören, das nicht von dieser Welt ist, und das beginnen wird, sobald der Messias zurückkehrt.166 4.2

Der Umgang mit dem Modul ranking inference im Neuen Testament

Die Kritik an der Rangordnung in menschlichen Gemeinschaften stellt nach Mühlmann die „spektakulärste Transformation“167 des Christentums im Vergleich zum Römischen Reich dar. Relativierend bemerkt Mühlmann jedoch auch, dass das kognitive Modul ranking inference nicht ausgeschaltet werden kann. Auch Christen, die zwar der Überzeugung seien, dass die römische Unterscheidung in hoch und niedrig keine Rolle spiele, könnten gar nicht anders, als Gemeinschaften weiter unter der Perspektive der Rangordnung wahrzunehmen. Die Gruppe [der Christen] anerkennt als höchstes Ranking die Rankinglosigkeit des ehrlosen jhwh-Opfertiers „Χριστός“ und verhält sich trotzdem wie eine durch Ranking organisierte Gruppe. Sie tut so, als ob es Ranking gäbe, obwohl es kein Ranking gibt.168

Doch verfüge das Christentum zugleich über die Fähigkeit zur Steuerung dieses Wahrnehmungsmusters, sodass die Entstehung von Rang faktisch verunmöglicht oder zumindest erschwert werde. Denn nach neutestamentlicher Überzeugung gebühre der höchste Rang gerade demjenigen, der bestehende Hierarchien und bestehenden Rang ignoriere: „Im christlichen Evaluationssystem gut/heilig vs. böse/verflucht wird die Bestnote an die Rankingaufhebung vergeben.“169 Das Prinzip des Rangs hebt sich, so verstanden, allerdings selbst auf: Wenn derjenige den höchsten Rang erhält, der die bestehende Rangordnung ignoriert und Niedrige wie Hohe behandelt, kann es faktisch gar nicht zur Entstehung von Rang kommen. Denn die Forderung, Niedrige wie Hohe zu behandeln, bzw. den Niedrigen zu helfen und so ihre Niedrigkeit aufzuheben, führt, wenn diese Forderung umgesetzt wird,

165 166 167 168 169

Mühlmann, Natur des Christentums, 80. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 60. A.a.O., 62f. Mühlmann, Natur des Christentums, 75. Ebd.

Das Christentum als Durchbrechung des Gewaltcharakters menschlicher Kulturen

tendenziell zu einer Einebnung von Rang. Die neutestamentliche Proklamation, dass der in Schande Gekreuzigte einen hohen Rang innehabe, produziere daher eine „Leerstelle.“170 Als Belegstelle für diese Interpretation verweist Mühlmann auf Mk 10,42-45: Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Mühlmann urteilt daher, dass der Begriff der Rangordnung hier zum „leere[n] Signifikant[en]“171 geworden ist. Das entsprechende kognitive Modul ranking inference bleibe zwar aktiv. Doch führe es nicht mehr zur Entstehung von Hierarchie. Denn im Neuen Testament gelte: „Fühle Ranking und wisse, dass es kein Ranking gibt!“172 5.

Das Christentum als teleonomische Größe innerhalb der Evolution

In seiner Interpretation des Christentums mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven enthält sich Mühlmann methodisch der Frage nach der Wahrheit christlicher Überzeugungen.173 Doch aus evolutionstheoretischer Perspektive stelle das Christentum eine Komplexitätssteigerung im Laufe der kulturellen Evolution dar,174 weil die christliche Religion eine Größe sei, die sich kritisch zu den Werten einer Gemeinschaft verhalten könne. Mühlmann spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Entsouveränisierung der Religion“175 . Dies bedeute, dass Religion und

170 A.a.O., 72. 171 Ebd. Mühlmann verweist hier zustimmend auf die Interpretation einer paulinischen Textstelle durch Giorgio Agamben. Nach Agamben ist „die Aushöhlung und die Ungültigkeit aller juristischfaktischen Trennungen“ Kennzeichen der messianischen Zeit. Bisherige kulturelle Maßstäbe würden für irrelevant erklärt (vgl. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 42). 172 Mühlmann, Natur des Christentums, 76. 173 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 82. 174 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 84f.: „Das Christentum kann auf diese Weise in der Realität eine transethnische und transsouveräne Organisation aufbauen. Das ist in der Tat ein Komplexitätsgewinn gegenüber Religionen, in denen die Außengrenzen der Religion zugleich militärstrategische Außengrenzen eines mit der Religion zusammenfallenden souveränen Systems sind.“ 175 A.a.O., 85.

153

154

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Herrschaft im Christentum voneinander entkoppelt würden: Die christliche Religion diene nicht mehr dazu, bestehende Herrschaft zu stützen. In ihrer Ablehnung von Gewalt und Rangordnungen als Mittel kultureller Selbststabilisierung beinhalte sie vielmehr bleibend ein herrschaftskritisches Element. Gleichzeitig übe das Christentum durch alternative Narrative und Rituale, die Gewalt als Mittel der Identitätsfindung ablehnten, eine Haltung ein, die Gewalt reduziere. So habe das Christentum bereits in der Vergangenheit erfolgreich „die Auflösung des römischen Kriegsdecorum“176 bewirkt. Sofern es dem Christentum weiterhin gelinge, Identität ohne gewalttätige Handlungen zu konstruieren, könne es steuernd in den Gewaltcharakter der kulturellen Evolution eingreifen.177 Diese Leistung des Christentums kann nach Mühlmann auch für heutige Kulturen Vorbild dafür sein, menschliche Gemeinschaften in einer solchen Weise zu gestalten, dass Gewalt nach innen und nach außen als Mittel zur Gemeinschaftsbildung reduziert wird. Auf diese Weise könne die sonst unbewusst ablaufende Evolution auf ein Ziel hin ausgerichtet werden. Allerdings sei eine Einflussnahme auf den Gewaltcharakter von Kulturen äußerst schwer zu bewerkstelligen, weil der Einzelne durch kognitive Module instinkthaft in seiner Wahrnehmung vorgeprägt sei. Automatisch treffe er die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe, mit der Kooperation möglich sei, und Fremden, die potentiell eine Bedrohung für die eigene Gruppe darstellten. Diese Unterscheidung könne tendenziell immer in Gewalt umschlagen.178 Menschen seien als denkende Lebewesen jedoch zugleich in der Lage, selbstreflexiv auf ihr Verhalten zu blicken.179 Durch diese Selbstreflexion könnten sie sich des Gewaltcharakters menschlicher Gemeinschaften bewusstwerden: „Der Posthumanist weiß, dass er reflektieren kann und reflektiert somit seine eigene Reflektivität. Er reflektiert aber auch die zahlreichen unbewussten Kognitionssysteme, die permanent in ihm aktiv sind.“180 Eine Einflussnahme auf den Entwicklungsgang menschlicher Gemeinschaften sei ferner insofern möglich, als dass Menschen immer auch durch wiederholte körperliche Handlungen – Rituale – geprägt würden und sich diese Rituale dem Körpergedächtnis einprägten. Um den Gewaltcharakter von Gemeinschaften auszuhebeln, könnten daher gewaltlose Rituale eingeübt werden: „Wenn man an dieser

176 177 178 179

A.a.O., 125. Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 80. Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 61. Vgl. a.a.O., 113: „Menschen definieren sich als reflektierende und zugleich blind evolvierende Lebewesen und außerdem als Lebewesen, die sowohl ihr eigenes Reflexionsvermögen als auch ihre eigene biographische Evolutionsdynamik zum Gegenstand ihres Reflexionsvermögens machen können.“ 180 A.a.O., 111.

Gesamtauswertung zu Heiner Mühlmann

Stelle die Frage stellt, ob man den blind evolvierenden Bereich der eigenen Biographie trotzdem beeinflussen kann, dann bieten sich die Techniken des übenden Menschen an.“181 Durch die Einübung gewaltloser Rituale werde die Chance erhöht, dass sich Gruppenidentitäten auf eine friedliche Art und Weise ausbildeten.

IV.

Gesamtauswertung zu Heiner Mühlmann

1.

Mühlmanns evolutionäre Kulturtheorie

Mühlmann entwirft in seinen Arbeiten eine spekulative Kulturtheorie, wonach menschliche Gemeinschaften sich durch Gewalt nach innen und außen generationenübergreifend stabilisieren. Diese Aussage wird von ihm evolutionstheoretisch plausibilisiert. Dazu entwickelt er eine evolutionäre Anthropologie unter Verweis auf die evolutionäre Psychologie:182 Gewalt nach außen gegen andere Gruppen und eine hierarchische Organisation der eigenen Gruppe seien evolutionär erfolgreiche Verhaltensstrategien zum Überleben gewesen. Daher hätten sich im Laufe der Evolution entsprechende kognitive Module herausgebildet, die als automatische Raster für menschliches Wahrnehmen fungierten und durch die Menschen unvermeidlich zwischen Binnen- und Außengruppen unterschieden und andere Menschen hinsichtlich ihres sozialen Rangs beurteilten.183 Mühlmann entwirft hier eine evolutionäre Anthropologie, die Grundlage seiner These vom unvermeidlichen Krieg der Kulturen gegeneinander ist. In diesem Sinne unterliegen Kulturen nach Mühlman selbst einer Evolution, d. h. sie unterlaufen Veränderungen, die nicht zufällig, sondern gerichtet sind: Weil Menschen in Kategorien von Binnengruppe vs. Außengruppen dächten, und gemeinschaftliche Identität durch Abgrenzung von Anderen gewönnen, praktizierten Kulturen notwendigerweise Gewalt, durch die sie sich von anderen Kulturen abgrenzten und sich zugleich nach innen stabilisierten und hierarchisch organisierten.184 Daher versteht Mühlmann menschliche Kulturen als „evolvierende Systeme“185 , deren 181 Ebd. 182 Für eine Einführung in die evolutionäre Psychologie vgl. exemplarisch: John Tooby / Leda Cosmides: Toward Mapping the Evolved Functional Organization of Mind and Brain, in: The New Cognitive Neurosciences, hrsg. von Michael Gazzaniga, Cambridge (MA) 2 2000, 175–195. 183 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 61: „Das Individuum […] fällt Inklusions- [und] Exklusionsurteile, ohne es eigentlich zu wollen. Es akzeptiert Ranking und möchte gern selbst seine Anerkennungwerte verbessern“ Vgl. auch Mühlmanns Rekurs auf folgenden Aufsatz von Dan Sperber / Lawrence Hirschfeld: The cognitive foundations of cultural stability and diversity, TRENDS in Cognitive Sciences 8/1 (2004), 40–46. 184 Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 96f. 185 A.a.O., 41.

155

156

Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Entwicklung nicht das Resultat bewusster menschlicher Entscheidungen, sondern das Resultat unbewusster Triebkräfte ist (vgl. auch D.II.1). 2.

Der Mensch als Produkt von Natur und Kultur

Doch versteht Mühlmann den Menschen, anders als es auf den ersten Blick scheint, nicht als festgelegt auf eine Praxis der Gewalt. Zwar verfüge der Mensch über modulare, genetisch angelegte Wahrnehmungsmuster, die dualistisches und hierarchisierendes Denken förderten, was Gewalthandlungen nach innen und nach außen wahrscheinlich mache. Andererseits sei der Mensch in seinem Erleben und Verhalten nicht determiniert, sondern präg- und bildbar: Menschen seien lehrund lernfähig, das heißt sie könnten Werte durch Lernen verinnerlichen und ihr Verhalten danach ausrichten.186 Eine solche Enkulturierung versteht Mühlmann dabei nicht lediglich als einen kognitiven Prozess, durch den abfragbares Wissen vermittelt werde. Vielmehr beinhalte Enkulturierung immer auch die Vermittlung von Emotionen, sowie die Einbeziehung des Körpers und des Körpergedächtnisses. Narrative und Rituale versteht Mühlmann mithin als erfolgreiche Weisen der Enkulturierung, weil sie gleichermaßen Fakten, Emotionen und körperliche Praktiken umfassten.187 Durch diese vielfältige Präg- und Bildbarkeit des Menschen tut sich nach Mühlmann ein Spielraum auf, menschliches Verhalten zu beeinflussen.188 Zwar neigten menschliche Gemeinschaften dazu, solche Rituale und Narrative auszubilden, die denjenigen Verhaltensweisen hohe Bedeutung zumäßen, die in ihrer evolutionären Vergangenheit überlebensdienlich gewesen seien: die hierarchische Organisation von Gruppen sowie Aggression gegenüber Außengruppen. Doch könnten Menschen durch ihre Fähigkeit zur Kultur prinzipiell auch solche Rituale entwerfen und einüben, die inhaltlich anders ausgerichtet seien: Der posthumanistische Mensch müsste zu einer Haltung finden, in der die kognitiven Instinkte der Rituale und die bewusste Kognition auf komplementäre Weise funktionieren. Er würde die archaischen Instinkte der Rituale nutzen, um auf diese Weise unbewusste Bereiche, von denen er nichts weiß, zu managen.189

Mühlmann entwickelt so eine differenzierte evolutionäre Anthropologie, die den Menschen zugleich als Natur- und als Kulturwesen begreift. Der Mensch verfüge 186 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18–20. 187 Vgl. dazu Mühlmanns Rekurs auf Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 4 2019 (vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18). Vgl. auch a.a.O., 19: „Außer dem denkenden Menschen betritt der übende Mensch die Bühne der Philosphie.“ 188 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 93. 189 Mühmann, Natur des Christentums, 100.

Gesamtauswertung zu Heiner Mühlmann

zwar über archaische Instinkte und Wahrnehmungsmuster, doch sei er nicht dazu gezwungen, diese in ein entsprechendes Verhalten zu übersetzen. 3.

Die gewaltreduzierende Funktion des Christentums

Dass gerade das Christentum, dessen Geschichte keineswegs frei von Gewalt ist, nach Mühlmann eine Minderung des Gewaltcharakters der Kulturen bewirkt, überrascht auf den ersten Blick. Doch liest man mit Mühlmann neutestamentliche Narrative entstehungsgeschichtlich vor dem Hintergrund eines Verständnisses des Römischen Reichs als Kriegskultur, wird diese These verständlicher.190 Die neutestamentliche Proklamation eines in Niedrigkeit gestorbenen Menschen als Sohn Gottes (vgl. Mk 15,38) stellt in dieser Lesart tatsächlich einen Angriff auf das römische Wertesystem dar, insofern die Gleichung, wonach Hoheit demjenigen zukommt, der kriegerische Gewalt ausübt, durch die neutestamentliche Proklamation eines Gekreuzigten als Messias für nichtig erklärt wird. Darüber hinaus bemisst sich Hoheit im Neuen Testament nach Mühlmann daran, dass man diejenigen, die in der Bewertung des Römischen Reiches die Niedrigen waren, wie Hohe behandle (vgl. Mk 10,43). Durch eine solche Forderung wiesen neutestamentliche Texte das Wertesystem des Römischen Reichs und dessen Unterscheidung von hoch und niedrig zurück. Stattdessen würden neutestamentliche Texte eine alternative Identität entwerfen, die gerade darin bestehe, dass Krieg und Gewalt abgelehnt würden und Hoheit im Dienst gegenüber den Niedrigen bestehe.191 Diese Interpretation neutestamentlicher Narrative als eine Gegenerzählung zu pagan-antiken Werten wird auch von exegetischen Arbeiten gestützt, die zeigen, dass insbesondere in den synoptischen Evangelien der Verzicht auf den eigenen Status zugunsten der Niedrigen positiv bewertet wurde: Durch das Christusgeschehen sind Rand und Mitte der „Welt“ vertauscht. Gott zeigt sich nicht mehr in der Mitte der Welt, sondern an ihrem Rand. Mit der Christusgestalt entwirft Mk einen Herrscher, der seine Autorität im Kontrast zu den Herrschern der paganen Kultur begründet und ausfüllt: Er erweist sich als Herrscher, indem er mit den alten, identitätsstiftenden Traditionen bricht und das Herkommen geringachtet und indem er in seinem Leiden als Sohn den verborgenen Gott repräsentiert [...]. Nur durch den

190 A.a.O., 72: „Die römische Kultur benutzte das ethische Evaluationssystem des Hohen und des Niedrigen. Wer Hoheit erreicht hatte, war automatisch tugendhaft. […] Die neue teleonomische Zielfigur, der Messias, betätigt sich als Heiler, indem er hoch und niedrig aufhebt.“ 191 Mühlmann verweist hier auf Mt 25,31-46, wonach der Weltenrichter den Menschen „in der Gestalt des Niedrigsten“ begegnet. Die Hilfe gegenüber diesen Niedrigen sei fortan verpflichtend, weil in den Niedrigen der Höchste begegne (vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 73).

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Verzicht auf Geltungsstreben und die Bereitschaft, den Geringgeachteten Achtung zu erweisen, sowie durch die Bestimmung des eigenen Platzes als Diener der anderen und der eigenen Aufgabe als Dienst an ihnen kann Achtung und Autorität in der Gemeinde gewonnen werden.192

Mühlmann arbeitet jedoch nicht nur die inhaltlichen Unterschiede zwischen dem Neuen Testament und dem Römischem Reich in der Bewertung dessen, was als wichtig und gut zu gelten hat, heraus. Vielmehr interpretiert er die herausgearbeiteten Inhalte mithilfe seiner Theorie der Enkulturierung, um zu zeigen, dass und warum diese Inhalte im Laufe der kulturellen Evolution erfolgreich generationenübergreifend tradiert werden konnten: Er stellt die These auf, dass Enkulturierung sowohl auf Narrative als auch auf Rituale angewiesen ist. Denn der Mensch erlerne nicht nur kognitive Inhalte, sondern auch Emotionen und wiederholte Praktiken, die sich dem Körpergedächtnis einprägten. Neutestamentliche Narrative und Rituale wurden nach Mühlmann daher genau deshalb erfolgreich generationenübergreifend tradiert, weil sie kognitive, körperliche und emotionale Dimensionen des Menschen anzusprechen vermochten und sich so dem menschlichen Gedächtnis einprägten. In diesem Sinne praktizierten Christen im Abendmahl ein Ritual, in dem zwar an ein gewalttätiges Opfer erinnert werde, dieses Opfer aber zugleich als einmalig und unwiederholbar verstanden werde.193 Das Abendmahl stifte Gemeinschaft und Identität in Form einer Mahlzeit, jedoch ohne die rituelle Tötung eines Lebewesens vorzunehmen. Wer durch das Abendmahl statt durch die Teilnahme am Schlachtopfer enkulturiert wird, so die These Mühlmanns, übt daher ein Verhalten ein, das dabei hilft, Gruppenidentitäten ohne Gewalt zu bilden.194 Meiner Ansicht nach ist Mühlmanns Interpretation des christlichen Abendmahls mithilfe seiner Theorie der Enkulturierung überzeugend. Sie macht auf einen zwar simplen, aber entscheidenden Aspekt aufmerksam: Das Abendmahl tritt in der Antike an die Stelle des Schlachtopfers und enthält im Unterschied zum Schlachtopfer keine Gewaltausübung. Eine Einübung von Gewalt bzw. eine Gewöhnung an Gewalt wird im Abendmahl daher vermieden. Gemeinschaftliche Identität wird stattdessen durch ein gemeinsam vertretenes Narrativ und die gemeinsame Praxis eines gewaltlosen Rituals gestiftet.

192 Guttenberger, Status und Statusverzicht, 324. 193 Aus der Vielzahl an neutestamentlichen Interpretationen des Todes Jesu – zum Beispiel als Folge menschlicher Gewalt (vgl. Apg 2,23) oder als stellvertretendes Sterben zugunsten anderer (vgl. Röm 5,8) – wählt Mühlmann nur die in Hebr 9 vertretene Deutung von Jesu Tod als einmaligem Sühnopfer aus. 194 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 79.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven zur christlichen Religion

Freilich lässt sich gegen Mühlmanns Interpretation des Christentums kritisch einwenden, dass er darin von einem postulierten Ideal ausgeht und die tatsächliche Geschichte des Christentums häufig eine Gewaltgeschichte war. Zudem lässt sich gegen seine Darstellung des antiken Schlachtopfers als Gewalt stimulierende, Gewalt einübende und an Gewalt gewöhnende Handlung anführen, dass diese Darstellung vereinfachend ist. Denn indem Mühlmann von ‚dem’ antiken Schlachtopfer spricht, reduziert er die Vielfalt antiker Opferrituale und presst sie in ein universalistisches Schema, was der Komplexität und Vielfalt der Rituale Unrecht tut.195 Der gleiche Einwand kann auch gegen Mühlmanns Darstellung ‚des’ Römischen Reichs erhoben werden. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven eine Fülle interessanter Blickwinkel enthalten. Insbesondere seine Verbindung der Theorie der kognitiven Module mit einer Theorie der Enkulturierung ist bedenkenswert, weil er so den Menschen im Spannungsfeld von Natur und Kultur verortet. Der Mensch ist als Produkt der Evolution mit archaischen Wahrnehmungsmustern ausgestattet. Doch ist menschliches Verhalten nicht durch solche kognitiven Module determiniert, sondern die Fähigkeit des Menschen zur Kultur beinhaltet, dass er sein Verhalten an Gelerntem ausrichten kann. Gelerntes umfasst dabei nicht nur kognitive Elemente, sondern auch körperliche Praktiken und Emotionen. Mühlmann entwirft so eine Theorie menschlicher Bildbarkeit durch Kultur bei gleichzeitiger Betonung der evolutionären Prägekräfte des Menschen.

V.

Zwischenfazit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven zur christlichen Religion bei Gerd Theißen und Heiner Mühlmann

Neben einigen markanten Unterschieden in ihrer Verwendung der Evolutionsthoerie weisen die evolutionstheoretischen Arbeiten von Mühlmann und Theißen zugleich viele Gemeinsamkeiten auf. Dies ist umso überraschender, weil beide Autoren in ihren jeweiligen evolutionstheoretischen Entwürfen nicht Bezug aufeinander nehmen. Festgestellte Gemeinsamkeiten sind ein Hinweis darauf, welche Elemente der christlichen Religion gerade durch evolutionstheoretische Perspektiven prägnant herausgearbeitet werden können. Festgestellte Unterschiede benenen hingegen den Grenzbereich dessen, was evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion leisten können.

195 Eine solche Kritik wird zwar nicht gegen Heiner Mühlmann selbst ausgesprochen, aber gegen den Religionswissenschaftler Walter Burkert, auf dessen Arbeiten zum antiken Schlachtopfer sich Mühlmann bezieht. Vgl. Bierl, Walter Burkert – ein Religionswissenschaftler, 14.19.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Zunächst ist zwischen beiden Autoren ein Unterschied in ihrer Verwendung der Evolution als übergreifender Rahmemtheorie festzustellen: Theißen argumentiert in „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“ metaphysisch, indem er Gott in die Evolution einzeichnet. Gott sei „der alte Name für das Woraufhin aller Anpassungsstrukturen und den Ursprung selektiven Drucks.“196 Die transzendente Größe Gott wird bei Theißen somit zum heimlichen Ziel der Evolution. Weil Gott zudem „unbedingt [...] [v]ariationstoleran[t]“197 sei, verlaufe die Evolution zugleich hin zu mehr Lebensmöglichkeiten und Lebenschancen für alle. Diese Entwicklung zeige sich deutlich daran, dass der Selektionsdruck in der kulturellen Evolution im Vergleich zur biologischen Evolution deutlich verringert sei. „Kultur beginnt dort, wo der Mensch durch intelligentes Verhalten Selektionsdruck vermindert, d. h. menschliches Leben auch dort ermöglicht, wo es ohne sein bewußtes Eingreifen keine Überlebenschancen hätte.“198 Theißen interpretiert den Gang der Evolution so tendenziell im Sinne einer Fortschrittsgeschichte als einer Erweiterung von Lebensmöglichkeiten für mehr Menschen. Anders als Theißen zeichnet Mühlmann keine transzendente Größe in die Evolution ein, sondern interpretiert die Evolution in einem immanenten Rahmen. Er selbst nennt seine Methode eine „materialistische Theologie“199 : Er fragt danach, wie der christliche Glaube an Gott, nicht die Größe Gott selbst, mithilfe evolutionstheoretischer Perspektiven verständlich gemacht werden kann. Ferner interpretiert er die kulturelle Evolution nicht als Fortschritt in der Selektionsminderung im Gegenüber zur biologischen Evolution. Zwar existierten Verhaltensweisen der Hilfe, doch würden diese für gewöhnlich nicht auf alle Menschen ausgeweitet, sondern lediglich auf die Mitglieder der eigenen Gruppe appliziert.200 Die Eigenart der Kultur liegt nach Mühlmann daher nicht in der Verringerung von Selektion, sondern im Gegenteil in ihrem Gewaltcharakter: „Kulturen entwickeln von sich aus Unterscheidungsdynamiken: Kulturen kämpfen oft gegen andere Kulturen.“201 Kriege sind nach Mühlmann essentiell notwendig, weil Gemeinschaften erst durch solche Stressereignisse einen gemeinsamen Wertekanon entwickeln, wodurch sie sich dauerhaft zu stabilisieren vermögen. Somit unterscheiden sich Mühlmann und Theißen in ihrer Hermeneutik menschlicher Kultur und auch in ihrem Gebrauch der Evolutionstheorie als Natur und menschliche Geschichte umfassende Rahmentheorie. Bei Theißen wird die Theorie

196 197 198 199 200 201

Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 52. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 71. A.a.O., 31. Mühlmann, Natur des Christentums, 96. Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 75. Vgl. a.a.O., 9.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven zur christlichen Religion

der Evolution zu einer Fortschrittsgeschichte angeordnet, bei Mühlmann bildet sie tendenziell eine Geschichte sich wiederholender Gewalt. Trotz dieser Differenzen im Gebrauch der Evolutionstheorie als umfassende Rahmentheorie kommen beide Autoren in ihrer evolutionstheoretischen Beschreibung der christlichen Religion zu ähnlichen Ergebnissen. Beide analysieren dazu neutestamentliche Texte und fragen nach den dort ausgedrückten Verhaltensweisen: Sie diagnostizieren, dass bestimmte neutestamentliche Texte Verhaltensweisen fordern, die konträr zu evolutionär erfolgreichen Verhaltenstendenzen des Menschen stehen: Solche evolutionär erfolgreichen Verhaltenstendenzen bestimmen beide unter Rekurs auf die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie. Inhaltlich ähnlich beschreiben sie, dass das Streben nach einem hohen Rang innerhalb der eigenen Gruppe sowie Abgrenzung und Aggression gegenüber Außengruppen evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen sind, die Menschen noch heute prägen.202 Beide nehmen zudem an, dass das Neue Testament solche Verhaltensweisen sublimiere. In einer „Umwertung der Werte“203 proklamiere es, dass derjenige, der den niedrigsten Status innerhalb einer Gemeinschaft habe, der Höchste sei. Wer selbst Hoheit erlangen wolle, müsse daher zum Diener aller werden (vgl. Mk 10,44; vgl. auch Mt 25,31-46).204 Orientiere man sich an diesem Einspruch gegen bestehende Hierarchiestrukturen werde die Entstehung von Rang in einer Gemeinschaft verunmöglicht: Denn wenn derjenige, der den anderen diene, den höchsten Rang habe, hebe sich das System des Rangs, das auf der Korrelation von Befehlen und Hoheit auf der einen Seite sowie Dienst und Niedrigkeit auf der anderen Seite beruhe, auf.205 Auch die evolutionäre Neigung zu einem Verhalten, das Hilfe und Kooperation auf Mitglieder der eigenen Gruppe oder Familie beschränkt, werde im christlichen Glauben sublimiert. Theißen verweist dazu auf die „symbolische[...] Übertragungsfähigkeit“206 des Menschen. Dieser könne ein Symbol aus der familiären Binnengruppe – wie ‚Bruder‘ oder ‚Schwester‘ – auf Fremde übertragen und so qua Sprachgeschehen Familienbeziehungen zwischen Fremden konstruieren, die dann auch ein entsprechendes Verhalten der Fürsorge und Hilfe nach sich zögen. Eine 202 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 154. Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 76. Vgl. auch Mühlman, Jesus überlistet Darwin, 85. 203 Theißen, Religion der ersten Christen, 166. Sachlich ähnlich spricht Mühlmann von einer „Inversion des decorum“ (Mühlmann, Natur des Christentums, 154), wobei er mit „decorum“ das Verhalten meint, das in einer Kultur hochgeschätzt wird (vgl. a.a.O., 67). Vgl. zum Begriff der Umwertung der Werte ursprünglich: Nietzsche, Genealogie der Moral, 777. 204 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 146. Vgl. auch Theißen, Nächstenliebe und Statusverzicht, 128. Vgl. Mühlmlann, Natur des Christentums, 75. 205 Vgl. dazu Mühlmanns Verständnis der neutestamentlichen Bewertung der antiken Rangordnung: „Fühle Ranking und wisse, dass es kein Ranking gibt!“ (Mühlmann, Natur des Christentums, 76). 206 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 180.

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Mühlmanns evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

solche symbolische Übertragung mit dem Ziel der Überschreitung traditioneller Gruppengrenzen komme im Neuen Testament vor, wenn Glaubende aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppierungen als Brüder und Schwestern beschrieben würden. Mühlmann vertritt eine der Sache nach ähnliche Position wie Theißen: Laut dem Neuen Testament seien Christen der Überzeugung, zum Reich Gottes zu gehören, das als „nicht von dieser Welt“207 verstanden werde. Das als transzendent geglaubte Reich Gottes bilde fortan die Größe, der sich Christen zurechneten. Durch eine solche Überzeugung der Jenseitigkeit der eigenen Gruppe werde die bisher orientierungs- und handlungsleitende Unterscheidung zwischen empirischen Binnen- und Außengruppen ausgesetzt und für irrelevant erklärt. Dadurch werde Gewalt gegen Außengruppen theoretisch ausgesetzt. Auch nach Mühlmann dient also eine nur sprachlich, nicht empirisch fassbare Überzeugung – eine „spirituelle Norm“208 – dazu, bisherige Unterscheidungen zwischen Binnen- und Außengruppe auszusetzen. Beide Autoren kommen zusammenfassend zu dem gleichen Ergebnis, dass neutestamentliche Texte ein Verhalten fordern, was konträr zu evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmustern steht und diese im Glauben an den gekreuzigten Messias sublimiert. In der Einschätzung des Erfolgs des Christentums, evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen zu sublimieren, unterscheiden sich beide Autoren wiederum: Theißen spricht dem Christentum eine starke kulturelle Prägekraft zu sein. Deshalb kann er auch von einem moralischen Selektionsdruck sprechen,209 der in menschlicher Kultur herrsche und der in der unbedingten Forderung bestehe, den menschliche Geschichte prägenden Verteilungskampf um Lebenschancen durch Erhöhung der Niedrigen und durch die Ausdehnung der Nächstenliebe auf Außengruppen abzumildern. Mühlmann schätzt die kulturelle Prägekraft des Christentums zurückhaltender ein und spricht nur von der Möglichkeit einer „Beeinfluss[ung]“210 des Gewaltcharakters menschlicher Kultur. Denn nach Mühlman verharrt der Mensch durch seine evolutionäre Geprägtheit grundsätzlich bei seiner Neigung zur Gewalt. Als zunächst „blind evolvierendes Lebewesen“211 könne der Mensch sein Verhalten daher immer erst „zeitversetzt“212 reflektieren und korrigieren.

207 208 209 210 211 212

Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 63. Mühlmann, Natur des Christentums, 73. Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 155. Mühlman, Natur des Christentums, 111. A.a.O., 113. A.a.O., 111.

E.

Robert Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

I.

Einordnung der evolutionstheoretischen Arbeiten Robert Bellahs in die bisherige Darstellung

Gerd Theißens und Heiner Mühlmanns Arbeiten konzentrierten sich auf die evolutionstheoretische Interpretation der christlichen Religion. Durch diese Fokussierung kann der Eindruck entstehen, dass die christliche Religion als singuläres, unvergleichbares Phänomen im Rahmen der Evolutionsgeschichte und im Rahmen der Religionsgeschichte zu verstehen ist. Doch ist dagegen zu betonen, dass die christliche Religion verwoben ist mit der Religion des antiken Israel ebenso wie mit zeitgenössischen kulturellen und religionsgeschichtlichen Entwicklungen im Allgemeinen. So kann die christliche Religion beispielsweise als ein möglicher Ausgang aus dem antiken Judentum verstanden werden.1 Daher werden nun in einem dritten Hauptteil die Arbeiten des Religionssoziologen Robert Bellah vorgestellt. Er untersucht nicht die christliche Religion, sondern die Religion des antiken Israel, aus der das Christentum religionsgeschichtlich hervorging. Ferner entwickelt er ergänzend zu Theißen und Mühlmann eine Theorie der Evolution der Religion und ordnet dadurch die Religion des antiken Israel in einen größeren evolutions- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang ein. Angefangen bei Religionen in Stammesgesellschaften im Paläolithikum untersucht Bellah die Entwicklung von Religionen in frühen Hochkulturen bis zur Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. Er stellt die These auf, dass Religionen in Israel, China, Indien und Griechenland zu dieser Zeit vergleichbare, nicht zufällige Veränderungen durchlaufen haben. Sie reagierten damit unabhängig voneinander auf ähnliche soziopolitische Situationen und artikulierten Kritik an diesen. Durch die Analyse der evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung von Religion bei Robert Bellah soll eine Engführung auf die christliche Religion unter Absehung ihrer Genese aus der Religion des antiken Israel vermieden werden. Zudem soll am Beispiel der Arbeiten Bellahs untersucht werden, was eine Theorie der Evolution der Religion leisten kann für das Verständnis der Religion des antiken Israel bzw. des aus ihm hervorgehenden Christentums.

1 Vgl. Koch, Der doppelte Ausgang, 215–242.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

II.

Biographischer Überblick

Robert Bellah wurde 1927 in Southwest Oklahoma geboren. Aufgewachsen in Los Angeles wurde er christlich erzogen und besuchte er in seiner Kindheit regelmäßig die Gottesdienste der „Presbyterian Sunday School“. Im Verlauf seines Heranwachsens wurde er nach eigenen Angaben liberaler und distanzierte sich von seiner christlichen Erziehung.2 Ende der 1940er Jahre nahm er ein Studium der Soziologie in Harvard auf. Wissenschaftlich prägten ihn in Harvard die Arbeiten seines dortigen Lehrers Talcott Parsons, sowie der Religionssoziologen Max Weber und Emile Durkheim. Auf diese Soziologen Bezug nehmend verband Bellah in seinen eigenen religionssoziologischen Arbeiten strukturfunktionale Überlegungen zu Religion mit historischen Einzeluntersuchungen dazu, welche Rolle Religionen im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Kontexten spielen oder gespielt haben.3 Einem breiteren Publikum bekannt wurde Robert Bellah in den 1960er Jahren durch seine These über die Existenz einer amerikanischen Zivilreligion. Er argumentierte dahingehend, dass es eine amerikanische Zivilreligion gebe, die für Identität und gemeinsame Werte in der heterogenen US-amerikanischen Gesellschaft sorge. Eine solche Zivilreligion stelle für die gesamte Bevölkerung ein Identitätsangebot dar jenseits der bestehenden Religionen.4 Zudem beschäftigte sich Bellah im Laufe seiner Karriere immer wieder mit dem Thema ‚Religion und Evolution‘, wobei neben einem ersten Aufsatz „Religious Evolution“ (1964) insbesondere sein spätes Werk „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age“ (2011) hervorzuheben ist. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Karriere war Bellah von 1957 bis 1967 Dozent an der Harvard Universität. Anschließend lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1997 als Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Er starb 2013 in Oakland in Kalifornien. Obwohl ursprünglich Presbyterianer gehörte er zum Zeitpunkt seines Todes einer anglikanischen Kirche an.5 Dieser Umstand ist insofern interessant, als dass die Bedeutung des Rituals, die in anglikanischen Kirchen stärker ausgeprägt ist als in reformierten Gemeinden, für Bellahs noch zu erläuterndes Religionsverständnis eine große Rolle spielt. Gesellschaftspolitisch stand Bellah dem Kommunitarismus nahe.6

2 3 4 5

Vgl. Bellah, Introduction, xiif. Vgl. Kerkloh, Bellahs Beitrag zur Religionssoziologie, 322. Vgl. Robert Bellah: The Broken Covenant: American Civil Religion in Time of Trial, Chicago 2 1992. Vgl. Margalit Fox, Robert Bellah, Sociologist of Religion, https://www.nytimes.com/2013/08/07/us/ robert-bellah-sociologist-of-religion-who-mapped-the-american-soul-dies-at-86.html (aufgerufen am 18.03.19). 6 Vgl. Vorländer, Dritter Weg und Kommunitarismus, 19.

Bellahs frühe Arbeit zur Evolution der Religion

III.

Bellahs frühe Arbeit zur Evolution der Religion

In seinem 1964 veröffentlichten Aufsatz „Religious Evolution“ wendet Bellah erstmals evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religion an. Die Evolutionstheorie dient ihm dabei in Form einer Theorie der Evolution der Religion als Raster, um Veränderungen, die unterschiedliche Religionen durchlaufen, zu vergleichen und nach bestimmten Gesichtspunkten zu strukturieren. Erstens versteht Bellah Evolution nicht nur in einem biologischen Sinn als Vorgang der Ausdifferenzierung und Veränderung der Arten durch Variation und Selektion,7 sondern er begreift Evolution allgemeiner als gerichtete Veränderung von Organismen oder Systemen im Laufe der Geschichte der Natur und im Laufe der menschlichen Geschichte. Evolution sei ein process of increasing differentiation and complexity of organization that endows the organism, social system, or whatever the unit in question may be with greater capacity to adapt to its environment, so that it is in some sense more autonomous relative to its environment than were its less complex ancestors.8

Einschränkend bemerkt Bellah jedoch zugleich, dass Evolution weder „determiniert, noch irreversibel [ist] noch zwingend einer bestimmten vorgegebenen Richtung folgen muss“9 . Zudem könne es sein, dass einfachere Formen neben komplexeren Formen fortbestehen, sodass Evolution zwar immer auch Komplexitätssteigerung beinhalte, aber nicht darauf zu reduzieren sei. Ferner beinhalte Komplexitätssteigerung nicht notwendigerweise einen ethischen oder ästhetischen Fortschritt bzw. einen Zugewinn an Wahrheit.10 Zweitens dient ihm die Evolutionstheorie als Raster, mit dessen Hilfe unterschiedliche Stadien religiöser Entwicklung und unterschiedliche Religionen beschreibbar und verstehbar würden. Es ist hierbei Bellahs Ausgangsthese, dass unterschiedliche Religionen unabhängig voneinander vergleichbare, nicht zufällige Entwicklungen durchlaufen haben und dass deshalb von einer Evolution der Religion gesprochen werden könne: „[E]volution implies comparable directional changes in a number of religious traditions.“11 Konkret nimmt Bellah an, dass Religionen sich im Laufe ihrer Evolution von ihrer ursprünglichen Funktion, bestehende soziopolitische Gegebenheiten zu legitimieren und zu stützen, zu einer autonomen und kritischen 7 Dieses klassische Verständnis von Evolution begegnet exemplarisch bei Ayala, Evolution, 29. 8 Bellah, Religious Evolution, 23. Im Folgenden werden längere direkte Zitate Bellahs immer in der Originalsprache angegeben. Bei kurzen Zitaten werden eigene deutsche Übersetzungen verwendet. 9 A.a.O., 24. Vgl. auch Bellah, Religion: Evolution and Development, Sp. 13062f. 10 Vgl. Bellah, Religious Evolution, 24f. 11 Bellah, Religion: Evolution and Development, Sp. 13062.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

Größe im Gegenüber zu bestehenden soziopolitischen Gegebenheiten entwickelt haben.12 In dieser Entwicklung der Religion hin zu einer eigenständigen Größe sieht Bellah eine gerichtete Komplexitätssteigerung und damit eine Evolution der Religion gegeben. Drittens sei eine solche Evolution der Religion immer in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu sehen.13 Religionen trügen einerseits bei zu Veränderungen von Gesellschaften, doch würden sie andererseits auch von gesellschaftlichen Veränderungen geprägt.14 Die Evolution der Religion sei so eingebettet in eine kulturelle Evolution. Denn auch Gesellschaften entwickelten sich nach miteinander vergleichbaren Prinzipien im Sinne ihrer Komplexitätssteigerung und ihrer Ausdifferenzierung: Auf kleine Stammesgesellschaften folgten Stammesfürstentümer, danach entstünden die ersten frühen Hochkulturen mit staatlichen Strukturen und Verwaltungsapparat.15 Bellah strukturiert die so angenommene Evolution der Religion bzw. die kulturelle Evolution in ein Schema, das fünf idealtypische Stadien umfasst: Auf Religionen in Stammesgesellschaften folgten „archaische Religionen“, worunter Bellah Religionen in frühen Hochkulturen versteht, gefolgt von Religionen der sogenannten Achsenzeit, an die sich frühmoderne Religionen und schließlich moderne Religionen anschlössen.16 Für diese Arbeit interessant ist jedoch nur Bellahs Beschreibung von Religionen in Stammesgesellschaften, in frühen Hochkulturen und in der Achsenzeit, da sich Bellah allein mit diesen drei von ihm angenommenen Typen von Religion ausführlicher auch in seiner 2011 veröffentlichten Monographie „Religion in Human Evolution“ befasst. Für die Religion in Stammesgesellschaften sei eine enge Entsprechung ihres Alltags mit dem, was in Mythen und Ritualen ausgedrückt und ausgehandelt werde, charakteristisch: „[A]ctual existence and the paradigmatic myths are related in the most intimate possible way.“17 Mythen und Rituale dienten der Orientierung des Verhaltens der Stammesmitglieder untereinander und der Organisation des Stammes insgesamt und seien in ihrem Charakter tendenziell auf die Bewahrung der bestehenden sozialen Ordnung ausgerichtet. Eine systematische Reflexion der eigenen religiösen Mythen, wie sie beispielsweise in achsenzeitlichen Religionen gegeben sei, liege in Religionen der Stammesgesellschaften noch nicht vor.18

12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Bellah, Religious Evolution, 39. Vgl. a.a.O., 27. Vgl.a.a.O., 29f. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 30. A.a.O., 31. Vgl. a.a.O., 31–33.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Religionen in frühen Hochkulturen seien komplexer als Religionen in Stammesgesellschaften. Es entstehe ein ausdifferenziertes, stärker systematisiertes Götterpantheon und eine Priesterklasse, die die Kulte verwalte. Aufgrund der sozialen Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaft komme es zudem zur Entstehung einer Vielzahl an Kulten für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Dabei stützten religiöse Mythen und Kulte die herrschende Schicht und sprächen ihr einen besonderen religiösen Status zu. Herrschern würde göttliche Abstammung zugesprochen und der politischen Elite würden besondere priesterliche Kompetenzen gegeben, die anderen Schichten verweigert würden.19 Religionen der ‚Achsenzeit’ unterschieden sich von den vorherigen Typen von Religion dadurch, dass sie Gott in Differenz zur Welt und weltlichen Strukturen dächten: „[T]he notion of the one God who has neither court nor relatives, who has no myth himself, and who is the sole creator and ruler of the universe, the notion of self-subsistent being“20 nennt Bellah als Charakteristikum des achsenzeitlichen Gottesglaubens. Weil Gott als von der Welt verschieden verstanden werde, werde die Welt, wie Bellah im Anschluss an Max Weber bemerkt, entzaubert.21 Mit der Entzauberung der Welt gehe zugleich Kritik an bestehenden soziopolitischen Strukturen einher, die nicht mehr länger als Ausdruck göttlicher Ordnung verstanden würden.22

IV.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Die folgende Analyse von Bellahs Interpretation von Religion aus einer evolutionstheoretischen Perspektive stellt zunächst sein Verständnis von Evolution und von Religion dar. Daran anschließend wird erläutert, wie Bellah beide Bereiche, Evolution und Religion, ins Verhältnis zueinander setzt. Nach der systematischen Rekonstruktion dieser Position wird Bellahs Theorie der Evolution der Religion abschließend an historischen Beispielen von Religion in Stammesgesellschaften, Stammesfürstentümern, frühen Hochkulturen und achsenzeitlichen Kulturen nachgezeichnet.

19 20 21 22

Vgl. a.a.O., 34. A.a.O., 37. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 39.

167

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

1.

Bellahs Verständnis von Evolution

1.1

Die Evolutionstheorie als Raster zur Beschreibung von Entwicklungen in Natur und Geschichte und als Erklärung für anthropologische Verhaltenstendenzen

Bellah verwendet den Begriff der Evolution in einem weiten Sinn als übergreifendes Raster, mit dem sich Veränderungen in der Natur (biologische Evolution) ebenso wie kulturelle Veränderungen (kulturelle Evolution) beschreiben ließen.23 Der Grund dafür, dass die Evolutionstheorie als Natur und Geschichte gleichermaßen umfassendes Paradigma verwendet werden könne, liege erstens darin, dass nicht nur in der Natur, sondern auch in menschlicher Geschichte ein Kampf ums Überleben, ein „Darwinian survival“24 , herrsche. Menschliches Leben unterliege ebenso wie tierisches Leben bestimmten Kriterien des Überlebens und insofern einem Selektionsdruck. Alles Leben sei gekennzeichnet durch „foraging, fighting, fleeing, procreating, and the other things that all creatures must do to survive.“25 Im fortwährenden Kampf ums Überleben liege daher das verbindende Element von Natur und menschlicher Geschichte.26 Zweitens kann nach Bellah auch deshalb von einer Evolution als übergreifendem Raster zur Beschreibung der Geschichte der Natur und der menschlichen Geschichte gesprochen werden, weil es im Laufe der Natur- und Kulturgeschichte zu Komplexitätssteigerung komme. Mit dieser Ansicht schließt Bellah an seine evolutionstheoretischen Überlegungen von 1964 an: Menschen erlangten im Lauf der Evolution immer mehr Fähigkeiten und damit einen Zugewinn an Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber ihren jeweiligen Umwelten. Im Anschluss an den Neurowissenschaftler Merlin Donald27 bestimmt Bellah diese Fähigkeiten als mimetische, mythische und theoretische Fähigkeiten. Drittens verwendet Bellah die Evolutionstheorie im Sinn einer evolutionären Anthropologie zur Erklärung ganz bestimmter menschlicher Verhaltenstendenzen, die der Mensch als Erbe der biologischen Evolution mitbringe.28 Dazu zählten 23 Vgl. a.a.O., 45. 24 A.a.O., xx. 25 Ebd. Hier zeigt sich eine deutliche Ähnlichkeit mit der von Theißen vertretenen Position, die menschliche Geschichte als „Verteilungskampf um Lebenschancen“ (Theißen, Jesusbewegung, 245) versteht. 26 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, xiii. 27 Vgl. Merlin Donald: Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge (MA) / London 1991. Vgl. ders.: A mind so rare. The Evolution of Human Consciousness, New York 1999. 28 Vgl. zur zweifachen Verwendung der Evolutionstheorie einmal im Sinn einer übergreifenden Rahmentheorie und ein anderes Mal bereichsspezifisch zur Beschreibung bestimmter Verhaltensweisen:

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Aggression nach außen gegenüber fremden Gruppen, aber auch Fürsorge und Empathie nach innen gegenüber den eigenen Kindern oder der eigenen Gruppe: „In-group solidarity and out-group hostility are recurrent human possibilities at every level from foragers to schoolchildren to nation-states.“29 Auch die hierarchische Organisation von Gruppen gepaart mit dem Streben nach Dominanz und Status innerhalb der Gruppe seien Verhaltensweisen, die der evolutionären Vergangenheit des Menschen entstammten. Insbesondere das Streben nach Dominanz präge menschliche Gemeinschaften bis heute und finde seinen Ausdruck in sozialer und politischer Ungleichheit. Sex and aggression in some form or other go all the way back and are surely still powerful forces in humans today. Nurturance, in the form of parental care, the earliest behavior that we can call love, goes back to early mammals more than 200 mya. Dominance hierarchy is probably as old as mammal societies.30

1.2

und komplexer Prozess

Bellah versteht Evolution ferner nicht als determinierte Entwicklung. Vielmehr argumentiert er dahingehend, dass Menschen im Laufe der Evolution immer mehr Fähigkeiten aquiriert haben, durch die sie ihre Umwelten in höherem Maße als zuvor gestalten und beeinflussen können. Die Art und Weise der menschlichen Gestaltung der Umwelten ist nach Bellah nicht genetisch festgeschrieben und somit determiniert, sondern kann durch Lernen geformt werden und kreativ erfolgen. 1.2.1

Bellahs Kritik am Adaptationismus

Zunächst wendet sich Bellah gegen ein bestimmtes Verständnis der Evolutionstheorie, das durch die axiomatischen Vorannahmen der Soziobiologie geprägt ist. Die Soziobiologie untersucht tierische, aber auch menschliche Verhaltensweisen hinsichtlich ihres Anpassungswerts, den diese Verhaltensweisen in der Evolution gehabt hätten. Anpassung wird hierbei verstanden als die Fähigkeit, in einer gegebenen Umwelt zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen.31 Die methodische

Nipkow, Möglichkeiten und Grenzen eines evolutionären Paradigmas in der Erziehungswissenschaft, 671f. 29 Bellah, Religion in Human Evolution, 94. Vgl. ähnlich auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 17; vgl. auch Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 146. 30 Bellah, Religion in Human Evolution, 83. Vgl. hier auch die Parallelen bei Theißen, Neutestamentliche Christologie, 243, und Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 30. 31 Vgl. Wuketits, Was ist Soziobiologie, 12.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

Vorannahme der Soziobiologie ist es nun, alle beobachteten Verhaltensweisen als gelungene evolutionäre Anpassungen zu betrachten. Gegen dieses Axiom, das die Evolutionsforschung als Adaptationismus bezeichnet, gibt es in der Evolutionsforschung deutliche Kritik.32 Bellah argumentiert, diese Kritik aufnehmend, dahingehend, dass in der biologischen und kulturellen Evolution auch Verhaltensweisen entstanden und bewahrt werden konnten, die ursprünglich nicht zu einer besseren Anpassung führten. Solche Verhaltensweisen seien als Nebenprodukt (by-product) anderer adaptiver Verhaltensweisen entstanden, wenngleich sie unter veränderten Bedingungen durchaus Anpassungswert erhalten konnten. Der Ansatz des Adaptationismus‘, grundsätzlich alle gezeigten Verhaltensweisen als Anpassungen zu beschreiben, werde daher der Komplexität der Evolution nicht gerecht. Am Beispiel der Religion konstatiert Bellah deshalb, dass Phänomene allein unter der Frage ihres Anpassungswerts nicht hinreichend erfasst werden können. Vielmehr sei Religion zunächst aus sich selbst heraus zu verstehen, bevor die Frage nach ihrem möglichen Anpassungswert gestellt werden könne: What all this means for religion, is that in this book the search is not to find the ways in which religion is adaptive, and thus a good thing, or maladaptive, and thus a bad thing, or even something that developed in a spandrel, a kind of empty evolutionary space, and is neutral with respect to adaptation. I want to understand what religion is and what religion does and then worry about its consequences for the world of daily life.33

1.2.2

Nischenkonstruktion und Zugewinn an Fähigkeiten als Bestandteile der Evolution

Seit den 2000er Jahren wurden in Veröffentlichungen zur Evolutionstheorie eine Reihe an Veränderungen und Ergänzungen gegenüber dem bisherigen Verständnis von Evolution vorgenommen. Diese Veränderungen wurden unter dem Begriff der „Erweiterten evolutionären Synthese“34 zusammengefasst. Bellah greift aus dieser erweiterten evolutionären Synthese das Konzept der Nischenkonstruktion auf. Laut der Theorie der Nischenkonstruktion verläuft Evolution nicht ausschließlich durch die Anpassung des Organismus an eine unveränderliche Umwelt. Vielmehr entstünden im Laufe der Evolution Lebewesen, die ihre Umwelten und damit den 32 Vgl. die Kritik am adaptationistischen Verständnis von Evolution durch den Evolutionsbiologen Stephen Gould, The Spandrels of San Marco, 584ff. Vgl. auch Bowler, Evolution, 362. Vgl. auch den Überblick bei Toepfer, Evolution, 67–70. 33 Bellah, Religion in Human Evolution, xxii. 34 Vgl. für einen Überblick zur Erweiterten Evolutionären Synthese: Jablonka, Evolution in vier Dimensionen, 11f. und Toepfer, Evolution, 21–23; vgl. auch Sumser, Evolution der Ethik, 36–58.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Selektionsdruck, dem sie oder andere Organismen ausgesetzt seien, durch ihr Verhalten mitgestalteten. Evolution sei daher als interaktiver Vorgang zwischen Lebewesen und ihren jeweiligen Umwelten zu begreifen. [T]he selective environments of organisms are not independent of those organisms but are themselves partly products of their prior or possibly current niche-constructing activities. Therefore, the properties of environments cannot be independent of the properties of organisms, and the process of natural selection cannot be wholly unaffected by the process of niche construction.35

Bellah versteht Evolution daher als multilinearen Prozess. Menschen seien einerseits als Produkte der biologischen Evolution durch bestimmte Verhaltenstendenzen geprägt. Andererseits verfügten sie aber, ebenfalls als Resultat der Evolution, über Fähigkeiten, mit denen sie ihre Umwelten (mit)gestalten könnten: „My particular interest in evolution is in the evolution of capacities, which has been a remarkable part of the story.”36 Evolution sei daher kein determinierter Prozess und auch nicht ausschließlich von externen Faktoren abhängig, sondern beruhe immer auch auf der Eigenaktivität der Lebewesen, die an der Evolution selbst mitwirkten: We are embedded in a very deep biological and cosmological history. That history does not determine us, because organisms from the very beginning, and increasingly with each new capacitiy, have influenced their own fate. But our remarkable freedom, which I am happy to affirm, is embedded in a cosmological and biological matrix that influences everything we do.37

Bellah versteht Evolution auch insofern als einen kreativen Prozess, als dass einmal entstandene Verhaltensweisen im Laufe der Evolution auf neue Kontexte übertragen werden könnten und sich durch diese Übertragung neue Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten erschlössen. Denn ein unter bestimmten Bedingungen entstandenes Verhalten sei nicht unweigerlich auf seinen Entstehungskontext festgelegt.38 Daher versteht Bellah die Geschichte der Natur und die menschliche Geschichte als ein Ineinander von begrenzenden Faktoren und Gestaltungsspielräumen. Zum Beispiel ist er der Überzeugung, dass historische Veränderungen, wie das Aufkommen

35 36 37 38

Odling-Smee, Niche Construction, 372. Bellah, Religion in Human Evolution, xiv. A.a.O., 83. Vgl. a.a.O., 72.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

von kritischer Reflexion in achsenzeitlichen Kulturen, zwar durch politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren mitverursacht sind, doch nicht im Sinne eines Determinismus zwangsläufig erfolgen müssen.39 2.

Bellahs Verständnis von Religion

2.1

Religion als sinnstiftender Lebensvollzug und als Erfahrung

In seinen religionstheoretischen Arbeiten schreibt Bellah der Religion eine gestaltende und sinnstiftende Kraft zu. In der Religion gehe es nicht in erster Linie um menschliche Subjektivität oder um dogmatische Aussagen. Vielmehr gestalte sie Lebensräume und biete Lebensvollzüge an, in denen sich Menschen bewegten und an denen sie teilnähmen: Religion is not primarily subjective, it is not objective either. It symbolizes unities in which we participate, which we know […] not by observing them but by dwelling in them.40

Auch in seinen evolutionstheoretischen Arbeiten misst Bellah dem Verständnis von Religion als Gestaltung und als ein Tun große Bedeutung bei, insofern Religion seit ihrer Entstehung durch die Praxis von Ritualen charakterisiert sei. Rituale seien wiederum konkrete Handlungen, die durch die Körper leiblich anwesender Menschen ausgeführt würden. Insofern sei Religion ihrem Ursprung nach keine rein geistige oder spirituelle Angelegenheit: Religion by and large has been deeply involved with the body; ritual is always significantly embodied, in ways we will need to consider.41

Rituale versteht Bellah im Anschluss an Emile Durkheim42 als wiederholte intentionale Handlungen, durch die Menschen ihre Beziehungen untereinander regeln. Das Ritual schaffe performativ ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den Teilnehmenden und repräsentiere Werte, die für die jeweilige Gemeinschaft wichtig seien. Insofern seien Rituale für den Zusammenhalt in größeren Gesellschaften unverzichtbar:

39 Bellah verwendet häufig die Wendung „necessary but not sufficient“, um auszudrücken, dass historische Entwicklungen zwar nicht voraussetzungslos sind, sich jedoch nicht zwangsweise aus den vorherigen Bedingungen entwickeln müssen (vgl. a.a.O., 126.196.197.282). 40 Bellah, Christianity and Symbolic Realism, 94. 41 Bellah, Religion in Human Evolution, 20. 42 Vgl. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 75. Durkheim definiert das Ritual als eine religiöse Praxis, durch deren Vollzug ein Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb einer Gruppe hergestellt wird. Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, 17.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Still, can we say that society creates the ritual, or do we have to say that the ritual creates society? Mimetic ritual would seem to be constitutive of the very society it makes possible.43

Neben der Ritualdimension enthalte Religion zweitens immer auch eine Vielzahl an Überzeugungen, die in (erzählten) Narrativen formuliert würden.44 Persönliche und soziale Identität sowie Fragen nach Sinn würden durch Narrative konstruiert. Solche Erzählungen seien nicht unbedingt ‚wahr‘ im Sinne historisch nachweisbarer Fakten, doch wirkten Narrative, ähnlich wie Rituale, performativ: Durch die Konstruktion von Narrativen werde es dem Einzelnen, wie auch der Gemeinschaft, in der sich der Einzelne bewegt, ermöglicht, Leben, Verhalten, und Beziehungen in einen als sinnvoll erlebten Kontext einzuordnen und so interpretatorisch zu bewältigen. Narrative stifteten daher Identität und gäben Verhaltensorientierung durch Sinnproduktion. The self is a telling. And inevitably a telling about others as well as the self. […] If personal identity resides in the telling, then so does social identity. Families, nations, religions (but also corporations, universities, departments of sociology) know who they are by the stories they tell.45

Schließlich hätten Religionen auch eine konzeptionelle Dimension, d. h. eine Dimension der logischen, abstrakten und systematischen Reflexion, bei der Menschen von der Eingebundenheit in rituelle und narrative Bezüge noch einmal denkend zurückzuträten und Rituale und Narrative mithilfe rationaler Überlegung auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragten. Eine solche Art des Denkens sei insbesondere in Religionen seit der Achsenzeit anzutreffen. Finally we can speak of the conceptual mode of representation, a form of abstract verbal reflection and argument that follows on and criticizes primary religious actions and representations. Conceptual reflection is present in all religions to some degree but becomes particularly significant in the axial religions, where theory, though still related to ritual and narrative, has to some degree become disembedded.46

43 44 45 46

Bellah, Religion in Human Evolution, 130. Vgl. a.a.O., 33. A.a.O., 35. A.a.O., 14. Vgl. auch a.a.O., 38–39.42.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

Nach Bellah gibt es neben diesen auf Handlung abzielenden Dimensionen jeder Religion auch die stärker passive, religiöse Erfahrung eines Sinnganzen.47 Es handle sich bei der religiösen Erfahrung um ein Ereignis, durch das die bisher wahrgenommene Wirklichkeit unter eine neue orientierende Leitperspektive gestellt werde.48 Die sinnerschließende Perspektive, die die Religion bereithalte, überschreite allerdings solche Erkenntnisse, wie sie durch empirisch arbeitende Wissenschaften und Rationalität alleine gewonnen würden. Zwar beanspruchten Religionen, Menschen eine letztgültige Orientierung zu geben. Doch könne die Wahrheit oder Agemessenheit solcher letzten Orientierungen niemals bewiesen werden – weder durch empirische Forschungen noch durch Vernunft. It is of course impossible to prove Christianity or any religion, but it is impossible to prove cognitively or scientifically any ultimate perspective on human life, including Marxism, rationalism, or any kind of scientism.49

Zugleich sei die religiöse Erfahrung eines Sinnganzen immer bereits mit rituellen, narrativen und konzeptionellen Momenten durchsetzt, sodass man das Phänomen Religion weder allein als bloße Erfahrung noch allein als Handeln verstehen dürfe. Vielmehr möchte Bellah in seinem religionstheoretischen Ansatz einen erfahrungstheoretischen mit einem handlungstheoretischen Ansatz verbinden: „Religious reality is a realm of experience, to be sure, but it is also a realm of representation. In fact, experience and representation belong inexorably together.“50 Rituelle, narrative und konzeptionelle Dimensionen von Religion verwiesen einerseits auf bereits gemachte religiöse Erfahrungen.51 Andererseits ermöglichten sie aber auch erst religiöse Erfahrungen, indem sie Erlebens- und Verstehensvoraussetzungen bereitstellten, in denen sich religiöse Erfahrung vollziehe: „[C]ultural traditions not only shape, they even call forth, emotional experiences.“52 Bellah interpretiert Religion hier schematisch und aus synchroner Perspektive als ein Ineinander von Erfahrung, Ritualen, Narrativen und theoretischem Denken. Er führt dieses Verständnis im Folgenden weiter aus, indem er nach der evolutionären Genese der so verstandenen Religion fragt. Er beschreibt Religion als im Laufe der Evolution immer komplexer werdende Größe: Entwicklungsgeschichtlich stehe die Ritualpraxis am Anfang der Religion, dann sei ergänzend die narrative Komponente hinzugetreten und schließlich, in der Achsenzeit, als finale Komponente das 47 48 49 50 51 52

Vgl. a.a.O., 1. A.a.O., 15. Bellah, Beyond belief: Between Religion and Social Science, 245. Bellah, Religion in Human Evolution, 11. Vg. a.a.O., 12. A.a.O., 12.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

theoretische Denken. Die Evolution als Komplexitätssteigerung und Zugewinn an Fähigkeiten stellt so das Raster dar, mit dessen Hilfe Bellah die Veränderungen von Religion im Laufe der Menschheitsgeschichte zu beschreiben sucht. 2.2

Die wirklichkeitsgestaltende Kraft der Religion

Bellahs Kritik an einem deterministischen Verständnis von Evolution und sein Verständnis von Evolution als kreativem Prozess, bei dem Lebewesen ihre Umwelten (mit)gestalten (Nischenkonstruktion), ist auch für sein Verständnis von Religion in einem evolutionären Rahmen strukturgebend. Religiöse Narrative und Praktiken seien nicht einfach als Anpassungen an eine unveränderliche Umwelt zu verstehen. Für religiöse Narrative und Praktiken gelte vielmehr, dass sie vorgefundene Umwelten einerseits wahrnähmen, andererseits diese vorgefundenen Umwelten ihrerseits wiederum gestalteten. Diese These ist für Bellahs evolutionstheoretische Arbeiten zu Religion grundlegend: How religion creates those other worlds and how those worlds interact with the world of daily life is the subject of this book.53

Bellah beschreibt diese „Alltagswelt“, in der sich Menschen gewöhnlich bewegten, als geprägt durch den Darwinschen Überlebenskampf um Ressourcen, Nahrung und Fortpflanzung. Nicht alle Verhaltensweisen seien dabei in gleicher Weise dazu geeignet, das Überleben zu sichern.54 Einschränkend bemerkt Bellah jedoch, dass ein solcher ‚Kampf ums Dasein’ in menschlicher Kultur nie einfach ‚natürlich‘, d. h. unabänderlich gegeben ist. Vielmehr geschehe der Darwinsche Überlebenskampf in menschlichen Kulturen in einer Weise, die immer schon durch kulturelle Praktiken und Symbole überformt sei. Auch die alltägliche Welt sei in diesem Sinne eine vom Menschen konstruierte Welt.55 Aus dieser Beobachtung leitet Bellah ab, dass der Darwinsche Überlebenskampf nicht unveränderlich vorgegeben ist. [T]he world of daily life is characterized by striving, by working, by anxiety. It is the premier world of functioning, of adapting, of surviving. It is what some biologists and some historians think is all there is. Among language-using humans, however, the world of daily life is never all there is, and the other realities that human culture gives rise to

53 A.a.O., xvii. 54 A.a.O., xv. 55 Bellah beschreibt die Alltagswelt als „culturally, symbolically constructed world“ (ebd.).

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

cannot fail but overlap with the world of daily life, whose relentless utilitarianism can never be absolute.56

Die Herausforderung zu überlegen, ist nach Bellah allen Menschen von außen durch die Natur aufgegeben. Doch begegnet diese Herausforderung immer schon in einer kulturell gestalteten und überformten Welt. Daher ist der dem Menschen jeweils begegnende Selektionsdruck nie alternativlos, sondern veränderbar. Menschen können daher Wirklichkeit so mitgestalten, dass die Frage nach der evolutionären Funktionalität – Was bringt ein bestimmtes Verhalten für das Überleben? – weniger drängend wird. Bellah nennt solche Orte und Zeiten jenseits des Strebens nach dem eigenen Überleben „entspannte Räume“57 . Zu diesen entspannten Räumen zählt er das religiöse Ritual, weil das Ritual einen Raum und eine Zeit inszeniere, die vom gewöhnlichen, an Überlebensfragen orientierten Alltag unterschieden sei. Von dieser Definition des Rituals herkommend bestimmt Bellah die Funktion und den Ort von Religion darin, gegebene evolutionäre Umwelten mitzugestalten – sowohl interpretatorisch durch Narrative als auch konkret-körperlich, indem die soziale Wirklichkeit durch Rituale mitgestaltet wird. Die Art und Weise der Interpretation und Gestaltung sei dabei durchaus unbestimmt und vielfältig. Potentiell könnten Religionen allerdings ihre Umwelten rituell wie narrativ so mitgestalten, dass der Selektionsdruck abgemildert werde. Eine solche Minderung des Selektionsdrucks sei jedoch keine absolute Neuheit im Laufe der Evolutionsgeschichte, sondern könne auf Vorläufern in der biologischen Evolution auffußen. Bereits in der nicht-menschlichen Natur gebe es Orte und Zeiten jenseits des gewöhnlichen Selektionsdrucks. Konkret stellt nach Bellah das Spiel der Säugetierkinder den ersten Raum innerhalb der Evolution dar, in dem der Selektionsdruck für kurze Zeit ausgesetzt ist. Das Spiel der Säugetierkinder sei daher die erste „alternative Wirklichkeit”58 jenseits des Darwinschen Überlebenskampfs und, insofern Religion Schöpferin alternativer Wirklichkeiten sei, der „Ursprung der Religion”59 .

56 57 58 59

Ebd. A.a.O., 77. A.a.O., 77. A.a.O., 74.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

3.

Die Anfänge der Religion im Spiel der Säugetiere

3.1

Das Spiel der Säugetierkinder als erster „entspannter Raum”60 in der Evolutionsgeschichte

Bellah interpretiert das Spiel unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten unter Rekurs auf Arbeiten des Biopsychologen Gordon M. Burghardt61 und des Molekularbiologen Robert Fagan62 als ersten Raum im Laufe der Evolution, in dem der ubiquitäre Selektionsdruck abgemildert sei. If, according to Darwin, evolution can be characerized as ‚the struggle for existence,‘ and according to Spencer as ‚the survival of the fittest,‘ then play is something different from the ‚paramount reality‘ of the world of daily life in evolutionary history, and the something different is the first alternative reality.63

Im Spiel als einem Ort und einer Zeit, die nicht vom Bemühen um das eigene Überleben gekennzeichnet seien, könnten Verhaltensweisen gezeigt werden, die sich nicht unmittelbar daran messen lassen müssten, ob sie dem eigenen Überleben zuträglich seien. Insofern eröffne das Spiel einen ersten Freiheitsraum. Play is the luxury of luxuries. No daily-life concerns allowed. You can play-fight, but if you bite too hard, the game is over. […] It is commonest in species that continue child care for a long time so that the young of the species are not directly involved in the quest for survival: they are fed and protected and have the energy for just having a good time, or so it seems to us.64

Im Gegensatz zu dem sonst üblichen Verhalten von Lebewesen, das zweckgerichtet auf die Akquirierung von Ressourcen zum Überleben ausgerichtet sei, werde das Spiel als Selbstzweck praktiziert. Es entstehe spontan und freiwillig.65 Damit es zu einem solchen Spiel komme, müssten elementare Grundbedürfnisse befriedigt sein: Lebewesen müssten satt sein und sich nicht in einer Konkurrenzsituation um knappe Ressourcen befinden. Eine solche Situation trete im Lauf der Evolution erstmals bei Säugetierkindern auf. Denn Säugetierkinder kämen recht unfertig auf

60 61 62 63 64 65

A.a.O., 77. Der englische Begriff, den Bellah hier verwendet, lautet „relaxed fields”. Vgl. Gordon M. Burghardt: The Genesis of animal Play: Testing the Limits, Cambridge (MA) 2005. Vgl. Robert Fagan: Animal Play Behavior, New York 1981. Bellah, Religion in Human Evolution, 77. A.a.O., xxi. A.a.O., 112.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

die Welt und seien für die ersten Monate auf elterliche Fürsorge angewiesen, um sie vor Fressfeinden zu schützen und sie mit Nahrung zu versorgen. Diese elterliche Fürsorge ermögliche es den Tierkindern, zu spielen, d. h. eine Handlung um ihrer selbst willen auszuüben.66 Zwar gesteht Bellah einschränkend zu, dass Verhaltensweisen, die im Spiel eingeübt würden, wie einander jagen oder miteinander ringen, nützlich sein können im späteren Überlebenskampf der erwachsenen Tiere.67 Doch betont er, dass das Spiel so zwar mittelbar, aber nicht unmittelbar evolutionär funktional ist.68 Daher versteht Bellah das Spiel als eine Art Experimentierfeld, auf dem neue Verhaltensweisen und unbekannte soziale Konstellationen ausprobiert werden. Play will give rise to novel activities not previously part of the species repertory. In other words, play is a new kind of capacity with a very large potentiality of developing more capacities.69

In diesem Sinne werde beim Spiel zwischen Tierkindern beobachtet, dass die Spielenden ganz bestimmte Verhaltensweisen zeigten, die sich außerhalb des Spiels nicht beobachten ließen. Das Aussetzen von Unterschieden an Rang, Status und an Kraft zwischen den Spielenden sei ein solches beobachtetes Verhalten. Der stärkere Spielpartner passe sein Spielverhalten an die Kraft des anderen an. Ein solches Verhalten diene dem Fortgang des Spiels und verhindere, dass das Spiel in eine bedrohliche Situation umschlage, wie am Beispiel des Spiels zwischen Affen zu beobachten sei: „From an early age, monkeys learn that the fun will not last if they are too rough with a younger playmate.”70 Ferner werde als neuartiges Verhalten im Rahmen des Spiels ein Rollentausch zwischen den Spielenden beobachtet, da jeder der Spielpartner einmal die Rolle des Stärkeren und ein anderes Mal die Rolle des Schwächeren einnehme unabhängig vom tatsächlichen Kräfteverhältnis der Tiere: „One animal chases the other; when the gap closes, the chased individual may suddenly swing around and begin chasing the chaser up trees, around bushes and rocks, and so on. One animal may be on top in a play wrestling match and then appear at the bottom.”71

66 67 68 69 70

Vgl. a.a.O., 79. Vgl. a.a.O., 80. Vgl. ebd. Ebd. Frans de Waal: Good Natured. The Origins of Right and Wrong, Cambridge (MA) 1996, 48; zitiert bei Bellah, Religion in Human Evolution, 81. 71 Gordon M. Burghardt: The Genesis for animal Play: Testing the Limits, Cambridge (MA) 2005, 89; zitiert bei Bellah, Religion in Human Evolution, 81.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

Aufgrund der hier genannten Charakteristika bewertet Bellah das Spiel als relativ egalitär. Diese Bewertung erfolgt vor dem Hintergrund, dass Tiergemeinschaften ansonsten hierarchisch organisiert sind und es eine klare Rangordnung gibt, wer den ersten Zugang zu Ressourcen hat und wer Entscheidungen für die gesamte Gruppe trifft.72 3.2

Spiel und Ritual bei Schimpansen

Das Spiel der Säugetierkinder hatte Bellah entwicklungsgeschichtlich als erste alternative Realität gegenüber dem Darwinschen Überlebenskampf bestimmt. Als eine der Spielsituation vergleichbare alternative Realität beschreibt er unter Rekurs auf Arbeiten des Verhaltensforschers Frans de Waal ein wiederkehrendes Verhalten bei Schimpansen, durch das es den Schimpansen gelinge, eine angespannte, vom Kampf um Ressourcen geprägte Situation zu entspannen und friedlich Nahrung zu teilen. De Waal beschreibt ein bestimmtes Verhalten einer Schimpansengruppe, das in mehreren Experimenten immer wieder beobachtet worden sei.73 Wenn eine Gruppe Schimpansen einen Tierpfleger sieht, der sich dem Gehege mit Nahrung für die Tiere nähert, umarmen und küssen die Schimpansen einander und zeigen zugleich Signale der Statusaffirmation gegenüber den ranghöheren Schimpansen.74 Nachdem der Tierpfleger das Essen im Gehege deponiert hat, verlaufen die Verteilung und der Verzehr der Nahrung ohne Spannungen und Aggressionen. Die Nahrung wird innerhalb der Gruppe zu fast gleichen Teilen sowohl an dominante als auch an rangniedrigere Gruppenmitglieder weitergegeben.75 „Co-feeding“, das Teilen von Essen zwischen Schimpansen, die dicht nebeneinandersitzen, wird ebenso praktiziert wie ein Verhalten, das De Waal „relaxed claim“76 nennt. Dabei nimmt ein Mitglied der Gruppe einem anderen Gruppenmitglied einen Teil seiner Nahrung weg, ohne dass dieses sich wehrt oder es zu einer Auseinandersetzung kommt. Als Grund für das friedliche Teilen der Nahrung statt des üblichen Konkurrenzkampfs nennt De Waal das Verhalten der Schimpansen kurz vor der Nahrungsaufnahme – das Küssen, das Umarmen und die gegenseitigen Statusbezeugungen.77 Er vermutet, dass diese Handlungen dazu dienen, soziale Spannungen innerhalb

72 73 74 75 76 77

Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 81. De Waal, Appeasement, Celebration, and Food Sharing, 40. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 47. A.a.O., 44f. Vgl. a.a.O., 40. Vgl. auch Palagi, Short-Term Benefits of Play Behavior, 1266.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

der Schimpansengruppe zu reduzieren. Durch die Umarmungen und Küsse werde Nähe und Vertrautheit zwischen den Schimpansen hergestellt. Zudem werde durch die Statusbezeugungen sichergestellt, dass die bestehende Gruppenhierarchie nicht grundsätzlich infrage gestellt werde, sodass diese Gruppenhierarchie paradoxerweise beim nachfolgenden Essen für kurze Zeit ausgesetzt werden könne. Celebrations [kisses and embraces before food sharing] may allow the chimpanzees to enter a relatively noncompetitive mode of interaction in which the hierarchy is temporarily „suspended“ so that egalitarian food sharing becomes possible.78

Gerade weil gemeinsame Nahrungsaufnahme in Schimpansengruppen in der Regel mit Spannungen und Aggression verbunden ist, geht De Waal in seiner Interpretation des hier beobachteten Verhaltens davon aus, dass die Schimpansen in Vorbereitung auf die kommende Mahlzeit bewusst die oben beschriebene ‚Feier’ vollziehen mit dem Ziel, Spannungen, Aggression und Gewalt in der Gruppe abzubauen.79 Bellah greift diese Beobachtung von De Waal auf und interpretiert sie vor dem Hintergrund der bisher gemachten Beobachtungen zum Spiel der Säugetiere. Er beschreibt das beobachtete Verhalten der Schimpansen als „deliberately devised form of serious play“80 . Es gehe insofern über das Spiel der Säugetierkinder hinaus, als dass durch das Verhalten der Schimpansen beabsichtigt eine vom Selektionsdruck befreite Situation überhaupt erst hergestellt werde, während das Spiel bereits eine entspannte Situation vorfinde. Weil die ‚Feier’ der Schimpansen ein in vergleichbaren Kontexten wiederholt gezeigtes, intentionales Verhalten sei, beschreibt Bellah dieses Verhalten als „anfängliches Ritual“81 . 3.3

Die Genese des Rituals aus dem Spiel

Im Anschluss an seine Interpretation des oben beschriebenen Verhaltens der Schimpansen als „anfängliches Ritual“82 plädiert Bellah für eine evolutionäre Kontinuität zwischen dem Spiel der Säugetiere, der ‚Feier’ der Schimpansen und der menschlichen Ritualpraxis. Bellah vertritt hierbei einen weiten Begriff von Ritual: Beim Ritual handle es sich um „practice […], not theor[y][…], ways of living more

78 De Waal, Appeasement, Celebration, and Food Sharing, 40. 79 A.a.O., 47: „Both species [Schimpansen und Bonobos] appear to cope actively with competitive tendencies and disrupted relationships through mechanisms of tension reduction and reconciliation.” 80 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 93. Vgl. auch Palagi, Short-Term Benefits of Play Behavior, 1266. 81 Bellah, Religion in Human Evolution, 93. 82 Ebd.

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than ways of knowing“83 . Rituale seien in bestimmten Kontexten wiederkehrende, gemeinschaftlich praktizierte Verhaltensweisen, durch die Menschen ihre Beziehungen untereinander regelten. [R]itual is the promordial form of serious play in human evolutionary history – ritual because it is a defined practice that conforms to the terms described in the previous paragraph [that is: play], rather than religion, which is something that grows out of the implications of ritual in a variety of ways that never leave ritual entirely behind.84

Das Ritual geschehe, darin dem Spiel der Säugetiere vergleichbar, in einem geschützten Raum, der dem unmittelbaren Selektionsdruck enthoben sei.85 Allerdings stelle das Ritual im Unterschied zum Spiel der Tiere eine entspannte Situation überhaupt erst her, etwa indem Ressourcen im Rahmen des Rituals bewusst gemeinschaftlich geteilt würden. Das Ritual setze daher die Fähigkeit voraus, Handlungen bewusst zu planen und durchzuführen und verlange insofern Intentionalität.86 Bei Bellah hat das Ritual im Rahmen seiner Theorie der Evolution daher eine Art Scharnierfunktion, das die Geschichte der Natur mit der menschlichen Geschichte verbindet: Sowohl Schimpansen (vgl. E.IV.3.2) als auch der Mensch könnten Verhaltensweisen so einsetzen, dass Situationen inszeniert würden. Insofern zeigten Schimpansen Verhaltensweisen, die sich als Vorformen der menschlichen Ritualtätigkeit interpretieren ließen. Das Ritual versteht Bellah aus evolutionstheoretischer Perspektive schließlich als Komplexitätssteigerung gegenüber dem gewöhnlichen tierischen Verhalten, bei dem primär auf vorgegebene Situationen reagiert werde. 83 84 85 86

A.a.O., 112. Ebd. Vgl. a.a.O., 114. Obwohl Bellah das Ritual im obigen Beispiel als Freiheitsraum jenseits des Selektionsdrucks bewertet, äußert er sich an anderer Stelle jedoch auch ganz anders über das Ritual. Er weist am Beispiel der mittelvedischen Religion in Indien darauf hin, dass die Durchführung von Ritualen als notwendige Handlung verstanden wurde, um die Ordnung des Kosmos aufrechtzuerhalten oder die Götter gnädig zu stimmen (vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 520). Das Ritual stellt dann aber gerade keinen Freiheitsraum dar, sondern ist eine elementare Überlebensnotwendigkeit. Ferner macht Bellah an anderer Stelle darauf aufmerksam, dass insbesondere konstenintensive, komplexe Rituale dazu dienen können, die Macht und den Status der Person, der das Ritual finanzierte, darzustellen. Rituale würden so zu Ausdrucksformen des Reichtums und des Status‘ einer Person oder einer gesellschaftlichen Gruppe und stützten die jeweilige gesellschaftliche Ordnung und Machtverteilung. In diesem Sinne äußert sich Bellah zum Ritual am Beispiel des Stammesfürstentums Hawai: „It was in the great rituals, which themselves required the mobilization of extensive resources, that the paramount chief ’s sanctity and power were most publicly expressed“ (a.a.O., 199). Von diesem Beispiel ausgehend scheint Bellahs oben geäußerte These, wonach das Ritual grundsätzlich einen entspannten Raum darstellt, verkürzt. Bellah setzt diese beiden unterschiedlichen Ritualdefinitionen jedoch nicht in ein Verhältnis zueinander.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

4.

Die episodische, die mimetische und die mythische Kultur als Komplexitätssteigerung

Unter Bezugnahme auf Arbeiten des kanadischen Neurowissenschaftlers Merlin Donald entfaltet Bellah sein Verständnis der Evolution als Komplexitätssteigerung bzw. als Zunahme an Fähigkeiten. Einige Fähigkeiten des Menschen habe dieser mit Tieren gemein, einige entwickle der Mensch im Unterschied zu Tieren. Mit jeder neuen Fähigkeit nähmen zugleich die Möglichkeiten zu, wie sich Menschen kreativ-gestalterisch zu gegebenen Umwelten verhalten könnten. 4.1

Die episodische Kultur

Unter der episodischen Kultur versteht Donald eine Fähigkeit, über die bereits Tiere verfügen: Tiere könnten einzelne Situationen im Moment ihres Auftretens verstehen, analysieren und dementsprechend ihr Verhalten an die Erfordernisse der jeweiligen Situation anpassen. So könne beispielsweise ein Affe, wenn er einem höherrangigen Affen begegne, entscheiden, wie er sich zu verhalten habe: weglaufen, angreifen oder sich ruhig verhalten. Dabei nehme der Affe eine Einschätzung seiner gegenwärtigen Situation unter Zuhilfenahme von Erinnerungen an vergleichbare Situationen vor.87 Doch wenn er sich nicht gerade in vergleichbaren Situationen befinde, könne er sich an die einmal erlebte Situation nicht erinnern. Abstrakteres Denken trete beim Affen somit nicht auf. Sein Erleben und Verhalten bleibe gebunden an die je konkret begegnende Situation. Their (the animals’) lives are lived entirely in the present, as a series of concrete episodes, and the highest element in their system of memory representation seems to be at the level of event representation […] Animals excel at situational analysis and recall but cannot re-present a situation to reflect on it, either individually or collectively. This is a serious memory limitation; there is no equivalent of semantic structure in animal memory, despite the presence of a great deal of situational knowledge.88

Was den Menschen von den meisten Tieren unterscheidet, ist nach Donald also nicht in erster Linie die Sprache, sondern allgemeiner die Fähigkeit, etwas darzustellen oder auszudrücken, was die unmittelbaren Anforderungen oder Vorgaben einer konkreten Situation transzendiert.

87 Vgl. Donald, A mind so rare, 201. 88 Donald, Origins of the Modern Mind, 149.

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4.2

Die mimetische Kultur

Spätestens vor 2 Millionen Jahren seit dem Aufkommen des homo erectus, möglicherweise aber schon bei Schimpansen, könne von der Fähigkeit zur mimetischen Kultur gesprochen werden: Diese bezeichne „the ability to produce conscious, self-initiated, representational acts that are intentional but not linguistic.“89 Ferner bezeichnet Donald den mimetischen Akt auch als „invention of intentional representation.“90 Mimetisch sind nach Donald daher genau solche Handlungen, die absichtsvoll von den Akteuren selbst veranlasst sind und die im Unterschied zur episodischen Kultur nicht bloß auf gegebene Situationen reagieren, sondern Situationen und Beziehungen inszenieren. Mimetische Handlungen bezögen sich also stärker gestaltend und kreativ, als es bis dato möglich war, auf vorgegebene Situationen.91 Bellah greift dieses Verständnis der mimetischen Kultur bei Donald zustimmend auf. Zugleich ordnet er die mimetische Kultur in sein evolutionäres Paradigma der Komplexitätssteigerung ein. Mit der neuen Fähigkeit der Mimesis träten Menschen in ein freieres Verhältnis zu ihrer Umwelt, insofern sie kreativer und gestaltender als in der episodischen Kultur auf ihre Umwelten Bezug nähmen. Im engen Anschluss an Donald formuliert Bellah in diesem Sinne: Mime […] is the imaginative enactment of an event. […] However limited, it allows an escape from the present, a degree of freedom from immediacy.92

Bellah versteht mimetische Handlungen daher als einen Zugewinn an Distanz zur Umwelt in dem Sinne, dass in der mimetischen Kultur Körper oder Gegenstände dazu dienen könnten, Gefühle und Handlungen darzustellen, die nicht ausschließlich von der umgebenden Umwelt provoziert würden, sondern sich stärker schöpferisch und gestaltend auf die gegebene Umwelt bezögen. In diesem Sinn beschreibt Bellah mimetische Handlungen auch als „event about an event“93 . Die mimetische Kultur impliziere mithin eine breitere Palette an Verhaltensmöglichkeiten gegenüber der gegebenen Situation, als es die episodische Kultur täte. Als Beispiele für mimetische Handlungen nennt Bellah das Ritual, aber auch Tanz und Spiel.94 Er sieht den evolutionären Fitnessvorteil von Gemeinschaften, die über mimetische Fähigkeiten verfügen, darin, dass diese sich besser organisieren, miteinander koordinieren 89 90 91 92 93 94

A.a.O., 168. Ebd. Vgl. a.a.O., 168f. Bellah, Religion in Human Evolution, 125. A.a.O., 128. Vgl. a.a.O., 129.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

und kommunizieren können.95 Insbesondere größere Gemeinschaften, in denen die direkte Kommunikation aller Mitglieder untereinander aufgrund der Gruppengröße unmöglich werde,96 könnten durch gemeinsam vollzogene Rituale ein Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl herstellen. 4.3

Die mythische Kultur

Mit dem Aufkommen des homo sapiens vor 200.000 Jahren entstand eine Primatenart, die über Sprache verfügte. Mit der Fähigkeit zur Sprache war die Voraussetzung für das gegeben, was Donald und – in seinem Gefolge – Bellah als mythische Kultur bezeichnen. Entstehungsgeschichtlich diente Sprache nach Donald zunächst dazu, gegebene Objekte zu bezeichnen, d. h. Sprache hatte Verweischarakter: „[W]e can say that language begins by simply putting labels on specific aspects of an episodic perception.“97 Doch übersteige Sprache, sobald sie einmal entstanden war, diese Funktion des unmittelbaren Verweisens. Weil sprachliche Zeichen nicht an gegebene Objekte gebunden seien, erlaube Sprache einen höheren Grad an Abstraktheit in der Kommunikation. So könne Sprache auf etwas verweisen, was nicht unmittelbar gegeben sei, und so die jeweilige Situation transzendieren. Konkret gelinge es durch die Sprache, Geschichten zu erzählen, die einzelne Erlebnisse oder Sachverhalte ordneten. Words and grammars are merely the entry-level skills without which narrative traditions could not exist, but once they are acquired, they are secondary to the stories themselves. The cognitive impact of langauge can be measured primarily through evaluating the cognitive value of narrative skill, rather than vocabulary size or grammatical elegance.98

Narrative bewährten sich im Lauf der Evolution, weil sie sinnstiftend wirkten und vielfältige Ereignisse, aber auch die sozialen Beziehungen von Menschen, in einen als sinnvoll verstandenen Kontext setzen konnten. Ferner konnte das Verhalten des Einzelnen und der Gruppe, in der sich der Einzelne bewegte, durch Narrative orientiert werden. The social consequences of mythic integration were evident at the cultural level: narratives gave events contextual meaning for individuals. In Paleolithic cultures and in aboriginal

95 96 97 98

Vgl. a.a.O., 122. Vgl. a.a.O., 130. Donald, A Mind so rare, 282. A.a.O., 296. Vgl. auch Deacon, Der Begriff des Symbols, 233.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

cultures in general, the entire scenario of human life gains its perceived importance from myth; decisions are influenced by myth; and the place of every object, animal, plant, and social custom is set in myth. Myth governs the collective mind.99

Bellah greift diese Theorie von Donald zustimmend auf. Sprache diene, einmal entstanden, primär dazu, Mythen zu erzählen. Solche Mythen, oder der von Bellah synonym verwendete Begriff der „Narrative“100 , seien sinnstiftende Erzählungen, durch die das Leben des Einzelnen und der Gruppe in einen als sinnvoll erlebten Gesamtzusammenhang eingeordnet werde. Narrative beschrieben eine Ordnung der Welt, von der her der Einzelne ebenso wie die Gruppe ihren Platz in der Welt und ihr Verhalten ableiten könnten.101 In größeren Menschengruppen, in denen die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht unter allen Gruppenmitgliedern nicht mehr möglich war, dienten gemeinsam geteilte Narrative laut Bellah seit den frühesten Stammesgesellschaften der gemeinsamen Verständigung über Verhaltensweisen, Handlungen und über Gegenstände, die sinnstiftend interpretiert wurden. Darin lag der evolutionäre Fitnessvorteilvon Gruppen mit narrativen Fähigkeiten gegenüber Gruppen ohne diese Fähigkeiten. 5.

Die Funktion von Ritualen und Narrativen am Beispiel der Stammesgesellschaft der Kalapalo

Nach Bellah prägen mimetische und mythische Praktiken jede menschliche Gemeinschaft angefangen bei den entstehungsgeschichtlich ursprünglichsten Stammesgesellschaften bis hin zu modernen Gesellschaften.102 Bellahs bisherige Überlegungen zur mimetischen und mythischen Kultur waren jedoch recht abstrakt gehalten. Im Folgenden konkretisiert er sie daher am Beispiel früher Stammesgesellschaften, Stammesfürstentümer und früher Hochkulturen. Am Beispiel der Kalapalo, einer Stammesgesellschaft in Zentralbrasilien, untersucht Bellah die Rolle von Ritual und Mythos als ersten und ursprünglichsten Grundbausteinen der Religion. Die Kalapalo sind ein Stamm aus etwa 150 Mitgliedern. Ihre Lebensgrundlage erhalten sie laut Bellah durch Landwirtschaft, Fischen und das Sammeln wilder Pflanzen. Die Kalapalo lebten in einzelnen Haushalten,

99 Donald, Origins of the Modern Mind, 268. 100 Bellah, Religion in Human Evolution, 342: „[W]e have largely identified the mythic with the narrative: myths are stories“. 101 Vgl. ebd. 102 Vgl. hier die inhaltliche Gemeinsamkeit zu Mühlmann, der Rituale und Narrative ebenfalls als grundlegende Ausdrucks- und Gestaltungsformen menschlicher Gemeinschaften versteht (vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 50).

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die durch Verwandtschaftsbeziehungen konstituiert würden. Dieser Alltag der Kalapalo werde einmal im Jahr im Rahmen eines großen Fests unterbrochen, wenn die Unterteilung der Stammesgesellschaft in Haushalte und Verwandtschaftslinien durch eine „alternative Struktur“103 ersetzt werde. Diese alternative Struktur werde durch Tanz und Musik zeitlich vom gewöhnlichen Alltag unterschieden.104 Im Rahmen der Festlichkeiten werde zudem darauf geachtet, dass gerade diejenigen Stammesmitglieder, die nicht miteinander verwandt seien und nicht in Haushalten zusammenlebten, gemeinsam tanzten, miteinander musizierten und gemeinsam aßen.105 Dadurch bewirkten solche gemeinsamen Aktivitäten einen familienübergreifenden Zusammenhalt. The sheer act of participating in serious rituals entails a commitment with respect to future action, at the very least solidarity with one’s fellow communicants.106

Die gemeinsame Feier schaffe ein Verständnis von der grundsätzlichen Gleichheit aller Kalapalo und solidarisiere die Stammesmitglieder untereinander. So ermögliche sie den Kalapalo, sich nicht nur in den sonst üblichen Verwandtschaftsbeziehungen zu verstehen, sondern sich als Kollektiv zu begreifen.107 Ein solches Ritual habe zudem Rückwirkungen auf Aktivitäten jenseits des Festkontexts. Bellah beschreibt, dass der jährlichen Feier eine wochenlange Vorbereitung vorausgeht, bei der Essen vorbereitet und Tänze und Musik eingeübt würden. Diese Vorbereitung ermögliche, dass die eigentliche Feier in einer Art entspanntem Raum ausgetragen werde, in dem die Sorge um das unmittelbare Überleben aufgrund des zuvor erarbeiteten Überflusses ausgesetzt sei. Hier sieht Bellah eine evolutionäre Kontinuität zum Spiel der Säugetiere, das ebenfalls in einem entspannten Raum stattfinde (vgl. unter E.IV3.1 in dieser Arbeit). Das Mitbringen von Speisen sei zwar für alle Kalapalo verpflichtend, doch erhielten während der Feier alle Kalapalo Speisen unabhängig von der Menge ihres eigenen Beitrags.108 Nicht nur das Selbstverständnis der Kalapalo, sondern auch wirtschaftliche Aktivitäten würden so für die Dauer des Festes neu strukturiert in einer Weise, die das Gemeinschaftsgefühl, gegenseitige Solidarität und Hilfe ermöglichte und stärkte.109 Schließlich beobachtet Bellah eine enge Entsprechung zwischen den Ritualen und den Mythen der Kalapalo als einem „account of the way things are, a reference frame

103 104 105 106 107 108 109

Bellah, Religion in Human Evolution, 141. Vgl. a.a.O., 139. Vgl. a.a.O., 141. A.a.O., 145. Vgl. a.a.O., 142. A.a.O., 141. Vgl. a.a.O.,141.

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for understanding the world“110 . Der Mythos der Kalapalo erzähle von mächtigen Wesen, die eng mit dem Leben der Kalapalo verbunden gedacht würden: Nach ihrem Tod, so der Mythos, würden die Kalapalo ebenfalls zu diesen mächtigen Wesen werden.111 Ferner ermögliche die Praxis von Ritualen laut dem Mythos bereits jetzt die Kommunikation mit diesen mächtigen Wesen. Auf diese Weise begründe und stütze der Mythos die Praxis des Rituals: [J]ust as in myth powerful beings participate in human speech, so in ritual humans participate in itseke (powerful being) musicality and thereby temporarily achieve some of their transformative power.112

Für die Mythen der Kalapalo gelte schließlich, dass sie kein begrifflich ausgearbeitetes oder systematisches Gesamtkonzept darstellten. Vielmehr verfolgten sie den pragmatischen Zweck, Orientierung bei konkreten Fragen im Alltag zu geben. Ein Interesse an der Entwicklung einer begrifflichen Ausarbeitung der in den Mythen enthaltenen Inhalte bestehe nicht. Obwohl Religionen in Stammesgesellschaften zwar ähnlich wie die späteren achsenzeitlichen Religionen auf die Entstehung von Solidarität und Gleichheit hinwirkten, unterscheide dieses Fehlen an Reflexion die Religionen der Stammesgesellschaften von den späteren achsenzeitlichen Religionen: There are stories and there are examples of how to act and not to act, but they vary from group to group and their level of abstraction is minimal.113

6.

Die Funktion von Ritualen und Narrativen am Beispiel des Stammesfürstentums Hawaii

Die Insel Hawaii vor ihrer Entdeckung und Kolonialisierung wählt Bellah als Beispiel für ein Stammesfürstentum am Übergang von Stammesgesellschaften zu frühen Hochkulturen. Laut Bellah wuchs in Hawaii mit der Sesshaftwerdung und der Erfindung der Landwirtschaft vor 10.000 Jahren die Bevölkerung deutlich, denn durch Landwirtschaft konnten mehr Menschen ernährt werden als durch Jagd und Viehzucht.114 In dem Moment, wo der Besitz von Land zum entschei110 A.a.O., 142. 111 Vgl. a.a.O., 142. 112 Ellen B. Basso: A Musical View of the Universe: Kalapalo Myth and Ritual Performances, Philadelphia 1985; zitiert bei Bellah, Religion in Human Evolution, 141. 113 Bellah, Religion in Human Evolution, 158. 114 Vgl. a.a.O., 194.

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denden Faktor für Überleben und Gedeihen wurde, entwickelte sich der Krieg um Landbesitz zu einem zentralen Prinzip sesshafter Kulturen im Unterschied zu Jägerund Sammlergesellschaften. War does seem to be correlated with economic intensification and to emerge in relatively recent prehistoric times. Much depends on what we mean by war; homicide, revenge, even occasional raiding are not rare among hunter-gatherers. But organized warfare oriented to territorial conquest does seem to appear only where rich economic resources are locally concentrated and other options are less appealing.115

Organisierte Kriegsführung verlangte wiederum einen militärischen Anführer und so entstanden die ersten Stammesfürstentümer (chiefdoms) mit einem Stammesfürsten an der Spitze, der politische und militärische Entscheidungen traf. Im Vergleich zur relativ egalitären Organisation von kleinen Stammesgesellschaften116 regierte ein solcher Stammesfürst laut Bellah despotisch. Dies hatte nach Bellah durchaus einen funktionalen Grund: Die Bevölkerung war so groß, dass politische und gesellschaftliche Entscheidungen nicht mehr durch die unmittelbare Kommunikation aller Gruppenmitglieder untereinander ausgehandelt werden konnten. Stattdessen sei es zur Entstehung der Herrschaft eines Einzelnen bzw. einer kleinen Minderheit gekommen, die alleine Entscheidungen trafen. Die Gesellschaft im Stammesfürstentum Hawaii war nach Bellah seit der Entstehung der Landwirtschaft und dem Anwachsen der Bevölkerung in unterschiedliche Klassen aufgeteilt: Einer kleinen Elite um den Stammesfürsten standen die Nichtadeligen gegenüber. Der Stammesfürst konnte die Bevölkerung zu Zwangsarbeit wie zum Beispiel zum Bau öffentlicher Gebäude und Anlagen verpflichten und zum Militärdienst einziehen.117 Der Herrscher wurde in religiöser Perspektive ferner als Mittler zwischen Gott und den Menschen verstanden, teilweise auch als Gott selbst bezeichnet.118 Demgegenüber seien die übrigen Menschen als radikal verschieden von den Göttern verstanden worden. Ihre angenommene Distanz zu den Göttern sei dadurch ausgedrückt worden, dass ihnen die Teilnahme am luakini-Tempelritual verwehrt blieb, das allein dem Herrscher als Hohepriester und den ihm unterstellten Priestern vorbehalten war.119 Das im luakini-Ritual durchgeführte Menschenopfer demonstrierte zugleich die Macht des Herrschers über Leben und Tod und war 115 A.a.O., 195. Vgl. auch a.a.O., 156. 116 Vgl. dazu Boehm, Egalitarian Behvior and Reverse Dominance Hierarchy, 228 (vgl. auch der Verweis auf Christopher Boehm bei Bellah, Religion in Human Evolution, 193). 117 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 199. 118 Vgl. a.a.O., 199.202. 119 Vgl. a.a.O., 201.

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Ausdruck seines überlegenen Status gegenüber den gewöhnlichen Menschen.120 Der Herrscher wurde in dieser Funktion als Herr über Leben und Tod mit dem Kriegsgott Ku identifiziert. Denn das religiöse Narrativ des Kriegsgotts Ku beschrieb Ku als Gott, der willkürlich Leben nehmen und geben konnte. Königliche Machtbefugnisse wurden so durch ein religiöses Narrativ gestützt. Die Assoziation des Kriegsgotts Ku mit dem Stammesfürsten versteht Bellah daher als „reflection of practical political reality“121 . Doch würden dem Stammesfürsten auch friedliche Attribute beigesellt, die ebenfalls mit religiösen Narrativen verbunden würden: Neben dem Kriegsgott Ku würde auch der Gott Lono verehrt, der Landwirtschaft, Fruchtbarkeit, Geburt und Medizin symbolisierte sowie allgemein als Beschützer der Menschen verstanden würde. Der Gott Lono würde mithin als „nährender Gott“122 begriffen. In Aufgriff dieses Mythos‘ des Gottes Lono würde auch der Stammesfürst mit Attributen der Fürsorge versehen und als „Vater“ oder „Mutter“ bezeichnet.123 Zudem begründete das Narrativ des Gottes Lono auch ein Ritual zu Ehren dieses Gottes, das Makahiki-Fest, das ebenfalls nährende Aspekte beinhaltete und in dessen Rahmen sexuelle und soziale Taboos für vier Monate aufgehoben wurden. Bellah spricht daher von einem „Carnival-like status reversal, or, if not reversal, status leveling”124 im Rahmen des Makahiki-Fests. Religiöse Rituale konnten nach Bellah in größer werdenden Gesellschaften zusammenfassend dazu dienen, Personengruppen voneinander abzugrenzen und die Konzentration politischer Macht in den Händen einer kleinen Elite zu stützen. Auch Mythen konnten dazu dienen, die Herrschaft des Stammesfürsten zu legitimieren und die gewalttätigen Aspekte der Herrschaft (Zwangsarbeit, steuerliche Abgaben, Kriegsdienst, Entzug von Landbesitz, Ächtung bestimmter Personen) religiös zu stützen. Trotz dieser gewalttätigen und gewaltstützenden Dimensionen sind religiöse Rituale und Narrative nach Bellah in Stammesfürstentümern insgesamt ein ambivalentes und mehrdeutiges Phänomen. Rituale und Mythen könnten sowohl dazu dienen, auf Dominanz und Gewalt abzielende Strukturen zu schaffen, als auch dazu dienen, egalitärere Strukturen zu begründen und einzuüben.

120 121 122 123 124

Vgl. a.a.O., 266. A.a.O., 203. A.a.O., 200. Vgl. a.a.O., 202. A.a.O., 200.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

7.

Das Verhältnis von Religion und Herrschaft in frühen Hochkulturen am Beispiel von Mesopotamien

Laut Bellah entstanden mit zunehmendem Wachstum der Bevölkerung auf der ganzen Welt Hochkulturen mit staatlichen Strukturen und einem ausgebauten Verwaltungsapparat zum Beispiel in China, Mesopotamien und dem Alten Ägypten. Diese Kulturen erlebten alle ähnliche soziopolitische und religiöse Entwicklungen. Als Beispiel für diese Entwicklungen wird hier Bellahs Beschreibung Mesopotamiens vorgestellt. Mesopotamien erlebte ab 4000 v. Chr. einen enormen Bevölkerungsanstieg. Um 2.500 v. Chr. lebten in der Stadt Uruk ungefähr 50.000 Menschen, etwa so viele wie später in Rom zur Blütezeit des Römischen Reichs. Politische Macht konzentrierte sich in den Händen der Eliten. Mit dem Beginn des assyrischen Königtums (2350 v. Chr.) trugen die assyrischen Herrscher die Bezeichnung ‚Gott’ in ihrem Namen, was darauf hinwies, dass sie im Unterschied zur übrigen Bevölkerung göttliche Abstammung für sich beanspruchten. Die verstorbenen Könige wurden entsprechend als Göttersöhne verehrt und ihnen wurde im Tempel geopfert.125 Bellah beobachtet in Mesopotamien nun eine Korrespondenz zwischen der Beschreibung der Rolle der Götter in Mythen und der Beschreibung der Rolle der Könige als Repräsentanten der Götter. Das in Mythen enthaltende Verständnis der Götter als ambivalente Akteure – sowohl Wohltäter als auch Aggressoren gegenüber den Menschen – korrespondierte mit dem Verständnis der assyrischen Könige als Fürsoger auf der einen Seite, aber auch als grausam und willkürlich gegenüber ihren Untertanen auf der anderen Seite. Die Ambivalenz der Götter werde beispielhaft im Mythos Atraasis ausgedrückt. Der Gott Enlil schickt darin den Menschen Plagen, Trockenheit und Flut und es ist allein dem besonnenen Gott Enki, der schützend eingreift, zu verdanken, dass die Menschheit nicht ausgelöscht wird. Dem hier artikulierten Verständnis des Gottes Enlil als grausamer, selbstbezogener und gewalttätiger Gott entsprachen alltägliche Erfahrungen der Menschen – zum Beispiel die Bedrohung der eigenen Existenz durch Naturkatastrophen und Ernteausfälle. Andererseits repräsentierte der Gott Enki im Mythos Atraasis auch Momente der Fürsorge und der Bewahrung, die ebenfalls menschliche Lebenserfahrungen widerspiegelten.126 Die Könige wurden laut Bellah zum einen als „Diener“127 dieser ambivalenten Götter verstanden, die die Götter durch den Vollzug von Kulten wohlgesonnen zu stimmen hatten, um das Gedeihen des Landes zu sichern. Zum anderen wurden die

125 Vgl. a.a.O., 217f. 126 Ebd. 127 A.a.O., 218.

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Könige aber auch als Repräsentanten der Götter verstanden. Ihre Herrschaft und ihr Verhalten repräsentierte die göttliche Ordnung des Kosmos: Ebenso wie der Gott Enlil im Mythos Atraasis grausam agieren konnte, konnte sich auch der König laut Bellah unter Verweis auf die göttliche Weltordnung grausam und selbstbezogen verhalten. „Dominance was a major theme; mostly it was dominance cloaked in the mantle of legitimate hierarchy; but both gods and kings were capable of irrational anger against ‘undeserving‘ targets.”128 Am Beispiel des Codex Hammurabi (18. Jh. v. Chr.) zeigt Bellah jedoch zugleich auch auf, wie das Verständnis der Götter als Ernährer, Fürsorger und Vertreter von Recht und Gerechtigkeit das Verständnis königlichen Verhaltens normierte – zumindest auf der Ebene des Textes. Der König erscheine im Epilog des Codex Hammurabi als Fürsprecher und Garant von Recht und Gerechtigkeit und eben in dieser Funktion als göttlicher Stellvertreter: The great gods have called me, and I am indeed the good shepherd who brings peace, with the just scepter. My benevolent shade covered my city. I have carried in my bosom the people of Sumer and Akkad. […] I have not ceased to administer them in peace. By my wisdom I have harbored them. In order to prevent the powerful from oppressing the weak, in order to give justice to the orphans and the widows.129

Die Rolle des Königs als Ernährer, Hirte und als Schutzherr der Schwachen werde hier normativ durch die Aussage gestützt, dass ein solches Verhalten dem Aufrag und Willen der Götter entspreche. Bellah geht dabei davon aus, dass diese im Epilog des Codex Hammurabi enthaltene „Rhetorik der Fürsorge“130 nicht allein auf der Ebene der Rhetorik verblieb. Vielmehr setzte sie nach Bellah zugleich einen Standard, an dem sich tatsächliches königliches Verhalten messen lassen musste.131 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass nach Bellah das Verständnis der Götter als undurchschaubar – mal gewalttätig, mal fürsorgend – in Mesopotamien auf das Verständnis der Herrscher als Repräsentanten der Götter übertragen wird. Zugleich konnte die Überzeugung von Göttern als Garanten von Recht und Gerechtigkeit nach Bellah aber auch dazu dienen, den Herrscher daran zu messen, ob er in seiner Funktion als Repräsentant der Götter ebenfalls für Recht und Gerechtigkeit eintrat. Insofern konnten bereits in frühen Hochkulturen religiöse Überzeugungen als kritischer Maßstab gegenüber faktischen Gegebenheiten fungieren, wenngleich 128 A.a.O., 221. 129 Jean Bottéro: Mesopotamia: Writing, Reasoning, and the Gods, Chicago 1992, 168; zitiert nach Bellah, Religion in Human Evolution, 222. 130 Bellah, Religion in Human Evolution, 222. Bellah verwendet hier den Ausdruck „rhetorics of nurturance“. 131 Vgl. ebd.: „But neither was this just rhetoric. A standard was set that would have consequences.“

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

dies noch nicht in einer grundsätzlichen Art und Weise wie in der Achsenzeit geschah. 8.

Achsenzeit

Im Folgenden wird nach einer kurzen Einführung in die allgemeinen Grundlagen des Begriffs der Achsenzeit Bellahs Verständnis derselben diskutiert, bevor es anhand des Beispielfalls Israel konkretisiert wird.132 Der Begriff der Achsenzeit geht auf das geschichtsphilosophische Werk von Karl Jaspers „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ von 1949 zurück. Jaspers versteht die Achsenzeit als eine alles zukünftige Geschehen formende Zeitenwende, die sich in unterschiedlichen Kulturen zugleich ereignet habe und deshalb einen menschheitsgeschichtlichen Umbruch darstelle: In China, Indien, Iran, Palästina und Griechenland sei es zwischen 800 und 200 v. Chr. zu vergleichbaren Neuansätzen gekommen, die zum Ende der bestehenden Hochkulturen geführt hätten. Gemeinsam sei diesen Neuansätzen „das Offenbarwerden dessen, was später Vernunft und Persönlichkeit hieß“133 . Mit der Theorie der Achsenzeit als menschheitsgeschichtlichem Transformationsprozess grenzt sich Japsers von seinerzeit bestehenden Konzepten einer Universalgeschichte ab, die dem Christentum, aber nicht anderen Religionen oder Kulturen, die entscheidende Rolle bei der Entstehung der heutigen Welt zuschrieben.134 Japsers versteht die Achsenzeit demgegenüber als eine „Epoche geistiger Globalisierung“135 , wähend der ganz unterschiedliche religiöse Denker zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen seien: „Zwar komunizierten Konfuzius, Buddha, Zarathustra, Jesaja und Xenophanes nicht miteinander. Sie hätten sich aber verstanden.“136 Japsers Konzept der Achsenzeit wurde insbesondere durch die Soziologen Eric Voegelin und Shmuel N. Eisenstadt modifiziert. Voegelin wendet gegen Japsers Theorie der Achsenzeit als einer universalen Revolution der Menschheit ein, dass sich die Menschheit nicht grundlegend verändert habe, einzelne Kulturen jedoch

132 Zwar entwickelt Bellah das Konzept der Achsenzeit anhand von vier Beispielfällen – Israel, Griechenland, China und Indien. Doch für das Anliegen dieser Arbeit ist die Darstellung aller vier Fälle nicht notwendig. Das Konzept der Achsenzeit ist vielmehr nur insoweit interessant, als dass Bellah es in seine Theorie der Evolution der Religion einordnet. Es wird daher nur am Beispiel des antiken Israel erläutert. 133 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 17. Vgl. auch die Interpretation der Position Karl Japsers bei Lohff, Art. Achsenzeit, 74, wonach die Achsenzeit „Entmythisierung, Vergeistigung, ein neues Selbstbewußtsein des Menschen und eine darauf gegründete kulturelle Aktivität“ bedeutet. 134 Vgl. Assmann, Achsenzeit, 182. Vgl. auch Joas, The Axial Age Debate, 10. 135 Assmann, Achsenzeit, 184. 136 Ebd.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

vergleichbare Sprünge durchlaufen hätten.137 Shmuel Eisenstadt betont gegen Jaspers die Problematik der verallgemeinernden Rede von ‚der’ Achsenzeit, weil dadurch die konkreten historischen Voraussetzungen für achsenzeitliche Durchbrüche und die konkreten Ausformungen und Konsequenzen der achsenzeitlichen Einsichten in den jeweiligen Kulturen vernachlässigt würden.138 In jüngerer Zeit haben der Philosoph Hans Joas und der Ägyptologe Jan Assmann das Konzept der Achsenzeit ambivalent bewertet. Assmann betont einerseits, den Begriff der Achsenzeit positiv aufnehmend, dass in der Achsenzeit die „kategorische Unterscheidung zwischen Gott und Welt“139 aufgetreten sei, mit der „Aufklärung, Rationalisierung und Weltentzauberung“140 einhergehe. Andererseits betont er aber auch, dass der Begriff der Achsenzeit selbst eine Art „Gründungsmythos“141 darstelle, ein geschichtsphilosophisches Konstrukt, dem zwar heuristischer Wert beizumessen sei. Allerdings diene es letzlich der Suche nach Orientierung in der Gegenwart und sei daher stärker normativ als deskriptiv ausgerichtet.142 Der Soziologe Hans Joas bemerkt, dass das Konzept der Achsenzeit den Versuch darstellt, einen dritten Weg zwischen einem „relativistischen Historismus“ und einem „abstrakten Universalismus“143 zu beschreiten. Denn die Theorie der Achsenzeit verbinde historische Perspektiven auf menschliche Geschichte mit existentiellen Fragen nach übergreifenden, heute noch gültigen Werten und nach heutiger weltanschaulicher Orientierung unter Rückgriff auf die Geschichte.144 Als Gesprächspartner und Vordenker für seine eigene Definition der Achsenzeit nennt Bellah die klassischen Vertreter der Theorie der Achsenzeit – den Philosophen Karl Jaspers145 , den Soziologen Shmuel N. Eisenstadt146 sowie den Soziologen

137 Vgl. Voegelin, Order and History, 5: „For human nature is constant in spite of its unfolding, in the history of mankind, from compact to differentiated order: the discernible stages of increasing truth of existence are not caused by ‘changes in the nature of man’ that would disrupt the unity of mankind and dissolve it into a series of different spieces.” 138 Vgl. Eisenstadt, The Great Revolutions, vii. Eisenstadt beschreibt, dass er die spezifischen Konstellationen und historischen Bedingungen untersuchen möchte, von denen herkommend „achsenzeitliche Zivilisationen“ (im Plural) entstanden. Vgl. ähnlich auch die Kritik bei Assmann, Achsenzeit, 264. 139 Assmann, Achsenzeit, 17. 140 Ebd. 141 A.a.O., 165. 142 Vgl. Assmann, Cultural Memory, 367.373. 143 Joas, The Axial Age Debate, 23. 144 Vgl. a.a.O., 24. 145 Vgl. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. 146 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: Introduction: The Axial Age Breakthroughs – Their Characteristics and Origins, in: The Origins and Diversity of the Axial Age, hrsg. von Shmuel N. Eistadt, Albany (NY) 1986, 1–25.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

und Philosophen Eric Voegelin147 . Bellah greift Jaspers‘ Konzept der Achsenzeit zwar insgesamt zustimmend auf, kritisiert aber zugleich, dass Jaspers den Begriff der Achsenzeit zu existentialphilosophisch interpretiere.148 Zustimmend rezipiert Bellah hingegen die These Voegelins, dass in der Achsenzeit eine grundlegende Änderung im Selbst- und Weltverständnis auftauche und erstmals das Konzept einer individuellen Seele und einer davon unterschiedenen „transzendenten Realität“149 auftauche. Von Shmuel Eisenstadt nimmt Bellah die These auf, dass in der Achsenzeit Reflexivität als Fähigkeit, die eigenen Annahmen kritisch zu hinterfragen, aufkam.150 Zudem bezieht Bellah sich mehrfach zustimmend auf Max Webers These vom Auftreten von religiösen Weltentsagern im antiken Israel. Obwohl Weber den Begriff der Achsenzeit als solchen nicht verwendet, sei doch das von Weber beschriebene Phänomen eines „prophetischen Zeitalters“151 inhaltlich vergleichbar mit dem, was in Theorien der Achsenzeit über diese Epoche gesagt werde. Der inhaltliche Vergleichspunkt liege darin, dass sowohl Vertreter der Theorie der Achsenzeit als auch Weber eine ideengeschichtliche Transformation in Israel in der Mitte des 1. Jt. v. Chr. feststellten: das Ende der Vorstellung, wonach Gott und Herrscher eine Einheit bildeten, sowie das Aufkommen von Herrscher- und Gesellschaftskritik angesichts massiver sozialer Ungleichheit.152 Bellah versteht unter der Achsenzeit in einer ersten kurzen eigenen Definition eine historische Entwicklung, die sich in vergleichbarer Weise in unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Kulturen um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. als Reaktion auf wachsende soziale Ungleichheit ereignet habe.153 Angesichts dieser sozialen Ungleichheit komme es in den Staaten Israel, Griechenland, China und Indien zum „achsenzeitlichen Durchbruch“154 , den Bellah auch als „transzendenten Durchbruch“155 beschreibt: Hier sei erstmals die Überzeugung der Transzendenz Gottes gegenüber allem Irdischen aufgekommen. Als Folge dieser Überzeugung komme

147 Eric Voegelin: Order and history, 5 volumes, Baton Rouge 1956–1987. 148 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 268. Vgl. auch Eisenstadt, Introduction, 11. 149 Bellah, Religion in Human Evolution, 271. Vgl. auch Voegelin, Order and History, 1f. Eric Voegelin spricht von einem „leap in being” (Voegelin, Order and History, 1), wodurch die bisher in Mythen angenommene Einheit von Welt und Gott auseinanderbreche und Gott als „world-transcendent divine Being” (a.a.O., 2) erkannt werde. 150 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 271. 151 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 33. 152 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 271. Bellah verweist hier auf Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, MWS I/22–2, hrsg. von Hans G. Kippenberg u. a., Tübingen 2005, 27–35. 153 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 271. 154 A.a.O., 277. 155 A.a.O., 276. Vgl. auch Eisenstadt, Introduction, 2.

Analyse des Hauptwerks „Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age”

es zur Kritik an bestehenden religiösen Mythen, welche die Einheit von weltlicher Ordnung und göttlichem Willen propagierten. Mit der Überzeugung der Transzendenz Gottes gehe außerdem eine fundamentale Kritik an einer Herrscherideologie einher, die den Herrscher als Repräsentanten einer Gottheit verstand und so ungerechte Herrschaft legitimierte.156 8.1

Die theoretische Kultur als Kennzeichen der Achsenzeit

Als Kennzeichen aller achsenzeitlichen Kulturen nennt Bellah das Aufkommen der „theoretischen Kultur“157 . Diesen Begriff entwickelt er unter Rekurs auf die Arbeiten des Neurowissenschaftlers Merlin Donald, auf dessen Arbeiten Bellah bereits zur Beschreibung der mimetischen und mythischen Kultur zurückgegriffen hatte.158 Die in Griechenland um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. entstandene theoretische Kultur – Reflexion „um ihrer selbst willen“159 – ist nach Donald Endpunkt einer evolutionären Entwicklung von der mimetischen über die mythische Kultur seit den Stammesgesellschaften. Bellah wendet Donalds Begriff der theoretischen Kultur nicht nur auf Griechenland an, sondern zur Beschreibung von „achsenzeitlichen Kulturen“, unter die er neben Griechenland auch Israel, China und Indien fasst. Die Achsenzeit stelle durch die Erfindung des theoretischen Denkens einen Komplexitätszuwachs gegenüber bisherigen Kulturen dar und lasse sich deshalb in ein evolutionäres Raster einordnen. 8.1.1

Die theoretische Kultur als analytisches, logisches Denken und als Metareflexion im Gegenüber zu einem narrativen Denken

Als Merkmal der theoretischen Kultur beschreibt Bellah die Fähigkeit „to think analytically rather than narratively, to construct theories that can be criticized logically and empirically.“160 Ferner unterscheidet er das theoretische Denken als „falsifizierbaren Diskurs”161 und als begründete Argumentation von der Sinnproduktion durch Narrative. Während Narrative pragmatisch darauf ausgerichtet seien, Sinn und Orientierung für den Einzelnen oder die Gruppe zu stiften und die historische Faktizität des in den Narrativen Erzählten dabei nicht entscheidend sei, stelle das theoretische

156 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 267. 157 A.a.O., 273. 158 Vgl. Merlin Donald: Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge (Mass) / London 1991. Vgl. auch Merlin Donald: A mind so rare. The Evolution of Human Consciousness, New York 1999. 159 Donald, Origins of the Modern Mind, 341. 160 Bellah, Religion in Human Evolution, 274. 161 A.a.O., 390.

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Denken Möglichkeiten dar, Aussagen daran zu bemessen, ob sie jenseits von Fragen des persönlichen Geschmacks oder Fragen der Tradition universell einleuchteten, weil sie rational begründet würden. Das theoretische Denken führe so zu einer Loslösung und Distanzierung des Betrachters von der unmittelbar gegebenen Situation,162 da Gegebenes nicht einfach als unveränderlich und gut betrachtet werde, sondern einer rationalen Kritik unterzogen werde: It is precisely […] the idea that there are alternatives that have to be argued for, that marks the axial age.163

Mit der Suche nach Erkenntnis verknüpft sei die Frage nach den Voraussetzungen der Möglichkeit von Erkenntnis: Mithin sei hier erstmalig die Frage nach einer Methode zur Wahrheitsfindung aufgekommen. Bellah bezeichnet diese Art des Denkens im Anschluss an Eisenstadt164 als „second-order thinking“, oder auch als „thinking about thinking“165 . Er bestimmt das in der Achsenzeit aufkommende Denken also als eine Art Metareflexion, als ein Nachdenken über die Bedingung der Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Dabei sei es kennzeichnend für die achsenzeitliche Metareflexion, dass davon ausgegangen werde, dass vernünftige Argumente gefunden werden könnten, warum eine Ansicht richtiger oder wahrheitsgemäßer sei als eine andere: [Second-order thinking] attempts to understand how the rational exposition is possible and can be defended.166

Als Beispiel für eine solche Art der Metareflexion verweist Bellah auf den geometrischen Beweis von Pythagoras in Griechenland. Dieser gebe rational einsehbare Gründe an, warum eine geometrische Aussage wahr sei und liefere so eine Methode, wie wahre Erkenntnis zu gewinnen sei.167 Als ein erstes Kennzeichen der theoretischen Kultur im Sinne Bellahs lässt sich daher festhalten, dass rationales und analytisches Denken als Methoden begriffen werden, zu wahren Erkenntnissen zu gelangen im Gegenüber zu einem narrativen Denken, das primär durch individuelle und gemeinschaftliche Sinnproduktion

162 163 164 165 166 167

Vgl. a.a.O., 593. Bellah spricht im Englischen von „disengaged vision“. A.a.O., 275. Vgl. Eisenstadt, Introduction, 11. Bellah, Religion in Human Evolution, 275. A.a.O., 274f. A.a.O., 275: „One of the earliest examples is geometric proof, asociated with Pythagoras in early Greece. Geometric proof asserts not only geometric truths, but the grounds for thinking them true, that is, proofs that in principle could be disproved, or replaced by better proofs.“

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gekennzeichnet ist. Das theoretische Denken bezeichne daher die „capacity to draw conclusions from instances outside a narrative context.“168 Relativierend räumt Bellah jedoch zugleich ein, dass logisches, systematisches und rationales Denken jenseits von Narrativen nicht erst in der Achsenzeit entstanden sei. Bereits in vor-achsenzeitlichen Kulturen sei ein solches Denken etwa in der Architektur und zur Vorausberechnung von jahreszeitlichen Entwicklungen für die Landwirtschaft vorhanden gewesen.169 Insofern lasse sich nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass die achsenzeitlichen Kulturen das theoretische Denken ‚erfunden‘ hätten. Doch bestimmt Bellah das Proprium der achsenzeitlichen Kulturen in dem veränderten Bezugspunkt des theoretischen Denkens. In vor-achsenzeitlichen Kulturen sei das theoretische Denken zur Beantwortung pragmatischer landwirtschaftlicher oder administrativer Fragen verwendet worden. Das theoretische Denken der Achsenzeit frage jedoch abstrakter und grundsätzlicher nach Wahrheit jenseits von unmittelbaren Nützlichhkeitserwägungen sowie nach einer Methode zur Wahrheitsfindung170 . Nach Bellah ist die Achsenzeit daher gekennzeichnet durch a new understanding of the nature of reality, a conception of truth against which the falsity of the world can be judged, and a claim that that truth is universal, not merely local.171

In dieser Frage nach Wahrheit ‚an sich‘ jenseits von pragmatischen Erwägungen bestimmt Bellah das Proprium achsenzeitlichen Denkens. 8.1.2

Metareflexion in achsenzeitlichen Religionen

Auch achsenzeitliche Religionen sind nach Bellah durch Metareflexion gekennzeichnet. Diese Art der Reflexion führe zur Infragestellung der bisherigen Weltsicht und der bisher angenommenen Weltordnung, wie sie in Mythen erzählerisch entfaltet und in Ritualen körperlich ausagiert worden sei. Bestehende Mythen und Rituale würden in der Achsenzeit daher einer kritischen Reflexion durch die Religionen selbst unterzogen: The very idea of myth as „a story that is not true“ is a product of the axial age: in tribal and archaic societies, believers in one myth have no need to find the myths of others false.172

168 169 170 171 172

A.a.O., 274. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 275. A.a.O., 282. A.a.O., 276.

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Mit der Frage nach der Wahrheit des in Mythen Erzählten sei zugleich die Frage verbunden, inwieweit die gegebene soziopolitische Ordnung dem göttlichen Willen bzw. der göttlichen Ordnung entspreche. Ein besonderes Gewicht erhielt diese Frage laut Bellah durch die inneren und äußeren Krisen, denen die achsenzeitlichen Staaten ausgesetzt waren. Diese Krisen führten bei den achsenzeitlichen Denkern laut Bellah zu der Überzeugung, dass die bisher angenommene Einheit von Herrschaft, soziopolitischer Ordnung und dem Gotteswillen falsch war. Die Krisen wurden mithin als Aufweis verstanden, dass die gegebenen soziopolitischen Strukturen nicht dem göttlichen Willen entsprachen. Das Aufkommen der Überzeugung vom Auseinandertreten von weltlichem status quo und göttlichem Willen ist nach Bellah daher das wichtigste Merkmal der Achsenzeit. [T]he critical question of the relation between god and king […] [is] the very hallmark of the axial age.173

Weil Gott, so die achsenzeitliche Überzeugung, durch nichts in der Welt angemessen repräsentiert werden könne, sei eine theologische Kritik an innerweltlichen Verhältnissen möglich, insbesondere an der wachsenden sozialen Ungleichheit, die als nicht mit dem göttlichen Willen übereinstimmend verstanden wurde. Religiöse Kritik verbinde sich in achsenzeitlichen Religionen daher mit Sozialkritik: In each axial case, what I am calling social criticism is combined with religious criticism, and the form and content of the axial symbolization take shape in the process of criticism.174

Die für achsenzeitliche Religionen typische Metareflexion betrachte die von der Tradition vorgegebenen Narrative und Rituale daher nicht als sakrosankt. Vielmehr gelinge es achsenzeitlichen Religionen durch Metareflexion, den ideologischen

173 A.a.O., 277. 174 A.a.O., 577. Vgl. auch Eisenstadt, Introduction, 11. Ergänzend weist Bellah in einer kurzen Notiz darauf hin, dass der Glaube an einen transzendenten Gott nicht automatisch zu einer Herrscherund Gesellschaftskritik führt. So sei der von Echnaton in Ägypten propagierte Monotheismus in politischer Hinsicht konservativ, weil Echnaton sich selbst als das Medium der göttlichen Offenbarung begriffen habe und demnach eine exklusive religiöse Deutungshoheit des Glaubens an Aton beansprucht habe. Der Glaube an den einen Gott stütze im Fall des Monotheismus’ Echnatons also die bestehende Herrschermacht, statt sie – wie für achsenzeitliche Kulturen typisch – infrage zu stellen (vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 277). Daher entfalte der Monotheismus sein herrschaftskritisches Potential erst in der Verbindung des Glaubens an einen Gott, der von der Welt unterschieden ist, mit der Überzeugung, dass dieser eine Gott für Recht und Gerechtigkeit eintrete. Vgl. ähnlich auch Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 98.

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Charakter solcher Narrative und Rituale aufzudecken, die königliche Herrschaft unter Verweis auf die Gottessohnschaft des Königs als unantastbar proklamierten. Die Metareflexion der achsenzeitlichen Religionen hat laut Bellah also ideologiekritische Funktion und ideologiekritischen Charakter. Eine solche Metereflexion, die die bisherige Legitimierung von soziopolitischer Ungleichheit als gottgewollt zurückweist, ist nach Bellah ferner das Produkt vernünftigen Nachdenkens. Die achsenzeitliche Metareflexion ist nach Bellah also universalisierbar. Dass der Wille Gottes mit der gegebenen, ungerechten soziopolitischen Ordnung nicht zusammenfällt, ist nach Bellah eine rational einsehbare, allgemeine Wahrheit. Es handelt sich dabei für Bellah nicht um eine religiöse oder theologische Spekulation. Dazu passt, dass Bellah an anderer Stelle die These aufstellt, dass in achsenzeitlichen Religionen ein Fortschritt in der Erkenntnis einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit stattfindet. In diesem Sinne spricht Bellah mehrmals von achsenzeitlichen „Einsichten“175 oder „Erfahrungen“176 bzw. von „transzendenten Durchbrüchen“177 und argumentiert dafür, dass diese Einsichten oder Erfahrungen einen tieferen Einblick in Wirklichkeit geben als bisher.178 Achsenzeitliche Religionen fragten jenseits von pragmatischen Überlegungen nach einer „grundlegenden Wirklichkeit“179 , nach der „Natur der Wirklichkeit“180 bzw. nach einer „transzendenten Wirklichkeit“181 . Bellah deutet hier an, dass achsenzeitliche Religionen durch kritische Reflexion zu einem Fortschritt in der Erkenntnis der Wirklichkeit insgesamt gelangen jenseits empirischer oder mathematischer Einzelbeobachtungen. Diese angedeutete These wird allerdings nicht weiter entfaltet, sondern bildet bei Bellahs Beschreibung des „achsenzeitlichen Durchbruchs“182 lediglich eine postulierte Hintergrundannahme. Ähnlich wie bereits Gerd Theißen (vgl. C.III.2.1.2) interpretiert Bellah die Theorie der Evolution daher in einem metaphysischen Sinn, wenn er aus dem Verlauf der Evolution eine bessere Erkenntnis einer grundlegenden Wirklichkeit ableitet. Diese Annahme Bellahs ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht jedoch wenig überzeugend, weil Bellah an anderer Stelle den wirklichkeitskonstruierenden Charakter der Religion betont: „Religious reality is a realm of experience, to be sure, but it is also a realm of representation. In fact, experience and representation belong

175 176 177 178 179 180 181 182

Bellah, Religion in Human Evolution, 269.282. A.a.O., 591. A.a.O., 276. Vgl. ebd.: „Experiences of theoria […] provide an insight into reality so deep that the whole empirical world is called into question.“ A.a.O., 277. A.a.O., 282. A.a.O., 276. A.a.O., 277.

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inexorably together“183 (vgl. auch E.IV.2.2 in dieser Arbeit). Es stellt sich daher in Erwiderung auf Bellah die Frage, wie die achsenzeitliche, religiöse Einsicht in die ‚Natur der Wirklichkeit’, bzw. in das ‚Wesen der Dinge’ möglich sein kann, wenn doch Religionen Wirklichkeit im Akt des Wahrnehmens immer zugleich mitkonstruieren.184 Bellahs These einer in der Achsenzeit erkannten ‚Natur der Wirklichkeit’ bleibt daher unscharf. Jedoch ist Bellah darin zuzustimmen, dass in achsenzeitlichen Religionen der Glaube an eine die gegebene soziopolitische Ordnung transzendierende, grundlegende Wirklichkeit aufkam. Dass ein solcher Glaube Anspruch auf Wahrheit erheben kann, dass es eine solche grundlegende Wirklichkeit also tatsächlich gibt, ist allerdings eine erkenntnistheoretische Setzung Bellahs und nicht aus der evolutionären Entwicklung selbst deduzierbar. Denn die Genese und die Wahrheit einer Überzeugung müssen methodisch voneinander unterschieden werden.185 8.1.3

Die bleibende Verwobenheit von mimetischer, mythischer und theoretischer Kultur

Bellah ordnet seine Beschreibung der theoretischen Kultur schließlich in einen evolutionären Rahmen ein: Die theoretische Kultur ist, wie er unter Verweis auf Merlin Donald bemerkt,186 der vorläufige Endpunkt einer evolutionären Entwicklung von der mimetischen über die mythische Kultur. Bellah betont in diesem Zusammenhang jedoch, dass die theoretische Kultur die mimetische oder mythische Kultur keineswegs suspendiert hat, sondern weiterhin auf diese bezogen bleibt. Es handle sich in evolutionstheoretischer Hinsicht um eine Komplexitätssteigerung im Laufe der menschlichen Geschichte: Durch die theoretische Kultur würden Rituale und Narrative nicht aufgehoben, sondern transformiert: 183 A.a.O., 11. Vgl. auch a.a.O., xvii, wo Bellah den konstruierenden Charakter von Religion betont: „How religion creates those other worlds and how those worlds interact with the world of daily life is the subject of this book“. 184 Vgl. so auch die Kritik an Bellah bei Assmann, Achsenzeit, 275f. Jan Assmann wendet gegen Bellahs These der Achsenzeit als Fortschritt in der Erkenntnis von Wirklichkeit ein: „Es gibt, was die Natur des Menschen und der Kultur angeht, keine objektive Wahrheit, die als Maßstab dienen könnte, um eine Theorie zu verifizieren oder falsifizieren. Die eine theoretische Sicht der Dinge ist in Sachen des Menschenbilds so richtig wie die andere, und die Parteinahme für eine bestimmte Theorie ist weitgehend Glaubenssache. Wo es um den Menschen geht, haben Theorien immer eine modellierende Funktion und Wirkung.“ 185 Die bei Bellah im Raum stehende Frage, ob Religionenmit Recht beanspruchen können, annähernd wahre Aussagen über eine beobachterunabhängige transzendente Wirklichkeit zu treffen, oder ob sie stärker konstruktivistisch verstanden werden müssen, kann im Rahmen dieser Arbeit von der Verfasserin nicht beantwortet werden. Vgl. dazu aber den interessanten Zugang von Andreas Losch, der hierfür einen „konstruktiv-kritische[n][...] Realismus“ vorschlägt (vgl. Losch, Jenseits der Konflikte, 67). 186 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, xviii. Vgl. auch Donald, Origins of the Modern Mind, 273.

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Humans are still episodic, mimetic, and mythic creatures, although, as in earlier transitions, the emergence of a new form of cultural cognition eventually involves reorganization of the earlier forms.187

Bellalh nennt, diese These erläuternd, konkret zwei Gründe, warum die theoretische Kultur auf Narrative und Rituale bezogen bleibt und diese zwar reformulieren, aber nicht ersetzen kann. Der erste Grund sei ein anthropologischer: In Chapter 1 I noted that narrative actually constitutes the self, ‘the self is a telling’. […] Not only do we get to know persons by sharing our stories, we understand our membership in groups to the extent that we understand the story that defines the group. Once theoretic culture has come into existence, stories can be subjected to criticism – that is at the heart of the axial breakthroughs – but in important spheres of life, stories cannot be replaced by theories.188

Weil der Mensch von Natur aus ein Geschichtenerzähler sei, und durch Geschichten seine Identität und seinen Platz in der Welt erzählend sinnvoll ordne, sei es für ihn gar nicht möglich, ohne Narrative zu leben. Gleiches gelte für Rituale: Weil der Mensch sich immer schon in wiederholten Handlungen seine Umwelt erschließe, könnten Rituale nicht suspendiert werden. So bemerkt Bellah zur Verwobenheit von theoretischem Denken und Ritual: [A]ntiritual tendencies and even movements occurred in most of the axial breakthroughs, and periodically ever since. […] But in every case, ritual, when thrown out at the front door, returns at the back door: there are even antiritual rituals. Our embodiment and its rhythms are inescapable.189

Erst in der Verbindung mit der mimetischen und der mythischen Kultur könnten die Überzeugungen der theoretischen Kultur gesellschaftliche Prägekräfte erhalten, denn erst dann prägten sie sich nicht nur dem kognitiven Bereich des Gedächtnisses, sondern dem ganzen Menschen inklusive seiner leiblichen und emotionalen Dimensionen ein.190

187 188 189 190

Bellah, Religion in Human Evolution, 273. A.a.O., 279. Ebd. Vgl. ebd. Hier zeigt sich eine große Ähnlichkeit von Bellahs kulturanthropologischen Überlegungen zu denen von Heiner Mühlmann. Denn bereits Mühlmann hatte den Menschen in kulturanthropologischer Hinsicht als ein Wesen verstanden, das sich durch Narrative und Rituale selbst bildet. Narrative und Rituale sind nach Mühlmann deshalb erfolgreiche Weisen kultureller Formierungsprozesse, weil sie sich dem menschlichen Gedächtnis auf unterschiedlichen Ebenen einprägen.

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Der zweite Grund für die unaufhebbare Verwobenheit von Ritual, Narrativen und theoretischem Denken liege in der Eigenart jeder Religion begründet. Denn der Religion eigen seien sinnstiftende Perspektiven und die Frage nach Orientierung für das eigene Verhalten. Solche Perspektiven können nach Bellah aber gar nicht allein durch Vernunft und analytische Argumentation beantwortet werden. Denn religiöse Aussagen über Sinn und Orientierung des Lebens beinhalteten Überzeugungen, die zwar nicht irrational sein müssten, doch zwangsläufig über das hinausgingen, was allein rational begründet werden könne (vgl. auch E.IV.2.1). Because transcendental realms are not subject to disproof the way scientific theories are, they inevitably require a new form of narrative – that is, a new form of myth.191

Insofern erfordere jeder Versuch der Sinnstiftung immer schon eine Erzählung, die über konkrete Einzelereignisse hinausgehe und diese in eine Gesamtdeutung einbette. Sogenannte letzte Fragen als Fragen nach Sinn und Orientierung benötigten zwangsläufig „a story about the good“192 . Diese Begrenzung der Rolle von Vernunft, Metareflexion und analytischer Argumentation für die religiöse Sinnproduktion bedeutet nach Bellah allerdings nicht, dass alle religiösen Narrative gleichwertig sind, bzw. dass man nicht mit rationalen Gründen zwischen besseren oder schlechteren Narrativen unterscheiden kann. Vielmehr kann nach Bellah das theoretische Denken – die Metareflxion – dabei helfen, bestehende Narrative zu kritisieren, um „die gebräuchliche Erzählung durch eine bessere Erzählung zu ersetzen“193 . Eine solche Kritik und Reorganisation bestehender Narrative und Rituale sei inhaltlich daran ausgerichtet, die Legitimierung ungerechter soziopolitischer Strukturen durch Verweis auf einen angeblichen Gotteswillen zurückzuweisen. Narrative und Rituale könnten daher begründet kritisiert werden, wenn sie dazu verwendet würden, Gewalt und soziale Ungleichheit zu begründen und einzuüben. In Bellahs Verbindung von Donalds Theorie der Evolution menschlicher Kulturfähigkeiten mit der Theorie der Achsenzeit liegt das Originelle an seinem Verständnis der Achsenzeit. Denn auf diese Weise gelingt es Bellah, das Konzept der Achsenzeit sowohl in Kontinuität zur vorhergehenden Geschichte zu denken, als

Menschen verfügten nicht nur über ein „deklaratives Gedächtnis” zum Einprägen von Fakten, sondern auch über ein „Körpergedächtnis”, was wiederholt vollzogene Bewegungen erinnere, sodas diese automatisiert vollzogen würden. Ereignisse prägten sich dem Gedächtnis ferner dann erfolgreich ein, wenn sie nicht nur Fakten enthielten und mit körperlichen Routinen verknüpft würden, sondern auch starke Emotionen auslösten (vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18–20). 191 Bellah, Religion in Human Evolution, 276. 192 A.a.O., 280. 193 Ebd.

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auch in Differenz zu dieser: Auch in der Achsenzeit bleiben Menschen evolutionstheoretisch betrachtet mimetische und mythische Wesen. Doch tritt nun die Metareflexion ergänzend zu den bereits bestehenden Fähigkeiten hinzu und führt zur Möglichkeit einer kritischen Betrachtung und Transformation bestehender Rituale und Narrative.194 8.2

Achsenzeit am Beispiel des antiken Israel

Im Folgenden entwirft Bellah einen skizzenhaften Abriss der Geschichte Israels von einer losen Stämmegesellschaft um 1200 über die Entstehung der Staaten Israel und Juda um 950 v. Chr. bis hin zur Zerstörung der beiden Staaten 722 bzw. 586. Zugleich verknüpft er seine Darstellung der Geschichte Israels mit einer Datierung und Zuordnung ausgewählter alttestamentlicher Texte zu den jeweiligen geschichtlichen Ereignissen. Als maßgeblich für seine Theorie der Achsenzeit bewertet er die prophetische Sozial- und Kultkritik in Israel im 8./7. Jh., aber auch die dtn Kritik an der assyrischen Herrscherideologie, der der Glaube an den einen Gott JHWH entgegengesetzt werde. 8.2.1

Das Königtum in Israel (950–722 v. Chr.)

Nach dem Zusammenbruch der ägyptischen Oberherrschaft um 1200 kam es in Israel zu einem Niedergang der besiedelten Städte und zu einem Anwachsen von Siedlungen im Bergland. Von 1200–1000 v. Chr. bestand Israel zum großen Teil aus einer losen Ansammlung von Stämmen in den Berglandschaften. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen schlossen sich diese Stämme ab circa 1000 v. Chr. zu Stammesverbänden zusammen. Zugleich kam es zu einer Reurbanisierung der bronzezeitlichen Städte.195 Die einzelnen Stämme hatten vor ihrem Zusammenschluss zu einer Stammesgesellschaft keine gemeinsame Religion. Vielmehr gab es individuelle Familienreligionen, die lokale Gottheiten oder Hausgötter verehrten. An diese Gottheiten wandte man sich in Fragen von Ehe, Kinderwunsch, bei Krankheiten oder anderen Unglücksfällen und allgemein in Fragen der Subsistenz.196 Erst mit der Entstehung des Staates Israel um 950 v. Chr. wurde eine lokale Gottheit, JHWH, zum Nationalgott Israels. Der Tempel JHWHs in der Hauptstadt

194 Vgl. auch die Bewertung von Bellahs Verbindung von evolutionstheoretischen mit achsenzeitlichen Perspektiven bei Jan Assmann: „Es ist das Verdienst von Robert Bellah und seinem evolutionstheoretischen Gewährsmann Merlin Donald, bei aller diskontinuierlichen Stufengliederung des geistigen Entwicklungsganges der Menschheit den Aspekt der Kontinuität im Blick behalten zu haben.“ (Assmann, Achsenzeit, 279). 195 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 299. Vgl. auch Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte, 100f. 196 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 289. Vgl. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 145.

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Jerusalem wurde als Ort der Gegenwart dieses Gottes verstanden. Mit der Entstehung des Königtums bildete sich die Vorstellung aus, dass der König „Sohn Gottes“ (Ps 2,7) war, die Herrschaft des Königs mithin die Herrschaft Gottes repräsentierte und damit die Königsherrschaft den Garanten für kosmische Stabilität lieferte. Eine solche „urban kingly ideology“197 drückte auch Ps 45,7-8 aus: Dein Thron, Gott, steht für immer und ewig; ein gerechtes Zepter ist das Zepter deines Königtums. Du liebst das Recht und hasst das Unrecht, darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit dem Öl der Freude wie keinen deiner Gefährten.

Mit der Entstehung des Königtums ging die königliche Kompetenz der Zwangsrekrutierung der Bevölkerung zur Errichtung von öffentlichen Bauten wie Palast- und Tempelanlagen (Frondienst) einher. Abgaben an den König sowie die Verpflichtung zum Kriegsdienst waren weitere königliche Zwangsmaßnahmen.198 Einige alttestamentliche Texte reflektierten diese Entwicklung kritisch. So wird nach 1. Kön 12,1-19 der König Rehabeam von den Stämmen aus dem Norden Israels abgesetzt, weil er die Bevölkerung mit hohen Abgaben und Zwangsarbeit belegt. 1. Sam 8,10-17 enthält ebenfalls eine implizite Kritik am Königtum, das als eine die Bevölkerung unterdrückende Herrschaft verstanden wird. Insgesamt gab es zur Zeit der Monarchie in Israel neben monarchiefreundlichen Texten, die den Herrscher mit dem Sohn Gottes identifizierten, auch eine Vielzahl an monarchiekritischen Texten.199 Doch erst mit dem Aufkommen der politischen und sozialen Krise des Nordreichs im 8. Jh. wurde nach Bellah das Verständnis, wonach die gegebene soziopolitische Ordnung die göttliche Ordnung widerspiegelt, grundsätzlich infrage gestellt.200 8.2.2

Prophetische Sozial- und Kultkritik im 8. Jh. v. Chr.

Im 9. und 8. Jh. war Israel Zankapfel zwischen den umgebenden Großmächten Ägypten und Assyrien und versuchte, sich in wechselnden Bündnissen mit den kleineren Nachbarstaaten gegen diese Großmächte zu behaupten. Nach der Niederlage im syrisch-ephraimitischen Krieg (733 v. Chr.) wurde Israel Vasall Assyriens und zu regelmäßigen Tributzahlungen verpflichtet. Als die Tributzahlungen ausblieben, eroberten die Assyrer Israel, setzten den König ab, deportierten Teile der Bevölkerung und siedelten fremde Bevölkerungsgruppen in Israel an (722 v. Chr.). Neben der ständigen außenpolitischen Bedrohung war das Nordreich im 8. Jh. aber auch

197 198 199 200

Bellah, Religion in Human Evolution, 298. Vgl. a.a.O., 293. Vgl. auch Albertz, Religionsgeschichte Israels, 166–170. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 294. Vgl. a.a.O., 301. Vgl. auch Albertz, Religionsgeschichte Israels, 248.

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innenpolitisch herausgefordert: Der Niedergang der Subsistenzwirtschaft und die Einführung des Rentenkapitalismus‘ führten zu einer Verarmung von Kleinbauern. Einige wenige Großgrundbesitzer verfügten über den Großteil der landwirtschaftlich genutzten Gebiete. Kleinbauern, die als Pächter für die Großgrundbesitzer arbeiteten, gerieten bei Missernten sowie Steuer- und Fronbelastungen mit ihren Familien in Schuldsklaverei. Bellah diagnostiziert: „In times of drought or other difficulty, small farmers had to resort to moneylenders, often large landholders. The laws of credit were such that small farmers became in effect debt slaves, or were even sold into slavery to meet their creditors‘ demands. All of this greatly undermined the effectiveness of the extended kinship system.“201 Diese soziale Ungleichheit provozierte prophetische Sozialkritik, die ihren Niederschlag unter anderem in den biblischen Büchern Amos und Hosea fand.202 Zwar kritisierten solche prophetischen Texte nicht direkt den König, sondern die städtischen Eliten bzw. die lokale Aristokratie und die Großgrundbesitzer. Doch eine Kritik an den lokalen soziopolitischen Verhältnissen beinhaltete laut Bellah immer auch eine Kritik am König, der ja als Garant der soziopolitischen Ordnung galt. Am 5,11-12 kritisierte beispielsweise in Form einer Gottesrede die Ausbeutung von Armen durch die landbesitzende Elite: Darum, weil ihr die Armen unterdrückt und nehmt von ihnen hohe Abgaben an Korn, so sollt ihr in den Häusern nicht wohnen, die ihr von Quadersteinen gebaut habt, und den Wein nicht trinken, den ihr in den feinen Weinbergen gepflanzt habt. Denn ich kenne eure Frevel, die so viel sind, und eure Sünden, die so groß sind, wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt. 

Insbesondere unter Verweis auf die oben zitierte Sozialkritik beobachtet Bellah in prophetischen Texten ab dem 8. Jh. eine Konzentration auf sozialethische Verhältnisse als Kriterium für ein gottgemäßes Verhalten. Gott stehe nicht vorbehaltlos auf der Seite des Königs bzw. der Eliten, sondern Gott trete auf als Garant für soziale Gerechtigkeit, an der sich jeder Herrscher, aber auch die Aristokratie und die Großgrundbesitzer, messen lassen müssten.203 Schuldsklaverei und fehlende Hilfe gegenüber den Armen würden von Gott angeprangert und führten aus prophetischer Perspektive zum göttlichen Gericht, das in der Eroberung Israels bestehe (vgl. Am 2,6). 201 Bellah, Religion in Human Evolution, 301. Vgl. auch Albertz, Religionsgeschichte Israels, 251: „Die gesamtgesellschaftliche Solidarität war zerbrochen; die traditionellen Institutionen, die für Solidarität und gerechten Interessensausgleich hätten sorgen sollen, versagten.“ 202 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 301–305. 203 Vgl. a.a.O., 302: „[T]he sins they [Amos and Hosea] denounce are not just cultic, but ethical, especially the oppression of the weak and the poor by the strong and the rich.“

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Schließlich provozierte laut Bellah die Eroberung des Nordreichs durch die Assyrer eine schriftliche Auseinandersetzung über die Frage, wie die Identität Israels nach dem Verlust des Landes, des Königs und des Tempels neu zu denken war. Denn nach dem Untergang des Nordreichs war die bisher angenommene Einheit von Land, König und Gott zerbrochen. Nach Bellah zeugt unter anderem die in dieser Krisenzeit verschriftlichte Exoduserzählung von der Suche Israels nach einer neuen Identität. Die Exoduserzählung entwerfe diese außerhalb des Landes und ohne einen König und greife so erzählerisch die Situation auf, in der sich Israel nach der Eroberung des Staats faktisch befinde:204 Mose führe das Volk Israel zwar aus Ägypten, doch erscheine er nicht in der Rolle eines Königs, sondern als Beauftragter und Prophet JHWHs ohne eigene herrschaftliche Macht und vor allem ohne eigenes Land. Israel siedle heimatlos in der Wüste. Diese Erzählmomente begründeten eine alternative Konzeption israelitischer Identität: Most importantly, however, what emerged [in Ex 32] was a new political form, a people in covenant with God, with no king as ruler. Moses is a teacher and a prophet, not a king, and the Torah underscores this point, not only by God’s prohibition of Mose’s reaching the promised land, but by the account of his death. Moses died in the land of Moab [...]. [W]e might see Moses as a kind of „transitional object,“ as a way for people who knew only monarchical regimes to give up the king and begin to understand what an alternative regime might be like.205 8.2.3

Die Revolution des Deuteronomiums

Bellah skizziert zunächst knapp den soziopolitischen Hintergrund Judas im 7. Jh. v. Chr., bevor er eine Beschreibung dessen gibt, was er als „deuteronomische Revolution“206 versteht, die den eigentlichen achsenzeitlichen Durchbruch in Israel bedeute. Nach dem Ende des Nordreichs sowie bedingt durch die ökonomische Blüte Judas rückte das Südreich stärker in den Fokus der umgebenden Großmächte. Spätestens seit dem 7. Jh. war Juda Vasall des assyrischen Großreichs. In einem Vasallenvertrag verpflichtete sich Juda zur Anerkennung der assyrischen Vorherrschaft über Juda und zu regelmäßigen Tributzahlungen. Die Loyalität gegenüber Assyrien beinhaltete auch die Anerkennung der assyrischen Königsideologie und die Verehrung des assyrischen Staatsgottes Assur als obersten Gott. Bei Verstoß gegen die Tributzahlungen drohte die Zerstörung Judas.207

204 205 206 207

Vgl. a.a.O., 311. Ebd. Vgl. a.a.O., 305. Vgl. a.a.O., 307. Vgl. auch Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte, 116.

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Als Juda unter König Hiskia die Tributzahlungen für Assyrien verweigerte, eroberte Assyrien im Jahr 701 weite Teile des Südreichs und ließ nur noch einen Rumpfstaat zurück. In dieser Situation entstand um 622 das Deuteronomium als ein Text, der sich angesichts von Judas Vasallenstatus kritisch mit der assyrischen Herrschaft über Juda auseinandersetzt und zugleich die politische und religiöse Identität Judas neu denken will. Der politischen Situation Judas begegneten die Verfasser des Deuteronomiums laut Bellah mit ausgeprägtem „religiösem Widerstand“208 , welcher theologisch begründet wurde. Das Deuteronomium griff in seiner theologischen Kritik zunächst auf bestehende assyrische Vasallenverträge zurück und setzte diese in einen neuen Kontext. Gemäß des Deuteronomiums existierte zwar ein Vertragsschluss eines Herrschers mit Juda, nur war dieser Herrscher nicht der assyrische Großkönig, sondern JHWH. Die Aufforderung, JHWH zu lieben und in seinen Wegen zu gehen (vgl. Dtn 6,5; Dtn 8,6) nahm Formulierungen assyrischer Vasallenverträge auf und stellte sie in einen neuen Bezugsrahmen. Das Deuteronomium proklamierte einen Vertrag zwischen dem Volk Israel und JHWH, der an die Stelle des assyrischen Großkönigs trat. Insofern sprach das Deuteronomium dem assyrischen Herrschaftsanspruch über Juda jede Gültigkeit ab und proklamierte kontrafaktisch die ausschließliche Vasallität Judas gegenüber JHWH. Das Deuteronomium lieferte nach Bellah somit einen programmatischen Gegenentwuf zu assyrischen Vasallenverträgen.209 Doch das Deuteronomium depotenzierte nicht nur den assyrischern Herrscher, sondern führte auch eine deutliche Unterscheidung ein zwischen Gott auf der einen und dem judäischen König auf der anderen Seite. Königliches Handeln wurde nicht autonom gedacht, sondern musste sich laut dem Deuteronomium an Gottes Gesetz orientieren, welches im Buch Deuteronomium selbst gegeben war (vgl. Dtn 17,1820). Die Verschriftlichung des Gotteswillens in Form eines Gesetzbuchs konnte nach Bellah dazu beitragen, dass dem Herrscher durch den in Textform vorliegenden Gotteswillen ein kontrollierendes Element beigestellt wurde, das die Willkür des Herrschers gegenüber seinen Untertanen begrenzen sollte. Insofern die Herrschaft des Königs laut Dtn 17,18-20 an externe Rechtsbestimmungen gebunden war, spricht Bellah von einer „konstitutionellen Monarchie“210 im Deuteronomi-

208 Bellah, Religion in Human Evolution, 307. 209 Vgl. a.a.O., 309. Vgl. auch Otto, Deuteronomium, 74: „Man entzieht dem assyrischen König die religiöse Legitimation seiner Herrschaft, indem man den Loyalitätseid, der ihm geschworen wurde, direkt zitierend auf JHWH überträgt: Mit neuassyrischer Motivik der adê einschließlich der Gottesadê wird gegen den neuassyrischen Herrschaftsanspruch und damit auch gegen den Gott Assur argumentiert.“ 210 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 312.

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um. Ausgehend vom Glauben an den einen Gott imaginiere das Dtn eine „neue Gesellschaft“211 sowie eine neue Sichtweise auf die Welt insgesamt: A God who is finally outside society and the world provides the point of reference from which all existing presuppostions can be questioned, a basic criterion for the axial transition. It is as if Israel took the most fundamental symbolism of the great archaic civlizations – God, king and people – and pushed it to the breaking point where something dramatically new came into the world.212

Zugleich räumt Bellah abschließend ein, dass die oben beschriebene „theoretische Kultur“213 verstanden als rationale Durchdringung der Welt, als logische Deduktion und als Frage nach einer Methode zur Wahrheitsfindung, die er als Kennzeichen der Achsenzeit bestimmt hatte (siehe E.IV.8.1.1), in Israel nur wenig entfaltet ist.214 Denn beispielsweise überzeuge das dtn Narrativ von JHWH als dem Bundespartner Israels stärker durch seine rhetorische Kraft als durch „logisches Argument“215 . Der im Dtn proklamierte Glaube an einen transzendenten Gott, der der eigentliche Bundespartner Israels ist, sei vielmehr selbst ein Narrativ, das sich als Überbietung des Narrativs der assyrischen Königsideologie verstehe.216

V.

Gesamtauswertung zu Robert Bellah

1.

Bellahs Verständnis von Evolution und von Religion

Bellah verwendet den Evolutionsbegriff in einer dreifachen Bedeutung. Er versteht Evolution erstens als Paradigma, mit dem sich die Geschichte der Natur ebenso wie die menschliche Geschichte beschreiben lasse. Der „Kampf ums Dasein“217 sei das die Geschichte der Natur und die menschliche Geschichte verbindene Prinzip. Zugleich gestatte bereits die Natur gewisse Spielräume, in denen der Seletionsdruck

211 A.a.O., 311. 212 A.a.O., 322. Vgl. so auch Assmann, Mosaische Unterscheidung, 110. Vgl. auch Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 110. 213 Bellah, Religion in Human Evolution, 580. 214 Vgl. a.a.O., 311f. 215 A.a.O., 312. Als Referenz für diese Einschätzung, dass in Israel die theoretische Kultur nicht voll entfaltet ist, verweist Bellah auf Stephen A. Geller: Sacred Enigmas: Literary Religion in the Hebrew Bible, London 1996, 31. 216 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 322. 217 A.a.O., 77. Vgl. ähnlich auch Theißen, Jesusbewegung, 245, der Geschichte als „Verteilungskampf um Lebenschancen“ begreift.

Gesamtauswertung zu Robert Bellah

verringert oder aufgehoben werde: Das Spiel der – durch ihre Eltern versorgten – Säugetierkinder stelle einen solchen ersten „entspannten Raum“218 im Rahmen der biologischen Evolution dar. Daher ist es nach Bellah der Anfangs- und Grundbaustein für all diejenigen Entwicklungen in der biologischen und kulturellen Evolution, die Selektionsdruck verringern und mehr Leben als bisher ermöglichen. Zu diesen Entwicklungen zählt Bellah auch religiöse Rituale, die eine „alternative Wirklichkeit“219 jenseits des Darwinschen Überlebenskampfes schafften; insbesondere aber die achsenzeitlichen Religionen mit ihrer rituell und narrativ artikulierten Kritik an sozialer Ungleichheit. Insofern sei der Darwinsche Überlebenskampf keine unveränderliche Größe, sondern würde durch naturale und kulturelle Prozesse immer schon mitgestaltet und potentiell abgemildert. Mithilfe der Evolutionstheorie entwickelt Bellah zweitens eine evolutionäre Anthropologie: Differenziert beschreibt er den Menschen mithilfe dieser evolutionären Anthropologie als einerseits durch bestimmte evolutionär erfolgreiche Verhaltenstendenzen bestimmt, wie das Streben nach Dominanz innerhalb der Gruppe oder die Wahrnehmung von Menschengruppen hinsichtlich der Unterscheidung zwischen der eigenen und der fremden Gruppe.220 Zugleich verfüge der Mensch andererseits über im Laufe der Evolution entstandene mimetische und mythische Fähigkeiten, durch die er sich seine Umwelt handelnd, erzählend und nachdenkend erschließe und gestalte. Weil Menschen ihre Umwelten nicht nur instinktiv, sondern auch bewusst und nachdenkend mitgestalten, sind sie nach Bellah in der Lage, instinkthafte archaische Verhaltensweisen wie Hierarchiestreben oder Aggression gegen Fremde zu reflektieren und sie potentiell zu unterlaufen.221 Bellah verwendet die Evolutionstheorie drittens als Paradigma, um solche geschichtlichen Entwicklungen zu beschreiben, die durch Komplexitätssteigerung gekennzeichnet sind.222 In diesem Sinne lasse sich die Entwicklung von Stammesgesellschaften bis hin zu achsenzeitlichen Kulturen als kulturelle Evolution begreifen, weil diese Gemeinschaften im Laufe der Geschichte sozial und politisch ausdifferenzierter und somit komplexer würden. Auch von einer Evolution der Religion im Sinne einer Komplexitätssteigerung kann Bellah sprechen, insofern sich Religion von ihrer ursprünglichen Funktion der Stabilisierung der Gruppe in Stammesgesellschaften gelöst habe und in der Achsenzeit zu einer eigenständigen Größe geworden sei, die sich kritisch zu politischen und sozialen Gegebenheiten verhalten

218 219 220 221

Bellah, Religion in Human Evolution, 77. Ebd. Vgl. a.a.O., 83. Ebd. Vgl. auch Miles, Review Essay: Robert Bellah, Religion in Human Evolution, 862. Jack Miles argumentiert hier dahingehend, dass Bellah eine „narrowly functionalist anthropology” zurückweise und die Selbstreflexivität und Kreativität menschlichen Verhaltens betone. 222 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 597.

209

210

Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

könne.223 . Somit dient Bellah die Evolutionstheorie als grobes Raster, um religiöse und kulturelle Veränderungen mithilfe des Kriteriums der Komplexitätssteigerung zu strukturieren und anzuordnen. Die inhaltliche Konkretisierung dessen, worin die Evolution von Kulturen und Religionen hin zu größerer Komplexität im Einzelnen besteht, bleibt bei Bellah jedoch sozialgeschichtlichen, politikgeschichtlichen, ideengeschichtlichen sowie theologischen Überlegungen vorbehalten. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Bellah sein Konzept der Achsenzeit entwickelt. Das Aufkommen der Achsenzeit könne man nur vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Krise bestimmter Kulturen verstehen.224 Als Reaktion auf diese Krise sei in achsenzeitlichen Religionen die Überzeugung einer „transzendenten Wirklichkeit“225 aufgekommen, von der herkommend bestehende soziopolitische Verhältnisse kritisiert würden. Gott und Herrscher würden nicht mehr länger als Einheit verstanden. In seiner Darstellung der Achsenzeit verbindet Bellah also sozial- und politikgeschichtliche Elemente mit ideengeschichtlichen und theologischen Perspektiven über eine transzendente Wirklichkeit. Insgesamt verknüpft Bellah sein Verständnis der Evolution der Religion mit Erkenntnissen aus Religions- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte und Theologie und schafft so ein eigenes spekulatives „Metanarrativ“226 , das über empirische Einzelbeobachtungen hinausgeht: das Metanarrativ von der schrittweisen, stärkeren Distanzierung des Menschen von seinen evolutionären Umweltvorgaben hin zur achsenzeitlichen Erkenntnis einer transzendenten, eigentlichen Realität. Positiv rezensiert wurden an Bellahs Entwurf „Religion in Human Evolution“ vor allem die Rahmenkapitel, die das Verhältnis von Religion und Evolution unter-

223 Vgl. a.a.O., 40: „[I]t [the Axial Age] implied that political acts could be judged in terms of standards that the political authorities could not finally control.“ 224 A.a.O., 270. 225 A.a.O., 276. 226 Heim, Review Essay, Religion in the Perspective of „Big History”, 116: „He [Bellah] aims to provide an account that is humanistic in rejecting reductionism, but scientific in accepting science’s modern creation myth as the only metanarrative available to him as a social scientist.“ Stephen M. Heim bewertet ein solches Metanarrativ jedoch kritisch, weil es spekulativ sei: „[T]he very nature of this narrative is an exponential multiplication of [...] uncertainties by each other“ (a.a.O., 115). Vgl. auch ähnlich die Kritik bei Smilde, Book review. Religion in Human Evolution, 550, der Bellahs Anliegen, eine große Erzählung von Ursprung und Entwicklung der Religion zu entwerfen, kritisiert, weil dadurch die Auseinandersetzung mit „key challengers“ zu kurz komme. Vgl. auch Stroumsa, Robert Bellah on the origins of religion. A Critical Review, 469 f., der Bellahs Ansatz jedoch würdigt: „In a sense, one can perceive this first part of Religion in Human Evolution (chapters one to five) as an essay in meta-science, a fundamental relection going beyond the traditional disciplinary boundaries, making use of all possible intellectual ammunition in order to seek insights on the very roots of human existence.“

Gesamtauswertung zu Robert Bellah

suchten, und die „deeply original“227 seien. Insbesondere die evolutionäre Genese des Rituals aus dem Spiel der Säugetierkinder wird als innovative Erkenntnis bewertet. Ebenso gewürdigt wird Bellahs Argument, dass das Ritual aus evolutionärer Perspektive der erste und ursprünglichste Bestandteil der Religion ist.228 Durch die evolutionäre Verortung der Religion in Spiel und Ritual gelingt es Bellah, einer Reduktion des Religionsverständnisses auf kognitive Überzeugungen vorzubeugen. Er arbeitet stattdessen stärker die enaktive229 Komponente von Religion heraus, wonach Religion in gegebene natürliche und kulturelle Umwelten sowohl eingebettet ist als diese auch gestaltet. Eine solche Gestaltung von Umwelten geschehe durch das Ritual, durch das soziale Beziehungen in einer bestimmten Weise inszeniert und gestaltet würden. In ähnlicher Weise wie Rituale seien auch religiöse Narrative seit den ersten Stammesgesellschaften bleibender Bestandteil jeder Religion und verfügten als sinnstiftende Erzählung über orientierenden Charakter, indem sie einen als sinnvoll erlebten Rahmen für das Verhalten des Einzelnen und der Gruppe, in die der Einzelne eingebettet ist, schafften.230 Stärker kognitive Elemente wie abstrakte Reflexion oder rationale Kritik gehörten zwar seit der Achsenzeit ebenfalls zur Religion, doch existierten sie nicht jenseits der jeweiligen Rituale und Narrative einer Religion, sondern nur verwoben mit diesen. Bellah entwickelt hier einen komplexen, mehrdimensionalen Begriff von Religion, wonach Religion Verhaltensorientierung und Sinnproduktion durch Rituale und Narrative bietet, aber auch zugleich eine Reflexion dieser Rituale und Narrative enthält. 2.

Bellahs Konzept der Achsenzeit

Das Aufkommen achsenzeitlicher Kulturen um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. ist nach Bellah der Höhepunkt einer evolutionären Entwicklung von der episodischen, über die mimetische und die mythische Kultur. In der Achsenzeit seien in unterschiedlichen Kulturen rationales und analytisches Nachdenken – die von Bellah sogenannte „theoretische Kultur“231 – zum ersten Mal um ihrer selbst willen aufgetreten jenseits von pragmatischen Überlegungen. Konkret beinhalte die theoretische Kultur eine kritische Reflexion bisheriger Annahmen über die Welt und frage nach deren Wahrheit bzw. Plausibilität. Eine solche Metareflexion führe im Bereich der Religion

227 Miles, Review Essay: Robert Bellah, Religion in Human Evolution, 854. Vgl. auch Barrett, Book Symposium, 225. 228 Vgl. Miles, Review Essay: Robert Bellah, Religion in Human Evolution, 856f. 229 Vgl. zum Begriff des Enaktivismus: Thompson, Mind in Life, 15. 230 Vgl. auch Barrett, Book Symposium, 226. 231 Bellah, Religion in Human Evolution, 273.

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Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

dazu, dass bestehende religiöse Narrative und Rituale und die in ihnen enthaltenen Annahmen infrage gestellt würden.232 Insbesondere die Herrscherideologie in entstehenden Flächenstaaten, in denen der Herrscher als Sohn Gottes verstanden wurde und seine Gesetze als sakrosankte kosmopolitische Ordnungen gedeutet wurden (vgl. E.IV.7), sowie die soziale Ungleichheit erfahre in der Achsenzeit eine grundlegende, religiös motivierte Kritik.233 Zum Beispiel ermöglichte laut Bellah in Israel der Glaube an den transzendenten und gerechten Gott JHWH Kritik an der bestehenden Herrscherideologie sowie an den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt. In dieser Tradition der israelitischen Kritik soziopolitischer Ungleichheit unter Verweis auf einen gerechten und gütigen Gott steht nach Bellah dann auch das Christentum,234 wenngleich Bellah die Bezüge zwischen dem achsenzeitlichen Israel und dem Christentum nicht genauer erläutert. Gegenüber der Verwendung des Konzepts der Achsenzeit wird von Geschichtsund Kulturwissenschaftlern jedoch zur Vorsicht gemahnt, weil dieses Konzept unterschiedliche historische Phänomene stark vereinfache im Bemühen, die Vielfalt voneinander relativ unabhängiger partikularer historischer Entwicklungen vergleichbar zu machen. Der Begriff der Achsenzeit sei daher von einem „normativen Interesse“235 und keinem ausschließlich historisch-deskriptiven Interesse geprägt mit dem Ziel, übergreifende Prinzipien zur Beschreibung menschlicher Kulturen zu finden. Daher könne der Begriff lediglich als „heuristisches Mittel“236 gebraucht werden. Der Beobachtung, wonach das Konzept der Achsenzeit als heuristisches Mittel zur Strukturierung geschichtlicher Entwicklungen dient, ist zuzustimmen, da anhand der obigen Darstellung der Achsenzeit deutlich festzustellen ist, dass es Bellah nicht um eine rein deskriptive Darstellung partikularer historischer Entwicklungen geht, sondern darum, diese Entwicklungen unter der Leitperspektive zu untersuchen, wie dort das Verhältnis von Gott und Herrscher bestimmt worden ist. Insofern dient der Begriff der Achsenzeit Bellah als Strukturprinzip, um parallele, aber weitgehend unabhängig voneinander stattfindende historische Entwicklungen unter einer gemeinsamen Fragestellung zu subsumieren. Der Begriff der Achsenzeit lässt sich allerdings insofern begründet anwenden, als dass alle als achsenzeitlich bezeichneten Kulturen „eine Spannung zwischen der vorgefundenen Realität [...] und

232 Vgl. a.a.O., 117f.: „[T]heory […] challeng[ed] myth at the most general level of cultural selfunderstanding“. 233 Vgl. a.a.O., 274. 234 Vgl. a.a.O., 267. 235 Dittmer, Jaspers’ „Achsenzeit“ und das interkulturelle Gespräch, 202. Vgl. auch Assmann, Achsenzeit, 268. 236 Dittmer, Jaspers’ „Achsenzeit“ und das interkulturelle Gespräch, 202.

Gesamtauswertung zu Robert Bellah

ihren ‚transzendenten Visionen‘ des Guten, Gebotenen und Wahren“237 durchzieht, wie Jan Assmann beobachtet. Allerdings muss die Angemessenheit der Anwendung des Konzepts der Achsenzeit immer im Wechselgespräch mit historischen Einzelbeobachtungen erwiesen werden, um vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden. Unklar an Bellahs Darstellung bleibt seine metaphysische Interpretation der Kritik achsenzeitlicher Religionen. Bellah interpretiert die Ideologiekritik achsenzeitlicher Religionen nämlich nicht nur aus einer pragmatischen Perspektive, indem er nach den Gründen oder Absichten solcher Kritik fragt (z. B. als Reaktion auf soziale Ungleichheit in entstehenden Flächenstaaten). Vielmehr ist er zugleich der Überzeugung, dass die achsenzeitlichen Religionen in ihrer religiösen Kritik zur „Natur der Wirklichkeit“238 vorgestoßen seien, bzw. eine „transzendente Wirklichkeit“239 erkannt hätten (vgl. E.IV.8.1.2). Diese These Bellahs bleibt allerdings Postulat: Denn der Glaube an die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit in achsenzeitlichen Religionen sagt noch nichts über die tatsächliche Existenz einer solchen Wirklichkeit aus.240 3.

Die abschließende Intention von „Religion in Human Evolution“

Letztlich haben Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven auf Religion nicht nur das Ziel, über Evolution und Religionen aus evolutionstheoretischer, religionstheoretischer und historischer Perspektive zu informieren. Bellah möchte darüber hinaus eine Orientierung geben hinsichtlich des Umgangs mit Religionen in einer religiös-pluralen Welt. Er stützt sich dabei auf seine im Laufe des Buches entwickelten Erkenntnisse zur Evolution der Religion.241 Dass es in vier voneinander relativ unabhängigen Kulturen und Religionen – im antiken Israel, in Griechenland bei Platon, bei Konfuzius in China und beim Buddha in Indien – zu einer achsenzeitlichen Wende kam, wird von Bellah zunächst

237 Assmann, Achsenzeit, 273. Vgl. auch Guhin, Review on Robert Bellah, Religion in Human Evolution, 416: „More importantly, the book succeeds in its argument, making an impressive case [...] that religious evolution and the axial age ought to be taken seriously as concepts and causal explanations.“ 238 A.a.O., 282. 239 A.a.O., 276. 240 Vgl. ähnlich bereits die Kritik an Gerd Theißens metaphysischer Interpretation der Evolutionstheorie (vgl. unter C.III.2.1.3 in dieser Arbeit). 241 Bellah, Religion in Human Evolution, 602: „But I would like to close by discussing another practical intent of my work. That is the possibility we have of understanding our deeepest cultural differences, including our religious differences, in a dramatically different way than most humans have ever done before. Ethnocentrism can be found everywhere, so we should not be surprised to find it among our ancestors. […] Buddha, […] Plato, confucius, Second Isaiah, all thought that it was they and they alone who had found the final truth.“

213

214

Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

als Kritik an der Vorrangstellung und dem Überlegenheitsgefühl einer einzigen Religion bzw. Kultur gegenüber anderen angeführt.242 Stattdessen verwendet Bellah das Konzept der Achsenzeit in einem anti-imperialen Sinn: In jeder der vier achsenzeitlichen Religionen bzw. Kulturen werde die Ineinssetzung von göttlicher Ordnung und dem jeweiligen Herrscherwillen angesichts innerer und äußerer Krisen infrage gestellt und zurückgewiesen. Zugleich werde eine „universally egalitarian ethic“243 proklamiert. Insofern Bellah diese achsenzeitliche Proklamation in unterschiedlichen religiösen Traditionen gegeben sieht, würdigt er jede dieser Religionen auf ihre Weise und beschreibt, wie sie, von ihren unterschiedlichen Traditionen herkommend, für die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit als Größen unabhängig vom Herrscherwillen plädierten. Doch zugleich macht Bellah deutlich, dass eine solche achsenzeitliche Ideologiekritik und das Eintreten für Marginalisierte nicht abstrakt auftritt, sondern sich mit sinnstiftenden religiösen Narrativen und Ritualen verbindet. Zwar werde in der Achsenzeit Kritik an dem Narrativ, wonach die faktische königliche Herrschaft der göttlich gewollten Ordnung entspricht, geäußert. Narrative würden in der Achsenzeit aber nicht grundsätzlich abgeschafft, sondern lediglich, informiert durch kritische Reflexion, transformiert: „Donald’s mimetic and mythic forms of culture are reorganized by theoretical innovation but not abandoned.”244 Das Fortbestehen von Ritualen und Narrativen habe einen sachlichen Grund: Denn die Antworten auf die Frage nach dem guten Leben stützten sich auf Erfahrungen und Überzeugungen, die zwar nicht irrational sein müssten, die aber durch vernünftiges Nachdenken und einen falsifizierbaren Diskurs alleine nicht hergeleitet werden könnten. Auch aus evolutionstheoretischer Sicht macht Bellah deutlich, dass Narrative und Rituale als Mittel zur Sinnstiftung, Orientierung und Strukturierung menschlichen Lebens unverzichtbar sind. Menschen hätten bereits seit Beginn der kulturellen Evolution ihre gemeinschaftlichen Beziehungen, ihr Handeln und ihre Identität durch Rituale und Narrative strukturiert und orientiert und dadurch Kooperation in der Gruppe ermöglicht. Der Mensch sei mithin von Natur aus ein soziales Wesen,

242 Vgl. a.a.O., 603: „What I am thinking of now is the increasing number of serious students of religion who can accept religious pluralism as our destiny without making a claim to the superiortiy of one tradition. In the midle of the twentieth century a great steop forward in this respect came in Karl Jaspers’s The Meaning and Goal of History, where he used the phrase ‚axial age‘ to apply to several great traditions that emerged in the first millennium BCE“. Vgl. auch die Einschätzung von Jack Miles, Review Essay: Robert, Religion in Human Evolution, 859, der Bellah einen „intellectually grounded pluralism“ zuspricht. 243 Bellah, Religion in Human Evolution, 573. 244 A.a.O., 605.

Gesamtauswertung zu Robert Bellah

das durch geteilte Narrative und Rituale Gemeinschaft und Verhaltensorientierung herstelle.245 Diese Überzeugung Bellahs von der bleibenden Bedeutung sinnstiftender Narrative und Rituale impliziert, dass eine Religion nie abstrakt, sondern nur konkret existieren kann und dass jede Religion unvermeidlich in eigene partikulare Ritualund Erzähltraditionen eingebunden ist und bleibt.246 Daher lässt sich im Ausgang von Bellahs Überlegungen unter Zuhilfenahme eines Terminus des lutherischen Theologen Hardin Meyer für eine „versöhnte Verschiedenheit“247 zwischen den Religionen plädieren, welche die Partikularität der eigenen religiösen Traditionen akzeptiert und affirmiert und zugleich andere Religionen respektiert. Der Grund für diesen Respekt anderen Religionen gegenüber liegt, so lässt sich mit Bellah argumentieren, darin, dass die jeweilige religiöse Tradition dem Glaubenden zwar ein Zuhause bietet, das sinnhafte Orientierung gibt, das aber zugleich „no Absolute Home in general“248 ist. Eine aus universeller Vernunft deduzierbare und darum allgemein geteilte Religion gibt es nicht, weil Religionen in ihren sinnstiftenden Narrativen und Handlungen immer schon mehr aussagen als das, was durch reine Vernunft ausgesagt werden kann.249 Bellahs evolutionäre Religionstheorie ist gerade in diesem Punkt wegweisend und hilfreich für das Verständnis von Religionen insbesondere in einer religiös pluralen Welt. Religionen können dann so verstanden werden, dass die Unverzichtbarkeit und Unaufgebbarkeit einer Vielfalt an religiösen Ritualen und Narrativen ersichtlich wird. Zugleich ist aber auch mit Bellah eine Kritik an solchen Ritualen und Narrativen möglich, die die tyrannische Herrschaft einer Einzelnen durch

245 Vgl. a.a.O., 35. Vgl. ähnlich auch Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens, 56: „Gleich einer Kultur oder Sprache ist sie [die Religion] ein gemeinschaftliches Phänomen, das viel eher die Subjektivität Einzelner prägt, als daß sie in erster Linie eine Manifestation dieser jeweiligen Subjektivität wäre. [...] Ihre Lehrsätze, kosmologischen Erzählungen oder Mythen und ethischen Anweisungen sind unauflöslich mit den Riten, die sie praktiziert, den Empfindungen oder Erfahrungen, die sie hervorruft, den Handlungen, die sie nahelegt, und den institutionellen Formen, die sie entwickelt, verbunden.“ 246 Vgl. ähnlich auch Tietz, Konfessionslosigkeit, 52. Christiane Tietz plädiert hier für den Fortbestand „reflektierte[r] und rituell geprägte[r] Formen religiöser Traditionen.“ 247 Meyer, Versohnte Verschiedenheit, 675. 248 Herbert Fingarette: The Self in Transformation: Psychoanalysis, Philosophy, and the Life of the Spirit, New York 1963, 237; zitiert bei Bellah, Religion in Human Evolution, 605. 249 Der Begriff der „Vernunftreligion“ taucht bei Immanuel Kant in seiner Religionsschrift auf (vgl. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 14). Otfried Höffe interpretiert diesen Begriff so, dass der „unverzichtbare[...] Kern“ der Religion laut Kant eine „von allem Historischen absehende reine Vernunftreligion“ sei. Religion sei nach Kant zumindest potentiell durch die Vernunft alleine konstituierbar (vgl. Höffe, Einführung in Kants Religionsschrift, 9). Gegen die These von der Möglichkeit einer solchen reinen Vernunftreligion im Kantschen Sinne wendet sich Bellah in seiner Arbeit.

215

216

Bellahs evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung von Religionen

den Verweis auf einen vermeintlichen Gotteswillen zu legitimieren suchen. Rituale und Narrative als unverzichtbar für jede Religion zu würdigen, heißt daher nicht, dass alle religiösen Rituale und Narrative gleichwertig und gleich richtig sind. Die Forderung, dass religiöse Rituale und Narrative keinen Machtmissbrauch stützen dürfen, stellt vielmehr seit der Achsenzeit den Mindeststandard dar, an dem alle Religionen gemessen werden müssen.

F.

Auswertung

Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass die evolutionstheoretischen Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion von Theißen, Mühlmann und Bellah einerseits in einigen Bereichen verschiedene Ergebnisse liefern und andererseits in anderen Bereichen zu ähnlichen Resultaten führen. Zunächst soll die Verschiedenheit der Ergebnisse beschrieben und die Gründe für ihre Verschiedenheit benannt werden. Diese Verschiedenheit markiert zugleich den Grenzbereich dessen, was evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion leisten können: Denn evolutionstheoretische Perspektiven sind, wie zu zeigen sein wird, abhängig von den jeweiligen hermeneutischen Vorannahmen ihrer Autoren und können daher divergieren. Zudem ist das Verständnis der Evolutionstheorie abhängig vom jeweiligen Forschungsstand zur Evolution und kann sich im Lauf der Zeit wandeln. Schließlich verbindet sich die Theorie der Evolution, wenn sie zur Beschreibung menschlicher Geschichte genutzt wird, mit historischen und anderen fachwissenschaftlichen Perspektiven, die sie konkretisieren. Insofern ist die Theorie der Evolution auf Erkenntnisse aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen angewiesen. Eine alles erklärende Metatheorie, wie Edward O. Wilson und Richard Dawkins meinen (vgl. A.I und B.III.3 in dieser Arbeit), ist die Evolutionstheorie daher nicht. An die Darstellung und Begründung der Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven von Theißen, Mühlmann und Bellah schließt sich die Untersuchung darüber an, in welchen Bereichen die Autoren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Diese ähnlichen Resultate stellen eine Art Minimalkonsens dessen dar, was evolutionstheoretische Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion leisten können. Dieser Konsens benennt daher abschließend die Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion.

I.

Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

1.

Die Verbindung der Evolutionstheorie mit den hermeneutischen Vorannahmen der jeweiligen Autoren

Die Verschiedenheit der evolutionstheoretischen Perspektiven von Theißen, Mühlmann und Bellah zeigt sich in ihrem Verständnis und ihrer Verwendung des Begriffs der Evolution. Jeder der drei Autoren versteht unter dem Begriff der Evolution

218

Auswertung

etwas Anderes. Zudem unterscheiden sich die Autoren in ihrer Bewertung des Verlaufs der Evolution: Gerd Theißen ordnet die Evolution in einen theologischen Interpretationsrahmen ein. Denn er versteht Evolution als Anpassung an die göttliche „Gesamtwirklichkeit“1 und baut die Größe Gott so selbst in die Evolutionstheorie ein. Er plausibilisiert diese Annahme, indem er Gott zunächst als „unbedingte […] Variationstoleranz“2 definiert und dann darauf verweist, dass die kulturelle Evolution im Vergleich zur biologischen Evolution faktisch durch eine Minderung des Selektionsdrucks und durch die Ermöglichung von mehr Lebenschancen für viele gekennzeichnet sei.3 Theißen interpretiert die Evolution im Anschluss an diese Beobachtung ingesamt als Vorgang der fortschreitenden Verringerung von Selektion und insofern als fortschreitende Anpassung an eine variationstolerante Wirklichkeit, an Gott.4 Doch geht er mit einer solchen theologisch-fortschrittsgeschichtlichen Interpretation der Evolution methodisch über das hinaus, was die Evolutionstheorie als naturwissenschaftliche Theorie zu leisten vermag. Denn diese kennt keine Gesamtwirklichkeit als Ziel evolutionärer Anpassung, sondern nur lokale Umwelten.5 Die ‚Hypothese Gott’ als eine Empirisches übersteigende Größe kann daher durch das evolutionstheoretische Raster nicht abgebildet werden. Auch kann die Evolutionstheorie methodisch bzw. erkenntnistheoretisch die Frage nach einem Ziel der Evolution nicht beantworten.6 Dass Selektionsminderung zur Norm für menschliches Verhalten in der Evolution wird, weil Gott gütig ist und das Leben aller will, ist daher eine theologische Überzeugung, die Theißen von einer bestimmten Interpretation des christlichen Glaubens herkommend entwickelt und dann in die Evolution einträgt. Die ‚Hypothese Gott’ dient dann der Orientierung des Verhaltens in der Evolution, ist aus der Evolution selbst aber nicht ableitbar oder deduzierbar.

1 2 3 4

Theißen, Neutestamentliche Christologie, 239. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 158. Vgl. a.a.O., 71. Vgl. ebd.: „Kultur [ist] eine Anpassungsform an die Realität, in der diese eine vorher unvorstellbare Variationstoleranz zeigt.“ Vgl. auch die Interpretation Theißens durch Siguard Daecke, Putting an End to Selection, 158. Für Theißen sei die Anpassung an die göttliche Gesamtwirklichkeit „an aim inherent in the evolutionary process“ (ebd.). 5 Vgl. Ayala, Evolution, 31: „An unterschiedlichen Orten oder unter unterschiedlichen Bedingungen bevorzugt die natürliche Auslese jeweils andere Merkmale: genau jene, die den Organismus besser an die jeweiligen Lebensumstände anpassen“. 6 Vgl. Körtner, Schöpfung, Kosmologie und Evolution, 76: „Als metaphysische wie natürlich-theologische Kategorie schlug der Gedanke der Teleologie die Brücke zwischen traditioneller Schöpfungslehre und naturwissenschaftlichem Denken. Der Verlust dieses Verbindungsgliedes ist nicht leicht zu überschätzen.“ Vgl. ähnlich auch Link, Wahrnehmung der Natur als Schöpfung, 60.

Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Heiner Mühlmann verwendet die Evolutionstheorie zur Beschreibung menschlicher Kultur gerade nicht im Sinne eines theologischen Fortschrittsmodells. Vielmehr dient ihm sein Konzept der Evolution der Kulturen als Raster, von dem ausgehend er dahingehend argumentiert, dass Kulturen zu ihrer Identitätsbildung notwendig auf Krieg und Gewalt gegen andere Kulturen angewiesen sind.7 Die Entwicklung von kleinen, lokalen Gemeinschaften hin zu Krieg führenden Kulturen geschehe daher iterativ und zugleich ‚blind‘, sodass Menschen nur schwer Einfluss auf diese Entwicklung nehmen könnten. Eine solche kaum beeinflussbare, gerichtete Entwicklung der Kulturen hin zu Gewalt bezeichnet Mühlmann als Evolution. Mühlmann verwendet den Evolutionsbegriff also in dem Sinne, dass er einen unbewussten und schwer regulierbaren Vorgang der wiederholten Gewalt beschreibt.8 Die Theorie der Evolution lässt sich aber auch, wie bei Robert Bellah, primär als Komplexitätssteigerung und als Zunahme an Fähigkeiten des Menschen verstehen. Mimetische, mythische und selbstreflexive Fähigkeiten seien im Laufe der Evolution des Menschen entstanden und hätten zu einer gesteigerten menschlichen Einflussnahme auf Umwelten geführt. Der Mensch reagiere weniger instinktiv auf seine Umwelt, sondern in steigendem Maße intentional. Er könne Situationen und Handlungen inszenieren, deutend eine Vielzahl an Ereignissen für sich verstehbar machen und auch seine eigenen Inszenierungen und Deutungen noch einmal kritisch reflektieren.9 Bellah betont in seiner Lesart der Theorie der Evolution also den Gewinn an Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Vorgaben der Umwelt, welche der Mensch im Laufe der Evolution erlangt habe: „[H|uman capacities really have grown dramatically“.10 Insofern zeigt sich im Vergleich der drei Autoren, dass es nicht die eine evolutionstheoretische Perspektive zur Beschreibung menschlicher Geschichte gibt. Vielmehr hat die Evolutionstheorie bei jedem der Autoren einen anderen Akzent. Jeder von ihnen verbindet sie nämlich mit unterschiedlichen hermeneutischen Vorannahmen wie dem Gedanken menschlicher Kultur als Fortschritt im Vergleich mit der Naturgeschichte, der bei Gerd Theißen aufscheint, dem Verständnis von menschlichen Gemeinschaften als Kriegssystemen bei Heiner Mühlmann oder dem Verständnis von menschlicher Geschichte als Zunahme an gestaltenden Fähigkeiten des Menschen bei Robert Bellah.

7 Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 7. Kultur sei ein „aktives System, das Krieg erzeugt und durch Krieg erzeugt wird“ (ebd.). 8 Vgl. a.a.O., 21: Kultur ist ein „wildes Tier, dessen Verhalten sich dem direkten Einfluss der Menschen entzieht“. 9 Vgl. Bellah, Religious Evolution, 23. 10 Bellah, Religion in Human Evolution, 599.

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220

Auswertung

Daher liefert die Evolutionstheorie an sich zwar Bausteine und Konzepte zur Beschreibung von Naturgeschichte und menschlicher Kultur. Doch erst in der Verbindung dieser Bausteine mit den jeweiligen hermeneutischen Vorannahmen der Verfasser wird die Evolutionstheorie zu einer zusammenhängenden Erzählung, die es vermag, eine kohärente Entwicklungsgeschichte der Natur und des Menschen zu entwerfen. Insbesondere von philosophischer Seite ist dieser Zusammenhang angemerkt worden. So bemerkt die Philosophin Mary Midgley: The theory of evolution is not just an inert piece of theoretical science. It is, and cannot help being, also a powerful folktale about human origins. [...] Facts will never appear to us as brute and meaningless; they will always organize themselves into some sort of story, some drama.11

In ähnlicher Weise bemerkt auch der Philosoph Kristian Köchy, dass die Theorie der Evolution zwar Fakten darstellt. Doch tauchten solche evolutionären Fakten nie ‚rein‘, das heißt unverbunden mit Perspektiven, die diese Fakten strukturierten, auf. Weltanschauliche, soziologische und erkenntnistheoretische Vor- oder Hintergrundannahmen färbten die Theorie der Evolution immer schon ein: [V]on Beginn an [sind] ‚wissenschaftsexterne‘ Faktoren in die naturwissenschaftliche Begriffsbildung eingewandert: Religiöse, metaphysische, gesellschaftliche, ökonomische und psychologische Vorannahmen oder Rahmenkonzepte haben die naturwissenschaftliche Theorienbildung beeinflusst oder gefärbt.12

Ferner hängt bereits die Auswahl an Fakten, die in einer Theorie der Evolution präsentiert werden, davon ab, welche Ereignisse dem Verfasser als wichtig erscheinen und welche Verbindungslinien er ziehen möchte. Auch die Bewertung evolutionärer Entwicklungen hängt von Annahmen ab, die die Evolutionstheorie selbst nicht bereitstellen kann. Ob zum Beispiel die Erfindung des Werkzeugbaus als gut bewertet wird, weil sie eine höhere Gestaltungsfähigkeit des Menschen gegenüber seiner Umwelt darstellt, oder als schlecht bewertet wird, weil so effektiver Gewalt ausgeübt werden kann als ohne Werkzeuge, kann nicht aus der Evolutionstheorie selbst abgeleitet werden. Vielmehr hängt eine solche Bewertung von im Laufe der Evolution erworbenen Fähigkeiten von nicht-evolutionstheoretischen Kriterien ab. In diesem Sinne äußert sich der Philosoph Georg Toepfer:

11 Midgley, Evolution as a religion, 1.4. 12 Köchy, Die Idee der Evolution, 69.

Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Selbst wenn also kulturelle Praktiken […] biologisch erklärt werden können […], schließt dies eine (sekundäre) Bewertung und Systematisierung dieser Praktiken nach internen […] Kriterien, die jenseits der biologischen Referenzen stehen [...], nicht aus.13

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Evolutionstheorie, sobald sie eine zusammenhängende Geschichte der Entwicklung des (menschlichen) Lebens erzählt, sich automatisch mit den hermeneutischen Vorannahmen der jeweiligen Verfasser einer solchen Geschichte verbindet. Somit gibt es nicht die eine Lesart der Evolutionstheorie, sondern eine Vielzahl an Lesarten. Dies erklärt daher zum Teil, warum die evolutionstheoretischen Perspektiven von Theißen, Mühlmann und Bellah in einigen Punkten verschieden sind. 2.

Die Veränderung der Evolutionstheorie durch neue Forschungen

Der zweite Grund für die oben beschriebenen unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs der Evolution bei Theißen, Mühlmann und Bellah liegt in der Evolutionstheorie selbst begründet. Denn diese ist als naturwissenschaftliche Theorie Veränderungen unterworfen, die durch neue Ergebnisse in der Forschung zur Evolutionstheorie aufkommen.14 Dass die Evolutionstheorie durch neue Forschungen Veränderungen durchläuft, hat sich auch in dieser Untersuchung gezeigt. Es wurde deutlich, dass in Theißens evolutionstheoretischem Entwurf von 1984 das Konzept der Anpassung zentrale Bedeutung für sein Verständnis von Evolution hat. Eine unveränderliche Wirklichkeit setzt nach Theißen die Bedingungen, an die sich Lebewesen durch Mutationen anpassen. Ein solches adaptationistisches Verständnis der Evolution entspricht dem damaligen Stand der Forschung zur Evolution, bei dem davon ausgegangen wurde, dass Evolution vor allem durch Anpassung an Umwelten erfolgt. Dabei setzt die jeweilige Umwelt die Bedingungen, an die der Organismus, meist durch Genmutation oder Rekombination von Genen, besser oder schlechter angepasst ist.15 Neuere Forschungen zur Evolution betonen demgegenüber, dass nicht alles, was in der Evolution entsteht, eine unmittelbare Anpassung darstellen muss, sondern auch das Nebenprodukt einer erfolgreichen Anpassung sein kann.16 Zudem wird hervorgehoben, dass Lebewesen Nischenkonstrukteure

13 Toepfer, Evolution, 101. 14 Vgl. auch Bowler, Evolution, 380: „[M]any different theories of evolution have been proposed over the last two hundred years and considerable differences of opinion arise even within modern science.“ 15 Vgl. a.a.O., 347: „The synthesis, especially in its ‚hardened‘ form, took it for granted that evolution was driven solely by the demands of adaptation.“ Vgl. auch Toepfer, Evolution, 67–70. 16 Vgl. Bowler, Evolution, 363.

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sind, die ihre Umwelten im Laufe ihres Lebens verändern.17 Lebewesen sind in dieser Perspektive daher sowohl Subjekte als auch Objekte18 der Evolution: „Durch Nischenkonstruktion wird der Selektionsdruck der Umwelt mitverändert und die Organismen werden zu Ko-Direktoren ihrer eigenen Evolution.“19 Dieser veränderten Forschungslage zur Evolutionstheorie entspricht, dass der Begriff der Anpassung in den neueren evolutionstheoretischen Entwürfen von Mühlmann und Bellah, die ab 2004 entstanden sind, eine geringere Rolle spielt als noch bei Theißen. Stattdessen betont Bellah in Übereinstimmung mit dem evolutionstheoretischen Prinzip der Nischenkonstruktion, dass bereits Primaten ihre sozialen und natürlichen Umwelten intentional mitgestalten können.20 Wenn aber bereits nicht-menschliche Tiere zu intentionaler Nischenkonstruktion fähig sind, so gilt dies umso mehr für Menschen. Diese gestalten durch technische Errungenschaften nicht nur in einem weitaus höheren Maße als Tiere ihre Umwelten, sondern tun dies zugleich auch tendenziell selbstreflexiv. Dadurch kann, wie Mühlmann bemerkt, der Gang der ansonsten blinden Evolution beeinflusst werden.21 Das Verständnis von Evolution als Anpassung an eine vorgegebene Wirklichkeit wird in neueren evolutionstheoretischen Entwürfen also modifiziert. Schließlich lässt sich feststellen, dass die Evolutionstheorie eine komplexe Theorie „mit nur locker verbundenen Teiltheorien“22 ist. Abhängig davon, welche Teiltheorie man stärker betont, ergibt sich ein anderes Verständnis von Evolution. Im Vergleich des Entwurfs von Mühlmann mit demjenigen von Bellah wird dies besonders deutlich. Mühlmann integriert Ansätze aus der evolutionären Psychologie und betont davon herkommend die bleibende Bezogenheit menschlichen Wahrnehmens auf evolutionär erfolgreiche, psychologische Mechanismen bzw. kognitive Module als „Fertigbauteile des kognitiven Gesamtverhaltens“23 . Solche kognitiven Module könnten nicht abgeschaltet werden und bildeten daher lebenslang ein Raster, durch das Menschen ihre Umwelten wahrnähmen.24 Bellah erwähnt die Theorie der kognitiven Module hingegen nur am Rande und grenzt sich zugleich von ihr ab.25 Er

17 Vgl. F. John Odling-Smee, / Kevin N. Laland, / Marcus W. Feldman: Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton / Oxford 2003. 18 Vgl. Maßmann, Auf der Grenze, 326. 19 Sumser, Evolution der Ethik, 57. Vgl. auch Eva Jablonka, Eva / Marion J. Lamb: Evolution in vier Dimensionen. Wie Genetik, Epigenetik, Verhalten und Symbole die Geschichte des Lebens prägen, Stuttgart 2017. 20 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 93. 21 Vgl. a.a.O., 83. Vgl. auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 80. 22 Köchy, Die Idee der Evolution, 69. 23 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 19. Vgl. zum Begriff der kognitiven Module auch Buss, Evolutionäre Psychologie, 83. 24 Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 72. 25 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 124.628.

Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

orientiert sich stattdessen stärker an einer Theorie der Evolution von menschlicher Kulturfähigkeit. In diesem Sinn interpretiert er Evolution vor allem als Zuwachs an erlernten Fähigkeiten, durch die Menschen in einer kreativen Weise die Welt gestalteten: „My particular interest in evolution is in the evolution of capacities, which has been a remarkable part of the story […]. Such capacities can help us or they can destroy us, depending on what we do with them.“26 Die von Mühlmann und Bellah entwickelten evolutionären Anthropologien erhalten also bei beiden Autoren durch den Rekurs auf unterschiedliche Elemente der Evolutionstheorie jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Bei Mühlmann wird der Mensch unter Verweis auf die evolutionäre Psychologie stärker als in seinem Erleben und Verhalten festgelegt verstanden; bei Bellah wird er unter Verweis auf die evolutionär gewordene Kulturfähigkeit des Menschen stärker als ein freiheitliches, kreativ-gestaltendes Wesen verstanden. Weil die Evolutionstheorie in diesem Sinn bereits in sich eine komplexe, multidimensionale Theorie ist und auf unterschiedliche Arten interpretiert werden kann, produziert sie zwangsläufig unterschiedliche Verwendungsweisen. 3.

Die Theorie der kulturellen Evolution als strukturierendes Raster und ihre Angewiesenheit auf historische Perspektiven

Der dritte Grund für die Unterschiede in den evolutionstheoretischen Perspektiven bei Theißen, Mühlmann und Bellah ist, dass die von ihnen verwendete Theorie der kulturellen Evolution zwar ein „grobe[s] [...] Raster“27 darstellt, mit dem sich geschichtliche Entwicklungen beschreiben lassen. Geschichtliche Veränderungen geschehen in dieser Perspektive nicht zufällig, sondern als Reaktion und kreative Antwort auf die jeweiligen Gegebenheiten der naturräumlichen, sozialen und politischen Umwelten. Doch ist die inhaltliche Bestimmung dessen, worin eine solche kulturelle Evolution konkret besteht, nicht durch die Evolutionstheorie selbst zu leisten. In diesem Sinne argumentieren insbesondere Wissenschafts- und Kulturtheoretiker dahingehend, dass die Theorie der kulturellen Evolution für ihre inhaltliche Füllung auf nicht-evolutionstheoretische Perspektiven angewiesen ist. Es bleibe historischen, soziologischen, psychologischen und ethnographischen Perspektiven vorbehalten, zu erklären, wie die kulturelle Evolution konkret verlaufe. So argumentiert der Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker Tim Lewens:

26 A.a.O., xiv. 27 Toepfer, Evolution, 97.

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When they work at their best, evolutionary models will not suppplant work in developmental and social psychology, ethnography, history, and so forth: instead, their assumptions will be deferential to the deliveries of these more traditional approaches.28

Anhand der in dieser Arbeit diskutierten Entwürfe lässt sich diese Diagnose von Lewens bestätigen: Denn wie im Hauptteil dieser Arbeit gezeigt wurde, dient der Begriff der kulturellen Evolution den drei Autoren als Raster, um religionsgeschichtliche Entwicklungen hinsichtlich einer bestimmten Perspektive darzustellen und zu strukturieren. Um dieses Raster zu füllen, greifen die drei Autoren dann aber von evolutionstheoretischen Perspektiven unabhängige geschichtliche und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf und fassen diese Perspektiven in einer Theorie der kulturellen Evolution zusammen. Weil alle drei Autoren jeweils unterschiedliche historische Situationen mithilfe des Rasters der Theorie der kulturellen Evolution strukturieren, ergeben sich bei jedem der drei Autoren andere evolutionstheoretische Perspektiven: Nach Bellah bedeutet kulturelle Evolution Komplexitätssteigerung. Wie genau diese Komplexitätssteigerung aussieht, wird von ihm aber nicht durch evolutionstheoretische Perspektiven selbst konkretisisert. Vielmehr verwendet Bellah das Konzept der Achsenzeit, um deutlich zu machen, worin diese Komplexitätssteigerung inhaltlich besteht: In der Achsenzeit sei die Fähigkeit des Menschen, die von ihm produzierten sinnstiftenden Narrative und Rituale noch einmal kritisch zu reflektieren, aufgekommen. Insofern stelle die Achsenzeit einen Komplexitätszuwachs gegenüber den bisherigen mimetischen und mythischen Fähigkeiten des Menschen dar.29 Das ideengeschichtliche Konzept der Achsenzeit füllt bei Bellah also das grobe Raster, das die Evolutionstheorie verstanden als Theorie der Komplexitätssteigerung bereitstellt. Auch bei Gerd Theißen fällt auf, dass er die Theorie der kulturellen Evolution mit nicht-evolutionstheoretischen Perspektiven verbindet. Da Theißen seine These, wonach der christliche Glaube eine „antiselektionistische Revolte“30 im Rahmen der kulturellen Evolution darstellt, primär an biblischen Texten zu erweisen sucht, spielen zunächst exegetische Fragen in seinen evolutionstheoretischen Arbeiten eine wichtige Rolle. Doch spielt er auch sozialgeschichtliche Aspekte mit ein, wenn er seine These, dass das Christentum auf einen Ausgleich von Lebenschancen hingewirkt hat, an historischen Beispielen erläutert (vgl. C.V.3 in dieser Arbeit). So zeigt er auf, dass in urchristlichen Gemeinden Menschen mit unterschiedlichem Status zusammen Gottesdienste feierten, Mahlzeiten einnahmen sowie ein Netz

28 Lewens, Cultural Evolution, 183. 29 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 272f. 30 Theißen, Neutestamentliche Christologie, 244.

Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

an Armen- und Krankenfürsorge ausbildeten. Sobald Theißen seine evolutionstheoretischen Perspektiven konkretisiert, tut er dies also neben exegetischen auch mithilfe von religions- und sozialgeschichtlichen Überlegungen. Heiner Mühlmann verbindet die Theorie der kulturellen Evolution schließlich ebenfalls mit nicht-evolutionstheoretischen Perspektiven, insbesondere mit kulturtheoretischen und geschichtlichen Perspektiven: Gemäß seiner Theorie von Kulturen als Kriegssystemen (vgl. D.II.1 in dieser Arbeit) stabilisieren sich menschliche Gemeinschaften mit innerer Notwendigkeit durch Abgrenzung gegen andere. Eine solche kulturelle Entwicklung hin zu Krieg kann nach Mühlmann als evolutionär bezeichnet werden, weil sie unbewusst, automatisch und gerichtet abläuft.31 Diese These von der Evolution der Kulturen konkretisiert Mühlmann dann anhand von geschichtlichen Beispielen von Krieg führenden Kulturen, unter anderem dem Römischen Reich (vgl. D.III.3.2.1). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Theorie der kulturellen Evolution bei allen drei Autoren als ein Raster gebraucht wird, um unterschiedliche religionsgeschichtliche Veränderungen unter den Gesichtspunkten ihrer gerichteten Entwicklung und ihrer Komplexitätssteigerung zu betrachten und hinsichtlich dieser Gesichtspunkte zu strukturieren. Die Theorie der kulturellen Evolution ist zu ihrer inhaltlichen Füllung dabei auf historische Einzelbeobachtungen angewiesen. Zugleich erlaubt das Raster der Evolutionstheorie allen drei Autoren, historische Entwicklungen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Die Theorie der kulturellen Evolution erweist sich so bei allen drei Autoren als Mittel zur Deutung und Strukturierung unterschiedlicher historischer Entwicklungen. Damit die Theorie der kulturellen Evolution jedoch nicht verallgemeinernd über alle (religions)historischen Einzelentwicklungen gelegt wird, und dabei partikulare Ereignisse vorschnell in das Raster einer gerichteten Veränderung bzw. Komplexitätssteigerung eingeordnet werden, muss die Möglichkeit der Anwendung der Theorie der kulturellen Evolution immer am konkreten Einzelfall überprüft werden. Konkrete (religions)geschichtliche Ereignisse und Veränderungen müssen im Gespräch mit der Theorie der kulturellen Evolution daraufhin befragt werden, ob sie tatsächlich auf Herausforderungen der Umwelt reagieren bzw. sich in das Raster der Komplexitätssteigerung einordnen lassen. Die Angemessenheit der Anwendung der Theorie der kulturellen Evolution muss sich daher immer erst im Gespräch mit anderen Disziplinen und am konkreten Einzelfall erweisen. Anders als Richard Dawkins und Edward O. Wilson meinen (vgl. A.I. und B.III.3 in dieser Arbeit), stellen evolutionstheoretischen Perspektiven daher keine allumfassenden Perspektiven zur Beschreibung von Wirklichkeit dar. Vielmehr sind evolutionstheoretische Perspektiven immer abhängig von sie konkretisierenden

31 Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 9.

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historischen Perspektiven, von den jeweiligen hermeneutischen Vorannahmen ihrer Autoren sowie vom jeweils aktuellen Forschungsstand zur Evolution. Zudem ist die Evolutionstheorie eine mehrdimensionale Theorie, sodass sie, abhängig davon, welche ihrer Dimensionen man in den Vordergrund rückt, automatisch unterschiedliche Interpretationen generiert. Schließlich kann die Evolutionstheorie zwar christliche Sozialformen, Praktiken und Symbolsysteme beschreiben und untersuchen, inwiefern diese einer Evolution, das heißt einer nicht zufälligen, gerichteten Veränderung in Auseinandersetzung mit ihren natürlichen und kulturräumlichen Umwelten unterliegen. Über die Wahrheit des christlichen Glaubens können evolutionstheoretische Perspektiven methodisch aber nicht urteilen, da die Wahrheitsfrage auf einer anderen Ebene liegt. Die evolutionäre Genese eines Phänomens und dessen Wahrheit müssen methodisch unterschieden werden.32 Evolutionstheoretische Perspektiven können nur solche Aspekte der christlichen Religion erhellen, die überhaupt durch evolutionstheoretische Kategorien abgebildet werden können. Trotz dieser Grenzen der Leistungskraft evolutionstheoretischer Perspektiven und trotz der Differenzen in ihren evolutionstheoretischen Perspektiven weisen die drei hier referierten Autoren in ihrer evolutionstheoretischen Interpretation der christlichen Religion zugleich viele Gemeinsamkeiten auf. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die drei Autoren in ihren jeweiligen Arbeiten nicht aufeinander verweisen. Weil es diese Ähnlichkeiten gibt, lässt sich darauf schließen, dass evolutionstheoretische Perspektiven in bestimmten Bereichen zum Verständnis und zur Plausibilisierung der christlichen Religion beitragen können. Die christliche Religion ist in einer solchen evolutionstheoretischen Lesart mehr und anderes als lediglich ein Set an kontraintuitiven und darum einprägsamen Dogmen, wie bspw. der Kognitionswissenschaftler Pascal Boyer meint (vgl. auch unter B.III.1.1 in dieser Arbeit).33 Sie ist auch mehr und anderes als ein Mittel zur Kooperation innerhalb der Gruppe, wie der Soziobiologe Edward O. Wilson meint (vgl. auch unter B.III.1.4 in dieser Arbeit).34 Vielmehr kann mithilfe einer evolutionären Anthropologie das Eigentümliche des christlichen Ethos als gruppen- und statusübergreifende Zuwendung zu Bedürftigen herausgearbeitet werden. Zudem lehrt eine evolutionäre Anthropologie den Menschen als ein Natur- und Kulturwesen zu sehen. Vor diesem Interpretationshintergrund lassen sich dann Form und Inhalt christlicher Narrative und Rituale neu bedenken. Die folgende Erörterung benennt daher abschließend die Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven

32 Vgl. Körtner, Evolution, Ethik und Religion, 255. Ulrich Körtner betont, dass sich „aus einer bloßen Beschreibung geschichtlicher Entwicklungen kein normatives Werturteil“ (ebd.) ableiten lässt. 33 Vgl. Boyer, What Makes Anthropomorphism Natural, 92. 34 Vgl. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 310.

Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

zur Beschreibung der christlichen Religion anhand der Schnittmenge der Arbeiten von Theißen, Mühlmann und Bellah.

II.

Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

1.

Evolutionäre Sorge um das eigene Überleben zulasten anderer als Plausiblisierung der biblischen Rede von Sünde

Theißen, Mühlmann und Bellah gehen davon aus, dass der Mensch Produkt der Evolution ist und daher über Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen verfügt, die ihm in seiner evolutionären Vergangenheit faktisch das Überleben ermöglicht haben. Solche evolutionär erfolgreichen Wahrnehmungsmuster und Verhaltensweisen, die durch die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie beschrieben werden,35 würden auch heute noch menschliches Wahrnehmen und Handeln beeinflussen. Theißen spricht unter Rekurs auf die Soziobiologie beispielsweise von einer „biologische[n] Wurzel“36 menschlichen Sozialverhaltens. Ein genetischer Determinismus zu einem bestimmten Verhalten wird von ihm,37 ebenso wie von Mühlmann38 und Bellah39 , jedoch nicht vertreten. Inhaltlich ähnlich sprechen sich alle drei Autoren dafür aus, dass Menschen aufgrund ihres evolutionären Erbes dazu neigen, andere Menschen hinsichtlich von Gruppenzugehörigkeiten wahrzunehmen. Die Unterscheidung zwischen der eigenen Gruppe, der man sich zugehörig fühle, und Fremden sei evolutionär im Menschen verankert.40 Mit dieser Unterscheidung zwischen Binnen- und Außengruppen gehe beim Menschen tendenziell Aggression und Gewalt gegenüber Außengruppen einher; ein

35 Vgl. für einen Überblick: Eckart Voland: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, Berlin / Heidelberg 4 2013. Vgl. auch David M. Buss: Evolutionäre Psychologie, 2., aktualisierte Auflage, München 2004. 36 Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 168. 37 Vgl. a.a.O., 171: „Uns ist bewußt, daß wir prädisponierten Verhaltenstendenzen nicht automatisch folgen müssen. Wir können sie steuern. Aber wir erleiden allzu oft eine Niederlage dabei.“ 38 Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 93. Mühlmann spricht davon, dass der Mensch der Evolution „eine Richtung“ (a.a.O., 80) geben kann, indem er den Kreislauf der Gewalt durchbricht. Durch die Einübung gewaltloser oder gewaltreduzierender Narrative und Rituale könne der Mensch seine evolutionär angelegte Aggression gegenüber Fremden und das gewaltsame Streben nach einem hohen Rang unterlaufen. 39 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 83. 40 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 172. Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 17. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 94.

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Verhalten, was in der evolutionären Vergangenheit von Vorteil war. Standen nämlich Populationen aufgrund knapper Ressourcen unter starkem Selektionsdruck, überlebten diejenigen, die knappe Ressourcen für sich gewinnen konnten. Die Evolution habe daher die Sorge um das eigene Überleben bzw. um das Überleben der eigenen Gruppe zulasten anderer gefördert.41 Doch seien in der Evolution auch andere Verhaltensweisen entstanden, die aus ethischer Sicht positiver zu bewerten sind: Kooperation innerhalb der Gruppe und Hilfe gegenüber Verwandten stellten in der Evolution bei sozial lebenden Tieren überlebensdienliche Verhaltensweisen dar. Gegenseitige Hilfe kam der Gruppe als ganzer zugute ebenso wie dem Einzelnen, weil der Fortbestand der Gruppe zugleich dem Einzelnen Schutz bot. Empathie, das spontane, prä-reflexive Ergriffenwerden von den Gefühlen anderer, entstand bei Säugetiereltern im Rahmen einer gelingenden Aufzucht ihrer noch hilflosen Neugeborenen, konnte aber auch auf andere Artgenossen ausgedehnt werden.42 Das Zusammenleben in Gruppenverbänden selektierte so insgesamt auch prosoziale und empathische Verhaltensweisen, die allerdings häufig, wenngleich nicht ausschließlich,43 auf die Binnengruppe beschränkt blieben. Doch böten, wie Theißen und Bellah bemerken, prosoziale Instinkte in der Natur den Ansatzpunkt, um

41 Vgl. Theißens Beschreibung der menschlichen Geschichte als „Kampf um Lebenschancen“ (Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 208). Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, 83: „Sex and aggression in some form or other go all the way back and are surely still powerful forces in humans today.“ Vgl. auch a.a.O., 94: „In-group solidarity and out-group hostility are recurrent human possibilities at every level from foragers to schoolchildren to nation-states.“ Vgl. Mühlmann, Natur der Kulturen, 75: „Altruismus, der nur innerhalb einer Population praktiziert wird, [verstärkt] das Diskriminierungspotential der Population.” 42 Vgl. De Waal, Primaten und Philosophen, 33: „Die Gefühle anderer so nachvollziehen zu können, dass man von ihnen ergriffen wird, muss etwas sehr Grundlegendes sein, denn solche Reaktionen – und zwar unmittelbar und unkontrollierbar – sind bei ganz unterschiedlichen Tieren beobachtet worden. Vermutlich kamen sie erstmals mit der elterlichen Fürsorge auf, beim Füttern und Schützen verwundbarer Individuen. Bie vielen Tieren erstrecken sich solche Reaktionen jedoch weit über diesen Bereich hinaus bis in Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Erwachsenen hinein.“ 43 Vgl. a.a.O., 48–52: Frans de Waal gibt hier Beispiele von Schimpansen, die die Emotionen auch artfremder Lebewesen mitfühlten und entsprechend reagierten. Freilich gesteht De Waal zu, dass solche Beispiele anekdotischen Charakter haben.

Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

ein solches Verhalten im Rahmen der Kulturgeschichte auch auf Lebewesen jenseits der eigenen Gruppe auszudehnen.44 Die hierarchische Organisation der Binnengruppe und damit zusammenhängend das Streben nach einem hohen Status innerhalb der Gruppe sind ebenfalls evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen, wie Theißen, Bellah und Mühlmann im Anschluss an die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie unisono betonen. Eine hierarchische Organisation der Gruppe habe die Kooperation und Koordination innerhalb der Gruppe erleichtert, weil Zuständigkeiten und Befugnisse durch die Hierarchie festgelegt wurden, statt ständig zeit- und kraftraubend neu ausgehandelt zu werden. Derjenige, der einen hohen Status innehatte, besaß ferner den ersten Zugang zu überlebenswichtigen Ressourcen und Fortpflanzungspartnern. Insofern habe sich ein hoher Status im Lauf der Evolution als vorteilhaft erwiesen.45 Diese von allen drei Autoren in ähnlicher Weise bestimmten evolutionären Verhaltenstendenzen des Menschen können dazu dienen, die biblische Rede von der Sünde zu plausibilisieren. Denn biblisch lässt sich Sünde im Anschluss an Robert Jewetts Römerbriefauslegung als ein Verhalten der Selbstdurchsetzung der eigenen Person und der eigenen Gruppe zulasten anderer beschreiben. Sünde bedeutet dann: „asserting oneself and one’s group at the expense of others“46 . In einem ähnlichen Sinne hatte bereits Theißen in seinem evolutionstheoretischen Entwurf von 1984 betont, dass nach paulinischem Verständnis ein Leben „κατὰ σάρκα“ (Röm 8,4) ein Leben meine, das auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse bzw. der Bedürfnisse der Gruppe auf Kosten anderer ausgerichtet sei. Einem solchen Verhalten setze Paulus die Liebe zum und den freiwilligen Dienst

44 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 194: „Vor allem die Erforschung des Verhaltens von Primaten hat gezeigt: Es gibt schon im Tierreich soziales Verhalten: Empathie, Diplomatie und Versöhnungsbereitschaft.“ Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, xiii: „There are a number of continuities between humans and nonhuman animals and birds [...], but among them are empathy, including occasional empathy with members of other species, a sense of justice, and the capacity for many forms of cooperation.“ 45 Vgl. Theißen, Neutestamentliche Christologie, 243: „Selektion bedeutet: Bevorzugung des in der Hierarchie oben Stehenden, damit jene sich durchsetzen, die ihre Tüchtigkeit im Gerangel um die Hackordnung erwiesen haben“. Vgl. auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 29, wonach Hierarchien Teil der „Binnenorganisation einer erfolgreichen Gruppe“ sind. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 83: „Dominance hierarchy is probably as old as mammal societies.“ Vgl. auch Steven Pinker für eine zusammenfassende Beschreibung sozialer Verhaltenstendenzen als Produkt der Evolution: „Zur Natur des Menschen gehören Motive wie Raublust, Herrschaftstrieb und Rache, die uns zu Gewalt drängen, aber auch Motive […] wie Mitgefühl, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und Vernunft“ (Pinker, Gewalt, 713). Vgl. auch Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 289f. 46 Jewett, Romans, 449.

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am Nächsten entgegen (vgl. Gal 5,22).47 Mühlmann weist in „Die Natur des Christentums“ inhaltlich ähnlich darauf hin, dass „Sünde“48 laut neutestamentlichem Verständnis ein Verhalten bezeichnet, das Hoheit an der Bereitschaft, Gewalt gegen Außengruppen und Rangniedrigere auszuüben, bemisst (vgl. Mk 10,42-45). Das Neue Testament proklamiere demgegenüber Dienst an den Niedrigen als Kriterium für wahre Hoheit: „Ob ein Mensch hoch oder niedrig ist, entscheidet sich […] durch das heroische Töten und durch die heroische Todesbereitschaft. Die Geburtsund Todes-Episoden des Neuen Testaments heben die Unterscheidung von hoch und niedrig auf.“49 Auch die theologische Rede von der Sünde als Macht, der der Mensch ausgeliefert ist,50 lässt sich evolutionstheoretisch einholen: Denn die in der evolutionären Vergangenheit des Menschen erfolgreichen Verhaltensweisen sind dem Menschen als bleibende Verhaltenstendenzen biologisch eingeschrieben; er kann diese Tendenzen nicht einfach auslöschen oder anderweitig beseitigen. So bemerkt der Theologe Gregor Etzelmüller: Dem natürlichen Leben des Menschen, seinem evolutionär gewordenen Körper, ist eine Tendenz eingeschrieben, seine eigenen Interessen – einschließlich der Interessen der Gruppe, der er angehört – auf Kosten anderer – durchaus auch mit Gewalt – durchzusetzen.51

Die evolutionäre Neigung des Menschen zu Aggression und Gewalt stellt daher zumindest eine Vorform menschlicher Sünde dar. Allerdings muss ergänzt werden, dass der Begriff Sünde in biblischer Lesart vor allem aggressives und gewalttätiges Verhalten bezeichnet, das gerade dann praktiziert wird, wenn es nicht um das unmittelbare eigene Überleben geht. In diesem Sinne lässt sich zum Beispiel beobachten, dass Kain Abel dessen Wohlwollen und Ansehen bei Gott neidet (vgl. Gen 4,5) und Abel deshalb erschlägt (vgl. Gen 4,8). Kain selbst befand sich zu dem Zeitpunkt des Mords aber nicht in existentieller Überlebensnot; erst nach dem Mord versagte die Erde dem Ackerbauern Kain auf Gottes Anordnung hin ihren Ertrag (vgl. Gen 4,12).

47 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 177: „Die in Gal 5 genannten drei Gruppen ‚sarkischen‘ Verhaltens – sexuelles, aggressives und konsumorientiertes Fehlverhalten – dürften innerhalb der biologischen Evolution selektionsprämierten Verhaltenstendenzen entsprechen.“ 48 Mühlmann, Natur des Christentums, 65. 49 A.a.O., 72. 50 Vgl. Körtner, Dogmatik, 349: „Es gibt Strukturen des Bösen und der Sünde, in die wir hineingeboren werden und von Geburt an verstrickt sind.“ Vgl. auch Karrer, Art. Sünde, 380. 51 Etzelmüller, Inkarnierte Geschöpfe, 345. Vgl. auch Etzelmüller, Evolution of Sin, 114.

Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

Diese in Gen 4 beschriebene „Gewaltausübung“52 Kains jenseits einer unmittelbaren Überlebensnot lässt sich evolutionstheoretisch plausibilisieren: Denn die evolutionär im Menschen angelegte Neigung zu Aggression und Gewalt kann sich, einmal entstanden, verselbstständigen und dann auch in Situationen praktiziert werden, in denen nicht das eigene Überleben, sondern Macht, Prestige und Einfluss zu gewinnen sind. Es wird dann ohne existentielle Überlebensnot ein Verhalten der „Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung“53 praktiziert: Die biologische Notwendigkeit, Leben zu vernichten, um zu überleben, wird auf das soziale Leben übertragen: Aus Fleischfressern werden (metaphorisch gesprochen) Menschenfresser, die Leben nicht vernichten, um zu überleben, sondern, um sich auf Kosten anderer zu bereichern.54

Sünde bedeutet in einer solchen Interpretation, dass das in der evolutionären Vergangenheit des Menschen zum Überleben erfolgreiche Verhalten der Selbstdurchsetzung zulasten anderer zur Grundlage allen menschlichen Verhaltens wird. Es ist dann nicht die Angst um das eigene Überleben, sondern vielmehr die Angst, „hinter seinen Lebensmöglichkeiten zurückzubleiben“55 , die den Menschen dazu antreibt, die evolutionär angelegten Verhaltenstendenzen der Selbstdurchsetzung zulasten anderer dazu zu verwenden, „die eigenen Lebensmöglichkeiten zu steigern.“56 Sünde lässt sich in dieser Lesart als die Praxis evolutionär erfolgreicher Verhaltensweisen verstehen, ohne dass eine existentielle Überlebensnot gegeben ist.57 2.

Die Bildbarkeit des Menschen durch Narrative und Rituale – der Mensch als Kulturwesen

Die evolutionstheoretischen Perspektiven von Theißen, Mühlmann und Bellah stimmen auch darin überein, dass Lebewesen nicht nur passive Objekte der Evoluti52 Knierim, Art. Sünde, 368. 53 Etzelmüller, Risiken einer verkörperten Schöpfung, 95. Vgl. auch Etzelmüller, Evolution of Sin, 110: „Sin can evolve out of the shadow side of creation [the fact that life lives at the expense of other life], but it is by no means certain that the shadow side will result in sin.“ 54 Etzelmüller, Risiken einer verkörperten Schöpfung, 95. 55 Etzelmüller, Inkarnierte Geschöpfe, 348. 56 Ebd. 57 Einschränkend muss allerdings zugestanden werden, dass es auch andere biblisch orientierte Sündenbegriffe gibt, die Sünde beispielsweise allgemein als Verfehlen der von Gott gegebenen Bestimmung des Menschen verstehen. Sünde meint dann grundsätzliche „Verlorenheit, Scheitern, Mißlingen“ (Härle, Dogmatik, 477), ohne dass damit ein direkter Bezug zu einem Verhalten der Selbstdurchsetzung zulasten anderer geben ist.

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on sind. Die Evolution habe vielmehr Lebewesen hervorgebracht, die gestaltend in Umwelten eingriffen und so den Selektionsdruck und damit den Gang der Evolution mitbeeinflussten.58 Selektion ist mithin kein ausschließlich externer Vorgang, sondern immer schon ein Zusammenspiel aus vorgegebenen Umwelten und deren Beeinflussung durch die Lebewesen. Evolutionstheoretisch wird die Beeinflussung von Umwelten durch Lebewesen mithilfe des Konzepts der Nischenkonstruktion beschrieben.59 Die Fähigkeit zur Nischenkonstruktion teilt der Mensch mit vielen anderen Tieren, sodass sich hier eine evolutionäre Kontinuität ausmachen lässt (vgl. B.I.4 in dieser Arbeit).60 Im Unterschied zu vielen Tieren, die Nischenkonstruktion betreiben, gestalten Menschen ihre Umwelten jedoch nicht nur instinktiv durch angeborene Verhaltensweisen. Vielmehr verfügen Menschen über die Fähigkeit zur Kultur, wie Theißen, Mühlmann und Bellah unisono betonen. Kultur wird hier im Gegensatz zu instinktivem Verhalten verstanden als Fähigkeit, Verhaltensweisen und Überzeugungen durch Lernen zu erwerben. Menschen sind damit immer schon sowohl Natur- als auch Kulturwesen; sie verfügen über instinktive Verhaltenstendenzen aus der biologischen Evolution, aber sie eignen sich zugleich immer schon durch Lernen Verhaltensweisen und Überzeugungen an, durch die sie ihre Umwelten mitgestalten.61 Daher lassen sich Menschen in evolutionstheoretischer Hinsicht als intentionale, lernende Nischenkonstrukteure verstehen. Durch diese menschliche Fähigkeit des Lernens tut sich laut allen drei Autoren ein Spielraum auf, biologisch angelegte Verhaltenstendenzen des Strebens nach Ressourcen zulasten anderer und der Aggression gegenüber Anderen potentiell zu

58 Theißen versteht die menschliche Kulturfähigkeit als Chance, um steuernd in Selektionsvorgänge einzugreifen und diese abzumildern. Vgl. Theißen, Spuren Gottes in der Evolution, 425: „Kultur besteht daher immer in dem Bemühen, Lebens- und Überlebenschancen auch dort zu schaffen, wo sie der natürliche Selektionsdruck nicht gewährt – sei es durch Schaffung einer künstlichen Umwelt, durch Werkzeuge und Technik oder durch Medizin, sei es durch sozialen Ausgleich.“ Auch Mühlmann erachtet es für möglich, dass Menschen ein „projektiertes Ziel in die Evolution ein[bringen]“ (Mühlmann, Natur des Christentums, 87) können. Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, xiii, der unter Verweis auf die Theorie der Nischenkonstruktion von John Odling-Smee allgemeiner bemerkt: „[O]rganisms participate in their own evolution“. 59 Vgl. F. John Odling-Smee / Kevin N. Laland / Marcus W. Feldman: Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton / Oxford 2003. 60 Vgl. auch Mühling, Resonanzen, 193. 61 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 34. Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18. Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 131: „But humans, once mimetic culture had evolved, could participate in, could share, the contents of other minds. We could learn, be taught, and did not have to discover almost everything for ourselves.“ Vgl. ähnlich auch Toepfer, Evolution, 95: „Als entscheidenden Übertragungskanal für die kulturelle Vererbung gilt […] das soziale Lernen, das heißt eine Form des Lernens durch Imitation kultureller Vorbilder.“

Potentiale evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion

unterlaufen oder zumindest alternative Verhaltensmöglichkeiten zu imaginieren.62 Denn die kulturellen Inhalte, die gelernt werden, kann der Mensch bewusst auswählen; sie sind nicht genetisch festgelegt. Insofern können Menschen, wie auch der Philosoph und Biologe Georg Toepfer bemerkt, durch Lernen potentiell solche Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster erwerben, die dem „biologischen Imperativ“63 des eigenen Überlebens auf Kosten anderer widersprechen. Doch darf hier zugleich keine absolute Dichotomie zwischen Natur und Kultur gezogen werden. Die Natur selbst ermöglicht Kultur, das heißt die Evolution bringt den Menschen als Lebewesen hervor, das durch seine Natur zur Kultur befähigt ist und das auf die Natur als bleibender Voraussetzung zur Kultur angewiesen ist.64 Konkret wird der Sachverhalt, dass Menschen immer auch Kulturwesen sind, an der von Bellah und Mühlmann hervorgehobenen Fähigkeit des Menschen zur Sinnproduktion und zur Verhaltensorientierung durch Rituale und Narrative deutlich. Rituale und Narrative sind erlernte Vollzüge und damit dem Bereich der Kultur zuzuordnen. Bereits seit den ersten Stammesgesellschaften (vgl. E.IV.5) ordnen, strukturieren und gestalten Menschen ihr Leben und ihr Verhalten durch Narrative und Rituale. Menschen schaffen durch sie Sinnzusammenhänge und produzieren Ordnung in einer als chaotisch wahrgenommenen Welt.65 Durch ihre strukturie-

62 Vgl. Theißen, Bibelverständnis und Hilfsmotivation, 310. Hier spricht Theißen davon, dass die „‚Etikettierungmacht‘ der Sprache“ dabei helfen kann, dass Menschen ihnen genetisch und kulturell Fernstehende wie Verwandte betrachten und entsprechende Hilfe und Zuwendung leisten. Bellah beschreibt, dass das dtn Narrativ von Gott als exklusiver Bundespartner Israels ein Korrektiv bildet, von dem her bestehende Zwangsherrschaft und herrscherliche Ausbeutung kritisert werden können (vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 323): „Finally, as a result of both the rhetorical and narrative innovations accomplished by ancient Israel, we must understand the social achievement of peoplehood without monarchy, of a people ruled by divine law, not the arbitrary rule of the state, and of a people composed of responsible individuals.“ Vgl. auch Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 93. 63 Toepfer, Evolution, 104. 64 Vgl. Kolesch, Natürlich Kultur, 95. Doris Kolesch plädiert für die die bleibende Verwobenheit von Natur und Kultur und verweist als Beispiel für diese Verwobenheit auf den Ackerbau. Dieser auf Lateinisch cultura bezeichnete Vorgang, von dem sich das deutsche Wort Kultur herleitet, bezeichne die kulturelle Tätigkeit „des Bestellens und der Pflege der Felder“ (ebd.). Der Ackerbau sei jedoch auch auf natürliche Bedingungen angewiesen, nämlich den Boden, die Saat, das Wetter und weitere vom Menschen nicht herstellbare natürliche Bedingungen. Am Beispiel des Ackerbaus zeige sich also, dass Kultur bleibend auf Natur angewiesen ist. 65 Vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 39, wo Mühlmann den Begriff des „Enkulturierungsritual[s]“ verwendet, um zu beschreiben, dass sich Rituale dem menschlichen „Körpergedächtnis“ (Mühlmann, Natur des Christentums, 18) einprägen und so ein bestimmtes Verhalten eingeübt wird. Narrative dienten wiederum zur Begründung einer solchen formierenden Ritualpraxis (vgl. Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, 56). Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, 174: „[C]ultures, even today, can be organized primarily through narrative rather than theory […]. [R]itual, and its inescapably musical base, continues to provide primary meaning.“

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rende und Gemeinschaften verbindende Kraft haben sich Rituale und Narrative im Lauf der kulturellen Evolution bewährt und sind erhalten geblieben. Sie sind noch heute die zentralen und unverzichtbaren Weisen menschlicher Orientierung und Sinnproduktion in der Welt. In diesem Sinn bemerkt auch der Religionsphilosoph Florian Uhl: Sie [Symbol und Ritual] sind es, die mit den ihnen eigentümlichen zeitlichen, narrativen und sozialen Strukturen die Welt durch Gliederung und Distanzierung zu einer bewohnbaren und ‚beherrschbaren‘ machen (in der ganzen Ambivalenz, die in diesem Wort mitschwingt).66

Rituale und Narrative lassen sich konkreter in zweifacher Hinsicht beschreiben. Sie sind einerseits Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft und menschlicher Sinnproduktion: Rituale inszenieren herausgehobene Orte und Zeiten, schreiben vor, welche Spielregeln des Verhaltens an diesen Orten und zu diesen Zeiten zu gelten haben und konstruieren so Situationen und Beziehungen.67 Narrative ordnen und strukturieren die sonst ungeordnete Vielfalt an Erlebnissen und Erfahrungen auf eine solche Weise, dass sich für den Erzählenden eine sinvolle Bewertung dieser Erfahrungen und Ereignisse ergibt. Narrativen sind daher ein unverzichtbarer Teil menschlicher Sinn- und Identitätskonstruktion.68 Andererseits entfalten Rituale und Narrative auch Prägekräfte auf Menschen, die diese einüben: Wer Rituale und Narrative häufig erlebt, übt – geistig wie körperlich – ein bestimmtes Verhalten und eine bestimmte Wahrnehmung der Welt ein. Insbesondere Mühlmann und Bellah haben in diesem Sinne am Beispiel des Rituals als einer auch körperlichen Handlung hervorgehoben, dass es durch Einübung potentiell zur zweiten Natur des Menschen wird.69 Es gehe in Fleisch und Blut über

66 Uhl, Rituale, 326. 67 Bellah, Religion in Human Evolution, 94: „The play features of such ritual would be evidenced in the fact that they would be discrete events, with beginings and ends, that they would take place at particular times [...] and particular places“. 68 Vgl. a.a.O., 34: „Human beings are narrative creatures. Narrativity, as we shall see, is at the heart of our identity“. Vgl. auch a.a.O., 36: „If all were well and all the manner of things were well, why would we need narrative? Unitive events with their profound sense of wholeness do not give rise to narratives“. 69 Vgl. a.a.O., 19. Bellah verweist als Beispiel dafür, wie körperliche Vollzüge angeeignet und automatisiert werden, auf das Fahrradfahren. Einmal gelernt, ‚wisse‘ der Körper automatisch und unbewusst, wie Fahrradfahren funktioniere, weil sich dies dem Gedächtnis des Körpers eingeprägt habe. Mühlmann spricht analog vom „übenden Menschen“ (Mühlmann, Natur des Christentums, 111).

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und werde so fester Bestandteil des eigenen (Er)Lebens.70 Ähnlich äußern sich die Theologinnen Luise Schottroff und Andrea Bieler: Rituelle Handlungen wie etwa essen und trinken, stehen, knien oder sich niederbeugen geben dem ritualisierten Körper eine Gestalt ebenso wie gesprochene oder gesungene Worte, Klänge, der Rhythmus eines Gebets. Solche Handlungen kommunizieren nicht nur spezifisch religiöse Überzeugungen, im Gegenteil, diese Handlungen bringen ritualisierte Körper hervor, in die bestimmte Weisen, das Göttliche zu erkennen, eingeprägt sind.71

Eine ähnliche Prägekraft wie Rituale entfalten auch Narrative: Die Einübung in Narrative als sinnstiftende Erzählungen betrifft nicht nur die kognitive Ebene menschlichen Denkens. Narrative sprechen vielmehr auch die Emotionen an und affizieren den ganzen Menschen. Sie vermitteln Werte des guten Lebens und prägen Menschen in ihrer Haltung bezüglich dessen, was lebens- oder wünschenswert ist.72 So urteilt auch die Philosophin Mary Midgley: „The way in which we imagine the world determines what we think important in it, what we select for our attention among the welter of facts that constantly flood in upon us.“73 Die Gestaltungs- und Prägekraft, die Rituale und Narrative entfalten, ist allerdings grundsätzlich ambivalent, denn die Inhalte der Rituale und Narrative sind mit der Tatsache, dass Menschen Rituale und Narrative verwenden, noch nicht zugleich mitgesetzt. Insbesondere Bellah macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Rituale und Narrative inhaltlich ganz unterschiedlich ausgestaltet werden können und in ethischer Hinsicht höchst ambivalent sind: Einerseits können Rituale und Narrative, wie die Religionsgeschichte gezeigt hat, dazu dienen, Ungleichheit und Gewalt zu inszenieren und religiös zu legitimieren. Insbesondere seit der Entstehung hierarchisch strukturierter Gesellschaften in frühen Hochkulturen (vgl. E.IV.7) können Rituale und Narrative dazu verwendet

70 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 20: „Bodily gestures of a wide variety of forms are intrinsic features of ritual“. Vgl. Mühlmann, Natur des Christentums, 18: „Die ‚starke’ Enkulturierung betrifft Einspeicherungen in das Körpergedächtnis. Die Neurowissenschaften sprechen vom ‚prozeduralen’ Gedächtnis. Alles, was Menschen nur tun können, wenn sie es vorher traniert haben, gehört zur ‚starken’ Enkulturierung.” Als Beispiel für solche wiederholten Handlungen nennt Mühlmann das antike „Opferritual” (a.a.O., 22). 71 Schottroff / Bieler, Das Abendmahl, 188. 72 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 180: „Religiöser Glaube besteht danach in symbolischer Übertragungsfähigkeit – und in der Kraft, mit den symbolischen Deutungen jene Verhaltensweisen und Verpflichtungen auf die symbolisierte Realität zu übertragen, die einmal mit den Bildern verbunden war.“ Vgl. auch Bellah, Religion in Human Evolution, 37, der Narrativen das Vermögen zuspricht, „to reach into our bodies and reformulate our identities, individually and socially“. 73 Midgley, The Myths we Live by, 3.

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werden, bestehende soziopolitische Ungleichheit zu stützen, indem diese Ungleichheit als von Gott gewollt verstanden und rituell inszeniert wird.74 Andererseits können Rituale und Narrative auch dazu dienen, Gerechtigkeit und Frieden zu inszenieren und einzuüben.75 Nach Bellah sind insbesondere Religionen der Achsenzeit durch eine solche Orientierung an und Einübung von Narrativen, die an Gerechtigkeit und Frieden orientiert sind, gekennzeichnet. Angesichts sozialer Verelendung in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften kommt es laut Bellah in unterschiedlichen Religionen um die Mitte des 1. Jt. v. Chr. zu einem theologischen Umdenken: Gott wird in den achsenzeitlichen Kulturen Israel, Griechenland, China und Indien nicht mehr länger als Garant der bestehenden soziopolitischen Ordnung gedacht, sondern in Differenz zu dieser. Gerechtigkeit und Recht werden mit dem als transzendent vorgestellten Gott verbunden und so zu einem externen Maßstab, der kritisch zur Bewertung bestehender soziopolitischer Strukturen angelegt wird (vgl. E.IV.8.1.2 in dieser Arbeit). Auch Theißen betont – freilich nur am Beispiel des Monotheismus in Israel im 6. Jh. v. Chr. –, dass im Glauben Israels der transzendente JHWH eine kritische Größe bildet, von der herkommend bestehende ungerechte soziopolitische Verhältnisse kritisiert werden können.76 Folgt man der Beobachtung dieser beiden Autoren, lässt sich festhalten, dass das Narrativ eines transzendenten und zugleich gerechten Gottes in unterschiedlichen Religionen einen kritischen Maßstab zur Beurteilung soziopolitischer Gegebenheiten darstellt. Schließlich lässt sich mit Bellah und Mühlmann darauf verweisen, dass Menschen Rituale und Narrative nicht blind entwerfen und befolgen müssen. Auch wenn bestimmte Rituale und Narrative sich einmal etabliert haben, sind Menschen nicht gezwungen, diese unhinterfragt weiter zu praktizieren und zu tradieren. Vielmehr verfügen Menschen über die Fähigkeit der kritischen Reflexion ihres Tuns oder Meinens, das heißt über ein „second-order thinking“77 oder über eine „Reflexivität zweiter Stufe“78 . Damit ist gemeint, dass sie die Möglichkeit haben, sich ihr eigenes Handeln und ihre eigenen Annahmen zu vergegenwärtigen und zugleich über die Angemessenheit dieses Handelns und dieser Annahmen noch einmal

74 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, 201. 75 Vgl. a.a.O., xix. Vgl. auch Mühlmann, Natur des Christentums, 125. 76 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 110. Vgl. auch Assmann, Mosaische Unterscheidung, 80. 77 Bellah, Religion in Human Evolution, 275. Vgl. auch Mühlmann, Natur des Christentums, 111: Das Bewusstsein des Menschen sei „imstande, zeitversetzt und mit der Intelligenz eines Ingenieurs die eigenen prozeduralen und emotionalen, d. h. nicht deklarativen Aktivitäten zu managen.” 78 Vgl. Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie, 298.

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nachzudenken.79 Auf Rituale und Narrative angewandt bedeutet dies, dass deren Praxis und Ausgestaltung nicht zufällig oder beliebig ist, sondern im beständigen Wechselspiel mit kritischer Reflexion erfolgt. Eine solche kritische Reflexion führt dazu, die potentiell in Narrativen und Ritualen enthaltene Legitimierung ungerechter soziopolitischer Strukturen unter Verweis auf einen vermeintlichen Gotteswillen aufzudecken; sie hat also ideologiekritischen Charakter. 3.

Biblische Rituale und Narrative als Einübung in Statusverzicht und Hilfe gegenüber Marginalisierten

Narrative und Rituale sind die im Laufe der Evolution entstandenen zentralen Weisen, wie Menschen sich in der Welt orientieren und wie sie ihr Leben verstehen, führen und gestalten. Es sind dabei vor allem Religionen, in denen Narrative und Rituale als Größen der Orientierung menschlichen Verhaltens häufig und eng verzahnt auftreten. Daher kann von dieser Beobachtung ausgehend die christliche Religion versuchsweise unter den Kategorien von Ritualtätigkeit und Narrativen beschrieben werden. Das Charakteristische der christlichen Religion ist nicht, dass Narrative und Rituale kritisiert oder abgelehnt würden. Vielmehr ist auch die christliche Religion bleibend durch diese geprägt. Nur weil die christliche Religion über Narrative und Rituale verfügt, die sich dem Körper, den Emotionen und der Kognition des Menschen zugleich einprägen, kann sie erfolgreich generationenübergreifend tradiert werden. Die Erzählgemeinschaft des Glaubens konstituiert sich als Leib Christi durch leibliche Vollzüge: durch die Kommunikation des Evangeliums von Angesicht zu Angesicht, durch die Taufe als ein Geschehen am eigenen Leib, durch das Sich-Versammeln zum gemeinsamen Essen und Trinken im Abendmahl.80

Das Spezifische der christlichen Religion liegt also nicht darin, dass sie Narrative und Rituale ausbildet, sondern es liegt in der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Narrative und Rituale. Diese sind – folgt man einer bestimmten Lesart der christlichen Religion – informiert durch die biblische Forderung der Nächstenliebe jenseits der eigenen Gruppe und durch die Forderung nach Statusverzicht der Mächtigen. Biblische Narrative und Rituale transzendieren damit evolutionär gewordene,

79 Vgl. Bellah, Religion in Human Evolution, xix. Vgl. auch Mühlmann, Natur des Christentums, 111. Vgl. auch Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie, 298: „Die spezifische Reflexivität des Kulturellen und der kulturellen Evolution betrifft somit nicht nur das primäre Verhalten, das durch sekundäres Lehr- und Lernverhalten modelliert wird, sondern auch noch dieses Lehr- und Lernverhalten selber“. 80 Etzelmüller, Was ist evangelische Haltung, 176.

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menschliche Verhaltenstendenzen der Selbstdurchsetzung zulasten anderer und Wahrnehmungsmuster zur Unterscheidung von ‚innen’ und ‚außen’ bzw. ‚oben’ und ‚unten’.81 Als Konkretisierung dieser These lässt sich exemplarisch auf zwei in der Bibel genannte Rituale hinweisen, die sich im Sinne Theißens und Mühlmanns als Kritik an Statusbezeugungen auf Kosten anderer und als Ausweitung von Nächstenliebe auf Personen jenseits der Binnengruppe interpretieren lassen. Allerdings ist methodisch darauf hinzuweisen, dass die biblische Beschreibung dieser Rituale noch kein Beleg dafür ist, dass und wie diese Rituale religionsgeschichtlich tatsächlich praktiziert wurden. Die Auswahl genau dieser biblischen Rituale aus einer Fülle möglicher anderer ist ferner Ausdruck der theologischen Grundüberzeugung, dass Gott Liebe ist und das Leben aller seiner Geschöpfe will (vgl. 1. Joh 4,16). Von dieser theologischen Grundüberzeugung herkommend werden aus der Vielfalt biblischer Rituale und der mit ihnen verbundenen Narrative bestimmte Rituale und bestimmte Narrative ausgewählt, die diese Grundüberzeugung widerspiegeln. 3.1

Rituale und Narrative in Dtn 16,1-17

Nathan MacDonald interpretiert die in Dtn 16 beschriebenen jährlichen Feste Israels – das Passa, des Wochenfest und das Laubhüttenfest – als „incorporated memories“, die eng mit Narrativen, mit „inscribed memories“82 , verbunden seien. Diese Rituale und Narrative verstärkten sich nicht nur wechselseitig,83 sondern dienten auch der Konstruktion der sozialen Beziehungen der Israeliten untereinander.84 Von dieser Prämisse ausgehend beobachtet MacDonald zunächst, dass laut Dtn 26,5 im Rahmen des Passafests ein Narrativ vorgetragen werden soll. Die Israeliten sollen einen kurzen Abriss der geglaubten (Heils)Geschichte rezitieren, wie sie JHWH aus Ägypten befreit und in das Land, „darin Milch und Honig fließt“ (Dtn 26,9), gebracht hat. MacDonald interpretiert, dass Dtn 26,5 darauf abzielt, dass sich die Israeliten anhand dieses Narrativs ihre (geglaubte) Herkunft und Geschichte vergegenwärtigen: „The creed is to be recited during the offering of the firstfruits

81 Vgl. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 146. Vgl. auch Mühlmann, Natur des Christentums, 80.87: Neutestamentliche Narrative und Rituale sublimierten Aggression nach außen und das Streben nach einem hohen Rang innerhalb der Gruppe. 82 MacDonald, Not bread alone, 96. 83 Vgl. a.a.O., 96: Deuteronomy „holds together inscribed and incorporated memories, seeing them as mutually supportive.“ 84 A.a.O., 95: „In the book of Deuteronomy, narratives of past hospitality and inhospitality provide an important means of expressing social relations and constructing identity.“

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at the sanctuary, and is presumably presented to the hearer of Deuteronomy as something to be memorized for that event.“85 Außerdem ziele das Passafest nicht nur auf eine kognitiv zu erlernende, sondern auch auf eine „verkörperte“86 Erinnerung ab. Denn das Passa werde gefeiert, indem sieben Tage lang ungesäuertes Brot gegessen werde. Das ungesäuerte Brot verweise laut Dtn 16,3 zeichenhaft auf den erinnerten Exodus, die Nacht des hastigen Auszugs, in der keine Zeit mehr blieb, das Brot durchsäuern zu lassen. Die Feier des Passa wird durch das Essen von ungesäuertem Brot so selbst zu einem sinnlich wahrnehmbaren Verweis auf das Narrativ des Exodus. One of the most obvious places in which food is a vehicle for memory is in ritual acts of eating. [...] [F]ood and communal meals are the basic means by which Deuteronomy establishes its particular memory of the past among the Israelites.87

Auch die Feier des Wochen- und Laubhüttenfests wird nach MacDonald mit einem theologischen Narrativ verbunden: Denn beide Erntefeste interpretierten die Ernte als Folge der Landgabe durch JHWH nach der Befreiung aus Ägypten: „The Israelite landowner remembers Egypt from the vantage point of the land which has yielded the produce with which he can be generous.“88 Das Wochen- und Laubhüttenfest zelebrierten die Freude sowohl über JHWHs Gabe des Landes als auch konkreter über die Erträge des Landes als Folge dieser Gabe. Die Freude über die Ernte werde auf diese Weise mit einem theologischen Narrativ verbunden – der Befreiung aus Ägypten und der Landgabe durch JHWH. In diesem Sinne heißt es in Dtn 16,15: Sieben Tage sollst du dem HERRN, deinem Gott, das Fest halten an der Stätte, die der HERR erwählen wird. Denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen in deiner ganzen Ernte und in allen Werken deiner Hände; darum sollst du fröhlich sein.

Das Wochen- und Laubhüttenfest vergegenwärtige jedoch nicht nur eine theologische Erinnerung an die Vergangenheit, sondern diese Erinnerung wirke wiederum

85 A.a.O., 77. 86 Vgl. a.a.O., 96. 87 MacDonald, Not Bread Alone, 72.96. Vgl. ähnlich auch Etzelmüller, Zu schauen die schönen Gottesdienste, 370: „Nach dtn Konzeption wird also im Kult auf zweifache Weise gelernt: zum einen durch das kognitive Verarbeiten der vorgetragenen Inhalte, zum anderen durch das Erlebnis des Rituals als solchem.“ Vgl. auch Braulik, Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels, 142: „Beim Hören und Wiederholen dieser Sozialordnung im Kult, dem zweiten Ort des Lernens, erfährt ganz Israel wie einst in Moab Jahwefurcht und kann seine gesellschaftliche Welt neu leben.“ 88 MacDonald, Not Bread Alone, 82.

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auf die Ausgestaltung der Feste selbst zurück. Denn diese Feste zielten auf die Integration gerade der Marginalisierten, Armen und Besitzlosen in die gemeinsame Mahlfeier ab. Fremde, Witwen und Waisen, der land- und besitzlose Levit sowie die eigenen Sklaven würden an den Mahlfeiern teilnehmen und dabei von den landbesitzenden Israeliten mit Speisen versorgt.89 Begründet werde die Integration marginalisierter Personengruppen in die Festgemeinschaft unter Verweis auf das theologische Narrativ des Exodus: Die Güte, die JHWH ganz Israel in der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und der anschließenden Landgabe erwiesen habe, sollten die Israeliten auch den Bedürftigen in der eigenen Gesellschaft erweisen: „In Deuteronomy the experience of Egyptian slavery and redemption is used to motivate actions towards the poor and vulnerable in Israel, particularly through the provision of food.“90 Die Freude über die Errettung und Versorgung durch JHWH begründet und motiviert laut Dtn 16,11-12 also die Versorgung der Bedürftigen in der eigenen Gesellschaft: Und du sollst fröhlich sein vor dem HERRN, deinem Gott, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd und der Levit, der in deiner Stadt lebt, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Mitte sind, an der Stätte, die der HERR, dein Gott, erwählen wird, dass sein Name da wohne. Denke daran, dass du Knecht in Ägypten gewesen bist, und beachte und halte diese Gebote.

Zusammenfassend wird in den jährlichen Erntefesten ganz konkret eine Haltung der Geschwisterlichkeit und Mitmenschlichkeit eingeübt, die jedem Menschen, auch dem Armen und Exkludierten, Anteil an den Erträgen des Landes gibt. Begründet wird eine solche Ausgestaltung der Erntefeste durch theologische Narrative, die in der konkreten Feier der Erntefeste ihren rituellen Ausdruck finden. So wird die theologisch begründete Hilfe gegenüber Marginalisierten nicht nur im Narrativ gefordert, sondern im Ritual zugleich zeichenhaft ausagiert.

89 Vgl. a.a.O., 93. Vgl. auch Köckert, Leben in Gottes Gegenwart, 37: „Fest und Mahl gewähren auch denen Anteil an diesen Gaben, die keinen eigenen Grund und Boden besitzen.” Vgl. auch Etzelmüller, Zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn, 369: „Das soziale Elend der typischen Sozialfälle der antiken Welt – der Fremden, Waisen und Witwen – wird nicht lägner im Kult ausgeblendet, sondern in der gemeinsamen Opfermahlzeit überwunden.” 90 MacDonald, Not Bread Alone, 92. Vgl. auch Albertz, Religionsgeschichte Israels, 432: „[D]ie religiösen Befreiungstraditionen Israels verpflichten jeden Israeliten, sich aus Dankbarkeit für die geschenkte Freiheit für die versklavten und entrechteten Mitbürger einzusetzen.“ Vgl. auch Köckert, Leben in Gottes Gegenwart, 38: „[B]ei der Gewährung der Gleichheit aller im Fest (16,12) motiviert die Erinnerung an den eigenen Sklavenstatus in Ägypten das Gebot.“

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3.2

Das Ritual des Abendmahls als Einübung eines Gabentauschs

Um zu erläutern, inwiefern das Abendmahl als ein Ritual verstanden werden kann, das alternative Verhaltensweisen jenseits der Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer einübt, werden im Folgenden Gedanken aus der Monographie von Andrea Bieler und Luise Schottroff „Das Abendmahl. Essen, um zu leben“ (2007) aufgegriffen. Der Grund für die Auswahl dieses Werks aus einer Fülle möglicher anderer ist, dass Bieler und Schottroff das Abendmahl als ein Ritual verstehen, das „eine Gegen-Liturgie“91 zur Ökonomie des Marktes einübt, wonach die „Realisierung des Eigeninteresses“92 das höchste Gut darstellt. Mit diesem Verständnis des Abendmahls stellen sie einen Anknüpfungspunkt dar für Theißens und Mühlmanns Interpretation des christlichen Glaubens als Gegenentwurf zu einem evolutionär erfolgreichen Verhalten der Selbstdurchsetzung zulasten anderer. Das Ritual des Abendmahls stehe zum gewöhnlichen Streben nach der „unbegrenzten Akkumulation“93 von Ressourcen und zum Streben nach persönlichem Profit quer. Denn für gewöhnlich neigten Menschen, angeregt durch entsprechende Narrative über unendlich zur Verfügung stehende Ressourcen, zur Akkumulierung von Gütern, die idealerweise ins Grenzenlose zu steigern sei.94 Der Andere werde dann nicht mehr als Mensch mit einem Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel wahrgenomen, durch den (weitere) Güter erworben werden könnten. Im Unterschied dazu werde im Abendmahl symbolisch eine Haltung des gegenseitigen Teilens eingeübt mit dem Ziel, dass jeder das Nötige zum Leben habe. Das Abendmahl sei daher „eine machtvolle rituelle Handlung in der symbolischen Ordnung der Ökonomie des Gabentausches“95 . Schottroff und Bieler erläutern dieses Verständnis des Abendmahls, indem sie darauf hinweisen, dass es in theologische „Imaginationen“96 eingebettet ist, die den Charakter des Abendmahls informieren. Solche theologischen Imaginationen verkündeten Gottes vorgängige und grundsätzliche Güte gegenüber der Welt. Gott habe eine Welt geschaffen, in der er Jesus Christus „als ein Geschenk“97 und als eine „Gabe“98 zugunsten der Menschen gegeben habe. Der Glaube an Gottes vorgängige, Leben ermöglichende Zuwendung zur Welt schaffe daher eine Wahrnehmung der Welt als Ort der Fülle. Eine solche Wahrnehmung der Welt als

91 92 93 94 95 96 97 98

Schottroff / Bieler, Das Abendmahl, 29. A.a.O., 129. Ebd. Vgl. a.a.O., 130. A.a.O., 154. A.a.O., 46. A.a.O., 139. A.a.O., 138.

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Ort der Fülle begründe und motiviere wiederum ein entsprechendes Verhalten der großzügigen Güterteilung. Die Glaubenden teilten im Abendmahl daher eine Mahlzeit miteinander und pflegten so einen „Austausch von Gaben, bei dem nicht die Akkumulation, sondern das Geben die wichtigste Handlung ist“.99 Statt ein profitorientiertes Kosten-Nutzen-Denken einzuüben würden im Abendmahl Verhaltensweisen eingeübt, durch die jeder, auch der Arme, der das Gegebene nicht erwidern könne, das Notwendige zum Leben erhalte.100 Das Teilen von Gütern werde ferner nicht abstrakt eingefordert, sondern im Abendmahl konkret erfahrbar und zeichenhaft realisiert.101 Das Abendmahl lasse sich daher als ein „Gabentauschritual interpretieren, als einen Austausch, der von Gottes Geben initiiert ist.“102 Schottroffs und Bielers hier skizzierte Beschreibung des Abendmahls lässt sich evolutionstheoretisch fruchtbar machen: Denn die von beiden beschriebene „Realisierung des Eigeninteresses“103 , die das Verhalten von Menschen gewöhnlich kennzeichne, ist aus evolutionstheoretischer Perspektive eine Folge evolutionär im Menschen angelegter Verhaltenstendenzen. Das Abendmahl steht als Ritual des gegenseitigen großzügigen Gabentauschs quer zu einem evolutionär erfolgreichen Verhalten der Aggression und der Konkurrenz. Es übt performativ ein anderes Verhalten ein als das der Selbstdurchsetzung zulasten anderer. Begründet wird ein solches Verständnis des Abendmahls als großzügiger Gabentausch durch bestimmte neutestamentliche Narrative: Diese enthalten – unter anderem – ein Verständnis des Anderen, das diesen nicht als Konkurrenten um knappe Ressourcen begreift, sondern als gleichwertiges Gegenüber zur eigenen Person, wobei beide Parteien wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Ein Denken in Konkurrenz wird durch ein Denken der wechselseitigen Fürsorge ersetzt. Die Metapher der Gemeinde als Leib (vgl. 1. Kor 12,12-31) beschreibt und begründet beispielhaft eine solche Haltung der „gegenseitige[n] Hilfeleistung und d[es] allgemeine[n] Angewiesen-sein[s] aufeinander“104 innerhalb der Gemeinde. Wie zum Funktionieren des Leibes als Ganzem alle Glieder des Leibes zusammenspielen 99 A.a.O., 139. 100 Vgl. a.a.O., 171f.: „Auch das Essen beim Abendmahl beruht auf Verteilen und Anteilhaben [...] in der Gemeinde. Die Teilnahme an der Mahlzeit und der Empfang von Gemeindegeld macht die Empfangenden nicht zu Fürsorgeobjekten.“ 101 Vgl. a.a.O., 29. 102 A.a.O., 138. 103 A.a.O., 129. 104 Strobel, Der erste Brief an die Korinther, 196. Vgl. auch Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 300f.: „Mit dem Sorgen der Glieder füreinander ist an den gegenseitigen Dienst gedacht, der den Aufbau der Gemeinde ermöglicht. Es heißt nicht: Die stärkeren sollen für die schwächeren Glieder sorgen; vielmehr ist von gegenseitiger Fürsorge die Rede.“ Vgl. auch Merklein / Gielen, Der erste Brief an die Korinther, 140.

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müssten, so seien auch in der Gemeinde alle Mitglieder aufeinander angewiesen, damit die Gemeinde als Ganzes gedeihe. Konkret heißt das, dass die scheinbar ehrlosen Gemeindemitglieder, denen es an Bildung, Status oder Besitz fehlt, genauso unverzichtbar für das Gedeihen der Gemeinde sind wie die vermeintlich wichtigen Gemeindemitglieder mit hoher Bildung oder charismatischen Gaben. Gott, der den Leib in der Verschiedenheit seiner Glieder so gewollt hat (vgl. 1. Kor 12,24), will einen „Ausgleich [...] zwischen scheinbarer Unehre und Ehre“105 , anstatt dass sich einzelne vermeintlich Stärkere über den Rest erheben. Das Narrativ der Gemeinde als Leib mit vielen Gliedern begründet so die Feier des Abendmahls als egalitäres Gemeinschaftsmahl. Zugleich wird der Feier des Abendmahls allerdings auch eine konstitutive Bedeutung für das Narrativ der christlichen Gemeinde als Leib zugemessen: Denn durch das Essen des Brotes wird die Gemeinde selbst zum Leib. So interpretiert Paulus, wenn er an die Gemeinde in Korinth schreibt: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s. So sind wir, die vielen, ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben“ (1. Kor 10,16f.). Das Ritual des Abendmahls und das theologische Narrativ der Gemeinde als Leib werden so wechselseitig aufeinander bezogen. Evolutionstheoretisch betrachtet zielen die hier beschriebenen biblischen Narrative und Rituale darauf ab, die evolutionäre Neigung des Menschen zur Selbstbehauptung und zum Statusstreben zulasten anderer zu unterlaufen. Stattdessen sollen gerade diejenigen, die durch ein solches Streben benachteiligt werden, von den Rändern ins Zentrum gestellt und „mit besonderer Ehre“ (1. Kor 12,23) umkleidet werden. Konträr zu einem evolutionär erfolgreichen Verhalten des „Kampf[s] um Lebenschancen“106 begründet und ermöglicht die Einübung dieser Narrative und Rituale daher eine alternative Wahrnehmung von Bedürftigen – nicht als Konkurrenten um Ressourcen, sondern als gleichberechtigte und in gleicher Weise bedürftige Glieder am Leib Christi. Solche Narrative und Rituale zielen in pragmatischer Hinsicht darauf ab, einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen zu erzielen, sodass die Armen und stärker Bedürftigen ebenso wie die Besitzenden an den vorhandenen Ressourcen gleichermaßen Anteil bekommen. Begründet wird ein solches Verhalten theologisch in der vorgängigen Güte Gottes, der die Glaubenden durch ihr Verhalten zu entsprechen suchen: Weil Gott auch das Gedeihen

105 Strobel, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 196. Vgl. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 300. Vgl. auch Klauck, 1. Korintherbrief, 90. Anders bemerkt zum Beispiel Dale B. Martin, dass Paulus’ Rhetorik des Leibes nicht auf einen Ausgleich zwischen den Statusunterschieden ziele, sondern darauf abziele, dass die scheinbar geringsten Glieder in Wirklichkeit die höchsten seien: „Paul argues on the contrary that the normal status hierarchy is only ‚apparently‘ unproblematic and that it is actually the lesser members, those who are weaker and seemingly less honorable, who are ‚really‘ the most honored“ (Martin, The Corinthian Body, 96). 106 Theißen, Biblischer Glaube und Evolution, 208.

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derjenigen will, die aus der Sicht einer partikularen Gruppe arm, schwach oder unbedeutend erscheinen mögen, darum ist auch solchen (scheinbaren) Schwachen zu helfen unabhängig von Fragen des persönlichen Eigennutzes.

III.

Fazit

Die vorliegende Untersuchung hat ergeben, dass evolutionstheoretische Perspektiven als Verstehenshintergrund dienen können, von dem her Inhalte und Formen biblischer Narrative und Rituale in neuer Weise interpretiert werden können. Die Soziobiologie und die evolutionäre Psychologie haben herausgearbeitet, dass Menschen in ihrem Sozialverhalten und in ihrem Wahrnehmen häufig Tendenzen folgen, die aus der evolutionären Vergangenheit des Menschen stammen und sich im Laufe der Evolution bewährt haben. Die Unterscheidung zwischen Binnenund Außengruppe und die Wahrnehmung der eigenen Gruppe hinsichtlich einer Rangordnung sind solche evolutionär erfolgreichen Wahrnehmungsmuster. Mit diesen Mustern korrelieren bestimmte Verhaltensweisen wie Aggression gegen Außengruppen, Kooperation nach innen, aber auch das rivalisierende Streben nach Status und Ressourcen innerhalb der eigenen Gruppe. Eine Wahrnehmung, die den anderen, insbesondere den Fremden, als Konkurrenten um Ressourcen und Status betrachtet, ist daher evolutionär im Menschen vorgeprägt und hat bis heute Einfluss auf sein Verhalten. Aus der Perspektive einer solchen evolutionären Anthropologie lässt sich die biblische Rede von der Sünde verständlich machen. Biblische Texte diagnostizieren in dieser Rede lebensnah, dass menschliche Gesellschaften von Gewalt und vom Streben nach Lebensmöglichkeiten zulasten anderer geprägt sind. Bestimmte alt- wie neutestamentliche Gebote fordern demgegenüber Hilfe gegenüber den Schwachen und eine positive Wahrnehmung von Außengruppen. Dies zeigt sich beispielsweise im alttestamentlichen Gebot des Schutzes der Fremden, Witwen und Waisen (vgl. Ex 22,20-23; vgl. Dtn 10,18-19), in Jesu Hilfe gegenüber Kranken (Mk 3,7-12), der positiven Darstellung eines Fremden (vgl. Lk 10,25-37) und der Integration von ausgegrenzten Menschen in die Gemeinschaft (vgl. Lk 7,36-50; Mk 2,15-17). Biblische Texte107 fordern daher ein Verhalten, das quer zu bestimmten evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen steht. Lebensmöglichkeiten sollen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander entwickelt werden. Des Weiteren beschreibt die Evolutionstheorie den Menschen zwar als durch die oben beschriebenen evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen beeinflusst.

107 Die hier vorgenommene Auswahl biblischer Texte orientiert sich am Gottes- und Nächstenliebegebot, von dem herkommend eine Bewertung und Gewichtung anderer biblischer Texte erfolgt.

Fazit

Menschliches Verhalten ist jedoch nicht determiniert. Vielmehr ist der Mensch in evolutionstheoretischer Perspektive immer auch ein Kulturwesen, das durch soziales Lernen Informationen erwirbt. Die Fähigkeit des Menschen zu lernen, macht seine Kultur im Unterschied zur Natur aus. Solche gelernten Informationen prägen menschliches Wahrnehmen und Verhalten mit. Insbesondere Narrative als sinnstiftende Erzählungen sowie Rituale als wiederholte, körperliche Handlungen orientieren Menschen schon immer in dem, was sie für gut und wünschenswert halten bzw. wie sie die Welt wahrnehmen. Denn wer Narrative internalisiert und Rituale immer wieder einübt, wird dadurch in seinem Erleben und Verhalten beeinflusst. Zugleich stellen Narrative und Rituale die Arten und Weisen dar, wie Menschen Wirklichkeit ordnen und gestalten. Narrative und Rituale bilden Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern konstruieren sie mit. Aus der Perspektive einer evolutionären Kulturtheorie lassen sich Narrative und Rituale daher als Formen kultureller Nischenkonstruktion beschreiben. Im Sinne einer solchen evolutionären Kulturtheorie lässt sich beoachten, dass die Bibel Narrative und Rituale enthält, die auf die Praxis grenz- und statusübergreifender Nächstenliebe jenseits von evolutionär erfolgreichen Verhaltensweisen abzielen (vgl. zum Beispiel Mt 25,31-46). Konkret begründet zum Beispiel das theologische Narrativ, in dem der Sohn Gottes zugunsten der Menschen auf seinen hohen Status verzichtet (vgl. Phil 2,5-11), eine Haltung, die den Verzicht auf einen hohen Status als Stärke und die Hilfe gegenüber Bedürftigen als Tugend begreift. Denn ein solcher Dienst wird als Nachahmung des Verhaltens Christi interpretiert und daher positiv bewertet (vgl. Phil 2,4). Theologische Überzeugungen begründen so ein Ethos, was über ein evolutionär erfolgreiches Verhalten des Statusstrebens auf Kosten anderer und der Aggression gegenüber Fremden hinausgeht. Die Kritik am Statusstreben zulasten anderer und die Aufforderung zum wechselseitigen Dienst aneinander zeigt sich auch im Ritual des Abendmahls, das bei Paulus als ein Gemeinschaftsmahl zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten verstanden wird (vgl. 1. Kor 11,17-34). Das Essen wird idealiter von der ganzen Gemeinde gemeinsam verzehrt, sodass die Armen und die Reichen der Gemeinde, die Bedürftigen und die Wohlhabenden, gleichen Anteil an den Gütern bekommen. Statt Konkurrrenzdenken wird im Abendmahl ein Verhalten der gegenseitigen Hilfe eingeübt. Folgt man dieser Lesart des Abendmahls konstituieren sich die christlichen Gemeinden mithin nicht durch die Einteilung ihrer Mitglieder nach ihrem bestehenden sozialen Rang und Status, sondern durch den Glauben an Christus, der alle Gemeindemitglieder – unabhängig von ihrem sozialen Status – miteinander verbindet (vgl. Gal 3,28). Faktische soziale Unterschiede spielen fortan keine entscheidende Rolle mehr, weil der Glaube an Christus diese Unterschiede zurückdrängt und stattdessen zur die Gemeinschaft verbindenden Größe wird. Auch wenn man diese theologischen Überzeugungen nicht teilt, lässt sich das darin enthaltene Potential dennoch würdigen: Bestimmte biblische Narrative und

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Auswertung

Rituale zielen auf eine Reduktion menschlicher Gewalt gegenüber Außengruppen und gegenüber Schwachen ab. Stattdessen üben sie eine Haltung der Hilfe gegenüber Bedürftigen in und jenseits der eigenen Gruppe ein. So unterlaufen sie evolutionär erfolgreiche Verhaltensweisen sowohl der Gewalt gegenüber Außengruppen als auch des Strebens nach Status und nach Ressourcen zulasten anderer.

G.

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259

H.

Register

I.

Personen

A Assmann, J.

33, 86, 87, 193, 200, 203, 213

B Barbour, I.G. 75 Barrett, J.L. 38, 40 Bellah, R. 17, 19, 21, 22, 52, 53, 163–172, 174–191, 193–197, 199–215, 217, 219, 221–224, 227–229, 231–236 Bieler, A. 235, 241 Boyd, R. 32 Boyer, P. 37, 38, 226 Burghardt, G. M. 177 Burhoe, R.W. 72, 73 Burkert, W. 107, 134 C Campbell, D.T. 30–32 Cosmides, L. 35, 136, 137 D Darwin, C. 23–25, 38, 39, 177 Dawkins, R. 46–50, 90, 100, 217, 225 De Waal, F. 101–103, 113, 179, 180, 228 Dobzhansky, T. 27 Donald, M. 168, 182–185, 195, 200, 214 Drees, W.B. 78 Durham, W. 32 Durkheim, E. 21, 164, 172 E Eisenstadt, S.N. F Fagan, R.

177

192–194, 196

G Gould, S.J.

27, 35, 137

J Jablonka, E. 32, 35, 49 Jaspers, K. 192–194, 214 Joas, H. 193 Junker, T. 13, 14 K Kant, I. 68, 215 Körtner, U. 79, 81 L Lamb, M.J. 32, 35, 49 Lorenz, K. 68, 69 M Michel, K. 44–46, 50, 52 Midgley, M. 15, 220, 235 Mühlmann, H. 17, 19, 20, 22, 52, 53, 118–136, 138–160, 162, 163, 201, 217, 219, 221–223, 225, 227, 229–234, 236 N Nietzsche, F.

102

O Odling-Smee, F.J.

29, 77, 232

P Paley, W. 23 Pannenberg, W. 71, 114 Pinker, S. 80, 140, 229 Popper, K.R. 68, 69, 77

262

Register

R Richerson, P.J. 32 S Schottroff, L.

235, 241

T Theißen, G. 17, 19, 20, 22, 52, 55–79, 81–85, 87–89, 92–111, 113–118, 159–163, 168, 198, 199, 208, 217–219, 221–225, 227–229, 231, 232, 236 Thompson, E. 112, 211 Toepfer, G. 33, 220, 233 Tomasello, M. 30, 35, 138 Tooby, J. 35, 136, 137

V Van Schaik, C. 45, 46, 50, 52 Voegelin, E. 192, 194 Voland, E. 14, 91 Vollmer, G. 16, 68, 69 W Weber, M. 164, 167, 194 Wilson, D.S. 14, 42, 50 Wilson, E.O. 14, 15, 41, 42, 46, 50, 104, 217, 225, 226 Wunn, I. 43, 44, 52

Sachen

II.

Sachen

A Adaptationismus 170 Aggression 34, 80, 88, 91, 92, 96, 134, 143, 156, 161, 169, 180, 209, 227, 230–232, 242, 244, 245 Anpassung 13, 25, 27, 28, 37, 41, 43, 44, 52, 58, 59, 62, 64, 65, 67–72, 74–79, 81, 99, 107, 112, 114, 115, 136, 169, 170, 218, 221, 222 antiselektionistisch 62, 63, 87, 93, 94, 98, 116, 224 B biologische Evolution 19, 23, 29–33, 44, 47, 60–63, 65–67, 73, 74, 80, 81, 90–97, 100–102, 106, 107, 111, 113, 115, 116, 160, 165, 168, 170, 171, 176, 209, 218, 232 E Empathie 101–103, 113, 169, 228 enaktive Evolution 112, 211 Enkulturierung 130, 135, 136, 141–146, 156, 158, 159 erweiterte evolutionäre Synthese 27, 28 Evolution der Religion 16, 17, 29, 44, 163, 165–167, 192, 209, 210, 213 evolutionäre Anthropologie 13, 17, 106, 116, 117, 135, 140, 141, 155, 156, 168, 209, 223, 226, 244 evolutionäre Psychologie 33–35, 135, 136, 138, 140, 155, 161, 223, 227, 229, 244 evolutionärer Eigennutz 92, 97, 106 evolutionäres Nebenprodukt 27, 37, 38, 40, 76, 99, 170, 221 F Fitness

25, 32, 90, 91, 138, 183, 185

G genetischer Determinismus 95, 227 Gruppenselektion 14, 15, 41, 50 H heuristisch 21, 193, 212 Hilfe auf Gegenseitigkeit, reziproker Altruismus 90, 106 Hilfe gegenüber Verwandten, genetischer Altruismus 106, 113, 228 K kognitive Module 35, 43, 135–140, 142, 150, 154, 155, 159, 222 Kooperation 14, 21, 41, 78, 80, 90, 96, 100–103, 106, 113, 121, 123–126, 154, 161, 214, 226, 228, 229, 244 Körpergedächtnis 142, 144, 146, 154, 156, 158 Kreativität, kreativ 20, 49, 63, 97, 108, 169, 171, 175, 182, 183, 223 kulturelle Evolution 15–17, 29–33, 37, 47, 59–63, 65–67, 73–75, 81, 93, 107, 108, 111, 113, 115, 136, 153, 154, 158, 160, 166, 168, 170, 209, 218, 223–225, 234, 237 M Mutation

25, 59–61, 68, 83, 111, 221

N Natur- und Kulturwesen 156, 226, 232 Nischenkonstruktion 28, 29, 77, 78, 83, 106, 108, 112–114, 170, 175, 222, 232, 245 O Orientierung 115, 128, 136, 162, 166, 173, 174, 187, 193, 195, 202, 211, 213–215, 218, 233, 234, 236, 237

263

264

Register

S Selektion 14, 16, 19, 25–27, 30–33, 59, 62, 63, 65–68, 72–76, 83, 84, 88–90, 98–100, 102, 111, 115, 116, 160, 165, 218, 229, 232 Soziobiologie 33–35, 41, 89, 92, 94, 104, 106, 116, 124, 161, 169, 170, 227, 229, 244 synthetische Evolutionstheorie 25–27

U Umwelt 23–30, 33, 37, 43, 44, 52, 62, 64–66, 68, 76, 77, 84, 85, 99, 103, 107, 108, 112, 114–116, 138, 139, 146, 168, 169, 171, 175, 176, 182, 183, 201, 209, 211, 218–223, 225, 226, 232 unbedingte Variationstoleranz 72, 74, 75

Bibelstellen

III.

Bibelstellen

Gen 4,5 230 Gen 4,8 230 Gen 4,12 230   Ex 22,20-23 117, 244 Ex 23,5 18   Lev 19,33f.

18, 85, 117

  Dtn 6,5 207 Dtn 8,6 207 Dtn 10,18-19 244 Dtn 13 87 Dtn 16,1-17 238 Dtn 16,3 239 Dtn 16,11-12 240 Dtn 16,15 239 Dtn 17,18-20 207 Dtn 24,14 18 Dtn 24,17f. 117 Dtn 26,5 238 Dtn 26,9 238 Dtn 28,32 83   1. Sam 8,10-17   1. Kön 12,1-19

204

204

  Ps 2,7 204 Ps 45,7-8 204   Am 2,6 205 Am 5,11-12 205

Mt 5,13 98 Mt 5,27f. 93 Mt 5,43ff. 62, 92 Mt 5,44f. 18, 51 Mt 6,1-6.16-18 93 Mt 12,41 93 Mt 25,31-46 117, 118, 148, 157, 161, 245 Mt 25,35-36 148 Mt 25,38 116 Mt 26,28 145   Mk 2,15-17 244 Mk 3,7-12 244 Mk 10,42-45 62, 153, 230 Mk 10,43 157 Mk 10,44 62, 92, 161 Mk 12,17 93 Mk 15,38 157   Lk 2,7 148 Lk 4,18 87 Lk 7,36-50 116, 244 Lk 10,25-37 18, 62, 92, 104–106, 244 Lk 10,36 105 Lk 14,26 93   Joh 13,34   Röm 8,4

64

94, 229

  1. Kor 1,11 97 1. Kor 10,16f. 243 1. Kor 11,17-34 110, 245 1. Kor 12,12-31 97, 242

265

266

Register

1. Kor 12,23 1. Kor 12,24   2. Kor 5,17

243 243

63

  Gal 3,28 96, 245 Gal 5,14 94 Gal 5,15 95 Gal 5,19ff. 94

Gal 5,20 Gal 5,22

95 230

  Phil 2,4 245 Phil 2,5-11 117, 118, 245   Hebr 8,1-10,18   1. Joh 4,16

238

145