Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung: Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration 3515107495, 9783515107495

Der Band, der aus einer Würzburger Tagung der Ranke-Gesellschaft hervorging, greift den in den öffentlichen Medien viel

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German Pages 204 [210] Year 2014

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINFÜHRUNG
VERTRIEBENER SOZIALDEMOKRAT? – WENZEL JAKSCH UND SEIN VERHÄLTNIS ZUR SPD NACH 1949
HANS-CHRISTOPH SEEBOHM UND SEIN VERSUCH ZUR UNIVERSALISIERUNG DES VERTRIEBENENPROBLEMS IN DER NACHKRIEGSZEIT
DIE ZWEI LEBEN DES DR. HERBERT CZAJA (1914–1997) – GRUNDZÜGE EINES LEBENSBILDS
DIE ENTGERMANISIERUNG OBERSCHLESIENS NACH 1945
KALTE HEIMAT. DIE GESCHICHTE EINER SCHWIERIGEN ANKUNFT
DIE LANDSMANNSCHAFT SCHLESIEN IN DEN ERINNERUNGSPOLITISCHEN KONTROVERSEN ZWISCHEN OST UND WEST
DIE ENTSTEHUNG DER ‚DOKUMENTATION DER VERTREIBUNG DER DEUTSCHEN AUS OST-MITTELEUROPA‘ IM SPANNUNGSFELD VON WISSENSCHAFT UND VERTRIEBENENPOLITISCHEN INTERESSEN AM BEISPIEL DES UNGARN-BANDES
„50 JAHRE BUND DER VERTRIEBENEN – DAS SIND AUCH 50 JAHRE DEUTSCHE GESCHICHTE“ – DIE ARBEIT DES BDV NACH 1982 IM SPANNUNGSFELD VON VERBANDSLOBBYISMUS UND GESCHICHTSPOLITIK
ZWANGSMIGRATIONEN IM KONTEXT DES ZWEITEN WELTKRIEGS. ZWÖLF AUSGEWÄHLTE SCHWERPUNKTE
VERWEH(R)TE HEIMAT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
NAMENS- UND ORTSREGISTER
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Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung: Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration
 3515107495, 9783515107495

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Geschichte Franz Steiner Verlag

h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f te 8 6

Matthias Stickler (Hg.)

Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenen­ integration

Matthias Stickler (Hg.) Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung

h i s to r i s c h e m it t e i lu ng e n – b e i h e f te Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Jürgen Elvert

Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner

Band 86

Matthias Stickler (Hg.)

Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Vertriebene aus Breslau nach ihrer Ankunft auf dem Bahnhof Ahlhorn, Juni 1946 © Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10749-5 (Print) ISBN 978-3-515-10750-1 (E-Book)

Für Michael Salewski (2. Januar 1938 – 4. Mai 2010)

INHALTSVERZEICHNIS

Matthias Stickler Einführung ............................................................................................................... 9 Eva Dutz Vertriebener Sozialdemokrat? – Wenzel Jaksch und sein Verhältnis zur SPD nach 1949 ................................................................................................ 17 Gilad Margalit Hans-Christoph Seebohm und sein Versuch zur Universalisierung des Vertriebenenproblems in der Nachkriegszeit .................................................. 35 Matthias Stickler Die zwei Leben des Dr. Herbert Czaja (1914–1997) – Grundzüge eines Lebensbilds ................................................................................................... 45 Małgorzata Świder Die Entgermanisierung Oberschlesiens nach 1945 ............................................... 65 Andreas Kossert Kalte Heimat. Die Geschichte einer schwierigen Ankunft .................................... 89 Christian Lotz Die Landsmannschaft Schlesien in den erinnerungspolitischen Kontroversen zwischen Ost und West ................................................................... 99 Iris Thöres Die Entstehung der ,Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa’ im Spannungsfeld von Wissenschaft und vertriebenen-politischen Interessen am Beispiel des Ungarn-Bandes ................. 109 Matthias Finster „50 Jahre Bund der Vertriebenen – das sind auch 50 Jahre deutsche Geschichte“ – die Arbeit des BdV nach 1982 im Spannungsfeld von Verbandslobbyismus und Geschichtspolitik ........................................................ 133

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Inhaltsverzeichnis

Jan M. Piskorski Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs. Zwölf ausgewählte Schwerpunkte ....................................................................... 155 Michael Salewski † Verweh(r)te Heimat ............................................................................................. 177 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................ 195 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 197 Namens- und Ortsregister .................................................................................... 199

EINFÜHRUNG Matthias Stickler „Habent sua fata libelli“, so lautet ein gerne gebrauchtes Zitat des römischen Grammatikers Terentianus Maurus und diese Aussage trifft auf den vorliegenden Band in besonderer Weise zu. Veröffentlicht werden darin die Vorträge, die auf der Jahrestagung 2008 der Ranke-Gesellschaft in Würzburg gehalten wurden. Neu hinzugekommen sind zudem drei nachträglich entstandene, aber zum Thema der Tagung gut passende Beiträge, meiner und die von Jan M. Piskorski und Matthias Finster. Nach so langer Zeit noch einen Tagungsband veröffentlichen? Es würde zu weit führen, die Gründe für die Verzögerung im Detail zu benennen. Hervorgehoben werden muss aber, dass diese ausschließlich beim Herausgeber zu suchen sind: Antritt einer neuen Stelle, damit verbundene lange Phasen der Einarbeitung bzw. die Notwendigkeit, den neuen Aufgaben unbedingte Priorität einzuräumen, Nichtvorhandensein von Mitarbeitern bzw. Hilfskräften, die die Redaktionsarbeiten hätten übernehmen können. Diese Andeutungen müssen genügen. Umso dankbarer bin ich den an der Tagung beteiligten Partnern und vor allem allen Beiträgern für ihre Geduld; Letzteren auch dafür, dass sie bereit waren, ihre Aufsätze der notwendigen Aktualisierung zu unterziehen, so dass zwischen 2009 und 2012/13 erschienene Literatur nachgetragen werden konnte. Ich bedauere sehr, dass Michael Salewski die Veröffentlichung des Bandes nicht mehr erlebt. Ihm war die Veröffentlichung seines Abendvortrags besonders wichtig, wie er mir kurz vor seinem Tode in einer E-Mail noch mitgeteilt hat. Ihm, dem langjährigen Vorsitzenden der Ranke-Gesellschaft, ist der Band deshalb auch gewidmet. Als 2006 die Ranke-Gesellschaft an mich mit der Frage herantrat, ob ich bereit sei, in Würzburg die alle zwei Jahre stattfindende Jahrestagung zu einem vertriebenengeschichtlichen Thema durchzuführen, sagte ich nach kurzem Überlegen zu. Überlegen musste ich deshalb, weil ich ja keinen Lehrstuhl habe und deshalb nicht ohne weiteres auf die damit verbundenen Ressourcen zurückgreifen kann. Ich bin deshalb meinem langjährigen Chef Prof. Dr. Wolfgang Altgeld für die damals geleistete Unterstützung sehr dankbar. Zu Dank verpflichtet bin ich auch der „Stiftung Kulturwerk Schlesien“, namentlich Prof. Dr. Karl Borchardt als dem damaligen Vorsitzenden und Dr. Ulrich Schmilewski als dem Geschäftsführer der Stiftung, die nicht nur Mitveranstalter der Tagung war, sondern für diese auch einen erheblichen finanziellen Zuschuss geleistet hat, ferner dem Universitätsbund Würzburg, der die Tagung ebenfalls großzügig finanziell gefördert hat. Mein Dank gilt außerdem für die Ranke-Gesellschaft derem Vorsitzenden Prof. Dr. Jür-

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Matthias Stickler

gen Elvert und seinem Lehrstuhl-Team für alle Unterstützung und die Aufnahme dieses Tagungsbandes in die Reihe „Beihefte der Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft“. Prof. Dr. Peter Hoeres danke ich sehr herzlich dafür, dass er für mich Mitarbeiter seines Würzburger Lehrstuhls für das Korrekturlesen dieses Bandes abgestellt hat. Denique demumque schulde ich noch Dank der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Berlin) dafür, dass Sie die Vorlage für das Umschlagbild zur Verfügung gestellt hat. War es bis vor etwa zehn Jahren durchaus berechtigt, davon zu sprechen, dass Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration vergleichsweise wenig Konjunktur besitzen 1, so kann davon mittlerweile keine Rede mehr sein. Dieser Trend korrespondierte mit einem signifikant steigenden öffentlichen Interesse an solchen Themen – etwa abzulesen am großen Erfolg einschlägiger, auch lokaler Ausstellungen 2 und Veröffentlichungen 3 sowie den hohen Einschaltquoten für entsprechende Fernsehproduktionen, etwa der ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler als fiktive ostpreußische Gräfin Lena von Mahlberg. Dass die damalige (zweite) Große Koalition im März 2008 beschloss, im Berliner „Deutschlandhaus“ ein „sichtbares Zeichen“ in Gestalt eines Erinnerungs- und Dokumentationszentrums zu Flucht und Vertreibung mit einer Dauerausstellung sowie ein Dokumentations- und Forschungszentrum einzurichten, und durch ein Bundesgesetz vom 21. Dezember 2008 schließlich die Stiftung Flucht, Vertrei1

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Vgl. hierzu etwa Matthias Stickler, Sammelrezension „Vertriebenenintegration in Deutschland nach 1945“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007) 4, 453–458 und Ders., Forschungen zur Geschichte der Vertriebenenverbände – Hinweise auf ein wenig beachtetes Arbeitsfeld der jüngeren Zeitgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 128/2008, 469–493. Erinnert sei v. a. an die bundesweit Aufsehen erregenden Ausstellungen „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bzw. „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen (BdV) respektive der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) in Berlin. Ich selbst habe im Wintersemester 2012/13 im Rahmen eines historisch orientierten Projekts in Kooperation mit dem in Würzburg ansässigen Riesengebirgler Heimatkreis Trautenau e.V. und finanziell gefördert durch die Sparkassenstiftung für die Stadt Würzburg mit Studierenden eine kleine Ausstellung zum Thema „Vertreibung, Integration, Versöhnung“ konzipiert, die sich der Geschichte der Heimatvertriebenen aus Stadt und Landkreis Trautenau (heute Trutnov in Tschechien) widmete. Diese Ausstellung wurde im Hauptgebäude der Sparkasse Mainfranken in der Hofstraße gezeigt und stieß lokal auf große Resonanz; vgl. die Berichte der Mainpost, 5.12.2012, 37 und 14.12.2012, 22. Nennen kann man auch die von Dr. Stefanie Menke (inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Museologie und materielle Kultur der Universität Würzburg) konzipierte neue Abteilung „Flüchtlinge und Vertriebene in Hof“ (seit Januar 2012) des Museums Bayerisches Vogtland (http://www.museum-hof.de/, Stand: 26.11.2013). Genannt seien hier v. a.: Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen (Beckʼsche Reihe 1933), München 2011; Ray M. Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012.

Einführung

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bung, Versöhnung 4 ins Leben gerufen wurde, zeigt ebenso, wie die anfangs heftigen, vor allem publizistisch geführten Auseinandersetzungen zu dieser Frage, dass „Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration“ ein wichtiges Thema ist, welches wohl auch künftig auf Interesse nicht nur innerhalb der akademischen Forschung stoßen wird. Die Jahrestagung 2008 der Ranke-Gesellschaft, die neben der Fachwelt auch eine breitere, historisch interessierte Zuhörerschaft ansprechen sollte, verfolgte deshalb die Zielsetzung, das gestiegene öffentliche Interesse am Thema „Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration“ aufzugreifen und durch Vorträge, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung repräsentieren, einen Beitrag zur Versachlichung einer bisweilen auch emotional geführten Debatte und damit auch im weitesten Sinne zur politischen Bildung zu leisten. Bei der Auswahl der Referenten und Beiträger wurde ganz bewusst das Ziel verfolgt, bereits etablierte Wissenschaftler mit Nachwuchshistorikern zusammenzubringen, damit diese im Wege der fachlichen Diskussion vertiefte Anregungen und Hilfestellungen für die eigenen Forschungen erhalten können. Wichtig war mir auch die Internationalität der Zusammensetzung der Beiträger, um eine allzu „deutsche Nabelschau“ zu vermeiden. Ausgewählt wurden diese zudem nicht mit Blick auf bestimmte „Gesinnungen“ oder Zugehörigkeit zu „wissenschaftspolitischen Lagern“. Es kam mir vielmehr darauf an, Themen auszuwählen, die geeignet sind, einen kritischen Diskurs in Gang zu bringen. Pointierte Thesen waren deshalb nicht nur möglich, sondern auch erwünscht. Die ersten drei Aufsätze sind biographisch orientiert: Eva Dutz behandelt den bedeutenden sozialdemokratischen Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch (1896– 1966), der bereits vor 1938 zu den führenden Persönlichkeiten der sudetendeutschen Sozialdemokratie gehörte und nach 1945 Vorsitzender der SeligerGemeinde, Vorsitzender der Bundesversammlung der Sudetendeutschen Landsmannschaft und, als Höhepunkt, von 1964 bis 1966 Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV) war. Frau Dutz arbeitet auch die Probleme heraus, die sich seit den frühen sechziger Jahren aus der Hinwendung der SPD zu einer neuen Ostpolitik ergaben, einem Paradigmenwechsel, dem Jaksch sehr kritisch gegenüberstand und gegen den er Front machte. Gilad Margalit untersucht die vertriebenenpolitische Programmatik des langjährigen Bundesverkehrsministers und Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft Hans-Christoph Seebohm (1903–1967). Margalit entwirft hierbei ein sehr kritisches Bild dieses CDU-Politikers der, aus der Deutschen Partei (DP) kommend, geistig der Programmatik der nationalkonservativen Rechten stets verbunden blieb, ordnet diesen Befund aber zugleich ein in die bundesdeutsche Innenpolitik der fünfziger und sechziger Jahre, die gekennzeichnet war von der Konkurrenz der beiden Volkparteien, CDU/CSU und SPD, um das Wählerpotential der Vertriebenen. Mein Beitrag hat den langjährigen Sprecher der Landsmannschaft der Oberschlesier und BdV-Präsidenten Herbert 4

Vgl. http://www.dhm.de/sfvv (Stand: 26.11.2013).

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Matthias Stickler

Czaja (1914–1997) zum Gegenstand, dessen vertriebenenpolitisches Wirken eingeordnet wird in die Prägungen seiner „zwei Leben“ in Polen (1914/1919 bis 1939/1946) und Westdeutschland (1946 bis 1997). Hierbei soll deutlich gemacht werden, dass das in Bezug auf Czaja gerne kolportierte Stereotyp vom „revanchistisch“ orientierten „Kalten Krieger“ so nicht zutrifft, gleichzeitig wird versucht, die politische Programmatik Czajas aus seinem an Brüchen reichen Leben zu erklären, aus denen das Zwiespältige in seiner Persönlichkeit resultierte. Małgorzata Świder untersucht in ihrem Aufsatz die sogenannte „Entgermanisierung Oberschlesiens“, konkret des Oppelner Schlesien, nach 1945, d. h. den Versuch, nach der Vertreibung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung Oberschlesiens auch die kulturellen Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit dieser Region auszulöschen. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Polonisierung deutscher Namen. Ab 1947 verstärkten sich diese Bestrebungen noch vor dem Hintergrund wachsender Unsicherheiten in Polen, ob die Oder-Neiße-Linie wirklich dauerhaft Bestand haben werde. Der Erfolg der Maßnahmen war aus damaliger polnischer Sicht aber letztlich unzureichend, auch aufgrund des passiven Widerstands der autochthonen Bevölkerung im Oppelner Land. Andreas Kossert dekonstruiert in seinem Beitrag den Mythos von der schnellen und gelungenen Integration und arbeitet heraus, dass den Vertriebenen nach 1945 in ihrer neuen Heimat zunächst überwiegend Ablehnung und Feindschaft, bis hin zu implizit rassistisch motiviertem Hass entgegenschlug. Als die Integration der ungebetenen Neuankömmlinge dann in den 1950er Jahren eigentlich wider Erwarten gelang wurde dieser Prozess nachträglich verklärt, wobei alte Vorurteile allerdings unterschwellig weiterwirkten. Nachdrücklich fordert Kossert, alte ideologische Gräben zuzuschütten, die deutschen Vertriebenen endlich voraussetzungslos als Opfer anzuerkennen und eine „innere Versöhnung der Deutschen mit ihren Vertriebenen“. Christian Lotz untersucht die Rolle der Landsmannschaft Schlesien in den erinnerungspolitischen Kontroversen zwischen Ost und West, indem er deren Deutungen der Geschichte Schlesiens bzw. von Flucht und Vertreibung vergleicht mit solchen der SED bzw. deren Agitationsabteilung. Es wird hierbei deutlich, dass beide Seiten versuchten, durch Politisierung und Verallgemeinern von Einzelaspekten eine Deutungshoheit zu gewinnen. Der Bedeutungsverlust der Vertriebenenverbände seit den späten fünfziger Jahren führte zwar nicht dazu, dass die SED-Sichtweise in gleicher Weise an Deutungsmacht gewonnen hätte. Allerdings führte die zunehmende Delegitimierung der heimatpolitischen Forderungen der organisierten Vertriebenen dazu, dass auch die Beschäftigung mit der Geschichte der Ostgebiete ins erinnerungspolitische Abseits gedrängt wurde. Deshalb hält es Lotz auch für verfehlt, im Hinblick auf diesen Paradigmenwechsel von Tabuisierung zu sprechen. Iris Thöres, die als Angehörige der deutschen Minderheit im rumänischen Banat geboren wurde, leistet mit ihrem Aufsatz einen Beitrag zur Erforschung der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“. Sie analysiert am Beispiel der Entstehung des Ungarns-Bandes einerseits die Konflikte zwischen dem Bundesvertriebenenministerium bzw. der von diesem beauftragten wissenschaftlichen Kommission um Theodor Schieder und den in zwei konkurrierenden Verbänden landsmannschaftlich organisierten

Einführung

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Ungarndeutschen, die die Entstehung des Projektes begleiteten, andererseits zeigt sie die Probleme auf, die durch unprofessionelle Quellenrecherchen entstanden. Dennoch, so ihr Ergebnis, konnte letztlich ein wissenschaftlich tragfähiges Werk vorgelegt werden, weshalb dieses Fallbeispiel geeignet ist, zu zeigen, welche Kommunikationsprobleme beim Umgang von Historikern mit Zeitzeugen auftreten und wie Wissenschaftler ihre Autonomie gegenüber den Normierungsansprüchen von Lobby-Verbänden wahren können. Matthias Finster leistet mit seiner auf den Ergebnissen seiner Magisterarbeit fußenden Analyse einen Beitrag zur Erforschung der bisher nur unzureichend untersuchten Geschichte des BdV in den Jahren nach 1982. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen hierbei dessen Versuche geschichts- und erinnerungspolitisch meinungsbildend zu wirken, eine Tendenz, die seit der endgültigen Regelung der Grenzfrage 1990/91 an Bedeutung eher noch gewann. Behandelt wird ebenso der seit den neunziger Jahren zu beobachtende Wandel in der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Themen Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration, ein Trend, von dem der BdV einerseits profitierte, der ihn andererseits aber auch erneut zur Zielscheibe öffentlicher Kritik machte, was etwa die Auseinandersetzungen um das Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ zeigen. Jan M. Piskorski präsentiert in seinem Beitrag wesentliche Ergebnisse seines kürzlich erschienen Buches „Die Verjagten“ sowie seiner Überlegungen zur Erinnerungskultur in Deutschland, Polen und Europa. 5 Er verbindet hierbei zusammenfassende Analysen zu Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt auf der Zeit des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen mit pointierten Überlegungen zu Fragen der Erinnerungskultur in Europa und, damit eng verbunden, der Völkerverständigung. Nationale Museums-Projekte wie die deutsche Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin und das polnische Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig werden von Piskorski in diesem Zusammenhang einer kritischen Betrachtung unterzogen und eine wirklich europäisch ausgerichtete Erinnerungskultur eingefordert. Michael Salewski verkörperte als gebürtiger Ostpreuße und emeritierter Lehrstuhlhaber für Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel sozusagen die Schnittmenge von Zeitzeugenschaft und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema „Vertreibung“, weshalb er 2008 der ideale Kandidat für den traditionellen öffentlichen Abendvortrag war. Er weist in seinen teilweise sehr persönlichen Ausführungen auf die insbesondere innerhalb der Vertriebenenverbände lange Zeit praktizierte, letztlich aber kontraproduktive Idealisierung der Vergangenheit der deutschen Ostgebiete hin. Ferner arbeitet er die Verdienste der heimatvertriebenen Frauen bei der aus seiner Sicht im Ergebnis geglückten Integrationspolitik hervor und die wichtige Rolle der Kriegskinder, also letztlich seiner Generation, die die Integration in die deutsche Nachkriegsgesellschaft vollendet habe, weil sie nicht mehr so von der Erinnerung an die alte Heimat geprägt gewesen sei wie die älteren Vertriebenen. 5

Jan M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München 2013.

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Abschießend seien mir noch zwei persönliche Bemerkungen gestattet: Nach meinem Eindruck ist seit längerem schon zu beobachten, dass gerade in der jüngeren Generation der Historiker, aber auch bei vielen Studierenden, die sich für Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration interessieren, die früher vielfach zu beobachtende Emotionalität einer erfrischenden Nüchternheit bzw. Gelassenheit gewichen ist. Ich hatte 2008 und 2009 Gelegenheit an zwei Tagungen in der damaligen Europäischen Akademie Külz/Kulice östlich von Stettin teilzunehmen, die von Jan M. Piskorski ausgerichtet wurde. Es handelte sich hierbei um eine Veranstaltung, die die Formate „wissenschaftliche Tagung“ und „Oberseminar“ miteinander verband. Im Mittelpunkt standen Studierende aus Polen und Deutschland, die über ihre Abschlussarbeiten aus dem Themenfeld „Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration“ berichteten. Auch Schüler von mir trugen vor. Ich bin damals sehr bereichert von diesen Tagungen zurückgekehrt, weil sie eine äußerst angenehme akademische Diskussions-Atmosphäre boten ohne die bei solchen Veranstaltungen früher oft zu beobachtenden Verkrampfungen. Eindrucksvoll war vor allem, dass viele junge Polen, die heute in den früheren deutschen Ostgebieten leben und deren Vorfahren nach 1945 dort zum Teil als Vertriebene ankamen, sich heute sehr engagiert mit der Geschichte ihrer Heimat, in diesem Fall konkret Ost-Pommern und Ost-Brandenburg/Neumark, auseinandersetzen, aber auch nach der verlorenen Heimat ihrer Vorfahren fragen – und dies alles ohne unnötiges Polemisieren, Aufrechnen und die Begleiterscheinungen einer allzu moralisch selbstgewissen political correctness. Zu dieser Erfahrung passt ein vor einigen Jahren in Polen erschienenes Buch, genauer gesagt ein Atlas zu Flucht und Vertreibung, der bei der Behandlung dieses Themas strikt vergleichend vorgeht und nach meinem Eindruck auch und vor allem den vertriebenen Deutschen in bemerkenswerter Weise gerecht wird. 6 Es gibt nach meiner Kenntnis, auch was die Vielfalt und Qualität der Karten anbelangt, bis heute nichts Vergleichbares in Deutschland und es verwundert deshalb nicht, dass dieser Band inzwischen auch auf Deutsch erhältlich ist. 7 Nennen kann man in diesem Zusammenhang auch Veröffentlichungen, wie die Münchner Dissertation der jungen polnischen Historikerin Anna Jakubowska 8 oder die Gießener Dissertation der jungen deutschen Historikerin Maren Röger, übrigens eine Teilnehmerin der Tagung in Külz/Kulice 6

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Grzegorz Hryciuk/Małgorzata Ruchniewicz / Bożena Szaynok / Adrzej Żbikowski (Hgg.), Wysiedlenia, wypędzenia i ucieczki 1939–1959. Polacy, Żydzi, Niemcy, Ukraińcy. Atlas ziem Polski [Aussiedlungen, Vertreibungen und Fluchtbewegungen 1939–1959. Polen, Juden, Deutsche, Ukrainer. Atlas der Gebiete Polens], Warschau 2008. Grzegorz Hryciuk / Małgorzata Ruchniewicz / Bożena Szaynok / Adrzej Żbikowski (Hgg.), Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung. Ostmitteleuropa 1939–1959. Polen, Deutsche, Juden, Ukrainer, Warschau 2009 [Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2010]. Anna Jakubowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 25), Marburg 2012.

Einführung

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im Jahr 2009. 9 Solche Befunde sind natürlich nicht notwendigerweise repräsentativ, sie zeigen aber, dass etwas in Bewegung geraten ist. Der Zukunft gehören, so meine ich, international vernetzte, vergleichende Untersuchungen zu Fragen von Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration. Und sollte dieser Sammelband dazu einen Beitrag leisten können, so wäre dies für Herausgeber und Autoren das schönste Geschenk. Würzburg, im November 2013

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Matthias Stickler

Maren Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989 (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 23), Marburg 2011.

VERTRIEBENER SOZIALDEMOKRAT? – WENZEL JAKSCH UND SEIN VERHÄLTNIS ZUR SPD NACH 1949 Eva Dutz Der Sudetendeutsche Wenzel Jaksch gilt bis heute als einer der herausragendsten Politiker unter den Vertriebenen. Sein plötzlicher Tod im November 1966 riss eine tiefe Lücke. Nicht nur innerhalb des von ihm in den Jahren 1964 bis 1966 geführten Bundes der Vertriebenen (BdV) und der sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen, denen er angehört hatte, auch für die SPD bedeutete das Ableben Jakschs einen herben Verlust: Mit ihm verlor die Partei ihr wichtigstes Bindeglied zu den Vertriebenenorganisationen. Zwar wurde mit Reinhold Rehs ein weiteres Mal ein Sozialdemokrat an die Spitze des BdV gewählt, doch besaß dieser weder das nötige Prestige noch das Durchsetzungsvermögen, das den „kompromisslos zupackenden Vollblutpolitiker“1 Wenzel Jaksch ausgezeichnet und ihn über die Parteigrenzen hinweg zu einer angesehenen Autoritätsperson gemacht hatte. Gleichwohl waren die Beziehungen zwischen der Partei und Jaksch in den Jahren 1949 bis 1966 keineswegs frei von Spannungen. Vielmehr stellte das Verhältnis zwischen dem Sudetendeutschen und der SPD, der er seit seiner Einreise nach Westdeutschland (1949) angehörte, ein Wechselspiel zwischen Annäherung und Konfliktaustragung dar. Phasen der Zusammenarbeit wurden von heftigen innerparteilichen Spannungen abgelöst, die jedoch immer wieder bereinigt werden konnten. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Zeitspanne zwischen 1949 und 1966 im Hinblick auf drei wesentliche Fragestellungen hin zu untersuchen: 1. Welche Faktoren beeinflussten das Verhältnis zwischen Jaksch und der SPD in diesem Zeitraum? 2. Lassen sich einschneidende Wendepunkte aufzeigen? 3. Welche Rolle und welche Bedeutung erhielt Wenzel Jaksch tatsächlich innerhalb seiner Partei und deren politischer Ausrichtung? Aufschlüsse für die Beantwortung der hier im Fokus stehenden Fragen können vor allem jene Quellen geben, die sich im Nachlass Wenzel Jakschs befinden.2 1 2

Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004, 366. Der Nachlass Wenzel Jakschs befindet sich im Seliger-Archiv, das wiederum in die Bestände des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn eingegliedert wurde. Eine wissenschaftliche Biographie Jakschs stellt bis heute ein Desiderat dar, insbesondere sein Wirken als Politiker in der Tschechoslowakei ist bisher wenig erforscht; vgl. hierzu v. a. Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes

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Eva Dutz

Insbesondere die umfangreiche Korrespondenz Jakschs mit seinen (sudetendeutschen) Parteifreunden zeigt die Kritikpunkte des streitbaren Politikers am Kurs der SPD und gibt Auskunft über die von Jaksch gewünschte programmatische Ausrichtung der bundesdeutschen Sozialdemokratie. Wenzel Jaksch war vor seinem Wirken in der Bundesrepublik bereits über 30 Jahre politisch aktiv gewesen. Seine Überzeugungen, für die er in den Jahren der frühen Bundesrepublik eintrat, sowie sein politisches Selbstverständnis speisten sich in einem hohen Maße aus seinen eigenen Erfahrungen, die er als junger Politiker in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und in der Emigration gemacht hatte. Daher sollen zunächst zumindest stichpunktartig einige wichtige Stationen aus seiner politischen Laufbahn vor 1945 herausgegriffen werden. I. Wenzel Jaksch wurde am 26. September 1896 in Lang-Strobnitz im südlichen Böhmerwald geboren, er stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie.3 Mit vierzehn Jahren ging er nach Wien, wo er als Maurerlehrling in die Gewerkschaft eintrat. Hier kam er zum ersten Mal mit den politischen Ideen der altösterreichischen Arbeiterbewegung um Karl Renner und Otto Bauer in Kontakt. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als einfacher Soldat teilgenommen hatte, begann er, sich in der neu gegründeten Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP) zu engagieren.4 Die Parteiführung erkannte sein politisches und vor allem rhetorisches Talent und so stieg Wenzel Jaksch in der Hierarchie schnell auf: Schon 1921 gehörte er dem Parteivorstand an, wurde Redakteur des Parteiblatts „Sozialdemokrat“ und zog im Jahr 1929 als Abgeordneter in die tschechoslowakische Nationalversammlung ein. Als die DSAP bei den Wahlen 1935 erhebliche Einbußen hinnehmen musste und die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins5

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der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2013, v. a. 160–165, 267–276, 358–375; Schwartz arbeitet hier v. a. die konsequent antinationalsozalistische Haltung Jakschs heraus. Zu Jakschs Wirken nach 1945 vgl. neben der im Folgenden angeführten Spezialliteratur auch die neue Studie von Matthias Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Berlin 2012; vgl. ferner Eva Dutz, Sozialdemokratie und Vertriebene – Das Wirken Wenzel Jakschs in der Bundesrepublik Deutschland [ungedruckte Magisterarbeit, Mainz 2006]. Zum Folgenden vgl. neben Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit v. a. Emil Werner, Wenzel Jaksch, Bonn 1991. Zu Wenzel Jakschs politischer Tätigkeit in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und in der Emigration vgl. neben Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit v. a. Martin K. Bachstein, Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie, München/Wien 1974. Zur Geschichte der Sudetendeutschen Partei vgl. Ronald M. Smelser, Die Henleinpartei. Eine Deutung, in: Karl Bosl (Hg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 27. November 1977 und vom 20. bis 23. April 1978, München/Wien 1979, 187–201; Ralf Gebel, „Heim ins Reich!“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938–1945), München, 2. Auflage 2000.

Vertriebener Sozialdemokrat? – Wenzel Jaksch

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die meisten deutschen Wählerstimmen erhielt, war es Wenzel Jaksch, der die Initiative ergriff: Gemeinsam mit den anderen beiden demokratischen deutschen Parteien – den Christsozialen und den Landbündlern – versuchte er, den Erfolg der Henlein-Partei und die Anziehungskraft des Dritten Reiches auf die Sudetendeutschen zu brechen. Im Jahr 1938 wurde Jaksch zum Ersten Vorsitzenden der DSAP gewählt. In dieser Funktion schwor er seine Partei auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ein und kämpfte bis zuletzt gegen den Anschluss der Sudetenländer an das Dritte Reich. Als dieser nicht mehr zu verhindern war und das Münchener Abkommen in Kraft trat, musste Jaksch zunächst nach Prag fliehen, im März 1939 von dort über Polen nach London. Hier stand er an der Spitze der Nachfolgeorganisation der aufgelösten DSAP – der so genannten „Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten“ (TG) – und führte bis Ende 1942 die Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Exilregierung unter dem ebenfalls nach London emigrierten Edvard Beneš6 über eine zukünftige Form des Zusammenlebens von Tschechen und Sudetendeutschen nach dem Krieg.7 Als sich die Vertreibung abzuzeichnen begann und bei Ende des Krieges dann auch durchgeführt wurde, standen die sudetendeutschen Sozialdemokraten um Jaksch den Ereignissen politisch machtlos gegenüber und es blieb ihnen nur, die Weltöffentlichkeit auf die Vertreibungen aufmerksam zu machen. Aus den hier skizzierten Eckdaten der politischen Karriere sind einige Aspekte hervorzuheben, die für das Denken und politische Handeln Wenzel Jakschs in der Bundesrepublik und damit für die nachfolgende Analyse grundlegend sind: Zum einen sah Wenzel Jaksch zeitlebens im den Sudetendeutschen am Ende des Ersten Weltkrieges verweigerten Selbstbestimmungsrecht den Ausgangspunkt für die Radikalisierung der Deutschen in den böhmischen Ländern. Die Sudetendeutschen – und unter ihnen insbesondere die Sozialdemokraten – seien Opfer der Geschichte gewesen: zuerst in den Jahren 1918/19, dann 1938 und schließlich 1945, als sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Nie hätten sie selbst über ihr Schicksal entscheiden können, immer seien sie Objekt zunächst der tschechoslowakischen Staatspolitik und dann der Weltmächte gewesen.8 Nun, nach der Vertreibung, müssten sie aktiv die Politik in der Bundesrepublik in ihrem Sinne – das 6 7

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Zu Beneš vgl. zuletzt Jiří Gruša, Beneš als Österreicher, Klagenfurt 2012 (tschech. OA 2011). Vgl. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum Transfer der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München, 2. Auflage 2005; vgl. ferner Martin K. Bachstein, Die Politik der Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten als Hauptrepräsentanz des deutschen Exils aus der Tschechoslowakischen Republik, in: Karl Bosl (Hg.), Das Jahr 1945 in der Tschechoslowakei. Internationale, nationale und wirtschaftlich-soziale Probleme, Wien 1971, 65–100; vgl. Friedrich Prinz, Einleitung, in: Friedrich Prinz (Hg.), Wenzel Jaksch – Edvard Beneš. Briefe und Dokumente aus dem Londoner Exil 1939–1943, Köln 1973, 7–51, 31–44. Vgl. hierzu Wenzel Jaksch, Die Sudetenfrage im europäischen Geschichtsbild. Vortrag für die Geschichtswissenschaftliche Tagung des Collegium Carolinum am 1. Juni 1959 in München, in: Seliger-Gemeinde (Hg.), Wenzel Jaksch, Patriot und Europäer, München 1967, 83– 108, hier 95 sowie ausführlich Wenzel Jaksch, Europas Weg nach Potsdam, Stuttgart 1958 (3. ergänzte Auflage 1967).

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heißt für das Recht auf die Rückkehr in die Heimat und für das Selbstbestimmungsrecht – beeinflussen und mitgestalten. Zum anderen war Wenzel Jaksch – geprägt durch seine Erfahrungen als Politiker in der Ersten Tschechoslowakischen Republik – davon überzeugt, dass unter den verschiedenen politischen Strömungen, sofern sie demokratischen Charakters seien, eine grundsätzliche Bereitschaft „zur Kooperation und auch zur Koalition“9 vorhanden sein müsse. Nur so könnten brisante soziale und nationale Probleme auf demokratischem Wege bewältigt werden. Diese Überzeugung ermöglichte es Jaksch, in der späteren Bundesrepublik sein vielfältiges Engagement sowohl in den Vertriebenenorganisationen, in denen die politischen Einstellungen zum Teil erheblich differierten, als auch innerhalb der SPD gleichermaßen aufrecht zu erhalten. Durch seinen Widerstand gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung einerseits, seinen Kampf gegen die Vertreibungspläne Edvard Beneš‘ andererseits war Wenzel Jaksch in allen politischen Lagern der frühen Bundesrepublik hoch angesehen. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten sahen in ihm mehrheitlich auch nach der Vertreibung ihren führenden Repräsentanten, der nicht nur über die nötige politische Erfahrung, sondern auch über ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein verfügte, und dadurch wie kein anderer geeignet war, ihre Interessen zu vertreten. II. Bei seiner Einreise in die Bundesrepublik im Jahr 1949 fand Wenzel Jaksch ein politisches und kulturelles Umfeld vor, das sich in hohem Maße schon geformt hatte und in dem entscheidende Weichen bereits gestellt worden waren. Schon vor seiner Ankunft hatte er, von seinem Exilort London aus, versucht, Regelungen und Verbesserungen für die Integration der sudetendeutschen Sozialdemokraten in die neu gegründete SPD zu erreichen. Allerdings konnte er in den Verhandlungen mit dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer nur vage Zusicherungen zu seiner eigenen parteipolitischen Zukunft erreichen.10 Inzwischen hatte sich abgezeichnet, dass die etwa 100.000 Personen umfassende Gruppe derjenigen Sozialdemokraten, die aus den deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei in das besetzte Nachkriegsdeutschland gekommen waren, keineswegs so herzlich von ihren „reichsdeutschen“ Genossen empfangen wurden wie sie es erhofft hatten. Zwar hatte Kurt Schumacher auf dem Nürnberger Parteitag 1947 die sudetendeutschen Sozialdemokraten offiziell begrüßt und ihnen versi-

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Hans-Werner Martin, „…nicht spurlos aus der Geschichte verschwinden“. Wenzel Jaksch und die Integration der sudetendeutschen Sozialdemokraten nach dem II. Weltkrieg (1945– 1949), Frankfurt am Main u. a. 1996, 125. 10 Vgl. Martin, Wenzel Jaksch und die Integration, 295.

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chert, dass sie „gleichberechtigte Mitstreiter innerhalb der SPD“11 sein würden, doch bei der Besetzung von Führungsämtern innerhalb der Partei wurden die vertriebenen Sozialdemokraten kaum beachtet, ihr Engagement für den Wiederaufbau einer sozialdemokratischen Partei in der Bundesrepublik nahezu ignoriert. Daher bedeutete Wenzel Jakschs Einreise nach Deutschland Anfang 1949 für seine sudetendeutschen Genossen vor allem eine erhebliche moralische Unterstützung. Tatsächlich übernahm Jaksch für diese unmittelbar die Führungsrolle. Im Jahr 1950 wurde er auf Empfehlung Kurt Schumachers in den Parteivorstand der SPD gewählt.12 Drei Jahre später zog er – nachdem er zwischen 1950 und 1953 mit der Leitung des Hessischen Landesamtes für Flüchtlinge und Vertriebene ein administratives Intermezzo eingeschoben hatte – als Abgeordneter in den Bundestag ein, dem er bis zu seinem Tod angehören sollte. Da Wenzel Jaksch sich gleichzeitig in den vertriebenenpolitischen Organisationen zu engagieren begann, stand er von Beginn seiner politischen Karriere in der Bundesrepublik zwischen den beiden Feldern: Den Vertriebenenorganisationen auf der einen, der Parteipolitik auf der anderen Seite. Durch diese Stellung „war es ihm möglich, einerseits die Vorstellungen der Vertriebenen in die sozialdemokratische Politik hineinzutragen, andererseits einen großen Teil des Wählerpotentials der Heimatvertriebenen für die SPD zu mobilisieren.“13

Allerdings brachte diese Mittlerposition Jaksch auch immer wieder in Bedrängnis. Gerade in seinem Bezirksverband Hessen-Süd, der traditionell zum linken Parteiflügel der SPD gerechnet wurde, musste er selbst um seine eigene Position sowie die Durchsetzung der vertriebenenpolitischen Angelegenheiten hart kämpfen. Ein erster ernst zu nehmender Konflikt zwischen Jaksch und seinem Bezirksverband bahnte sich schon im Vorfeld zu den Bundestagswahlen 1953 an.14 Jaksch sollte auf die Landesliste gesetzt werden, womit er seine Chancen für einen Einzug in den Bundestag als äußerst schlecht einschätzte. In einem erbitterten Brief an die Vorsitzenden der Parteibezirke Hessen-Süd und Hessen-Nord beklagte er nicht nur die Diskriminierung seiner Person, sondern die vertriebenenfeindliche Praxis des südhessischen Bezirks im Allgemeinen. Die Tatsache, dass einzelne Ortsvereine im Wesentlichen durch die Mitarbeit der sudetendeutschen Sozialdemokraten getragen würden, werde von den hessischen Bezirken in keiner Weise honoriert. Die Nichtberücksichtigung der Sudetendeutschen in der alltäglichen Parteiarbeit sowie bei der Aufstellung der Landeslisten seien allerdings nicht nur demütigende Faktoren, sondern schadeten, so Jaksch, der gesamten Partei. Würde 11 Kurt Schumacher, Rede auf dem Nürnberger Parteitag, 1947, zitiert nach Hartmut Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, in: Institut für staatsbürgerliche Bildung in Rheinland-Pfalz (Hg.), Die sudetendeutsche Frage. Entstehung, Entwicklung und Lösungsversuche 1918–1973. Analysen und Dokumente, Neuwied 1974, 91–132, hier 107. 12 Vgl. Werner, Wenzel Jaksch, 12. 13 Johann Heinrich Frömel, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Vertriebenenverbände 1945–1966. Vom Konsens zum Dissens, Bonn 1999, 29. 14 Im Folgenden vgl. Wenzel Jaksch an die Vorsitzenden der Parteibezirke Hessen-Süd und Hessen-Nord, 08.04.1953 (AdsD NL Ollenhauer, 407).

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der Bevölkerungsanteil der Heimatvertriebenen in Hessen durch die Aufstellung vertriebener Genossen berücksichtigt, sei ein großes Reservoir an Wählerstimmen auszuschöpfen. Jaksch verlangte in seinem Schreiben an Ollenhauer „eine politische Grundsatzentscheidung der zuständigen Gremien der hessischen SPD […], die Entscheidung nämlich, ob die sozialdemokratische Bewegung Hessens bei der kommenden Bundestagwahl auf die Werbekraft der heimatvertriebenen Sozialdemokraten verzichten will oder nicht.“15

Letztlich zog dieser Konflikt zwar noch keine Konsequenzen nach sich, doch offenbart er einige wesentliche Aspekte, die Aufschluss über Jakschs Einstellung zu der (vertriebenen-)politischen Ausrichtung seiner Partei auch in den folgenden Jahren geben. Zum einen hatte sich bei Wenzel Jaksch schon in den Anfangsjahren seiner politischen Laufbahn in der Bundesrepublik eine große Unzufriedenheit mit dem Umgang der Partei mit den sudetendeutschen Genossen aufgestaut, der er in seinem Brief zum ersten Mal Luft verschaffte. Lange bevor die Parteiführung – und in ihr insbesondere Herbert Wehner16 – sich intensiv um die Vertriebenen als Wählerschicht bemühte und die Annäherung an deren Verbände aktiv vorantrieb, hatte Jaksch auf das hohe Potential, das es für die Sozialdemokratie in dieser Hinsicht zu nutzen galt, hingewiesen. Die Unzufriedenheit Wenzel Jakschs mit seiner Partei und ihrem Umgang mit den sudetendeutschen Genossen wurde einige Jahre später auch für die Öffentlichkeit sichtbar. Auf ihrem Münchener Parteitag im Juli 1956 hatte die SPDSpitze den tschechischen Sozialdemokraten Milos Vanek als Redner eingeladen.17 Jaksch und die Vorsitzenden der Landesverbände der Seliger-Gemeinde hatten zuvor eindringlich dagegen protestiert, da Vanek die Vertreibung der Sudetendeutschen als „gerecht und endgültig“18 bezeichnet habe. Trotz ihres Protestes erhielt Vanek auf dem Parteitag das Wort, worauf die sudetendeutschen Delegierten geschlossen den Saal verließen. Noch während des Parteitags zog Wenzel Jaksch auf Grund dieser Vorkommnisse persönliche Konsequenzen: Er legte seine Tätigkeit im Parteivorstand nieder und verzichtete auf eine erneute Kandidatur.19 Der Vorfall auf dem Münchener Parteitag hatte gezeigt, dass Jaksch und seine sudetendeutschen Mitstreiter innerhalb der SPD sich nicht mehr dazu bereit erklärten, Entscheidungen der Parteiführung, die sich ihrer Meinung nach gegen die Anliegen der Vertriebenen richteten, ohne weiteres hinzunehmen. Zwar zeugte dies – wie Hartmut Soell in seiner Studie betonte – von einem gesteigerten Selbstbewusstsein der sudetendeutschen Sozialdemokraten.20 Gleichzeitig wurde 15 Ebd., Hervorhebung im Original. 16 Vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 239. 17 Vgl. Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, 109. Vgl. hierzu auch Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, S. 64–67. 18 Jaksch aus dem SPD-Parteivorstand ausgeschieden, in: Die Brücke, 21.06.1956, S.1. 19 Vgl. Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, 109; zum „Fall Vanek“ erläuterte Jaksch in einem Rundbrief an die Mitglieder der Seliger-Gemeinde, auch vor dem Parteitag habe das ignorierende Verhalten der SPD-Fraktion gegenüber den sudetendeutschen Abgeordneten in der Partei deren geringe Wertschätzung in der Partei gezeigt. 20 Vgl. Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, 109.

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allerdings auch deren innerparteiliche Machtlosigkeit offensichtlich. Der Parteitag habe – so die Auffassung Eugen Lembergs – offengelegt, wie sehr die sudetendeutschen Sozialdemokraten „verzweifelt, aber mit wenig Erfolg bemüht“21 gewesen seien, „die in Westdeutschland verbreitete Instinktlosigkeit zu bekämpfen, die sich in harmlosen Einladungen an tschechische und jugoslawische Vorkämpfer der Vertreibung“22 gezeigt hätten. Wie sehr der Vorfall die Stellung Jakschs allerdings tatsächlich geschwächt hatte, zeigte sich noch ein Jahr später: Auf der Landesdelegiertentagung im Juli 1957 in Frankfurt warfen ihm seine Genossen des südhessischen Bezirks unter anderem sein Verhalten auf dem Münchener Parteitag vor und stellten einen Antrag, Jaksch von der hessischen Landesliste zu streichen.23 Zwar wurde dieser abgelehnt, er zeigte allerdings offensichtlich, wie Jaksch um seine Position innerhalb seines Parteibezirks zu kämpfen hatte24 und wie sehr ihm öffentliche Auseinandersetzungen schadeten. Beide hier erwähnten Konflikte verdeutlichen, dass Wenzel Jaksch in seiner Doppelfunktion als Vorsitzender der Seliger-Gemeinde und hochrangiges Parteimitglied die Rolle des Vorkämpfers für die Rechte der Vertriebenen im Allgemeinen, der sudetendeutschen Sozialdemokraten im Besonderen übernahm. Bis zu diesem Zeitpunkt gaben ihm vor allem die mangelnde Einbindung der sudetendeutschen Sozialdemokraten in die Politik der SPD sowie die fehlende Rücksicht der Partei auf deren Anliegen und Befindlichkeiten Anlass zur Kritik. Gegen Ende der fünfziger Jahre trat nun mit der Entwicklung einer eigenständigen sozialdemokratischen Ostpolitik25 ein weiterer gewichtiger Faktor hinzu, der das Verhältnis zwischen Jaksch und der Partei in den folgenden Jahren entscheidend belasten sollte. In der SPD hatte die Ostpolitik eine erste entscheidende Wende in den Jahren 1956/57 erfahren. Bis dahin war in der Partei „Osteuropapolitik […] kein Thema gewesen.“26 Doch mit der Einbindung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Bündnissysteme wurde auch den Sozialdemokraten mehr und mehr bewusst, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands mit den bisherigen Mitteln nicht zu erreichen war. Fortan erarbeitete die Partei Vorschläge für den Umgang mit den kommunistischen Ostblock-Staaten. 21 Eugen Lemberg, Wandel des politischen Denkens, in: Eugen Lemberg u. a. (Hgg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Bd. 3, Kiel 1959, 435–474, hier 456. 22 Ebd. 23 Vgl. Heinrich Windelen, SOS für Europa, Stuttgart 1972, 83; Wenzel Jaksch an „Parteifreunde“, 16.07.1957 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch J 5). 24 Daneben wurde Jaksch seine Freundschaft zu Otto Strasser in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg angelastet; vgl. Wenzel Jaksch an „Parteifreunde“, 16.07.1957 (AdsD/SeligerArchiv NL Jaksch, J 5). 25 Vgl. Kurt Thomas Schmitz, Deutsche Einheit und Europäische Integration. Der sozialdemokratische Beitrag zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des programmtischen Wandels einer Oppositionspartei, Bonn 1978; vgl. auch Beatrix Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960–1966, Bonn 1990. 26 Petra Weber, Carlo Schmid. 1896–1979. Eine Biographie, München 1996, 550.

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Generell begrüßte Wenzel Jaksch den Schritt seiner Partei, da auch er „den Schlüssel der Wiedervereinigung und zu einem gesicherten Frieden im Osten“27 sah. Auf seine Initiative hin war ein Unterausschuss für osteuropäische Fragen ins Leben gerufen worden,28 der Konzepte für den Umgang mit den Ostblock-Staaten erarbeiten sollte. Jaksch befürwortete grundsätzlich den Dialog mit den osteuropäischen Ländern, wobei er den Vertriebenen eine besondere Rolle zuschrieb: Auf Grund ihrer Erfahrungen im Zusammenleben mit den osteuropäischen Völkern und ihrer Kenntnis des Ostens hielt er gerade sie für prädestiniert dafür, die Ostpolitik der Parteien aktiv mitzugestalten. Letztlich sollte ein Dialog mit den osteuropäischen Völkern herbeigeführt werden, um diese in ihrem Freiheitskampf gegen den Kommunismus zu ermutigen.29 Ein Abrücken von den Rechtsstandpunkten der Bundesrepublik – „etwa einmal die deutschen Ostgebiete abzuschreiben oder zu sagen, das sudetendeutsche Heimatrecht sei ausgelöscht“30 – müsse dabei allerdings in jedem Falle verhindert werden, sei es doch gleichbedeutend mit der „Anerkennung des Status quo“ und würde „die Schleusen der Unmenschlichkeit weiter öffnen.“31 Demgegenüber waren aus den Reihen der SPD-Fraktionsmitglieder um die Mitte der fünfziger Jahre vereinzelte Stimmen zu hören, die durchaus auch diese – von Jaksch und den Vertretern der Vertriebenenorganisationen kategorisch ausgeschlossene – Möglichkeit in Betracht zogen. Insbesondere Carlo Schmid, Mitglied des Parteivorstandes, übernahm dabei „die undankbare Rolle des Vorkämpfers“32 innerhalb der SPD. Um Versöhnung und Ausgleich bemüht, plädierte er im Oktober 1956 – zwar im Namen seiner Person, nicht der Partei – für die Einsicht, dass eine Einigung über die Oder-Neiße-Frage nur durch beiderseitiges Entgegenkommen möglich sei: „Zu einer Einigung aber müsse man kommen und zwar bald, denn es sei ein Irrtum, zu glauben, daß es eine deutsche Wiedervereinigung geben könne, ‚ohne daß vorher über das Schicksal der Gebiete östlich der Oder und Neiße Einverständnis erzielt wird‘.“33

Zwar distanzierte sich die Parteiführung umgehend von dem in Schmids Äußerungen implizierten Verzicht auf die ehemals deutschen Gebiete östlich der OderNeiße-Linie,34 doch auch der „Vorwärts“, das offizielle sozialdemokratische publizistische Organ, begann nun, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Im September 1957 empfahl er, die Bundesrepublik müsse der polnischen Haltung gegenüber in der Grenzfrage „Verständnis entgegenbringen“35. Die westdeutsche 27 Wenzel Jaksch, Zu den Aufgaben des Unterausschusses (AdsD NL Ollenhauer, 407). 28 Vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 386–389. 29 Vgl. Fremdbestimmung oder Selbstbestimmung. Interview mit Wenzel Jaksch, 24.11.1966, in: Seliger-Gemeinde (Hg.), Wenzel Jaksch, Patriot und Europäer, 154–157, 155. 30 Ebd., 154. 31 Ebd. 32 Weber, Carlo Schmid, 550. Zum „Fall Carlo Schmid“ vgl. auch Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 67–69. 33 Weber, Carlo Schmid, 551. 34 Vgl. ebd., 552. 35 „P.M.“, Ostpolitik in der Sackgasse. Schein-Aktivität in Bonn – Das Problem der OderNeiße-Grenze, in: Vorwärts, 04.10.1957, Nr. 40, 1.

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Öffentlichkeit müsse zudem wahrnehmen, dass ein Verzicht auf die ehemals deutschen Gebiete von Teilen der westlichen Welt erwartet werde. Schon allein diese Bestandsaufnahme des sozialdemokratischen Blattes rief den Widerspruch der Vertriebenenverbände hervor und auch Jaksch warnte in einem Brief an die Redaktion vor einem „taktische[n] Kurzschlußdenken“36. Jakschs umgehendes Einschreiten gegenüber derartigen Äußerungen erklärte sich nicht nur aus seinen persönlichen Vorstellungen einer angemessenen sozialdemokratischen Osteuropapolitik. Vielmehr brachten ihn Äußerungen wie diejenige Carlo Schmids oder die des „Vorwärts“ auch innerhalb der Vertriebenenorganisationen in Bedrängnis. Auf diese schwierige Situation wies er die Parteiführung ausdrücklich hin: Die Arbeit sozialdemokratischer Vertriebener innerhalb der Landsmannschaften werde durch die ostpolitischen Vorstöße erschwert, die Stellung der führenden sozialdemokratischen Vertriebenenfunktionäre „durch die Konzeptionslosigkeit der eigenen Partei in solchen Fragen nicht gebessert.“37 Als sich seine sudetendeutschen Genossen über Benachteiligungen bei der Aufstellung der Landeslisten zu den hessischen Landtagswahlen beschwerten, kam es – fast folgerichtig – zum Eklat. Wenzel Jaksch erklärte in einem Brief an den Parteivorsitzendenden Erich Ollenhauer seinen Austritt und rechnete mit der Partei und deren Verhaltensweisen ab38: Die Nichtberücksichtigung der sudetendeutschen Sozialdemokraten zeige zum wiederholten Male, dass die „historischen Verdienste und auch die Gegenwartsaufgabe der Seliger-Gemeinde“39 auf keine Weise gewürdigt würden. Eine Partei, die sich zum Heimatrecht der Vertriebenen bekenne, müsse aber – so Jaksch weiter – „gewissenhaft darauf achten, daß den sozialistischen Kräften Ostdeutschlands und des Sudetenlandes in ihrem Gefüge eine gesicherte Heimstatt gewährt“ werde. Dies sei „kein Opfer, sondern eine Sache der politischen Klugheit. Ein großzügiges Verständnis für die Erlebniswelt der Vertriebenen und für ihre heimatpolitischen Bindungen hätte die SPD aus der Ohnmacht einer Daueropposition herausführen können.“40 Er selbst sei „schon seit längerer Zeit mit der Haltung der Partei in Fragen der Bundespolitik nicht einverstanden“41 gewesen, habe sich aber Mehrheitsbeschlüssen unterworfen, in der „Hoffnung, mit den Mitteln der Parteidemokratie eine Änderung herbeiführen zu können“.42 Der Umgang mit den Vertriebenen habe allerdings deutlich gemacht, dass innerhalb der Partei keine demokratischen Verhältnisse herrschten: „Demokratie bedeutet nicht, daß eine Zufallsmehrheit die Zufallsminderheit am laufenden Band vergewaltigen darf.“43 In einer – eigentlich als Grundlage für eine innerparteiliche Diskussion 36 Wenzel Jaksch an die Redaktion des „Vorwärts“, 04.10.1957 (AdsD NL Ollenhauer, 408). 37 Wenzel Jaksch, Die Vertriebenen in der SPD. Ein Tatsachenbericht [1958] (AdsD/SeligerArchiv 2144). 38 Vgl. zum folgenden auch Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 91–97. 39 Wenzel Jaksch an Erich Ollenhauer, 08.10.1958 (AdsD NL Ollenhauer, 408). 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., Hervorhebung im Original.

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gedachten – Denkschrift, die Jaksch dem Parteivorsitzenden ebenfalls zugeschickt hatte, ging er zudem auf die Fragen einer zukünftigen sozialdemokratischen Osteuropapolitik ein. So beklagte er, dass die Arbeit des von ihm initiierten Unterausschusses in keiner Weise beachtet worden sei, sondern die Parteiführung seine Tätigkeit bewusst ignoriert habe. Er selbst, als Vorsitzender des Unterausschusses, sei bei Gesprächen der Parteiführung nicht hinzugezogen worden, was er als Zeichen dafür bewertete, dass „der Gedanke einer gleichberechtigten Mitarbeit der heimatvertriebenen Sozialdemokraten in den Fragen der Ostpolitik (…) [in] führenden Parteikreisen noch nicht durchgedrungen“44 sei. Alles in allem prognostizierte Wenzel Jaksch seiner Partei eine finstere Zukunft, nämlich eine Entwicklung hin zu einer „westdeutschen Regionalpartei (…), welche von den Heimatvertriebenen die bedingungslose Einschmelzung“45 erwarte. Käme noch eine Ostpolitik hinzu, „welche die Gegnerschaft der großen Vertriebenenverbände“46 herausfordere, dann sei der „Weg zur Ohnmacht des demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik endgültig beschritten.“47 Seinen Austritt wolle er erst nach den Wahlen Ende November öffentlich bekannt geben, um den Wahlkampf nicht negativ zu beeinflussen. Nicht nur Jakschs langjähriger Weggefährte Ernst Paul, auch zahlreiche andere Funktionäre der Seliger-Gemeinde drängten ihren Vorsitzenden, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken48 und es waren wohl vor allem deren Bitten, die Jaksch dazu bewegten, sein Parteibuch noch einmal zurückzunehmen. Wäre er tatsächlich aus der Partei ausgetreten, so hätte dies nicht nur für die sudetendeutschen Sozialdemokraten, sondern auch „für die SPD einen empfindlichen Tiefschlag bedeutet, war dieser [Jaksch] doch gleichsam ihr vertriebenenpolitisches Aushängeschild.“49 Dies traf umso mehr zu, als die Partei seit 1959 aktiv versuchte, mit grundlegenden Änderungen in ihrer programmatischen Ausrichtung den Weg aus der Opposition hin zur Regierungsverantwortung zu ebnen und in diesem Zusammenhang auch Wenzel Jaksch eine neue Rolle innerhalb der Partei zuschrieb. Mit ihrer innenpolitischen Wende, die die SPD mit dem „Godesberger Grundsatzprogramm“ von 1959 einleitete, vollzog sie den Schritt von der Arbeiter- zur Volkspartei und öffnete sich neuen Wählerschichten.50 Wenzel Jaksch begrüßte diese Öffnung, die er schon vor dem Zweiten Weltkrieg als für eine erfolgreiche sozialdemokratische Politik notwendig erachtet und in den fünfziger Jahren immer wie-

44 Wenzel Jaksch, Die Vertriebenen in der SPD. Ein Tatsachenbericht [1958] (AdsD/SeligerArchiv 2144) 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Vgl. Ernst Paul an Wenzel Jaksch, 08.11.1958 (AdsD NL Ollenhauer, 408); vgl. Roman Wirkner an Wenzel Jaksch, 15.11.1958 (AdsD/Seliger-Archiv Rowi 197). 49 Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 239. 50 Vgl. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin/Bonn 1982, 449–467.

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der eingefordert hatte.51 Auch der außenpolitische Gemeinsamkeitskurs, den Herbert Wehner mit seiner berühmt gewordenen Rede am 30. Juni 1960 im Deutschen Bundestag eingeleitet hatte52, entsprach Jakschs Vorstellungen einer erfolgreichen sozialdemokratischen Programmatik, hatte er selbst doch schon Jahre zuvor auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen Konzepts aller demokratischen Parteien der Bundesrepublik hingewiesen.53 Ausschlaggebend für das in den nächsten Jahren vertrauensvolle Verhältnis zwischen Jaksch und seiner Partei sollte jedoch die deutliche Hinwendung der sozialdemokratischen Führung zu den Vertriebenen werden. Diese – vor allem von Herbert Wehner vorangetriebene – Annäherung an deren bisher von der Partei vernachlässigten Organisationen war im Wesentlichen durch wahltaktische Überlegungen motiviert.54 Neben internen Aussprachen, wie etwa derjenigen zwischen dem Vertriebenenausschuss der SPD und der Redaktion des „Vorwärts“, in der Meinungsverschiedenheiten bereinigt werden konnten55, initiierte die Partei seit dem Herbst 1959 Treffen mit den verschiedenen Landsmannschaften, um über deren Probleme, insbesondere die soziale Integration sowie Fragen der Osteuropapolitik, zu diskutieren. In einem dieser Gespräche zwischen der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der Partei wurde die so genannte „Bergneustädter Erklärung“ erarbeitet, die sieben Thesen enthielt, auf die sich beide Seiten hatten einigen können. Die Wiedergutmachung der Vertreibung wurde gefordert, worunter ausdrücklich die Rückkehr in die Heimat verstanden wurde. Neben dem Bekenntnis zum „Recht auf Heimat“ wurde im Punkt vier „der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker“ verfochten. Dieses sei „eine umfassende Idee; sie läßt im gegebenen Fall verschiedene staatsund völkerrechtliche Lösungen zu.“56 Mit dieser Formulierung hatte sich die Parteispitze weit aus dem Fenster gewagt, konnte sie doch so aufgefasst werden, als würde die SPD auch einen Anschluss der Sudetenländer an die Bundesrepublik Deutschland unterstützen.57 Die „Bergneustädter Erklärung“ wurde von beiden Seiten als großer Erfolg gefeiert und stellte die gegenseitigen Beziehungen auf ein neues Fundament. 51 Vgl. Bachstein, Wenzel Jaksch und die sudetendeutsche Sozialdemokratie, 86; Jaksch hatte 1959 einen Arbeitskreis „freiheitlicher Sozialisten“ gegründet, der über die Außenpolitik sowie die Nachwuchssituation der SPD diskutierte, vgl. Wenzel Jaksch, Zweiter Rundbrief freiheitlicher Sozialisten, 02.04.1959 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 20). 52 Zur Rede Wehners vgl. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition, 57–67. 53 Vgl. Wenzel Jaksch, Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe. Die ‚Geheimwaffen‘ Westdeutschlands. Vortrag auf der Jahrestagung der SeligerGemeinde am 17./18.12.1955 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 22). 54 Vgl. Pertti Ahonen, After the expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990, New York 2003, 155f.; vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 241. 55 Vgl. Wahltaktik oder Kurswechsel? Wie sich die Wendung in der SPD wirklich vollzog, in: Die Brücke, 01.10.1960 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 19). 56 Erklärung des Präsidiums der SPD und des Bundesvorstandes der SL (Sog. Bergneustädter Erklärung), 22.01.1961, in: Fritz Peter Habel (Hg.), Dokumente zur Sudetenfrage. Unerledigte Geschichte, München, 5. völlig neu bearbeitete und ergänzte Auflage 2003, 764f. 57 Vgl. Ahonen, After the expulsion, 157; vgl. Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, 112.

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Wenzel Jaksch sah in ihr den „größten heimatpolitische[n] Erfolg der Sudetendeutschen seit der Vertreibung.“58 Noch im selben Jahr erlebte er selbst eine bis vor kurzem für undenkbar gehaltene Anerkennung durch die Parteiführung: Jaksch wurde im Schattenkabinett Willy Brandts vor den Bundestagswahlen 1961 als künftiger Bundesvertriebenenminister designiert. Zwar gab es immer noch vereinzelte Vorstöße einiger Fraktionsmitglieder, doch Jaksch und seine vertriebenen Genossen vertrauten der Parteispitze nun mehr als je zuvor. Gleichzeitig jedoch leitete diese – spätestens seit dem Jahr 1963 – ihre „Neue Ostpolitik“ ein und fuhr ab diesem Zeitpunkt eine doppelgleisige Politik. Matthias Stickler hat anhand einer Analyse der Reden Willy Brandts darauf hingewiesen, wie dieser bemüht war, „zum einen die Erwartungshaltung der Vertriebenen (…) zu befriedigen, zum andern aber zu konkrete Aussagen, auf die man die Partei hätte festnageln können, zu vermeiden.“59 Den Vertriebenenpolitikern innerhalb der SPD war es demnach nahezu unmöglich, die Strategie der eigenen Partei zu durchschauen. Auch Wenzel Jaksch sah in den Jahren 1961 bis 1965 keinerlei Anlass, an der offiziellen, scheinbar BdV-freundlichen Politik seiner Partei zu zweifeln. Dass sich dem Meinungswandel in den Medien, der sich seit dem Bau der Mauer im August 1961 vollzog, weite Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft und schließlich auch immer mehr seiner Parteifreunde anschlossen, wurde Jaksch erst nach und nach bewusst. Besonders deutlich zeigte sich dies in den unterschiedlichen Beurteilungen der 1965 veröffentlichten EKD-Denkschrift60, die die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten um den Preis der Anerkennung der OderNeiße-Linie forderte. Der BdV – dem Jaksch seit 1964 als Präsident vorstand61 – entschloss sich zu einer „sofortigen Kampfansage“62 und lehnte die Vorschläge der Denkschrift kategorisch ab. Wenzel Jaksch bewertete die Schrift als „eine sehr eingegrenzte Erörterung der deutsch-polnischen Streitfragen, die lediglich durch einen Halbsatz über die Sudetenfrage ergänzt wird“.63 Die Verfasser hätten durch ihre unreflektierte Annahme, der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete werde zu 58 Wenzel Jaksch, Soziale Geborgenheit in der Freiheit. Dieser Wahlkampf ist ein Zwiegespräch des freien Teiles der deutschen Nation mit ihrem Schicksal, in: Die Brücke, 05.08.1961, Sonderdruck. 59 Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 245. 60 Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, 15.10.1965, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 11, 2. Hbd., Frankfurt am Main 1978, 869–897. 61 Die Wahl Jakschs zum BdV-Präsidenten markierte den Höhepunkt des (scheinbaren) Gleichklangs von BdV und SPD; vgl. hierzu ausführlich Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 241–255 und Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 183–196. 62 Reinhard Henkys, Die Denkschrift in der Diskussion, in: Ders. (Hg.), Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift, Stuttgart/Berlin 1966, 33– 91, 34. 63 Wenzel Jaksch, Die Massenvertreibungen in politischer, rechtlicher und historischer Sicht. Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll, 22.01.1966, in: SeligerGemeinde (Hg.), Wenzel Jaksch, Patriot und Europäer, 230–244, 232.

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einer Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Polen führen, eine Lawine ins Rollen gebracht. Zahlreiche Medienvertreter hätten diese Argumentationskette übernommen: „Auf der ganzen Linie ist damit eine Selbstabwertung der deutschen Position in Gang gesetzt worden.“64 Mit dieser kompromisslosen Haltung geriet Jaksch in Konflikt mit seiner Partei. Denn in der SPD wurde der Vorstoß, den die Verfasser in den Fragen der Osteuropapolitik gemacht hatten, mehrheitlich begrüßt. In einer Stellungnahme, die Mitglieder der Fraktion im „Arbeitskreis Außenpolitik“ erarbeitet hatten, wurde insbesondere das Bemühen der Schrift hervorgehoben, „im deutschen Volk auch für die Gefühle und Interessen des polnischen Volkes Verständnis zu wecken.“65 Zwar lägen die deutschen und polnischen Standpunkte noch weit auseinander, eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verständigung werde aber eine Annäherung der beiden Haltungen bringen. Es gelte weiterhin, dass in Verhandlungen über eine deutsche Wiedervereinigung die Grenzen vom 31. Dezember 1937 den Ausgangspunkt der Gespräche bilden sollten. Die SPD werde sich auch künftig „bemühen, so viel wie möglich von Deutschland für die Deutschen zu erhalten.“66 Die „Bereitschaft zu Opfern“67 müsse jedoch vorhanden sein, wolle man die Einheit Deutschlands auf lange Sicht erreichen. Damit stellte sich die Partei bei weitem nicht mehr so entschieden wie gewohnt gegen die Forderungen, in territorialen Fragen Konzessionen einzugehen. Beide Seiten – der BdV unter der Leitung Jakschs auf der einen, die SPDParteiführung auf der anderen – versuchten, einer direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen.68 Doch die Differenzen in der unterschiedlichen Beurteilung der Schrift konnten nicht gänzlich vom Tisch gewischt werden. In Folge der Diskussionen wurden die kritischen Stimmen innerhalb der Partei zu den öffentlichen Äußerungen der Vertriebenenfunktionäre immer lauter, und Jaksch selbst sah sich innerhalb seiner Fraktion heftigen Vorwürfen zu seinem Auftreten in der Sendung „Unter uns gesagt“ ausgesetzt.69 Wie sehr die SPD inzwischen von den Zielen der Heimatvertriebenen abgerückt war zeigte schließlich ihr Dortmunder Bundesparteitag Anfang Juni 1966. Dort wurde eine große Anzahl von Anträgen, die die Deutschland- und Ostpolitik betrafen, eingebracht. Große Aufmerksamkeit und überwiegend Zustimmung fand vor allem die Grundsatzrede des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-

64 Ebd., 240. 65 Erklärung der Bundestagsfraktion der SPD zur Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, 04.05.1966, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 12, 1. Hbd., Frankfurt am Main 1981, 637f., 637. 66 Ebd., 638. 67 Ebd. 68 Insbesondere Herbert Wehner ließ sich auf keine eindeutige Position zur EKD-Denkschrift festlegen; vgl. Henkys, Denkschrift, 53f. und Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 239–246. 69 Vgl. Protokoll der SPD-Fraktionssitzung vom 07.12.1965, in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961–1966, 2. Hbd., Düsseldorf 1993, 759–771.

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Bundestagsfraktion Helmut Schmidt.70 Bei Wenzel Jaksch und den übrigen Vertriebenenvertretern allerdings sorgten Schmidts Ausführungen für Beunruhigung, forderte dieser doch Schritte in der Osteuropapolitik, die vom deutschen Volk letztlich Opfer verlangen würden und sich unter anderem auch „auf die Gestaltung der Grenzen des wiedervereinigten Landes“71 bezögen. Die Bereitschaft zu solchen Opfern müsse deutlich gemacht werden, um das Vertrauen der osteuropäischen Nachbarn zu erlangen. Neben diesem Plädoyer für eine „flexiblere Haltung in der Frage der Ostgrenze“72 riet Schmidt dazu, das Münchener Abkommen als „von Anfang an nichtig“73 zu behandeln. Damit empfahl Schmidt, dem Drängen der tschechoslowakischen Regierung gegenüber der Haltung der Bundesrepublik in der Frage, wie das Abkommen zu behandeln sei, nachzugeben.74 Das Bemühen der SPD, einen direkten Dialog mit der tschechoslowakischen Seite aufnehmen zu wollen, hatte Schmidt unmittelbar vor dem Parteitag schon untermauert. Dabei hatte er der in deutscher Sprache erscheinenden Prager „Volkszeitung“ ein Interview gegeben, das noch während des Parteitags veröffentlicht wurde. Schmidt hatte darin die „Bergneustädter Erklärung“ zu „einem Gespräch, einer Unterhaltung, einem Meinungsaustausch“75 abgewertet und die Landsmannschaften in die Nähe von Heimatvereinen ohne jeglichen Einfluss auf die Politik der Bundesrepublik gerückt: Die Existenz der Landsmannschaften in der Bundesrepublik sei, so Schmidt, „nichts Ungewöhnliches“, gäbe es doch auch in Südamerika „Vereine von Leuten, die vor ein oder zwei Generationen ausgewandert sind aus Deutschland, die also auch auf eine gewisse Weise den Kontakt untereinander halten wollen“. Was das Verhalten der Vertriebenen betreffe, so müsse man „zwischen den Äußerungen einiger einzelner Führer der Landsmannschaften und den Äußerungen der Masse der Menschen, die in solchen landsmannschaftlichen Verbänden sich zusammengefunden“ hätten, unterscheiden. Während die Mehrzahl der Vertriebenen „in ihrer friedlichen Gesinnung überhaupt nicht (…) von der friedlichen Gesinnung des deutschen Volkes überhaupt“ abweiche, gebe es einige „die in der Formulierung ihrer Standpunkte Worte“ gebrauchten, die dann Gefahr liefen, als nicht sehr friedlich angesehen zu werden76. Damit hatte Schmidt zwar das friedli70 Vgl. Hans Georg Lehmann, Öffnung nach Osten. Die Ostreisen Helmut Schmidts und die Entstehung der Ost- und Entspannungspolitik, Bonn 1984, 22f. 71 Helmut Schmidt, Auszug aus dem Referat „Deutschlandpolitik unter den sich ändernden weltpolitischen Bedingungen“ auf dem Parteitag der SPD in Dortmund, 3. Juni 1966, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe, Bd. 12, 2. Hbd., Frankfurt am Main 1981, 821–832, 824. 72 Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 251. 73 Schmidt, Auszug aus dem Referat „Deutschlandpolitik unter den sich ändernden weltpolitischen Bedingungen“, 824. 74 Seit 1963 wurde diese Frage zwischen der Tschechoslowakischen Republik und der Bundesrepublik erörtert. Dabei ging es im Wesentlichen darum, ob das Münchener Abkommen „ex tunc“ oder „ex nunc“ zu behandeln sei. 75 Gutnachbarliche Beziehungen. Ein deutsch-tschechischer Dialog. Auszug aus dem Interview Helmut Schmidts mit der „Volkszeitung“ am 4. Juni 1966, 10. Juni 1966 (AdsD/SeligerArchiv NL Jaksch, J 9). 76 Zitate ebd.

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che Verhalten der Masse der Vertriebenen hervorgehoben, sich jedoch auch – vorsichtig, aber doch unüberhörbar – vom BdV, und damit auch von Jaksch selbst, distanziert. Die Äußerungen Helmut Schmidts auf dem und rund um den Parteitag riefen erwartungsgemäß heftige Proteste der sozialdemokratischen Vertriebenen hervor.77 Wenzel Jaksch, der selbst krankheitsbedingt in Dortmund nicht hatte teilnehmen können, reagierte umgehend. Für das Verhalten der Seliger-Gemeinde regte er an, unter anderem dagegen Einspruch zu erheben, „dass Helmut Schmidt die gemeinsame Erklärung von Bergneustadt (…) vor den Tschechen“78 entwertet habe. Zudem müsse dagegen protestiert werden, „dass das Gespräch mit den tschechischen Kommunisten über die Köpfe der sudetendeutschen Sozialdemokraten hinweg geführt“79 werde. In der Frage des Münchener Abkommens hatte er zwar in den Jahren zuvor stets versucht, eine eindeutige Stellungnahme zu vermeiden80, doch seit den frühen sechziger Jahren vertrat er schließlich eine klare Ansicht: Der Streit zwischen der Bundesregierung und der Tschechoslowakischen Republik sei „von Prag hochgespielt“81, die tschechoslowakische Regierung verfolge mit ihm lediglich das Ziel, auch durch die Bundesrepublik „eine nachträgliche Anerkennung der Vertreibung der Sudetendeutschen (…) [zu] erreichen.“82 In einem Schreiben an den Parteivorsitzenden Willy Brandt legte Jaksch schließlich Beschwerde gegen das Referat Helmut Schmidts ein.83 Die Rede habe „falsche Akzente“ gesetzt und „die Position der Partei in der Frage der deutschen Ostgebiete und des Heimatrechtes der Sudetendeutschen völlig ins Rutschen“84 gebracht. Zwar versuchte Brandt die Wogen zu glätten und Jaksch zu beruhigen. Doch nachdem Helmut Schmidt nochmals seine zuvor getätigten Aussagen gegenüber der tschechoslowakischen Seite bekräftigt hatte85, kam es in einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags zu einem handfesten Streit zwischen den beiden Sozialdemokraten. Herbert Czaja, der als CDUBundestagsabgeordneter der Sitzung beiwohnte, berichtet in seinen Memoiren, er 77 So hatte Ernst Paul schon auf dem Parteitag denjenigen, die das Münchener Abkommen als „von Anfang an nichtig“ erklären wollten, widersprochen; vgl. Soell, Deutsche Sozialdemokratie und Sudetendeutsche Frage, 115f. 78 Wenzel Jaksch an Willi Jäger, 15.06.1966 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 1). 79 Ebd. 80 Jaksch verwies in mehreren Äußerungen nach 1945 auf den „Doppelcharakter“ des Münchener Abkommens: einerseits habe das Abkommen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Sudetendeutschen bedeutet, andererseits sei es aber auch zweifellos das Ergebnis der Erpressung Hitlers; vgl. Interview mit Wenzel Jaksch, SWF, 12.05.1961 (AdsD/SeligerArchiv NL Jaksch, J 6); vgl. Wenzel Jaksch, Der Stand des Sudeten-Problems und die Genfer Verhandlungen, 29.05.1959 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 20). 81 Wenzel Jaksch, Handschriftliche Notizen, [1966] (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 9). 82 Wenzel Jaksch, Man muß die Kirche im Dorf lassen! Bemerkungen zum Schicksalsweg der Sudetendeutschen, 29.02.1964 (AdsD/Seliger-Archiv NL Jaksch, J 7). 83 Vgl. Hartmut Soell, Helmut Schmidt 1918–1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003, 524f.; vgl. Lehmann, Öffnung nach Osten, 23. 84 Wenzel Jaksch an Willy Brandt, 15.06.1966, zitiert nach Lehmann, Öffnung nach Osten, 23. 85 Vgl. Lehmann, Öffnung nach Osten, 28–35; vgl. Soell, Helmut Schmidt, 528–531.

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habe weder zuvor noch jemals danach einen ähnlich hitzigen Streit unter Parteifreunden erlebt.86 Obwohl Wenzel Jaksch den neuerlichen Kurswechsel seiner Partei nicht kampflos hinnehmen wollte, breitete sich doch eine spürbare Resignation bei ihm aus. So schrieb er kurz vor seinem Tod in einem Brief an seine Fraktionskollegen und Parteifreunde im Oktober 1966, die sudetendeutschen Sozialdemokraten seinen ohnehin schon zufrieden, wenn sie von den „Parteifreunden der SPD als ‚notwendiges Übel‘ betrachtet“87 würden. Den endgültigen (Vertrauens-)Bruch zwischen Vertriebenenpolitikern und Partei, der sich in den nächsten Jahren vollzog88, musste Jaksch nicht mehr miterleben: Er starb am 27. November 1966 an den Folgen eines Autounfalls. III. Im Hinblick auf die eingehend gestellten Fragen lassen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse festhalten: Das Verhältnis zwischen Jaksch und seiner Partei wurde zum einen durch den Umgang mit den Heimatvertriebenen innerhalb der Partei, zum anderen durch die Haltung der Partei in den Fragen der Ostpolitik beeinflusst. Der untersuchte Zeitraum von 1949 bis 1966 kann relativ eindeutig in drei Phasen eingeteilt werden: In den Jahren 1949 bis 1958 wurde das gegenseitige Verhältnis vor allem durch regelmäßig wiederkehrende Konflikte um die mangelnde Berücksichtigung der heimatvertriebenen Politiker innerhalb der Partei belastet. Als Höhepunkt der Krise kann das Jahr 1958 angesehen werden, in dem Jaksch kurzzeitig aus der Partei austrat. Die innen-, außen- und vertriebenenpolitische Wende der SPD in den Jahren 1959 bis 1961 leitete eine Phase der Annäherung zwischen der Partei und den Vertriebenenverbänden ein, mit der eine deutliche Verbesserung des Verhältnisses zwischen Jaksch und der SPD einherging. Dazu trug auch die Tatsache bei, dass Jaksch innerhalb des BdV Karriere machte. Seine Wahl zum BdV-Präsidenten im Jahr 1964 stellte aus heutiger Perspektive Höhe- und Wendepunkt der ungleichen Allianz von BdV und SPD dar. 1965 und 1966 verschlechterten sich die Beziehungen Jakschs zu seiner Partei dann immer mehr. Grund hierfür waren die inzwischen immer lauter werdenden Forderungen nach einer flexibleren Ostpolitik, 86 Vgl. Herbert Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Mangel an Solidarität mit den Vertriebenen. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt am Main 1996, 290. 87 Wenzel Jaksch, Antwortschreiben an die SPD-Fraktionskollegen und Parteifreunde, Oktober 1966 (AdsD Seliger-Archiv NL Jaksch, J 12). 88 Spätestens 1972 war der Bruch zwischen den Vertriebenenorganisationen und der SPD endgültig, als der BdV erstmals eine Wahlempfehlung für die CDU/CSU abgab; vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 279. Eine Ausnahme bildete die Seliger-Gemeinde, die zwar heftige interne Kontroversen um ihre Haltung zur sozialdemokratischen Partei austrug, den Bruch mit der Partei allerdings vermied. Zum Gesamtproblem vgl. ausführlich Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 255–279 und Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 294–520.

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die im Gegensatz zu der bisherigen offiziellen Haltung der SPD stand und die den Zielen des BdV und seiner Mitgliederverbände widersprach. Die politische Bedeutung Jakschs für die Sozialdemokratie und die Vertriebenen reicht über seinen Tod hinaus. Denn gerade im Ringen um die „Neue Ostpolitik“ wurde Jaksch sowohl von den Gegnern als auch den Befürwortern der SPDAußenpolitik als Gewährsmann herangezogen. Seine sudetendeutschen Genossen mussten ohne ihre wichtigste Führungspersönlichkeit, die sie über 30 Jahre lang durch Emigration und Vertreibung gelenkt hatte, ihre Haltung zur sozialdemokratischen Ostpolitik bestimmen. Es erscheint heute müßig, zu spekulieren, wie Jaksch sich zur „Neuen Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition gestellt hätte, zeitgenössisch wurden ihm an seinem Grab viele Kränze gewunden und sein politische Lebenswerk umfassend gewürdigt.89 Dass Wenzel Jaksch schließlich aber recht schnell von seiner Partei vergessen wurde, zeigt allerdings deutlich, dass er Ende der sechziger Jahre in gewisser Weise ein sehr unzeitgemäßer Sozialdemokrat war. Dieser Befund entbehrt nicht einer gewissen Tragik.

89 Vgl. Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, 286–293.

HANS-CHRISTOPH SEEBOHM UND SEIN VERSUCH ZUR UNIVERSALISIERUNG DES VERTRIEBENENPROBLEMS IN DER NACHKRIEGSZEIT Gilad Margalit Hans-Christoph Seebohm war der Vertriebenenpolitiker mit der längsten politischen Karriere in der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Er amtierte zwischen 1949 bis 1966, also 17 Jahre lang, als Bundesminister für Verkehr unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, und ab 1959 gleichzeitig als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft. 1 Seebohm begann seine politische Laufbahn in der Bundesrepublik in der nationalkonservativen Deutschen Partei (DP), die am rechten Rand des politischen Spektrums der Bonner Politik angesiedelt war und ein Logo in den Farben der Reichskriegsflagge führte, und wechselte in den frühen sechziger Jahren zur CDU. Für besonderes Aufsehen sorgten während seiner langen politischen Karriere seine sogenannten Sonntagsreden. Seebohms Äußerungen über die Vertreibung, die Vertriebenen, Grenzfragen und andere heikle vergangenheitsbezogene deutsche Themen provozierten mehrere Skandale und scharfe Reaktionen der alliierten Hochkommissare in Deutschland bis 1955 und später von Regierungen im Ausland, seitens der internationalen öffentlichen Meinung in Ost und West, Kabinettskollegen und Opposition. 2 1

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Seebohm löst Lodgman ab, in: Frankfurter Rundschau, 21.09.1959. Zur Geschichte der Sudetendeutschen Landsmannschaft vgl. Richard Eberle, The Sudetendeutsche in West German Politics. 1945–1973, Diss. Phil., Univ. of Utah 1986; K. Erik Franzen, Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 120), München 2009; Fritz Peter Habel (Hg.), Dokumente zur Sudetenfrage. Unerledigte Geschichte, München, 5. Auflage 2003; Ders.: Die Sudetendeutschen (Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche 1), München, 2. Auflage 1998; Gerhard Hopp, Machtfaktor auch ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010; Rudolf Ohlbaum, Bayerns vierter Stamm, die Sudetendeutschen. Herkunft, Neubeginn, Persönlichkeiten. München, 2. Auflage 1981; Tobias Weger, „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955, Frankfurt am Main [u. a.] 2008. Zu Seebohm vgl. Gilad Margalit, The Foreign Policy of the German Sudeten Council and Hans-Christoph Seebohm 1956–1964, in: Central European History 43/2010, 464–483; eine wissenschaftliche Biographie Seebohms fehlt bis heute. Vgl. hierzu etwa: Hochkommissare protestieren gegen Seebohms Ausführungen, in: Frankfurter Rundschau, 05.12.1951; ‚New York Post' gegen Seebohm, in: Frankfurter Rundschau, 04.06.1955. Vgl. v. a. seine Rede anlässlich der 150-Jahr-Feiern von Marienbad 1958 in Bad Homburg in Gegenwart von höheren Regierungsvertretern: Heimatrecht ist ein Teil des Völkerrechts, in: Frankfurter Rundschau, 16.09.1958; Vgl. auch Bernd Stöver, Pressure Group

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1. DAS SUDETENLAND UND DEUTSCHLANDS KÜNFTIGE GRENZEN Seebohm galt während seiner ganzen Karriere als revisionistischer Hardliner. Seit der Gründung der Bundesrepublik erklärte er mehrfach und in verschiedenen öffentlichen Foren, Deutschland sollte selbst die Grenzen von 1937 nicht anerkennen, die die Bundesregierung für künftige Friedensabkommen mit den Nachbarstaaten zu fordern gedenke. Er erklärte wiederholt, das Sudetenland sei deutsches Territorium, und die Deutschen würden niemals auf diesen Teil der Heimat verzichten. Seinen Anspruch legitimierte er damit, dass dieses Gebiet ehemals deutsch besiedelt und Teil der Habsburgermonarchie gewesen sei. An einer der ersten Kabinettssitzungen nach der Gründung der Bundesrepublik stellte Seebohm im September 1949 etwa die Legalität der Grenze zur Tschechoslowakei in Frage und vertrat den Standpunkt, das Egerland, ein Teil des früheren Sudetenlands, in dem er selbst beheimatet gewesen war, sei an Bayern anzugliedern. Diese Möglichkeit, so legte er dar, sei bereits mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš und mit der Regierung der Vereinigten Staaten erörtert worden. Adenauer rügte Seebohm und warf ihm vor, nur an die Vertriebenen zu denken und nicht an die Implikationen solcher Forderungen im Ausland. 3 In einer Rede vor dem Bundesparteitag der DP in Goslar im Jahre 1951 kritisierte Seebohm den offiziellen Standpunkt der Bundesregierung im Hinblick auf die Grenzen von 1937 und fragte rhetorisch: „Haben wir vergessen, dass diese Grenzen im Osten die Grenzen von Versailles sind? Haben wir jemals zu irgendeiner Zeit der Geschichte unseres Volkes diese Grenzen anerkannt? Nein, wir sind immer soweit deutschbewusst gewesen, dass wir das niemals getan haben.“ 4

Seebohm behauptete, der Versailler Vertrag habe 1919 das Nationalitätenproblem geschaffen und das Unvermögen des Völkerbundes, die Minderheitenrechte zu garantieren, habe die Bedingungen geschaffen, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten. 5 Ähnlich wie die anderen leitenden Mitglieder der Sudetendeutschen Landsmannschaft stellte sich Seebohm wiederholt auf den Standpunkt, dass das Münchener Abkommen von 1938 eine gerechtfertigte Revision des Versailler Vertrages und des Vertrages von Saint-Germain gewesen sei, die die Sudetendeutschen und andere Minderheiten in Osteuropa diskriminiert und ihnen das Selbstbestimmungsrecht abgesprochen hätten. Dieses Abkommen habe internationale Anerkennung genossen, legte Seebohm dar und betonte, der Umstand, dass die Sudetendeutschen die Annektierung des Sudetenlandes durch Nazideutschland

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im Kalten Krieg. Die Vertriebenen, die USA und der Kalte Krieg 1947–1990, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005) 10, 897–911, hier 899f. Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 1: 1949, Boppard am Rhein 1982, 317–318. Frankfurter Rundschau Archiv: Mappe Hans-Christoph Seebohm: Pressenotiz Bundesminister Dr. Seebohm zur Frage der Grenzen von 1937, nicht datiert, aber wahrscheinlich aus dem Jahr 1951; vgl. auch: Alliierte Kritik an Seebohm-Rede, in: Kurie, 05.12.1951 Vgl. Theodor Eschenburg, Des Ministers Betrachtungen, in: Die Zeit, 18.03.1960.

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unterstützt hätten, habe nichts mit ihrer Unterstützung des Nationalsozialismus oder der Auflösung der Tschechoslowakei im Jahre 1939 zu tun gehabt. 6 Die Bundesregierung versuchte das schwer beschädigte internationale Ansehen Deutschlands nach dem Krieg und nach Bekanntwerden der Verbrechen, die Deutsche in der NS-Zeit an Juden und osteuropäischen Völkern begangen hatten, unter anderem dadurch wiederherzustellen, dass Bonn die revisionistischen Inhalte seiner Politik im Hinblick auf das Potsdamer Abkommen der öffentlichen Meinung im Westen gegenüber zu bagatellisieren versuchte. Einige der politischen Initiativen, die von Seebohm mitgetragen wurden und einige seiner Standpunkte machen deutlich, wie isoliert der deutsche Revisionismus nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands dastand. Als Hardliner im Kalten Krieg vertraten Seebohm und die Vertriebenenkreise scharf antisowjetische Standpunkte, und Seebohm selbst war überzeugt, dass jedes Zugeständnis gegenüber den Kommunisten von Letzteren als Zeichen der Schwäche gewertet würde. Als einzige Möglichkeit, internationale Unterstützung für seine Positionen zu gewinnen, bot sich die Zusammenarbeit mit rechtsgerichteten Kreisen im Westen an. Seebohm legte wie sein Amtsvorgänger als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Rudolf Lodgman von Auen, Wert auf politische Bündnisse mit antikommunistischen Exilanten aus allen osteuropäischen Ländern, darunter natürlich auch die Tschechoslowakei. Seebohm sprach über die Versöhnung der Völker im geeinten Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, doch die angepeilten osteuropäischen Vereinigungen repräsentierten eine verschwindende Minderheit ohne jeglichen politischen Einfluss. Trotz Antikommunismus weckten die revisionistischen Standpunkte Seebohms und der Sudetendeutschen Landsmannschaft weltweit erbitterten Widerstand, selbst in rechten Kreisen und selbstverständlich auch in der öffentlichen Meinung im Westen. Der Westen ließ Seebohms quasi juristische Argumentation nicht gelten, wonach das Münchener Abkommen von 1938 völkerrechtlich immer noch Gültigkeit habe und dass die Festlegung der deutschen Ostgrenze mit der Tschechoslowakei nur unter einer gesamtdeutschen Regierung möglich sei. 7 Die Bundesregierung suchte ihrerseits den Mittelweg zwischen der Erfüllung der Erwartungen im Ausland und im Inland, wo die Vertriebenenkreise eine wichtige Rolle spielten, und obwohl selbst noch im August 1967 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger in einem Brief an Seebohm feststellte, dass vom ex-nunc nicht auf das ex-tunc des Münchener Ab-

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Sudetendeutsches Archiv, München: Seebohm 16/1a SL-Reden und Veröffentlichungen: Hat das Münchener Abkommen Konsequenzen für das Sudetenproblem?, 20.02.1965, 3–6; Kanzlei des Sprechers 1/ C: Unsere Heimkehr ins Reich!, 12.08.1963. Sudetendeutsches Archiv, München: Kanzlei des Sprechers B9/46: Rede des Sprechers Dr. Ing. Hans-Christoph Seebohm auf der Hauptkundgebung des XV. Sudetendeutschen Tages zu Pfingsten 1964 in Nürnberg (17.03.1964) 22: „Insbesondere besteht keinerlei Veranlassung etwa zu erklären, dass das Münchener Abkommen und das Abkommen zwischen Prag, Paris und London völkerrechtlich keinerlei Gültigkeit hat. Es handelt sich um eine völkerrechtlich einwandfrei zustande gekommene Vereinbarung. Das hindert nicht, festzustellen, dass daran von deutscher Seite ein totalitäres, verbrecherisches Regime beteiligt war.“

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kommen geschlossen werden könne 8, erkannten selbst Seebohm und die Vertriebenenverbände bereits in den fünfziger Jahren, dass eine zeitgemäße universelle Argumentation erforderlich war, um Bündnispartner und öffentliche Unterstützung im Westen zu finden. Gefragt war also nicht nur der Anspruch auf Selbstbestimmung im Sinne der Wilsonschen Prinzipien, das Recht auf Heimat sowie von den Sudetendeutschen seit 1919 benutzte, völkerrechtliche und antiquierte völkische Argumente, wie sie aus folgendem Zitat hervorgehen: „Das Recht des Menschen auf seine Heimat ist ein Naturrecht, das unverzichtbar ist. Durch seine Geburt ist der Mensch in eine Gemeinschaft von Landschaft und Mitmenschen gestellt. Ihnen bleibt er verpflichtet.“ 9

Nein, um Aussicht auf Erfolg zu haben, musste auch mit Menschenrechten argumentiert sowie zwischen den Rückkehransprüchen und der Forderung nach Freiheit in Europa sowie der Befreiung vom imperialistischen sowjetischen Joch verglichen werden. Seebohm versuchte, die politischen Implikationen seiner kontroversen Äußerungen in Reden vor der Landsmannschaft oder in der breiteren Öffentlichkeit jeweils mit der Behauptung abzumildern, dass der Anspruch auf Rückgabe des Sudetenlandes nicht auf eine Forderung nach Grenzkorrekturen hinauslaufe. 10 Ähnlich wie Adenauer, der 1953 vorschlug, die ehemals deutsch besiedelten Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie unter die Verwaltung der Vereinten Nationen oder einer anderen internationalen Organisation zu stellen, machte er – auf der Grundlage dieses mit der Haltung der Alliierten nicht ganz kompatiblen Modells – einen Vorschlag in Bezug auf die Tschechoslowakei im Rahmen einer zukünftigen europäischen Einigung. Bei einem Vortrag vor der Landsmannschaft im Jahre 1960 betonte er auch die Notwendigkeit des Verzichts auf Krieg und Gewalt, die Vernichtung in Europa bedeute. Man habe schließlich kein Interesse an einer völlig zerstörten Heimat, sagte Seebohm. 11 Die Historiker Matthias Stickler und Manfred Kittel haben hervorgehoben, dass Seebohm am Sudetendeutschen Tag 1963 in Stuttgart die Tschechen um Verzeihung bat und zur Versöhnung der beiden Völker aufrief. 12 Liest man den

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Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Seebohm 178/2a p. 99: Der Bundeskanzler an Seebohm, 07.08.1967. 9 Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Seebohm 178/18: H.-C. Seebohm, Sudetendeutsche Landsmannschaft. Gedanken aus dem Vortrag in Siegen, 15.05.1960, 2. 10 Vgl. etwa: Bundesarchiv Koblenz: Nachlass Seebohm 178/18: Kolonialstatus oder Selbstbestimmungsrecht, welchen Weg wählt Deutschland für Europa?, 05.05.1959, 3–5; Nachlass Seebohm 178/14: Die Verantwortung des Akademikers gegenüber der Wiedervereinigung, 31.05.1957. 11 Bundesarchiv Koblenz Nachlass Seebohm 178/18: H.-C. Seebohm, Sudetendeutsche Landsmannschaft. Gedanken aus dem Vortrag in Siegen 15.05.1960, 1. 12 Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“ – Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004, 101f sowie Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der

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Text jedoch genauer, ist es alles andere als klar, ob Seebohm das Recht der slawischen Völker der Region auf Selbstbestimmung und Nationalstaatlichkeit überhaupt anerkannte. Er spricht von einem zukünftigen geeinten Europa mit „einem freien Böhmen, Mähren und Schlesien, in dem Deutsche und Tschechen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts ihre demokratische Staatsordnung errichten können.“ 13 Das ist keine wirkliche Versöhnung mit den Tschechen, allenfalls mit Tschechen, die bereit gewesen wären, auf den tschechoslowakischen Staat zu verzichten. Bereits 1951 schlug Seebohm vor, den Sudetendeutschen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen und diese Gebiete unter die Verwaltung der Vereinten Nationen zu stellen. Die Aufteilung Mitteleuropas in Nationalstaaten, wie 1919 von den Großmächten angestrebt, sei keine Lösung, da die mitteleuropäischen Völker, so Seebohm, in sich gegenseitig überlappenden Territorien lebten, die nicht voneinander getrennt werden könnten. Die einzige Lösung dieser Probleme sei deshalb, die Menschenrechte und das Recht auf Heimat im Rahmen einer neuen supranationalen europäischen Ordnung über die Interessen der Nationalstaaten zu stellen. Die neue Ordnung habe auf Völkern, nicht auf Nationalstaaten zu beruhen. Wie die Vereinten Nationen, die auf den Menschenrechten des Individuums aufbauten, sollte das neue Europa (nach der Befreiung der osteuropäischen Länder vom sowjetischen Joch) nicht auf nationaler Souveränität beruhen, sondern auf den Bürgerrechten der Bürger Europas. Ein fundamentales Menschenrecht sei, Seebohm zufolge, das Recht auf Heimat. Die Vertriebenen würden also wieder nach Mitteleuropa zurückkehren und sich dort niederlassen. Die slawischen Nationalstaaten würden hingegen zerlegt. 14 Diese Argumentation kombiniert völkische Elemente aus der Vergangenheit mit dem Menschenrechtsdiskurs, der sich in Deutschland, von den Alliierten inspiriert, nach 1945 entwickelte. 15 Die Vermutung liegt nahe, dass Seebohm, wie der Soziologe und Ideologe der Sudetendeutschen, Eugen Lemberg, der Ansicht war, dass die Slawen aufgrund ihrer Mentalität und anderer Merkmale nicht imstande seien, stabile Nationalstaaten zu entwickeln. 16 Die Erfahrung aus der Zeit nach 1919, als slawische Nationalstaaten nationale Minderheiten unterdrückten und versuchten, diese im slawischen Milieu zu assi-

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Bundesrepublik (1961–1982) (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer). München 2007, 79. Sudetendeutsches Archiv, München, Kanzlei des Sprechers B9/45: Rede des Sprechers Dr. Ing. Hans-Christoph Seebohm auf der Hauptkundgebung des Sudetendeutschen Tages in Stuttgart, Pfingsten 1963, 11–12. Ebd. Frankfurter Rundschau Archiv: Mappe Hans-Christoph Seebohm: Pressenotiz Bundesminister Dr. Seebohm zur Frage der Grenzen von 1937, undatiertes Manuskript von 1951, Seebohm entwickelte vergleichbare Vorschläge mehrmals bis zum Ende seiner politischen Karriere, vgl. z. B.: Sudetendeutsches Archiv, München: Seebohm 16/1a: SL-Reden und Veröffentlichungen: Hat das Münchener Abkommen Konsequenzen für das Sudetenproblem?, 20.02.1965. 8. Vgl. z. B. Lembergs Erklärung, warum Slawen nicht fähig seien zu regieren: Hahn, Eva: Das völkische Stereotyp, ‘Osteuropa’ im Kalten Krieg. (undatiert, http://www.bohemistik.de/ lemberg.pdf, eingesehen 17.10.2007).

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milieren, diente ihm als weiterer Beleg dafür, dass diesen Staaten kein Existenzrecht einzuräumen sei (selbstredend fiel es Seebohm nie ein, dass dasselbe Argument in Anbetracht der Unterdrückung von Minderheiten durch Deutschland ab dem 19. Jahrhundert, und vom Zweiten Weltkrieg ganz zu schweigen, auch dazu benutzt werden könnte, einem deutschen Nationalstaat die Legitimität abzusprechen). Wurde das Verhältnis zwischen dem deutschen Nationalstaat und den deutschen Bevölkerungen angesprochen, die unter seiner propagierten supranationalen Souveränität in Mittel- und Osteuropa leben würden, flüchtete er sich jeweils in Zweideutigkeiten. Seebohms Erklärungen widersprachen dem Standpunkt der Bonner Regierung, die das Münchener Abkommen als völkerrechtlich nicht mehr bindend betrachtete und somit auch keine territorialen Ansprüche gegenüber der Tschechoslowakei hatte. 17 Seine Rhetorik verärgerte Regierungen und die öffentliche Meinung in Ost und West 18, und auch von den Medien und der Opposition in der Bundesrepublik wurde er heftig attackiert. 19 Sie forderten seine Entlassung, doch Adenauer, der sich Seebohm gegenüber im internen Kreis allerdings sehr kritisch äußerte, gab dieser Forderung nicht nach. 20 Gelegentlich entschuldigte sich der Kanzler sogar für Seebohms Äußerungen. 21 Auch Erhard sah 1964 davon ab, Seebohm zu entlassen, nachdem sich dieser zur Gültigkeit des Münchener Abkommens von 1938 geäußert hatte. Als Reaktion auf die Verwunderung amerikanischer Journalisten über den Umstand, dass der Minister, trotz der häufigen von Seebohm verursachten internationalen Skandale, sein Amt behalten durfte, sagte Erhard, dass die Äußerung Seebohms juristisch vielleicht gerade noch gangbar sein möge, aber „politisch jedenfalls unmöglich“ gewesen sei. Trotzdem betonte Erhard, dass 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene sich in der Bundesrepublik befinden. „Und da ist natürlich alles, was überhaupt an Heimat anklingt, nicht so sehr und nicht allein eine politische Frage, sondern es werden hier sentimentale Gefühle angeregt und ich glaube, man soll die etwas schonen.“ 22 Die milde Reaktion des Bundeskanzlers auf diese, für nicht deutsche Ohren, höchst 17 Seebohm dementiert Regierung, in: Frankfurter Rundschau, 14.05.1964; Seebohm verteidigt erneut das Münchener Abkommen, in: Frankfurter Rundschau, 19.05.1964. 18 Holländische Kritik an Seebohm, in: Frankfurter Rundschau, in: 21.05.1964; Seebohm muß sich verantworten, in: Frankfurter Rundschau, 23.05.1964. 19 Holländische Kritik an Seebohm, in: Frankfurter Rundschau, 21.05.1964; Seebohm muß sich verantworten, in: Frankfurter Rundschau, 23.05.1964. vgl. auch z. B. die Aufsätze von Theodor Eschenburg gegen Seebohm: Theodor Eschenburg, Des Ministers Betrachtungen, in: Die Zeit, 18.03.1960; Theodor Eschenburg, Unbelehrbar, Herr Minister?, in: Die Zeit, 14.04. 1960. Vgl. auch Hans Gresmann, Seebohms Fall, in: Die Zeit, 03.06.1960. 20 Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 167f; vgl. auch Konrad Adenauer, Briefe 1953– 1955, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1995, 34, 401f; in einem Brief vom Oktober 1953 drohte Adenauer Seebohm, ihn nur dann wieder ins Kabinett zu berufen, wenn er damit aufhöre, weiter solche politischen Reden zu halten. 21 Adenauer prüft Seebohm-Rede, in: Frankfurter Rundschau, 22.09.1960. 22 Sudetendeutsches Archiv, München: Kanzlei des Sprechers B IX/55: Wortlaut des Interview der National Broadcasting Corporation (NBC) mit dem Bundeskanzler vom 2.6.1964. Kanzler verurteilt Seebohm-Rede, in: Frankfurter Rundschau, 09.06.1964; Spiel mit Zahlen, in: Frankfurter Rundschau, 09.06.1964.

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irritierenden und unakzeptablen Äußerungen ist charakteristisch für die politische Kultur der damaligen Bundesrepublik und für beide große Volksparteien. Noch 1963 verpflichtete sich die gesamte SPD-Führung, Erich Ollenhauer, Herbert Wehner, und vor allem Willy Brandt, gegenüber den Vertriebenen auf den pathetischen Schwur „Verzicht ist Verrat.“ 23 2. SEEBOHM UND DER STAAT ISRAEL Der junge Staat Israel diente Seebohms Argumentation in verschiedener Weise. Die Gründung Israels stellte er als schlagenden Beweis für die ungebrochene internationale Anerkennung des unbeschränkten Selbstbestimmungsrechts und dafür dar, dass die Rückkehr einer Minderheit in ihre ursprüngliche Heimat und der Wiederaufbau ihrer autonomen Existenz selbst nach 2000 Jahren Heimatvertreibung noch Unterstützung finden kann, und im selben Atemzug fügte er an, dass das, was den Juden zustehe, den Sudetendeutschen nicht verwehrt bleiben könne. 24 Andererseits war dieses Beispiel nicht gerade verheißungsvoll, da es nicht auf eine schnelle Lösung des Problems hindeutete. 1952 erklärte Seebohm, die Vertriebenen hätten wenig Verständnis für die deutschen Wiedergutmachungzahlungen an Israel. Dass er Mitunterzeichner des Wiedergutmachungsabkommens war, rechtfertigte er mit dem Hinweis, Deutschland müsse anerkennen, dass Israel rund eine halbe Million Juden aufgenommen habe, denen unter dem Dritten Reich Unrecht widerfahren sei. Man müsste sich jedoch fragen, fügte er hinzu, „ob Amerika, England und Frankreich nicht die gleiche Schuld mit der Austreibung von 15 Millionen Deutschen aus den deutschen Ostgebieten auf sich geladen haben und nun das gleiche tun wie wir bei Israel, damit sie moralisch vor den Deutschen bestehen können.“ 25 Seebohm implizierte somit eine Parallele zwischen dem Genozid an den Juden und der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. 26 3. DER BUNDESMINISTER ALS MITVERSCHWÖRER Es hat den Anschein, als ob Seebohm zumindest als Mitwisser an einem überraschenden politischen Vorstoß der Sudetendeutschen Landsmannschaft beteiligt war, wodurch in den späten fünfziger Jahren versucht wurde, doch noch Bewegung in das seit Kriegsende festgefahrene Anliegen der Vertriebenen zu bringen. Der Vorstoß scheiterte, doch die Absicht, die sich dahinter verbarg, verdeutlicht 23 Vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 244. 24 Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Seebohm 178/18: H.-C. Seebohm, Sudetendeutsche Landsmannschaft. Gedanken aus dem Vortrag in Siegen, 15.05.1960, 3. 25 Seebohm vor Sudetendeutschen, in: Frankfurter Rundschau, 15.09.1952; Scharfe Kritik an Seebohm, in: Frankfurter Rundschau, 06.06.1953. 26 Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NSVerfolgte seit 1945, Göttingen 2005, 141.

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die internationale Isolation, in der sich diese Kreise befanden und ihre Verzweiflung im Hinblick auf die Möglichkeit der Verwirklichung ihrer politischen Ziele. 1958 knüpfte Dr. Rudolf Hilf, ein Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Beziehungen zur arabischen Welt mittels Vertretern der Arabischen Liga und ehemals nazifreundlicher Kreise aus dem Umfeld des Großmuftis von Jerusalem, Haj Amin El Husseini, der damals schon in Beirut lebte, und aus dem Umkreis von Anwar as-Sadat in Ägypten. Der spätere ägyptische Präsident war Mitbegründer des Geheimbundes der Freien Offiziere, der mit Rommel gegen die ägyptische Monarchie paktiert hatte. Hilf ging davon aus, dass der Schlüssel zur Lösung des Vertriebenenproblems und der deutschen Grenzfrage allein bei den Großmächten lag und dass demnach diesbezüglich in absehbarer Zukunft keine Bewegung zu erwarten war. Nach dieser Einschätzung der Lage blieben nur noch die Blockfreien in Asien und Afrika und besonders die arabische Welt, in der prodeutsche Sentimente immer noch verbreitet waren, als mögliche Partner. Auch die arabische Welt hatte schließlich ein Flüchtlingsproblem. Gemeint war natürlich das Problem der Palästinaflüchtlinge, das Hilf als einziges aktuelles Flüchtlingsproblem auf der internationalen Tagesordnung betrachtete. Er hoffte, dass die Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga eine Heimatrechtskonvention bei den Vereinten Nationen vorschlagen würden, die später natürlich auch gegen osteuropäische Staaten eingesetzt werden könnte: „Schlügen die Araber eine solche Heimatrechtskonvention allgemeiner Art – ohne jede Bezugnahme auf unser Problem, denn das können sie sich heute nicht leisten, wie wir uns ebenfalls nicht mit dem Israelproblem verquicken lassen brauchen – vor, so käme der Osten in eine sehr peinliche Lage. Er könnte nicht einfach Nein sagen. Andere Freunde von uns in der UN, z. B. Spanien und Lateinamerikaner, könnten dann die Debatte auch mit unseren Problemen gegen den Osten ausweiten.“ 27

Im Vorfeld des offiziellen Besuches von Bundesverkehrsminister Seebohm in Kairo Anfang November 1958 und eines Treffens mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abd-el Nasser unterrichtete Hilf Seebohm über seine Initiative, gab ihm die Namen seiner Partner in Ägypten bekannt und bat ihn, im Verlaufe seines Besuchs für das Anliegen einzutreten. Nach dem Ägyptenbesuch entschuldigte sich Seebohm brieflich bei Hilf dafür, dass er während seines Aufenthalts in Ägypten nicht in der Lage gewesen sei, die genannten Partner zu treffen und für das Anliegen einzutreten: Noch im Verlaufe der Gespräche mit Präsident Nasser notierte Seebohm: „War nicht in der Lage, auf diese Probleme (die Fragen des Heimat- und des Selbstbestimmungsrechtes der Vertriebenen) einzugehen, umso weniger als ich nicht allein bei ihm war, sondern ihn nur in Gegenwart von sechs Bundestagsabgeordneten besuchen konnte, die natürlich für das Anschneiden eines solchen Themas wohl wenig Verständnis gehabt hätten.“ 28

27 Sudetendeutsches Archiv, München: Kanzlei des Sprechers B9/3: Dr. Rudolf Hilf an Herrn Bundesminister Seebohm, 30.10.1958. 28 Sudetendeutsches Archiv, München: Kanzlei des Sprechers B9/3: Herr Bundesminister Seebohm an Dr. Rudolf Hilf, 14.11.1958.

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Hier wird die überhebliche Einstellung der Politiker der Landsmannschaften deutlich, die sich als nationale deutsche Avantgarde mit tieferem Einblick in die Realität als die breite Öffentlichkeit und die politische Führung verstanden. 29 Das Auswärtige Amt war natürlich nicht involviert und wurde über den Vorstoß in keiner Weise informiert. 30 Seebohm hatte Hilfs Vorstoß nicht von Anfang an abgelehnt, wie von einem Bundesminister zu erwarten gewesen wäre. Wie hätte wohl Adenauer reagiert, wenn ihm dieser Vorstoß und Seebohms Rolle zu Ohren gekommen wäre? FAZIT Seebohms langjähriger Dienst im Bundeskabinett verlieh ihm und seinen Erklärungen Glaubwürdigkeit und Legitimation. Dabei erzeugten die ständig zum Ausdruck gebrachten extremistischen Standpunkte in Osteuropa und in der übrigen Welt den Eindruck, dass die Bundesrepublik eine zweigleisige Politik verfolgte. Einerseits vertrat das Kabinett relativ gemäßigte revisionistische Positionen, die den Einsatz von Gewalt zur Erreichung der gesetzten Ziele ablehnte. Andererseits unterstützte und förderte die Bundesrepublik Vertriebenenpolitiker, die eine radikale revisionistische Agenda verfolgten und den slawischen Nationalstaaten dabei faktisch das Existenzrecht absprachen, als Mitglieder im Bundeskabinett. 31 Indem sie an Seebohm als Kabinettsmitglied festhielten, vermittelten Adenauer und Erhard den Eindruck, dass sie im Rahmen ihrer Osteuropapolitik im Kalten Krieg eine Figur im Kabinett haben wollten, die provokante Standpunkte äußerte, etwa als Druckmittel bei Verhandlungen mit der Sowjetunion und osteuropäischen Staaten oder als Mittel gegen den Druck der Amerikaner, die von der Bundesrepublik Kompromisse in der Frage ihrer Ostgrenzen erwarteten. Seebohms Haltung reflektierte die Standpunkte eines Lagers, das über die Vertriebenenkreise hinausging. Die Vertriebenenpolitiker vertraten einerseits das rechtsnationale Lager, waren aber andererseits stark vom guten Willen des Staates abhängig, der ihnen öffentliche Mittel für das weit verzweigte Netz der Vertriebenenverbände zur Verfügung stellte. Adenauer fürchtete dieses rechtnationale Lager und versuchte besonders die Vertriebenenverbände nicht nur durch rhetorische Unterstützung ihrer Standpunkte, sondern auch durch öffentliche Mittel und durch gegenseitige Verpflichtungen an sich zu binden, um eine extremistische Politik zu erschweren, die den Grundsätzen seiner Politik widersprochen hätte. 32 Das Beispiel Seebohm zeigt deutlich, dass es Adenauer gelang, auch solche Persönlich-

29 Vgl. hierzu Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 99ff. 30 Brief von Dr. Rudolf Hilf an den Autor 22.02.2008. 31 Vgl. dieses Zitat aus der polnischen Zeitung Trybuna Ludu: Trybuna Ludu, in: Frankfurter Rundschau, 20.05.1964. 32 Vgl. Pertti Ahonen, After the expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990, Oxford/New York 2003, 94.

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keiten an die Leine zu nehmen, auch wenn Seebohm zuweilen im Widerspruch zur Politik der Bundesregierung handelte und Adenauers Autorität untergrub.

DIE ZWEI LEBEN DES DR. HERBERT CZAJA (1914–1997) – GRUNDZÜGE EINES LEBENSBILDS Matthias Stickler Der Vertriebenenpolitiker und langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV) Dr. Herbert Czaja 1 ist heute einer breiteren Öffentlichkeit – wenn 1

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine erweiterte und mit Nachweisen versehene Fassung meines 2012 erschienenen Beitrags „Herbert Czaja (1914–1997), in: Joachim Bahlcke (Hg.), Schlesische Lebensbilder. Bd. XI. Insingen 2012, 585–601“. Eine umfassend aus den Quellen gearbeitete Biographie Herbert Czajas ist ein Desiderat. Vgl. zu seiner Biographie v. a. folgende Werke: Herbert Czaja / Hartmut Koschyk (Hgg.), Unsere sittliche Pflicht, München 1989; Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991; Herbert Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland. Mangel an Solidarität mit den Vertriebenen. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt am Main 1996; Herbert Hupka, Unruhiges Gewissen. Ein deutscher Lebenslauf. Erinnerungen, München 1994; Beata Ociepka, Związek Wypędzonych w systemie politycznym RFN i jego wpływ na stosunki polskoniemieckie 1982–1992. [= Der Bund der Vertriebenen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland und sein Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen 1982–1992], Wrocław/Breslau 1997 [deutsche Zusammenfassung des Inhaltes auf den Seiten 318 bis 324]; Hanns Jürgen Küsters / Daniel Hofmann (Bearb.), Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998; Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998; Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998; Jürgen Aretz, Herbert Czaja, in: Ders. / Rudolf Morsey / Anton Rauscher (Hgg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 9, Mainz 1999, 291–312; Pertti Ahonen, After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990, Oxford u. a. 2003; Christine Maria Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, Bonn 2003; Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004; Pia Nordblom, Eduard Pant (1887–1938), in: Joachim Bahlcke (Hg.), Schlesische Lebensbilder, Bd. 9, Neustadt an der Aisch 2007, 361–372; Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982) (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2007; Sabine Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945 bis 1972, Stuttgart 2007; Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; Sebastian Rosenbaum, „Operation Poseł“. Herbert Czaja im Visier des polnischen Sicherheitsdienstes, in: Confinium 3 (2008), 173–201; Hanns Jürgen Küsters, Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg/Basel/Wien 2009; Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Heike Amos, Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer),

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überhaupt – allenfalls noch als polternder „Vertriebenenfunktionär“ bzw. hartgesottener „Berufsvertriebener“, als „Reaktionär“ oder gar „Revanchist“ in Erinnerung. 2 Dass diese einseitige Wahrnehmung ex post dessen Lebensleistung nicht gerecht wird, soll im folgenden Beitrag gezeigt werden. Es wird der Versuch unternommen, das politische Wirken Czajas aus seinem an Brüchen reichen Leben zu erklären, aus denen das Zwiespältige in seiner Persönlichkeit resultierte. 1. DAS ERSTE LEBEN – KINDHEIT, JUGEND UND ERSTE MANNESJAHRE IN DER OBERSCHLESISCHEN HEIMAT (1914–1946) Herbert Helmut Czaja – so der vollständige Name, wobei „Helmut“ der Rufname war – wurde am 5. November 1914 als Sohn des k.u.k. Notars Albert Czaja (1860–1949) und seiner Ehefrau Aloisia, geborene Smekal (1876–1948), in 3 Teschen (poln. Cieszyn bzw. tschech. Český Těšín) geboren. Beide hatten bereits

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München 2009; Wolfgang Fischer, Heimat-Politiker? Selbstverständnis und politisches Handeln von Vertriebenen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1949 bis 1974 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 157), Düsseldorf 2010; Heike Amos, Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit 1949 bis 1989 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2011; Maren Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989 (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 23), Marburg 2011; Anna Jakubowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 25), Marburg 2012. Derartige Verdikte waren, worauf noch genauer einzugehen sein wird, zum einen eine Folge des keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gehenden Charakters von Czaja und der retardierenden Rolle, die der damalige BdV-Präsident zwischen 1970 und 1994 spielte, zum andern aber auch der jahrzehntelangen Kampagnen der DDR und anderer Ostblockstaaten gegen die Vertriebenenverbände und deren Führungspersönlichkeiten. Vgl. hierzu genauer: Matthias Stickler, Vertriebene als „Faschisten“, „Revanchisten“, „Kalte Krieger“ – ideologiekritische Anmerkungen zur Herkunft eines Vorurteils, in: Erik Gieseking / Irene Gückel / Hermann-Josef Scheidgen / Anselm Tiggemann (Hgg.), Zum Ideologieproblem in der Geschichte. Herbert Hömig zum 65. Geburtstag (Subsidia Academica, Reihe A: Bd. 8). Lauf an der Pegnitz 2006, 177–201; Amos, Vertriebenenverbände im Fadenkreuz; Rosenbaum, „Operation Poseł“. Vgl. auch den Verriss von Czajas Buch „Unterwegs zum kleinsten Deutschland“ durch den Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.09.1996, 10). Die Darstellung des „ersten Lebens“ von Herbert Czaja folgt, sofern nicht anders angegeben, v. a.: Aretz, Herbert Czaja; Rosenbaum, „Operation Poseł“; Christine Maria Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement; Krieg, Vertreibung, Neubeginn in Stuttgart und Wirken als Stadtrat, in: Dies. (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 21–47. Dieser Band hat den Charakter einer Gedenkschrift und wurde überwiegend von Personen verfasst, die Herbert Czaja persönlich verbunden waren. Christine Maria Czaja ist eine Tochter Herbert Czajas und im Besitz des größten Teils des Nachlasses ihres Vaters. Vgl. auch Herbert Czaja, Opposition gegen den Nationalsozialismus in Ost-Oberschlesien, in: Ders. / Koschyk (Hgg.), Unsere sittliche Pflicht, 10–35; dieser sehr persönliche Beitrag ver-

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1893 in Schwarzwasser (poln. Strumień), wo sie aufgewachsen waren, geheiratet und waren damit erst sehr spät Eltern geworden; Herbert Czaja blieb denn auch das einzige Kind. Der polnische Geheimdienst instrumentalisierte die Umstände seiner Geburt in den sechziger Jahren zu dem sehr wahrscheinlich antisemitisch motivierten Verdacht, Vater von Herbert Czaja sei nicht Albert Czaja gewesen sondern ein mit ihm geschäftlich verbundener jüdischer Anwalt. 4 Albert Czaja hatte in Wien sehr erfolgreich Jura studiert und sich als Notar niedergelassen, zunächst in Mährisch-Altstadt (tschech. Staré Město), dann seit 1900 in Skotschau (poln. Skoczów) wo Herbert Czaja auch aufwuchs. Skotschau gehörte bis 1918 zur Habsburgermonarchie, genauer gesagt zum „Herzogthum Ober- und Nieder-Schlesien“. Dieser Name war ein typisch österreichischer Anachronismus, handelte es sich bei diesem Kronland doch in Wahrheit um einen verhältnismäßig kleinen Teil (5.147 km²) Oberschlesiens, der 1742 bzw. 1763 nicht an Preußen abgetreten worden war – im Wesentlichen die Herzogtümer Troppau (tschech. Opava) und Teschen. 5 Abgekürzt wurde dieses Kronland als „Österreichisch-Schlesien“ oder (nach 1919) als „Sudetenschlesien“ bezeichnet. Österreichisch-Schlesien war in gewisser Hinsicht ein Abbild der Gesamtmonarchie im Kleinen, es hatte nach der Volkszählung von 1910 756.949 Einwohner, von denen 43% Deutsch, 31% Polnisch und 26% Tschechisch als hauptsächlich gesprochene Sprache angaben. Die Mehrheit der Bevölkerung gehörte der römisch-katholischen Kirche an, ca. 14% waren evangelisch und ca. 1,5% jüdischen Glaubens. Das Herzogtum Teschen war bis 1918 ein besonderes kaiserliches Lehen, das seit 1822 im Besitz des Feldherrn Erzherzog Carl (1771– 1847) und seiner Nachkommen war; Teschen war insofern eine erzherzogliche Residenzstadt. Der letzte habsburgische Landesherr war Erzherzog Friedrich (1856–1936), der Neffe und Erbe Erzherzog Albrechts von Österreich (1817– 1895) 6, des Siegers von Custoza (1866). Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde Österreichisch-Schlesien geteilt, der größere Teil fiel an die neu gegründete

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bindet politische Reflexionen mit autobiographischen Ausführungen und eröffnet interessante Einblicke in die Erfahrungswelt Czajas. Vgl. Rosenbaum, „Operation Poseł“, 178f. Zu Österreichisch-Schlesien und den weiter unten angegebenen Daten vgl.: Dan Gawrecki, Der Schlesische Landtag, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2: Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, 2105–2130; Wolfdieter Bihl (Hg.), Die Juden, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.3: Die Völker des Reichs, Teilbd. 2, Wien 1980, 880–948, v. a. 882 und Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hgg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. 9: Soziale Strukturen. Teilbd. 2: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial-und Infrastruktur nach dem Zensus von 1910, Wien 2010, 59–89. Vgl. auch Oskar Wagner, Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545– 1918/20, Wien/Köln/Graz 1978. Vgl. Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Historische Studien, Bd. 450), Husum 1997 sowie Johann Christoph Allmayer-Beck, Der stumme Reiter. Erzherzog Albrecht. Der Feldherr „Gesamtösterreichs“, Graz/Wien/Köln 1997.

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Tschechoslowakei, darunter aus strategischen Gründen auch der westlich des Flusses Olsa gelegene Teil von Herbert Czajas Geburtsstadt Teschen und deren Umland, wo mehrheitlich Polen lebten. An Polen fiel im Wesentlichen der östliche Teil des Herzogtums Teschen sowie die Stadt Bielitz (poln. Bielsko). Aus diesen beiden Gebieten sowie den trotz der Volksabstimmung 1921 von Deutschland abgetretenen Teilen Oberschlesiens wurde 1922 die Autonome Woiwodschaft Schlesien gebildet 7, deren Hauptstadt Kattowitz (poln. Katowice) wurde. Trotz ihrer geringen Größe (4216 km²) war die Woiwodschaft wegen der vorhandenen hochentwickelten Montan- und Metallindustrie außerordentlich wohlhabend. 1931 gaben 92% der Einwohner Polnisch als Muttersprache an und 7% Deutsch. 1938 annektierte Polen im Windschatten des Münchener Abkommens den westlichen Teil des früheren Herzogtums Teschen, allerdings wurden bereits 1945 die Grenzen von 1920 wiederhergestellt. Die Czajas waren deutschsprachige, tiefgläubige Katholiken – in ihrem Skotschauer Haus existierte sogar ein kleiner Hausaltar – und standen bis zum Untergang Österreich-Ungarns treu zum Haus Habsburg. Ein Onkel Herbert Czajas, Dr. Karl Czaja (1856–1939), gehörte bis 1921 dem Magistrat der Stadt Troppau, der Hauptstadt des Herzogtums, an. Das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien in Österreichisch-Schlesien war zwar nie spannungsfrei und schon gar nicht im modernen Sinne multikulturell, doch kam man miteinander aus, Albert Czaja versah sein Notarsamt, je nach Klient, selbstverständlich dreisprachig. Von der Teilung Österreichisch-Schlesiens waren die Czajas unmittelbar betroffen, weil nun ein Teil der Großfamilie in Polen und der andere in der Tschechoslowakei lebte. Zwar wurde Albert Czaja nach der Annexion Skotschaus durch Polen kurzzeitig interniert, doch konnte er nach seiner Entlassung weiter als Notar arbeiten. Er setzte sich auch politisch für die Rechte der deutschen Minderheit ein. Sein Sohn besucht zunächst die deutsche Volksschule, dann, ab 1925, das deutsche Gymnasium in Bielitz, wo er 1933 mit ausgezeichneten Noten das Abitur ablegte. In diesen Jahren nahm Herbert Czaja, der neben seiner deutschen Muttersprache auch das Polnische fließend beherrschte, sehr wohl die inneren Widersprüche der zweiten polnischen Republik 8 wahr, die einerseits ein Vielvölkerstaat war, andererseits aber gegenüber den nationalen Minderheiten (insbesondere den Ukrainern, Weißrussen, Litauern und Deutschen) Polonisierungsbestrebungen förderte, die sich 7

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Vgl. hierzu im Überblick Richard Blanke, Orphans of Versailles. The Germans in western Poland 1918–1939, Lexington (KY) 1993. Vgl. auch Otto Ulitz, „Oberschlesien - Aus seiner Geschichte“; Oberschlesiens dunkle Zeit, in: Herbert Hupka (Hg.), Meine schlesischen Jahre, München 1964, 23–38. Ulitz war von 1953 bis 1969 Czajas Vorgänger als Sprecher der Landsmannschaft der Oberschlesier, in der Zwischenkriegszeit war er wie Czaja polnischer Staatsbürger und einer der führenden Politiker der deutschen Minderheit im polnischen Teil Oberschlesiens. Seine Darstellung ist deshalb stark von seiner Zeitzeugenschaft geprägt. Zu Ulitz bzw. dessen Politik in den 1920er und 1930er Jahren vgl. ausführlich Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2013, v. a. 148–157 und 241–260. Zur Geschichte Polens in der Zwischenkriegszeit vgl. im Überblick Włodziemierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, 97–188.

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auch und vor allem in den Bildungseinrichtungen zeigten. Dass hierbei die Eliten der Minderheiten in besonderer Weise gefährdet waren, erfuhr die Familie Czaja auf schmerzhafte Weise, als 1933 der nationalistisch eingestellte Wojewode von (Polnisch-)Schlesien Michał Grażyński (1890–1965) Albert Czaja sein Notariat entzog. Die gesundheitlichen Gründe für diesen Schritt – der Vater war seit 1932 erblindet – waren sehr wahrscheinlich nur vorgeschoben, treffen wollte man einen prominenten Repräsentanten der deutschen Minderheit. Bitter war an der Situation vor allem, dass Albert Czaja als Freiberufler keine Pensionsansprüche hatte und er deshalb, ausgerechnet seit dem Jahr, als sich sein Sohn anschickte, ein Studium aufzunehmen, von seinen Rücklagen leben musste. Herbert Czaja immatrikulierte sich an der Universität Krakau. Er wollte ursprünglich, wohl dem Vater zuliebe, ebenfalls Jura studieren, wechselte dann aber, seinen Neigungen folgend, zu den Fächern Germanistik, Philosophie und Geschichte. Politisch positionierte sich Herbert Czaja als Mitglied der „Deutschen Christlichen Volkspartei“, dem polnischen Pendent zur reichsdeutschen Zentrumspartei. Deren Vorsitzender war der Senator Dr. Eduard Pant 9 (1887–1938), den er schon in Bielitz als Griechischlehrer kennengelernt hatte. Dieser lehnte gerade auch vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ Hitlers im Deutschen Reich jede Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus kompromisslos ab, wofür er innerhalb der deutschen Minderheit Polens teilweise herbe Kritik erntete. Pant wurde Herbert Czajas großes politisches Vorbild 10 und die geistige Auseinandersetzung mit diesem bewahrte ihn sehr wahrscheinlich auch davor, wie andere Angehörige der deutschen Minderheit, den Nationalsozialismus als nationale Befreiungsbewegung misszuverstehen. Deswegen waren nach dem Zweiten Weltkrieg auch alle Versuche des polnischen Geheimdienstes gescheitert, Herbert Czaja eine braune Vergangenheit nachzuweisen; man beschränkte sich deshalb auf nicht beweisbare Verdächtigungen. 11 1937 legte Herbert Czaja in Krakau sein Examen als Gymnasiallehrer sowie seine Magisterprüfung mit sehr guten Ergebnissen ab. Sein wissenschaftliches Hauptinteresse galt in diesen Jahren der Germanistik, weshalb sein akademischer Lehrer, der polnische Germanist Adam Kleczkowski (1883–1949), ihn ermutigte zu promovieren und sich später zu habilitieren. Es ist bezeichnend für die damalige politische Haltung Herbert Czajas, dass der Versuch, der Universität Krakau und der polnischen Regierung, ihn 1937 im Rahmen der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen mit einem HumboldtStipendium an die Universität Berlin zu schicken, an seiner im Sinne des Nationalsozialismus mangelnden politischen Zuverlässigkeit scheiterte. 12 Stattdessen 9 Vgl. hierzu Pia Nordblom, Eduard Pant (1887–1938), 361–372. 10 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 22 und Czaja, Opposition gegen den Nationalsozialismus in Ost-Oberschlesien. 11 Vgl. hierzu ausführlich Rosenbaum, „Operation Poseł“; „Poseł“, das polnische Wort für „Abgeordneter“, war der Deckname des operativen Vorgangs, der seit 1965 der Überwachung Czajas durch den polnischen Geheimdienst diente. Vgl. auch Amos, Vertriebenenverbände im Fadenkreuz, 129f. 12 Vgl. Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 26f und 30; Czaja hatte zuvor erwogen, in Göttingen oder Heidelberg zu studieren.

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ging Herbert Czaja mit einem Empfehlungsschreiben Kleczkowskis zum Auslandsstudium an die Universität Wien (1937/38). Einer katholischen studentischen Verbindung hat sich Czaja, möglicherweise aus finanziellen Gründen, nicht angeschlossen. In Krakau leitete er allerdings eine der Gedankenwelt Eduard Pants nahestehende wissenschaftlich orientierte katholische deutsche Studentengruppe, in Wien besuchte er regelmäßig Veranstaltungen des katholischen Akademischen Vereins Logos, der nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 von den neuen Machthabern verboten wurde. Noch vor der von den Nationalsozialisten angesetzten gelenkten Volksabstimmung am 10. April 1938 kehrte Herbert Czaja nach Polen zurück, legte im Oktober seine zweite Dienstprüfung wiederum mit sehr guten Noten ab und war damit „Mittelschullehrer“, d. h. er durfte auch an staatlichen und privaten Lehrerseminaren unterrichten. Parallel zur Arbeit an seiner Promotion zum Thema „Stefan Georges Ringen um ein autonomes Menschentum“ hatte Herbert Czaja vom 1. Oktober 1938 bis Ende Mai 1939 eine befristete Stelle als Lehrer am noch von Kaiser Franz Joseph gegründeten Staatsgymnasium in Mielec in Galizien inne. Eine Festanstellung in seiner oberschlesischen Heimat blieb ihm wegen seines Bekenntnisses zur deutschen Minderheit verwehrt. Am 2. Mai 1939 wurde Herbert Czaja von der Universität Krakau mit der Bestnote „summa cum laude“ promoviert. Er strebte nun die Anfertigung einer Habilitationsschrift über Franz Grillparzer an, zu diesem Zweck verschaffte ihm Adam Kleczkowski die Vertretung einer Assistentenstelle an seinem Lehrstuhl. Mit dieser Stelle hatte es eine besondere Bewandtnis: Eigentlicher Inhaber war Józef Kapica, ein polnischer Oberschlesier aus Miedźna, der zum Militär eingezogen wurde und später nach Rumänien emigrierte. Mit dessen Schwester Bronisława Kapica verlobte sich Herbert Czaja, wie jene 1966 in einem Verhör dem polnischen Geheimdienst mitteilte. 13 Der deutsche Überfall auf Polen und damit der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Besetzung West- und Mittelpolens durch das Dritte Reich schufen völlig neue Verhältnisse und veränderten das private wie das berufliche Leben Herbert Czajas von Grund auf. Seine akademische Karriere endete noch bevor sie richtig begonnen hatte, da die deutschen Besatzer den Lehrbetrieb an der Universität Krakau untersagten und er, da er nach wie vor nicht bereit war, sich dem Nationalsozialismus anzubiedern, unter den neuen Verhältnissen 14 keine alternativen Karrieremöglichkeiten besaß. Stattdessen bemühte er sich nach Kräften, seinen polnischen Kollegen in Krakau zu helfen und Universitätsbestände zu retten. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich Herbert Czaja in dieser Zeit mit der Erteilung von Deutschunterricht für die Kinder polnischer Familien. Ab Oktober 1940 unterrichtete er für einige Wochen am deutschen Gymnasium von Zakopane in Südpolen Deutsch, Geschichte und Latein. Wegen seiner Ablehnung des Nationalso13 Vgl. Rosenbaum, „Operation Poseł“, 181. 14 Zur NS-Politik an der Universität Krakau vgl.: Jochen August (Hg.), „Sonderaktion Krakau“. Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939, Hamburg 1997; Henryk Pierzchała, Den Fängen des SS-Staates entrissen. Die „Sonderaktion Krakau“. Mit einem Vorwort von Roman M. Zawadzki. Übersetzung aus dem Polnischen, Krakau 1998.

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zialismus wurde er dann ins galizische Przemyśl an der Grenze zum sowjetisch besetzten Teil Polens zwangsversetzt. Doch auch dort eckte er weiter an. Als herauskam, dass er Kontakte zu Skotschauer Juden, die im Krakauer Ghetto lebten, und polnischen Freunden unterhielt, wurde er angezeigt und entging nur mit Glück einer Verurteilung. 15 Seine Einberufung zur Wehrmacht im Mai 1942 empfand er vor diesem Hintergrund geradezu als Erleichterung. Doch auch hier begegnete man ihm mit Misstrauen. Es ist bezeichnend, dass Herbert Czaja trotz seiner akademischen Ausbildung, die ihn zum Offizier qualifizierte, nie über den Rang eines Gefreiten hinausgekommen ist. Im September 1943 wurde er in Russland schwer verwundet und verlor ein Auge. Im April 1945 geriet Herbert Czaja in US-amerikanische Gefangenschaft, aus der er, wohl wegen seiner Herkunft aus Polen, bereits im Herbst in seine oberschlesische Heimat entlassen wurde. Sein Elternhaus in Skotschau fand er ausgeraubt und beschädigt vor, überdeutlich war, dass die deutsche Minderheit dort keine Zukunft mehr hatte. Kurzfristig schien sich noch einmal die Chance für die Fortsetzung seiner 1939 unterbrochenen akademischen Karriere zu ergeben, als Adam Kleczkowski ihn in alter Verbundenheit als Nachfolger auf seinem Lehrstuhl vorschlug. Der Preis hierfür wäre allerdings das demonstrative Bekenntnis zum Polentum und damit die Leugnung seiner deutschen Wurzeln gewesen, was Herbert Czaja ablehnte. Er entschloss sich deshalb dazu, seine oberschlesische Heimat mit den nach Deutschland rollenden Vertreibungstransporten zu verlassen. Erleichtert haben mag ihm diese Entscheidung die in Polen immer deutlicher werdende Etablierung einer stalinistischen Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild. Zurücklassen musste Herbert Czaja seine greisen Eltern, die für einen solchen Transport zu schwach waren und bald darauf starben. Zurück blieben ebenfalls weitläufigere Verwandte sowohl in Polen als auch in der Tschechoslowakei. In Polen blieb auch seine frühere Verlobte Bronisława Kapica, die inzwischen einen anderen Mann geheiratet hatte und später im niederschlesischen Hirschberg (poln. Jelenia Góra) ansässig wurde. Das Jahr 1946 bedeutete für Herbert Czaja insofern einen dreifachen tiefen Einschnitt: Er verlor seine Heimat – in einem vom polnischen Geheimdienst aufgezeichneten Gespräch aus dem Jahr 1971 sprach er sogar ausdrücklich davon, er habe 1946 sein Vaterland verlassen 16 – , seine bürgerliche Existenz und seine bisherigen Lebensentwürfe, privat wie beruflich. 2. DAS ZWEITE LEBEN – HERBERT CZAJA ALS VERTRIEBENENPOLITIKER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (1946–1997) Herbert Czaja fand durch Vermittlung eines Kriegskameraden in Stuttgart, in der US-amerikanischen Besatzungszone, Aufnahme. Bereits im September 1946 arbeitete er wieder als Aushilfslehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte, Erdkunde 15 Vgl. Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 30f. 16 Rosenbaum, „Operation Poseł“, 194.

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und Latein, 1948 wurde er zum Studienrat und 1950 zum Beamten auf Lebenszeit ernannt. 17 Politisch schloss sich Herbert Czaja, was angesichts seiner Vergangenheit naheliegend war, 1947 der „Christlich-Demokratischen Union“ (CDU) Nordwürttembergs an, bereits im Jahr zuvor war er deren Jugendorganisation „Junge Union“ beigetreten. 1948 heiratete er die schwäbische „Caritas“Mitarbeiterin Eva-Maria Reinhardt, die aus einer dezidiert katholischen Familie stammte; ihr Vater hatte vor 1933 der Zentrumspartei angehört und war hauptamtlicher Sekretär der christlichen Gewerkschaften gewesen. Aus der sehr glücklichen Ehe, die im Übrigen ein frühes Beispiel für die damals noch keineswegs selbstverständliche gelungene Verschmelzung von Einheimischen und Vertriebenen darstellt, gingen zehn Kinder hervor. Herbert Czaja engagierte sich zunächst in der Kommunalpolitik, seit Dezember 1947 gehörte er dem Stadtrat von Stuttgart an. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehörten in dieser Zeit vor allem Fragen des Lastenausgleichs und der Wohnungsbaupolitik, angesichts der großen materiellen Not der Vertriebenen naheliegende Politikfelder. 18 Im November 1948 war er beteiligt an der Gründung der gemeinnützigen Bau- und Siedlungsgenossenschaft „Neues Heim“. 19 1953 wurde Herbert Czaja in den Deutschen Bundestag gewählt 20, worauf er aus dem Stadtrat ausschied und sich als Gymnasiallehrer beurlauben ließ. Einen Wechsel in die baden-württembergische Landespolitik, den ihm 1958 offenbar Kurt Georg Kiesinger offerierte 21, kam für Herbert Czaja nicht in Frage, er blieb der Bundespolitik treu. Abwerbeversuche des Gesamtdeutschen Blocks/BHE in den fünfziger Jahren lehnte er kompromisslos ab, weil er durchaus richtig erkannte, dass eine eigenständige Vertriebenenpartei langfristig keine Zukunft hatte. 22 Politik betrieb Herbert Czaja von einem konsequent christlichen Standpunkt, wie er ihn verstand, aus. Seine Tochter Christine Maria Czaja, die ihm später auch politische Weggefährtin und wichtige Stütze bei seiner vertriebenenpolitischen Arbeit war, hat dieses Selbstverständnis so beschrieben: Als bekennender Katholik war sein Wertebewusstsein von einem christlichen Politikverständnis geprägt. Treue, Mut, Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Geradlinigkeit und Lebensreife zeichneten ihn aus. Bei der pflichtbewussten Erfüllung seiner politischen und beruflichen Aufgaben standen nicht persönliche Erfolge im Vordergrund, sondern die Mitmenschen und das Gemeinwohl. 23

17 Vgl. Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 35. 18 Vgl. hierzu ausführlich Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 37–46. 19 Ebd., 43. 20 Zu seinem Wirken als Bundestagsabgeordneter vgl. auch Oliver Dix, Die Vertriebenenpolitik von Herbert Czaja im Deutschen Bundestag und im Gesamtverband Bund der Vertriebenen, in: Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 49–119 und Astrid Luise Mannes, Herbert Czajas Tätigkeit im Deutschen Bundestag, in: Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 121–152. Beide Beiträge sind faktengesättigt, aber wenig analytisch angelegt und überwiegend auf der Basis gedruckten Materials verfasst. 21 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 197 und Aretz, Herbert Czaja, 297. 22 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 206. 23 Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 36.

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Politik war für Herbert Czaja also nicht in erster Linie die pragmatische Kunst des Möglichen sondern vielmehr, und das war neben seiner tiefen konservativen Katholizität wohl auch den Erfahrungen in der alten Heimat geschuldet, der rastlose Einsatz für die Durchsetzung des als richtig Erkannten. Aus dieser Einstellung erklärt sich auch die an Herbert Czaja von seinen Gegnern, aber auch von Weggefährten, oft hervorgehobene Härte in der politischen Auseinandersetzung, die ihn zu einem unbequemen, mehr geachteten als geschätzten Politiker machte. Anfangs beschäftigte sich Herbert Czaja auch im Bundestag vor allem mit sozial- und wohnungsbaupolitischen Fragen. 24 Heimatpolitische, d. h. die deutschen Ostgrenzen und das Heimatrecht der Vertriebenen betreffende Themen standen bis in die frühen sechziger Jahre weniger in seinem Focus, obgleich er sich von Anfang an vertriebenenpolitisch und hierbei vor allem landsmannschaftlich positionierte: Im Dezember 1947 gehörte Herbert Czaja in der Diözese Rottenburg zu den Mitbegründern der Ackermann-Gemeinde, der Gesinnungsgemeinschaft der katholischen Sudetendeutschen, die die Traditionen der Deutschen ChristlichSozialen Volkspartei (DCSVP) in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit fortsetzt. 25 Dass sich der Ost-Oberschlesier Czaja dieser sudetendeutschen Organisation anschloss, dürfte vor allem zwei Gründe gehabt haben: Erstens handelte es sich hier um eine sehr frühe katholische Gründung, zweitens wusste sich Czaja den Sudetendeutschen durch seine Herkunft aus Österreichisch-Schlesien und, wie bereits erwähnt, durch den tschechoslowakischen Zweig seiner Familie verbunden. Außerdem engagierte sich die Ackermann-Gemeinde in den ersten Jahren ihres Bestehens besonders stark in der Lastenausgleichsfrage und war deshalb für Czaja ein wichtiger Partner. 26 Seine eigentliche landsmannschaftliche Heimat war indes die Landsmannschaft der Oberschlesier. Bereits im Sommer 1948 war Herbert Czaja an der Gründung einer Stuttgarter Kreisgruppe von Oberschlesiern beteiligt gewesen 27, die später in der Bundesorganisation aufging. Außerdem war er Mitbegründer der Union der Vertriebenen in CDU und CSU sowie des Hilfsverbandes der Heimatvertriebenen in Stuttgart; er gehörte auch dem Kreisflüchtlingsausschuss an. Hier begann der Einstieg Herbert Czajas in die landsmannschaftliche Politik, die ihn bis an die Spitze des BdV tragen sollte. Nach 1960 verlagerte sich allmählich der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit von Herbert Czaja auf die Außen- und Deutschlandpolitik. Seit 1964 war er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags. In diesem Zu24 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 145f. 25 Vgl. Bernhard Piegsa, Auf der Gratwanderung zwischen „Verzichtlertum“ und „Revanchismus“. Die Geschichte der Katholischen „Sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde“, in: Rudolf Endres (Hg.), Bayerns vierter Stamm. Die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945, Köln 1998, 119–168 und Ders., „Man soll nicht Übles durch Übles rächen...“. Geschichte und Leistung der „Ackermann-Gemeinde“, Leipzig 2007. 26 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 416. Vgl. auch Felix Raabe, Ein Mann der katholischen Laienarbeit, in: Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 153– 171, hier 153f. 27 Vgl. Czaja, Kindheit, Schulzeit, Studium und erstes politisches Engagement, 39 und Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 415.

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sammenhang beschäftigte er sich auch mit Menschenrechtsfragen, keineswegs nur in Bezug auf die Vertreibung der Deutschen, sondern etwa auch vor dem Hintergrund des Biafra-Kriegs in Nigeria. 28 Immer öfter schaltete er sich nun auch in Fragen der Heimatpolitik ein, zunächst vor allem im kirchlichen Bereich. Seit 1957 war Herbert Czaja dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) verbunden, zunächst als Leiter des Arbeitskreises „Kirche und Heimat“, dann als Mitglied der Vollversammlung und zuletzt (1987–1989) noch als Berater der neu errichteten Kommission „Europa“. Damit war er in der Lage, in diesem Spitzengremium der Laienarbeit innerhalb der katholischen Kirche vernehmbar seine Stimme zu erheben und Kirchenpolitik mitzugestalten. So äußerte er sich 1966 lobend zum Briefwechsel zwischen dem deutschen und polnischen katholischen Episkopat im Jahr 1965 und hob vor allem den Versöhnungswillen der polnischen Seite und den Verzicht der deutschen Seite auf eine Rechtfertigung der Vertreibung angesichts der deutschen Verbrechen im Osten hervor. Außerdem begrüßte er die Tatsache, dass die deutschen Bischöfe die Vertriebenen gegen den pauschalen Vorwurf des Revanchismus in Schutz genommen hätten. 29 Czajas Haltung in dieser Angelegenheit war, wie die vieler anderer katholischer Vertriebener auch, stark beeinflusst von der Ehrfurcht gegenüber dem kirchlichen Lehramt, gegenüber dem sich Kritik verbot. 30 Ihm war es sehr wichtig, dass seine Kirche in den Fragen der Heimatpolitik fest blieb, weil er in ihr eine unverzichtbare moralische Instanz sah, deren Aufgabe es über die unmittelbar seelsorgerlichen Verpflichtungen hinaus war, ein maßgebliches Rückgrat des Erhalts gesellschaftlich verbindlicher Werte zu sein. Fragen der Heimatpolitik hatten für ihn neben juristischen Aspekten nämlich immer auch eine ethisch-moralische Komponente, deren maßgebliches Fundament er in der christlichen Lehre sah. Entsprechend heftig reagierte Herbert Czaja, als 1967 das Polen-Memorandum des Bensberger Kreises 31, einer freien Vereinigung katholischer Intellektueller, die dem deutschen Zweig der PaxChristi-Bewegung angeschlossen war, bekannt wurde. Hier forderten zum ersten Mal namhafte katholische Intellektuelle mehr oder weniger unverblümt die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Die Parallele zum sogenannten Tübinger Memorandum von 1961, welches zur Vorgeschichte der Ost-Denkschrift der EKD von 1965 gehört, und eine wichtige Zäsur im Hinblick auf die Abwendung maßgeblicher Teile der protes28 Vgl. Aretz, Herbert Czaja, 297f und Mannes, Herbert Czajas Tätigkeit im Deutschen Bundestag, 126f. 29 Herbert Czaja, Deutsch-polnischer Dialog. Ein Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen, in: Ders. / Koschyk (Hgg.), Unsere sittliche Pflicht, 98–130. 30 So spricht Czaja in „Unterwegs zum kleinsten Deutschland“ bezeichnenderweise davon, er habe „respektvoll“ Stellung genommen (445). 31 Vgl. hierzu Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland, 312–330 sowie Friedhelm Boll, Der Bensberger Kreis und sein Polenmemorandum (1968). Vom Zweiten Vatikanischen Konzil zur Unterstützung sozial-liberaler Entspannungspolitik, in: Friedhelm Boll u. a. (Hgg.), Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik, Bonn 2009, 77–116 und Gottfried Erb, Verständigung mit Polen. Die Arbeit des Bensberger Kreises – Eine persönliche Bilanz, in: Ebd., 357–365. Boll und Erb verbinden in ihren Beiträgen die Perspektive des Wissenschaftlers mit der des beteiligten Zeitzeugen.

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tantischen Eliten und der EKD von der Vertriebenenverbänden darstellt, war hierbei gar nicht zu übersehen, weshalb Herbert Czaja einen Dammbruch innerhalb der Katholischen Kirche um jeden Preis verhindern wollte. 32 Letztlich ging das Ringen unentschieden aus; zwar konnte der BdV gegenüber den „Bensbergern“ Teilerfolge erringen, doch verhinderte das nicht, dass er seither bei den katholischen Eliten sukzessive an Rückhalt verlor. Im Rückblick hat Herbert Czaja den Ereignissen dieser Jahre nicht ganz zu Unrecht eine wichtige Rolle in dem von ihm so bezeichneten Prozess der „Entsolidarisierung“, das heißt der seit den sechziger Jahren immer weiter fortschreitenden Isolierung des BdV innerhalb der Bundesrepublik, zugesprochen. Ende der sechziger Jahre begann der Aufstieg Herbert Czajas innerhalb des BdV: 1964 war er zum Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Oberschlesier gewählt worden, 1969 wurde er als Nachfolger von Otto Ulitz deren Sprecher und damit der eigentliche politische Repräsentant der landsmannschaftlich organisierten heimatvertriebenen Oberschlesier. Die 1949/50 gegründete Landsmannschaft der Oberschlesier gehörte innerhalb des BdV nicht zu den größten Landsmannschaften, sie zeichnete sich aber, anders als etwa die Landsmannschaft Schlesien, in der ebenfalls Oberschlesier organisiert waren, durch sehr große Geschlossenheit aus. Die Gründe für die Notwendigkeit einer eigenständigen oberschlesischen Landsmannschaft sind für den Außenstehenden nur schwer verständlich zu machen. Ein wichtiger Punkt ist der Kampf gegen die Annexion Oberschlesiens durch Polen nach dem Ersten Weltkrieg und die Teilung des Landes 1921, die in hohem Maße bewusstseinsprägend für die Oberschlesier war. Hinzu kamen Unterschiede in Fragen der Konfession, der Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie im Wahlverhalten: Oberschlesien war mehrheitlich katholisch, stark industriell geprägt und Hochburg des Zentrums; Niederschlesien überwiegend evangelisch und zunächst eine Hochburg der SPD, später der DNVP und der NSDAP. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten eine wichtige Rolle auch der vertriebenenpolitische Partikularismus sowie die Überzeugung vieler Oberschlesier, deren Heimat außerhalb der Reichsgrenzen von 1937 lag, eine besondere Interessenvertretung zu benötigen. 33 Dennoch war ein schneller Aufstieg Czajas an die Spitze des BdV so zunächst nicht erwartbar, weil die Besetzung des Präsidentenpostens ein Politikum war, welches zwischen den großen Landsmannschaften ausgehandelt wurde. Herbert Czajas Stunde kam eigentlich überraschend 34: Seine Wahl zum neuen BdV-Präsidenten am 14. März 1970 hatte die CDUBundesgeschäftsstelle mit eingefädelt. Der BdV war angesichts der sich abzeich32 Vgl. hierzu ausführlicher Matthias Stickler, Gegenspieler der Aussöhnung? Die Haltung der Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Verständigung 1949 bis 1969, in: Boll u. a. (Hgg.), Versöhnung und Politik, 224–244, hier 237–242 und Dix, Die Vertriebenenpolitik von Herbert Czaja im Deutschen Bundestag und im Gesamtverband Bund der Vertriebenen, 54f sowie Herbert Czaja, Rund um das Bensberger Memorandum, in: echo der zeit (edz), 10. März 1968. 33 Vgl. hierzu Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 45f. 34 Vgl. hierzu Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 330–333 und Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 231–234.

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nenden deutschlandpolitischen Veränderungen verunsichert, sein verbandspolitisches Handeln nicht zuletzt auch deshalb gelähmt, weil der noch amtierende Präsident Reinhold Rehs aufgrund seines Austritts aus der SPD und fehlender Verankerung in der Unionsbundestagsfraktion über keinerlei politisches Gewicht mehr verfügte und insofern zunehmend zur Belastung für den Verband wurde. Innerhalb des BdV war man sich jedoch uneins über den Nachfolger, so dass letztlich auf Persönlichkeiten aus der zweiten Reihe zurückgegriffen werden musste. Von Teilen der CDU wie auch vom BdV-Präsidium wurde Herbert Czaja als Kandidat ins Spiel gebracht, wohl vor allem deshalb, weil er „als bisher kaum beachtete Reservekraft“ mehr als Sozial- denn als Heimatpolitiker hervorgetreten war und als „gehorsamer CDU-Mann“, christlich und versöhnungsbereit, galt, wie Czaja später selbst schrieb. 35 Gegen ihn kandidierte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Präsident der Schlesischen Landesversammlung Clemens Riedel 36, der heimatpolitisch ebenfalls ein eher unbeschriebenes Blatt und bisher vor allem als Mittelstandspolitiker und Repräsentant der katholischen Vertriebenenarbeit hervorgetreten war. Dass es überhaupt einen Gegenkandidaten gab, hing wohl doch mit den alten Animositäten zwischen den beiden schlesischen Landsmannschaften zusammen 37, aber offensichtlich auch mit dem Kalkül, dass Teile der CDU, die dem BdV eher kritisch gegenüberstanden und seinen Einfluss in der Union beschneiden wollten, von der Steuerbarkeit Czajas nicht überzeugt waren und deshalb kein Risiko eingehen wollten. 38 Herbert Czaja wurde schließlich am 14. März 1970 mit 68 gegen 34 Stimmen, also einer Zweidrittelmehrheit, zum BdVPräsidenten gewählt. Viele Beobachter betrachteten Czaja als Verlegenheits- oder Übergangslösung; er war, wie er selbst schrieb, einem Teil der Präsidialmitglieder suspekt, eher geduldet als unterstützt. 39 In den folgenden mehr als 20 Jahren wurde Herbert Czaja vor allem als eisenharter Vertreter der heimatpolitischen Interessen der Vertriebenen wahrgenommen. Dieser Eindruck ist vor dem Hintergrund des heftigen Ringens um die sogenannte Neue Ostpolitik 40 zwar nicht ganz falsch, übersehen wird hierbei allerdings, dass Herbert Czaja innerhalb des BdV zu den wenigen Politikern gehörte, die bereit waren, sich einzugestehen, dass es ein schlichtes Zurück zu den Grenzen von 1937 oder 1938 nicht geben könne. Im Hinblick auf die Grenzfrage waren 35 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 331f. 36 Zu Riedel vgl. Gregor Ploch, Clemens Riedel (1914-2003) und die katholischen deutschen Vertriebenenorganisationen. Motor oder Hemmschuh des deutsch-polnischen Verständigungsprozesses? (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 21), Berlin 2011. 37 Vgl. Hupka, Unruhiges Gewissen, 156; Czaja bestritt diesen Zusammenhang. 38 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 333. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. hierzu Matthias Stickler, „Unserer Heimat droht Gefahr!“ Der Kampf des Bundes der Vertriebenen (BdV) gegen die Ostverträge, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 1 (2010), 18–33, Fischer, Heimat-Politiker?, 368–385 und Andreas Grau, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition. 1969–1973 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 47), Düsseldorf 2005.

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seine Positionen, die er bisher allerdings nur intern vertreten hatte, wesentlich gemäßigter als die offizielle Linie des BdV 41: Seine Herkunft aus ÖsterreichischSchlesien, einer umstrittenen Grenzprovinz mit häufig fließenden ethnischnationalen Identitäten, prädestinierte ihn für die Einsicht, dass nicht einer nationalstaatlichen Restauration die Zukunft gehörte, sondern dem Ausgleich, was für Deutschland Gebietsverzicht bedeuten musste. Derartige Überlegungen äußerte Czaja 1966 und 1967 in vertraulichen Briefen an den CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Rainer Barzel und an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger; hier entwickelte er Gedanken, die auf einen völligen Kurswechsel in der Heimatpolitik des BdV hinausgelaufen wären. Czaja betonte zwar, das den Deutschen zugefügte Vertreibungsunrecht gelte es in menschenmöglicher und auch gegenüber Polen vertretbarer und zumutbarer Weise wieder gut zu machen. Er war sich hierbei aber völlig darüber im Klaren, dass an eine schlichte Rückgliederung der Ostgebiete nicht zu denken war. Umsetzen konnte Czaja derartige zukunftsweisende Vorstellungen ab 1970 jedoch nicht, da diese durch die Politik der Regierung Brandt/Scheel konterkariert bzw. überholt wurden. Der BdV musste nach 1969, wenn er als Verband überleben wollte, sich in Opposition zur Bundesregierung durch eine Schärfung des Profils im Sinne nationalstaatlichrestaurativer Zielsetzungen profilieren. Dies entsprach der Erwartungshaltung des harten Kerns der verbliebenen Mitglieder und darin liegt eine gewisse Tragik für Herbert Czajas politische Arbeit. Czaja hat als BdV-Präsident den Gedanken eines europäischen Volksgruppenrechts zwar später weiter ausdifferenziert und als mögliche Lösung der deutschen Frage im Osten Europas propagiert, fand allerdings damit außerhalb der Vertriebenenverbände und diesen nahestehenden Kreisen keine größere Resonanz. Gegenüber der Regierung Brandt/Scheel ging der BdV unter seinem neuen Präsidenten Herbert Czaja zunächst nicht auf Konfliktkurs. 42 Doch war es angesichts der Dynamik des neuen außenpolitischen Kurses der Bundesrepublik nur eine Frage der Zeit, wann es zur Konfrontation kommen musste, zumal sich innerhalb der SPD-Führung immer mehr die Kräfte durchsetzten, die auf deutliche Distanz zu den Vertriebenenverbänden gehen wollten. Da eine völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, wie diese durch die Bundesrepublik Deutschland im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 und im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 akzeptiert wurde, für den BdV keinesfalls in Frage kam, ging dieser schließlich in Fundamentalopposition zur Neuen Ostpolitik. Dieser Kurs wurde in großen Teilen der SPD als Kampfansage begriffen, zumal er verbunden war mit einer deutlichen Hinwendung zu den oppositionellen Unionsparteien, die nun zu natürlichen Verbündeten des BdV wurden. 43 Die Unionspar41 Vgl. hierzu ausführlicher Matthias Stickler, „... bis an die Memel“? Die Haltung der deutschen Vertriebenenverbände zur deutsch-polnischen Grenze, in: Karoline Gil / Christian Pletzing (Hgg.), Granica. Die deutsch-polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München 2010, 105–134, hier 122–126. 42 Vgl. Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 273ff und 308. 43 Vgl. ebd., 212–235.

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teien hatten zwar in den sechziger Jahren selbst ihre liebe Not gehabt mit den politischen Forderungen des BdV und waren deshalb zunehmend auf eine Strategie eingeschwenkt, die Erwartungshaltung der Vertriebenenverbände nur scheinbar zu erfüllen, indem man sich letztlich verschleiernder Sprachregelungen bediente. Ab 1969 unterstützten CDU und CSU als Oppositionsparteien jedoch den Kampf des BdV gegen die Neue Ostpolitik in erheblichem Umfang. Als Gegenleistung für den immer enger werdenden Schulterschluss von BdV und CDU/CSU verlangte jener allerdings eine harte Haltung in der Frage der Ostverträge. Durchzuhalten war eine derartige Fundamentalopposition gegen das Vertragswerk freilich nicht. Der BdV sah sich vielmehr genötigt, eine Linie der CDU/CSU zu akzeptieren, die darauf hinauslief, die Ostverträge nicht scheitern zu lassen, sondern diese „in deutschem Interesse zu interpretieren“, wie es der letzte Bundesvertriebenenminister Heinrich Windelen (CDU), ein Schlesier, ausdrückte. 44 Vor diesem Hintergrund war die Tatsache, dass es dem BdV im Bündnis vor allem mit der CSU, und hierbei vor allem Franz Josef Strauß, 1973 und 1975 gelungen war, in den von ihm mitangestrengten Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu den Ostverträgen, seine Rechtspositionen in erheblichem Umfang bestätigt zu bekommen. Ein bemerkenswerter Erfolg, an dem Herbert Czaja einen erheblichen Anteil hatte. 45 Ferner setzte er sich intensiv ein für Aussiedler und für Familienzusammenführungen. Die Bundesverfassungsgerichtsurteile bildeten in den kommenden gut eineinhalb Jahrzehnten gleichsam die Basis der heimatpolitischen Programmatik des BdV und wurden gerade von Herbert Czaja in der Öffentlichkeit unnachgiebig vertreten. Die weitere Erosion der gesellschaftlichen Basis des BdV, der zunehmend als Nebenorganisation von CDU und CSU wahrgenommen wurde, was seiner Anschlussfähigkeit an andere politische Lager enge Grenzen setzte, konnte dadurch aber nicht verhindert werden. Auch in der Ära Kohl – auf diesen setzte Czaja große Hoffnungen – ging dieser Prozess unaufhaltsam weiter, sieht man einmal von einigen Erfolgen auf dem Felde der symbolischen Politik sowie der Aufstockung der finanziellen Förderung der Vertriebenenverbände durch den Bund ab. 46 Vielsagend war in diesem Zusammenhang der öffentliche Skandal um das 21. Bundestreffen der Landsmannschaft Schlesien 1985, als diese Bundeskanzler Helmut Kohl als Festredner hatte gewinnen können und gleichzeitig als Motto der Veranstaltung „Vierzig Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“ präsentierte – eine Entscheidung, an der Czaja allerdings keinen Anteil hatte. Im Ergebnis erlitt die Landsmannschaft Schlesien und mit ihr indirekt der gesamte BdV eine empfindliche öffentliche Niederlage, weil Kohl eine Änderung des Mottos erzwang („40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unsere Zukunft – Im Euro44 Ebd., 234. 45 Vgl. hierzu und zum folgenden Stickler, „... bis an die Memel“?, 126–132. 46 Vgl. hierzu Ociepka, Związek Wypędzonych w systemie politycznym RFN i jego wpływ na stosunki polsko-niemieckie 1982–1992. Für die 1980er und 1990er Jahre stütze ich mich im folgenden u. a. auf die Ergebnisse der 2008 eingereichten Magisterarbeit meines Schülers Matthias Finster zum Thema „Die Diskurse über das öffentliche Gedenken an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland 1982–2006“. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Herrn Finster in diesem Band.

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pa freier Völker“). Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass Helmut Kohl in seinen Erinnerungen 47 Herbert Czaja mit keinem Wort erwähnt. Kohl geht zwar knapp auf das Schlesiertreffen 1985 ein, verbindet diese Ausführungen in bewährter Weise mit einer wohlwollenden Würdigung der Leistung der Vertriebenen beim Wiederaufbau Deutschlands, mehr aber nicht. 48 Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als die regelmäßigen Kontakte zwischen Czaja und Kohl in den Jahren seiner Kanzlerschaft eigentlich anderes erwarten lassen. Diese Zurückhaltung ex post ist vielsagender als jede ausdrückliche Distanzierung im Text. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Herbert Czaja innerhalb seiner eigenen Partei zunehmend als umstritten galt 49; so wurde er 1987 nicht mehr in den Landesvorstand der CDU Baden-Württembergs gewählt, sondern nur noch kooptiert. Seine Kandidatur für die Bundestagswahlen 1987 war ebenfalls umstritten gewesen; seinen Wahlkreis und einen sicheren Listenplatz erreichte er schließlich auch dank der Unterstützung durch Helmut Kohl und den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Lothar Späth. 50 Im November 1987 schied Herbert Czaja aus Altergründen aus dem ZdK aus, blieb der Laienorganisation aber noch als Berater verbunden. Zum Bruch kam es, als im August 1989 namhafte Mitglieder des ZdK eine deutsch-polnische Erklärung mitunterzeichneten, in der die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie gefordert wurde. 51 Auch an diesem Beispiel zeigte sich die zunehmende politische Vereinsamung Herbert Czajas, die in den fünfziger und sechziger Jahren begründeten Netzwerke begannen immer mehr an politischer Wirkmächtigkeit zu verlieren. Von Krise und Kollaps der DDR wurde der BdV im Sommer und Herbst 1989 in ähnlicher Weise überrascht wie die gesamte bundesdeutsche Öffentlichkeit. Angesichts des bisher ausgeführten verwundert es nicht, dass sich jener in seiner heimatpolitischen Programmatik bestätigt sah. Nach seinem eigenen Selbstverständnis war der BdV nun gleichsam in der Zielgeraden. Was die führenden Vertriebenenpolitiker, auch und vor allem Herbert Czaja, aber nach wie vor ausblendeten, war, dass in den vergangenen Jahrzehnten Fakten geschaffen worden waren, die nicht mehr revidierbar waren. „Die Revision von über vierzig Jahren europäischer Geschichte, wie sie im Falle der DDR vorgenommen wurde, mochte“, so der Mainzer Zeithistoriker Andreas Rödder, „im Hinblick auf die Ostgebiete völkerrechtliche Legalität beanspruchen. Politisch aber lag sie, national und vor allem international, außerhalb jeder Diskussion“. 52 Es war für Herbert Czaja eine schwere Enttäuschung, dass der BdV praktisch keinen Einfluss auf die nun zutreffenden außenpolitischen Entscheidungen hatte. Herbert Czaja hatte zwar keineswegs damit gerechnet, dass es möglich sein könne, die Grenzen von 1937 wiederherzustellen, doch hoffte er auf „Korrekturen zu einem kleinsten Deutschland seit 47 Vgl. v. a. Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–2000, München 2005 und Ders., Erinnerungen 1990–1994, München 2007. 48 Vgl. Kohl, Erinnerungen 1982–1990, 367–374. 49 Vgl. Mannes, Herbert Czajas Tätigkeit im Deutschen Bundestag, 143f. 50 Vgl. ebd. und Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 642–644. 51 Vgl. Raabe, Ein Mann der katholischen Laienarbeit, 168f. 52 Vgl. Rödder, Deutschland einig Vaterland, 235–244, Zitat auf 238.

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1000 Jahren“, wie er dies später bezeichnete. 53 Er knüpfte hierbei an seine Überlegungen aus den sechziger Jahren an, sprach von einem Sonderstatus für die umstrittenen Gebiete oder die Möglichkeit der Schaffung von europäischen Territorien mit eigener Souveränität 54, ohne diese Vorschläge jedoch 1990 in den laufenden politischen Prozess einspeisen zu können. Dies lag auch daran, dass der BdV selbst bzw. dessen Mitglieder in dieser Situation schwach agierten; so geriet etwa im Frühjahr 1990 eine mit großem Aufwand angekündigte Mitgliederbefragung zur Grenzfrage („Friede durch freie Abstimmung“) zur Farce, weil sich nur ein Bruchteil der offiziell immer noch mit 2 Millionen angegebenen Mitglieder überhaupt daran beteiligte. 55 Es ging nun alles sehr schnell, ohne dass der BdV dagegen etwas tun konnte: Am 21. Juni 1990 verabschiedeten Bundestag und Volkskammer gleichlautende Entschließungen zur Bestätigung der polnischen Westgrenze, die in gewisser Weise eine Vorleistung im Hinblick auf die Wiedervereinigung darstellten. Im Bundestag gab es, nachdem Helmut Kohl in der Unionsfraktion eindringlich um Zustimmung geworben hatte 56 bei 504 abgegebenen Stimmen lediglich drei Enthaltungen und 15 Gegenstimmen aus dem Kreis der heimatvertriebenen Unionsabgeordneten, darunter Herbert Czaja, welcher seine Haltung auch vor dem Plenum ausführlich begründete. Wenige Tage vorher war Czaja von Kohl zu einem persönlichen Gespräch empfangen worden, in welchem der Bundeskanzler um Verständnis für sein Vorgehen warb und sich über die Haltung der Abweichler informierte. Czaja sagte zu, sich bei der Bundestagsdebatte „maßvoll und vorwärtsgerichtet“ 57 zu verhalten, eine Zusage, die er in seiner Rede einlöste. 58 Die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch das vereinigte Deutschland stellte für Herbert Czaja eine tiefempfundene, schwere Niederlage dar. Er sah in der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie die Verwirklichung polnischer Maximalforderungen zu Lasten der Vertriebenen. 59 Die Durchsetzung dieser in der Sache unnachgiebigen Linie in der deutsch-polnischen Grenzfrage, die Herbert Czaja betrieb, führte im BdV zu erheblichen innerverbandlichen Differenzen, die letztlich mit dem Rücktritt des von ihm viele Jahre geförderten kompromissbereiteren BdV-Generalsekretärs Hartmut Koschyk endeten 60; dieser hatte 53 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 877. 54 Vgl. „Frieden durch freie Abstimmung“, in: Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 257–260 und Deutscher Ostdienst Nr. 14/1990 (6.4.1990). 55 Vgl. hierzu und zum folgenden Stickler, „... bis an die Memel“?, 129ff. 56 Vgl. Teltschik, 329 Tage, 270–272. 57 Teltschik, 329 Tage, 272. 58 Für Czaja war die Entscheidung Kohls, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, eine schwere Enttäuschung, für die er aber bezeichnenderweise die Vertrauten Kohls und Außenminister Hans-Dietrich Genscher verantwortlich machte; vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 793–811. Dass Kohl in der Grenzfrage keineswegs leichtfertig, wohl aber pragmatisch handelte und selbst davon überzeugt war, dass es keine Revisionsmöglichkeiten mehr gab, wollte Czaja offenbar nicht sehen. 59 Vgl. hierzu Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, passim. 60 Vgl. Dix, Die Vertriebenenpolitik von Herbert Czaja im Deutschen Bundestag und im Gesamtverband Bund der Vertriebenen, 98f.

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dafür plädiert, die neuen Verhältnisse zu respektieren. Am 30. Juni 1991 hatte der BdV auf seiner Bundesversammlung eine Erklärung verabschiedet, in der es wörtlich hieß: „Solche Verträge können wir nicht mittragen. Unser Ringen um bessere Verträge geht weiter.“ 61 Das war eine unverhohlene Kampfansage an die Politik der Bundesregierung. An dieser Auseinandersetzung, hinter der sich auch ein Generationenkonflikt verbarg, und der kompromisslosen Haltung Czajas, der in Koschyks Verhalten letztlich einen Verrat an den Prinzipien des BdV erblickte, zerbrach auch die Freundschaft zwischen beiden Männern. Für Czaja bedeutete das Verhalten Koschyks, wie er selbst äußerte, „eine sehr tiefe menschliche Erschütterung.“ 62 Trotz seiner inzwischen 78 Jahre und zunehmender gesundheitlicher Probleme, kandidierte Herbert Czaja 1992 noch einmal für das Amt des BdVPräsidenten, wohl auch deshalb, weil er angesichts auch innerverbandlicher Kritik an seiner Führungsarbeit um sein Lebenswerk fürchtete. Er erhielt eine Zweidrittelmehrheit, konnte aber in den folgenden zwei Jahren nur noch wenige neue Akzente für den sich in einer tiefen Existenzkrise befindenden BdV setzen. 1994 kandidierte Herbert Czaja nicht mehr für den BdV-Vorsitz und machte dem 61jährigen sudetendeutschen CSU-Bundestagsabgeordneten Fritz Wittmann Platz. Sprecher der Landsmannschaft der Oberschlesier blieb er bis zu seinem Tode, außerdem wurde ihm erstmals in der Geschichte des BdV der Titel eines Ehrenpräsidenten verliehen. 1996 kehrte Herbert Czaja nach 50 Jahren nochmals in seine oberschlesische Heimat zurück, wo er freundlich empfangen wurde. 63 Er besuchte das nach wie vor gut gepflegte Grab seiner Eltern und deren Haus, in dem er aufgewachsen war und wo sich seit 1994 eine Behindertenschule befindet. Sein Weg führte ihn auch an seine Alma Mater, die Universität Krakau, wo er Gespräche mit befreundeten Professoren führte. In gewisser Weise schloss sich durch diese Reise ein Lebenskreis. Im darauffolgenden Jahr, am 18. April 1997, verstarb Herbert Czaja im Alter von knapp 82 Jahren in Stuttgart an den Folgen seines dritten Herzinfarkts. Er wurde auf dem Friedhof Stuttgart-Steinhaldenfeld begraben. 3. FAZIT Es fällt schwer, eine Bilanz des langen Lebens von Herbert Czaja – eigentlich waren es ja, wie wir sahen, zwei Leben – zu ziehen. Auf der einen Seite hatte er in der Bundesrepublik eine glänzende Karriere gemacht, ihm waren höchste nationale und internationale Auszeichnungen verliehen worden, darunter die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, der Bayerische Verdienstorden, das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und das Komturkreuz des päpstlichen Gregorius-Ordens. Andererseits war er, wie sein Alters61 Deutscher Ostdienst Nr. 27/1991, 1. 62 Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 801. 63 Dix, Die Vertriebenenpolitik von Herbert Czaja im Deutschen Bundestag und im Gesamtverband Bund der Vertriebenen, 114f.

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werk „Unterwegs zum kleinsten Deutschland?“ 64 zeigt, am Ende seines Lebens spürbar verbittert wegen der in seinen Augen ungerechten und vorschnellen Preisgabe der deutschen Ostgebiete durch die Bundesregierung im Gefolge der Wiedervereinigung Deutschlands, die er nicht hatte verhindern können. Akzeptiert hat Herbert Czaja die 1990/91 geschlossenen Verträge bis zu seinem Tode nicht und bis zuletzt, auch gegen die Expertise des ihm jahrzehntelang verbundenen Würzburger Völkerrechtlers Dieter Blumenwitz, behauptet, dass die „ostdeutsche Frage“ weiter offen sei und Korrekturen zugunsten Deutschlands notwendig seien. 65 Auf Herbert Czaja trifft in besonderer Weise zu, was über die organisierten Vertriebenen nicht ganz zu Unrecht insgesamt gesagt wurde, dass er alles Politische in den Spannungsbogen von Heimatverlust und Wiedergewinnung der Heimat einordnete 66. Entsprechend selektiv war sein Blick in die Vergangenheit und sein Verständnis von Politik: je mehr Widerspruch er wahrnahm, neigte er zur Beharrung auf Rechtspositionen, wie er sie verstand, was ihn im tagespolitischen Geschäft immer mehr isolierte. Im Kern handelt es sich bei dem letzten von Czajas Büchern um eine Art politischer Erinnerungsliteratur. Es trägt auch deutliche Züge einer Rechtfertigungsschrift und ist, obwohl formal chronologisch aufgebaut, durchsetzt mit Exkursen aller Art, die sein Lebenswerk und politisches Denken ausführlich dokumentieren. Im Grunde zeigt der Band, der wegen Czajas schlechtem Gesundheitszustand überhastet fertiggestellt wurde und deshalb teilweise fragmentarisch wirkt, in aller Deutlichkeit, dass die Zeit über den Autor unwiderruflich hinweg gegangen war. Herbert Czaja gehört dennoch zweifellos zu den prägenden Gestalten der bundesdeutschen Politik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dass er heute überwiegend vergessen bzw. häufig nur noch im Zerrbild des unbelehrbaren „Kalten Kriegers“ präsent ist, muss zweifellos als Folge seines erbitterten Kampfes gegen die Ostverträge bzw. die Anerkennung der OderNeiße-Linie gesehen werden. Ihn wegen seiner unbequemen Prinzipienfestigkeit als reaktionären Revanchisten abzustempeln, wie Ernst-Otto Czempiel dies am 20. September 1996 in der bereits erwähnten Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung getan hat, ist dennoch ungerechtfertigt und verkennt die eigentlichen, auf Versöhnung und Verständigung der Völker aus dem Geiste des Christentums abzielenden Motive Czajas. Weggefährten Herbert Czajas haben an ihm oft seine persönliche Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit hervorgehoben. Insofern ist es bemerkenswert, dass er von sich eine ganz andere Meinung hatte: Er habe kein umgängliches Wesen, äußere seine Meinung schroff und im eigenen Kreise aggressiv. Hinzu komme, dass er mit möglichst zahlreichen Argumenten überzeugen wolle, was zu lange Ausführungen zur Folge habe und er vieles zu ernst und zu schwer nehme. 67 Diese Selbsteinschätzungen zeigen, dass sich Czaja sehr wohl seiner Schwächen bewusst war und er, anders als dies in der Öffent64 Vgl. hierzu ebd., 116. 65 Vgl. Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 879–921. 66 Vgl. Hans Josef Brües, Artikulation und Repräsentation politischer Verbandsinteressen, dargestellt am Beispiel der Vertriebenenorganisationen, Diss. Köln 1972, 49ff. 67 Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland, 583.

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lichkeit wahrgenommen wurde, zu ehrlicher Selbstkritik fähig war. Es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, ganz in das Innere dieser vielschichtigen Persönlichkeit einzudringen, deren Leben von so vielen Brüchen, Verwundungen und auch von Scheitern gekennzeichnet war. Herbert Czaja war nicht der Mann, der darüber viele Worte machte. An ihm haben sich auch die auf ihn angesetzten Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes die Zähne ausgebissen. Sie konnten sich der Faszination seiner Persönlichkeit nur schwer entziehen, an seiner persönlichen Redlichkeit haben interessanterweise auch sie nicht gezweifelt. 68 Joachim Kardinal Meisner, ebenfalls ein Schlesier, hat in seiner Predigt anlässlich des feierlichen Sechswochenseelenamts im Bonner Münster auf die tiefen christlichen Wurzeln des Politikers Herbert Czaja hingewiesen. Bei ihm habe man immer die Dimensionen von oben und unten – Himmel und Erde – in seinem politischen Handeln spüren können. 69 An dieser Feststellung ist viel Wahres und man wird nicht fehl gehen, als bleibende Lebensbilanz des streitbaren Vertriebenenpolitikers Herbert Czaja seine im Christentum wurzelnde echte Versöhnungsbereitschaft hervorzuheben, die alle allzu menschlichen, Geschichte gewordenen tagespolitischen Konflikte überragt. Aufschlussreich ist auch eine Äußerung Czajas im Jahr 1984 gegenüber Vertretern der „Schlesischen Jugend“, die aus Anlass des 40. Jahrestags des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 ein Seminar über den deutschen Widerstand veranstaltet und den BdV-Präsidenten als Referenten eingeladen hatte. Czaja ließ in diesen Vortrag viel Autobiographisches einfließen und schloss mit den Worten: Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, den deutschen und europäischen Mittelweg zu gehen, der berechtigte deutsche Interessen mit Entschiedenheit vertritt, aber auch eines schönen Tages mit den östlichen und westlichen Nachbarn und Völkern eine föderale gesamtdeutsche und europäische Ordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen erreicht. Ich habe mir das im geistigen Widerstand angeeignet und möchte es Ihnen weitergeben. 70

Man könnte in dieser Aussage des damals 70-jährigen, die eindrucksvoll zeigt, wie die Erfahrungen seiner beiden Leben miteinander verwoben waren, durchaus so etwas wie ein geistiges Vermächtnis des Dr. Herbert Czaja sehen.

68 Vgl. Rosenbaum, „Operation Poseł“. 69 Vgl. Czaja (Hg.), Herbert Czaja. Anwalt für Menschenrechte, 206–208, hier 208. 70 Czaja, Opposition gegen den Nationalsozialismus in Ost-Oberschlesien, 35.

DIE ENTGERMANISIERUNG OBERSCHLESIENS NACH 1945 Małgorzata Świder Die deutsch-polnischen Beziehungen bestehen seit über tausend Jahren. Eigentlich unterschieden sie sich bis zum 19. Jahrhundert nicht von den durchschnittlichen politischen Beziehungen zu anderen Nachbarstaaten. Erst das Ende des 19. Jahrhunderts brachte ihre ernsthafte Verschlechterung und das 20. Jahrhundert ihre Verschärfung und die Veränderung in Qualität und Rezeption. Zu ihrer richtigen Entstellung kam es während des Zweiten Weltkriegs. Die deutschpolnischen Beziehungen der Jahre 1939 bis 1945 hatten grundlegenden Einfluss auf die Politik unserer beiden Staaten und Völker: sowohl des polnischen als auch des deutschen. Insbesondere die polnische Bevölkerung konnte sich lange nicht vom deutschen Trauma erholen, das sich sogar in ein sog. „Deutsches Syndrom” steigerte, das in der soziologischen Literatur als eine Überempfindlichkeit der polnischen Gesellschaft gegenüber den Deutschen bezeichnet wird. Dies zeigte sich sowohl in der Privatsphäre als auch in der Öffentlichkeit. Es bestand nicht nur aus der Erinnerung an das Leiden vieler Generationen von Polen, sondern auch aus einem Respekt vor dem wirtschaftlichen Potential Deutschlands, das oft zu einem Minderwertigkeitskomplex führte.1 Effekt dieses Deutschen-Syndroms war, dass die von der neuen kommunistischen Regierung gegenüber den Deutschen, die das polnische Staatsgebiet in den Grenzen von 1945 bewohnten, betriebene Politik auf keinerlei Kritik der polnischen Gesellschaft traf. Die Polen, egal welcher politischen Ansichten sie waren, waren der Meinung, dass in der polnischen Staatsräson die Absicherung der neuen Gebiete und deren Verteidigung vor deutschem Revisionismus liege. Alle politischen Gruppierungen, ob mit der polnischen Exilregierung in London, oder auch mit der kommunistischen Regierung in Warschau verbunden, waren der Meinung, dass die Verteidigung der territorialen Form des polnischen Staates die grundlegende politische Aufgabe sei.2 Das Thema der West- und Nordgebiete war untrennbarer Bestandteil der Innenpolitik des polnischen Staates und wichtiges Element der Außenpolitik. Beide polnischen politischen Lager, das Londoner und das Warschauer, sprachen einstimmig, gemäß der damaligen Staatsräson, über die 1 2

Andrzej Sakson, Niemcy w świadomości społecznej Polaków, in: Anna Wolff-Powęska (Red.), Polacy wobec Niemów. Z dziejów kultury politycznej Polski 1945–1989, Poznań 1993, 408. Zum Thema der Politik der Londoner Exilregierung zu den neuen Westgrenzen vgl. Tadeusz Wolsza, Rząd RP na obczyźnie wobec wydarzeń w kraju 1945–1950, Warszawa 2005.

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deutsch-polnischen Beziehungen, über Kriegsreparationen und die Aussiedlung der Deutschen aus den polnischen Gebieten. Manche Politiker erkannten zwar das Problem der kollektiven Verantwortung, im Angesicht der politischen Realitäten in Europa jedoch und auch aus der Notwendigkeit heraus, dem polnischen Volk die Existenz zu sichern, stimmte man grundsätzlich den Maßnahmen zur endgültigen Lösung der deutschen Frage zu, in diesem Fall durch Massenaussiedlungen: „Dies ist zweifellos eine Methode, die weder der christlichen Moral noch der europäischen Kultur entspricht und die Verdammung verdient.” 3 Gleichzeitig wurde daran erinnert, „(…) dass dies nicht die Polen waren, die über die Aussiedlung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder entschieden haben, sondern die drei Großmächte auf der Potsdamer Konferenz.“ In diesem Kontext wurde auch auf den moralischen Aspekt der Verteidigung der eigenen Nation und die Schuld der Deutschen für die Taten während des Zweiten Weltkriegs verwiesen: „Uns wollten die Deutschen – und das waren nicht nur die Nazis – während des letzten Kriegs nicht nur aussiedeln, sondern ganz und gar ausrotten. Wir haben das gute, von Gott gegebene Recht, das Dasein unserer Nation zu verteidigen.”4 Interessante Wahrnehmungen machte Helmut Schmidt, der 1966 zum ersten Mal in Polen zu Besuch war.5 Der deutsche Gast traf in Polen auf viele Menschen mit antikommunistischer Einstellung, mit denen er relativ offen sprach, aber er fand nicht einen Polen, der die Grenze an der Oder und Neiße in Frage gestellt hätte. Er traf stattdessen auf tief verwurzelte Ängste vor den Deutschen, Angst, dass die Nazis zurückkommen, Angst vor „Revanchismus“ und „Revisionismus“. Er entdeckte auch, neben den offiziellen Parolen, die von der regierenden kommunistischen Partei verkündet wurden, eine ganz private Beunruhigung, oft dokumentiert mit Hilfe von originalgetreuen Zitaten der Aussagen von Vertriebenenfunktionären. Derartige Reaktionen der polnischen Bevölkerung waren weit verbreitet und galten als normal. Auf diese Reaktionen verweisen auch die Wissenschaftler, die sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigen. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass die territoriale Situation, und vor allem das Problem der Infragestellung des Verlaufs der Westgrenze in der polnischen Politik eine besondere Rolle gespielt hat. Die deutsche Bedrohung wurde instrumentalisiert, um die Bevölkerung zu Festgelegtem und von den neuen Machthabern Gewünschtem zu zwingen. Vor allem die angespannten deutsch-polnischen Beziehungen schufen eine Plattform für die Verständigung und Konsolidierung der polnischen Gesellschaft und waren auch politisches Argument für die Bindung an die Sowjetunion.6 3 4 5 6

Zitiert nach Wolsza, Rząd RP na obczyźnie, 72. Ebd. Helmut Schmidt, Trudna wizyta w Warszawie w 1966 roku, in: Friedbert Pflüger/Winfried Lipscher (Red.), Od nienawiści do przyjaźni: o problemach polsko-niemieckiego sa̜ siedztwa, Warszawa 1994, 63. Mehr dazu: Małgorzata Świder, Zur Rolle der Deutschen in der polnischen Nachkriegsgeschichte, in: Erik Gieseking / Irene Gückel / Hermann-Josef Scheidgen / Anselm Tigge-

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Neben der politischen Mission, die die neuen Gebiete erfüllten, war die wirtschaftliche Rolle beim Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Landes sehr wichtig. Ein bedeutsames wirtschaftliches Element war die Möglichkeit, Menschen, die aus den im Osten verlorenen Gebieten (sog. Repatrianten), aus den überbevölkerten Regionen Zentralpolens (Ansiedler) oder aus Westeuropa kamen, die von der Zwangsarbeit oder der Erwerbsmigration zurückkehrten (Remigranten), anzusiedeln. Zur Integration der Westgebiete wurde eine breit angelegte Propagandaaktion begonnen sowie konkrete Maßnahmen zum Ausgleich der Unterschiede zwischen den alten und neuen Gebieten. Ein zusätzliches Element, das den einigenden Maßnahmen entgegenkam, war die Tatsache, dass bei der Argumentation für den Anschluss der Westgebiete an Polen von deren slawischer Vergangenheit gesprochen wurde. Ihr äußeres Aussehen konnte somit nicht vom Aussehen anderer Gebiete in den Landesgrenzen abweichen. Außerdem war die Tatsache, dass die Alliierten auf der Jalta-Konferenz Anfang Februar 1945 zu einem Konsens hinsichtlich der polnischen Ostgrenze kommen konnten, darunter die Frage der Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus diesen Gebieten, ohne dabei eine eindeutige Haltung zum Verlauf der polnischen Westgrenze zu haben, ein wichtiges Element für die polnische Verwaltung. Auf diese Weise provozierte man Maßnahmen zur Schaffung eines unumkehrbaren Status Quo, auch durch die Besiedlung von Gebieten des ehemaligen Dritten Reichs mit Flüchtlingen aus dem östlichen Polen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, Hunderttausenden neuen Siedlern in den Westgebieten eine Existenz zu sichern, sowie die Zivilbevölkerung polnischer Herkunft, die ehemals deutsche Staatsbürger waren (Autochthonen), zu schützen, wurde der Prozess der Repolonisierung und Entdeutschung dieser Gebiete begonnen. In der Publizistik, die sich mit den Repolonisierungsmaßnahmen beschäftigte, wurde versucht, den oft benutzten Begriff „Repolonisierung“ (Repolonizacja) zu definieren.7 Edmunt Męclewski, ein bekannter schlesischer Publizist und politischer Aktivist, bezeichnete die Repolonisierung als einen positiven Abschnitt der polnischen Politik.8 Unter dem Begriff Repolonisierung hat er nicht nur „die Polonisierung der autochthonen, teilweise germanisierten Bevölkerung der Wiedergewonnenen Gebiete“ verstanden bzw. die Sättigung dieser Gebiete durch das polnische Volk, sondern auch die faktische und vollkommene Eingliederung dieser Gebiete in das polnische Staatswesen. Die Repolonisierung war seiner Meinung nach ein politischer Begriff, der eine endgültige – formale und faktische – Anerkennung der Westgrenze in der Form, die in der Konferenz von Potsdam festgelegt worden war, bezweckte. Zur Erreichung der politisch verstandenen Repolonisierung müssten zwei Hauptaufgaben erfüllt werden:

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mann (Hgg.), Zum Ideologieproblem in der Geschichte. Herbert Hömig zum 65. Geburtstag, Lauf an der Pegnitz 2006, 163–176. Ausführlicher dazu: Małgorzata Świder, Die sogenannte Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945–1950, Lauf an der Pegnitz 2002, 209–213. Edmunt Męclewski, Repolonizacja – programem politycznym i realizacyjnym, in: Strażnica Zachodnia 1946, Nr. 1–2, 2ff.

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Die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung, die in die autochthone Bürgerschaft integriert werden sollte, und – Die Entfernung der Deutschen. Bei den Anstrengungen, die Deutschen aus den „postulierten Gebieten“ auszusiedeln und die Spuren des deutschen Erbes zu entfernen, wurde oft der Begriff Entgermanisierung gebraucht. Dabei muss man wissen, dass der Begriff im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Entfernung aller deutschen Spuren, d. h. sowohl der Menschen als auch ihrer materiellen und geistigen Hinterlassenschaften, verwendet wurde. Praktisch wurden unter diesem Begriff alle destruktiven Maßnahmen von politischen und gesellschaftlichen Organisationen und der Verwaltung verstanden, deren Zielsetzung es war, neben der Aussiedlung der Bevölkerung auch sämtliche Spuren der deutschen Geschichte in den in die Administration Polens übergegangenen Gebieten zu verwischen. Es sollte eine systematische Entfernung der deutschen Überreste in Sprache, Schrift und sogar in der Mentalität sein. Im Laufe der Zeit modifizierte sich die offizielle Bedeutung des Terminus „Entgermanisierung“. Am Anfang der Übernahme und Besiedlung der sog. Wiedergewonnenen Gebiete verstand man darunter die Aussiedlung der Deutschen und die Sicherstellung der zurückgelassenen Güter. Nachdem die Aussiedlung abgeschlossen war, bezeichnete der Begriff eine mechanische Entfernung aller Kulturspuren der Deutschen. In dieser späteren Bedeutung verwendete man den Ausdruck am häufigsten, was besonders in den Rundschreiben des Ministeriums und des Wojewodschaftsamtes deutlich wird.9 Es kristallisierten sich vier Schwerpunkte heraus: – Aussiedlung der Deutschen, – Ausschaltung der deutschen Sprache in Wort und Schrift, d. h. Entfernung des deutschen Schriftgutes im privaten und öffentlichen Bereich, – Bekämpfung der prodeutschen Einstellung und Mentalität, – Änderung der Vor- und Familiennamen; die Polonisierung der Namen, d. h. Angleichung an polnische Grammatik und Orthographie oder sogar Verleihung eines neuen Namens, und die Repolonisierung, d. h. Rückkehr zu den von der Hitlerregierung geänderten slawischen Namen. In der Praxis wurden die Begriffe „Repolonisierung“ und „Entgermanisierung“ oft als Synonyme benutzt, als Bezeichnung für die gänzliche Entfernung jeglicher Spuren, die an die Präsenz des deutschen Staats- und Kulturwesens in irgendeiner Form erinnerten. Als „Entgermanisierung“ wurde vorwiegend eine destruktive Tätigkeit bezeichnet, z. B. Entfernung oder Austreibung. Als Repolonisierung dagegen wurden Maßnahmen beschrieben, die etwas schaffen sollten, z. B. wirtschaftliche Verbindungen oder Besiedlung. In der Praxis wurden beide Termini 9

Archiwum Państwowe (AP) Katowice (Kat.) Urząd Wojewódzki Śląski (UWŚl) Wydział Społeczno-Polityczny (Sp-Pol.) 551, Bl. 9f. Erlass des Wojewoden vom 23.04.1948, Nr. SP.II-49/60/48, betr. die Koordinationskommissionen zur Liquidierung der deutschen Hinterlassenschaften; vgl. Aleksander Rogalski, Akcja kulturalna na Ziemiach Odzyskanych. Podstawy, założenia i plan realizacji, in: Odzyskane ziemie – odzyskani ludzie, Poznań 1946, 49.

Die Entgermanisierung Oberschlesiens nach 1945

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jedoch abwechselnd benutzt, weil man von der Annahme ausging, dass sie sich gegenseitig vervollständigten. Die Trennung dieser Begriffe war daher sehr schwierig, wobei generell der Begriff Repolonisierung als weiter verbreitet angesehen wurde. 1. DIE ERSTE ETAPPE DER ENTGERMANISIERUNG 1945–1947 In der ersten Etappe konzentrierte sich die polnische Verwaltung auf zwei Maßnahmen. Sofortige Entfernung der deutschen Spuren, d. h. die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und „Wiedererweckung“ des slawischen Charakters dieses Gebietes, Entfernung der deutschen Kulturreste, wirtschaftliche und kulturelle Einbindung in das restliche Polen.10 Ohne Zweifel fand zu dieser Zeit „eine freiwillige Migrationsbewegung“ der deutschen Bevölkerung in Richtung Westen statt. Diese Menschen hatten verschiedene Gründe, um die Gebiete unter polnischer Verwaltung zu verlassen; man befürchtete Racheakte, es gab eine negative Einstellung gegenüber dem polnischen Staat oder Schwierigkeiten mit der Lebensmittelversorgung. Die Verwaltung hinderte die Ausreisewilligen nicht, im Gegenteil bemühte sie sich um eine „entsprechende reisefördernde Stimmung“ innerhalb der Gemeinden. Diese Verhaltensweise resultierte aus dem Erlass des KC PPR vom 26. Mai 1945, in dem man auf die Notwendigkeit der Aussiedlung aller Deutschen innerhalb eines Kalenderjahres hingewiesen hatte.11 Man hatte sogar nach diversen Repressionsmitteln gegriffen, wie z. B. die fehlende Möglichkeit gerichtlicher Verfahren für Deutsche, das Verbot von deutschen Vereinen und Institutionen, auch der Schulen, die Abschaffung der deutschen Presse und Filme.12 Diejenigen, die „freiwillig“ diese Gebiete verlassen wollten, stießen auf keine Schwierigkeiten seitens der zuständigen Behörden.13 In der Zeitung „Dziennik Zachodni“ wurde sogar ein Kommuniqué des Wojewodschaftsamtes publiziert, in dem über die Möglichkeit „einer Ausreise nach Deutschland“ informiert wurde.14 Jeder, der ausreisen wollte 10 11 12

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Jan Tyszkiewicz, Propaganda Ziem Odzyskanych w prasie Polskiej Partii Robotniczej, in: Przegląd Zachodni 1995/51, 119f. Piotr Madajczyk, Przyłączenie Śląska Opolskiego do Polski 1945–1948, Warszawa 1996, 68f. In einem geheimen Erlass des Wojewoden Nr. 88 vom 15.07.1945 wurde befohlen, alle Versuche, deutsche Schulen zu organisieren, bedingungslos zu unterbinden. Ebenfalls wurde verboten, jegliche deutsche Schriften zu kolportieren. AP Kat UWŚl/Wydział Organizacyjny (Og.) Sign. 4a Bl.-. Anordnung Nr. 88; siehe auch den Rechenschaftsbericht des politischen Departement des MAP (Ministerstwo Administracji Publicznej) vom August 1945: Es wurden alle Institutionen in den neuerlangten Gebieten so instruiert, dass es nicht zur Organisation der deutschen Gesellschaft als Einheit kommen konnte. Ministerstwo Spraw Wewnętrznych i Administracji Centralne Archiwum (MSWiA CA), Sign. 24, Bl. 27. Bericht vom August 1945. Bernadetta Nitschke, Wysiedlenie Niemców w czerwcu i lipcu 1945, in: Zeszyty Historyczne 1996/118, 166. Którzy Niemcy chcą wyjechać, in: Dz. Zach. Nr. 151, 17.07.1945, 3.

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und nicht als Zwangsarbeiter festgehalten wurde, bekam eine Bescheinigung, die 14 Tage gültig war und zur Ausreise berechtigte. Zweifellos war die Einrichtung einiger Lager für die Deutschen ein sehr wirksames „Überzeugungselement“ für die „freiwillige Ausreise“. Bei den Bestrebungen, die Deutschen „loszuwerden“, war man sich jedoch durchaus bewusst, dass die Schlesier polnischer Abstammung durch keine rechtliche Grundlage geschützt waren. Dadurch war es nicht möglich, zugunsten der zweifellos dort existierenden polnischen Minderheit zu handeln. Die Aussiedlung dieses Teils der ehemaligen deutschen Staatsbürger war zu vermeiden, weil sie nämlich für die künftige Friedenskonferenz als ein propolnisches Argument dienen sollten.15 Im Frühling 1945 schien die Problematik der polnischen Minderheit jedoch in der Verwaltung der I. (Starosteien) und II. Instanz (Wojewodschaftsamt) nicht an erster Stelle zu stehen.16 Praktisch hat man vor allem nicht unterscheiden können, oder oft auch nicht wollen, zwischen der in Schlesien lebenden deutschen und der polnischen Bevölkerung.17 Es wurde sogar oft von den Gegnern der polnischen Schlesier behauptet, es seien alles Deutsche gewesen, die sich als Polen ausgegeben hätten, um davon profitieren zu können. Nach kurzer Zeit änderte sich jedoch die Einstellung. Um den Anspruch Polens auf die deutschen Ostgebiete als „die Wiege des polnischen Staates“ zu bekräftigen, hatte man sich entschlossen, doch nicht alle deutschen Staatsbürger auszusiedeln. Dies ermöglichte ebenfalls, einen Teil der Bevölkerung zurückzuhalten, um die Wirtschaft intakt zu halten. Dies gab auch der polnischen Minderheit einen gewissen Schutz. Zu diesem Zweck wurde der Begriff „Autochthone“18 verwendet, der nicht nur dazu diente, Tausende von Schlesiern aufzuhalten, sondern auch der Propaganda als ein Beispiel für den polnischen Charakter dieser Gebiete nützen sollte. Man entschloss sich also, die schlesische Bevölkerung zu 15

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„Durch ihre Ausweisung [der schlesischen Bevölkerung] sollte man den Feinden kein Argument in die Hand geben, dass in Schlesien keine Polen leben und dass die Ansprüche nicht begründet wären“. Archiwum Akt Nowych Warszawa (AAN War), MAP Sign. 275, Bl. 26, Memoriał w sprawie Volksdeutscherów ks. K. Kotuli z 1945 r. Die Versuche der Massenausweisung der Deutschen, die durch die polnische Armee unternommen wurden, erzielten nicht die erwünschten Resultate, sondern hatten negative Konsequenzen für die Wirtschaft in den Wiedergewonnenen Gebieten und waren belastend in den internationalen Beziehungen. MSWiA CA MAP Sign. 303, Bl. 14, Projekt w sprawie przesiedlenia Niemców z Rzeszy. „Das Problem der deutschen Minderheit in Polen muss aufhören zu existieren. Wir lassen uns keine Verbindlichkeiten, die die deutsche Minderheit schützen sollen, aufzwingen. Wir wollen keine Wiederholung der Volkslisten und der Volksdeutschen in den polnischen Gebieten.“ AP Kat. UWŚl/Og. Sign. 162, Bl. 240 Protokoll einer Besprechung im Wojewodschaftsamt in Kattowitz. Ein Beispiel für die Änderung der Ansichten der Verwaltung bezüglich der Bevölkerung kann der Standpunkt von Paweł Dubiel aus Hindenburg/Zabrze sein. In der Zeit der Einrichtung der Lager für die deutsche Bevölkerung war er ihr Befürworter. Dann aber, nach der Erkundung der nationalen Verhältnisse, hatte er seine Auffassung gemildert. AP Kat, UWŚl/Og, Sign. 115, Bl.-, Sprawozdanie starosty w Zabrzu za 10.1945. Autochthone (gr./lat.); autos – selbst, chthon – Erde: Der Ureinwohner, Alteingesessene, Bodenständige, vgl. Der Neue Brockhaus, Bd. 1, 3. Auflage Wiesbaden 1962, 160.

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verifizieren, d. h. als polnische zu erkennen.19 Schon am 22. März 1945 traf der schlesische Wojewode Aleksander Zawadzki eine Anordnung zur Verifikation20, indem er Starosten und Stadtpräsidenten bevollmächtigte, der Bevölkerung vorübergehende Bescheinigungen zu erteilen, die ihre polnische Nationalität bestätigten.21 Die Verifikationsanträge wurden persönlich bei speziell dafür gegründeten Kommissionen gestellt, und nur die Personen, die vor dem 1. September 1939 die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, konnten den Antrag auf Verifikation stellen. Nachdem der Betreffende den Antrag gestellt und schriftlich dem polnischen Volk seine Treue geschworen hatte, bekam er eine vorläufige Bescheinigung. Diese Bescheinigung war zuerst drei Wochen, dann drei Monate gültig.22 Die Verifikation dauerte von 1945 bis 1948 und bestand aus zwei Phasen: Die erste Phase fand von März bis November 1945 statt und beschränkte sich praktisch nur auf das Oppelner Schlesien. Die zweite Phase hatte schon ein allgemeineres Ausmaß und dauerte von Herbst 1945 bis Dezember 1948. Die Verifikationsaktionen dauerten praktisch so lange, bis alle willigen ehemaligen deutschen Staatsbürger die polnische Staatsangehörigkeit erhalten hatten. Es ist dabei zu vielfachem Missbrauch gekommen. Sogar offensichtliche Deutsche konnten dank Freundschaften oder Bestechungen23 verifiziert werden, dagegen wurde oft eindeutig polnische Bevölkerung anhand falscher Beschuldigungen ausgesiedelt.24

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Janusz Wojciech Gołębiowski, Pierwsze lata władzy ludowej w województwie śląskodąbrowskim (1945–1946), Katowice 1965, über die Verifikation und Rehabilitation, 207– 247. Die Analogie zur Verifikation in den polnischen Gebieten in den Grenzen vor 1939 war die Rehabilitation. Das Rehabilitationsverfahren wurde in Bezug auf diejenigen Bürger der polnischen Republik geführt, die nach dem 01.09.1939 die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatten. Zu dieser Kategorie zählten sowohl Personen deutscher Nationalität, als auch Personen polnischer Nationalität deutscher Abstammung oder aus Mischehen, die die deutsche Staatsbürgerschaft freiwillig oder unter Zwang angenommen hatten. AP Kat. Wojewódzki Urząd Informacji i Propagandy (WUInf.) Kat. Sign. 15 Bl. 23, zu dem Erlass wurden 1000 Formulare vorbereitet. Aleksander Kwiatek, O nowe spojrzenie na tzw. problem śląski po II wojnie światowej, in: Robert Rauziński/Stanisław Senft (Red.), Polska ludność rodzima na Ziemiach Zachodnich i Połnocnych po II wojnie światowej (Materiały z sympozjum naukowego w Instytucie Śląskim w Opolu w dniu 25.11.1988), Opole 1989, 94. Jan Misztal, Weryfikacja narodowościowa na Śląsku Opolskim 1945–1950, Opole 1984, 83. Es gab sog. „Berufszeugen“, die mehrere Verifizierungsanträge unterschrieben. Nur wenige Personen hatten 25% aller Anträge unterschrieben – in dieser Zeit gab es ca. 52.000 davon. AP Kat. WUInf. Kat. Sign. 15, Bl. 9f. Bericht über die Verifikationsaktion im Oppelner Schlesien. In Beuthen/Bytom war ein Vorsitzender der Verifizierungkommission ehemaliges Mitglied der NSDAP. Biuletyn Prasowy Państwowego Urzędu Repatriacyjnego (PUR) Nr.11, 10.11.1945. Den Grund dafür sah Misztal in der Existenz der deutschen Untergrundbewegung. Es ging angeblich um gezielte Entfernung der aktiven Mitglieder der polnischen Minderheit und die Zerschlagung der propolnischen Bewegung. Jan Misztal, Polityka władz polskich wobec mieszkańców Ziem Odzyskanych w pierwszych latach po zakończeniu drugiej wojny światowej, in: Zeszyty Naukowe Politechniki Śląskiej, Nr. 258/1991, 120ff.

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Gleichzeitig wurden Entgermanisierungsmaßnahmen eingeleitet, die zum Ziel hatten, dem Gebiet einen polnischen Charakter zu geben. Direkt nach der Übernahme Oberschlesiens durch den polnischen Verwaltungsapparat gab der Wojewode eine Anordnung (29. Januar 1945) bezüglich der Entfernung der Spuren der Okkupation heraus.25 Im Sinne der Weisung waren alle Hausbewohner und verwalter verpflichtet, deutsche Inschriften, Schilder, Parolen, Bekanntmachungen, Embleme, Zeitungen und Plakate zu entfernen. Mit sofortiger Wirkung erhielten Städte, Siedlungen, Straßen und Plätze ihre polnischen Namen zurück (Repolonisierung). Die deutsche Sprache wurde in Wort und Schrift verboten (Pkt. 3). Um den polnischen Charakter Oberschlesiens zu unterstreichen, wurde angeordnet, die polnische Fahne zu hissen und den polnischen Piastenadler (ohne Krone) aufzustellen. Diese Anordnung betraf nur den Teil Oberschlesiens, der bis 1939 zu Polen gehörte und die Wojewodschaft Schlesien bildete. Nichtsdestoweniger stellte diese Anordnung den Anfang einer Reihe normativer Akte dar mit dem Ziel, die deutschen Hinterlassenschaften in diesen Gebieten zu beseitigen. In erster Linie ging es dabei darum, alle Spuren deutscher Okkupation in dem Gebiet „polnisches Schlesien“ (Wojewodschaft Schlesien 1921–1939) zu entfernen. Nach der Übernahme des Oppelner Schlesien im März 1945 wurde diesem Gebiet große Aufmerksamkeit gewidmet. Auch das Präsidium des Ministerrates empfahl im Juli 1945, alle deutschen Beschriftungen auf Wegen, Wegweisern und Schildern zu entfernen.26 Ein bedeutendes Problem für die polnische Administration in den von Deutschland übernommenen Gebieten stellten die deutschen Ortsnamen dar.27 Schon während der Vorbereitungskonferenz im März 1945 für die zukünftigen Landräte, die zum rechten Oderufer geschickt werden sollten, wurden die Ortsbezeichnungen zweisprachig ausgestellt. Mit der Aufgabe der Neubenennung betraute man die Mitarbeiter des reaktivierten Schlesischen Instituts und der Universität zu Krakau. Oft zeigten die Starosteien Eigeninitiative und schlugen neue Ortsnamen zur Anerkennung vor.28 Aufgrund des Erlasses des stellvertretenden Wojewoden wurde empfohlen, nur polnische Ortsnamen und Straßennamen in den offiziellen Amtsschriften zu benutzen. Da die Situation rechtlich noch nicht vollständig geklärt war, wurde den Verantwortlichen gestattet, im amtlichen Schriftverkehr auch die deutschen Ortsbezeichnungen hinzuzufügen, um ein Chaos zu vermeiden.29 Ein weiterer Aufruf zur Entfernung der deutschen Spuren kam im September 1945 aus dem Wojewodschaftsamt für Information und Propaganda, in dem gebeten wurde, auf die deutschen Spuren verstärkt zu reagieren. Das 25 26 27 28 29

Amtszeitung Nr. 1, 9.; AP Kat UWŚl/AP Sign. 26, 44. Madajczyk, Przyłączenie, 198, FN 219. A. Sylwester, Polskie nazwy geograficzne nad Łabą i Odrą, in: Dz. Zach., 23.02.1945. Zbigniew Kowalski, Powrót Śląska Opolskiego do Polski, Opole 1983, 131; O polskie nazwy miejscowości, in: Dz. Zach., 07.09.1945; Nazwy miejscowości na Ziemiach Odzyskanych. Walczymy z pozostałościami niemczyzny, in: OSADNIK 1947/11. Anna Magierska, Ziemie zachodnie i północne w 1945 r. Kształtowanie się podstaw polityki integracyjnej państwa polskiego, Warszawa 1978, 20–21.

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äußere Erscheinungsbild der Wojewodschaft sollte zeigen, dass die Bevölkerung alles, was deutsch war, hasste und alle deutschen Relikte entfernt haben wollte.30 Auch die Starosteien zeigten Initiative. Im Oppelner Schlesien begann Paweł Dubiel in Hindenburg/Zabrze die Entgermanisierung der Stadt. Schon im April 1945 berichtete er dem Wojewodschaftsamt, dass die deutschen Straßennamen und Schilder entfernt worden seien. Ähnlich wurde auf Anordnung des Starosten in Oppeln/Opole verfahren.31 Über die Zweckmäßigkeit dieser Vorkehrungen schrieb der Wojewode in einer geheimen Anordnung vom Juni 1945, die der Repolonisierung des Oppelner Schlesien gewidmet war.32 Er erinnerte an die Bedeutung der historischen polnischen Gebiete und warf der Verwaltung der ersten Instanz (Landkreise/Starosteien) vor, dass die Aktion der Entgermanisierung nicht angemessen durchgeführt worden sei. Die Starosteien entfernten die deutschen Spuren nicht und trügen so nicht zur vollkommenen und bedingungslosen Polonisierung der Gebiete bei. Er befahl, bis zum 15. Juli 1945 alle deutschen Orte, Straßen und Plätze umzubenennen und die Orientierungstafeln zu entfernen. Bei einer bewussten Benutzung der deutschen Namen drohte Verhaftung und Abschiebung ins Lager. Ende November 1945 wurden durch den Erlass des Wojewoden die amtlichen polnischen Namensbezeichnungen eingeführt, die vom Schlesischen Institut vorbereitet worden waren. Im Winter 1945/46 hatte die Mehrheit der schlesischen Ortschaften schon polnische Namen.33 Die Wiedereinführung bzw. die Neueinführung der polnischen Ortsbezeichnungen war ein wichtiges Verhandlungsargument auf internationaler Ebene. Schon während der Potsdamer Konferenz wurde auf die polnischen topographischen Bezeichnungen, die bis zum XIX. Jahrhundert gegolten hatten und auf

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AP Kat. Polska Partia Socjalistyczna Wojewódzki Komitet w Katowicach (PPS Woj Kom Kat.), Sign. 51/VIII/46, K.Bl. 3, Rundschreiben Nr. 19 des Wojewodschaftsamtes für Information und Propaganda vom 19.09.1945. AP Kat, UWŚl/Og, Sign. 116, Bl. 6, Situationsbericht der Stadtverwaltung von Hindenburg für die Zeit von 15.04. bis 30.04.1945. Mit den Arbeiten, die das Ziel hatten, alle deutschen Hinterlassenschaften zu entfernen, beschäftigte sich eine „Sonderabteilung für die Polonisierung der Stadt“. AP Op. (Zarząd Miasta) ZM Opole, Sign. 9, Bl. 25, Allgemeine Skizze der Aktivitäten der Stadtverwaltung von Oppeln vom 23.06.1945. In Oppeln wurde die Entfernung deutscher Spuren um alle „preußisch-hitlerischen“ Denkmäler erweitert. AAN War. Ministerstwo Informacji i Propagandy (MIP) Sign. 52. Anordnung des Wojewoden vom 18.06.1945, Nr. 88 betr. die Polonisierung des Oppelner Schlesien. Über die Maßnahmen zur Entfernung der deutschen Inschriften informierte der Wojewode schon in dem Rechenschaftsbericht vom Mai 1945, AP Kat. WUŚl/Og. Sign. 49, Bl. 15. Situationsbericht vom Mai 1945. Jak Niemcy „chrzcili“ miasta. Pod niemiecką etykietą żywa treść polska, in: Dz. Zach., 21.03.1945; Germanizowanie prastarej ziemi piastowskiej, in: Dz. Zach., 25.03.1945; O polskie nazwy miejscowości, in: Dz. Zach., 07.09.1945; Całkowite repolonizowanie ziem zachodnich, in: Dz. Zach. Nr. 294, 07.12.1945; Stanisław Wierzbiański, Oczyścimy imiennictwo śląskie, in: Śląsko-Dąbrowski Przeglad Administracyjny, Katowice 1946, Nr. 3.

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manchen alten Karten noch zu finden waren, hingewiesen.34 Sie sollten den ursprünglichen polnischen Charakter dieser Gebiete bezeugen und hervorheben, dass die polnischen topographischen Bezeichnungen erst in den letzten Jahren ins Deutsche umbenannt worden waren.35 Die ganze Aufmerksamkeit des Wojewodschaftsamtes in Kattowitz/Katowice galt der Aktion zur Entfernung der deutschen Spuren. Trotzdem war sie nicht im gewünschten Tempo und in der angestrebten Breite verlaufen. Die umfassende Entfernung der Kulturspuren deutscher Provenienz war auf Grund ihrer Masse und Popularität nicht einfach.36 Die größten Schwierigkeiten bereiteten der Verwaltung die deutsche Sprache und die Nachkriegsjugend. Als eine der ersten Maßnahmen verbot die polnische Administration die deutsche Sprache. Wie jedoch aus den Berichten der Starosteien hervorgeht, wurde sie noch häufig benutzt. Diese Tatsache ist nicht nur aus dem bewussten Gebrauch der Sprache, sondern aus der Notwendigkeit ihrer Benutzung abzuleiten. Die schlesische Bevölkerung konnte sich nämlich in der polnischen Sprache oft nicht frei artikulieren. Besonders die junge Generation, die häufig nach dem Krieg zum ersten Mal Polnisch hörte, hatte damit Probleme. Trotz der Schwierigkeiten ging die Mehrheit der schlesischen Jugend 1945 nicht zur polnischen Schule. Anfänglich spielte die fehlende Sicherheit in den Gebieten eine entscheidende Rolle. Im Frühjahr 1945 waren Kinder auf dem Weg zur Schule durch militärische Einheiten belästigt und festgehalten worden, ältere von ihnen mussten sich sogar an den angeordneten Zwangsarbeiten beteiligen.37 Nichtsdestoweniger lag die Problematik vor allem in der Akzeptanz der neuen Schule und der neuen Lehrer. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass nur die mangelnde Zustimmung zur neuen polni34 35

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Vgl. das Memorandum der Regierung der nationalen Einheit, in: Teheran, Jałta, Poczdam. Dokumenty konferencji szefów rządów trzech wielkich mocarstw. Warszawa 1972, 501, Aneks 1. Im Oppelner Schlesien waren beispielsweise zwischen 1935 und 1936 durch administrativen Akt über 500 polnische Dorfnamen durch deutsche ersetzt worden. Zwischen 1935 und 1938 wurden im Regierungsbezirk Oppeln insgesamt 1262 Ortsnamen und 537 geographische Bezeichnungen polnischer Herkunft geändert. Die Liste der geänderten Ortsnamen vgl. in: Stefan Popiolek, Wykaz organizacji i instytucji polskich na Śląsku Opolskim 1923– 1939, Kattowitz 1959. Die polnischen Konsuln berichteten aus dem Oppelner Schlesien mehrmals über die Germanisierung der polnischen Ortsnamen; vgl. Wojciech Wojciechowski (Opr.), Antypolska polityka władz hitlerowskich na Śląsku Opolskim w latach 1933–1939 w świetle raportów konsulów polskich, in: Dokumenta Silesiae Z. 6, Wrocław/Warszawa/Kraków 1970, 106 und 138. Zum Thema siehe auch: Stefan Popiołek, Piętnaście lat Śląska Opolskiego w Polsce Ludowej, in: Komunikaty, Oppeln 1959. 3; Łucja Jarczak/Monika Choroś, Zmiany w nazewnictwie miejscowym i osobowym na Śląsku przed i po drugiej wojnie światowej, in: Śląsk Opolski 1993/1, 16; Karol Fiedor, Walka z nazewnictwem polskim na Śląsku w okresie hitlerowskim (1933–1939), in: Dokumenta Silesiae, Z. 4, Wrocław/Warszawa/Kraków 1966. AP Kat. Polski Związek Zachodni (PZZ) Wełnowiec Sign. 6, Bl. 12. Rundschreiben des Schlesischen Kreises des PZZ betr. die Propaganda-Aktion während der „Woche der Wiedergewonnenen Gebiete“ vom März 1946. AP Kat PZZ Okrąg Śląski, Sign. 3. Bericht des Delegierten des PZZ von Gleiwitz über die Lage in der Zeit vom 25.04.1945 bis 21.05.1945

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schen Schule Grund dafür war. Für das Fernbleiben der Jugendlichen war zum größten Teil die verbreitete Armut in der schlesischen Gesellschaft verantwortlich.38 Viele Familien blieben nach dem Krieg ohne Väter und Ehemänner, d. h. also ohne Einkommen. Diese Situation wurde dadurch verschärft, dass die Familien in der ersten Zeit unter polnischer Verwaltung, weder Rente noch irgendeine andere soziale Unterstützung bezogen. Im Gegenteil wurden sie noch zusätzlich mit finanziellen Belastungen, wie z. B. einer Miete für ihr enteignetes Haus, konfrontiert.39 In der Gruppe der Kinder und Jugendlichen lag der Anteil an Waisen bzw. Halbwaisen bei 70 bis 75%. Kinder im Alter von 8 bis 15 Jahren mussten arbeiten, und aus den Städten wurde gemeldet, dass Kinder um Geld oder Brot bettelten.40 Die Schulverwaltungen aus Beuthen/Bytom, Gleiwitz/Gliwice und Ratibor/Racibórz informierten, dass dort 2000 bis 3000 Kinder nicht die Schule besuchten. 15% der Kinder litten unter Tuberkulose, außerdem waren 60% bereits infiziert. Aufgrund der Avitaminose musste im Landkreis Gleiwitz/Gliwice bei vielen Kindern mit Erblindung gerechnet werden.41 Zbyszko Bednorz berichtete im Juli 1946, dass im industriellen Teil des Oppelner Schlesien dreimal mehr Kinder starben als geboren wurden.42 In allen Erlassen und Instruktionen der Wojewoden wurden für den Fall des Widerstandes gegen die Beschlüsse bezüglich der Entgermanisierung keine ausdrücklichen Konsequenzen genannt. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die damalige Administration keinen Druck auf die Bevölkerung ausüben wollte oder konnte. Man hatte zwar die Erlasse herausgegeben, verzichtete aber auf die entsprechenden Sanktionen. Ein Beweis für diese Taktik war der PZZ (Polski Związek Zachodni), der sich im Mai 1945 bei der Formulierung der Aufgaben des Verbandes in den Westgebieten der Entgermanisierung widmete. Die Entgermanisierung in allen Lebensbereichen wurde dabei zu einer der wichtigsten Aufgaben, 38

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Im Juli 1947 wurde die autochthone Jugend, die die deutschen Schulen besuchte, registriert, um sie weiterzubilden. Von 186 theoretisch geeigneten Kandidaten wollten 60 keine höhere Ausbildung haben. Als Grund dafür wurde die schlechte materielle Lage der Familie angegeben, besonders die Pflicht, den abwesenden Vater zu vertreten. AP Kat, KOS SL. Sign. 105, Bl. 2, dazu siehe auch: AP Kat. WUInf. Kat. Sign. 71. Bl. 26; Dies war durch die kriegsbedingte Bevölkerungsstruktur verursacht: im Landkreis Leobschütz/Głubczyce lebten im September 1945 nach ungefähren Schätzungen 44.082 Personen, davon 33% Kinder, 48% Frauen und 19% Männer. Die Stadt Gleiwitz/Gliwice bewohnten im Juni 1945 30.000 Personen, davon 31% Kinder, 52% Frauen und 17% Männer. Jan Misztal, Polityka władz polskich wobec mieszkańcow Ziem Odzyskanych w pierwszych latach po zakończeniu drugiej wojny światowej, in: Zeszyty Naukowe Politechniki Śląskiej, Nr. 258, Gliwice 1991, 126; Kowalski gab an, dass sich im Oppelner Schlesien im Sommer 1945 ca. 80 bis 90% Männer außerhalb ihrer Wohngebiete befanden; vgl. Kowalski, Powrót Śląska, 403. AAN War. MZO Sign. 84, Bl. 56. Vertraulicher Pressedienst der ZAP (Zachodniej Agencji Prasowej) vom 05.06.1946: „Nędza na Opolszczyźne“. Z. Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej, in: Tygodnik Powszechny (Tyg. Pow.), Nr. 49, 24.02.1947. AAN War. Ministerstwo Ziem Odzyskanych (MZO) Sign. 84, Bl. 61. Vertraulicher Pressedienst der ZAP vom 05.06.1946: „Ratujmy dzieci śląskie“. Zbyszko Bednorz, Pod ziemią jest jaśniej, in: Tyg. Pow., Nr. 49 vom 24.02. 1947.

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die in kürzester Zeit gelöst werden musste. Gleichzeitig warnte der Verband jedoch vor brutalen Arbeitsmethoden und der Vereinfachung des Problems, weil es hier um „unsere Landsleute [geht], die schon viel erlebt haben, und die nicht unnötig unter den hausbackenen Erlösern der Nation leiden sollen.“43 2. DIE ZWEITE ETAPPE DER ENTGERMANISIERUNG 1947–1950 In der Zeit um 1947 und 1948 kam es zu einer Intensivierung der Entgermanisierungsmaßnamen. Ab Sommer 1947 begannen auch die Zentralorgane, sich für das Deutschtum in Schlesien zu interessieren. Dies war zweifellos Ergebnis aufkommender gesellschaftlicher Spannungen und des Auflebens des Deutschen, der veränderten internationalen Situation und der Notwendigkeit, den Eindruck der vollständigen Integration der Westgebiete mit Polen zu erwecken. Außerdem fürchtete man, dass das Tolerieren von Anzeichen des Deutschen dazu führen könnte, dass diese sich unter den polnischen Bürgern so verstärken würden, dass man sie später nicht mehr entfernen könne. Auch fürchtete man, einen rechtlichen Präzedenzfall zu schaffen, die Existenz einer deutschen Minderheit, die in der Zukunft eine eventuelle Einmischung in innere Angelegenheiten Polens ermöglichen könnte.44 Ab 1947 wurden die antideutschen Unternehmungen intensiviert und direkt auf die materiellen und geistigen Hinterlassenschaften der Deutschen in den angeschlossenen Gebieten gerichtet. Auf zentraler Ebene wurde die Aktion durch den Erlass des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete vom 24. Juni 1947 begonnen.45 Das Rundschreiben inspirierte die Verstärkung der Endgermanisierung und gab ihr eine konkrete Gestalt. Seine Veröffentlichung resultierte wahrscheinlich aus beunruhigenden Berichten und Meldungen aus dem Gebiet der Wojewodschaft Schlesien, die über das Aufleben des Deutschtums Alarm schlugen.46 43 44

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Sprawy Zachodnie. Organ Okręgu Śląsko-Dąbrowskiego Polskiego Związku Zachodniego. 1945/5–6, (październik - listopad 1945), 4ff. Rede des Vorsitzenden des Kreises Oberschlesien Dr. Roman Lutman in Beuthen vom 19.08.1945. MSWiA CA War. Sign. 450, Bl. 2, Das deutsche Problem in der Wojewodschaft SchlesienDąbrowa im Lichte der Situationsberichte. Wie aus der handschriftlichen Notiz des Ministers hervorgeht, war er persönlich an der Beilegung ungünstiger gesellschaftlicher Erscheinungen in Schlesien interessiert: „Departement IV: Was ist mit der Regulierung dieser Sache?“. Rundschreiben des MZO, Departement für Öffentliche Verwaltung, vom 24.06.1947 (L. dz. 349/II/147/pf/47). Dieses Schreiben wurde erst am 09.06.1947 an die Starosten und Stadtpräsidenten abgeschickt. Die Veröffentlichung des Rundschreibens ist wahrscheinlich auf die Meldungen und Berichte aus der Wojewodschaft Schlesien zurückzuführen (MSWiA CA War. MZO, Sign. 31, Bl. 56, Situationsbericht der Wojewodschaft Schlesien-Dąbrowa über die gesellschaftspolitische Lage in der Wojewodschaft im Juni 1947). Im Entwurf des Schreibens vom 29.07.1947 wurde über das verstärkte Auftreten der deutschen Sprache, Kultur, etc. und das passive Verhalten der polnischen Gesellschaft berichtet. Die Reste deutscher Hinterlassenschaften waren noch weiterhin zu finden und sie kompro-

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Wer wurde entgermanisiert? Diese Frage ist genauso wichtig wie die Frage, warum entgermanisiert wurde. Die Ursachen sind bereits erwähnt worden. In erster Linie war dies die Verschärfung der internationalen Situation, und vor allem die Fragen, die mit dem Fiasko der Moskauer Konferenz vom April bis Mai 1947 verbunden waren, auf der der Verlauf der polnischen Westgrenze in Frage gestellt wurde. Dazu kam die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Alliierten sowie auch interne Veränderungen innerhalb Polens. Nach den gefälschten Wahlen zum Sejm im Januar 1947 mussten alle Maßnahmen, die in den neuen Gebieten ergriffen wurden, die ein Drittel des polnischen Staatsgebiets darstellten, den neuen Machthabern zugerechnet werden. Die Propagandamaßnahmen, um die Bevölkerung von den neuen Machthabern zu überzeugen, konnten weder zum Fiasko der Repolonisierungspolitik werden noch die Zweckmäßigkeit und die Effektivität mancher politischer Lösungen dieser Zeit in Frage stellen.47 Ein Element, das hilfreich dabei war, die Position der neuen politischen Kräfte aufrechtzuerhalten, war eine eigenartige, von der Propaganda betonte Dankbarkeit für die Angliederung der piastischen Gebiete an das Mutterland. Die piastische Idee der Westgebiete, sowie die lancierte Verbindung der einheimischen Bevölkerung, der sog. Autochthonen mit dem polnischen Volk und der polnischen Kultur, stand in deutlich sichtbarem Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten der Bevölkerung dieser Gebiete. Ihre Verbundenheit mit der deutschen Tradition und Kultur war nicht mit der damaligen Propaganda in Einklang zu bringen. Dazu kam häufig offen gezeigter Unwille gegenüber den Machthabern, vor allem aber den Menschen, die diese Macht vertraten, deren moralisches und ethisches Verhalten zu Recht kommentiert wurde. In dieser Situation wurde einem breit verstandenen Deutschtum der Krieg erklärt. Ab 1. Oktober 1947 dürfe in Polen kein Deutscher mehr sein.48 Beabsichtigt war, der Entgermanisierung vor allem die Bevölkerung lokaler Herkunft zu unterziehen, die eine Verbundenheit mit dem Deutschtum aufwies. Nach einem Dokument, das 1947 in Kattowitz/Katowice

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mittierten nach Meinung des Verfassers die polnische Gesellschaft. Außerdem bezeugten sie, dass diese unverständlicherweise den deutschen Restspuren gegenüber passiv geworden sei. Die Liquidierung der deutschen Hinterlassenschaften wurde als die Krönung des Werkes schlesischer Aufständischer und als Genugtuung für die Gesellschaft angesehen. AP Kat. UWŚL/Sp-Pol., Sign. 552, Bl. 12ff. Das passive Verhalten der polnischen Gesellschaft wurde auch in den Unterlagen der Hauptverwaltung des PZZ als Begründung für verstärkte Bestrebungen zur Entfernung deutscher Kultur benutzt. Die gesellschaftliche Gleichgültigkeit wurde angeblich durch die ständige Präsenz deutscher Spuren im geistigen und materiellen Bereich hervorgerufen. Przemówienie wojewody Zawadzkiego (Rede des Wojewoden Zawadzki), in: Nowiny Opolskie (NO), 16. und 23.03.1947, 2: „Mit aktiver Einstellung zur neuen Wirklichkeit werden wir mit gemeinsamen Kräften die germanische Lüge vom Deutschtum der Wiedergewonnenen Gebiete widerlegen.“ (Rede Zawadzkis in Oppeln vom 09.03.1947). PZZ w ósmą rocznicę niemieckiego najazdu na Polskę. Pamiętaj i bądź czujny!, in: NO Nr. 33–34, 31.08.1947, 1.

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erarbeitet wurde49, sollte die Entgermanisierung so lange durchgeführt werden, bis die deutsche Bedrohung endgültig abgewendet wurde. Vor allem sollte man auf folgende Personen Acht geben: – Personen, die trotz der Repolonisierungsaktionen deutsche Vor- und Zunamen nicht änderten, und – Personen, die weiter trotz Verbotes die deutsche Sprache benutzten. Die angewendeten Maßnahmen zur Entfernung der deutschen Spuren versuchte der Wojewode anfänglich nicht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Trotzdem wurden in der Presse Artikel veröffentlicht, die das Thema behandelten.50 Diese Publikationen galten hauptsächlich der deutschen Sprache, der Änderung der deutschen Namen und der Entfernung der deutschen Inschriften. Relativ selten wurde über die Entfernung der deutschen Bevölkerung geschrieben, was mit der offiziell angeordneten Betrachtungsweise übereinstimmte, dass die Deutschen aus Polen schon entfernt worden seien. Die Schuld für das „Aufleben des deutschen Gespenstes“ trugen die „deutschen Agenten“, die „unbehindert die polnische Herzensgüte ausbeuteten“.51 Die damalige Presse wurde in die antideutsche Stimmungsmache einbezogen. Es ging dabei nicht nur um die Entfernung der deutschen Relikte, sondern auch um eine bestimmte Meinungsbildung, die der offiziellen politischen Richtung glich. Man wollte in kürzester Zeit alle Spuren der deutschen Vergangenheit entfernen, sonst würde, wie das der Wojewode auf einem Treffen mit Bauern und Hausfrauen in Oppeln bekräftigte, „die zukünftige Generation uns verdammen, wenn wir dies nicht täten“.52 49 50

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AAN War. MAP Sign. 759, Bl. 90–91, Bericht über die Dienstreise im Gebiet der Wojewodschaft Schlesien-Dąbrowa vom 09. bis 16.12.1947. Opolszczyzna usuwa resztki niemczyzny, in: Trybuna Robotnicza (TR), Nr. 302, 04.11.1947; Za niemiecki szwargot odpowiedzą przed sadem, in: ebd.; Nowy etap walki z niemczyzną, in: TR Nr. 266, 16.09.1947; Dla „Volksdeutscherów“ kary więzienia, in: Gazeta Robotnicza (GR), Nr. 211, 04.08.1947; Akcja spolszczenia nazwisk nie powinna natrafiać na trudności, in: GR Nr. 208, 04.08.1947; Repartiacja Niemców- przekreślenie ich dzieł rewizjonistycznych, in: TR Nr. 217, 09.08.1947; Nazwiska niemieckie mogą być zmienione na polskie, in: GR Nr. 222, 15.08.1947; Do walki z niemczyzną przystąpią kierownicy szkół, in: GR Nr. 244, 06.09.1947; Bojowa postawa nauczycielstwa winna dopomóc w walce z niemczyzną. Apel wojewody generała Zawadzkiego do kierowników szkół, in: GR Nr. 248, 10.09.1947; Walka z resztkami niemczyzny obowiązuje każdego uświadomionego obywatela, in: Dz. Zach. Nr. 248, 10.09.1947; Do walki z resztkami niemczyzny wzywa nauczycieli woj. gen. Zawadzki na zjeździe Związku Nauczycielstwa Polskiego w Katowicach, in: TR Nr. 251, 12.09.1947; Nad likwidacją resztek niemczyzny obraduje specjalna konferencja w Chorzowie, in: GR Nr. 264, 26.09.1947; Wobec zauważalnych objawów, in: Dz. Zach. Nr. 268, 30.09.1947; Izdebski, Sprawy zmiany imion i nazwisk, in: TR Nr. 277, 08.10.1947; Chłop opolski weźmie udział w walce z niemczyzną, in: TR Nr. 287, 18.10.1947; Kobiety śląskie i młodzież przystąpią do walki z niemczyzną, in: TR Nr. 290, 21.10.1947; Akcja polszczenia imion i nazwisk na terenie Opola, in: Dz. Zach., 04.11.1947. Dz. Zach. Nr. 268, 30.09.1947. Chłop opolski weźmie udział w walce z niemczyzną. Wojewoda gen. Zawadzki na zjeździe chłopów i gospodyń w Opolu, in: TR, Nr. 287, 18.10.1947.

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Im Jahre 1948 und in den darauffolgenden Jahren wurden die Entgermanisierungsmaßnahmen weiterentwickelt. Die Aktionen des Wojewodschaftsamtes wiesen alle Anzeichen von Panik auf. Das Wojewodschaftsamt wirkte wie besessen von dem Vorhaben, selbst die kleinsten Spuren der deutschen Vergangenheit aus dem Gebiet zu entfernen. Als gutes Beispiel der Entgermanisierungsmaßnahmen war die Aktion zur Änderung der Namen. Von dieser Aktion waren in erster Linie die Autochthonen betroffen. Im Laufe der Zeit, als die Aktion immer größere Kreise zog und intensiviert wurde, wurden auch polnischen Bürger, die aus anderen Regionen Polens nach Schlesien gekommen waren, aufgefordert, ihre Vornamen und Familiennamen zu ändern. Namensänderungen als Beispiel in der zweiten Etappe der Entgermanisierung Eine Rechtsgrundlage für die Namensänderungen im Rahmen der Entgermanisierung der Westgebiete bildete das Dekret vom 10. November 1945 über die Änderung und Festlegung von Vor- und Nachnamen. Danach waren alle polnischen Staatsbürger, sowie in Polen sesshafte Staatenlose (Apatriden) berechtigt, eine Änderung ihrer Vor- und Familiennamen oder die Festlegung ihrer Familiennamen herbeizuführen.53 Die Ermächtigung zur Änderung der Vornamen war in der polnischen Rechtsprechung neu. Das Dekret unterschied zwischen drei Arten der Namensänderung: der Änderung von Vor- und Nachnamen, der schriftlichen bzw. phonetischen Angleichung und der Festlegung von Nachnamen. Das Dekret, das eigentlich in erster Linie für die Regulierung der Pseudonyme gedacht war, wurde in die Polnisierungsmaßnahmen integriert, die Verwischung der nichtpolnischen Spuren im ehemaligen Ostdeutschland zum Ziel hatten. Wie es scheint, war anfänglich die Intention der Regierung bei der Verabschiedung des Gesetzes vom November 1945 nicht die allgemeine Änderung von fremden (eigentlich ging es nur um deutsche) Namen. Der deutsche Klang des Namens konnte nach dem Willen des Gesetzgebers schon allein ein ausreichender Anlass zur Namensänderung sein, musste dies jedoch nicht.54 Unmittelbar nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes entwickelte sich jedoch eine starke Tendenz zur Änderung der eingedeutschten, oder unter Druck der NS-Administration angenommenen Namen. Das Wojewodschaftsamt in Kattowitz/Katowice bemühte sich, die Tendenz zur Rückführung (Repolonisierung) der geänderten Namen zu

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Das Dekret vom 10.11.1945 wurde im Amtsblatt vom 16.12.1945, Nr. 56, Pos. 319, bekanntgegeben, am 03.01.1946 bestätigt und zur Gruppe der Gesetzgebungsakte gerechnet, die der Kodifizierung aller Lebensbereiche dienten, neben den Dekreten, die das Personenrecht, das Eherecht und das Standesamtsrecht umfassten. Das Dekret wurde dreimal novelliert: Mit dem Dekret vom 28.10.1947 (Amtsblatt Nr. 66, Pos. 405), mit dem Gesetz vom 30.12.1948 (Amtsblatt von 1949, Nr. 4, Pos. 21), mit dem Gesetz vom 29.12.1951 (Amtsblatt von 1952, Nr. 3, Pos. 18). AAN War MAP Sign. 929, Bl. 25. Stellungnahme des Rechtsdepartements des MAP vom 04.05.1945 zum Entwurf des Dekrets über die Namensänderung von Dr. B. Bogomilski.

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fördern und, ähnlich wie in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg, eine Massenaktion zu organisieren.55 Ein schwerwiegendes Hindernis für die Ausführung des Dekrets vom 10. November 1945, das die rechtmäßige Explikation der Namensänderung begünstigte, war in den westlichen Gebieten die Einschränkung der Berechtigten nur auf die polnischen Bürger und die Apatriden (Staatenlosen). Die Behandlung der Bevölkerung des Oppelner Schlesiens blieb weiterhin ungelöst. Sie besaßen zwar Verifikationsbescheinigung, aber keine polnische Staatsangehörigkeit, und aufgrund dessen durften sie keine Anträge stellen. Noch im März 1946 war sicher, dass ausschließlich polnische Bürger zur Änderung von Vor- oder Nachnamen berechtigt waren. Die polnische Staatsbürgerschaft wurde den Autochthonen erst im April 1946 verliehen. In allen Fällen war eine Änderung des Familiennamens von der zuständigen Verwaltungsbehörde auf Antrag zu verfügen, wenn ein wichtiger Grund vorlag. Dieser war, nach Ansicht der Behörden, unter anderem dann gegeben, wenn der Name oder auch Vorname keinen polnischen Klang hatte. Um einen Namen zu ändern, war ein schriftlicher Antrag zu stellen, und zwar unabhängig von der Art der Änderung: Repolonisierung des Namens (Einführung der ursprünglichen Form), Angleichung an die polnische Rechtschreibung oder Verleihung eines neuen Namens. Sogar in der Zeit der Liberalisierung des Verfahrens wurde das Antragsprinzip nicht gelockert. Formell war dafür immer ein schriftliches Gesuch erforderlich und mehrere Dokumente notwendig: Geburtsurkunden aller Familienmitglieder, Heiratsurkunde des Ehepaares, Anmeldebescheinigung, Nummer der Bescheinigung über die polnische Staatsangehörigkeit und Nummer der Treuedeklaration. Für die Namensänderungen waren die verwaltungsjuristischen Abteilungen in den Wojewodschaftsämtern und verwaltungsjuristische Dezernenten in den Starosteien verantwortlich. Die Anträge wurden für ganze Familien 55

Über die Maßnahmen zur Polonisierung der deutschen oder eingedeutschten Namen in der ehemaligen Wojewodschaft Schlesien siehe: Bernard Linek, Polonizacja imion i nazwisk w województwie śląskim (1945–49) w świetle okólników i rozporządzeń władz wojewódzkich, in: Wojciech Wrzesiński (Red.), Wrocławskie Studia z Historii Najnowszej t.4, Wrocław 1997; Wanda Musialik, Michał Tadeusz Grażyński 1890–1965, Opole 1989; Maria Wanda Wanatowicz, Historia społeczno-polityczny górnego śląska i Śląska Cieszyńskiego w latach 1914–1945, Katowice 1994. Die rechtliche Grundlage der Änderungen bildete der Erlass des Schlesischen Wojewodschaftsamtes vom 24.04.1924. Die vereinfachte Prozedur und Befreiung von Gebühren brachten der Aktion jedoch keinen größeren Erfolg. Ab 1930 wurde mit Beteiligung der gesellschaftlichen Organisationen (insbesondere Związku Obrony Kresów Wschodnich nach Umbenennung des PZZ und Związku Powstańców Śląskich) die Aktion der Polonisierung der Namen weitergeführt. Die Notwendigkeit der Änderungen wurde damit begründet, dass in der Zeit der Unfreiheit die deutschen Beamten oft die Schreibweise der polnischen Namen geändert und sie an die deutsche Orthographie und Grammatik angeglichen hätten. Auch polnische Bürger baten gelegentlich um die Änderung ihres Namens. Ab 1936 gab es, wie Wanatowicz meinte, beachtenswerte Erfolge. Innerhalb eines Jahres wurden angeblich 60.000 Anträge auf Namenspolonisierung eingereicht. Nach Angaben des PZZ wurde die Polonisierung der Namen bis Ende 1937 auf ca. 100.000 Personen ausgedehnt.

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samt erwachsenen Kindern angenommen. Selbst durch das Fehlen von Bescheinigungen über die polnische Staatsangehörigkeit oder der Treuedeklaration wurde das Verfahren nicht beeinträchtigt. Es war lediglich zu vermerken, dass der Antragsteller die fehlenden Dokumente nachreichen wird. Falls die erforderlichen Personenstandsakten vernichtet worden waren und die nötigen Nachweise nicht mehr erbracht werden konnten, durften sie durch entsprechende Kirchenakten, nach vorhergehender Legalisierung im Standesamt, ersetzt werden. Wenn beide Register versagten, sowohl die kirchlichen als auch die standesamtlichen, durften sogar beglaubigte Auszüge aus den deutschen Familienstammbüchern vorgelegt werden.56 Für die Staatsbürger der ehemaligen polnischen Ostgebiete galten die Urkunden der kirchlichen Verwaltung. Als Identitätszeugnisse für diese Bevölkerung wurden legalisierte Evakuierungskarten anerkannt, die von den polnischrussischen Behörden ausgestellt wurden. Jene Karten dienten ebenfalls als Nachweis der Zugehörigkeit zur polnischen Nation. Für jede Änderung von Namen hatte der Antragsteller die entstehenden Kosten und Gebühren zu entrichten. Zusammengenommen waren es hohe Ausgaben für die Antragsteller. Erst die Entscheidung des Finanzministers vom Juli 1947 befreite alle Anträge auf die Namensänderung der Bewohner Schlesiens grundsätzlich von Stempelgebühren.57 Das gleiche Gesetz galt auch für die deutschen Vornamen. Die Bestimmungen des Novemberdekrets gaben der Verwaltung ein Instrument zur Verwischung deutscher Spuren in der Namensgebung. Die große Aufmerksamkeit, die den Vornamensänderungen zugeschrieben wurde, resultierte aus der Überzeugung, dass der Vorname das wichtigste Merkmal der Volkszugehörigkeit sei: „(...) ein polnischer Vorname akzentuierte stärker die Nationalität, als der Familienname. Mit Sicherheit klingt Kazimierz Krause polnischer als Helmut Olszewski.“58 Bei der Polonisierung der Vornamen konzentrierte sich die Aktivität des Wojewoden zuerst auf die neugeborenen Kinder. Im April 1946 machte er alle Standesbeamten auf den Art. 66 über die Akten des Standesamtes vom 25. September 1945 (DzU RP Nr. 48, Pos. 272) aufmerksam, wonach ein Standesbeamter die Eintragung eines Namens, dessen Nutzung das Zusammenleben in der Gesellschaft erschwere, ablehnen konnte.59 Nach Meinung der schlesischen Verwaltung erschwere die Vergabe von typisch deutschen Namen das Zusammenleben in der polnischen Gesellschaft. Aus dem genannten Grunde, sowie zum allgemeinen Wohl des Kindes und des polnischen Staates wurde daher die Eintragung von ty56

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Dazu mehrere Quellen: AP Op. Starostwo Powiatowe (StP) Koźle Sign. 404, Bl.4. Rundschreiben des Starosten vom 14.04.1948; AP Op. StP Koźle Sign. 404, Bl. 24. Schreiben des Starosten an die Stadtverwaltung und Landkreisverwaltung vom 03.06.1948; siehe auch AP Op. StP Nysa Sign. 168; AP Op. StP Opole Sign. 214, Bl. 25; AP Op. StP Strzelce Opolskie Sign, 209, Bl. 2. Schreiben des Starosten vom 18.02.1948. AAN War. MZO Sign. 326, Bl. 56ff. Rundschreiben Nr. 465/47 vom 02.09.1947. Witold Kochański, O naprawę imiennictwa osobowego Staropolski, in: Przegląd Zachodni 1948/5, 520. AP Kat UWŚl/Wydział Administracjno-Prawny (A–P) Sign. 79, Bl. 2–3. Schlesischer Wojewode an alle Standesbeamten (geheim, persönlich) am 16.04.1946.

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pisch deutschen Namen oder von solchen, die nur von Deutschen benutzt wurden, in die Standesamtsakten verboten. 1947 wurden diese Empfehlungen erweitert. Hiernach weigerten sich die Standesämter, Geburtsurkunden von Kindern mit deutschen Namen auszustellen. Erst nach der Angabe eines neuen Namens, den das vorgeschriebene Namensverzeichnis enthielt, durfte eine Urkunde ausgestellt werden. Das Gleiche betraf auch Heiratswillige. Erst nach der Namensänderung wurde eine Eheschließung zugelassen.60 Um die Bevölkerung zur Namensgebung der geforderten Namen zu bewegen, teilte man mit, dass jedes Kind innerhalb von drei Monaten im Standesamt registriert werden müßte. Dies war aber nur mit einem polnischen Namen möglich. Im Verweigerungsfall sollten die Eltern nach dem Fristablauf bestraft werden.61 Bei den Änderungen der Vornamen gab es grösser Probleme: die Standesamtbeamten hatten oft Schwierigkeiten, die Vornamen auseinander zu halten oder festzustellen, ob ein Vorname polnischer oder deutscher Herkunft war.62 Sogar eine wojewodschaftsweite Verbreitung der Namenslisten hatte die Lage nicht wesentlich erleichtert. Noch im November 1947 wurden in Beuthen/Bytom von der Stadtverwaltung ausgearbeitete Verzeichnisse benutzt, die solche exotischen Namen beinhalteten, wie: Anatolja, Beatryca, Bada, Epifamia, Eufemia, Eufrozyna, Kryspina, Sybilla, Sydonia, Hilaria, die der polnischen Namensgebung weitgehend fremd waren. In jenem Verzeichnis fehlten jedoch derartige Namen wie: Małgorzata, Danuta, Urszula und Wanda. Ebenfalls mehrere Namen, die in den polnischen Gebieten sehr populär waren, wie: Bronisław, Zbigniew, Zdzisław, Władysław, Leszek oder Witold waren nicht verzeichnet, da sie nach Meinung der Verwaltung von Beuthen/Bytom nichtpolnischer Herkunft waren.63 Aus heutiger Sicht überraschend und unverständlich war die Tatsache, dass in den polnischen Gebieten allgemein bekannte Namen, wie Ryszard, Christian, Janusz, Hubert oder 60

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AP Kat. UWSL/A–P Sign. 79, Bl.11f. Wojewode an alle Starosteien und Stadtverwaltungen am 19.08.1947; AP Kat. StP Bytom Sign. 25, Bl. 24f. Protokoll der Konferenz von Dorfschulzen, Sekretären der Landkreise, Standesbeamten des Landkreises Beuthen vom 19.08.1947. AP Op. StP Strzelce Opolskie, Sign. 114, Bl. 6. Auszug aus dem Protokoll der Unterredung der Bürgermeister, Dorfschulzen und Gemeindevorsteher vom 02.09.1947. Die Namensgebung der polnischen Namen für neugeborene Kinder umfasste im gleichen Maße die Autochthonen wie auch die Neuankömmlinge. Über die Probleme mit dem Kader, der von der Notwendigkeit der Auswechslung der Mitarbeiter im Oppelner Schlesien sprach, referierte der Wojewode höchstwahrscheinlich auf der Wojewodentagung in Warschau im August 1947; AP Kat. UWŚl/A–P Sign. 75, Bl. 63ff. Verwaltungsjuristische Abteilung an die allgemeine Abteilung am 08.08.1947. Bereits Lutman forderte in einem Schreiben an das Wojewodschaftsamt die Zusendung von nur drei Namenslisten an die Ämter, zum eigenen internen Gebrauch, um eine Verwirrung zu vermeiden. AP Kat. UWSl/Sp-Pol. Sign. 554, Bl. 12. Bericht Nr. 3 von der Kontrolle des Kreises Lublinitz/Lubliniec vom 12.11.1947. Als erstes wurde die Liste vom 20.05.1946 Nr. Pra III - 2/ 46 an die Starostei geschickt. Sie wurde durch ein neues Namensverzeichnis UW Nr. AP III 11- 9 /47 abgelöst. Alte Namenslisten sollten bis zum 05.12.1947 an das Wojewodschaftsamt zurückgeschickt werden. Das sollte wahrscheinlich einem Chaos in den Ämtern verbeugen. AP Op. StP Opole, Sign. 208, Bl. 25; Dz. Zach. vom 14.11.1947 über Vornamen.

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Alfred in der Wojewodschaft Schlesien für unerwünscht gehalten wurden. Unter diesen Umständen war das Verbot der Vornamen, die in den übrigen polnischen Gebieten nicht als störend empfunden wurden, wie Waldemar, Renata, Manfred, Luiza, Rudolf, Artur in Schlesien schwer durchführbar.64 Besonders unerwünscht waren Namen, die auf die germanische Mythologie oder germanische bzw. deutsche Heilige zurückzuführen waren. Da sich jedoch die schlesische Bevölkerung weigerte, einige Namen zu ändern, waren die Behörden gezwungen, das zu akzeptieren. Beispielsweise wurde im September 1947 der Vorname Norbert als polnisch anerkannt.65 Ebenfalls waren die Namen Gertruda und Hubert christliche Namen und wurden von der schlesischen Bevölkerung nicht für deutsche Namen gehalten. Dies bewirkte, dass der Name Hubert zu jenen gezählt wurde, die anerkannt wurden und nicht geändert werden mussten. Es wurde jedoch verboten, diesen Namen im Rahmen der Polonisierung zu vergeben.66 Im Sommer 1947 wurden Maßnahmen zur Änderung der Vor- und Nachnamen weiter gesteigert und es zeigten sich Symptome eines Aktionismus. Dabei spielten Erleichterungen, wie Verzicht auf die Bekanntmachung und die Befreiung von Gebühren bei der Namensänderung, eine entscheidende Rolle.67 Unter 64

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Ein zur Änderung des Namens Hubert gezwungener Vater wählte für seinen Sohn den Namen Ryszard aus, der jedoch nicht verliehen werden durfte, da der Name nach Ansicht des Beamten des UW Zamysłowski einen fremden Klang besaß. AP Op. StP Opole Sign. 390, Bl. 213. Noch 1949 fehlte in den Namensverzeichnissen der Name Janusz, der in den polnischen Gebieten verbreitet war; AP Kat. UWSl/SP - Pol. Sign. 556, Bl. 171. Diese Frage wurde von der Trybuna Robotnicza behandelt, an die sich der Vater eines neugeborenen Kindes mit einer Klage über die Standesbeamten wandte. AP Op. StP Opole Sign. 397, Bl. 229, Schreiben der Starostei in Oppeln vom 18.09.1948. AP Op. StP Opole, Sign. 214. Gemeinde Ujazd an das UW in Kattowitz am 18.11.1947; AP Op. StP Opole Sign. 400, Bl. 30. Schreiben der Starostei in Oppeln vom 25.11.1948. Ähnliche Namen waren: Adelajda, Albert, Artur, Gaspar, Hugo, Kandyt, Kastor, Kilian, Konrad, Kryspin, Leander, Maksym, Robert, Teobald. Jene Namen waren zwar in den polnischen Gebieten verbreitet und sollten nicht geändert werden, aber gemäß der Anordnung vom 24.03.1949 war es im Rahmen der Polonisierung untersagt, diese Namen neu zu vergeben. AP Op. StP Głubczyce Sign. 154. Anlage Nr. 2, Verzeichnis von Namen, die nicht verdrängt werden sollten und aus denen der Gesuchsteller eventuell einen aussuchen konnte. AP Gliwice, StP Gliwice Sign. 308, Bl. 3. Rundschreiben des MZO Nr. 18 vom 15.03.1947 betr. den Verzicht auf den Vermerk bei der Änderung von Vor- und Nachnamen mit nichtpolnischem Klang. Siehe auch in Dziennik Urzędowy Ministerstwa Ziem Odzyskanych (DzU. MZO) Nr. 4 Pos. 68 und vom 10.02.1948 betr. der Festlegung der Rechtschreibung von ausländischen Vor- und Nachnamen; Kraft dieses Rundschreibens wurde auf die Bekanntmachung der Namensänderung der ehemaligen Staatsbürger des Deutschen Reiches verzichtet. Władysław Czajkowski, Vizeminister des MZO, begründete diese Entscheidung mit der Notwendigkeit der Bescheinigung der Repolonisierung der autochthonen Bevölkerung; das Wojewodschaftsamt Schlesien-Dąbrowa veröffentlichte zeitweilig die Namensänderungen in der Zeitschrift „Przeglad Administracyjny“, die von diesem Amt herausgegeben wurde; für die „alten“ Gebiete der Wojewodschaft Schlesien regelte das Innenministerium diese Angelegenheit am 11.03.1947, indem die Notwendigkeit der Bekanntmachung der Änderungen nicht aufgehoben, sondern lediglich als Vorschlag zur Begrenzung der Kosten vorgestellt wurde; AP Kat. UWŚl/A–P Sign. 9, Bl. 3. Schreiben des MAP vom

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Mitwirkung der Behörden und staatlichen Unternehmen wurden von den politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen massive Aufklärungskampagnen durchgeführt und die Autochthonen mit deutschklingenden Namen unmittelbar zu deren Änderung oder Abänderung aufgefordert. Waren die Betroffenen mit einer Veränderung ihrer Namen nicht einverstanden, hatten sie verschiedene Nachteile zu gewärtigen: ihre Kinder wurden nicht in höhere Schulen aufgenommen, ihre Angelegenheiten in den Behörden wurden nicht erledigt, sie bekamen weder einen Arbeitsplatz noch Lebensmittelkarten. Im April 1948 präzisierte das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete nicht nur den Begriff der Repolonisierung, sondern stellte auch die Methoden zu ihrer Durchführung in den neuen Gebieten vor. Die Aufgabe der Vor- und Nachnamenspolonisierung wurde zum wichtigsten Aspekt der Repolonisierung erhoben. Zur Namensänderung empfahl das Ministerium, die Maßnahme öffentlich bekannt zu machen und zu einer Massenkampagne auszuweiten. In der Angelegenheit des angeblich ausgeübten, sog. „leichten Druckes“ auf die zur Namensänderung unwilligen Personen äußerte sich das Ministerium eindeutig: Diesen Druck dürfe man nur auf die einheimische Bevölkerung ausüben, keinesfalls jedoch auf die Ansiedler, die ihren fremden Namen seit Generationen trügen.68 Dieser Punkt löste bei den Beamten der gesellschaftspolitischen Abteilung des Wojewodschaftsamtes in Kattowitz/Katowice Interesse oder vielleicht sogar Verblüffung aus, was aus dem großen Fragezeichen auf dem Archivdokument zu schließen ist. Der Standpunkt des Ministeriums war nicht nur von dem Standpunkt des Wojewodschaftsamtes verschieden, sondern behinderte sogar die von der Administration der I. und II. Instanz eingeleiteten Maßnahmen. Diese übten auf beide Bevölkerungsteile in den Wiedergewonnenen Gebieten gleichermaßen Druck aus, um die geforderten Namensänderungen zu erreichen. Beispielsweise gab der Starost von Ratibor/Racibórz am 12. November 1947 einen Erlass über Zwangsmaßnahmen bei der Namensänderung heraus, der den Einwirkungsbereich nicht nur auf die Autochthonen begrenzte, sondern auch die Ansiedler mit einbezog.69 Diese Maßnahme scheint kein Einzelfall gewesen zu sein, weil beispielweise ein großer Teil der Anträge auch im Landkreis Leobschütz/Głubczyce von den Ansiedlern gestellt wurde. Die Einbeziehung der Ansiedlerfamilien in die Entgermanisierung der Namen wurde angeblich aus der Notwendigkeit geboren, dass die Familien der Autochthonen sich weigerten, angesichts der deutschen Namen der polnischen Familien

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11.03.1947. Rundschreiben des Finanzministers Nr. 236 vom 05.07.1947 Nr. DV 2889/4/47. Kraft dieses Rundschreibens wurden die Bewohner der Westgebiete nicht nur von den Gebühren für die Anträge und Anlagen zur Namensänderung befreit, sondern auch von allen Kosten bezüglich der Anwendung der Art. 1 und 2 des Gesetzes vom 28.04.1946 (DzURP Nr.15, Pos. 106) über die polnische Staatsbürgerschaft von Personen polnischer Nationalität, die in den Wiedergewonnenen Gebieten lebten. AP Kat UWŚl/Sp-Pol. Sign. 556, Bl.14ff. Rundschreiben des MZO vom 26.04.1948, geheim. AP Rac. StP Racibórz Sign. 180, Bl.19. Schreiben des Starosten von Ratibor/Racibórz vom 12.12.1947.

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aus Zentralpolen oder aus den ehemals polnischen Gebieten, ihre deutschen Namen doch zu ändern. Diese Situation arbeitete, nach Ausführung des Starosten von Ratibor/Racibórz, der Repolonisierungsaktion entgegen. Um die Ansiedler dazu zu bringen, ihre deutschen Namen zu ändern, wurde angeregt, alle amtlichen Angelegenheiten dieser Bürger bis zu ihrer Namensänderung einzufrieren.70 Bei den Änderungen der Namen der angesiedelten Familien fällt auf, dass sie ihre Namen vorwiegend in rein polnische Namen änderten, was bei der autochthonen Bevölkerung mehr zur Ausnahme gehörte. Diese Tendenz wurde sogar im Ministerium wahrgenommen, was sich in der Rohfassung des Artikels, der später in „Osadnik“ publiziert wurde, widerspiegelte. Dabei kritisierte Medwid, Ministerialrat im MZO, die Tendenz zur Annahme von Namen, die eine Endung mit -ski, oder -ska haben. Dies wurde als eine „Sympathie für die „Szlacheczczyzna“„ (ein Kryptogramm von Szlachta, polnischer Adel, mit pejorativer Bedeutung) bezeichnet.71 Nach Meinung des Autors sollte man in der gegenwärtigen Situation und der neuen Gesellschaftsordnung wegen eher volkstümliche Namen annehmen. Dieses Fragment wurde jedoch in der Zeitung nicht gedruckt, wahrscheinlich um die Haltung der Ansiedler zur Namensänderung nicht zusätzlich zu komplizieren. Das Dekret vom November 1945 hatte keinerlei Zwangsmaßnahmen zur Änderung der fremdklingenden Vor- und Nachnamen vorgesehen. Es gab auch keinen offiziellen Strafkatalog für die sich der Änderung widersetzenden Personen. Alle Repressionsmaßnahmen, die bei der Entgermanisierung einzusetzen waren, wurden entweder von der Administration in geheimen Unterlagen angeordnet oder bei zahlreichen Konferenzen und Schulungen bekanntgegeben. Trotz der umfassend eingeführten Maßnahmen und mehreren Möglichkeiten, Druck auf die Bevölkerung auszuüben, beklagte die allgemeine Administration, dass sie auf breiten Widerstand der Bevölkerung stieß. 3. FAZIT Die hier skizzierten Entgermanisierungsmaßnahmen dauerten bis 1950. Trotz des großen Engagements konnten die Repolonisierung und Entgermanisierung keinen Erfolg haben, weil die gesellschaftliche Unterstützung fehlte. Die Autochthonen empfanden die deutsche Kultur als normal und für ihr Selbstverständnis als nicht störend. Das deutsche Kulturgut war für sie oftmals besser verständlich und akzeptabler, als das Kulturgut der aus dem Osten kommenden, meist schlecht ausgebildeten und rückständigen Repatriierten, der raffgierigen Umsiedler aus Zentralpolen oder als das Kulturgut, welches durch übertriebene patriotische Propaganda angeboten wurde. Auch die Ankömmlinge verloren mit der Zeit ihren Radikalismus in der Bekämpfung der deutschen Spuren und gewöhnten sich an die für sie ursprünglich fremdartige kulturelle Atmosphäre. Dies war aber aufgrund 70 71

AP Rac. StP Racibórz Sign. 180, Bl. 14. Starost von Ratibor/Racibórz an die Leiter der Referate der Starostei am 02.10.1948. AAN War. MZO Sign. 326, K. 25. Änderung der Vor- und Nachnamen, M.J.

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der propagierten nationalen oder sogar nationalistischen Einheit der Gesellschaft nicht erwünscht. Die Gesellschaft war des Kampfes müde, besonders wenn es sich z. B. um den Kampf gegen Aufschriften auf Küchengegenständen handelte. Im Mai 1948 beschwerte sich der schlesische Aktivist Zygmund Izdebski, dass die propagandistische Aufklärung über die deutsche Gefahr, die Arbeit für den polnischen Status quo, die Stärkung des polnischen Besitzes, die Liquidierung der deutschen Hinterlassenschaften in Form von Beschriftungen von der Gesellschaft als eine nicht wesentliche, oberflächliche und nicht effiziente Arbeit betrachtet wurde. Es gab auch andere Vertreter der polnischen Nation, die die Besitznahme und Eingliederung der sog. Wiedergewonnenen Gebiete zu ihrer fast missionarischen Aufgabe erhoben. Sie vertraten die Repolonisierungspolitik mit allen ihren Extremen in radikaler Weise, oft nicht ohne persönliche Vorteilsnahme. Die wichtigsten Hemmnisse bei der Durchführung der Entgermanisierungsaktionen und bei der Integration der einheimischen Bevölkerung waren die schon 1944 durchgeführten Veränderungen in Polen. Für die Schlesier, sogar für diejenigen, die ihre nationale, propolnische Einstellung demonstrierten, war es typisch, dass sie eine tiefgehende Abneigung gegen den neuen kommunistischen Staat hegten. Der neue polnische Staat mit dem kommunistischen System hatte nichts zu bieten, was für die meisten Schlesier attraktiv gewesen wäre. Das polnische System war ihnen fremd und die Wirtschaft, die keinesfalls mit der noch im Gedächtnis haftenden wirtschaftlichen Konjunktur der Nazizeit konkurrieren konnte, wurde als sog. „polnische Wirtschaft“ abgelehnt. Auch die innenpolitischen Kämpfe, in die die Schlesier einbezogen wurden, wirkten sich katastrophal aus. Für sie hatte das Vorgehen der polnischen Regierung zu viele Gemeinsamkeiten mit dem nationalsozialistischen Terror, der sich in der Bekämpfung der Kirche und der polnischen Opposition geäußert hatte. Es wurden oft Vergleiche mit den Nazi-Methoden angestellt und bestimmte Parallelen zu den kommunistischen Methoden gezogen. Andererseits wurden die Maßnahmen der Verwaltung, besonders jene, um den Gebrauch der deutschen Sprache oder auch äußere Zeichen für die Zugehörigkeit dieser Gebiete zum deutschen Kulturkreis zu eliminieren, vom Großteil der polnischen Bevölkerung nicht abgelehnt oder besonders verteufelt. Zu tief verwurzelt waren im polnischen Bewusstsein die deutsche Bedrohung und der deutsche Revisionismus. Inwieweit die polnische Bevölkerung sich vor den Deutschen und dem deutschen Staat fürchtete, davon zeugt die Tatsache, dass sogar nach den rechtlichen Regelungen in den Jahren 1990 und 1991 nur ungern dem Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit, deutschen Schulen oder auch der Erneuerung deutschen Inschriften auf Gedenktafeln oder Friedhöfen zugestimmt wurde. Im Übrigen säten diese Ängste manche Funktionäre der deutschen Minderheit, die mit ihren Äußerungen und Forderungen nicht nur in Opposition zur polnischen Staatsräson standen, sondern, wie es scheint, auch zu den geäußerten Absichten der deutschen Bundesregierung. Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahre 2004 wurden viele mit der deutschen Vergangenheit des Oppelner Schlesiens verbundene Probleme gelöst. Es wurden zweisprachige Ortsschilder eingeführt, alle Bürger können ins

Die Entgermanisierung Oberschlesiens nach 1945

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Ausland reisen, in der Öffentlichkeit und auf den Ämtern kann man deutsch sprechen. Die deutschen Inschriften oder deutsch klingende Vornamen oder auch Nachnamen verwundern niemanden mehr. Die hier beschriebenen Maßnahmen wurden 1950 beendet, aber das bedeutete nicht, dass der Kampf gegen die Überbleibsel der deutschen Kultur und Staatlichkeit in diesen Gebieten abgeschlossen war. Er wurde weitergeführt, jedoch ohne zu allgemeinen Bürgeraktionen aufzurufen. In diese Schlacht wurden hauptsächlich die Kräfte der staatlichen Verwaltung einbezogen. Letztendlich wurden die Maßnahmen zur Entdeutschung mit der Anerkennung der Existenz der deutschen Minderheit auf dem Gebiet des Oppelner Schlesiens eingestellt, und vor allem mit dem Beitritt Polens zur EU. Derzeit werden viele Sehenswürdigkeiten, sowohl deutscher als auch polnischer Herkunft, nicht nur renoviert, sondern auch als Zeugnis für die Multikulturalität des Oppelner Schlesiens angesehen.

KALTE HEIMAT. DIE GESCHICHTE EINER SCHWIERIGEN ANKUNFT Andreas Kossert „Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hat1 ten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören […].“

Christoph Heins Roman „Landnahme“ zeigt, dass die 14 Millionen Deutschen aus dem Osten im verbliebenen Deutschland nicht willkommen waren. Materielle Not, kulturelle Fremdheit und soziale Ausgrenzung bestimmten das Dasein der deutschen Vertriebenen nach 1945. Von Anfang an waren sie unbequem, in Ost und West gleichermaßen. Sie schufen Unruhe, im Westen galten sie als notorische Störenfriede der Westbindung, später der Entspannungspolitik, im Osten wurden sie nach der Vertreibung verhaftet, bespitzelt, wenn sie auch nur von ihrer Heimat und ihrem Schmerz sprachen.2 Die fremden Deutschen stießen auf Ablehnung. Das hatte traurige Tradition in Deutschland. Heimatlose stießen bei den Deutschen, die sich ihres Hab und Guts immer sicher sein konnten, nie auf Verständnis. „Und doch, vor einigen Jahren in einem Interview gefragt: ‚Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein‘, gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: ‚Heimatlos‘“, sagte der Historiker Fritz Stern in einem Vortrag.3 1938 als Deutscher aus seiner Heimatstadt Breslau von Deutschen vertrieben, hätte Fritz Stern lange Zeit kaum irgendwo Mitgefühl mit seiner Heimatlosigkeit erwecken können. Erfahrungen von Heimatlosigkeit und zwangsweiser Entwurzelung ge1 2

3

Christoph Hein, Landnahme, Frankfurt am Main 2005, 35. Vgl. hierzu v. a.: Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“ – Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004; Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982) (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2007; Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004; Heike Amos, Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München 2009. Zur Gesamtthematik des Beitrags vgl. Andreas Kossert, Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008 und Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011. Zitiert nach Katharina Elliger, Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien, Reinbek 2006, Vorspruch.

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hörten zur elementaren Grunderfahrung von Millionen Europäern in jüdischen, polnischen oder ukrainischen, in ungarischen, italienischen oder russischen Familien im 20. Jahrhundert. Als Konsequenz aus dem Zivilisationsbruch der deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg verloren 14 Millionen Deutsche ihre Heimat. Von nationaler Solidarität – obwohl von den Politikern aller Parteien immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt – war nach Kriegsende kaum etwas zu spüren. Wie oft wurde von der gelungenen materiellen Integration gesprochen, aber immer mit einem schlechten Gewissen im Unterton. Denn die materiellen Leistungen des Lastenausgleichs, die Flüchtlingssiedlungen an den Ortsrändern mit ihren „Königsberger Straßen“ und „Breslauer Ringen“ können über eines nicht hinwegtäuschen: Dem seelischen Schmerz, dem Leid der Vertriebenen, ihrer Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung hat man sich jahrzehntelang gesamtgesellschaftlich verschlossen. Bis heute hört man – auch nach fast siebzig Jahren – viele Vertriebene sagen „Bei uns zuhause“. Gemeint ist die alte Heimat im Riesengebirge, an der Memel, in Siebenbürgen oder im Böhmerwald. Peinlich berührt stehen Nichtbetroffene vor dem häufig unbewältigten Schmerz. Man überließ die Vertriebenen mit ihren Traumatisierungen der privaten Bewältigung, ließ es an Mitgefühl für das individuelle Leid fehlen. Doch der Verlust von Heimat ist für einen Menschen ähnlich traumatisch wie der Verlust eines geliebten Menschen. Viele von ihnen konnten den Heimatverlust nicht verkraften und zerbrachen regelrecht daran, seelisch und körperlich. Heimweh als Todesursache, davon erzählt Christa Wolf: „Für die Alten – für die, die seit Jahren vom Tod gebrabbelt hatten, um den Widerspruch der Jüngeren zu hören – wurde es Zeit, zu schweigen; denn was jetzt vor sich ging, das war ihr Tod, sie wußten es gleich, sie alterten in Wochen um Jahre, starben dann, nicht schön der Reihe nach und aus den verschiedensten Gründen, sondern alle auf einmal und aus ein und demselben Grund, mochte man ihn Typhus nennen oder Hunger oder ganz einfach Heimweh, was ein überaus triftiger Vorwand ist, um daran zu sterben.“4

1. „DIE POLACKEN KOMMEN“ – ANKUNFTSERFAHRUNGEN ODER: DER ZWEITE SCHOCK Nach Kriegsende zerfiel die deutsche Welt in Vertriebene und Einheimische: Die Anwesenheit der vertriebenen Menschen war die ungeliebte Mahnung an den gemeinsam verlorenen Krieg, den man am liebsten verdrängen und vergessen wollte. Hatte man wenige Jahre zuvor noch gemeinsam „Heil Hitler“ gebrüllt und die deutsche „Volksgemeinschaft“ beschworen, versteckten sich die Glücklicheren, die ihrer Heimat weiter sicher sein konnten, nach Kriegsende allzu gern hinter ihren regionalen Identitäten. Jetzt, wo es galt, in der gemeinsamen Niederlage Solidarität zu zeigen, war man nur noch Badener, Holsteiner oder Westfale. Damit löste man sich von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, ja man konnte 4

Christa Wolf, Kindheitsmuster, München 2002, 412.

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sich auf Kosten der Vertriebenen entnazifizieren, denn, so war oft zu hören, wer seine Heimat verloren hat, musste besonders schwere Schuld auf sich geladen haben. Das brachte der eigenen westdeutschen Verantwortung Entlastung, denn es war bequem, den Heimatlosen auch gleichsam eine besondere Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg aufzubürden. „Flüchtlingsschweine“ und „Polacken“ schimpfte man sie: Millionen Deutsche, die für Deutschlands Schuld kollektiv mit Gewalt und Heimatverlust bestraft wurden, fanden keine Solidarität, sondern Hohn und Verachtung von den Deutschen, die den Krieg mit ihnen gemeinsam verloren hatten. Nach dem Schock von Flucht und Vertreibung sah sich das Millionenheer Heimatloser erneut herausgefordert: der zweite Schock, die Ankunftserfahrung im Westen, die Erfahrung, nicht willkommen zu sein. „In Magdeburg konnten sie über die Wintermonate Januar und Februar 46 bleiben, per Zwangseinweisung in ein von Bomben beschädigtes Haus. Im unbeschädigten Seitenflügel musste ihnen 1 ältere, mürrische Witwe Quartier gewähren: 1 Zimmer, kahl, kaum Möbel, kein Ofen, wurde den 3 Frauen zugewiesen. Flüchtlinge u Dünnschiss kann eben niemand aufhalten. Schnauzte die Witwe & räumte aus 5 dem Zimmer das 1zige Bettgestell raus.“

So berichtet Reinhard Jirgl in seinem Roman Die Unvollendeten das zweifelhafte Willkommen dreier sudetendeutscher Frauen in Mitteldeutschland. „Als 1zige der Letzten vom Transport sollten die 3 Frauen auf einen Gutshof kommen, als Dienstmägde & zur Aushilfe bei der Feldarbeit. Bei Ankunft des Zuges standen auf dem Bahnsteig in Birkheim einige Bauern, sie besahen die eintreffenden und aus den Güterwaggons heraustappenden Flüchtlinge wie 6 minderwertiges Arbeitsvieh, das es möglichst günstig zu ersteigern galt.“

Überdeutlich wird bei dieser Ankunft, dass den Vertriebenen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Allein auf sich gestellt, waren sie auf das Mitleid fremder Menschen in einer fremden Umgebung angewiesen. Das verlangte den Vertriebenen große Durchsetzungskraft ab, um sich eine eigenständige Existenz aufzubauen. Seit ihrer zwangsweisen Aufnahme mussten sie sich bewähren und die ungewohnte Fremde annehmen. Sie konnten nicht auf gewachsene familiäre und nachbarschaftliche Verbindungen im Ort zurückgreifen.7 Auch litten sie unter der Einschätzung mancher Bewohner, die in den Vertriebenen ‚aus dem Osten‘ Hinterwäldler oder gar ‚Polacken‘ ohne Kultur und Zivilisation vermuteten. ‚Aus dem Osten‘ zu stammen war an sich schon ein Makel, aus jenen östlichen Landschaften, für die man traditionell nicht viel übrig hatte. Katharina Elliger berichtet über ihre Ankunft in Westfalen: „Am Morgen darauf machte ich mich mit meiner Mutter auf den Weg, um ausfindig zu machen, wo wir einquartiert werden sollten. Bärbel blieb in der Schule. Wir hatten einen Zettel des Bürgermeisters mit der Adresse in der Hand. Der Weg dorthin dehnte sich unendlich. Erst eine lange Straße entlang, dann an einem großen Hof vorbei, schließlich folgten kleinere Höfe und Häuser. Die Wege wurden immer schmaler. Immer wenn wieder ein Haus auftauchte, dachten wir, das müsste es sein. Aber es ging immer

5 6 7

Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten, München 2007, 8. Ebd. Utta Müller-Handl, „Die Gedanken laufen oft zurück…“. Hessische Flüchtlingsfrauen erinnern sich an ihr Leben in Böhmen und Mähren und an den Neuanfang in Hessen nach 1945, Wiesbaden 1993, 80.

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Andreas Kossert weiter. Wir waren enttäuscht, dass wir mitten auf dem Lande leben sollten. Schließlich baten wir einen Mann, der auf dem Feld arbeitete, um Auskunft. Er machte nur eine unbestimmte Geste und fragte: ‚Wo kommt ihr denn wech?‘ Ich fand seine Aussprache lustig. Auf meine Antwort: ‚Aus Schlesien‘ schüttelte er den Kopf: ‚Kalte Heimat, watt? Polacken! Kieschitzki und Co!‘ Wir waren entsetzt. Mit einem 8 Schlag war uns klar, wofür man uns hielt: dahergelaufenes Pack mit zweifelhafter Herkunft.“

„Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“, so sagte man nach dem Krieg im Emsland.9 So drangen sie ein wie eine biblische Plage, obwohl sie keinen Einfluss auf das Geschehen hatten. Zwangseinquartierungen in die Häuser der Einheimischen sorgten für so viel Unmut, dass mancherorts die soziale Ordnung gefährdet war, wenn Vertriebene „nicht selten unter dem Schutz der Maschinenpistolen Einzug in die Häuser erhielten“.10 Als im August 1946 ein Transport sudetendeutscher Vertriebener im Landkreis Marburg eintraf, widersetzten sich viele Hausbesitzer der Zwangseinquartierung: „Die Leute benehmen sich wie Bestien, es muss unbedingt mit Polizei eingegriffen werden“.11 Das waren die ersten Erfahrungen vieler Vertriebener nach der materiellen, physischen und seelischen Totalentwurzelung. „Die Leute, die am meisten verloren haben, sind jetzt in dem engsten Kontakt gekommen mit den Bauern, die am wenigsten verloren haben“, beschrieb der Besatzungsoffizier Philipp M. Raup in einer Sitzung des Stuttgarter Länderrats am 25. Oktober 1946 das gewaltige Spannungspotential in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.12 Das lag vor allem daran, dass die Vertriebenen in die ländlichen Welten einbrachen. „Das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Konfession und Bildung, aber auch unterschiedlicher Wertevorstellungen, konnte nicht ohne Spannungen bleiben“, so Andreas Eiynck. Oft kamen hochqualifizierte Stadtbewohner aus Böhmen und Schlesien vollkommen mittellos in Bauerndörfer. Hier galten sie nichts und hatten nichts zu melden. Neben der Ignoranz der Einheimischen machte ihnen der enorme soziale Abstieg zu schaffen. „Ehemals selbständige Gutsbesitzer und Bauern mussten sich als Knechte und Landarbeiter unterordnen, Facharbeiter mussten sich oft jahrelang als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft verdingen.“13 „Dort, wo die Flüchtlinge sich bereitwillig auf den Bauernhöfen in die Gesinderolle fügten, gestaltete sich das Zusammenleben noch am erträglichsten“, stellte Franz J. Bauer fest. Die einheimischen Bauern nutzten die große Nachfrage nach Arbeit aus, indem sie den Lohn der Vertriebenen möglichst gering hielten. Da sie 8 9 10 11 12 13

Katharina Elliger, Und tief in der Seele das Ferne. Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien, Reinbek 2006, 182f. Interview mit Manfred Meißner, in: Andreas Eiynck (Hg.), Alte Heimat, Neue Heimat. Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Lingen nach 1945, Lingen 1997, 495. Marion Frantzioch, Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987, 119. Rolf Messerschmidt, ‚Wenn wir nur nicht lästig fallen…’. Aufnahme und Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in Hessen (1945–1955), Frankfurt am Main/Leipzig 1991, 67. Franz J. Bauer, Der Bayerische Bauernverband, die Bodenreform und das Flüchtlingsproblem 1945–1951, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31/1983, 443–482, hier 443. Andreas Eiynck, Des Kreises größte Sorge. Flüchtlings- und Wohnraumnot, in: Ders. (Hg.), Alte Heimat, Neue Heimat, 65.

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im Nationalsozialismus Zwangsarbeiter gewohnt waren, fiel ihnen nun allerdings die Umstellung schwer.14 Bis heute tragen viele Vertriebene schwer an den Erfahrungen von Ausgrenzung und Fremdenhass, die sie durch eigene Landsleute erlebt und erlitten hatten. Die aus der Neumark geflüchtete Eva S. berichtet aus einem thüringischen Dorf: „Wir waren ‚Polacken-Schweine‘ für die und bekamen auch keine Zuwendungen. Im Sommer hat meine Mutti Brennesseln und Melden – das ist so ein dickblättriges Unkraut – zum Essen gesammelt, weil wir ja sonst nichts hatten. Im Dorf wurde dann gesagt: ‚Jetzt fressen sie uns schon das Gänsefutter weg! 15 Wir haben nichts für unsere kleinen Enten und Gänse‘.“

Wie stark der Gegensatz zwischen Einheimischen und Vertriebenen damals war, geht aus der folgenden Notiz eines amerikanischen Offiziers hervor: „In Bavaria or perhaps the whole of Germany there is no difference between a Nazi and Antinazi, Black 16 and Red, Catholic or Protestant. The only difference is between natives and refugees.“

Das wird auch in einem Plakat deutlich, das im März 1947 in der bayerischen Gemeinde Egmating zu sehen war: „Hinaus mit den Flüchtlingen aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft – dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!“ Der bayerische Klerus fürchtete, die sudetendeutschen Katholiken könnten durch ihre Armut und Hoffnungslosigkeit einen „religiösen Bolschewismus“ in die konservativ-ländlichen Gemeinden Bayerns tragen.17 Die Vertriebenen kamen in eine feindliche Welt einheimischer Besitzstände. Im nordhessischen Oberlistingen sagte der 67-jährige Einheimische J. H. im Jahr 1950, überfordert mit dem, was seine vertriebenen Landsleute erlebt und erlitten hatten: „Die Heimatvertriebenen können uns nicht immer auf der Pelle sitzen. Sie wollen nun schon Schweine und Hühner halten. Wir sollen ihr Viehzeug mit in unsere Ställe sperren. […] Wir sind nicht schuld, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Sie sprechen zwar immer davon, dass wir gemeinsam den Krieg 18 verloren hätten; aber man kann doch nicht so einfach alles teilen wollen.“

Im Grunde waren nach dem Krieg alle Deutschen auf der Flucht vor dem, was gestern noch gegolten und sie begeistert hatte. Häufig ist von der ‚Stunde Null‘ die Rede, dem totalen Zusammenbruch Deutschlands, doch die hat es in Wahrheit nie gegeben. Zwar war die staatliche Macht nun in den Händen der Sieger, und die Verwaltungen waren in der Tat zusammengebrochen, aber die deutsche Ge14 Bauer, Der Bayerische Bauernverband, die Bodenreform und das Flüchtlingsproblem 1945– 1951, 444ff. 15 Bericht Eva S., in: Silke Satjukow (Hg.), Kinder von Flucht und Vertreibung, Erfurt 2007, 138. 16 Nach Paul Erker, Revolution des Dorfes? Ländliche Bevölkerung zwischen Flüchtlingszustrom und landwirtschaftlichem Strukturwandel, in: Martin Broszat / Klaus-Dietmar Henke / Hans Woller (Hgg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, 367–425, hier 384. 17 Ebd., 387 und 397. 18 Wolfgang Schröder, Oberlistingen, Kreis Wolfhagen, und seine bäuerlichen Heimatvertriebenen, in: Eugen Lemberg / Lothar Krecker (Hgg.), Die Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen, Marburg 1950, 44–54, hier 49.

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sellschaft in den Besatzungszonen blieb intakt. Die Menschen gingen, soweit dies möglich war, ihrer gewohnten Arbeit nach, die Familien bewahrten ihren Zusammenhalt. In dieser Welt störten die Vertriebenen durch ihre pure Existenz. Auch Günter Grass erfährt, als er die Eltern wiedersieht, die kalte Hartherzigkeit derjenigen Deutschen, die alle materiellen Besitztümer unbeschadet durch den Krieg sichern konnten: „Vor mir standen Vertriebene, als einzelne zwar, doch unter Millionen von nur statistischem Wert. Ich umarmte Überlebende, die, wie es hieß, mit dem Schrecken davon gekommen waren. Man existierte noch irgendwie, aber […]. Die zuständige Behörde hatte die Eltern und die Schwester bei einem Bauern eingewiesen. Dieser Zwang war üblich, denn freiwillig wurden Flüchtlinge und Vertriebene selten aufgenommen. Besonders dort, wo keine Schäden sichtbar waren, Haus, Stall und Scheune wie unbekümmert auf Erbrecht fußten, zudem keinem Bauernschädel ein Haar gekrümmt worden war, verweigerte man die Einsicht, den siegreich bejubelten Krieg gemeinsam mit den Geschädigten verloren zu haben. Nur weil von der Behörde gezwungen, hatte der Besitzer des Hofes meinen Eltern den zweigeteilten Raum mit Betonfußboden überlassen: eine ehemalige Futterküche für Schweinemast. Beschwerden halfen nichts. ‚Geht doch hin, wo ihr hergekommen seid!‘ hieß die Antwort des seiner Hektar sicheren Bauern, der so katholisch war wie jener, dem ich im Frühjahr des vergangenen Jahres davongelaufen war. Allerorts hatte man sich schon immer mißtrauisch bis feindselig gegenüber Fremden und – wie es 19 hieß – Hergelaufenen verhalten; dabei sollte es bleiben.“

2. GELUNGENE INTEGRATION? Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit war für Millionen Deutsche eine Grunderfahrung der deutschen Nachkriegszeit. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaft bleiben. Der Schmerz über den Verlust der Heimat saß tief und konnte durch den Lastenausgleich allenfalls abgemildert werden. Die oft gepriesene materielle Integration im Wirtschaftswunderland gelang letztlich, weil die Vertriebenen nicht in der Rolle der Betroffenen verharrten, sondern selbst Hand anlegten und durch ihre „Leistungs- und Anpassungsbereitschaft, ihrer Arbeitskraft und bald auch ihrer Kaufkraft dieses Wirtschaftswunder ganz entscheidend mittrugen“.20 Rainer Schulze kommt zu dem Schluss: „Der Prozess der Aufnahme und der Seßhaftmachung der Flüchtlinge war ein langer – zum Teil bis heute noch nicht vollständig abgeschlossener – spannungsreicher und vielfach auch von Rückschlägen begleiteter Vorgang und keineswegs eine ungebrochene Erfolgsgeschichte.“21 Auch die Einheimischen standen vor gewaltigen Herausforderungen, alles veränderte sich. Die Fremden brachen ein in die bis dahin weitgehend homogenen Gesellschaften auf dem Land. Ihre Andersartigkeit führte dazu, dass überkommene Abgrenzungen sich auflösten und Gegensätze aufeinandertrafen. Mit der Ankunft der Ver19 Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006, S. 272. 20 Klaus J. Bade: Einleitung, in: Klaus J. Bade/Hans-Bernd Meier / Bernhard Parisius (Hgg.), Zeitzeugen im Interview. Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Osnabrück nach 1945, Osnabrück 1997, 7–12, hier 8. 21 Rainer Schulze, Zuwanderung und Modernisierung – Flüchtlinge und Vertriebene im ländlichen Raum, in: Klaus J. Bade (Hg.), Neue Heimat im Westen, Münster 1990, 81–105, hier 95

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triebenen veränderte sich das Antlitz West- und Mitteldeutschlands in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Sie leisteten einen substantiellen Beitrag zur Entprovinzialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung Deutschlands und stellten damit einen gewichtigen Modernisierungsfaktor dar.22 Gelungene Integration? Noch heute lohnt ein Blick in westdeutsche Ortschroniken und Regionalgeschichten. Wenn überhaupt kommt die Ankunft der Vertriebenen – die ja häufig bis 20–50% der örtlichen Bevölkerung ausmachen – in wenigen Sätzen vor, dann wird die Dorfgeschichte weiter erzählt als habe die Ankunft der Schlesier, Ostpreußen oder Deutschböhmen gar nichts verändert. Viele Vertriebene empfanden ihren Aufenthalt viele Jahrzehnte nur als Geduldetsein, deshalb wählten viele die innere Emigration. Stets wollte niemand ihre Geschichten aus der alten Heimat hören, sie galten als Aufschneider und als sie begannen, sich kleine Siedlungshäuser zu bauen, traf sie Neid und Missgunst vieler Einheimischer. Die die Weichbilder der Dörfer und Städte bis heute prägenden Siedlungen an den Ortskernen – sie sind ein sichtbares Zeichen der Ankunft Millionen Heimatloser. Der Schlesier Manfred Reimann schrieb über seine Schulzeit 1950 im westlichen Münsterland: „Jetzt besuchten wir die evangelische Volksschule in Vreden. Ein evangelisches Schulgebäude gab es nicht. Wir hatten einen Klassenraum im Keller der alten Oberschule und später in der Landwirtschaftsschule. Unterwegs zur Schule wurden wir beschimpft als ‚evangelische Biberratten‘, und unsere Siedlung wurde ‚Klein-Moskau‘ genannt oder, manchmal bis heute noch ‚Partisanen-Siedlung‘. Die ersten Jahre gab es wenig Kontakte zur einheimischen Bevölkerung. Auch waren ‚die aus der Siedlung‘ nicht willkommen in Vereinen, z. B. im Schützenverein Kleinemast. […] Oft wurde auch nach der Konfession gefragt. […] Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Ich war mit meiner Mutter bei der Vredener Caritas gewesen, um Kleidung zu erhalten. Kleidung war dort genug vorhanden. Ich erhielt eine Jacke, die mir auch gut passte. Doch dann kam die Frage der zuständigen Ordensschwester, ob wir katholisch seien. Als meine Mutter das verneinte, musste ich die Jacke wieder ausziehen. Das tat sehr weh, und ich 23 kann es nie vergessen.“

Johannes Leuchtenberger führte aus, was viele Nichtvertriebene nicht verstehen konnten oder wollten: „An der Vertreibung und dem Heimatverlust sind ganze Familien seelisch zerbrochen: Den materiellen Verlust, den haben wir lange verschmerzt, aber nicht den eigentlichen Verlust der Heimat, wo wir auf24 gewachsen sind.“

3. ZWISCHEN DORT UND HIER – ERINNERUNG UND SCHMERZ IN VERTRIEBENENFAMILIEN Die Trauer um die verlorene Heimat, die Verletzungen durch die Ankunftserfahrungen – sie fanden hinter verschlossenen Türen statt, privatisiert in den Familien. Diese „Privatisierung des Leids“ wurde den Vertriebenen – so der Historiker 22 Ebd. 23 Nach Ansgar und Markus Trautmann, Die Vertriebenen in Vreden und Ammeloe, Vreden 1988, 74f. 24 Interview mit Johannes Leuchtenberger, in: Eiynck (Hg.), Alte Heimat, Neue Heimat, 418.

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Hans-Ulrich Wehler25 – jahrzehntelang von der Mehrheitsmeinung zugemutet. Und die Geschichten begleiten die Familienangehörigen bis heute. Nachgeborene Kinder von Vertriebenen werden häufig erst durch den Tod der Eltern noch einmal mit den Traumatisierungen in der Familiengeschichte konfrontiert. So erging es auch dem Journalisten Martin Tschechne, der über seine sudetendeutsche Mutter berichtete: „Es war nicht viel, was meine Mutter an persönlichen Dingen hinterließ, als sie vor sechs Jahren starb. Kleider, Briefe, ein paar Schmuckstücke – und die ausgeblichene Kopie eines Handzettels aus dem Frühjahr 1945. Alle deutschen Bewohner des Ortes, so stand darauf zu lesen, erst auf Tschechisch, dann auf Deutsch, sollten sich mit je einem Gepäckstück auf dem Marktplatz einfinden. Die Häuser seien sauber zu hinterlassen, die Betten frisch zu beziehen. Für die neuen Bewohner. Meine Mutter wurde vertrieben. Über den Verlust ihrer Heimat im Sudetenland ist sie nie hinweggekommen. Es war, ich übertreibe nicht, ein Schmerz, der sie für den Rest ihres Lebens an keinem Tag losließ. Und ich wundere mich eigentlich, dass sie meinem Bruder und mir so selten davon erzählt hat. Wir haben aber auch selten danach gefragt. Weil es uns nicht interessiert hat? Weil es zu bitter war? Oder wollten wir Rücksicht 26 nehmen, ihre Gefühle nicht aufwühlen? Ach, da kommt vieles zusammen.“

Diese Geschichten sind millionenfach zu erzählen und wirken weiter nach. Doch wurden sie – wenn überhaupt – in den Familien weitergegeben, der Welt der Einheimischen blieben sie oft verborgen. In der Vertriebenensiedlung Neutraubling wurde Anita Knapek permanent mit dem Schicksal der Vertreibung ihrer Familie aus dem Sudetenland konfrontiert. Geballtes Leid hinter den Mauern der Reihenhaussiedlungen von Neutraubling, ein Ort, der in der Geschichte eigentlich nie vorgesehen war. In diesen Ort ohne Wurzeln, errichtet auf den Trümmern eines Fliegerhorsts, kamen die Vertriebenen: „Dann kamen sie, die fremden Deutschen: Schlesier, Sudetendeutsche, Egerländer, Ostpreußen. Sie kamen mit kleinen Beuteln und quälenden Erinnerungen. Aus der alten Heimat vertrieben, in der neuen nicht willkommen. Sie bauten kleine Baracken zwischen die Trümmer und fingen an zu arbeiten. Später kamen Rumäniendeutsche, Russlanddeutsche und mit ihnen noch mehr traurige Geschichten. Es ist eine eigenwillige Mischung. Anita Knapek sagt: ‚Die Stadt war geballtes Leid. Und sie war wie eingefroren. Nach außen hin haben sie agiert, nach innen hin waren sie wie tot‘. […] Viele haben nicht geredet, man 27 hätte doch nur weinen müssen.“

4. WAS BLEIBT? VERTREIBUNG, VERTRIEBENE UND DER HISTORISCHE DEUTSCHE OSTEN Während in der DDR das totalitäre Regime das Thema Flucht und Vertreibung unterdrückte, wurde es in der alten Bundesrepublik beinahe von selbst gemieden. Die Westdeutschen sahen sich in der unsicheren und chaotischen Lage der ersten 25 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: Stefan Aust / Stephan Burgdorff (Hgg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Bonn 2003, 9–14, hier 10. 26 Martin Tschechne, „Leid, das nicht vergeht. Helga Hirsch spricht mit den Nachkommen der Vertriebenen – ihr Buch dient der Wahrheit und der Versöhnung, in: Die Zeit (LiteraturBeilage November 2004). 27 Karin Steinberger, Eine Flucht, die niemals endet. Vertriebene in der dritten Generation: Es ist wie ein Leben auf fremden Schienen, in: Süddeutsche Zeitung, 20.04.2005, 6.

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Nachkriegszeit überrollt vom Strom der vertriebenen Deutschen aus dem Osten, denen es ohne Zweifel noch elender ging als ihnen selbst. Das Thema verschwand in den 1970er Jahren aus dem öffentlichen Blickfeld, wie die Erinnerung an das historische Ostdeutschland überhaupt verdrängt wurde. Fortan galten also Vertriebene pauschal nur noch als „Revanchisten“. Der Druck sich anzupassen, dem die Neuankömmlinge zunächst ausgesetzt waren, Diffamierung, Ausgrenzung und Ablehnung, fanden jedoch kaum Gehör, geschweige denn Empathie. Viel zu häufig blickt man von heute – nach der ‚erfolgreichen Integration‘ – auf das Geschehen. Das Wort „Integration“ stammt vom lateinischen Wort integer „heil, unversehrt“. Integration meint demnach – so Volker Ackermann – einen Einigungsprozess von Teilen und Gliedern zu einer sie umfassenden Einheit. Die Deutschen der Nachkriegszeit verstanden unter Integration aber rein bürokratischzweckrationales Handeln. Es überwog eine ausgeprägt materialistische Vorstellung, während Trauer und Schmerz nicht wahrgenommen wurden.28 Es ist an der Zeit, die Vertriebenen selbst in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen, Es ist an der Zeit, ideologische Gräben zuzuschütten und sich der Zäsur zu widmen, die die Ankunft der 14 Millionen Vertriebenen für Deutschland darstellt und es so nachhaltig prägt, wie kaum ein Ereignis zuvor. Deutsche Vertriebene endlich als Opfer zu begreifen, die nicht nur unter Flucht, Vertreibung und Heimatverlust gelitten hatten, sondern vor allem auch von ihren deutschen Landsleuten teils wie Aussätzige behandelt wurden. Wie schwer die deutsche Gesellschaft sich damit tut, sagt – so Michael Schwartz – einiges aus über die angeblich so rasche, erfolgreiche und solidarische Integration der Deutschen aus dem Osten. Noch vernimmt man letzte ideologische Zuckungen einer längst überkommenen Epoche. Der Unwille einiger, im eigenen Land politische Gräben zu überspringen und persönliche Feindbilder zu überwinden, erschwert eine Versöhnung nach innen, aber auch die grenzüberschreitende Versöhnung. Hierzulande sind es vorwiegend Vertriebene, Aussiedler und ihre Nachkommen, die das Interesse an unseren östlichen Nachbarn wachhalten und persönliche Beziehungen pflegen.29 Vertreibung, Vertriebene und das kulturelle Erbe des historischen deutschen Ostens bleiben eine deutsche Aufgabe. Die innere Versöhnung der Deutschen mit ihren Vertriebenen steht noch aus. Die Historikerin Helga Grebing hat die Verweigerung gesellschaftlicher Anerkennung in die Kontinuität der deutschen Verdrängungsleistungen nach 1945 eingeordnet – als ein „weiteres Kapitel der Unfä-

28 Volker Ackermann, Integration: Begriff, Leitbilder, Probleme, in: Bade (Hg.), Neue Heimat im Westen, 14–36, hier 14ff. 29 Vgl. Michael Schwartz, Dürfen Vertriebene Opfer sein, in: Deutschland-Archiv 38/2005, 494–505, hier 495ff.

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higkeit der Deutschen, zu trauern“.30 Die Integration der Vertriebenen, die in Teilen nichts anderes war als eine erzwungene Assimilation, erfolgte um den hohen Preis der kulturellen Selbstaufgabe. Schlesier, Ostpreußen, Pommern und Deutschböhmen, die über Jahrhunderte beigetragen haben zur Vielfalt der deutschen Identität, hatten fern der Heimat nichts mehr zu melden. Sie mussten sich anpassen im Westen ihres Vaterlandes, das ihnen zu einer kalten Heimat werden sollte.

30 Helga Grebing, Einleitung, in: Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien / Helga Grebing (Hgg.), Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, Hildesheim 1987, 4.

DIE LANDSMANNSCHAFT SCHLESIEN IN DEN ERINNERUNGSPOLITISCHEN KONTROVERSEN ZWISCHEN OST UND WEST Christian Lotz I. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung, die Geschichte der deutschpolnischen Grenzregionen sowie die konkurrierenden Erinnerungen insbesondere an den Zweiten Weltkrieg sind seit Ende der neunziger Jahre erneut ins Zentrum des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gerückt.1 In der Entwicklung der Forschungsdiskussion sind zwei Aspekte besonders auffällig: Erstens stößt man immer wieder auf die These, dass die Geschichte der deutschen Ostgebiete und auch Flucht und Vertreibung ein „Tabu“ in der DDR gewesen seien. Einige Studien gehen gar soweit, auch für die Bundesrepublik Phasen einer „Tabuisierung“ dieser Geschichte zu konstatieren. Demgegenüber behaupten andere Autoren, die Erinnerung an Flucht und Vertreibung sei für politische Zwecke instrumentalisiert worden.2 Zweitens konzentrieren sich die Mehrzahl der Studien zum 1

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Vgl. einführend Włodzimierz Borodziej / Artur Hajnicz (Hgg.), Kompleks wypędzenia, Kraków/Znak 1998; Bernadetta Nitschke, Wysiedlenie czy wypędzenie? Ludność niemiecka w Polsce w latach 1945–1949, Toruń, 2001; Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 127), Göttingen 1998; Joachim Bahlcke (Hg.), Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft, Köln 2005; William Niven, Germans as Victims. Remembering the past in contemporary Germany, Basingstoke 2006; Christian Lotz, Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete 1948–1972, Köln 2007; sowie zum europäischen Kontext: Norman M. Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in TwentiethCentury Europe, Boston 2001 [deutsche Ausgabe u. d. T.: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004]; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Von „Tabu“ oder „Tabuisierung“ sprechen: Michael Grottendieck, Egalisierung ohne Differenzierung? Verhinderung von Vertriebenenorganisationen im Zeichen einer sich etablierenden Diktatur, in: Thomas Großbölting (Hg.), Die Errichtung der Diktatur. Transformationsprozesse in der SBZ und in der frühen DDR, Münster 2003, 191–221, hier 208; Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegsgesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961, München 2004, 415, 518, 629, 1196; Hans-Werner Rautenberg, Die Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53/1997, 34–46, hier 45; Bernd Faulenbach, Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten

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Streit um die Erinnerungen entweder auf Ost- oder Westdeutschland, wohingegen vergleichende und beziehungsgeschichtliche Untersuchungen bislang selten anzutreffen sind. Der vorliegende Aufsatz will diese zwei Aspekte problematisieren. Er wird fragen, in welcher Weise die Geschichte der Ostgebiete und die Geschichte von Flucht und Vertreibung in den erinnerungspolitischen Kontroversen des geteilten Deutschland behandelt wurde, welche Deutungen der Geschichte konkurrierten, und wie sich die Deutungshoheiten und Kräfteverhältnisse in diesen Kontroversen entwickelten. Zur Untersuchung wird die Landsmannschaft Schlesien (LS), die sich als ein Akteur neben anderen in den erinnerungspolitischen Debatten engagierte, in den Mittelpunkt gerückt. Unterlagen der Landsmannschaft, insbesondere die Protokolle der Bundesdelegiertenkonferenzen und des Bundesvorstandes, bilden dazu die hauptsächliche Quellengrundlage. Zusätzlich konnten Archivalien des Bundesvertriebenenministeriums und des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen in der Bundesrepublik sowie der Umsiedler-Verwaltung und der Volkspolizei in der DDR ausgewertet werden. Die Analyse konzentriert sich auf den Zeitraum zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und dem Abschluss bzw. der Ratifizierung des Warschauer Vertrages 1970/72, in welchem die Bundesrepublik die Grenze an Oder und Neiße anerkannte. Die Landsmannschaft Schlesien gründete sich in der Bundesrepublik im August 1950, nachdem die westlichen Besatzungsmächte den Lizenzierungszwang für Vertriebenenorganisationen aufgehoben hatten. Sie verstand (und versteht) sich als Vertretung der aus Schlesien geflohenen, vertriebenen und ausgesiedelten Deutschen. Innerhalb des 1957/58 gegründeten Bundes der Vertriebenen ist die Landsmannschaft Schlesien eine von 21 Landsmannschaften.3 In der Bundesrepublik setzte und setzt sich die Landsmannschaft aus einzelnen Landesverbänden in den Bundesländern zusammen; diese wiederum bestehen aus Ortsgruppen. In diesen Ortsgruppen konnten solche Schlesier Mitglied werden, die nach 1945 an diesem Ort ihren neuen Wohnsitz gefunden hatten. Daneben gründeten sich im Laufe der Zeit sogenannte Bundesheimatgruppen. Im Unterschied zur Ortsgruppe sind in den Bundesheimatgruppen jene Schlesier organisiert, die vor 1945 in der

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jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51–52/2002, 44–54, hier 53; vgl. dazu auch die Debatte bei Jacques Poumet, Tabous de l’histoire dans les deux Allemagnes avant 1989 et après la réunification, in: Allemagne d'aujourd'hui 2009, 188/2, 76–96; von einer Instrumentalisierung sprechen Hans-Henning Hahn/Eva Hahn, Flucht und Vertreibung; in: Hagen Schulze / Etienne François (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2000, 336–351, hier 338. Zur Geschichte der Vertriebenenverbände vgl. Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004; Pertti Ahonen, After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990, Oxford 2003; Samuel Salzborn, Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Berlin 2000.

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gleichen Gemeinde oder Stadt in Schlesien gelebt hatten. In der DDR konnte sich keine geordnete Struktur der Landsmannschaft Schlesien entwickeln, da Polizei und Staatssicherheit dies unterbanden. Jedoch lassen sich bis in die sechziger Jahre hinein lokale Vereinsgründungen und Versammlungen von Vertriebenen beobachten. Zudem entwickelte sich bis zum Mauerbau 1961 ein reger Vertriebenen-Besuchsverkehr von Ost nach West wie auch vereinzelt in umgekehrte Richtung.4 Neben der Landsmannschaft Schlesien existiert seit 1950 noch eine eigenständige Landsmannschaft der Oberschlesier; die daraus entstehenden Problemlagen sind bereits an anderer Stelle erörtert worden und können daher hier außer Betracht bleiben.5 II. In die Auseinandersetzungen um die Erinnerungen an Flucht und Vertreibung sowie um die Erinnerungen an die Geschichte der deutschen Ostgebiete brachte sich die Landsmannschaft Schlesien auf zahlreichen Ebenen ein. Dazu gehörten verschiedene Publikationsformen (eigene Zeitungen, Flugschriften usw.), Versammlungen wie die zweijährig stattfindenden Bundestreffen der Schlesier sowie politische Lobbyarbeit bei Parteien und Ministerien in der Bundesrepublik. In den Presseerklärungen und Resolutionen, mit denen die Führung der Landsmannschaft zum politischen Geschehen Stellung bezog, etablierte sich rasch ein wiederkehrendes historisches Deutungsmuster: „Die beabsichtigte Verewigung der jetzigen Verwaltungsgrenzen in Ostdeutschland“, so hieß es in einer Entschließung der Bundesdelegiertenkonferenz der LS vom Oktober 1950, „[widerspricht] jedem geschriebenen und ungeschriebenen Recht [...]. Wir erwarten, dass die Deutsche Bundesregierung dem von der Sowjetzonenregierung begangenen Verrat an Deutschland auch weiterhin kompromisslos entgegentritt. Insbesondere bitten wir die Bundesregierung, den Westmächten vorzuschlagen, dass sie der vertragswidrigen Losreißung deutschen Landes durch Staaten des Ostblocks entschieden entgegenzutreten [sic!] und in bindender Form erklären, sich für die Wiederherstellung der alten deutschen Ostgrenzen einzusetzen.“6 Ähnlich protestierte die Bundesdelegiertenkonferenz von 1952 dagegen, dass die „deutsche Volksgruppe der Schlesier von den Stätten der von ihren Vätern und ihnen geschaffenen Kultur vertrieben wird.“7 „Dieser Schandfleck in der Geschichte der Völker“, so schloss eine Erklärung von 1954, „kann nur getilgt werden durch eine Wiedergutmachung, soweit eine solche möglich ist. Die Rückgewähr der Heimat an die schuld4 5 6 7

Vgl. Heike Amos, Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2009. Vgl. hierzu Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“, 45–54, Lotz, Die Deutung des Verlusts, 34f und 70. Archiv der Landsmannschaft Schlesien (AdLS) in Königswinter, Entschließung; in: Protokoll „Tagung der Delegierten der Landsmannschaft Schlesien für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und Berlin“, Köln, 13.10.1950. AdLS, Protokoll der Bundesdelegiertenkonferenz, 20./21.06.1952.

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los Vertriebenen ist somit das Geringste, was geschehen muss, wenn die Zivilisation Europas ihr Menschenantlitz wiedergewinnen soll. [...] Jede künftige Regelung, die nicht dem Rechte der Schlesier auf die Heimat und dem Rechte Deutschlands auf das ihm seit Jahrhunderten eigene Gebiet entspricht, schafft blutende Grenzen, die ständig den Keim tiefgehender Unruhen und damit eine Gefährdung des Weltfriedens in sich tragen.“8 In diesen und ähnlichen Resolutionen oder Presseerklärungen manifestierte sich eine Argumentation, an der die LS-Führung über Jahre hinweg beinahe unverändert festhielt: Sie betonte den deutschen Charakter, die deutsche Geschichte und Kultur des verlorenen Territoriums und nannte es ein Unrecht, was den Flüchtlingen und Vertriebenen durch die Zwangsaussiedlung widerfahren sei. Zudem betonte sie ein – nicht näher definiertes, aber stetig wiederholtes – „Recht auf die Heimat“. Aus diesen historischen und (vermeintlich) rechtlichen Faktoren leitete die Landsmannschaft schließlich ihre Forderung nach einer Revision der Oder-Neiße-Grenze und nach einer Rückgabe der strittigen Gebiete ab. Diese spezifische Verknüpfung von Geschichte und Politik kann in ihrer langfristigen Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden: Eine außenpolitische Forderung, nämlich die Regelung der Grenze zwischen zwei Staaten, wurde hier kausal aus den Eigenschaften eines Territoriums („deutsches“ Gebiet) und eines Ereignisses („Unrecht“ der Zwangsaussiedlungen) abgeleitet. Gerade weil also das Gebiet „deutsch“ und die Vertreibungen ein „Unrecht“ gewesen waren, müssten – so die Führung der Landsmannschaft – die Ostgebiete an Deutschland zurückgegeben werden und den Flüchtlingen und Vertriebenen eine Rückkehr gewährt werden. Mit einer solchen Argumentation griff die Führung der Landsmannschaft Aspekte und Muster auf, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert ausgebildet hatten und die insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg ganz ähnlich eingesetzt worden waren: Um die durch den Versailler Vertrag erzwungenen Gebietsabtretungen nach 1918 zu revidieren, hatten deutsche Politiker zu Weimarer Zeit ebenso mit „deutscher“ Geschichte und Kultur der strittigen Territorien sowie mit einem „Recht“ auf die abgetretenen Gebiete argumentiert. Polnische Politiker verwiesen hingegen auf die „polnische“ bzw. „slawische“ Geschichte der Gebiete, um den Anspruch Polens auf seine westlichen Gebiete zu begründen.9 Es gab lediglich vereinzelte Stimmen, die sich für die Überwindung solcher nationalistischen Konfrontationen einsetzten, auf deutscher Seite etwa Autoren in der Weltbühne wie Helmut von Gerlach.10 Nach 1945 lebten diese Konfrontationsmuster fort und vermengten sich mit neuen Elementen: Mit der Errichtung und dauerhaften Festigung unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Systeme in Ost und West tauchten nun auch politisch-ideologische Aspekte des Kalten Krieges in den erin8 9

AdLS, Protokoll der Bundesdelegiertenkonferenz, Frankfurt am Main, 15./16.07.1954. Vgl. Matthias Weber (Hg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde, Frankfurt am Main 2001. 10 Vgl. exemplarisch: Helmut von Gerlach, Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik, Berlin 1919; Ders., Die große Zeit der Lüge, Charlottenburg 1926.

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nerungspolitischen Debatten in der Bundesrepublik einerseits und der DDR und Polen andererseits auf. Im Streit um die Deutungshoheit über die Geschichte der Ostgebiete und der Zwangsaussiedlungen waren die Landsmannschaft Schlesien gemeinsam mit den anderen Vertriebenenverbänden zweifellos die wichtigsten Organisationen, die mit Verweis auf „deutsche“ Geschichte „deutsches“ Gebiet zurückforderten. Der Blick in Meinungsumfragen, die während der fünfziger Jahre unter der westdeutschen Bevölkerung erhoben wurden, sowie in Lageberichte, die SEDUntergliederungen und die Polizei zur Stimmung unter der DDR-Bevölkerung anfertigen, lässt darauf schließen, dass die LS mit ihrer Haltung in den ersten Jahren nach dem Krieg einen breiten Konsens innerhalb der Bevölkerung in West und Ost repräsentierte.11 Kritische Stimmen gegen das Geschichtsbild der Landsmannschaft Schlesien und deren ostpolitische Forderung meldeten sich daher zunächst nur vom Rand der Gesellschaft, so etwa von einigen Publizisten und Intellektuellen in den Frankfurter Heften, oder in den offiziellen Verlautbarungen von KPD und SED. Als politische Stimme von Gewicht kann zu dieser frühen Zeit lediglich die SEDPropaganda-Abteilung angesehen werden. Sie brachte sich mit einer Deutung in die Kontroverse ein, die der landsmannschaftlichen Sichtweise vollkommen entgegengesetzt war: Die Ostgebiete des Deutschen Reichs, so argumentierte die SED-Propaganda, waren seit dem 19. Jahrhundert von einer anhaltenden Abwanderung der deutschen Bevölkerung, vor allem der ärmeren Schichten, gekennzeichnet. Immer mehr Polen hätten in dieser Folge die Arbeit auf den Landgütern der deutschen Großgrundbesitzer und in den Fabriken der deutschen Unternehmer verrichtet. Daher kennzeichnete eine Ausbeutung polnischer Arbeiter durch deutsche Kapitalisten die Geschichte der Ostgebiete. Die Aussiedlung der Deutschen sei zudem in geordneter Weise von statten gegangen, denn betroffen seien – in der Lesart der SED – ja ohnehin lediglich Kapitalisten und Großgrundbesitzer gewesen. Angesichts der großen sozialpolitischen Umwälzungen, die die SED in der DDR ins Werk setzte, mochte sich eine solche Aussiedlung von Kapitalisten gleichsam als spezifische Form der Enteignung ausnehmen. Auch die Grenzziehung an Oder und Neiße erschien so gerechtfertigt, da schon lange vor 1945 polnische Fabrik- und Landarbeiter die Mehrheit der Bevölkerung in den strittigen Gebieten gestellt hätten. Zudem habe Polen eine Kompensation für den von deutschen Imperialisten begonnen Eroberungskrieg zugestanden.12 Dass es die SED im Osten, sekundiert von der KPD im Westen, war, die ein solches Geschichtsbild pflegte und damit lautstark ihre Anerkennung der OderNeiße-Grenze begründete, war für die Landsmannschaften im Westen eine nützli11 Jahrbuch der öffentlichen Meinung, hg. vom Institut für Demoskopie Allensbach, 1947–1955, 1957, 1958–1964, 1965–1967; sowie für Ostdeutschland exemplarisch: Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit, Berlin, MfS, BVfS Leipzig, Leitung, 00817/ 04, Informationsberichte: „Analyse über die Stimmung und Tätigkeit der Umsiedler“, Leipzig, 24. Mai 1956. 12 Zur Propaganda der SED vgl. detailliert Lotz, Die Deutung des Verlusts, 175–185 und 240– 246.

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che Argumentationshilfe: Denn innerhalb der politischen Eliten der Bundesrepublik und in der Bevölkerung war eine antikommunistische Grundhaltung ein breiter Konsens. Dies griffen die Vertriebenenverbände auf und stellten Gegner – ganz gleich welcher Couleur – unter Kommunismus-Verdacht: Wer das eindimensionale, ausschließlich deutsch geformte Bild einer heilen Welt Schlesiens, Ostpreußens oder Pommerns hinterfragte, wer die sozialen und wirtschaftlichen Spannungen zwischen Grundbesitzern und Landarbeitern thematisierte, wer mit Verweis auf den deutschen Eroberungskrieg eine Kompensation für Polen diskutieren wollte oder sich gar öffentlich für die Oder-Neiße-Grenze aussprach, den traf sofort die ganze Wucht antikommunistischer Agitation: Denn die Kommunisten in Ost-Berlin, so argumentierte die LS, würden die deutsche Geschichte der Ostgebiete anzweifeln und hätten die Grenze anerkannt, daher müsse jeder, der ähnliches behaupte oder fordere, Kommunist sein. Die Propaganda der SED zielte genau in die entgegengesetzte Richtung: Jeder, der von deutscher Geschichte im Osten Europas sprach, wurde pauschal als Revisionist oder Kriegstreiber diffamiert, da die Vertriebenenverbände von deutscher Geschichte sprachen und damit ihren Anspruch auf die Ostgebiete untermauerten. Dieser Anspruch, so argumentierte die SED, werde sich ohne Krieg nicht verwirklichen lassen, da jede polnische Regierung versichere, die gewonnenen Westgebiete auf keinen Fall wieder herzugeben. Solche erinnerungspolitische Agitation bekamen Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR, die Versammlungen organisierten oder zu Treffen in die Bundesrepublik reisen wollten, nicht nur verbal zu spüren, sondern auch durch Versammlungsverbote und teilweise sogar kurzzeitige Verhaftungen. Die SED-Propaganda kanzelte Vertriebenentreffen unterschiedslos als Revanchismus und Kriegstreiberei ab, ganz gleich welchen Charakter diese Treffen tatsächlich hatten. Das soll nicht heißen, dass sich Vertriebenentreffen in der DDR im fröhlichen Singen von Heimatliedern erschöpft hätten. Sehr wohl gab es auch Veranstaltungen, die handfeste politische Ziele artikulierten und auf denen antipolnische Ressentiments gepflegt wurden. Solche Unterschiede jedoch konnten oder wollten SED und Staatssicherheit nicht sehen: Jeder, der in irgendeiner Weise auf deutsche Geschichte im Osten Europas Bezug nahm, wurde als Revanchist und Kriegstreiber abgestempelt, da die Landsmannschaften genau diesen Verweis auf deutsche Geschichte zur Stützung ihrer Revisionsforderungen nutzten. Die SED, Staatssicherheit und Polizei beäugten in der DDR daher misstrauisch die lebhaften Netzwerke unter Vertriebenen, die sich aus ihren Herkunftsorten in Schlesien kannten. Wer als Organisator solcher Treffen zu erkennen war, den setzten Polizei und Staatssicherheit massiv unter Druck. Treffen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus einem Herkunftsort oder einer Herkunftsregion wurden daher zunehmend allein durch mündliche Terminübermittlung vereinbart. Dieses Vorgehen erwies sich bis weit in die fünfziger Jahre als sehr effektiv, wie

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etwa Versammlungen von 1000 bis 2000 Vertriebenen beispielsweise in Halle oder Leipzig zeigten.13 In der Gegenüberstellung der erinnerungspolitischen Agitation der Landsmannschaften einerseits und der SED andererseits zeigt sich, dass beide Seiten Geschichte als Argument im Streit um eine politische Frage, nämlich die Grenzziehung an Oder und Neiße, nutzten. Beide Seiten reduzierten dazu die vielfältige und komplexe Vergangenheit auf jene Ausschnitte, die für die jeweils eigene Argumentation im Grenzstreit brauchbar war. Zugleich achteten die Kontrahenten darauf, dass die gewählten Ausschnitte nicht aus der Luft gegriffen waren: Sehr wohl ließen sich Belege dafür finden, dass das Leben auf einem niederschlesischen Dorf in den 1920er Jahren einer heilen Welt glich, ebenso wie es problemlos möglich war zu beweisen, dass um die Jahrhundertwende die zahlreichen polnischen Arbeiter in den oberschlesischen Gruben und Hüttenwerken unter harten Arbeitsbedingungen litten. Die eigentlich erinnerungspolitische Dynamik erlangten solche Ausschnitte dadurch, dass sie für die gesamte Geschichte der Ostgebiete verallgemeinert wurden und in dieser Form als Argument für oder gegen die neue Grenze eingesetzt wurden. Langfristig entstand durch diese Konfliktstruktur ein erinnerungspolitischer Sog: Wo auch immer sich in der vielfältigen und komplexen Geschichte geeignete Anhaltspunkte oder Ausschnitte für das eigene Geschichtsbild boten, wurden diese schonungslos in die jeweils vereinfachten Argumentationsraster gepresst und sogleich für die je eigene politische Forderung – Anerkennung oder Revision der neuen Grenze – benutzt.14 Sich von diesem erinnerungspolitischen Sog freizuhalten, erforderte enorme Kraftanstrengungen und äußerst sensibles Argumentieren. Allenfalls Teilen der Kunst und Literatur, seit den sechziger Jahren auch einigen wissenschaftlichen Einrichtungen, gelang dauerhaft dieser Balanceakt.15 So stark die deutsche Teilung und die ideologischen Muster des Ost-WestKonflikts die erinnerungspolitischen Kontroversen der fünfziger und sechziger Jahre prägten, so sehr ginge man fehl, die Frontlinie dieser Debatten allein entlang der innerdeutschen Grenze zu ziehen. Zwar standen sich die Regierungen der DDR und der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre unversöhnlich in der 13 Zahlreiche Beispiele bei Manfred Wille/Steffi Kaltenborn, Die Vertriebenen in der SBZ/DDR, Bd. 3: Parteien, Organisationen, Institutionen und die „Umsiedler“ 1945–1953, Wiesbaden 2003, 337–403; Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“, 477–572. 14 Dieser erinnerungspolitische Sog zeigt sich nicht nur in den Kontroversen um das landsmannschaftliche Geschichtsbild, sondern z. B. auch im Streit um Straßennamen oder Landkarten, die deutsche Geschichte im östlichen Europa berührten, vgl. dazu: Christian Lotz, Roads to Revision. Disputes over Street Names Referring to the German Eastern Territories after the First and Second World Wars in the Cities of Dresden and Mainz, 1921–1972, in: Bill Niven / Chloe Paver (Hgg.), Memorialisation in Germany since 1945, Basingstoke 2010, 37–47; Christian Lotz, Die anspruchsvollen Karten. Polnische, ost- und westdeutsche Auslandsrepräsentationen und der Streit um die Oder-Neiße-Grenze (1945–1972), Leipzig 2011. 15 Vgl. beispielhaft die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Herder-Institut und den Vertriebenenverbänden, wie sie sich etwa im Bundestagsausschuss für Heimatvertriebene widerspiegelt: Archiv des Deutschen Bundestages, Ausschuss (22) für Heimatvertriebene, Sitzungen am 7. März 1963, 23. Oktober 1963, 3. Juni 1969 und 25. Juni 1969.

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Grenzfrage gegenüber und jede Seite förderte organisatorisch und finanziell die Verbreitung des je eigenen Geschichtsbildes. Innerhalb der deutschen Bevölkerung jedoch lässt sich keine Unterteilung in Ost und West feststellen. Vielmehr fanden sich in der Bundesrepublik und in der DDR Anhänger und Gegner der jeweiligen Deutungen. Die deutsche Teilung wirkte daher vor allem insofern auf die Debatten ein, als das Geschichtsbild der Landsmannschaft Schlesien und der übrigen Vertriebenenverbände seit den frühen fünfziger Jahren vom konträren Geschichtsbild der SEDPropaganda herausgefordert wurde. Diese Herausforderung bestand nicht auf der Ebene der öffentlichen Zustimmung, denn die Bevölkerung in der DDR und mehr noch in der Bundesrepublik war weit entfernt davon, die Deutung der Geschichte der Ostgebiete und der Geschichte von Flucht und Vertreibung, wie sie die SED propagierte, zu akzeptieren. Die Herausforderung bestand eher darin, dass die DDR-Regierung dauerhaft vorführte, dass ein deutscher Staat sehr wohl eine festgelegte Grenze mit Polen haben konnte. Zugleich zeigte die SED, dass sich die deutsch-nationalen Denkmuster, wie sie die Landsmannschaften pflegten, durchbrechen ließen – nicht ohne freilich eine deutsch-polnische Freundschaft zu inszenieren, die ebenso realitätsfern war wie die Heimat-Romantik der Landsmannschaften. Betrachtet man die Entwicklung der erinnerungspolitischen Kräfteverhältnisse im Zeitverlauf, so zeigt sich eine markante Verschiebung zwischen 1956 und Anfang der sechziger Jahre. Deutlich wird diese Zäsur nicht nur in den Quellen der Landsmannschaft Schlesien, die sich nach einer Phase voller Selbstbewusstsein und offensiver Rhetorik ab etwa 1956 in die Defensive gedrängt sah.16 Erkennbar ist die Verschiebung auch in den Quellen anderer Organisationen, die am erinnerungspolitischen Streit beteiligt waren, etwa innerhalb der Kirchen oder im Umfeld der SED-Propaganda, die sich ab 1956 deutlich im Aufwind befand.17 Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse wurde im Wesentlichen durch vier Faktoren bewirkt, die gemeinsam auftraten und dabei teilweise ineinandergriffen: Erstens führte die fortschreitende wirtschaftliche Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Bundesrepublik und in der DDR dazu, dass der soziale Druck auf die erinnerungspolitischen Kontroversen nachließ. Eine wachsende Zahl von Vertriebenen sah nicht mehr allein in einer Rückkehr in die Ostgebiete ihre Zukunft, sondern hatte begonnen, in der Bundesrepublik oder in der DDR einen Neuanfang aufzubauen. Zweitens sahen sich über zehn Jahre nach Kriegsende all jene, die an Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Osten festhielten, mit der Frage nach dem Realitätsgehalt solcher Hoffnungen und Wünsche konfrontiert. Drittens schwand bei den westlichen Verbündeten der Bundesrepublik die Unterstützung für die Grenzrevisionsforderung, da insbesondere die Vereinigten Staaten auf eine 16 Vgl. die Protokolle der Bundesdelegiertenkonferenzen der Landsmannschaft Schlesien aus den Jahren 1956 bis 1960, AdLS, Protokolle der Bundesdelegiertenkonferenzen 15./ 16.10.1955, 21.04.1956, 24./25.11.1956, 01.06.1957, 14.06.1958, 25.06.1959, 28.10.1960. 17 Vgl. dazu im einzelnen Lotz, Die Deutung des Verlusts, 162–174, 186–200, 233–239 sowie 247–256.

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Entspannung der internationalen Lage hinarbeiteten und Polens Reformbemühungen ab 1956 auch im Westen auf Sympathien stießen. Viertens rückten die zahlreichen Gerichtsverfahren gegen die Täter des NS-Regimes – besonders der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65 – den Eroberungskrieg und die Vernichtungspolitik des Dritten Reichs stärker ins öffentliche Bewusstsein, und so auch die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung. Die Art und Weise, wie die Landsmannschaft Schlesien und die übrigen Vertriebenenverbände vom „Unrecht“ der Vertreibung sprachen, stieß daher zunehmend auf Kritik. – Es muss hervorgehoben werden, dass diese vier Faktoren ihre Wirkung langsam ab 1956 entfalteten. Keineswegs vollzogen sich die Verschiebungen erinnerungspolitischer Kräfteverhältnisse innerhalb eines Jahres. Vielmehr muss für diesen Wandel die Zeit zwischen 1956 und mindestens 1963 angesetzt werden. Unter dem Einfluss der vier Faktoren rückte die Forderung nach einer Grenzrevision immer mehr aus der Mitte des politischen Spektrums ins konservative Lager und langfristig bis an dessen rechten bzw. rechtsextremistischen Rand. Auch die Landsmannschaft Schlesien und mit ihr zahlreiche andere Landsmannschaften rückten mehr und mehr in der politischen Landschaft nach rechts. Nach und nach büßten die Landsmannschaften an Deutungshoheit ein. Man ginge fehl anzunehmen, dass die SED-Propaganda in gleichem Maße an Einfluss in den erinnerungspolitischen Debatten gewinnen konnte. Vielmehr etablierte sich unter den – sehr verschiedenen – Gegnern der Landsmannschaften ein schmaler Grat eines Konsenses heraus, der Flucht und Vertreibung der Deutschen nun ursächlich auf den deutschen Eroberungskrieg im Osten zurückführte. Indem nun die Grenzrevisionsforderung nach rechts driftete, zog sie die Geschichte der Deutschen im Osten Europas sowie die leidvolle Geschichte von Flucht und Vertreibungen ebenso an den rechten Rand. Denn die Vertriebenenverbände hatten von Anfang an diese deutsche Geschichte kausal mit der Forderung nach Grenzrevision verknüpft: Über Jahre hinweg hatten die Landsmannschaften jeden Hinweis auf deutsche Geschichte östlich von Oder und Neiße und auf das Leid der Vertriebenen bei Kriegsende zu einem Argument gegen die neue Grenze verformt. Die SED-Propaganda hatte – aus entgegengesetzter politischer Richtung – genau den gleichen Effekt: Als Kriegtreiber und Revanchist konnte, besonders wirksam in der DDR, jeder diffamiert werden, der von Aspekten deutscher Geschichte östlich von Oder und Neiße sprach. ZUSAMMENFASSUNG In die erinnerungspolitischen Kontroversen brachte sich die Führung der Landsmannschaft Schlesien mit einer Deutung ein, welche die verlorenen Gebiete als „deutsches Land“, geprägt einzig von deutscher Kultur und Geschichte, charakterisierte und die das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen betonten. Mit dem Verweis auf diese deutsche Geschichte der Gebiete, auf das Leid der Vertriebenen sowie auf ein sogenanntes „Recht auf die Heimat“ begründete die Landsmannschaft ihre Forderung nach einer Revision der Oder-Neiße-Grenze. Als ihr

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schärfster Kontrahent zeichnete die SED-Propaganda-Abteilung eine Geschichte der Ostgebiete, die von sozialen Spannungen zwischen einer angeblichen Mehrheit polnischer Arbeiter und einer Minderheit deutscher Großgrund- und Fabrikbesitzer geprägt war. Da aus Sicht der SED demnach die Gebiete bereits lange vor 1945 mehrheitlich polnisch besiedelt waren, erschien auch die Grenzziehung an Oder und Neiße gerechtfertigt. Im Verlauf der Kontroverse lässt sich eine Vereinheitlichung und Politisierung von Erinnerung feststellen: Die Kontrahenten nutzen lediglich solche Ausschnitte aus der vielfältigen Geschichte, die sich in den jeweiligen Geschichtsbildern als Argumente im Streit um die Oder-Neiße-Grenze nutzen ließen. Auf diese Weise entstand ein erinnerungspolitischer Sog: Jeder Aspekt deutscher Geschichte, ganz gleich in welchem Zusammenhang und mit welchem Ziel er in der Debatte eingebracht wurde, wurde von der Landsmannschaft zu einem Argument gegen die neue Grenze stilisiert. Jeden Hinweis auf soziale und wirtschaftliche Konflikte in den Ostgebieten nutzte die SED-Propaganda hingegen zur Rechtfertigung dieser Grenze. Im Zeitverlauf zeigt sich, dass die Landsmannschaft Schlesien im Verbund mit den anderen Vertriebenenverbänden zunächst die Deutungshoheit über die Geschichte der Ostgebiete und die Geschichte von Flucht und Vertreibung beanspruchen konnte. Die erinnerungspolitischen Kräfteverhältnisse verschoben sich jedoch zwischen 1956 und Anfang der sechziger Jahre. Diese Verschiebung wurde durch vier Faktoren verursacht, und zwar die wirtschaftliche Integration der Vertriebenen, die mit fortschreitender Zeit nachlassenden Rückkehrhoffnungen, die Entspannungsbemühungen in der internationalen Politik sowie die Prozesse gegen Täter des NS-Regimes. Durch die Wirkung dieser vier Faktoren rückte die Forderung nach einer Revision der Oder-Neiße-Grenze ins rechte politische Abseits. Da diese Forderung zuvor mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte der strittigen Gebiete und auf das Leid der Vertriebenen begründet worden war, wurde mit der politischen Forderung auch die Beschäftigung mit dieser Geschichte ins Abseits gedrängt. Angesichts eines solchen Befundes erscheint es kaum möglich, den Begriff „Tabu“ oder „Tabuisierung“ zu verwenden, um den Umgang mit der Geschichte der Ostgebiete bzw. der Geschichte von Flucht und Vertreibung in beiden deutschen Staaten zu charakterisieren. Vielmehr zeigte die Analyse, dass beide Seiten – die Landsmannschaften und die SED-Propaganda – sehr wohl die Geschichte der Ostgebiete und von Flucht und Vertreibung thematisierten. Aber beide Seiten wählten jeweils nur Ausschnitte aus der vielfältigen und komplexen Geschichte der Deutschen im Osten Europas und der deutsch-polnischen Beziehungen, und zwar solche Ausschnitte, die sich wirksam als Argument im Streit um die Grenze einsetzen ließen.

DIE ENTSTEHUNG DER ‚DOKUMENTATION DER VERTREIBUNG DER DEUTSCHEN AUS OST-MITTELEUROPA‘ IM SPANNUNGSFELD VON WISSENSCHAFT UND VERTRIEBENENPOLITISCHEN INTERESSEN AM BEISPIEL DES UNGARN-BANDES Iris Thöres 1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Der vorliegende Aufsatz ist einer Zulassungsarbeit zum Ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien entwachsen, die im Oktober 2007 an der JuliusMaximilians-Universität in Würzburg eingereicht wurde. 1 Aufgrund der im Rahmen dieser Veröffentlichung geforderten Knappheit wird an dieser Stelle lediglich exemplarisch auf die Konflikte um die Entstehung und Veröffentlichung des Ungarn-Bandes eingegangen werden. Bezüglich der Probleme hinsichtlich der anderen Dokumentationsbände sei auf die entsprechenden Kapitel der Zulassungsarbeit verwiesen. Innerhalb dieses Aufsatzes soll darauf verzichtet werden, die Entstehungsgeschichte, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Wissenschaftlichen Kommission unter der Leitung des wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nicht unumstrittenen Theodor Schieder 2 darzustellen. Es sei lediglich auf die fundierten Veröffentlichungen Mathias Beers zu dieser Thematik hingewiesen. 3 1 2

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Iris Thöres, Die Entstehung der ,Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa’ im Spannungsfeld von Wissenschaft und vertriebenenpolitischen Interessen. Zulassungsarbeit, Würzburg 2007. Götz Aly, Theodor Schieder, Werner Conze oder die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000, 163–183; Mathias Beer, Der „Neuanfang“ der Zeitgeschichte nach 1945. Zum Verhältnis von nationalsozialistischer Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik und der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, in: Ebd., 274–301; Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 6/1991, 62–77; Lothar Gall, Theodor Schieder 1908–1984, in: Historische Zeitschrift, 241/1985, 1–25; Hans-Ulrich Wehler, Nachruf auf Theodor Schieder. 11. April 1908 – 8. Oktober 1984, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985) 1, 143–153. Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998) 3, 345–389; Ders., Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe – Entstehung – Ergebnis – Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50/1999, 99–109; Ders., Die Ost-Dokumentation.

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Die Quellen, die für diese Arbeit herangezogen wurden, befinden sich vornehmlich im Bundesarchiv in Koblenz (BA). Es handelt sich dabei in erster Reihe um Aktenbände aus dem Nachlass Theodor Schieders (N 1188). Des Weiteren sind jedoch auch Bestände des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (B 150 bzw. B 106) und Aktenbände der Nachlässe von Peter Rassow (N 1228) und Hans Rothfels ausgewertet worden. Die Zeitungsausschnitte, die in dieser Arbeit angesprochen werden, befinden sich fast ausschließlich im Aktenband 3084 des Schieder-Nachlasses. 2. DIE UNGARNDEUTSCHEN VERTRIEBENEN UND IHRE LANDSMANNSCHAFTLICHE VERTRETUNG IN DER BUNDESREPUBLIK Kennzeichnend für die ungarndeutschen Vertriebenen in der Bundesrepublik war, dass sie sich in zwei verschiedene Landsmannschaften 4 spalteten. Auf der einen Seite stand die 1949 von Ludwig Leber 5 gegründete Ungarndeutsche Landsmannschaft, auf der anderen Seite die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn mit Heinrich Reitinger an ihrer Spitze. Was die konkreten Konfliktpunkte zwischen den beiden ungarndeutschen Landsmannschaften waren, lässt sich auf Grund der lückenhaften Quellen- und Literaturlage nicht explizit sagen. Eventuell kann angenommen werden, dass es Auseinandersetzungen um die Rolle gab, die ihre Mitglieder in dem unter nationalsozialistischem Einfluss stehenden Ungarn spielten. Nachdem der Ungarländische Deutsche Volksbildungsverein (UDV) Ende 1940 von der ungarischen Regierung aufgelöst worden war 6, war Leber von 1941 bis 1946 als Referent im ungarischen Gewerbeministerium tätig gewesen. 7 Reitinger hingegen war bis zu seiner Vertreibung Mitglied des Volksbundes der

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Zur Genesis und Methodik der größten Sammlung biographischer Zeugnisse in der Bundesrepublik, in: Heinke Kalinke (Hg.), Brief, Erzählung, Tagebuch. Autobiographische Quellen zur Kultur und Geschichte der Deutschen in und aus dem östlichen Europa, Freiburg 2000, 23–50; Ders., Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (1953–1962). Ein Seismograph bundesdeutscher Erinnerungskultur, in: Jörg-Dieter Gauger / Manfred Kittel (Hgg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Sankt Augustin 2005, 17–35. Zu den deutschen Vertriebenenverbänden vgl. ausführlich Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004. Nähere Informationen zu Leber: Vgl. Anton Treszl, Wer ist wer? Erstes ungarndeutsches Biographielexikon, Grünstadt 1993, 93f; o. V., Dr. Ludwig Leber, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 23 (1974) 2, 124f. Norbert Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938–1944. Unter Horthy und Hitler (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 22), München 2002, 398; o. V., Rundschau: Stichwort Ludwig Leber, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 46 (1997) 2, 234. o. V., Rundschau: Stichwort Ludwig Leber, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 12 (1963) 3, 177.

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Deutschen in Ungarn 8, der aus dem Bedürfnis der „sich ethnisch artikulierenden [deutschen] Minderheit nach politischer Emanzipation und kultureller Selbstbehauptung“ entstand. 9 Die deutsche Bevölkerung Ungarns „wurde (…) vor einen Loyalitätskonflikt gestellt: entweder reihte [man] sich in den Volksbund ein, in dem nach dem Wiener Volksgruppenabkommen das Bekenntnis zur eigenen Ethnie zunehmend mit dem zum Nationalsozialismus verkoppelt war, oder aber [man] hielt sich vom Volksbund fern, was aus dem Blickwinkel der ungarischen Öffentlichkeit einem praktischen Verzicht auf die deutsche Identität gleichkam.“ 10 Im Laufe der weiteren Entwicklungen wurde der Volksbund immer mehr von der ungarischen Regierung, deren Ziel die Revision der durch den Vertrag von Trianon (4. Juni 1920) verlorenen Gebiete war, und dem nationalsozialistischen Regime, das den Volksbund für seine Volksgruppenpolitik dienstbar machen wollte, instrumentalisiert. Diese beiden Positionen, auf der einen Seite das Bekenntnis zur deutschen Ethnie mit all den damit verbundenen Konsequenzen und auf der anderen Seite die Distanzierung von der eigenen, deutschen Volksgruppe unter den gegebenen Umständen, könnten den Konflikt eröffnet haben, der sich bis in die Bundesrepublik hineinzog. Da es kaum Quellen zu den beiden ungarndeutschen Landsmannschaften gibt, ist es schwierig, die einzelnen Protagonisten dieser Auseinandersetzung und ihre Standpunkte zu verorten. So lässt es sich auch beispielsweise nicht feststellen, ob die beiden Landsmannschaften aus einer Spaltung heraus entstanden oder ob es von vorneherein zwei ungarndeutsche Vertretungen gab. Eine Quelle aus den Beständen des Bundesarchivs erhellt die Situation ein wenig: darin wird festgehalten, dass die Leber-Gruppe, unter der sich auch Matthias Annabring 11 findet, der ungarischen Regierung wohlwollend gesinnt ist. Als Gegenspieler Lebers werden Heinrich Mühl 12 und Johann Weidlein 13 dargestellt, die in scharfe Opposition zur ungarischen Staatsführung und zum LeberFlügel stünden. Eine Vermittlerrolle zwischen beiden Parteien soll Reitinger eingenommen haben. Doch wird nicht weiter erörtert, inwieweit er Erfolg gehabt 8 9 10 11 12 13

Friedrich Spiegel-Schmidt, Ungarndeutsche trauern um Heinrich Reitinger, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 49 (2000) 2, 175. Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen, 396. Ebd., 400. Nähere Informationen zu Annabring: Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 11f. Nähere Informationen zu Mühl: Vgl. o. V., Gedenktage, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 20 (1971) 3, 197. Johann Weidlein (1905–1994) stammte aus Murgau in der Schwäbischen Türkei (Ungarn). Er studierte ab 1925 Germanistik und Hungaristik in Budapest und wurde 1930 promoviert. Nachdem er zunächst von 1930 bis 1940 als Lehrer am Evangelischen Gymnasium in Szarvas gearbeitet hatte und daneben auch zu Fragen der Siedlungsgeschichte, -geographie, Mundarten und Flurnamen seiner Heimat geforscht hatte, wurde er 1940 der erste Direktor des deutschen Jakob-Bleyer-Gymnasiums in Budapest und wenig später Inspektor des gesamten deutschen Schulwesens in Ungarn. 1942 war er der einzige volksdeutsche Vertreter im ungarischen Landes-Bildungsrat. Weidlein habilitierte sich noch an der Universität Debrecen und fasste nach 1945 in Bayern als Lehrer wieder beruflich Fuß. Daneben war er weiter publizistisch tätig; seine Veröffentlichungen umfassen rund 400 Titel (Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 172f).

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hatte. 14 Auch an dieser Stelle müssen noch weitere Untersuchungen folgen, um den Sachverhalt aufzuklären. 3. KRITIK AM UNGARN-BAND AUS DEM BUNDESVERTRIEBENENMINISTERIUM VOR DEM ERSCHEINEN DES BANDES Bei der Dokumentensammlung für den Ungarn-Band 15 hatte sich der umtriebige in München lehrende ungarndeutsche Südosteuropahistoriker Fritz Valjavec 16 als unzuverlässig erwiesen. 17 Als Hans Booms 18 Ende Januar 1955 eine Dienstreise unternahm, um neue Quellensammler zu gewinnen, traf er unter anderem am 26. Januar mit Leber zusammen. Während dieser Unterredung bestätigte sich der Verdacht, den die Wissenschaftliche Kommission schon seit längerem 19 gegenüber den Ungarn-Dokumenten hegte: die von Valjavec gelieferten Berichte stammten vorwiegend von Landsleuten, die Anhänger des Volksbundes gewesen waren. Leber und die durch ihn vertretene Gruppe waren jedoch nicht dem Volksbund zuzurechnen, so dass ihre Erfahrungen und Positionen in den Quellen noch nicht repräsentiert waren. Um die Einseitigkeit des Quellenmaterials aufzuheben, fragte Booms an, ob Leber für eine Ergänzungssammlung zu den von Valjavec übermittelten Berichten bereit sei. Leber stellte sich sehr bereitwillig zur Verfügung. 20 Nachdem die Wissenschaftliche Kommission den Ungarn-Band 21 fertig gestellt hatte, übersandte sie ihn an das Bundesvertriebenenministerium. Zwei Herren, die dort tätig waren, äußerten daraufhin Kritik an dem Manuskript. Am 14. 14 BA, B 106/027375, Emigranten-Pressearchiv/Informationsrundschau, Juli–August 1952, Paginierung Nr. 25ff. 15 Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit Werner Conze, Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels, bearbeitet von Theodor Schieder. Bd. 2: Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Bonn 1956. 16 Nähere Informationen zu Valjavec: Anton Peter Petri, Biographisches Lexikon des Banater Deutschtums, Mühldorf 1992, Sp. 1991ff; vgl. zu Valjavecs Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando 10 b der Einsatzgruppe D und dessen möglicher Beteiligung bei der Ermordung von Juden in Czernowitz im Sommer 1941 den Aufsatz von Gerhard Grimm, Georg Stadtmüller und Fritz Valjavec. Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, in: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hgg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen (Südosteuropäisch Arbeiten, Bd. 119), Kempten 2004, 237–255. 17 Zu Valjavecs Tätigkeit vgl. v. a. Thöres, Dokumentation, Kapitel 4. 18 Hans Booms gehörte zum Mitarbeiterstab Schieders und wurde später Präsident des Bundesarchivs in Koblenz. 19 Bereits im Juli 1954 äußerte die Wissenschaftliche Kommission dies gegenüber dem Bundesvertriebenenministerium (BA N 1188/3076, Hans Booms, Bericht über eine Dienstreise zur Beschaffung von Quellenmaterial für die Dokumentation der Vertreibung Südost, 28.01. 1955). 20 Ebd. 21 Das Schicksal der Deutschen in Ungarn (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. 2), Bonn 1956.

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Dezember 1955 arbeitete Dr. Georg Goldschmidt 22, der zunächst dem UDV, dann aber dem Volksbund angehört hatte, eine Stellungnahme zum zweiten Band der „Dokumentation der Vertreibung“ aus. Allgemein beanstandete Goldschmidt, dass zu dem damaligen Zeitpunkt noch keine kritische Bearbeitung der Thematik möglich sei, da die Quellen hierfür noch „teils unbekannt, teils unzugänglich und teils recht fragwürdiger Art“ seien. 23 Aus diesem Grund könne man „nicht zu unanfechtbaren Forschungsergebnissen gelangen.“ 24 Des Weiteren bemängelte er, dass man für den politischen Teil der „Einleitende[n] Darstellung“ der „Dokumentation“ „zwei Pamphlete [verwende], deren ,Beweise’ quellenkritischen Prüfungen in keiner Weise [standhalten]“ würden. 25 Damit spielte Goldschmidt auf die Arbeiten von Matthias Annabring und Stefan Kertész an, die die Wissenschaftliche Kommission für ihre Darstellungen herangezogen hatte. Dabei bezog sich die Kritik Goldschmidts nicht nur auf die wissenschaftlichen Studien Annabrings und Kertész´, sondern auch auf deren Persönlichkeit. Annabring warf Goldschmidt beispielsweise vor, dass er „[im] Volksbildungsverein Dr. Bleyers nur zeitweise tätig und wegen Trunksucht kaum verwendbar“ gewesen sei. Des Weiteren habe er, obwohl kein Rechtsanwalt, in Stuttgart eine Anwaltskanzlei eröffnet. Nachdem dieser Betrug offenbar wurde, soll er das Büro geschlossen und als Historiker zu arbeiten begonnen haben. An Kertész bemängelt Goldschmidt, dass er sich als Aussiedlungsstaatssekretär bei dem Aussiedlungsaußenminister János Gyöngyösi und dem Aussiedlungsminister Ferenc Erdei für die Aussiedlung der Deutschen stark gemacht habe. Dementsprechend seien seine Studien in der Absicht geschrieben worden, zu beweisen, dass nicht die ungarische Regierung für die Vertreibung der Deutschen, sondern die Deutschen selbst dafür verantwortlich seien. 26 Vom Formalen aus betrachtet, erscheint es bemerkenswert, mit welcher Präzision Goldschmidt Seite um Seite der „Dokumentation“ die Urteile, in denen seiner Meinung nach die Wissenschaftliche Kommission fehl ging, verzeichnete. Doch er blieb nicht bei einer bloßen Kritik der „Dokumentation“ stehen. Er versuchte immer wieder, soweit dies im Rahmen seiner 19-seitigen Stellungnahme möglich war, sowohl die Ergebnisse der Studien Annabrings und Kertész´ als auch die Schlüsse, zu denen die Wissenschaftliche Kommission gekommen war und mit denen er nicht übereinstimmte, zu widerlegen, indem er auf die Ergebnisse anderer wissenschaftlichen Arbeiten verwies. Des Weiteren gab Goldschmidt auch oftmals Verbesserungsvorschläge zur Bearbeitung bestimmter Thematiken. Es ist anzunehmen, dass diese Äußerungen Goldschmidts dazu beigetragen haben, dass man von der Heranziehung der Studien Annabrings Abstand nahm. 22 Nähere Angaben zu Goldschmidt: Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 51. Ausführlicher: Anton Tafferner, Dr. jur. Georg Goldschmidt (1903–1989) zum Gedächtnis, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 39 (1989) 4, 321–327. 23 BA N 1188/3032, Dr. Georg Goldschmidt im BMVt, Stellungnahme, 14.12.1955. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. Die Verfasserin konnte die Anschuldigungen auf Grund der lückenhaften Quellen- und Literaturlage nicht überprüfen.

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Da man vor allem auf die von ihm in seinen Veröffentlichungen übersetzten ungarischen Gesetzestexte zurückgegriffen hatte, umging die Wissenschaftliche Kommission Annabrings Arbeiten, indem sie einen Übersetzer, der von dem Sprachdienst des Auswärtigen Amtes empfohlen wurde, die benötigten Texte neu ins Deutsche übertragen ließ. 27 Auf diese Weise versuchte man, die Zahl der Publikationen Annabrings, die man zur Erarbeitung des Bandes herangezogen hatte, zu reduzieren, um mögliche Kritik hinsichtlich dieses Punktes abzuschwächen. Die zweite Person aus dem Bundesvertriebenenministerium, die Kritik an dem Manuskript des zweiten Bandes äußerte, war Franz Hamm, der ebenfalls dem Volksbund angehört hatte. 28 Am 20. Dezember 1955 kam es zu einer Unterredung zwischen Gerhard Papke, ebenfalls Mitglied von Schieders Mitarbeiterstab, und ihm. Ein Einwand, der Hamm gegen die „Einleitende Darstellung“ geltend machte, war, dass die in der „Dokumentation“ beschriebenen Vorgänge weitaus komplexer seien, als dort aufgezeigt, und zu dem Zeitpunkt noch nicht in ihrem vollen Ausmaß zu erfassen seien. Des Weiteren bemängelte Hamm, dass in der „Dokumentation“ Gegebenheiten, die zwar als solche belegt werden können, aneinandergereiht werden, aber diese in ihrer Gesamtheit ein falsches Bild wiedergäben. So seien beispielsweise die SS-Aktionen gemäß den Tatsachen referiert, doch werde nicht beleuchtet, was sich dahinter „an wirklichem lauterem Idealismus (…), an ehrlicher Begeisterung für den Kampf gegen den Kommunismus“ verberge. 29 Diese Darstellungsweisen in der „Dokumentation“ unterstützten eine immer offensichtlicher zu Tage tretende Entwicklung in der BRD, denn „es zeichne sich ganz allgemein in der Bundesrepublik immer mehr ab, daß man die Volksdeutschen als die eigentlichen Nationalsozialisten kennzeichnen wolle, während in Wirklichkeit der Nationalsozialismus in den nicht reichsdeutschen Gebieten eine völlig andere Rolle gespielt habe, als in Innerdeutschland.“ 30 Papke entgegnete diesen Beanstandungen, dass es sich bei der „Dokumentation“ in erster Linie um ein geschichtswissenschaftliches Werk handele und die politische Dimension, die die „Dokumentation“ eröffne, zunächst zweitrangig sei. Die Besprechung zwischen Hamm und Papke endete mit keinem Kompromiss hinsichtlich der Gestaltung der „Dokumentation“, beide Seiten blieben bei ihrem Standpunkt. Doch

27 BA N 1188/3047, 78. Rundschreiben, 17. Juli 1956. 28 Nähere Informationen zu Hamm: Vgl. Roland Vetter, Sohn und Zeuge des Jahrhunderts. Abschied von Franz Hamm, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 37 (1988) 4, 311–313. Weiterführend zu dem Leben von Hamm und zur „Deutschen Evangelischen Kirche Südungarns“ siehe in jeweiligen Aufsätze, in: Georg Wild (Hg.), Franz Hamm. Festschrift zum 80. Geburtstag (Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Reihe B: Wissenschaftliche Arbeiten, Bd. 39), München 1981. Vgl. auch Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2013, 455–457. 29 BA N 1188/3032, Dr. Papke an Herrn Prof. Dr. Schieder, Bericht über eine Unterredung zwischen Herrn Hamm und Dr. Papke am Dienstag, den 20.12.1955, gezeichnet Papke, 04.01.1956. 30 Ebd.

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„verlief [die Unterredung] trotz der sehr entgegengesetzten Meinungen in sehr freundlicher und verbindlicher Form.“ 31 Im 65. Rundschreiben an die Wissenschaftliche Kommission teilte Schieder am 22. Dezember 1955 mit, dass er von dem Ministerialbeamten Schlicker dahingehend unterrichtet worden sei, dass zwei Herren aus dem Bundesvertriebenenministerium, die dem ungarischen Deutschtum entstammten, heftige Kritik an dem Manuskript des Ungarn-Bandes geübt hätten. Die beiden Herren seien auf verschiedenen politischen Seiten in Ungarn tätig gewesen, so dass der eine beanstande, dass die Einleitung eine zu scharfe Bewertung der ungarischen Politik enthalte, der andere jedoch mokiere, dass der „letzte Teil der Einleitung als eine Diffamierung des ungarnländischen Deutschtums“ anzusehen sei. 32 Schlicker sagte daraufhin Schieder zu, ihm die schriftlichen Voten dieser Herren zukommen zu lassen. 33 Es lässt sich mit Hilfe des 65. Rundschreibens die allgemeine Haltung beschreiben, mit der Schieder und die Wissenschaftliche Kommission solchen Beurteilungen begegnete. Schieder bekundete, dass seiner Meinung nach die politische Tätigkeit dieser beiden Herren in Ungarn sie als glaubwürdige, unvoreingenommene Kritiker diskreditiere. Des Weiteren sah Schieder in solchen Kritiken auch den Versuch gewisser Gruppen, Einfluss auf die Darstellung der „Dokumentation“ zu nehmen. Damit der Standpunkt und die wissenschaftliche Freiheit der Kommission gewahrt würden, behielt es sich Schieder vor, falls diese Stellungnahmen gemäß seiner Bewertung keine sachlich relevanten Aspekte enthielten, diese Voten wieder ohne weiteren Kommentar an Schlicker zurückzusenden. 34 Betrachtet man die Art und Weise, in welcher Kritik an dem Manuskript des Ungarn-Bandes geübt wurde, so muss man feststellen, dass diese in einer präzisen und kooperativen Form dargebracht wurde. 4. DIE KRITIK AUS DEM UMFELD DER UNGARNDEUTSCHEN VERTRIEBENEN NACH DEM ERSCHEINEN DES UNGARN-BANDES Der größte Kritiker des 1957 veröffentlichten zweiten Bandes der „Dokumentation“ war der oben bereits erwähnte Johann Weidlein. Die Auseinandersetzungen mit ihm hatten allerdings eine Vorgeschichte, die mit der Publikationstätigkeit Weidleins zu tun hat: Der Göttinger Arbeitskreis 35 beabsichtigte, Weidleins Buch 31 32 33 34 35

Ebd. BA N 1228/111, 65. Rundschreiben, 22.12.1955. Ebd. Ebd. Kai Arne Linnemann, Das Erbe der Ostforschung. Zur Rolle Göttingens in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, Marburg 2002, 124. Boris Meissner / Alfred Eisfeld (Hgg.), 50 Jahre Göttinger Arbeitskreis e.V. (Veröffentlichung des Göttinger Arbeitskreises, Bd. 473), Göttingen 1998, 49; Joachim Freiherr von Braun, Fünf Jahre Arbeit für den Deutschen Osten. Der Göttinger Arbeitskreis. Tätigkeitsbericht zu seinem fünfjährigen Bestehen, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. Bd. 2, Frankfurt am Main 1952, 208– 251.

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„Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ entgegen dem ausdrücklichen Willen des damaligen Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer 36 zu veröffentlichen. Es liegt ein Vermerk vom 15. Februar 1957 über ein Ferngespräch zwischen dem Ministeriums-Mitarbeiter Kleberg und dem Geschäftsführer des Göttinger Arbeitskreises Joachim von Braun vor, aus dem hervorgeht, dass Kleberg Braun darauf hinwies, dass aufgrund der ungarischen Revolution von 1956 der UngarnBand der „Dokumentation“ zurückgestellt werde 37 und dass auch Weidleins Buch erst später erscheinen solle, da „die Auslieferung [möglicherweise] sehr ernste Folgen auslösen werde, da sie geeignet sei, die Politik des Herrn Bundeskanzlers zu konterkarieren.“ 38 Des Weiteren beanstandete Kleberg, dass in Weidleins Buch Franz Rothen 39 vom Bundesvertriebenenministerium und Michaelis 40 vom Bundespresseamt „aufs schärfste angegriffen und beleidigt, wenn nicht verleumdet“ würden. 41 Braun entgegnete Kleberg, dass „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ bereits ausgeliefert und beim Verlag eingegangen sei. Ein Stopp des Buches sei nur durch einen Beschluss des Vorstandes des Göttinger Arbeitskreises möglich. Braun war wegen des ministeriellen Vorgehens 42 deutlich verstimmt, so verhielt er sich „nicht nur reserviert, sondern außerordentlich unfreundlich und polemisch.“ 43 Ein weiterer Vermerk vom 2. März 1957 berichtet, dass am 1. März ein Treffen zwischen dem Göttinger Arbeitskreis, vertreten durch Karl O. Kurth und Braun, und dem Ministerium, repräsentiert durch Staatssekretär Peter Paul Nahm 44 sowie die Beamten Kleberg, Schlicker und Zahn, stattfand. Man vereinbarte, dass alle Passagen in Weidleins „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“, die einen persönlichen Angriff gegen Rothen und Michaelis enthielten, beseitigt werden 45 und dass dem Buch ein Vorspann vorgeschaltet werde, in dem der Göttinger Arbeitskreis erkläre, „daß es sich um einen Beitrag zu dem Problem der Ungarn36 Zu Oberländer vgl. ausführlich Philipp-Christian Wachs, Der Fall Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt am Main 2000. 37 Im 83. Rundschreiben informierte Schieder die Wissenschaftliche Kommission: „Vertraulich teile ich mit, daß der Bundeskanzler an Bundesminister Oberländer ein Schreiben gerichtet hat, in dem die Veröffentlichung des Ungarnbandes als zur Zeit nicht ratsam bezeichnet wird.“ (BA N 1228/111, 83. Rundschreiben, 03.01.1957). 38 BA B 150/5630, Vermerk, gezeichnet Schlicker, 15.02.1957. 39 Nähere Informationen zu Rothen: Vgl. Josef Gaßner, Franz Rothen, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 14 (1965) 2, 111f. Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen, 102. Ausführlich zu hungaristischen Bewegung: Margit Szöllösi-Janze, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschaft, München 1989. 40 Die Verfasserin konnte keine weiteren Informationen über Michaelis erhalten. 41 BA B 150/5630, Vermerk, gezeichnet Schlicker, 15.02.1957. 42 Genauer: Thöres, Dokumentation, Kapitel 4. 43 Ebd. 44 Vgl. Günter Buchstab, Nahm, Peter Paul, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 18, Berlin 1997, 722 45 Möglicherweise ist hierfür auch ausschlaggebend gewesen, dass Rothen bekundete, dass er gegen Weidlein „wegen Beleidigung bzw. Verleumdung“ zu klagen wünsche und sich Schlicker dafür aussprach, dass Rothen von Seiten des Ministeriums die Genehmigung dazu erteilt werden solle. (BA B 150/5630, Vermerk, 20.02.1957).

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deutschen handele, mit dem der Göttinger Arbeitskreis sich nicht identifiziere.“ 46 Weiter kam man überein, dass „mit Rücksicht auf die weiteren Bände der Dokumentation eine enge Fühlungnahme zwischen dem Göttinger Arbeitskreis und den zuständigen Ministerien, BMVt, Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und Auswärtiges Amt, erfolgen solle, ehe Publikationen veröffentlicht werden.“ 47 Eine weitere Unterredung folgte am 2. März zwischen Kurth und Kleberg, in der man die Formulierung des Vorwortes für „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ miteinander absprach. 48 Der Titel von Weidleins Buch „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ erweckte den Anschein, dass es inhaltlich auf die ungarische Revolution im Jahr 1956 anspiele. Dieser Eindruck wird durch den Untertitel „die ungarische Wendung“ noch weiter unterstützt. Tatsächlich beschäftigte sich Weidleins Schrift mit dem Schicksal des Deutschtums in Ungarn in den Jahrzehnten vor 1946, wobei implizit auch ein Zusammenhang zwischen der Vertreibung der Ungarndeutschen und der kommunistischen Machtübernahme in Ungarn hergestellt wurde. Augenfällig ist aber auch die Ähnlichkeit mit dem Titel des zweiten „Dokumentation“Bandes, der „Das Schicksal der Deutschen in Ungarn“ heißt. 49 So konnte der uninformierte Käufer auf Grund des Titels sowohl einen Bezug zur aktuellen politischen Lage in Ungarn als auch eine Nähe zum Ungarn-Band der „Dokumentation“ in das Buch hineininterpretieren. Aus der Wahl dieses schwammigen Titels und den Bestrebungen des Göttinger Arbeitskreises bzw. Weidleins 50, das Buch unbedingt veröffentlichen zu wollen, lässt sich erkennen, dass man sich die Aktualität der Ereignisse in Ungarn und deren Medienpräsenz zu Nutze machen wollte, wofür eine baldige Publikation unerlässlich gewesen wäre. Aber der Göttinger Arbeitskreis musste sich dem Druck 51 des Bundesvertriebenenministeriums 46 BA N 1188/3032, Vermerk, 02.03.1957. Schieder urteilte über Weidleins Buch: „Weidlein behandelt das Schicksal der Ungarndeutschen in den letzten Jahrzehnten in einer sehr einseitigen zum Teil außerordentlich aggressiven Form. Ich bestreite keineswegs viele der von Weidlein vorgebrachten Tatsachen, die auch durch die Benutzung madjarischer Literatur gestützt werden, (…). Als eine wissenschaftliche Untersuchung kann ich die Schrift von Herrn Weidlein nicht bezeichnen, da sie einerseits um Anklage, andererseits um Rechtfertigung bemüht ist und nicht einen objektiven Standpunkt anstrebt.“ (BA N 1188/3034, Theodor Schieder an Dr. Schlicker, 28.02.1957). 47 BA N 1188/3032, Vermerk, 02.03.1957. 48 Ebd., Vermerk, gezeichnet Schlicker, 04.03.1957. 49 Am 28. Februar 1957 machte auch Schieder Schlicker auf die Implikationen des Titels und dessen Ähnlichkeit mit dem zweiten „Dokumentation“-Band aufmerksam (BA N 1188/3034, Theodor Schieder an Dr. Schlicker, 28.02.1957). 50 In den durchgesehenen Beständen liegt kein Schreiben Weidleins bezüglich der Veröffentlichung seines Buches „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ vor. Doch geht aus dem Vermerk vom 20.02.1957 hervor, dass es diesbezüglich einen Briefwechsel zwischen Weidlein, dem Bundesminister und dem Bundesministerium gab. (BA B 150/5630, Vermerk, 20.02.1957). 51 Möglicherweise hatte das Bundesvertriebenenministerium mit einer Streichung der finanziellen Unterstützung durch den Bund gedroht. „Gewiß bleibt es nach demokratischen Grundsätzen privaten Stellen unbenommen zu publizieren, ohne sich vorher an amtliche Stellen zu wenden. Im Falle des Göttinger Arbeitskreises liegen aber die Verhältnisse anders. Es ist im

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beugen und es wurde vereinbart, dass Weidleins Buch, erst nachdem der UngarnBand der „Dokumentation“ der Öffentlichkeit übergeben war, herausgebracht werden sollte. 52 „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ wurde erst 1958 ausgeliefert. 53 Vor dem eben beschriebenen Hintergrund müssen die nun folgenden Ereignisse gesehen werden: Am 23. April 1957 wandte sich Weidlein in einem Brief an Oberländer, in dem er mitteilte, dass er die „Dokumentation“ für „unwissenschaftlich, tendenziös und voller primitiver Unwahrheiten“ halte und einige Kapitel „den Eindruck [machten], als seien sie im Interesse der Vertreiber geschrieben worden.“ 54 Dem folgte am 12. Januar 1958 ein weiteres Schreiben Weidleins, in dem er Oberländer darüber in Kenntnis setzte, dass er eine Quellenpublikation plane, die sich intensiv mit der Geschichte der Ungarndeutschen auseinandersetze, um „ähnliche Verirrungen [zu] verhindern, wie sie der Wissenschaftlichen Kommission mit dem Herrn Prof. Schieder in der Dokumentation über das ,Schicksal der Ungarndeutschen’ nicht zum Ruhme der deutschen Wissenschaft, jedoch zum Schaden des deutschen Volkes unterlaufen [seien].“ 55 Weiter bat er das Bundesvertriebenenministerium seine Publikation mit 4000 DM zu unterstützen, „um der irrigen Auffassung vorzubeugen, als hätte das Bundesministerium mit dem unwissenschaftlichen, tendenziösen und von Einstellungen wimmelnden Werk Dr. Schieders Näheres zu tun.“ 56 Dieser Brief Weidleins wurde von Schlicker an Schieder weitergeleitet. Nach dessen Lektüre zeigte sich Schieder äußerst erbost und bat, „daß Herr Bundesminister Oberländer Herrn Dr. Weidlein auf diese Zumutung die entsprechende Antwort erteilten“ solle. Am 3. März 1958 folgte das Antwortschreiben des Ministeriums an Weidlein. Kleberg machte Weidlein auf schärfste Weise die vom Ministerium eingenommene Haltung deutlich und verweigerte die geforderte Geldsumme. Weiter führt Kleberg aus, dass die Namen Schieder, Rothfels, Laun und Conze Garanten für eine präzise und wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik seien. Aber da er vor allem Schieder „so unsachlich

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In- und Ausland allgemein bekannt, daß der Göttinger Arbeitskreis und andere Institute durch erhebliche Bundesmittel gefördert werden und damit als offizielle Organe gelten (…)“, heißt es in einem Vermerk Schlickers. (Ebd.). BA N 1188/3032, Vermerk, gezeichnet Schlicker, 04.03.1957. Johann Weidlein, Schicksalsjahre der Ungarndeutschen. Die ungarische Wendung (Veröffentlichung des Göttinger Arbeitskreis, Bd. 171. Gleichzeitig: Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis, Bd. 2), Würzburg 1957. BA N 1188/3047, 93. Rundschreiben, 23.05.1957, Anlage 1, Dr. habil. Johann Weidlein, Oberstudienrat, an den Bundesminister Theodor Oberländer, 23.04.1957. Aus diesem Schreiben geht auch hervor, dass Weidlein einen Antrag gestellt hatte, um die Forschungsarbeiten an dem Ungarn-Band der „Dokumentation“ zu unterstützen, den er in diesem Brief offiziell zurückzog. BA N 1188/3034, Abschrift, Dr. Johannes Weidlein, Oberstudienrat, an Herrn Bundesminister Dr. Theodor Oberländer, 12.01.1958. Ebd.

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und beleidigend angegriffen“ habe, beabsichtige er nicht, weiter auf Weidleins Vorwürfe zu antworten. 57 Noch im selben Jahr gab Weidlein sein Buch „Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930–1950“ im Selbstverlag heraus. 58 Seine Publikation wurde in den folgenden Monaten in der ungarndeutschen Vertriebenenpresse intensiv besprochen. Dabei ist zu verzeichnen, dass Weidlein in vielen Artikeln „als unerschrockene[r] Verfechter und Verteidiger der historischen Wahrheit“ angesehen wurde. 59 Er wurde als „Anwalt der donauschwäbischen Ehre“ gefeiert, 60 der in Frontstellung gegen die „Bonner Pseudodokumentation“ wahrheitsgetreu über die Vorgänge des Zeitraums berichte. 61 Die schärfsten Kritiken, die sich für Weidleins Buch und gegen die „Dokumentation“ aussprachen, stammen von Anton Tafferner 62 und Fritz Zimmermann 63. Sowohl Tafferners Artikel 64 als auch der Zimmermanns erschienen in der Ausgabe vom 6. September 1957 „Des Donauschwaben“, dem „Bundesorgan der Landsmannschaft der Donauschwaben“ 65. 57 Ebd. 58 Johann Weidlein, Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930–1950, Schorndorf 1958. Unklar ist, ob Weidlein versuchte, dieses Buch ebenfalls über den Göttinger Arbeitskreis zu veröffentlichen, und ob man von Seiten des Göttinger Arbeitskreises auf Grund der mit dem Bundesministerium getroffenen Vereinbarung vom 1. März 1957 nicht darauf einging. 59 Anton Tafferner, Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten (1930–1950), in: Der Donauschwabe 9 (6. September 1959) 36, 7. 60 Ebd. 61 Fritz Zimmermann, Ohne Titel, in: Burgenländisches Leben. Zitiert nach: Stimmen zur Dokumentensammlung des Dr. Weidlein, in: Der Donauschwabe 9 (6. September 1959) 36, 7. 62 Anton Tafferner (1910–2007) stammte aus Boglar in Nordwestungarn. Er studierte Latein, Deutsch und Geschichte und wurde 1940 an der Universität Budapest promoviert. Von 1941 bis 1944 unterrichtete er, wie Weidlein, am deutschen Jakob-Bleyer-Gymnasium in Budapest. Nebenbei beschäftigte er sich mit der donauschwäbischen Geschichte. Nach Ausweisung und Gefangenschaft nahm er seine Tätigkeit als Lehrer wieder auf. Seit 1952 war er Mitglied des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft Donauschwäbischer Lehrer. Nach seiner vorzeitigen Pensionierung 1961 widmete sich Tafferner ausschließlich der historischen Publizistik. Seine wichtigste Veröffentlichung stellt das fünfbändige „Quellenbuch zur donauschwäbischen Geschichte“ dar, das zwischen 1974 und 1995 erschien. Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 160f. Ausführlicher: Ingomar Senz, Anton Tafferner, ein Historiker, der „von unten“ kommt, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 40 (1991) 2, 115–119; vgl. ferner: Klaus Loderer, Anton Tafferner † Der Grand-Seigneur der donauschwäbischen Geschichtsschreibung ist tot, in: Unsere Post, Januar 2008, 1f. 63 Fritz Zimmermann konnte von der Verfasserin nicht weiter identifiziert werden. 64 Anton Tafferner, Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten (1930–1950), in: Der Donauschwabe 9 (6. September 1959) 36, 7. 65 Die „Donauschwäbische Rundschau“ wurde im November 1951 gegründet und erschien wöchentlich in einer Auflage von circa 10 000 Exemplaren. Herausgeber und Schriftleiter war Leopold Rohrbacher, der 1957 von Franz Schuttack abgelöst wurde. Ab 1958 wurde die Zeitung in „Der Donauschwabe“ umbenannt. Die Tendenz des Blattes wird als „heimatlich, unparteiisch, unabhängig“ charakterisiert; vgl. Kurth, Karl O. (Hg.), Handbuch der Presse der Heimatvertriebenen (Veröffentlichungen des Göttinger Arbeitskreises, Bd. 76), Göttingen 1953, 212.

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Schieder verfasste nach dem Erscheinen dieser Stimmen im „Donauschwaben“ einen Brief an Franz Schuttack, 66 den Schriftleiter des Donauschwäbischen Heimatverlages. Er wies in diesem Schreiben die Anschuldigungen, die sowohl ihm als auch der Wissenschaftlichen Kommission gemacht wurden, als „unberechtigt und […] unangebracht“ zurück und er behielt es sich vor, an gegebener Stelle darauf zu reagieren. Außerdem warf Schieder Schuttack vor, dass „ihm die völlig[e] Unsinnigkeit“ der Angriffe Zimmermanns „nicht verborgen [hätte] bleiben dürfen“. 67 Schuttack leitete Schieders Schreiben an Tafferner, Zimmermann und Weidlein weiter, die ihrerseits wiederum dazu Stellung bezogen. Weidlein ging in seinem Antwortschreiben explizit auf ein Argument ein, das bereits im Artikel Tafferners angeklungen war: Er sprach Wissenschaftlern, die sich bisher noch nicht als Experten der Problematik profiliert hatten, die Kompetenz ab, sich sachkundig mit der Thematik zu beschäftigen und behauptete, dass ein unmittelbar Betroffener größeren Einblick in die Vorgänge gehabt habe, als sich Forscher im Nachhinein aneignen könnten. 68 Weiter vermerkte Weidlein, dass bisher nur eine einzige Begründung für die wissenschaftliche Korrektheit und für das wahrheitsgetreue Bild des Ungarn-Bandes zu vernehmen gewesen sei, nämlich dass „diese Dokumentation (…) von ,großen Namen‘ durchgeführt worden“ sei. Dieser Aussage folgt der markige Satz: „In der Wissenschaft gelten jedoch keine ,großen Namen‘, sondern Argumente.“ Abschließend forderte Weidlein Schieder noch zu einer sachlichen Auseinandersetzung über das Thema in der Presse auf. 69 Tafferners Schreiben vom 30. November 1959 wirft Schieder vor, dass die „Dokumentation“ einseitig ausgerichtet sei; dass man sich nur Informationen von der Gegenpartei eingeholt habe, um dann die Volksbundler als Nazis hinstellen zu können. Weiter führte Tafferner an, dass der Dienst bei der Waffen-SS ein Kampf gegen den Bolschewismus gewesen sei, den man in Nachhinein „als Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinstell[e]“. Gleichfalls werde der seit 1920 andauernde „Kampf um die minimalsten Volkstumsrechte als nazistisch hin[ge]stellt, nur weil sie auf Befehl Hitlers durchgesetzt“ worden seien. Letztendlich sei aber der ungarnländische Volkstumskampf sowohl vom Dritten Reich als auch von den Magyaren „ausgeschmiert“ worden. Abschließend hielt Tafferner noch fest, dass er Passagen der „Dokumentation“ durchaus positiv bewerte, „aber das ganze Werk (…) an der Tendenz [kranke] und (…) deshalb abzulehnen [sei].“ 70 Diesen beiden Briefen folgte ein 10-seitiges Schreiben Zimmermanns, das sich im Ton freundlicher und kooperativer zeigte als die ersten beiden. 71 Aber in manchen Passagen wirken die konzilianten Äußerungen Zimmermanns herablassend. Argumentativ bewegen sich Zimmermanns Ausführungen in Stereotypen und Schwarz-Weiß66 Nähere Informationen zu Schuttack: Vgl. Petri, Biographisches Lexikon, Sp. 1782ff. 67 BA N 1188/3032, Abschrift, Prof. Schieder an den Donauschwäbischen Heimatverlag, zu Händen von Herrn Schuttack, 12.11.1959. 68 Ebd., Dr. Johann Weidlein, Studiendirektor, an Herrn Schriftleiter Franz Schuttack, 26.11. 1959. 69 Ebd. 70 Ebd. 71 Ebd., Fritz Zimmermann an Theodor Schieder, 01.12.1959.

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Malerei. Indem er Beispiele aus der ungarischen Geschichte zitiert, möchte Zimmermann beweisen, „dass Ungarn in allen Jahrhunderten seiner Geschichte immer wieder zum Osten überschwenkte“. So sei auch die Situation im 20. Jahrhundert: Die Ungarn fühlten sich nicht dankbar dem Westen gegenüber, weil man ihnen Ödenburg, das Ostburgenland und weitere Randgebiete hinterlassen hatte, sondern sie glaubten „von Deutschland ,verraten, betrogen und im Stich gelassen’ worden“ zu sein, was für sie ein ausreichender Grund war, „selbst Verrat zu begehen.“ Die „Dokumentation“ verkenne dies und stelle die Ungarn in einem falschen Licht dar. Zimmermann erklärt weiter, dass die Verirrungen Schieders auch begrüßenswert seien. Denn wenn sich Schieder nochmals mit der Thematik eingehend beschäftige und zu dem Schluss komme, dass die „Dokumentation“, die „von einem vorbildlichen europäischen Geist und dem Bemühen um größte Mäßigung“ verfasst wurde, die ungarischen Vorgänge nicht wahrheitsgetreu wiedergebe und eine Revision im Sinne Tafferners, Weidleins und Zimmermanns nötig sei, die revidierte Darstellung dadurch deutlich an Glaubwürdigkeit gewinne. 72 Schieder verfasste seinerseits eine Antwort auf diesen Brief Zimmermanns. Als Entwurf legte Schieder diesen dem 137. Rundschreiben an die Wissenschaftliche Kommission bei und bat die Mitglieder der Kommission Stellung dazu zu beziehen. In diesem Schreiben äußert Schieder, dass er erst von Zimmermann eine Erklärung hinsichtlich der oben zitierten Sätze aus dessen Artikel im „Burgenländischen Leben“ erwarte, bevor er inhaltlich auf dessen Brief vom 1. Dezember 1959 eingehe. Schieder fragt gezielt bei Zimmermann nach, ob dieser sagen möchte, dass die Wissenschaftliche Kommission sich „bisher von ungarischen Beratern hinters Licht [habe] führen [lassen]“. Wenn dem so sei, auf welche Quellen sich Zimmermann berufen könne, um diese Äußerung zu beweisen und welches denn diese ungarischen Berater seien. 73 Am 22. Dezember gab Rothfels seine Zustimmung zu diesem Schreiben Schieders. 74 Ob dies aber tatsächlich expediert wurde, lässt sich aus den durchgesehenen Beständen nicht herausfinden. Ein weiteres Schreiben Zimmermanns liegt nicht vor. Diesen Auseinandersetzungen folgten noch weitere Veröffentlichungen in der Vertriebenenpresse. Der „Donauschwabe“ druckte beispielsweise am 2. März 1960 einen Leitartikel Weidleins ab und auch im „Donauschwäbischen Pressedienst“ erschien ein Artikel, der Weidleins Werk lobte und die „Dokumentation“ kritisierte. Diese Abhandlungen führten allerdings keine neuen Aspekte in die Diskussion ein, sondern wiederholten lediglich die Argumente, die bereits mehrmals vorgebracht worden waren. Summiert man die Inhalte dieser Rezensionen und der Briefe Weidleins, Tafferners und Zimmermanns, können die Vorwürfe, die Schieder und der „Dokumentation“ gemacht wurden auf folgende Quintessenz reduziert werden: Die Kritiker aus dem Umkreis der in der Volksbundtradition stehenden Ungarndeutschen waren der Ansicht, dass die Wissenschaftliche Kommission zum einen zu wenig auf die Versäumnisse der ungarischen Regierungen in der Minderheitenpolitik 72 Ebd. 73 BA N 1188/3047, 137. Rundschreiben, 07.12.1959. 74 BA N 1188/3032, Hans Rothfels an Theodor Schieder, 22.12.1959.

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eingehe, zum anderen aber den Einfluss des Nationalsozialismus vor allem auf den Volksbund so detailliert darstelle, dass durch dieses Ungleichgewicht der Eindruck entstehe, dass allein durch den Nationalsozialismus der Volkstumskampf entstand. Die nationalsozialistische Orientierung der Ungarndeutschen sei aber allein in der Hoffnung, die ihnen im Vertrag von Trianon zugesicherten Rechte auch in der Praxis zugestanden zu bekommen, erfolgt. Des Weiteren habe die deutsche Minderheit in Ungarn keinen aktiven Einfluss auf die Politik nehmen können. Der Volksbund sei beispielsweise nie mehr als ein Spielball zwischen dem Dritten Reich und der ungarischen Staatsführung gewesen und habe so auch keine Einflussmöglichkeiten auf die politische Entwicklung nehmen können. Die ungarische Regierung habe bereits lange vor dem Potsdamer Abkommen Pläne zur Ausweisung der deutschen Minderheit aus Ungarn gehegt. Aus diesen Gründen sei das Schicksal der Deutschen aus Ungarn nicht als Bestrafung für deren nationalsozialistische Begeisterung anzusehen, sondern dem Erbe des magyarischen Nationalismus zuzurechnen. Eine der Ursachen für diese vermeintlichen Schwachpunkte des Ungarn-Bandes glaubte man darin zu sehen, dass keiner, der an der „Dokumentation“ mitwirkte, persönlich von der behandelten Thematik betroffen gewesen sei oder sich bisher als Experte der südost-deutschen Verhältnisse profiliert hatte. Die Kritiker sprachen den Wissenschaftlern, die bisher noch keinen Bezug zur Geschichte Südost-Europas gehabt hätten, die Fähigkeit ab, sich kompetent in die Problematik einzuarbeiten und diese sachgerecht darzustellen. In den oben behandelten Rezensionen wird auch öfter der Vorwurf formuliert, dass die Regierung der Bundesrepublik die wahrheitsgetreue Darstellung der Ereignisse in Ungarn – gemeint ist damit eine Beschreibung im Sinne Weidleins, Tafferners und Zimmermanns – ihren außenpolitischen Interessen opfere. Diese Argumentation Weidleins, Tafferners und Zimmermanns war aber in einer verallgemeinernden, unpräzisen und teilweise polemischen Art und Weise formuliert. Es wurde nicht genau konkretisiert, welche Passagen in der „Dokumentation“ ihrer Meinung nach nicht zutreffend seien, sondern es wurden lediglich Pauschalitäten vorgebracht, auf Grund derer man mögliche Fehler in der Dokumentation nicht hätte ausmerzen können. 75 Die Kritik, die in diesen Rezensionen und Briefen geäußert wurde, fällt qualitativ deutlich von den von Goldschmidt geäußerten Beanstandungen ab, der penibel Seite um Seite der „Dokumentation“ durchsah und explizit festhielt, welche Aussagen auf welcher Seite er für unzutreffend hielt. Wenn der Entwurf des Schreibens Schieders an Zimmermann abgeschickt wurde und Zimmermann sich tatsächlich nicht weiter zu seinen Vorwürfen äußerte 76, kann dies dahingehend gedeutet werden, dass Zimmermann möglicherweise gar keine expliziten Beweise für die Anschuldigun75 Schieder schrieb an Alfred Gauß, den Chefredakteur des „Neuland“: „Ich habe nicht die geringste Absicht, Herrn Weidlein den Gefallen einer öffentlichen Antwort zu tun. Er hätte wohl nichts lieber als sich mit mir in eine Polemik coram publico einzulassen, aber ich will auf den Ton nicht eingehen, den er anzuschlagen beliebt.“ (Ebd., Theodor Schieder an Alfred Gauß, 07.06.1960). 76 Hier müssen noch weitere Nachforschungen folgen, um den Sachverhalt restlos aufzuklären.

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gen hatte. Dass Weidlein immer wieder Artikel in diversen Zeitungen veröffentlichte, in denen er die Arbeit Schieders und die der Wissenschaftlichen Kommission bemängelte, ohne dass er seinen Standpunkt wissenschaftlich und präzise darlegte, und dann noch Schieder zu sachlichen Auseinandersetzungen aufrief, spricht dafür, dass ihm gar nicht an einer fundierten und konstruktiven Diskussion über die Problematik gelegen war. Es liegt die Vermutung nahe, dass er, der habilitierte Oberstudienrat aus Schorndorf, der sich zweifellos zu Höherem berufen sah, sich gegenüber dem Kölner „Groß-Ordinarius“ in Szene setzen und Aufmerksamkeit erhaschen wollte 77, zumal ihm wohl noch die negativen Erfahrungen mit dem Bundesvertriebenenministerium in Erinnerung waren, das seine Publikation „Schicksalsjahre der Ungarndeutschen“ für geraume Zeit verhinderte, sich aber in aller Deutlichkeit hinter Schieder und die Wissenschaftliche Kommission stellte. Es ist außerdem festzuhalten, dass sich Weidlein, Tafferner und Zimmermann durch die Art und Weise, wie sie ihre Beanstandungen vorbrachten, selbst als ernstzunehmende Kritiker in den Augen Schieders und des Bundesvertriebenenministeriums diskreditierten. So schrieb beispielsweise Schieder an Schlicker: „Ich habe bisher zu den Angriffen des Herrn Weidlein geschwiegen, weil ich annehmen durfte, daß sie sich durch ihren Ton und ihren Inhalt selbst genügend gekennzeichnet haben. (…) Die Kritik (…) war so ressentimentgeladen, daß ich es für zwecklos hielt, Herrn Weidlein darauf zu antworten.“ 78

Diese Aussage Schieders legt die Vermutung nahe, dass die am Ungarn-Band geäußerte Kritik deutlich mehr Gehör gefunden hätte und dass es zu einem produktiven Austausch gekommen wäre, wenn die Beanstandungen in ihrer äußeren Form respektvoller und hinsichtlich ihres Inhalts wissenschaftlicher präsentiert worden wären. Betrachtet man den inhaltlichen Gehalt der Kritikpunkte Weidleins, Tafferners und Zimmermanns, so muss man feststellen, dass sie einseitig sind und den Stellenwert des Ungarn-Bands der „Dokumentation“ verkennen. Sie setzen den Volksbund einseitig mit dem ungarländischen Deutschtum gleich. Bereits in den fünfziger Jahren, als die Arbeiten an der „Dokumentation“ anfingen, war es bekannt, dass der Volksbund nur einen Teil der Ungarndeutschen erfasst hatte. Schieder und die Wissenschaftliche Kommission gingen davon aus, dass rund 50% der Ungarndeutschen im Volksbund vertreten waren. 79 Die neueste Forschung hat diese Zahl sogar noch nach unten korrigiert: laut Spannenberger waren nur 40% der deutschen Bevölkerung Ungarns Mitglied in volksdeutschen Organisationen. 80 Die Wissenschaftliche Kommission war in der „Einleitende[n] Darstellung“ bemüht, ein umfassendes Bild des „Volkstumskampfes“ in Ungarn zu geben. Man 77 Ähnliches wird man wohl auch über Tafferner sagen können, der sich ebenfalls als eine Art donauschwäbischer Chefhistoriker sah, der sein „Revier“ bedroht sah. 78 BA N 1188/3034, Theodor Schieder an das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, zu Händen von Herrn Dr. Schlicker, 30.01.1958. 79 BA N 1188/3076, Hans Booms, Bericht über eine Dienstreise zur Beschaffung von Quellenmaterial für die Dokumentation der Vertreibung Südost, 28.01.1955. 80 Spannenberger, Der Volksbund der Deutschen, 402.

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stellte die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Volksbundes dar, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass nur ein gewisser Prozentsatz der deutschen Volksgruppe in Ungarn in dieser Organisation erfasst war. Da der Volksbund eine sehr heterogene Organisation war, kann man nur schwer dem Urteil Weidleins, Tafferners und Zimmermanns zustimmen, die pauschal und undifferenziert sagen, dass der Volksbund nicht von der nationalsozialistischen Ideologie durchsetzt war. 81 In der Frage nach der aktiven Mitwirkung des Volksbundes an der politischen Entwicklung geben die neuesten Forschungen der Position Weidleins, Tafferners und Zimmermanns Recht. 82 Wirft man einen Blick in den zweiten „Dokumentations“-Band, so stellt man aber fest, dass die Wissenschaftliche Kommission nie behauptet hat, dass die ungarländischen Deutschen eine aktive Rolle in der Politik gespielt hätten. Die Kommission stellt bisweilen lediglich fest, dass es zu dem Zeitpunkt noch nicht möglich sei, gewisse Fragen, wie z. B. die nach dem Einfluss der Volksdeutschen in Ungarn auf die Vorverhandlungen des Wiener Schiedsspruchs, wissenschaftlich zu klären. 83 Aber in der Einleitung des UngarnBandes wird durchaus offensichtlich, dass die Wissenschaftliche Kommission die ungarländischen Deutschen z. B. in der Zeit nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch als eine ohnmächtige Gruppe, ganz im Sinne Weidleins, Tafferners und Zimmermanns, ansah. In der „Dokumentation“ heißt es: „Da aber trotzdem [trotz des Wiener Schiedsspruchs] nach wie vor die Tendenz bestehen blieb, die deutsche Minderheit zu madjarisieren, sah sich der Volksdeutsche jetzt zwei einander entgegenarbeitenden Kräften ausgesetzt, dem vertraglich festgelegten Einfluß des deutschen Nationalsozialismus und den nicht weniger intensiven Forderungen des madjarischen Nationalismus. Dieser Antagonismus, zwischen dem die natürlichen eigenen Interessen des ungarländischen Deutschtums zerrieben wurde, bestimmte dessen weiteres Schicksal, ohne daß es sich aus eigenen Kräften behaupten konnte.“ 84

Interessanterweise bemängelt Tafferner in seiner 1962 verfassten Rezension des Ungarn-Bands nicht mehr, dass die Wissenschaftliche Kommission dies falsch darstelle, sondern ihre zurückhaltende Position in diesen Fragen. 85 Dem Vorwurf, dass sich der Ungarn-Band für politische Zwecke in Dienst nehmen ließ, muss sicherlich stattgegeben werden, denn nicht nur aus den äußeren Entstehungs- und Veröffentlichungsumständen der Reihe bzw. des zweiten Bandes, lässt sich erkennen, dass er unverkennbar eine politische Tendenz trägt. Der von Oberländer verfasste Text, der als Beiblatt zum zweiten Band mit ausgeliefert wurde, versucht beispielsweise eine Brücke zwischen der Geschichte der Volksdeutschen in Ungarn nach 1945 und den aufständischen Ungarn des Jahres 1956 zu schlagen. Man möchte eine Solidarisierung der gesamten deutschen Bevölkerung mit derjenigen Ungarns erzielen, deren Auflehnung gegen die Sowjetunion blutig niedergeschlagen wurde. So heißt es beispielsweise in dem Beiblatt: 81 82 83 84 85

Ebd., 398. Ebd., 403. Dokumentation. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, 24 E, Anm. 1. Ebd., 24 E. Anton Tafferner, Ungarn, in: Südostdeutsches Archiv 5/1962, 205–211, hier 207.

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„Nachdem der Umfang der Tragödie, die sich seit November 1956 ereignet hat, überschaubar geworden ist, wird man eher sagen können, daß das Schicksal der ungarländischen Deutschen nach 1945 Teil und Vorklang des Schicksals der Ungarn selbst gewesen ist.“ 86

Auch die „Einleitende Darstellung“ betont die Gemeinsam- und Gemeinschaftlichkeit der Volksdeutschen und Magyaren in Ungarn. Der letzte Absatz des Kapitels über „Die politische Struktur des ungarländischen Deutschtums“ widmet sich explizit der Beschreibung des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen beiden Nationalitäten „in der persönlichen Sphäre – also [dem] Verhältnis des einzelnen deutschen Bauern zu seinem madjarischen Nachbarn −“, das durch die politischen Ereignisse keine Trübung erfuhr. 87 Der zweite Band der „Dokumentation“ ist so unverkennbar im Zeichen der Versöhnung und im Geist der Sympathie für das revolutionäre Ungarn von 1956 geschrieben. Es bleibt anschließend zu fragen, ob der Vorwurf, dass die „Dokumentation“ zu wenig auf die Magyarisierungsbestrebungen eingehe, nicht doch gerechtfertigt ist. Der Ungarn-Band widmet diesem Kapitel ca. drei Seiten, auf denen in straffer Form die „Madjarisierung und die ungarische Schulpolitik“ – so auch die Kapitelüberschrift – geschildert werden. Kurz und bündig werden auch die Grundzüge der von der ungarischen Regierung eingenommenen Haltung in der Minderheitenpolitik dargestellt. Die Ausarbeitung über die Magyarisierung erwähnt alle für diese Thematik wichtigen Punkte und kommt zu einem Urteil, das zwar nicht sehr wortreich ausfällt, dessen Gehalt aber doch klar erkennbar ist. So heißt es beispielsweise über die Magyarisierung: „Das Madjarentum, seines Wertes und seiner geschichtlichen Sendung bewußt, glaubte, den ,Schwaben’ zu sich emporzuheben, wenn er Madjare wurde, und es gewährte ihm bereitwillig alle Vorteile eines Gleichberechtigten, es forderte nur eins: die unbedingte Bereitschaft zur Assimilation.“ 88

In diesem Zitat, wie auch in dem gesamten Abschnitt über die Magyarisierung, wird deutlich herausgestellt, dass ein Deutscher nur sozial und wirtschaftlich aufsteigen konnte, wenn er sich magyarisieren ließ. Die Darstellung der ungarischen Schulpolitik fällt gegenüber dem Kapitel über die Magyarisierung etwas breiter aus. Auch hier sind die Aussagen klar erkennbar: Der deutschsprachige Unterricht in den Schulen wurde im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zurückgedrängt. Diese Ausführungen werden durch die Zahlenbeispiele hinsichtlich des Niedergangs der deutschsprachigen Schulen sowie durch die Anmerkungen dieses Kapitels, die entweder Sachverhalte näher erklären oder auf die im Dokumententeil mit abgedruckte Berichte verweisen, noch weiter veranschaulicht, so dass man die Dimension der Rigorosität der „Madjarisierung und ungarischen Schulpolitik“ erahnen kann. Der Leser kann aus diesen beiden Abschnitten über „Madjarisierung und ungarische Schulpolitik“ schlussfolgern, dass auf die deutsche Bevölkerung in Ungarn ein doppelter Druck ausgeübt wurde: zum einen konnte eine gehobene ge86 Dokumentation. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, Beiblatt, o. Seitennummer. 87 Dokumentation. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, 31 E. 88 Ebd., 15 E.

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sellschaftliche Stellung nur mit dem Bekenntnis zum Magyarentum erreicht werden. Zum anderen wurde aber der deutschen Minderheit der Boden ihrer ethnischen Zugehörigkeit immer mehr entzogen, da es für sie immer schwieriger wurde, ihre Kultur, die zum Grossteil ja auch im Unterricht vermittelt wird, zu pflegen und weiterzuentwickeln. – Diese Konklusion zieht jedoch die Wissenschaftliche Kommission nicht explizit, sondern dies wird dem Leser überlassen. Das Kapitel bleibt, verglichen mit den anderen Ausführungen, an der Oberfläche der sachlichen Darstellung und es wird lediglich verhalten beschrieben, was diese Haltung der ungarischen Regierung gegenüber den Minderheiten konkret für die deutsche Bevölkerung bedeutete. Die Wissenschaftliche Kommission beschreibt zwar die diffizile Situation der deutschen Minderheit in Ungarn, aber man hätte die Repressalien, die die deutsche Minderheit erfuhr, noch deutlicher beschreiben und die Ausführungen breiter anlegen können. So wird beispielsweise erläutert: „Das Schulgesetz von 1879, das Madjarisch als Pflichtfach in allen Schulen einführte, und dann besonders die scharfe Lex Apponyi von 1907, die neben anderen einschränkenden Verfügungen das Beherrschen des Madjarischen in Wort und Schrift als Unterrichtsziel des 4. Schuljahres forderte, ließen der deutschsprachigen Schule kaum noch Raum.“ 89

In der Anmerkung zu diesem Satz wird erklärt, mit welchen Strafen die Missachtung dieser Gesetze geahndet wurde. So konnte z. B. „bei Vernachlässigung des madjarischen Sprachunterrichts gegen den betreffenden Lehrer das Disziplinarverfahren mit dem Ziele der Entlassung eröffnet und (…) bei einer weiteren Entlassung die Schule geschlossen werden (…).“ 90 Weiter wird angeführt, dass eine magyarische Schule, die beträchtliche Steuerbegünstigungen erhielt, nicht mehr in eine gemischtsprachliche umgewandelt werden konnte. 91 Betrachtet man diese Anmerkung so wird deutlich, dass die Formulierung des Lauftextes, die Gesetze von 1879 und 1907 „ließen der deutsprachigen Schule kaum noch Raum“, konkretisiert und weiter veranschaulicht hätte werden können. Wenn die Wissenschaftliche Kommission die Härte der ungarischen Gesetze noch deutlicher herausgestellt bzw. diese Anmerkungen in das Textcorpus übernommen oder noch weiter ausformuliert hätte, wäre wohl das skizzierte Bild noch plastischer ausgefallen. Aber damit hätte wohl ein deutlicheres und schärferes Urteil verbunden gewesen sein müssen als das, das gefällt wurde. So kann man auch bei dieser Ausgestaltung die Intention der Versöhnung erkennen. Unter diesem Blickwinkel ist Weidlein, Tafferner und Zimmermann durchaus zuzustimmen, dass diese Ausführungen im Hinblick auf internationale, politische Interessen nur knapp die Thematik „Madjarisierung und ungarische Schulpolitik“ behandeln. Doch muss man der Wissenschaftlichen Kommission zugutehalten, dass in den anderen Kapiteln diese Problematik mit abgehandelt wird. In den Kapiteln „Bevölkerungszahl“ und „Soziale und konfessionelle Struktur des ungarländischen Deutschtums“ beschäftigt man sich zum Beispiel auch mit der Thematik „Magyarisierung“. In den Ausführungen auf Seite 13 E f. wird erklärt: 89 Ebd., 16 E. 90 Ebd., 16 E, Anm. 5. 91 Ebd.

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„Das Madjarische galt schlechthin als die Sprache der Gebildeten, als die staatliche Hochsprache, deren Beherrschung für den sozialen Aufstieg unumgänglich war. Jeder, der aus der unmittelbaren bäuerlichen Umgebung herauswuchs, übernahm es wie selbstverständlich als Umgangssprache, während der Gebrauch des ,Schwäbischen’ auf die familiäre oder engnachbarliche Sphäre beschränkt blieb, wenn man nicht überhaupt ganz darauf verzichtete. Besonders in den Städten war die sprachliche Umstellung selbstverständlich, denn nicht nur alle Beamten, sondern auch die freien Berufe […] vervollkommneten sich im eigenen Interesse in der Staatssprache und sahen darauf, daß auch ihren Kindern aus der mangelnden Beherrschung des Madjarischen kein Hindernis für eine künftige Berufswahl erwuchs. Diese Schicht gab ganz bewußt Madjarisch als Umgangssprache an, nicht zuletzt, um damit zu dokumentieren, daß sie der bäuerlichen Herkunft entwachsen war. Ebenso brachte die Namensmadjarisierung den Einzelnen selten in Gewissenskonflikte, wenn auch hierbei Traditions- und Familiensinn oftmals hemmend gewirkt haben mögen.“ 92

Aus diesem Zitat, das beispielhaft für andere Passagen in dem zweiten Band der „Dokumentation“ steht, wird ersichtlich, dass die Madjarisierung nur in dem eigens ihr gewidmeten Kapitel kurz abgehandelt, an anderen Stellen aber explizit dargestellt wird. Jedoch ist auch dieser angeführte Text von einem deutlich gemäßigten Ton gekennzeichnet. Es wird nicht der Assimilationszwang betont, sondern das Bekenntnis zum Madjarentum wird eher als ein freiwilliger Akt dargestellt, den man gerne in Kauf nahm, um sich gesellschaftlich profilieren zu können. Der Vorwurf Weidleins, Tafferners und Zimmermanns, dass die Magyarisierungspolitik nicht ausreichend als Ursache des Volkstumskampfes behandelt wird, trifft nur bedingt zu. Vom Umfang her wird diese Thematik, zwar nicht auf eine Stelle komprimiert, sondern auf mehrere Kapitel aufgeteilt ausführlich dargelegt. Inhaltlich und sprachlich kann man anmerken, dass die Behandlung der Magyarisierung durchaus hätte schärfer ausfallen können, ohne dabei als unwissenschaftlich oder unsachlich zu gelten. Diese Darstellungsart ist bestimmten außenpolitischen Interessen verpflichtet, die die „Volkstumskämpfe“ der Vergangenheit nicht neu schüren, sondern eine Versöhnungspolitik einschlagen wollten, mit deren Hilfe sich Deutschland im Kreise eines befriedeten Europas zu etablieren suchte. An diesem Punkt muss auch angemerkt werden, dass diese europäische Aussöhnung durchaus als ein gegenseitiger Akt anzusehen ist: Die deutsche Bevölkerung, im Falle der „Dokumentation“ konkret die Vertriebenen, sollten veranlasst werden, sich mit den Staaten, aus denen sie vertrieben worden waren, auszusöhnen, was eine wichtige Voraussetzung für eine aktive Friedenspolitik war. 1950 hatten die Vertriebenenverbände ihre Bereitschaft zur Aussöhnung in der Charta der Heimatvertriebenen demonstrativ betont. 93 Wie schwierig das im konkreten Fall war, zeigen in aller Deutlichkeit die Auseinandersetzungen um den zweiten Band der

92 Ebd., 13 Ef. 93 Vgl. hierzu Matthias Stickler, „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“ – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument, in: JörgDieter Gauger / Hanns-Jürgen Küsters (Hgg.), „Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung“. 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen, Sankt Augustin 2011, 43–74. [ebenso unter http://www.kas.de/wf/doc/kas_22454-544-1-30.pdf?110406114811] sowie Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, 19–26.

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„Dokumentation“. Hätte die Bundesregierung offiziell Stimmen bestärkt, die die alten Konflikte wieder anheizten, wäre ihre Friedenspolitik beeinträchtigt worden. Der von Weidlein, Tafferner und Zimmermann geäußerte Vorwurf, dass die Bundesrepublik politische Interessen auf Kosten der Vertriebenen verfolge, wirft die Frage auf, ob die Herausgabe des Ungarn-Bandes geeignet war, die Integration der Ungarndeutschen zu behindern. Doch lassen sich hierfür keine konkreten Belege in den durchgesehenen Materialien finden. In einem Auszug aus einem Artikel der Zeitschrift „Der Ungarndeutsche“ heißt es lediglich: „(…) Dr. Christ 94 [versuchte] darzulegen, welche staats- und außenpolitischen Momente die Herausgabe bei der Abfassung dieses Werkes zu beachten gehabt hätten und inwiefern auch wir – als neue Bürger dieses Staates – diese bei Beurteilung der Dokumentation beachten und respektieren müßten.“ 95

Daran schließt sich die Frage an, ob es sich bei den genannten scharfen Kritikern der „Dokumentation“, lediglich um die drei oben dargestellten Einzelpersonen handelt oder ob sie repräsentativ für eine größere Gruppe waren. Dem 102. Rundschreiben vom 6. November 1957 ist auch eine Notiz aus der Ausgabe der „Informationen des Verbandes der Landsmannschaften der aus dem Osten und Südosten vertriebenen Deutschen“ vom 2. November 1957 beigelegt. 96 Daraus wird ersichtlich, dass am 19. und 20. Oktober 1957 eine Versammlung der Bundesdelegierten der „Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn“ in Stuttgart stattfand, bei der man mit nur einer Gegenstimme eine Entschließung fasste. Ob es sich bei dieser Gegenstimme um die von Wilhelm Kronfuß 97, des Kulturreferenten der Landsmannschaft der Ungarndeutschen in Bayern e. V., handelte, lässt sich mittels der durchgesehenen Archivalien nicht feststellen. Doch liegt diese Vermutung

94 Nähere Informationen zu Christ: Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 25f. Den oben zitierten Vortrag hielt Christ in seiner Funktion als stellvertretender Bundessprecher der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn (BA N 1188/3047, 102. Rundschreiben, 06.11.1957, Anlage 1, Auszug aus „Der Ungarndeutsche“, 1. Jg., Nr. 10, 31.10.1957, Seite 6). 95 Ebd. 96 Schieder wurde erst durch Gauß auf diese Entschließung aufmerksam gemacht, der ihm einen Artikel zu diesem Sachverhalt übersandte, den er in seiner Zeitung „Neuland“ publizieren wollte. Am 02.11.1957 schrieb Schieder an Gauß: „Haben Sie verbindlichen Dank für die Zusendung Ihrer Stellungnahme zu der Entschließung der Gruppe Reitinger. Von dieser Beschließung habe ich bezeichnenderweise bisher überhaupt nichts erfahren, obwohl es sonst doch üblich sein dürfte, einem Angegriffenen Kenntnis von der Tatsache des Angriffs zu geben. Ich hoffe, daß ich über das Bundesministerium für Vertriebene in den Besitz des Wortlauts dieser Entschließung kommen werde, und darf Ihnen vorerst herzlich dafür danken, daß Sie meine Aufmerksamkeit auf diese Sache gelenkt haben.“ (BA N 1188/3019, Theodor Schieder an Alfred Gauß, 02.11.1957). 97 Nähere Informationen zu Kronfuß: Vgl. Treszl, Wer ist wer?, 90f. Ausführlicher: Hans Diplich, Wilhelm Kronfuss 70 Jahre alt, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 22 (1973) 2, 86– 89. Johann Adam Stupp, Wilhelm Kronfuss, Kunsthistoriker der Donauschwaben, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 32 (1983) 2, 93–96.

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nahe, da eine Abschrift eines Briefes an Rothen von ihm vorliegt, in der er sich sehr positiv über die „Dokumentation“ äußert. 98 In dieser Entschließung hielt man prinzipiell fest, dass man glaube, dass es für eine Darstellung der Geschichte der deutschen Volksgruppe in Ungarn und deren Vertreibung „wegen des geringen zeitlichen Abstandes“ noch zu früh sei. 99 Aber wenn man schon diese Thematik bearbeite, dann müsse man „alles über diesen Zeitraum zur Verfügung stehende wissenschaftliche Material sowie alle Stellen und Persönlichkeiten, die in besonderem Maße über diesen Geschichtsabschnitt berichten können,“ heranziehen. 100 Dies habe aber die Wissenschaftliche Kommission versäumt, so dass der zweite Band der „Dokumentation“ „teilweise einseitig und sachlich unrichtig“ sei. 101 Aus diesem Grunde könne die „Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn“ dem Ungarn-Band nicht zustimmen und die Herausgeber werden gebeten, „in Zusammenarbeit (…) mit [dieser] Landsmannschaft Mittel und Wege zur Berichtigung der Darstellungen zu finden.“ 102 In der Heimatzeitung der vertriebenen Ungarndeutschen „Unsere Post“, die von Ludwig Leber 1946 gegründet wurde, erschien der Artikel „Wahrheit – die beste Politik“. Darin bezog der unbekannte Verfasser Stellung gegen die Kritik, die an der „Dokumentation der Vertreibung“ verübt wurde. Er hält fest, dass die Bände der „Dokumentation“ „viel Anerkennung, besonders seitens unvoreingenommener Personen und Stellen“ erfahren haben, so dass das Ziel der „Dokumentation“, der Weltöffentlichkeit die Vertriebenenproblematik zu verdeutlichen, erreicht wurde. Die Ungarndeutschen, die scharfe Kritik daran üben, seien lediglich einige vereinzelte Personen, die durch ihre Lautstärke den Eindruck erwecken wollten, dass eine breite Masse hinter ihnen stünde. Die überwältigende Mehrheit der ungarnländischen Landsleute stehe aber hinter der „Dokumentation“ und „der von Professor Theodor Schieder aufgestellten These, dass die Wahrheit zu der das wissenschaftliche Ethos verpflichtet, zugleich auch die beste Politik“ sei. 103 Aus diesen angeführten Artikeln wird deutlich, dass die beiden ungarndeutschen Landsmannschaften hinsichtlich ihrer Bewertung der „Dokumentation“ unterschiedliche Positionen einnahmen. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn lehnte den Ungarn-Band ab, während die Ungarndeutsche Landsmannschaft um Ludwig Leber ihn lobend begrüßte.

98 BA N 1188/3032, Der Kulturreferent der Landsmannschaft der Ungarndeutschen in Bayern e.V. München, Wilhelm Kronfuß, an das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, zu Händen von Franz Rothen, 01.12.1956. 99 BA N 1188/3047, 102. Rundschreiben, 06.11.1957, Anlage 1, Auszug aus „Der Ungarndeutsche“, Jg. 1 (31. Oktober 1957), Nr. 10, Seite 6. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Die Wissenschaftliche Kommission zeigte auf diese Entschließung keine Reaktion, da weder sie noch das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte darüber informiert wurde. (Ebd.). 103 BA N 1188/3032, Auszug aus: „Unsere Post“, Die Heimatzeitung der Ungarndeutschen 15 (27. März 1960) 7.

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5. AUSBLICK Schieder wies der „Dokumentation“ eine integrative und sinnstiftende Funktion zu. Sie sollte „den betroffenen Flüchtlingen und Vertriebenen Anhaltspunkte liefern, um die im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung erlittenen seelischen Schäden wenn nicht zu heilen, dann doch aufzufangen.“ 104 Doch gab es in den zehn Jahren, die das Großforschungsprojekt in Anspruch nahm, „manchen Ärger gerade mit Stellen und Organisationen, von denen [Schieder und die Wissenschaftliche Kommission] eigentlich etwas anderes erwartet hätten.“ 105 Bezieht man ins Resümee auch die Konflikte mit ein, die die Wissenschaftliche Kommission hinsichtlich der anderen Bände der „Dokumentation“ austragen musste, ist festzuhalten, dass man, wie z. B. der Rat der Südostdeutschen, versuchte, direkten Einfluss auf die „Dokumentation“ zu nehmen. Für die Erstellung des Jugoslawien-Bandes lieferten Hamm und die Landsmannschaft zum einen nicht genügend Erlebnisberichte, zum anderen wurde aber eine Mitwirkungsmöglichkeit gefordert und die Möglichkeit, eine Gegendokumentation von der Landsmannschaft herauszugeben, in den Raum gestellt. Fragt man nach den Ursachen dieser Verhaltensweisen, so kann man erneut festhalten, dass die Vertriebenenpolitiker den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Kommission, von denen keiner ein Südostdeutscher war, nicht zutrauten, die Ereignisse in ihrer Komplexität richtig wiederzugeben, da sie dies nicht selbst miterlebt hatten. Außerdem neigte man dazu, das eigene Erleben als absolut anzunehmen und es mit dem Schicksal der gesamten Volksgruppe im Land gleichzusetzen. Dies ist beispielsweise bei dem Volksbund in Ungarn der Fall. Man sah im Volksbund eine Organisation, die sich gegen den „Bolschewismus“ richtete und in dem alle Deutschen vertreten waren. Die Wissenschaftliche Kommission hingegen stand dieser Sicht jedoch kritisch gegenüber und die neuesten Forschungen belegen auch, dass Skepsis angebracht war. Es ist anzunehmen, dass die Versuche, auf die „Dokumentation“ Einfluss zu nehmen, damit zusammenhingen, dass einzelne Persönlichkeiten nicht als Nationalsozialisten gebrandmarkt werden wollten und ihre ganz persönlichen Interessen als identisch mit denen ihrer „Volksgruppe“ ansahen. Hinsichtlich des UngarnBandes betrieb vor allem Weidlein eine polemische Kampagne gegen die „Dokumentation“, die jeglicher wissenschaftlicher Sachlichkeit entbehrte. Hier liegt die Vermutung nahe, dass solche Kritiker lediglich auf ihre eigenen Bücher aufmerksam machen wollten und Ressentiments gegenüber dem etablierten Wissenschaftsbetrieb hatten. Die Reaktionen Schieders und der Wissenschaftlichen Kommission auf die negative Kritik waren unterschiedlich. Im Falle Weidleins ignorierte man alle Anschuldigungen, da man der Ansicht war, dass er sich und seine Äußerungen mit 104 Beer, Die Dokumentation, 113. 105 BA N 1213/76, Theodor Schieder an Gräfin Marion Dönhoff, Redaktion „Die Zeit“, 27.10.1961.

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der Art und Weise, wie er sie vorbrachte, selbst diskreditiere. Handelte es sich um Zeitungsartikel, so wandte man sich an die für das Blatt Verantwortlichen und suchte seine Position deutlich zu machen. Zum anderen bemühte man sich, in den großen überregionalen Zeitungen, in „Der Zeit“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ positive Rezensionen der „Dokumentation“ zu lancieren. 106 Darüber hinaus veröffentlichte Schieder in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte einen Aufsatz, in dem er auf die wissenschaftlichen Probleme einging, die eine Dokumentation des Vertreibungsgeschehen barg, und darstellte, wie die Wissenschaftliche Kommission diesen Anforderungen gerecht zu werden suchte. Dieser Abhandlung ist eine Bemerkung von Rothfels vorgeschaltet, in der er darauf hinweist, dass Versuche gestartet wurden, auf die „Dokumentation“ von Seiten der Vertriebenenverbände Einfluss zu nehmen. Diesen Gedanken griff Schieder auf Seite 14 seiner Ausführungen auf. Er benannte einige negative Ansichten, die über die „Dokumentation“ geäußert wurden, und wies sie als unhaltbar zurück. 107 Auf diesen Aufsatz hin verfasste der damalige Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), Hans Krüger 108, einen Brief an Rothfels, in dem er die Versuche einer Einflussnahme von Seiten der im Bund der Vertriebenen vertretenen Landsmannschaften abstritt und von Rothfels forderte, die seiner Meinung nach falsche Äußerung in der Ausgabe der „Vierteljahrshefte“ zu berichtigen. 109 Das Antwortschreiben von Rothfels ging daraufhin explizit auf die Bestrebungen ein, die von den Vertriebenen und ihren Verbänden unternommen wurden, um auf die „Dokumentation“ einzuwirken, und erteilte der geforderten Richtigstellung eine Absage. 110 Die Auseinandersetzungen um den Ungarn-Band stellen insofern ein Lehrstück dar: Zum einen im Hinblick auf grundsätzliche Kommunikationsschwierigkeiten 106 Im Nachlass von Hans Rothfels befindet sich die Korrespondenz zwischen Theodor Schieder und Marion Gräfin Dönhoff, Redaktion „Die Zeit“, aus der das Bestreben, eine positive Rezension zu initiieren, hervorgeht (BA N 1213/76, Abschrift, Theodor Schieder an Gräfin Marion Dönhoff, Redaktion „Die Zeit“, 23.10.1961; ebd., Abschrift, Gräfin Marion Dönhoff, Redaktion „Die Zeit“ an Theodor Schieder, 25.10.1961; ebd., Abschrift, Theodor Schieder an Gräfin Marion Dönhoff, Redaktion „Die Zeit“, 27.10.1961). Der Briefwechsel Schieders mit Rassow gibt Auskunft über den Gang der Verhandlungen mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (BA N 1188/3072, Peter Rassow an Theodor Schieder, 27. April 1958; ebd., Theodor Schieder an Peter Rassow, 3. Mai 1958; ebd., Peter Rassow an Theodor Schieder, 29. Oktober 1958). 107 Theodor Schieder, Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1960) 1, 1–16. 108 o. V., Krüger, Hans, in: Rudolf Vierhaus / Ludolf Herbst (Hgg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949–2002. Bd. 1: A–M, München 2002, 461. Zu Krüger vgl. jetzt auch neu: Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, v. a. 43–68, 187–190, 295–300, 420–446. 109 BA N 1188/3035, Abschrift, Hans Krüger, der Präsident des Bundes der Vertriebenen, der Vereinigten Landsmannschaften und Landesverbände, an Hans Rothfels, 07.06.1960. 110 Ebd., Abschrift, Hans Rothfels an den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, Hans Krüger, 30.06.1960.

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zwischen Wissenschaftlern und historisch arbeitenden Zeitzeugen, zum andern sind sie aber auch ein schönes Beispiel für die Wahrung wissenschaftlicher Autonomie gegenüber den Ansprüchen von Interessenverbänden.

„50 JAHRE BUND DER VERTRIEBENEN – DAS SIND AUCH 50 JAHRE DEUTSCHE GESCHICHTE“ – DIE ARBEIT DES BDV NACH 1982 IM SPANNUNGSFELD VON VERBANDSLOBBYISMUS UND GESCHICHTSPOLITIK Matthias Finster Der Obertitel dieses Aufsatzes 1 bzw. das vielleicht etwas provozierende Zitat stammt von niemand geringerem als Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst. Es ist entnommen einer Rede, welche sie anlässlich der im Jahr 2007 stattfindenden Jubiläumsfeier zum 50-jährigen Bestehen des Bundes der Vertriebenen (BdV) hielt. 2 Dieses Ereignis allein verweist bereits auf zwei wichtige Fakten: Zum einem existiert der BdV trotz aller anderslautenden Prognosen der letzten Jahrzehnte immer noch und er ist sogar medienpräsent wie lange nicht mehr. Zum anderen zeigt der Auftritt der Kanzlerin, dass die CDU den BdV bzw. die durch ihn repräsentierte Klientel offenbar weiterhin als wichtigen Partner betrachtet. Der BdV selbst wurde in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit einem Thema wahrgenommen, das zu Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb Deutschlands, aber auch auf internationaler Ebene, vor allem zwischen Deutschland und Polen, führte. Die Rede ist vom „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV), dessen Errichtung von einer gleichnamigen Stiftung unter maßgeblicher Beteiligung des BdV seit dem Jahr 2000 gefordert wird. Erste Vorsitzende dieser Stiftung ist Erika Steinbach, Mitglied des Bundestags und seit 1998 Präsidentin des BdV. Die teils heftig geführte Debatte um das ZgV und das damit verbundene neue öffentliche Interesse an Flucht und Vertreibung sollen einen Aspekt der folgenden Ausführungen bilden. Außerdem wird versucht, aufzuzeigen, welche Bedeutung dieses Thema innerhalb der deutschen Gesellschaft und Politik hat und welche Rolle das Verbandshandeln des BdV hierbei spielte. Die Verknüpfung beider Aspekte ist deshalb sehr interessant, da sich der Stellenwert der Erinnerung 1

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Dieser Beitrag baut auf den Ergebnissen der vom Verfasser im Februar 2008 an der JuliusMaximilians-Universität Würzburg eingereichten Magister-Arbeit „Die Diskurse über das öffentliche Gedenken an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik Deutschland 1982– 2006. Dargestellt am Verbandshandeln des Bundes der Vertriebenen“ auf; seither erschienene Literatur wurde bis 2012 berücksichtigt. Vgl. Deutscher Ostdienst 11/2007, 15. Der Deutsche Ostdienst ist das offizielle Informationsmagazin des Bundes der Vertriebenen. Zur Geschichte des BdV vgl. ausführlich Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004.

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an Flucht und Vertreibung innerhalb Deutschlands stets auch in der Politik des BdV widerspiegelt. Die Untersuchung beginnt mit dem Regierungswechsel von 1982. 3 Mit dem Zeitraum davor hat sich in jüngster Zeit vor allem Manfred Kittel befasst. 4 Der Übergang zu der bis 1998 amtierende christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl bildet eine deutliche Zäsur im Hinblick auf den Umgang mit Flucht und Vertreibung, den Vertriebenenverbänden und deren Kulturarbeit. Deutlich wird dies vor allem an den finanziellen Zuwendungen des Bundes, die erstmals unter der Kanzlerschaft Willy Brandts gekürzt wurden. 5 Unter Helmut Schmidt gingen diese Maßnahmen weiter, am Ende von dessen Kanzlerschaft lagen die finanziellen Mittel für die Kulturarbeit der Vertriebenen bei 4,2 Millionen DM, nach 15 Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls dagegen waren sie wieder auf 52 Millionen DM gestiegen. 6 Bis zur Wiedervereinigung war für den BdV besonders das Offenhalten der deutschen Frage und damit der Grenzfrage von Bedeutung. Das Agieren in Bezug auf dieses politisch brisante Thema wurde durch die Ostverträge der Jahre 1970 bis 1972 und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1973 7 und 1975 8 geprägt, die für den BdV zwar eine Bestätigung seiner Rechtsposition bedeuteten, jedoch, wie sich 1990 zeigen sollte, realpolitisch nicht durchsetzbar waren. Im Folgenden sollen die wesentlichen Entwicklungen der Debatte um Flucht und Vertreibung seit den achtziger Jahren bis zur Gründung der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Jahr 2008 im Überblick dargestellt werden. Dies erfolgt schwerpunktmäßig anhand von für den BdV wichtigen Ereignissen, die sowohl innerhalb der Politik als auch in den Medien für Aufsehen sorgten.

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Vgl. hierzu die Beiträge der von der Konrad-Adenauer-Stiftung am 24.11.2011 in Bonn durchgeführten Tagung „Die Ära Kohl im Gespräch“, in: Historisch-Politische Mitteilungen 19/2012, 161–251. Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982) (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2007. Vgl. ebd., 107f. Vgl. Wolfgang Bergsdorf, Ostdeutsche Kulturpflege in der Ära Kohl, in: Jörg-Dieter Gauger / Manfred Kittel (Hgg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur. Kolloquium der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Instituts für Zeitgeschichte am 25. November 2004 in Berlin, Sankt Augustin 2005, 53–67, hier 66. Vgl. hierzu: Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht. Dokumentation zum Urteil vom 31. Juli 1973 über die Vereinbarkeit des Grundlagenvertrages mit dem Grundgesetz, Karlsruhe 1975. Vgl. hierzu: Beschluss des Ersten Senates vom 07.07.1975, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Bd. 40, Tübingen 1976, 179–182.

„50 Jahre Bund der Vertriebenen – das sind auch 50 Jahre deutsche Geschichte“

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1. 1982: DIE AUFWERTUNG DES BDV DURCH DIE KANZLERSCHAFT HELMUT KOHLS Wie bereits erwähnt, war die Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler für den BdV ein sehr wichtiges Ereignis, da Verband die Hoffnung hatte, unter einer von der Union geführten Regierung verlorene Bedeutung zurückzugewinnen. Bereits in der Phase nach dem Misstrauensvotum gegen den damaligen SPDBundeskanzler Helmut Schmidt und vor der Bundestagswahl im Frühjahr 1983 bestätigten zwei Ereignisse diese Einschätzung des BdV. Zum einen hatte Helmut Kohl am 11. Januar 1983 den BdV-Vorstand im Bundeskanzleramt empfangen. 9 Es war das erste Gespräch zwischen einem Bundeskanzler und den führenden Vertriebenenpolitikern seit 13 Jahren. Zum anderen kam es als Folge des Regierungswechsels zur teilweisen Umbesetzung der Bonner Ministerposten. Neuer Bundesinnenminister wurde Friedrich Zimmermann (CSU), der offen Partei für die Belange der Vertriebenen ergriff. Zum neuen Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen wurde der gebürtige Schlesier Heinrich Windelen ernannt. Dieser war zur Zeit der ersten Großen Koalition 1966–1969 der letzte Bundesvertriebenenminister gewesen bevor dieses Ministerium unter der sozialliberalen Koalition aufgelöst wurde und hatte sich daher im BdV einen „guten Namen gemacht“. 10 Unterstützung fand er bei seinem parlamentarischen Staatssekretär Ottfried Hennig, der gleichzeitig Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen war. BdV-Präsident Herbert Czaja 11 wurde, wie die Jahre davor auch, erneut zum Vorsitzenden des Arbeitskreises der Vertriebenen- und Flüchtlingsabgeordneten in der Unions-Bundestagsfraktion bestellt. Diese Personalentscheidungen waren für den BdV Anzeichen genug, dass seine Interessen in der Regierung Kohl eine wichtige Rolle spielen würden. Auch das verstärkte Auftreten wichtiger Unionspolitiker bei Vertriebenveranstaltungen schien ein Beleg dafür, so etwa die Bereitschaft des Bundeskanzlers, 1984 auf dem „Tag der Heimat“ in Braunschweig eine Rede zu halten. Zuletzt hatte dies Ludwig Erhard 17 Jahre zuvor getan. 12 Das Verhältnis des BdV zu den Parteien des Bundestages in den achtziger Jahren lässt sich leicht beschreiben, wobei die bevorzugte Stellung der CDU/CSU auf der Hand liegt. Das Verhältnis zur SPD war durch die Auseinandersetzungen

9 Deutscher Ostdienst 2/1983, 2f. 10 Deutscher Ostdienst 7/1983, 1. 11 Herbert Czaja (1914–1997) war von 1970 bis 1994 Präsident des BdV; vgl. hierzu den Beitrag von Matthias Stickler in diesem Sammelband, dort auch weiterführende Literatur. 12 Der Schlesier 37/1984, 3. Die Auswertung der Zeitung „Der Schlesier - Breslauer Nachrichten“ wurde für die Magisterarbeit nur bis zum Jahr 1985 vorgenommen, da das Blatt in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre immer mehr von Rechtsradikalen unterwandert wurde und heute als Medium der rechtsradikalen Szene gilt; die Landsmannschaft Schlesien trennte sich deshalb 1988 von ihrem bisherigen Zentralorgan. Vgl. hierzu ausführlicher den Verfassungschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen unter: http://www.mik.nrw.de/ verfassungsschutz/rechtsextremismus/medien/presse-und-verlage/der-schlesier.html (Stand: 16. Dezember 2012).

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um die Neue Ostpolitik erheblich belastet. 13 In den fünfziger und sechziger Jahren war dies noch anders gewesen. Damals sah die SPD in den Vertriebenen ein erhebliches Wählerpotential, welches es für sich zu gewinnen galt, was etwa durch die von der SPD ausgerufene Parole „Verzicht ist Verrat“ 14 deutlich wurde. Zwischen FDP und BdV waren die politischen Ansichten insgesamt sehr unterschiedlich, was hauptsächlich daran lag, dass in der Person des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher ein Mann mit an der Spitze der FDP stand, der stets betonte, dass „das Rad der Geschichte … nicht zurückgedreht werden (dürfe).“15 Ein Standpunkt, den der BdV nicht akzeptieren wollte. Die letzte noch zu erwähnende Partei, welche es 1983 erstmals in den Bundestag schaffte, waren die Grünen (seit 1993 offiziell „Bündnis 90/Die Grünen“). Sie sollten der parteipolitische Gegner Nummer Eins des BdV in der Tagespolitik werden. 16 Die Stellung der Grünen zu den Vertriebenen wird deutlich an einer Aussage Joschka Fischers 17 hinsichtlich der Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit: „Da brütet das dumpfe Gedenken an die ehemaligen deutschen Ostgebiete haushaltswirksam vor sich hin und hält die Erinnerung an jene Zeiten wach, als man noch lauthals die Wiedergewinnung dieser Gebiete als regierungsamtliche Politik verkündete. Damit hat es sich mittlerweile, und Gott sei das gedankt, auch wenn in letzter Zeit auf den jährlichen Vertriebenentreffen wie erst jüngst wieder die bezahlten Berufsflüchtlinge, die Herren Hupka und Czaja und wie sie sonst noch heißen mögen, wieder den üblichen – man muß schon sagen – reaktionären Schmonses erzählen hört.“ 18

2. 1985: „SCHLESIEN BLEIBT UNSER“ 1985 wurde ein sehr einschneidendes Jahr für den BdV und die Vertriebenen. Schon in einer Sonderausgabe des Deutschen Ostdiensts zu Beginn des Jahres war spürbar, dass es zu Kontroversen kommen könnte. 19 Mehrere Ereignisse sind hierbei besonders hervorzuheben: Das 21. Bundestreffen der Landsmannschaft Schlesien in Hannover, die Rede Richard von Weizsäckers zum vierzigsten Jah-

13 Vgl. hierzu Matthias Stickler, „Unserer Heimat droht Gefahr!“ – Der Kampf des Bundes der Vertriebenen (BdV) gegen die Ostverträge, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 1/2010, 18–33. 14 Die bekannte Formel „Verzicht ist Verrat“ stammt aus einem Grußwort der SPD-Politiker Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Herbert Wehner an das Deutschlandtreffen der Schlesier in Köln vom 7. Juni bis zum 9. Juni 1963; vgl. hierzu ausführlich Matthias Müller, Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Berlin 2012, 161–166. 15 Deutscher Ostdienst 4/1983, 5. 16 Seit den neunziger Jahren übernahm dann die SED-Nachfolgepartei PDS (seit 2007 „Die Linke“) die Position als schärfster Kritiker des BdV. 17 Interessant an der Biographie Joschka Fischers ist, dass seine Eltern selbst Ungarn-Deutsche waren, er das Vertriebenenmilieu also nicht nur in der Außensicht kannte; vgl. Jürgen Schreiber, Meine Jahre mit Joschka. Nachrichten von fetten und mageren Jahren, Berlin 2007, 203. 18 Der Schlesier 32/1984, 1. 19 Deutscher Ostdienst-Sondernummer I/1985, 3.

„50 Jahre Bund der Vertriebenen – das sind auch 50 Jahre deutsche Geschichte“

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restag des Kriegsendes und das Jubiläum aus Anlass von 35 Jahren „Charta der Heimatvertriebenen“. 20 Das Treffen der Landsmannschaft Schlesien stand besonders im negativen Fokus der Medien. Auf dieser Veranstaltung sollte Helmut Kohl die Hauptrede halten. Er war bei seiner Zusage allerdings noch nicht über das Motto des Treffens informiert gewesen, welches „Vierzig Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser“ hieß. An dieser Formulierung entzündete sich eine Debatte, die die Politik und die öffentliche Meinung über zwei Monate hinweg beschäftigen sollte. Auslöser war ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Erik-Michael Bader. 21 Bader beurteilte das Motto als nicht eindeutig genug und stellte fest, dass sich drei Interpretationsmöglichkeiten herauslesen ließen. Erstens, die innere Verbundenheit zu Schlesien, zweitens, dass die deutsche Geschichte Schlesiens nicht vergessen werden dürfe und drittens, dass es von deutscher Seite aus einen gültigen Rechtsanspruch auf diese Gebiet gäbe. Letzteres zog nicht nur deutliche Kritik der damaligen Ostblockstaaten nach sich. Auch zwischen den Bundestagsparteien kam es zu erheblichen Differenzen bezüglich des Mottos. Der damalige Vorsitzende der SPD, Hans-Jochen Vogel, forderte den Bundeskanzler auf, seine Teilnahme an diesem Treffen zu überdenken. 22 Des Weiteren gab es innerhalb der Union kritische Töne. Einhellig war die Meinung, dass Kohl unter einem so formulierten Motto nicht auftreten könnte. Selbst Politiker, die sich in der Regel immer für die Anliegen der Vertriebenen einsetzten, wie der CDU/CSUFraktionschef Alfred Dregger, machten deutlich, dass „Schlesien bleibt unser“ nicht stehen bleiben könnte und zumindest eine Ergänzung vorgenommen werden müsste, wie etwa „Schlesien bleibt unsere Heimat“. 23 Schließlich kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen Helmut Kohl und dem damaligen Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien, Herbert Hupka (CDU) 24, welches noch von 20 Auf die Rede Richard von Weizsäckers am 08.05.1985 und die „Charta der Heimatvertriebenen“ kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da dies den zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde; vgl. hierzu im Überblick Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 183 und Matthias Stickler, „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“ – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument, in: Jörg-Dieter Gauger / Hanns-Jürgen Küsters (Hgg.), „Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung“. 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen, Sankt Augustin 2011, 43–74. [ebenso unter http://www.kas.de/wf/doc/kas_22454-544-1-30.pdf?110406114811] sowie Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2013, 19–26 21 Vgl. Erik-Michael Bader, Was meint „Schlesien bleibt unser“?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1984, 12. 22 o. V., Vertriebenen-Bund lenkt nicht ein, in: Süddeutsche Zeitung, 27.12.1984, 1. 23 o. V., Dregger: Wichtiger als die Grenzfrage ist die Freiheitsfrage, in: Die Welt, 09.01.1985, 1. 24 Herbert Hupka (1915–2006) war von 1968 bis 2000 Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, sowie lange Zeit Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen; vgl. hierzu im Überblick Christian Lotz, Herbert Hupka (1915–2006), in: Joachim Bahlcke (Hg.), Schlesische Lebensbilder. Bd. XI., Insingen 2012, 603–616.

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einem öffentlichen Briefwechsel begleitet wurde. 25 Kohl machte seine Verärgerung sehr deutlich, worauf das Motto in „40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unsere Zukunft – Im Europa freier Völker“ geändert wurde. Als die Diskussion gerade dabei war sich zu beruhigen, wurde in der Wochenzeitung „Der Schlesier“, damals noch das offizielle Organ der Landsmannschaft, der Artikel eines zwanzigjährigen Autors namens Thomas Finke veröffentlicht, der unter dem Titel „Nachdenken über Deutschland“ 26 fiktiv einen Einmarsch der Bundeswehr in die DDR und Polen beschrieb, um so eine Wiedervereinigung Deutschlands zu ermöglichen. Die Reaktionen auf diesen Beitrag waren noch heftiger als beim Schlesier-Motto. Manche äußerten den Vorwurf, dass der Autor nur das schreibe, was viele Vertriebenenfunktionäre dächten. 27 Hupka und die Landsmannschaft Schlesien distanzierten sich sofort von diesem Artikel, unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass der „Schlesier“ ein eigenständiges Unternehmen sei, das in eigener Verantwortung handle, da „die Unterzeile ‚Offizielles Organ der Landsmannschaft Schlesien – Nieder- und Oberschlesien‘ … lediglich [ausdrücke], daß hier auch die Mitteilungen der Landsmannschaft Schlesien regelmäßig veröffentlicht werden können.“ 28 – Ein Standpunkt, der der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln war. Beide Ereignisse zusammen – das ursprüngliche Motto von Hannover und der Artikel – mussten den Eindruck erwecken, dass die Landsmannschaft ein doppeltes Spiel spielte. Bei rückwirkender Betrachtung stellt sich die Frage, warum das Motto so provokant ausgefallen war. Hupka war politisch so erfahren, dass ihm hätte klar sein müssen, was für Folgen diese Entscheidung haben musste. Die Führung der Landsmannschaft sah sich wohl durch die Regierungsübernahme der Union in einer sicheren Position, woraus eine Selbstüberschätzung der eigenen Möglichkeiten resultierte Alles in allem ist es bemerkenswert, welche Folgen das provokante Veranstaltungsmotto einer seit Jahren für die Öffentlichkeit nicht sonderlich relevanten Gruppe bewirkte. Entscheidend hierfür war die seit den siebziger Jahren veränderte politische Situation in Europa und hier vor allem die durch die Ostverträge auf eine neue Grundlage gestellten Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR, zu Polen und zur Sowjetunion. Die Beziehungen zu Polen waren, gerade auch wegen des 1982 dort erfolgten Verbots der Gewerkschaft Solidarność, in dieser Phase alles andere als entspannt und deshalb konnte ein solches Motto eine derart explosive Wirkung entfalten.

25 Vgl. o. V., Der Brief Hupkas an den Bundeskanzler: Es gab bedauerliche Missverständnisse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1985, 2; o. V., Ein verärgerter Kanzler schreibt an Hupka: Es hat an Sorgfalt gefehlt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.1985, 2. 26 Der Schlesier 4/5 1985, 2. 27 Vgl. Hans Georg Lehmann, „Die Oder-Neiße-Grenze aktuell und historisch.“ Referat im Rahmen eines Seminars zum Thema „Die Folgen von Jalta“ in der Heimvolkshochschule Alfred Nau der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bergneustadt am 9. Februar 1985, Bonn 1985, 11. 28 Herbert Hupka, Unruhiges Gewissen. Ein deutscher Lebenslauf, Erinnerungen, München 2004, 342.

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Aus den geschilderten Ereignissen soll nicht der Eindruck entstehen, dass die Diskussionen rund um das Treffen der Schlesier nur die Politik und die Medien beschäftigten. Im Gegenteil, betrachtet man die in den verschiedenen Zeitungen erscheinende Rubrik „Leserbriefe“ in den beiden Monaten Januar und Februar 1985, findet man eine rege Beteiligung an der Diskussion. 29 Die Verfasser solcher Leserbriefe waren aus ganz unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft. Insgesamt sind die Ereignisse um das Schlesiertreffen sehr aufschlussreich. Die bereits erwähnte neue öffentliche Beachtung der Vertriebenen zeigte sich beispielsweise in den Zeitungen. „Die Zeit“ widmete in einer Ausgabe ihre Rubrik „Dossier“ diesem Thema, jedoch in einer sehr abfälligen Art und Weise, die in Teilen nur Attacken gegen die Vertriebenenarbeit und ihren bekanntesten Vertretern Czaja und Hupka beinhaltete. 30 Besonders ärgerlich scheint das Vorgehen der Landsmannschaft Schlesien für die BdV-Führung gewesen sein. BdV-Präsident Czaja selbst nannte das Motto „Schlesien bleibt unser“ rückblickend „politisch zu total sowie übertrieben optimistisch“ 31 und nicht haltbar, wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass die rechtliche Interpretation von „Schlesien bleibt unser“ nur heißen könne, die deutsche Frage als offen zu betrachten und diese konform zur deutschen Rechtslage stehe. 32 Zwar musste sich der BdV vor die Landsmannschaft stellen, da diese ein Mitgliedsverband des BdV ist, doch war eine mögliche gute Ausgangslage im Hinblick auf die öffentliche Erinnerung an die Opfer von Flucht und Vertreibung, wie sie Czaja seit 1982 wieder als möglich erachtete, stark erschüttert worden. 33 Die Frage, ob 1985 überhaupt ein öffentliches Gedenken an Flucht und Vertreibung stattgefunden hat, ist eher mit nein zu beantworten. Gelegentlich wurde in einzelnen Artikeln darüber geschrieben, einen eigenen Platz nahm das Thema aber nicht ein. Die Diskussionen um das Schlesier-Treffen entwickelten sich zu einer rein politischen Debatte. So weckte auch die Gedenkfeier zur „Charta der Heimatvertrieben“, welche am 21. Juli in Stuttgart-Bad Cannstatt, dem Ort der Unterzeichnung im Jahr 1950, veranstaltet wurde, kein besonderes öffentliches Interesse. Aufsehen erregte dagegen die Herausgabe einer Sonderbriefmarke der damals noch staatlichen Deutschen Bundespost, die als Titel „40 Jahre Eingliederung heimatvertriebener Deutscher“ hatte. Dagegen protestierten die damaligen Ostblockstaaten auf das Heftigste und bezeichneten dies als eine Provokation der deutschen Bundesregierung. 34 Auch wenn damals die Auswahl der Briefmarkenmotive über einen überparteilich besetzten Beirat beim Bundespostministerium 29 Vgl. hierzu als Auswahl: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1984, 7; Die Welt, 17.01.1985, 8; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.1985, 9; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.01.1985, 9; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1985, 9; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1985, 9; Die Welt, 31.01.1985, 9. 30 Dietrich Strothmann, Das letzte Aufgebot, in: Die Zeit, 25.01.1985, 9–12. 31 Herbert Czaja, Unterwegs zum kleinsten Deutschland? Mangel an Solidarität mit den Vertrieben. Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik, Frankfurt am Main 1996, 575. 32 Ebd., 624f. 33 Deutscher Ostdienst Sondernummer I/1985, 2. 34 Deutscher Ostdienst 47/1985, 2.

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erfolgte, ist das Erscheinen der Sondermarke dennoch ein weiterer Beleg dafür, dass Union den Vertriebenen offener gegenüberstand, als die SPD in den Jahren zuvor. 3. DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG 1989/90: DER BDV HAT KEINEN WIRKLICHEN EINFLUSS MEHR Die Jahre bis zur Wiedervereinigung und danach zeigen deutlich, wie gering der Einfluss des BdV und der Vertriebenen auf die Politik geworden war und sie innerhalb der Union gewiss keine „Macht“ darstellten, wie es Timothy Garton Ash schreibt. 35 Dass der BdV seinen Einfluss selbst überschätzte, ist damit zu begründen, dass die CDU/CSU nach außen hin stets einen anderen Eindruck erweckte. Dies geschah insbesondere durch die weiter praktizierten demonstrativen Auftritte ranghoher Unionspolitiker auf diversen Veranstaltungen der Vertriebenen, etwa Helmut Kohls auf dem Sudetendeutschen Tag 1986 36 oder des damaligen Parteivorsitzenden der CSU, Theo Waigel, auf einem Treffen der Schlesier 1989. Dort bekräftigte dieser, dass „zur deutschen Frage … auch die ostdeutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße [gehören]“ 37, was bei den Vertriebenen den Eindruck erwecken musste, dass ihre Forderungen auf der Agenda der Bundesregierung standen. Ein weiteres Beispiel dafür war die Idee einer Gruppe von EuropaAbgeordneten 1987, den BdV für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. 38 Diese Initiative wurde von einer Unterschriftenliste der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begleitet. Neben den zu erwartenden Unterzeichnern Alfred Dregger, Herbert Czaja und Herbert Hupka fand sich aber kein Politiker ersten Ranges darunter. Der Grund hierfür dürfte gewesen sein, dass im Jahr der Bundestagswahl kein Politiker in eine Diskussion verstrickt sein wollte, die möglicherweise den Wahlkampf hätte belasten können. Auf der anderen Seite konnte die Union aber wieder den Eindruck erwecken, dass sie sich für die Ziele des BdV einsetzte; es galt schließlich Wählerstimmen zu sichern. Der BdV bekam erwartungsgemäß nicht den Friedensnobelpreis, doch zeigt das Verhalten der Union erneut deutlich, wie ambivalent deren praktische Vertriebenenpolitik war. Auch innerhalb der eigenen Klientel war der Einfluss des BdV deutlich geringer geworden, wie sich an zwei Aktionen nachweisen lässt, die dessen Selbstverständnis bzw. Selbstüberschätzung eindrucksvoll belegen. Im Herbst 1986 rief der 35 Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993 (engl. OA 1993), 50. Vgl. hierzu auch Beata Ociepka, Zwiazek Wypedzonych w systemie politycznym RFN i jego wplyw na stosunki polsko-niemieckie 1982– 1992 [= Der Bund der Vertriebenen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland und sein Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen 1982–1992], Wrocław/Breslau 1997 [deutsche Zusammenfassung des Inhaltes auf den Seiten 318 bis 324]. 36 Deutscher Ostdienst 22/1986, 5. 37 Deutscher Ostdienst 27/1989, 1. 38 Deutscher Ostdienst 1–2/1987, 1.

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BdV eine Unterschriftenaktion ins Leben, die eine „verfassungskonforme Darstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937“ 39 in den Medien, insbesondere im Fernsehen forderte. Damit wollte man erreichen, dass das Erste und Zweite Deutsche Fernsehen verpflichtet werden sollte, Karten zu zeigen, die den rechtlichen Standpunkt der offenen deutschen Frage, wie der BdV ihn sah, berücksichtigten. 40 In dem Unterschriftenformular berief man sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975. Diese Aktion lief über einen Zeitraum von zwei Jahren und brachte 60.000 Stimmen ein. Mag dieses Ergebnis auf den ersten Blick gar nicht so schlecht erscheinen, so zeigt es auf den zweiten Blick das genaue Gegenteil. Der BdV und seine Vorläufer hatten seit den fünfziger Jahren immer wieder betont, dass die Vertriebenen Wahlen entscheiden könnten und in ihren Veröffentlichungen stets auf den obligatorischen „Stimmzettel“ 41 hingewiesen. Zudem wurden seit den frühen sechziger Jahren stets mehr als zwei Millionen Mitglieder angegeben und damit ein sehr hoher Organisationsgrad postuliert. 42 Vergleicht man diese Zahlen und betrachtet den Zeitraum von zwei Jahren, so wird rasch deutlich, wie gering Mitte der achziger Jahre die Mobilisierungsfähigkeit des BdV in Wahrheit war. Eine weitere Unterschriftenaktion aus dem Jahr 1990 bestätigt diesen Befund. Im Zuge der Wiedervereinigungbemühungen der Bundesrepublik und der sich beim BdV durchsetzenden Erkenntnis, dass die Vertriebenen in den Verhandlungen zwischen Polen und Deutschland keine Rolle spielen würden, warf der damalige Generalsekretär des BdV, Hartmut Koschyk, die Idee einer „Volksabstimmung“ durch die von der Grenzfrage betroffenen Menschen auf. Dafür wurde erneut eine Unterschriftenliste erstellt. Die „Abstimmungsfrage“ lautete, ob die Gebiete östlich von Oder und Neiße „zu Deutschland, zu Polen beziehungsweise zur Sowjetunion oder zu einem europäischen Territorium gehören sollen.“ 43 Innerhalb von kürzester Zeit wurden 40.000 dieser Unterschriftenlisten verschickt, auf denen sich theoretisch 1,2 Millionen Personen hätten eintragen können. 44 Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren wurden 208.989 Unterschriften (d. h. ca. 10% der offiziell angegebenen Mitglieder) gesammelt. 45 Betrachtet man die aus der Sicht des BdV hochwichtige Frage, über die entschieden werden sollte, ist auch hier von einer äußerst geringen Mobilisierungsfähigkeit zu sprechen. Dies

39 Deutscher Ostdienst 46/1988, 7. 40 Zu dem alten Streitfall Karten vgl. jetzt Christian Lotz, Die anspruchsvollen Karten. Polnische, ost- und westdeutsche Auslandsrepräsentationen und der Streit um die Oder-NeißeGrenze (1945–1972), Magdeburg/Leipzig 2011. 41 Deutscher Ostdienst 20/1988, 6. 42 Vgl. Bund der Vertriebenen (Hg.), Handbuch, Bonn, 3. Auflage 1996, 21. Tatsächlich dürfte die heutige Mitgliederzahl deutlich darunter liegen, die Homepage des BdV gibt zurzeit (ohne Nachweis) 1,3 Millionen Mitglieder an; vgl. http://www.bund-der-vertriebenen.de (Stand: 04.01.2013). 43 Deutscher Ostdienst 14/1990, 5. 44 Deutscher Ostdienst 15/1990, 12. 45 Deutscher Ostdienst 36/1991, 2.

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bedeutet im Umkehrschluss, dass der BdV kaum noch wirklichen Einfluss auf seine Klientel hatte, als deren Sprachrohr er sich in der Öffentlichkeit darstellte. Die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und die damit verbundenen klare Aussage Helmut Kohls, wie er sie auf der Gedenkfeier zum vierzigsten Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ den Vertriebenen persönlich vermittelte, dass „die Grenze Polens, wie sie heute verläuft, … endgültig (ist)“ 46, war für viele Vertriebene ein schwerer Schlag. In der Öffentlichkeit hatten deren heimatpolitische Anliegen wenig Gehör gefunden, da die Möglichkeit einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten klare Priorität hatte. Die schon lange überfällige endgültige Bestätigung der polnischen Westgrenze war dazu nötig 47, was der BdV jedoch ablehnte. Herbert Czaja konnte besonders das Verhalten Helmut Kohls nicht nachvollziehen, einen solchen Grenzvertrag mit Polen anzustreben, da er stets davon ausgegangen war, dass die Heimatvertriebenen bei Kohl einen besonders hohen Stellenwert besäßen. Dabei ist es interessant, sich näher mit den bisher erschienenen Teilen der Biographie Helmut Kohls auseinanderzusetzen, besonders mit den Bänden II und III. 48. In beiden werden weder der BdV, noch Herbert Czaja oder Herbert Hupka erwähnt. Zwar geht Helmut Kohl in kurzen Zügen auf die Ereignisse rund um das Schlesiertreffen ein, verbunden mit einer Würdigung der Leistung der Heimatvertriebenen beim Wiederaufbau, mehr aber nicht. 49 Dies überrascht angesichts der regelmäßigen Treffen des BdV mit Helmut Kohl und dessen Auftritten auf verschiedenen Treffen der Vertriebenen. Allein die heftigen politischen Diskussionen 1985 hätten anderes erwarten lassen. Zumindest rückblickend hatten der BdV und seine Akteure für Helmut Kohl offenbar keinerlei tiefere Bedeutung mehr. Die deutsche Gesetzgebung ab 1990 wies ebenfalls die Tendenz auf, das Thema Vertreibung endgültig abzuschließen. 50 Beispielsweise wurde das Bundesvertriebenengesetz 1992 und 1993 dahingehend geändert, dass der Vertriebenenausweis abgeschafft wurde. Auch innerhalb der deutschen Gesellschaft stießen die Heimatvertriebenen mehr denn je auf Unverständnis, vor allem bei der politischen Linken. Angesichts der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der deutschen Täterrolle passten Deutsche als Opfer für viele nicht ins Bild. 51 Eine Sichtweise, die bei Teilen der Linken bis heute noch beobachtet werden kann. 46 Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung (Hg.), Bulletin 99 vom 17.8.1990, 841– 846, hier 843. 47 Vgl. hierzu v. a. Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998 und Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. 48 Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–2000, München 2005 und Ders., Erinnerungen 1990– 1994, München 2007. 49 Vgl. Kohl, Erinnerungen 1982–1990, 367–374. 50 Vgl. Matthias Stickler, Vom Massenverband zur Randgruppe? Aufstieg und Niedergang der Vertriebenenverbände in der Bonner Republik (1949–1990), in: Universität Wrocław/Breslau (Hg.), Roznik Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich Im. Willy Brandta Uniwersytetu Wroclwaskiego, Wrocław 2005, 109–132, hier 129. 51 Vgl. Peter Becher, Die deutsche Linke und die Vertriebenen. Einige Überlegungen zur Geschichte von Vorurteilen und Verhärtungen, in: Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft

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Insgesamt gilt für den Zeitraum seit der Regierungsübernahme Helmut Kohls bis in die neunziger Jahre hinein, dass Flucht und Vertreibung im öffentlichen Bewusstsein keine wesentliche Rolle spielte. Die bereits 1987 von Ekkehard Kuhn geäußerte Meinung, dass „die Solidarität, das Mitgefühl mit Opfern der Vertreibung, den Toten, den verletzten … unter uns Deutschen gering oder so gut wie nicht mehr vorhanden (ist)“ 52, erscheint insofern berechtigt, auch wenn man nicht wirklich von einem Tabu wird sprechen können. 4. DER BDV IM UMBRUCH (1991–1998) Die Jahre nach der Wiedervereinigung bis zur Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen (ZgV) sind aus zwei Perspektiven zu betrachten: Zum einem aus der rein verbandspolitischen Situation des BdV, zum anderen aus der Sicht der Vertriebenen allgemein. Der BdV musste versuchen, mit den neuen politischen Verhältnissen adäquat umzugehen. In den neuen Bundesländern hatte der BdV die Möglichkeit, neue Mitglieder zu gewinnen und sie bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte zu unterstützen. Neue BdV-Landesverbände wurden deshalb zügig gegründet, der erste war der Landesverband Thüringen, welcher bereits am 11. November 1990 ins Leben gerufen wurde. 53 Es folgten Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, und Mecklenburg-Vorpommern. Bis 1993 sollte der BdV dadurch 150.000 neue Mitglieder hinzugewinnen. 54 Ende 1994 waren es an die 200.000. 55 Das vorrangige Ziel der neuen BdV-Verbände war die finanzielle Entschädigung der hinzugekommenen „neuen Vertriebenen“ nach dem Vorbild des Lastenausgleichsgesetzes von 1952. Dieses galt aber nicht für das vereinigte Deutschland. 56 Das bedeutete, dass kein Gesetz existierte, dass zu einer Zahlung von Geldern verpflichtete. Letztendlich konnte aber eine Einmalzahlung in Höhe von 4000 DM pro Person erreicht werden. 57 Da in der ehemaligen DDR das Thema Vertreibung ein „gesell-

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e.V. (Hg.), Vertriebene im linken Diskurs. Protokoll der Tagung Vertriebenenpolitik von links – zwischen Hinwendung und Ablehnung (Schriften des Jenaer Forums für Bildung und Wissenschaft e. V.), Erfurt 2000, 8–16, hier 13. Ekkehard Kuhn, Nicht Rache, nicht Vergeltung. Die deutschen Vertriebenen, München/Wien 1987, 13. Deutscher Ostdienst 46/1990, 9. Deutscher Ostdienst 13/1993, 10. Vgl. Alfred Theisen, Die Vertreibung der Deutschen – Ein unbewältigtes Kapitel europäischer Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (1995) B 7–8, 20–33, hier 22. Vgl. Bernhard Fisch, „Wir brauchen einen langen Atem.“ Die deutschen Vertriebenen 1990– 1999. Eine Innenansicht, Jena/Plauen/Quedlinburg 2001, 18. Vgl. Heinz Berresheim, Das Bundesvertriebenengesetz. Zielsetzung, Inhalt und Ergebnis nach 40 Jahren, in: Wilfried Schau (Hg.), Die Ostdeutschen. Eine dokumentarische Bilanz 1945–1995 (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Bd. 12), München 1996, 131–154, hier 150.

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schaftliches Tabu“ gewesen war 58, war dem BdV die Ausdehnung der ostdeutschen Kulturförderung wichtig; deshalb wurden die finanziellen Mittel seitens der Bundesregierung von 20 auf 35 Millionen DM erhöht. 59 Diese doch sehr deutliche Steigerung darf man zweifellos auch als eine Art Ausgleichszahlung sehen, um das seit 1990 angespannte Verhältnis zwischen Union und BdV zu verbessern. Mitte der neunziger Jahre war der BdV an einem Punkt angekommen, an dem nicht klar war, wie es weiter gehen sollte. Ein Grund dafür war, dass BdVPräsident Herbert Czaja nach 24 Jahren nicht mehr für dieses Amt kandidieren wollte und der BdV somit seine politische Speerspitze verlor. Sein Nachfolger wurde der Sudetendeutsche Fritz Wittmann, Mitglied der CSU und des Bundestages. Er verfolgte eine deutlich zurückhaltendere Linie als sein Vorgänger. Erst mit der Ernennung Erika Steinbachs zur Präsidentin 1998 gewann das Profil des BdV wieder deutlich an Konturen, worauf noch einzugehen sein wird. 60 1995 jährte sich das Kriegsende zum fünfzigsten Mal, wobei dem Thema Flucht und Vertreibung in den Medien mehr Präsenz zuteil wurde als zuvor. So druckte das Magazin Focus zu Beginn des Jahres eine zweiteilige Dokumentation. 61 Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung räumte dem Jubiläum unter dem Leitthema „Flucht und Vertreibung – 50 Jahre danach“ 62 Platz ein. Deutlich mehr mediale und politische Aufmerksamkeit bekam das Thema Vertreibung durch den Konflikt um die „Deutsch-Tschechische Erklärung“ 63 vom 21. Januar 1997. Durch den Antrag Tschechiens auf Aufnahme in die Europäische Union 1996 kam es auf der politischen Ebene zu Konflikten mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL). Die SL hatte schon 1992, als zwischen der Bundesrepublik und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik der „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftlicher Zusammenarbeit“ abgeschlossen wurde, auf eine Klärung der vermögensrechtlichen Fragen und des Rückkehrrechts in die alten Heimatgebiete gedrängt, wozu es aber nicht gekommen war. Deshalb sollte, so die SL, vor dem Beitritt Tschechiens in die EU eine Erklärung verabschiedet werden, welche die noch offenen Fragen regelte. Die Streitpunkte waren folgende: Tschechien verlangte eine Entschädigung der tschechischen Opfer des Nationalsozialismus, ohne auf die Frage nach den Sudetendeutschen einzugehen. Die Bundesrepublik dagegen verlangte eine Distanzierung von den sogenannten Beneš-Dekreten 64 und wollte die Sudetendeutschen am Dia58 Rainer Münz/Rainer Ohliger, Vergessenen Deutsche – erinnerte Deutsche. Flüchtlinge, Vertriebene, Aussiedler, in: Transit Europäische Revue 15/1998, 141–157, hier 142. 59 Deutscher Ostdienst 22/1991, 7. 60 Deutscher Ostdienst 19/1998, 1. 61 Focus-Magazin 3–4/1995. 62 o. V., Flucht und Vertreibung – 50 Jahre danach, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.1995, 7. 63 Der komplette Vertragstext bei Walter Rzepka, Zukunft trotz Vergangenheit. Texte zur deutsch-tschechischen Versöhnung (Schriften der Ackermann-Gemeinde, Heft 37), München 2005, 31–44. 64 Vgl. hierzu Jan Kuklik, Deutschland und die Personen deutscher Nationalität in der tschechoslowakischen Gesetzgebung, in: Manfred Kittel / Horst Möller / Jiří Pesek / Oldřich Tůma

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log mit Tschechien beteiligen. 65 Die Union mit ihrem damaligen Koalitionspartner der FDP wollte diese Frage beantwortet wissen, die SPD und besonders die Grünen waren dagegen für eine schnelle Lösung und zu weitergehenden Kompromissen bereit. Ende des Jahres 1996 wurde dem BdV vorab eine schriftliche Fassung der Erklärung vorgelegt, welche von Seiten des BdV und der SL stark kritisiert wurde. Zwar wurden Teile des Inhaltes ausdrücklich gelobt, so beispielsweise die Verpflichtung, einen deutsch-tschechischen Zukunftsfond einzurichten, die kritischen Beiträge überwogen aber. Besonders der Punkt, dass die tschechische Regierung in der deutschen Version der Erklärung das Wort „Vertreibung“ verwendet 66, im tschechischen Text dagegen das Wort „Odsun“ gebrauchte, das, genau übersetzt, nur „Abschub“ bedeutet, eine deutliche Abschwächung also. 67 Zudem wurden weder die Beneš-Dekrete zurückgenommen, noch die aus der Sicht der Sudetendeutschen so wichtige Vermögensfrage geregelt. Vielmehr war es das Ziel beider Regierungen, deutlich zu machen, dass in der deutsch-tschechischen Beziehung ein partnerschaftlicher Charakter herrsche. 68 Die Erklärung wurde von der tschechischen und der deutschen Regierung unterschiedlich interpretiert. Für Tschechien war die Vermögensfrage erledigt, Helmut Kohl dagegen gab in einer Regierungserklärung an, dass diese Frage offen geblieben sei. Hier wird erneut das oftmals widersprüchliche Verhalten der Union in Angelegenheiten der Vertriebenen deutlich. Es muss der Bundesregierung klar gewesen sein, dass der Text dieser Erklärung durch die tschechische Regierung in der geschilderter Weise interpretiert werden würde. Dennoch ließ man dem BdV die vage Hoffnung, dass die Vermögensfrage für die Zukunft noch ein Thema darstellen könne. Die Bundesregierung vermied eine klare Aussage, dass es von deutscher Seite keine Vermögensforderungen geben werde, dass dieser Teil der Geschichte nicht mehr zu ändern sei. Diese Haltung muss vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 1998 gesehen werden. 1994 war die Wahl nur knapp zu Gunsten der Koalition von Union und FDP ausgegangen. 1998 war daher jede Stimme wichtig, auch die der Vertriebenen. CDU und CSU konnten es sich daher nicht leisten, sichere Wählerstimmen zu verlieren. Die damalige Debatte zeigte auch, dass sich besonders die CSU 69 als die Partei betrachtete, die sich für die Interessen

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(Hgg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2007, 1–130. Deutscher Ostdienst 3/1996. Rzepka, Zukunft trotz Vergangenheit, 56f. Vgl. Stickler, Vom Massenverband zur Randgruppe?, 113, Anm. 15. Vgl. Madlen Benthin, Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Deutsche und tschechische Erinnerungskulturen im Vergleich (Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckerts-Instituts, Bd. 120), Hannover 2007, 99. Der Freistaat Bayern hatte 1954 die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen übernommen und diese zum „vierten Stamm“ Bayerns erklärt; vgl. hierzu ausführlich: K. Erik Franzen, Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 120), München 2010. Vgl. auch Gerhard Hopp, Machtfaktor auch ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010.

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der Vertriebenen einsetzte. Sie sah sich als „Anwalt der Vertriebenen“. 70 Dieses Engagement wurde nochmals sehr deutlich im Bundestagswahlkampf 2002, als der damalige Vorsitzende der CSU, Edmund Stoiber, Kanzlerkandidat war und sich vehement für die Interessen des BdV, insbesondere das ZgV, einsetzte. 5. ERNEUTE ZÄSUR 1998: HELMUT KOHL GEHT, ERIKA STEINBACH UND DAS ZGV KOMMEN Wie bereits erwähnt, wurde 1998 mit Erika Steinbach 71 erstmals eine Frau an die Spitze des BdV gewählt. Eine Personalentscheidung, die dem BdV bis heute eine hohe mediale Aufmerksamkeit sichert. Im gleichen Jahr verlor Helmut Kohl die Bundestagswahlen und es kam erstmals eine rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler und Joschka Fischer als Außenminister ans Ruder. Der Regierungswechsel bereitete dem BdV erhebliche Sorgen, welche sich auch bald bestätigen sollten. Bis zum Jahr 2002 wurden die Mittel für die Pflege der Kultur und Geschichte der Heimatvertriebenen auf 33 Millionen DM gesenkt 72, was unter anderem zur Folge hatte, dass die institutionelle Förderung für die Stiftungen „Ostdeutscher Kulturrat“ und „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“ zum Jahresende 1999 eingestellt werden musste. 73 Das Verhalten der SPD gegenüber den Vertriebenen zu Beginn der ersten Amtszeit von Rot/Grün ist als zweigleisig zu charakterisieren. Parallel zu den Kürzungen kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder zu Beginn des Jahres 1999 an, an einem Festakt des BdV zum 50jährigen Bestehen der Bundesrepublik Ende Mai im Berliner Dom die Festrede zu halten. Diesen Termin konnte er letztlich nicht wahrnehmen, worauf der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die Hauptrede hielt. In diesem viel beachteten Vortrag ist eine Passage hervorzuheben, die man aus heutiger Perspektive als ein beachtenswertes Eingeständnis zum Umgang mit Flucht und Vertreibung betrachten kann: „Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das läßt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem

70 Deutscher Ostdienst 23/1998, 8. 71 Zu Erika Steinbach vgl. deren Buch „Die Macht der Erinnerung“ (Wien 2010), welches eine Mischung aus Sachbuch, Rechtfertigungsschrift, Memoirenwerk und Dokumentation darstellt. 72 Vgl. Hartmut Koschyk, Die Pflege des Geschichts- und Kulturerbes der deutschen Heimatvertriebenen als staatliche Pflichtaufgabe, in: Dietrich Grille / Ekkehard Wagner (Hgg.), Ganz Deutschland – unser Vaterland. Anmerkungen zum Lebensmotto der deutschen Vertriebenen. Festschrift für Sieghard Rost, Lauf a. d. Pegnitz 2002, 69–73, hier 69. Ein weiterer Beleg für die finanziellen Kürzungen ist, dass der BdV sein Verbandsorgan, den Deutschen Ostdienst, ab 2002 von einem wöchentlichen auf ein monatliches Erscheinen umstellen musste. 73 Deutscher Ostdienst 28/1999, 2.

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Ausgleich mit unserem Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.“ 74

Hier wird erstmals prominent eine Tendenz sichtbar, dass Teile der politischen Linken mehr Bereitschaft zeigten, auf die Vertriebenenverbände zuzugehen. 75 Schily lässt in dieser Rede anklingen, dass die Vertreibungspolitik im Kosovo dieses Umdenken in Gang gesetzt habe. Ende des Jahres 1999 schien es denkbar, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wieder mehr Bedeutung erlangen würde. Auffallend war, dass es verstärkt zu Veröffentlichungen in den Medien kam, die kritisierten, dass Flucht und Vertreibung kein Thema sei, sondern „die Erinnerung an Flucht und Vertreibung … hierzulande einer Art Tabu, ähnlich den Bombennächten der vierziger Jahre [unterliegt].“ 76 In diesen Kontext gehört auch die Ankündigung des BdV, ein Zentrum gegen Vertreibungen errichten zu wollen. Diese Initiative und die Konflikte darum können durchaus stellvertretend für die Debatte, um die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in den letzten zwölf Jahren betrachtet werden, wobei eine detaillierte Analyse, insbesondere auch der Gegenvorschläge zum Modell des BdV wie etwa das 2005 gegründete „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“, den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. 77 Die ZgV-Idee wurde vom BdV offenbar erstmals 1999 diskutiert und der Öffentlichkeit auf dem schon angesprochenen Festakt im Berliner Dom angedeutet. 78 Bereits ein Jahr später wurde die Konzeption (Aufgaben, Ziele und Gestaltung) zu diesem Projekt endgültig

74 Deutscher Ostdienst 22/1999, 6. 75 Vgl. K. Erik Franzen, Die Akteure des Vertreibungsdiskurses in der Bundesrepublik Deutschland, in: Thomas Strobel / Robert Maier (Hgg.), Das Thema Vertreibung und die deutschpolnischen Beziehungen, Forschung, Unterricht und Politik (Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts, Bd. 121), Hannover 2008. 61–66, hier 65. 76 Jan Ross, Vergessene Vertriebene, in: Die Zeit vom 22.04.1999, 3. 77 Vgl. hierzu v. a.: Dieter Bingen / Włodzimierz Borodziej / Stefan Troebst (Hgg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, Bd. 18), Wiesbaden 2003; Stefan Troebst (Hg.), Vertreibungsdiskurs und Europäische Erinnerungskultur. Deutschpolnische Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation, Osnabrück 2006; Peter Haslinger / K. Erik Franzen / Martin Schulze Wessel (Hgg.), Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 108), München 2008; Katrin Steffen, Differenzen im Gedächtnis. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ Revisited, Berliner Debatte Initial 19 (2008) 6, 36–50; Stefan Troebst, Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität, in: Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Bearb. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst, Wien 2010, 236–239; Ders.: Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, in: Ebd., 96f. Zu den kritischen Stimmen zum ZgV bzw. der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung vgl. auch den Beitrag von Jan M. Piskorski in diesem Band. 78 Deutscher Ostdienst 22/1999, 1f.

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vorgestellt 79 und am 6. September 2000 die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen förmlich gegründet. 80 Der BdV setzte zur Verwirklichung dieses Projektes vor allem auf die Union, konnte aber auch prominente Unterstützer aus der SPD gewinnen, vor allem deren langjährigen Bundesgeschäftsführer und bekannten Kultur- und Bildungspolitiker Peter Glotz (1939–2005). 81 Gemessen an der überkommenen Erinnerungskultur der Vertriebenen war beim ZgV-Projekt neu, dass der BdV erstmals bereit war, die Vertreibung der Deutschen nicht isoliert zu betrachten sondern diese in einen größeren europäischen Rahmen zu stellen. 82 Das ZgV hat seit seinem Bekanntwerden wellenartig für Schlagzeilen gesorgt, wobei es besonders in den Jahren von Bundestagswahlen als Wahlkampfthema instrumentalisiert wurde. 83 Dies kann man sehr deutlich am Wahlprogramm der Union 2005 ablesen, in dem es hieß: „Die deutschen Heimatvertriebenen und die deutschen Volksgruppen in Osteuropa haben auch nach der Osterweiterung eine wichtige Brückenfunktion bei der Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn. Wir wollen im Geiste der Versöhnung mit dem Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin ein Zeichen setzen“ 84.

Durch die Bildung der (zweiten) Großen Koalition unter Angela Merkel nach den vorgezogenen Bundestagswahlen im Herbst 2005 zerschlugen sich allerdings die Hoffnungen des BdV auf eine baldige Errichtung eines ZgV. Stattdessen wurde im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD folgendes festgeschrieben: „Die Koalition bekennt sich zur gesellschaftlichen wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um – in Verbindung mit dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität über die bisher beteiligten Länder Polen, Ungarn und Slowakei hinaus – an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung“. 85

Die fehlende direkte Erwähnung des „Zentrums gegen Vertreibungen“ ließ den BdV nichts Gutes erahnen, auch wenn die Union bekräftigte, dass „die Errichtung eines „Zentrums gegen Vertreibungen“ wichtig und notwendig“ und „der richtige Ort … Berlin“ 86 sei. Der BdV sah und sieht die SPD als das Haupthindernis für die Errichtung eines ZgV nach seinen Vorstellungen. Ob eine alleine von der Union geführte Regierung das ZgV in der vom BdV gewünschten Form errichtet 79 Deutscher Ostdienst – Sonderdruck vom 16.06.2000. Vgl. auch http://www.z-g-v.de/ index_noflash.html (Stand: 12.03.2009). 80 Vgl. hierzu Steinbach, Die Macht der Erinnerung, 95–97. Vgl. auch die Homepage der Stiftung: http://www.z-g-v.de (Stand: 05.01.2012). 81 Vgl. Steinbach, Die Macht der Erinnerung, 100–109 sowie 161–186. 82 Vgl. ebd., 95f. 83 Zum weitere Fortgang aus Sicht des BdV bzw. Erikas Steinbachs vgl. ebd., 110–123. 84 http://www.regierungsprogramm.cdu.de/download/regierungsprogramm-05-09-cducsu.pdf (Stand: 29.03.2009), 37. 85 http://koalitionsvertrag.spd.de/servlet/PB/show/1645854/111105_Koalitionsvertrag.pdf (Stand: 29.03.2009), 132. 86 Antwortschreiben der CDU-Bundesgeschäftsstelle vom 18.11.2005 auf ein Glückwunschreiben der Familie Borst zur Wahl Angela Merkels, 3. Kopie der beiden Schreiben in privaten Besitz.

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hätte, kann angesichts der z.T. massiven Vorbehalte gegen das Projekt in Polen (s.u.) allerdings bezweifelt werden. Die Stiftung ZgV konnte im Spätsommer 2006 einen ersten Teilerfolg feiern, als im Kronprinzenpalais in Berlin eine Ausstellung unter dem Titel „Erzwungene Wege“ 87 eröffnet wurde. Die öffentliche Resonanz war groß, an den ersten 80 Tagen wurden ca. 60.000 Besucher und etwa 3400 Presseartikel gezählt. 88 Die Ausstellung wurde, gerade auch in der Presse, mehrheitlich positiv bewertet 89, was die Macher ermutigte, „Erzwungene Wege“ auch als Wanderausstellung zu zeigen. Dafür wurden im Bundeshaushalt, mit der Mehrheit von CDU/CSU und SPD, beschlossen, der Stiftung ZgV 250.000 Euro zur Verfügung gestellt. 90 Ab 2007 kam schließlich Bewegung in die Frage, wie das „sichtbare Zeichen“ nun umgesetzt werden könnte. Ein entscheidender Schritt dazu war der Amtsantritt des neuen polnischen Premierminister Donald Tusk, der einen deutlich zurückhaltendere Haltung in der Diskussion anschlug, als die Vorgängerregierung unter Jarosław Kaczyński. Der Hauptkritikpunkt von polnischer Seite hatte gelautet, dass durch ein vom BdV errichtetes ZgV versucht werde, die Täter-Opfer Perspektive zu verdrehen. 91 Auch die geplante Platzierung eines solches Zentrums in Berlin war abgelehnt worden, da darin eine Art Konkurrenz zur HolocaustGedenkstätte gesehen wurde. 92 Der nun endgültig richtungsweisende Beschluss wurde am 3. September 2008 im Bundeskabinett gefällt, nämlich eine unselbstständige „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ unter dem Dach der Bundesstiftung Deutsches Histori-

87 Wilfried Rogasch / Katharina Klotz / Doris Müller-Toovey (Hgg.), Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Ausstellung im Kronprinzenpalais, Berlin/Wiesbaden 2006. 88 Deutscher Ostdienst 11/2006, 3. 89 Vgl. Matthias Stickler, Ausstellungs-Rezension zu: Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts 10.08.2006-29.10.2006, Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3, 10117 Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 27.10.2006, . 90 Deutscher Ostdienst 12/2006, 3. 91 Vgl. dazu besonders Michael Schwartz, Dürfen Vertriebene Opfer sein? Zeitgeschichtliche Überlegungen zu einem Problem deutscher und europäischer Identität, in: DeutschlandArchiv 38 (2005) 3, 494–505; Alfred M. de Zayas, Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter – sondern Opfer. Hintergründe, Tatsachen, Folgen, Wien 2006, besonders 227f.; vgl. die gegenteilige Sichtweise bei: Samuel Salzborn, Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession, in: Michael Klundt / Samuel Salzborn / Marc Schwietring / Gerd Wiegel (Hgg.), Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert (Schriften zur politischen Bildung, Kultur und Kommunikation, Bd. 1), Gießen 2003, 17–41. Zu dieser Thematik vgl. auch: William Niven, Germans as Victims. Remembering the past in contemporary Germany, Basingstoke 2006. 92 Vgl. Heidemarie Uhl, Deutsche Schuld, deutsches Leid – Eine österreichische Perspektive auf neue Tendenzen der deutschen Erinnerungskultur, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33/2005, 160–180, hier 165.

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sches Museum in Berlin zu errichten. 93 Das Grundgerüst der von dieser zu errichtenden Dauerausstellung, welche durch ein Forschungs- und Dokumentationszentrum ergänzt werden soll, soll die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“94 des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik bilden, welche 2005 und 2006 in Bonn, Berlin und Leipzig gezeigt worden war. Neu an dieser Konzeption war, dass der BdV nur noch Mitspieler, nicht aber Hauptakteur des Unternehmens war. Etwas salopp könnte man sagen, dass das Projekt ZgV gleichsam verstaatlicht wurde, wobei aber die Stiftung ZgV fortbestand und seither gleichsam neben der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung als private Initiative fortbesteht. Insofern passt die Gründung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ durchaus in die Tradition der Vertriebenenpolitik der Union seit 1982, Teilzugeständnisse zu verknüpfen mit der Abwehr von zu großen Einflussnahmen des BdV auf die Politik der Union. Dass das Thema „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ anfangs nach wie vor konfliktträchtig war, zeigen die heftigen Diskussionen um die Besetzung des erstens Stiftungsrats. Drei Mitglieder sollten durch den BdV nominiert werden. Dieser wollte, was nach all den Jahren nur logisch erscheint, Erika Steinbach in dieses Gremium entsenden, was innenpolitisch umstritten war und erneut zu Kritik aus Polen führte; besonders der polnische Historiker, Publizist und Politiker Władysław Bartoszewski fand immer wieder sehr deutliche und scharfe Worte gegen Steinbach. Er drohte unter anderem mit der Absage mehrerer deutschpolnischer Veranstaltungen 2009, wenn Erika Steinbach in den Stiftungsrat berufen werde. 95 Dieser Konflikt zeigt, wie die BdV-Vorsitzende polarisiert, wobei deren Bekanntheitsgrad in Polen weitaus höher ist als in Deutschland. Schließlich wurde der öffentliche Druck so groß, dass Erika Steinbach davon absah ihren Platz im Stiftungsrat anzutreten. Stattdessen ließ der BdV einen der ihm zustehenden Plätze frei. 96 2010 wurde im Rahmen einer Umorganisation der Stiftungsgremien, der zu deren Vergrößerung führte und dem BdV mehr Mitglieder im Stiftungsrat zugestand, dessen Einfluss aber insgesamt nicht vergrößerte, eine einvernehmliche Lösung gefunden, wobei Erika Steinbach auf einen Sitz im Stiftungsrat verzichtete. 97 Beeinflusst wurde die kontroverse Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen auch durch die Gründung der sogenannten „Preußischen Treuhand“. 98 Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 durch Mitglieder der Landsmannschaften Ostpreu-

93 Vgl. Rainer Ohlinger, Gelungene Wege der Erinnerung? Zur Errichtung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, in: Deutschland-Archiv 41 (2008) 5, 773–775, hier 773. Vgl. auch die Homepage der Stiftung: http://sfvv.de/de (Stand: 05.01.2012). 94 Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Flucht, Vertreibung, Integration. Begleitbuch zur Ausstellung in Bonn, Bonn 2005. 95 Vgl. hierzu http://www.sueddeutsche.de/politik/913/458564/text/ (Stand: 13.03.2009). 96 Vgl. hierzu etwa http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/?em_cnt=1715257& (Stand: 09.04.2009). 97 Vgl. Steinbach, Die Macht der Erinnerung, 115–123. 98 Vgl. dazu den Internetauftritt: http://www.preussische-treuhand.org (Stand: 04.01.2013).

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ßen und Schlesien sorgte diese in Polen für große Unruhe 99, wohingegen sie in Deutschland lange Zeit kaum wahrgenommen wurde. Die „Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a. A.“ ist eine kommerzielle Vereinigung zur Durchsetzung von Vermögensansprüchen enteigneter Deutscher in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, welche sich am Vorbild der „Conference on Jewish Claims against Germany“ orientiert. Zwar distanzierte sich der BdV auch durch einen Gerichtsbeschluss eindeutig von dieser Initiative 100, doch wird besonders im Ausland weiterhin eine Verbindung zwischen beiden Organisationen hergestellt. Dass diese Gründung zeitnah zur Gründung der ZgV-Stiftung lag, tat ein Übriges. Durch das Projekt ZgV gelang es dem BdV, aus der verbandspolitischen Defensive herauszukommen und wieder eine größere Aufmerksamkeit in den Medien zu erhalten. Erika Steinbach erkannte früh, dass das Thema wieder an Relevanz gewann. Der gewählte Zeitpunkt war aber auch aus einem anderen Grund wichtig: Viele Aufgaben, die sich der BdV seit seiner Gründung auf die Fahnen geschrieben hatte, waren erreicht (Vertriebenenintegration) oder durch internationale Verträge abschließend geregelt worden (Grenzfrage). Daher wurde eine Aufgabe benötigt, die dem BdV eine neue Legitimation gab, sich weiterhin als einflussreicher und zukunftsfähiger Verband zu präsentieren. 6. NEUE ÖFFENTLICHE AUFMERKSAMKEIT FÜR DIE HEIMATVERTRIEBENEN Das Thema ZgV kann als wichtiges Indiz dafür gelten, dass das Thema Flucht und Vertreibung in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hat. Auffällig ist, dass diese Tendenzen auch durch die Medien aufgegriffen und verstärkt wurden, Guido Knopp und Günter Grass können hier als wichtige Beispiele gelten. Knopp schaffte es, durch seine fünfteilige Dokumentations-Reihe „Die Große Flucht“ ein breites Fernsehpublikum für diesen Teil der deutschen Geschichte zu sensibilisieren. Die fünf Teile dieser Reihe wurden zwischen dem 20. November und dem 18. Dezember 2001 jeweils an einem Dienstag um 20.15 Uhr ausgestrahlt, das heißt zur besten Sendezeit. Der Zuschauerdurchschnitt aller fünf Folgen lag bei 5 Millionen, was einem Marktanteil von 16,1% entsprach. 101 Die höchste Quote erreichte der erste Teil mit 5,83 Millionen Zuschauern, ein Marktanteil von 18,2%. Die geringste Quote hatte der fünfte Teil, wobei es immer noch 4,44 Millionen Zuschauer waren, hier lag der Marktanteil bei 14,1%. 102 Vergleicht man diese Zahlen mit denen anderer Produktionen der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF, welche das Thema des Nationalsozialismus behandelt 99 Roland Kirchbach, „Da müssen sie mit dem Panzer kommen!“, in: Die Zeit vom 27.05.2004, 15. 100 Deutscher Ostdienst 8/2004, 7. 101 Abteilung Medienforschung des ZDF, nach schriftlicher Anfrage vom 01.12.2007 am 08.12.2007 bereitgestellt von Andres Heilig (alle Daten endgültig gewichtet). 102 Ebd.

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haben, stellt man fest, dass der Schnitt von 5 Millionen Zuschauern von keiner anderen Sendereihe erreicht wurde. Am nähesten heran kam die Dokumentation über die Waffen-SS in sechs Folgen mit einem Schnitt von 4,66 Millionen Zuschauern. 103 Weitere Produktionen wie „Göring – eine Kariere“ 104, „Der Jahrhundertkrieg“ 105 oder auch der „Bombenkrieg“ 106 lagen teils deutlich darunter. Vor allem der Anteil jüngerer Zuschauer für die Reihe um Flucht und Vertreibung zwischen 14 und 49 Jahren war hoch und lag bei 1,42 Millionen. Aus einer ForsaUmfrage geht hervor, dass über die Hälfte der Befragten, 59%, eine solche Sendung als überfällig ansah. 107 Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Thema Flucht und Vertreibung für weite Kreise der bundesdeutschen Bevölkerung von großem Interesse war. Auch Günter Grass mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ 108, welches bereits in mehreren Auflagen erschienen ist und somit eines seiner erfolgreichsten Bücher der vergangenen Jahre darstellt, war mitentscheidend für das gestiegene Interesse an Flucht und Vertreibung. Selbst Marcel Reich-Ranicki, der seit seiner niederschmetternden Kritik zu Grass Roman „Ein weites Feld“ nicht als dessen Anhänger bezeichnet werden kann, gestand nach der Lektüre dieses Buches: „Ich habe geweint und ich weine nicht unter meinem Niveau.“ 109 Dieses Zitat belegt eindrucksvoll, wie nachhaltig das Buch „eingeschlagen“ hatte. „Der Spiegel“ widmete der Novelle eine eigene Titelseite mit der Überschrift „Die Deutsche Titanic“ 110. Allein die Tatsache, dass es Grass war, der sich eines solchen Themas angenommen hatte, überraschte viele. Zwar hatte er hatte er schon in früheren Werken auf dieses Kapitel deutscher Geschichte hingewiesen, es aber nie als Hauptmotiv verwendet. 111 Der Sinneswandel von Günter Grass ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich auch bei Teilen der intellektuellen Linken ein Umdenken vollzogen hatte, wonach nun Flucht und Vertreibung einen Platz in der öffentlichen Erinnerung fand. Im Buch selbst übt Grass durch die Romanfigur „Der Alte“, die ihn repräsentieren soll, Selbstkritik, indem er einräumt, dass „es Aufgabe seiner Generation gewesen (wäre), dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben. … Niemals, sagt er, hätte man so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos…“ 112

103 Abteilung Medienforschung des ZDF, nach schriftlicher Anfrage vom 06.12.2007 am 13.12.2007 bereitgestellt von Andres Heilig (Daten vorläufig gewichtet am 11.12.2007). 104 14.03.2006 bis 28.03.2006, 4,21 Millionen Zuschauer im Durchschnitt, Marktanteil 12,3%. 105 08.01.2002 bis 09.04.2002, 4,08 Millionen Zuschauer im Durchschnitt, Marktanteil 12,6%. 106 04.02.2003, 4,64 Millionen Zuschauer, Marktanteil 14,0%. 107 ZDF Pressestelle: Pressemitteilung – ZDF-Reihe „Die große Flucht“ von jüngeren Zuschauern besonders gelobt, Mainz, den 21.12.2001. 108 Günter Grass, Im Krebsgang. Novelle, Göttingen 2002. 109 Zit. nach Deutscher Ostdienst 14/2002, 23. 110 Der Spiegel 6/2002. 111 Vgl. Peter Schneider, Alles reimt sich auf Faschist. Günter Grass, ΄68 und die Vertriebenen, in: Die Zeit vom 26.03.2002, 49. 112 Grass, Im Krebsgang, 99.

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Das Bild von Flucht und Vertreibung wurde durch beide Medienereignisse in der Öffentlichkeit positiv geprägt. Dem kam zu Gute, dass sie dies auf jeweils eigene Art taten. Knopps Produktion verarbeitet das Thema so, dass eine breite Öffentlichkeit die Möglichkeit hatte, einen Zugang zum Schicksal der Vertriebenen zu finden. Grass dagegen wählt eher einen gehobeneren, intellektuellen Zugang. In der literarisch interessierten Öffentlichkeit wurde auf einmal darüber gesprochen, dass auch die Heimatvertriebenen Opfer sein könnten. Über Flucht und Vertreibung wurde insgesamt wieder verstärkt berichtet.113 Noch im Jahr 2002 brachte „Der Spiegel“ eine über sich mehrere Ausgaben erstreckende Dokumentation mit dem Titel „Die Flucht – Spiegel-Serie über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ 114 heraus. Zusätzlich druckte der Springer-Verlag ein „Spiegel spezial“ mit dem Titel „Die Flucht der Deutschen“. 115 Auch weiterhin blieb dieses Thema im Fernsehen präsent, wie der ARDZweiteiler „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle zeigt. Auch hier waren die Einschaltquoten sehr hoch. Den ersten Teil sahen 11,16 Millionen Zuschauer, das entsprach einem Marktanteil von 29,5%. 116 Teil zwei sahen 10,6 Millionen Zuschauer, ein Marktanteil von 29%. 117 7. SCHLUSSBETRACHTUNG Seit Mitte der neunziger Jahre ist ein deutlicher Wandel im Umgang mit Flucht und Vertreibung zu verzeichnen. Vor allem seit der Jahrtausendwende nahm dieses Thema einen zunehmend wichtigeren Platz innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft ein. 118 Dass die Verbindung der Vertriebenenverbände zur Union immer noch sehr eng ist, wurde deutlich gemacht. Wenn der BdV beispielsweise gerade am Geburtstag von Bundeskanzlerin Angela Merkel in das Bundeskanzleramt eingeladen wird, ist das für den BdV der Hinweis, weiterhin auf die Union setzen zu können. 119 Die Union wird deshalb wohl auch in Zukunft der vorrangige politische Ansprechpartner des BdV bleiben, CDU und CSU sehen offenbar trotz des gar nicht zu übersehenden Bedeutungsverlusts des BdV in den organisierten Heimatvertriebenen weiterhin ein wichtiges Wählerklientel, das es zu pflegen gilt. 113 Vgl. Bernd Faulenbach, Flucht und Vertreibung in der individuellen, politischen und kulturellen Erinnerung, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufanalysen 21 (2008) 1, 104–113, hier 111. 114 Der Spiegel 13–16/2002. 115 Spiegel Spezial, 2002. 116 Die Zahlen wurden von der ARD-Zuschauerredaktion nach schriftlicher Anfrage vom 11.01.2008 am 28.01.2008 übermittelt. 117 Ebd. 118 Vgl. Hartmut Koschyk, Der neue Stellenwert von Flucht und Vertreibung in der Erinnerungskultur, in: Gauger / Kittel (Hgg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, 139–144, hier 139. 119 Deutscher Ostdienst 8/2007, 5f.

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Die Diskussionen um das ZgV zeigen, dass für viele der Umgang mit dem Thema Vertreibung nach wie vor von teils erheblichen Bedenken geprägt ist und dass es Konfliktpotential in sich trägt. Daher ist es auch weiterhin wichtig, dass vor allem zwischen Deutschland und Polen sowie zwischen Deutschland und Tschechien der gemeinsame Dialog weitergeführt wird. Inwieweit der BdV hier beteiligt werden kann, wird sich zeigen. In jedem Fall sollte aber in den östlichen Nachbarländern Deutschlands auf der politischen Ebene mehr Gelassenheit im Umgang mit den Vertriebenenverbänden an den Tag gelegt werden. Die Frage, inwieweit die Vertriebenen auch in den Ländern, aus denen sie vertrieben wurden, als Opfer anerkannt werden, wird angesichts der Fortwirkens der Erinnerung an die deutsche Terrorherrschaft dort und der Tatsache, dass nach 1945 nicht wenige ehemalige Nationalsozialisten auch in den Vertriebenenverbänden aktiv waren 120 wohl weiter kontrovers diskutiert werden. Michael Schwartz ist aber zweifellos zuzustimmen, wenn er schreibt: „Wenn heute von „Vertriebenen“ gesprochen wird, geht es nicht um Revision, sondern um Anerkennung – innerhalb der deutschen Gesellschaft, aber auch seitens der osteuropäischen Nachbarn. Es geht um die nach wie vor nicht selbstverständliche Anerkennung der Tatsache, dass die Vertreibung der Deutschen nach 1945 ein Unrecht war, das mit vorangegangenen noch schlimmeren deutschen Verbrechen zweifellos erklärt, aber nicht gerechtfertigt werden kann.“ 121

120 Vgl. Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“. 121 Michael Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland. Integrationspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008) 1, 101–151, hier 104.

ZWANGSMIGRATIONEN IM KONTEXT DES ZWEITEN WELTKRIEGS. ZWÖLF AUSGEWÄHLTE SCHWERPUNKTE Jan M. Piskorski 1. DAS JAHRHUNDERT DER FLÜCHTLINGE Das zwanzigste Jahrhundert wurde oft als das Jahrhundert der Zwangsmigrationen bezeichnet. In Europa begann und endete es mit Vertreibungen auf dem Balkan. Dazwischen gab es vor allem Umsiedlungen im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen, die stalinistischen Verbannungen, die Flucht der Armenier und Griechen aus der Türkei, die Vertreibung der Juden und politischen Gegner Hitlers aus Deutschland und schließlich die Flucht der Republikaner aus dem vom Bürgerkrieg erschütterten Spanien. Nach Schätzungen produzierte Europa in dieser Zeit nicht weniger als 80 Millionen Zwangsmigranten, die meisten davon während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach. 1 Tatsächlich übersteigt die Zahl der Flüchtlinge, deren genaue Größe bis heute nur annäherungsweise angegeben werden kann – wie so vieles im Massenzeitalter – die Grenzen der Vorstellungskraft. Das liegt daran, dass die Zahlen selbst nicht viel sagen, wenn man sie nicht mit den allgemeinen demographischen Verhältnissen in Beziehung setzt. Einer Million Flüchtlinge in der heutigen Zeit entsprechen im Mittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit höchstens einige Zehntausend Flüchtlinge. Nichtsdestoweniger bilden sie damals und heute – proportional zur Bevölkerungszahl – ein quantitativ wichtiges Phänomen. Man schätzt, dass die im 15. Jahrhundert aus den spanischen Städten vertriebenen Juden ungefähr 20% ihrer Bevölkerung ausmachten. Die Zahl der Slawen, die in der Mitte des 12. Jahrhunderts aus Ostholstein (Wagrien) vertrieben wurden, muss anteilig noch höher gewesen sein. 2 Eine prozentuelle Bewertung ist übrigens nicht nur im chronologischen, sondern auch im geographischen Sinne notwendig. Die Zahl der 1

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Dieser Beitrag wurde Ende 2009 auf der Grundlage meines damals fast fertigen Buchs Wygnańcy. Przesiedlenia i uchodźcy w dwudziestowiecznej Europie (Warszawa 2010) vorbereitet, das 2013 beim Siedler-Verlag in deutscher Sprache unter dem Titel Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts in der Übersetzung von Peter Oliver Loew erschienen ist. Für diese Veröffentlichung sind nur einige wichtige Stellen korrigiert und einige neue Werke ergänzt worden. Hans-Heinrich Nolte, Zwischen Duldung und Vertreibung: (Ethno-)religiöse Minderheiten im europäischen Vergleich, in: Sylvia Hahn / Andrea Komlosy / Ilse Reiter (Hgg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa 16.–20. Jahrhundert, Innsbruck 2006, 27–45, v. a. 31f; Eugen M. Kulischer, Displaced Persons in the Modern World, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 262, March 1949, 166–177, v. a. 177.

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Flüchtlinge auf dem Balkan von ungefähr 1850 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts wird auf ca. 12 Millionen geschätzt, was auf 150 Jahre verteilt angesichts der Zahl der Kriege und auch im Vergleich mit anderen Zahlen aus dem östlichen und zentralen Teil des europäischen Kontinents in dieser Zeit keinen großen Eindruck machen würde, wenn es nicht in diesem Falle um einen beträchtlichen Teil der dortigen Bevölkerung ginge. 3 Die Zahlen der polnischen und noch mehr der deutschen Flüchtlinge werden immer eindrucksvoller sein als die entsprechenden Zahlen bei Tschetschenen, Tataren, Apachen oder Cherokee, obwohl es im ersten Falle um einen relativ niedrigen Prozentsatz der Bevölkerung geht, im zweiten aber um ganze oder fast ganze Völker. Außerdem entscheiden sicherlich nicht die Zahlen, mit denen man für gewöhnlich beginnt, über das für das 20. Jahrhundert Spezifische in der Geschichte der Migrationsprozesse. Es sind eher drei andere Elemente charakteristisch: Die Beziehungen zu ethnischen und rassischen Minderheiten und auch die Nationalisierung der Bürgerrechte. Die ersten beiden Faktoren sind nicht ganz neu, vor allem im Kolonialzusammenhang, während das dritte Element durch und durch „modern“ ist. Damit verbindet sich nämlich das Auftauchen der zuvor unbekannten Kategorie der Staatenlosen, Menschen also, die aus ihrem eigenen Land vertrieben wurden oder flüchten mussten und von keinem anderen Land aufgenommen wurden. 4 Charakteristisch ist für das 20. Jahrhundert auch die dramatische Zunahme von Flüchtlingen in Folge von kriegerischen Konflikten. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg waren es zehnmal mehr als während des Ersten Weltkriegs. 5 2. ZAHLEN, DIE MAN SICH NUR MIT GROßER MÜHE VORSTELLEN KANN Die Zahl der während des Zweiten Weltkriegs ums Leben Gekommenen wird auf 50 bis 60 Millionen geschätzt, darunter 24 Millionen Soldaten. Die meisten Opfer waren Europäer – mindestens 40 Millionen, darunter 19 Millionen Soldaten. Die größten Verluste insgesamt erlitt die Sowjetunion – nicht weniger als 20 Millionen, darunter rund 10 Millionen Soldaten. Das größte Missverhältnis zwischen getöteten Soldaten und Zivilisten weist Polen auf, nämlich 1 zu 50, wobei unter den fast 6 Millionen polnischen Opfern mehr als 2,5 Millionen polnische Juden waren, fast die Hälfte der während des Krieges ermordeten jüdischen Bevölkerung und zugleich 90% der Juden aus Polen. Unter den polnischen Staatsbürgern, die 3 4

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Holm Sundhaussen, Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa seit der Nationalstaatswerdung (19./20. Jahrhundert), in: Comparativ 6 (1996) 1, 25–40, v. a. 34. Michael R. Marrus, The Unwanted: European Refugees in the 20th Century, Oxford University Press 1985, 4f und v. a. Aristide R. Zolberg/Astri Suhrke/Sergio Aguayo, Escape from Violence. Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World, Oxford University Press 1989, 11–16. Malcolm J. Proudfoot, European Refugees, 1939–1952: A Study in Forced Population Movement, London 1957, 21.

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den Krieg nicht überlebten, waren auch Hunderttausende polnische Weißrussen, Roma, Litauer, Ukrainer und schließlich Deutsche, darunter 6.000, die im September 1939 während ihrer Evakuierung nach Osten ums Leben kamen oder getötet wurden. Hohe Verluste erlitt auch Deutschland selbst: zwischen fünf und mehr als sechs Millionen. Eine halbe Million davon bilden – wie der beste Kenner dieser Problematik Rüdiger Overmans gezeigt hat – bezeugte Opfer im Zusammenhang mit Flucht, Rache und Vertreibung, vor allem in den Jahren 1944 bis 1946. Tatsächlich kann die Zahl der Opfer höher gewesen sein. Traditionell wird deren Zahl sogar mit zwei Millionen angegeben, aber mehr als anderthalb Millionen davon sind ungeklärte Fälle. Und selbst wenn dies – wie Andreas Kossert meint – prinzipiell nichts an den Opferzahlen ändert, ändert es deren Aussage doch diametral. Unter den ungeklärten 1,5 Millionen sind nämlich Soldaten der Wehrmacht, die in Kämpfen ums Leben gekommen sind. Darunter sind Zivilisten, die an die Frontlinie gerieten. Es sind Opfer der im letzten Augenblick angeordneten chaotischen Flucht. Es sind Zivilisten, die während der sinnlosen Verteidigung der Städte fielen. Es sind Opfer alliierter Luftangriffe, die sich nicht gegen die Flüchtlinge richteten, sondern gegen das Heer, das sich mit ihnen zurückzog. Es sind Opfer des zu schnell in Vergessenheit geratenen nationalsozialistischen Terrors gegen die eigene Bevölkerung, der Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Deutsche das Leben kostete, vor allem im Osten. Es sind schließlich jene, die den Krieg überlebten und im Osten blieben, nur dass sie unter den neuen Umständen manchmal über Jahrzehnte ihre deutsche Identität vergessen machen wollten: sei es, um nicht dem Ostrakismos der Nachbarn ausgesetzt zu sein, sei es aus Furcht vor Aussiedlung. Die polnischen Verluste während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach wurden niemals detailliert gezählt, weil sich dies wegen der territorialen Verschiebung des polnischen Staates und der dadurch bedingten tiefen Bevölkerungsveränderungen als praktisch unmöglich erwies. Besonders schwer vorzustellen ist die Zahl der Europäer, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg umgesiedelt wurden. Allein zwischen 1939 und 1942/43 betrafen die Umsiedlungen mehr als 30 Millionen Menschen, darunter noch verhältnismäßig wenige Deutsche, im Grunde nämlich nur sog. Volksdeutsche von außerhalb des Reiches. In der zweiten Hälfte des Krieges und unmittelbar danach stieg deren Zahl mindestens auf das Doppelte, wobei jetzt die Deutschen den ersten Platz einnahmen. Zuerst dominierten unter ihnen die sogenannten Umquartierten – Evakuierte aus den durch Flächenbombardements zerstörten deutschen Städten. Viele befanden sich im Osten des Reiches und in den besetzten Gebieten Westpolens, bevor es zur großen Flucht kam, die – angesichts der Offensive der Roten Armee im Januar 1945 – auch die Deutschen in den Ostprovinzen des Reiches erfasste. Im Frühling 1945 überquerten deutsche Flüchtlinge und bald auch ein paar Millionen deutsche Verjagte, die kraft des Potsdamer Abkommens umgesiedelt wurden, die Oder und kamen in ein Gebiet, in dem sich zwischen 10 und 12 Millionen Displaced Persons aufhielten, vor allem Zwangsarbeiter, die – wie Historiker detailliert festgestellt haben – 20 Nationen und 35 Sprachen repräsentierten. Überhaupt erinnerte ganz Mitteleuropa in den letzten Kriegsund ersten Friedensjahren an den Turmbau zu Babel.

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Zwangsumsiedler im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg bildeten 10% der europäischen Gesamtbevölkerung, und in Polen und Deutschland, wo die Umsiedlungen noch die ersten Nachkriegsjahre andauerten, überschritten sie sicherlich die 20%-Marke. Nach Schätzungen wechselte zwischen 1939 und 1959, als die letzten – was nicht heißt, alle – Polen die Sowjetunion verließen, mehr als ein Drittel aller Polen seinen Wohnort. 6

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Vgl. Kulischer, Displaced Persons, 168f.; Proudfoot, European Refugees, 21; Joseph B. Schechtman, Postwar Population Transfers in Europe, 1945–1955, Philadelphia 1962, 363; John G. Stoessinger, The Refugee and the World Community, Minneapolis 1956, 47; Theodor Schieder in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels (Hgg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, München 1984, Bd. I, 16E–23E, 157E–160E; Marrus, The Unwanted, 3f.; Jerzy Zdzisław Holzer, Bilans demograficzny Polski dla okresu 1939–1945, in: Dzieje Najnowsze 26/1994, Hf. 2, 5– 7; Czesław Łuczak, Szanse i trudności bilansu demograficznego Polski w latach 1933–1945, in: ebd., 9–14, besonders 11f.; Józef Marszałek, Stan badań nad stratami osobowymi ludności żydowskiej Polski oraz nad liczbą ofiar obozów zagłady w okupowanej Polsce, in: ebd., 33– 40; Rüdiger Overmans, Personelle Verluste der deutschen Bevölkerung durch Flucht und Vertreibung, in: ebd., 51–65, v. a. 61–63; Bernadetta Nitschke, Wysiedlenie czy wypędzenie? Ludność niemiecka w Polsce w latach 1945–1949, Toruń 2001, 240; Elena Zubkova, Russia after the War: Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945–1957, übersetzt von Hugh Ragsdale, Armonk, NY 1998, 20f.; K. Erik Franzen, Die Vertriebenen: Hitlers letzte Opfer, München 2001, 56; Norman M. Naimark, Fires of Hatred: Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Cambridge, MA 2001, 126 u. 228, Anm. 111; Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, 284f.; Jochen Oltmer, Krieg, Migration und Zwangsarbeit im 20. Jahrhundert, in: Hans-Christoph Seidel / Klaus Tenfelde (Hgg.), Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, Essen 2007, 132 u. 153; Ders., Zwangsmigrationen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg: Deutschland und Europa, in: Ralph Melville / Jiří Pešek / Claus Scharf (Hgg.), Zwangsmigration im Mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950), Mainz 2007, 75; Włodzimierz Borodziej/Stanisław Ciesielski/Jerzy Kochanowski, Wstęp, in: Stanisław Ciesielski (Hg.), Przesiedlenie ludności polskiej z Kresów Wschodnich do Polski 1944–1947, Warszawa 1999, 35; Bogusław Bakuła, Z kresów na kresy. Powojenna migracyjna powieść o kresach zachodnich, in: Ders., Antylatarnik oraz inne szkice literackie i publicystyczne, Poznań 2001, 71; Philipp Ther, The Integration of Expellees in Germany and Poland after World War II: A Historical Reassessment, in: Slavic Review 55, No. 4 (Winter 1996), 779–805; Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002, 473–488; Jędrzej Chumiński, Die Rolle ehemaliger Zwangsarbeiter bei der Besiedlung und Bewirtschaftung der sogenannten Wiedergewonnenen Gebiete in Polen in den Jahren 1945–1956, in: Dieter Bingen / Peter Oliver Loew / Nikolaus Wolf (Hgg.), Interesse und Konflikt: Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900–2007, Wiesbaden 2008, 161–181; Ingo Haar, Straty związane z wypędzeniami: stan badań, problemy, perspektywy, in: Polski Przegląd Dyplomatyczny 2007, Nr. 5 (39), 11–26; Andreas Kossert, Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, 41; Robert Żurek, Wieviele Opfer forderte die Vertreibung, in: Dialog 90, 2009/2010, 74–78.

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3. DIE ERDE BRENNT UNTER DEN FÜßEN Zwanzig Jahre nach Ende des Kalten Kriegs und einige Jahre nach dem EUBeitritt Polens wird den Europäern langsam klar, dass der Zweite Weltkrieg im europäischen Osten völlig anders aussah als im Westen und dass der Vernichtungskrieg, dessen Ausbruch zutreffend mit dem sowjetisch-deutschen Konflikt seit 1941 assoziiert wird, schon damals eine lange Inkubationszeit hinter sich hatte. Die Massenmorde, Massenumsiedlungen und -deportationen begannen in Polen eigentlich schon im September 1939, woran sich lokale volksdeutsche Selbstschutztruppen aktiv beteiligten. 7 Allein bis zum Ende des Jahres erschoss man einige Zehntausend Polen, die vorwiegend aus den breit verstandenen polnischen Eliten stammten, und Tausende polnische Juden, die damals noch nicht selten wegen der Zugehörigkeit zu den polnischen Eliten ums Leben kamen. Im Herbst 1939 lief eine Umsiedlungsaktion an, die mehr als eine Million Menschen aus den annektierten polnischen Provinzen Pommerellen und Großpolen ins Generalgouvernement brachte. Das Ausmaß der Brutalität überraschte selbst älteste Mitglieder der NSDAP. Hans Frank, von dem man kaum Sympathie für die polnische Bevölkerung erwarten konnte, sprach noch zwei Jahre später auf einer Sitzung der Besatzungsregierung in Krakau von den furchtbaren Wintermonaten, als aus Westpolen täglich Güterzüge ankamen, aus denen man nur Leichen herausholen konnte. 8 Gleichzeitig begannen im von Stalin besetzten Ostpolen die sowjetischen Deportationen, die seit Februar 1940 stark zunahmen. Unterbrochen wurden sie erst durch Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, der besonders für die polnischen Juden dramatische Folgen hatte. Für das besetzte Polen begannen nun die schwärzesten Monate und Jahre. 9 Das Jahr 1942 und die erste Hälfte des Jahres 1943 führten zur Eskalation der Judenvernichtung, wodurch sich die polnischen Gebiete in einen jüdischen Friedhof verwandelten. Im Generalgouvernement wurden 99% der Juden ermordet. Die wenigen geretteten sind vor allem die Kinder. Nur wenig später schritt man zur Aussiedlung der Polen aus dem Gebiet um Zamość und zur blutigen Befriedung der Gebiete um Lublin und Grodno. Auch die Häufigkeit kollektiver Erschießungen nahm zu, vor allem in Warschau, das nach zwei Aufständen – im Ghetto im Frühling 1943 und dem weiteren im Herbst 1944 – komplett zerstört wurde und dessen Bevölkerung man in die Provinz vertrieb oder in die Konzentrationslager bzw. zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte.

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Siehe jetzt v. a. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006 und Ders., Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Frankfurt am Main 2009. Literatur auch in: Jan M. Piskorski, From Munich through Wannsee to Auschwitz: The Road to the Holocaust, in: Journal of the Historical Society 7/6, 2007, 155–175. Czesław Madajczyk, Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce, Bd. I, Warszawa 1970, 310. Vgl. Wiktoria Śliwińska (Hg.), Czarny rok..., czarne lata, Warszawa 1996. Deutsche Auswahl von Karin Wolff unter dem Titel, Schwarze Jahre: Zeugen des Holocaust erinnern sich, Leipzig 1997.

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4. ZERSCHLAGENES GESCHIRR Wie man sich leicht vorstellen kann, erreichten die Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn 1945 ihren historischen Tiefpunkt. Auf Mitgefühl konnten die Deutschen kaum hoffen, im besten Falle auf Gleichgültigkeit. Das Klima der damaligen Frühlingstage spiegelt sich gut in den Tagebuchaufzeichnungen Adam Brombergs wider, eines Panzersoldaten in der Polnischen Armee, der auf die Kolonnen deutscher Verjagten schaute, auf den langen Zug von Wagen mit Gepäck, Fahrrädern und Pferden, und ohne Bedauern feststellte: „sie gingen wie wir am Anfang des Krieges.“ Die Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten in Pommern, das für viele Rotarmisten die erste Bastion des eroberten Deutschland war, mussten ihn erschüttern: „die Russen stürzten sich“ – schrieb er – „wie ein aus dem Käfig gelassenes Raubtier auf alles, was sie bekommen konnten, sie vergewaltigten Frauen öffentlich, kollektiv, auf der Straße, holten Mädchen für ihre Führer aus den Häusern.“ Sein Bedauern galt aber wohl vor allem der durch die Sowjets zerstörten Infrastruktur jener Gebiete, die nach den Beschlüssen der Konferenz von Jalta Polen zufallen sollten. 10 Rachedurst erfasste ganz Europa, und überall – auch in den Ländern, die während des Krieges mit Deutschland zusammengearbeitet hatten oder sich dazu gezwungen gesehen hatten, sogar in Österreich 11 – kam es vor diesem Hintergrund zu Vergeltungsmaßnahmen. Man schlug die Deutschen unabhängig von ihrer individuellen Schuld, nutzte sie als kostenlose Arbeitskräfte, entzog ihnen ihren Besitz, steckte sie schließlich in Internierungslager und siedelte sie aus. 12 Die Haltung der Polen wich nicht von der Haltung anderer Völker ab. 13 Es besteht aber kein Zweifel daran, dass es im Osten Europas besonders schlecht stand. Deutsche, aber auch Zehntausende Esten, Litauer, Letten, Ukrainer, Ungarn und sogar Polen, also Alliierte im Bündnis gegen Hitler, und schließlich die in Deutschland 10 Henryk Grynberg, Memorbuch, Warszawa, 170 und 172. Vgl. Jan M. Piskorski, Wir haben die Tür abgeschlossen: Das Problem der Vertreibung im 20. Jahrhundert und der Versöhnung mit der Erinnerung im Kontext der Aufgaben der Zeitgeschichte, in: Thomas Strobel / Robert Maier (Hgg.), Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, Hannover 2008, 13–28. 11 Helfried Pfeifer, Die Rechtslage der Flüchtlingen deutscher Volkszugehörigkeit in Österreich, in: Ostdeutsche Wissenschaft 10/1963, 255–338, hier 280–83; Matthias Pape, Ungleiche Brüder: Österreich und Deutschland 1945–1965, Köln u. a. 2000, 115–119; Matthias Stickler, Vertriebenenintegration in Österreich und Deutschland – ein Vergleich, in: Michael Gehler / Ingrid Böhler (Hgg.), Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/1949 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck 2007, 416–435, hier 423–426. 12 Pavel Polian, Westarbeiter: Reparationen durch Arbeitskraft. Deutsche Häftlinge in der UdSSR, in: Dittmar Dahlmann / Gerhard Hirschfeld (Hgg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation: Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, 337–367; Piotr M. Majewski, „Niemcy Sudeccy“ 1848–1948. Historia pewnego nacjonalizmu, Warszawa 2007, 428–461. 13 Nitschke, Wysiedlenie, 164; Witold Stankowski, Obozy i inne miejsca odosobnienia dla niemieckiej ludności cywilnej w latach 1945–1950, Bydgoszcz 2002, 31–103.

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befreiten eigenen Kriegsgefangenen wurden zur Zwangsarbeit oder ins Lager in die Sowjetunion geschickt. Aber auch einige polnische Lager waren als Orte ausgeklügelter Foltermethoden und regelmäßiger Gewalttaten berüchtigt, obwohl es auch andere Lager gab, die man als eine Art Refugium betrachtete. Diese gewährten in schweren Zeiten und in schwieriger Umgebung ein Minimum an Sicherheit und Verpflegung, was heute allzu leichtfertig vergessen wird. Die durch den Krieg zerstörte, schwache polnische Verwaltung konnte besonders in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die zu den neuen polnischen Westgebieten wurden, die Internierungsplätze nicht regelmäßig kontrollieren, und die übereilt und zufällig rekrutierte polnische Miliz setzte sich anfänglich aus Elementen zusammen, die die öffentliche Ordnung ebenso sehr bedrohten, wie sie sie schützten. Zwar erhielt sie wie die polnische Armee klare Befehle, nach denen sie Fraternisierung mit dem Feind, aber auch unangemessene Gewaltanwendung insbesondere gegenüber Schutzlosen und Schwachen vermeiden sollte, aber deren Umsetzung ließ viel zu wünschen übrig. 14 Zugleich bekam der Wunsch nach Rache in einigen polnischen Lagern einen ganz besonderen Beigeschmack, um in diesem Kontext auf die dadurch geleiteten jungen Polen, nicht selten jüdischer Herkunft, zu verweisen, die ihre jugendlichen Wertevorstellungen in Konzentrationslagern erworben hatten. 15 Übrigens machen sich auch außerhalb der Konzentrationslager diese Rachegelüste besonders stark unter Jugendlichen bemerkbar, ganz besonders bei jungen Intellektuellen. Nachdenklichere Deutsche mit größerem Weitblick überlegten sich schon seit dem September 1939, welches Schicksal sie nach dem verlorenen Kriege erwartete. Seit Juni 1941 waren viele schon fest von der zwangsläufigen Niederlage und der bitteren Rache überzeugt, was sie allerdings oft nicht davon abhielt, sich mental Hitler anzunähern (und gerade das ist für uns Heutige vielleicht besonders beunruhigend und ruft am meisten Fragen hervor). 16 Thomas Mann prophezeite den Deutschen hundert Jahre Isolation von der zivilisierten Welt. Der Direktor des Landgerichts in Münster Harald Seiler dachte erbittert an das Unrecht, das Polen geschehen war, und die dafür zu erwartende Rache; in Deutschland werde es nicht einmal mehr Universitäten geben. 17 Der katholische Journalist Walter Dirks und Eugen Kogon, Politologe und Buchenwald-Häftling, schrieben im Mai 1947 angesichts der Welle von Racheakten, die die Deutschen 1945 traf, dass diese Reaktionen im Affekt nur schwerlich zu vermeiden waren, waren sie doch die Antwort auf jahrelange Grausamkeiten. Nach ihrer Meinung erwartete ein großer Teil der

14 Vgl. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung, 1939–1945: Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München, 2. Auflage 2005, 439. 15 Vgl. Helga Hirsch, Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944–1950, Berlin 1998. 16 Dazu Hubert Orłowski / Thomas F. Schneider (Hgg.), „Erschießen will ich nicht“. Als Offizier und Christ im totalen Krieg. Das Kriegstagebuch des Dr. August Töpperwien 3. September 1939 bis 6. Mai 1945, Düsseldorf 2006. 17 Gerd Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, Freiburg im Br. 1981, 63.

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Deutschen diese gewalttätige Antwort, auch wenn man dies später nicht zugeben wollte. 18 Unabhängig davon, inwieweit der Rachedurst unter den damaligen Umständen verständlich ist, ist er zugleich, insbesondere in seiner kollektiven Form, Ausdruck für die Verwilderung, die sich 1945 in Europa breitmachte. Dirks und Kogon machen zutreffend darauf aufmerksam, dass es eine weitreichende Vereinfachung ist, die damaligen Ereignisse als das Zurückschlagen der Opfer zu erklären. Es geht eher um Ansteckung. Es rächten sich nicht zwangsläufig die tatsächlich von der Gewalt Betroffenen. In der Tschechoslowakei und in Polen hört man von Racheakten, die von Volksdeutschen und früheren Kollaborateuren gelenkt wurden, die sich so von ihrer Schuld reinwaschen wollten. 19 Dieses Klima, das Rache erlaubte, nutzten auch kriminelle Elemente oder einfach psychisch Schwache, die es in entsprechender Zahl in jedem Volk und an jedem Ort zu jeder Zeit gibt, nur dass sie normalerweise durch die Zivilisation in Schach gehalten werden. Eben darauf beruht die Frage nach der Verantwortung des Dritten Reiches und der sympathisierenden Deutschen, auch wenn diese zuerst sicherlich nicht wussten, was sie taten und wozu dies führt. „Schlagt das feine Porzellan entzwei, wir können auch von irdenem Geschirr essen und trinken“, rief am 30. Juni 1933 Martin Heidegger in Heidelberg. Er vergaß, dass das kulturelle Gewebe eine feine Struktur ist, unter welcher unverändert primitive Schichten der Seele liegen, darunter auch der ewige Trieb zu Gewalt und Mord. Einmal losgelassen – vor allem, wenn vom Staat, wie im Falle des Dritten Reiches – lassen sie sich nicht leicht wieder an ihren alten Ort zurücktreiben. 20 5. VON HITLER GELERNT Die wiedergewonnene Freiheit war nicht einfach, und der Krieg hatte – daran besteht keinerlei Zweifel – in der Psyche und im Verhalten der Menschen, die unter der Besatzung gelebt hatten, tiefe Spuren hinterlassen. Das hatte man übrigens erwartet. Insbesondere die Vernichtung von Millionen Juden musste ganz Europa demoralisieren, vor allem die Polen, vor deren Augen die Juden ermordet wurden, während man sie selbst zugleich einer Therapie aus Terror und Propaganda unter-

18 Walter Dirks / Eugen Kogon, Verhängnis und Hoffnung im Osten: Das deutsch-polnische Problem: Betrachtungen im Mai 1947, in: Frankfurter Hefte 2/1947, 470–487, hier zitiert nach der späteren Ausgabe in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen – Ereignisse – Folgen, Frankfurt am Main 1995, 156–177, und hier besonders 157 und 159. 19 Vgl. auch Majewski, „Niemcy Sudeccy“, 436, 439f. 20 Ich zitiere die Heideggersche Rede, die nicht mit der mehr bekannten Freiburger Rede Heideggers zu verwechseln ist, nach Tellenbach, Aus erinnerter Zeitgeschichte, 40f. Vgl. auch Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, 209–226, besonders 225.

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zog. 21 „Hitler vergeht [...], die Welt hört auf, ein Schlachtfeld zu sein[...] Und in vielen Jahren wird dann ein Kind fragen, ob man einen Juden oder einen Menschen ermordet hat, Mama“ – sah Maria Kann voraus, die 1943 in Warschau den Fall des Ghettos mitanschauen musste, und fügte hinzu: „trotz der ganzen Empörung finden wir uns mit dem Gedanken ab, dass man morden kann, dass man Krematorien für lebende Menschen bauen kann.“ In Kindergedanken beginnt die Vorstellung zu keimen, dass es verschiedene Arten von Völkern gibt: „Herren“, „Knechte“ und „Hunde“, die man straflos töten kann. „Und das ist die furchtbarste Saat des blutigen ‚Führers‘ und sein Sieg.“ 22 Lakonisch verstand dieses Phänomen Elsa (Elżbieta) Pintus, eine Jüdin aus der Nähe von Danzig, die täglich deutsch sprach, aber eher mit Kaschuben und Polen Umgang pflegte. Als sie am 25. März 1945 nach Jahren ihr Versteck verlassen konnte, gaben ihr einige Anwohner, aber auch ein sowjetischer Sicherheitsoffizier sofort zu verstehen, dass sich Hitler bezüglich der Juden nicht geirrt habe und sie so oder anders Polen verlassen müsse. „Sie haben viel von Hitler gelernt“, stellt sie in ihren Memoiren fest, fügt aber hinzu, dass zum Glück bald andere auftauchten, die nicht an ihrer polnischen Staatsbürgerschaft zweifelten, genauso wenig wie man im Verifikationsprozess am Heldenmut jener Volksdeutschen zweifelte, die sie versteckt hatten, weshalb diese dann unbeschadet in Polen bleiben konnten. 23 In den zentral- und südpolnischen Gebieten kam es zu Angriffen auf Juden, die in ihre Häuser zurückkehrten. Nicht selten begrüßte man sie schon an der neuen Ostgrenze mit Schreckschüssen und dem Ruf „Juden nach Palästina“ 24. Unter den Juden, vor allem unter den nichtassimilierten, die dadurch leicht zu erkennen waren, herrschte Furcht. 25 Eugenio Reale, der erste italienische Botschafter in Warschau nach dem Krieg, schrieb 1946, „dass die Juden […] seit den ersten Tagen ihrer Befreiung unablässig Opfer von Gewaltakten und Morden werden, die sie in den Zustand völliger Panik versetzen.“ 26 Diesen Morden, von denen nach neuesten Forschungen von Marcin Zaremba zwischen ein paar hundert und eintausend Personen betroffen waren, also nicht wenig, wenn man die Zahl der damals in Polen verbliebenen Juden in Betracht zieht, lagen vor allem Besitzfragen zu Grunde. So wehrte man sich gegen die Rückgabe von Besitz, der während des Krieges geraubt oder häufig sogar „legal“ gekauft worden war, nur eben vom Be21 Feliks Tych, Długi cień Zagłady. Szkice historyczne, Warszawa 1999, 33–40; Jacek Andrzej Młynarczyk, Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945, Darmstadt 2007, 235; Dariusz Libionka, Biedni AK-owcy opisują Zagładę na prowincji, in: Więź 2009, Nr. 4 (606), 118–129. 22 Tych, Długi cień Zagłady, 28. 23 Else-Elżbieta Pintus, Moje prawdziwe przeżycia - Meine wahren Erlebnisse, hg. von Józef Borzyszkowski, Gdańsk 2005, 242. 24 Grynberg, Memorbuch, 183. 25 Jan Tomasz Gross, Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści, Kraków 2008, sowie Eryk Krasucki, ... to są Żydzi i trzeba ich bić. O tumulcie szczecińskim latem 1946 r., Odra 2008, Nr. 4, 31–35. 26 Eugenio Reale, Raporty. Polska 1945–1946, übersetzt von Paweł Zdzichowski, Warszawa 1991, 239–241.

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satzer. Man befürchtete, dass mit dessen Flucht auch die Transaktionen ihre Verbindlichkeit verlieren würden. Dies ist allerdings kein spezifisch polnisches oder mitteleuropäisches Problem. Der Antisemitismus wuchs nach dem Krieg sogar im reichen Holland und basierte auch dort auf Neid und der Furcht davor, Besitz zurückgeben zu müssen. 27 6. LEBENDE RUINEN Kriege zerstören Menschen. Je länger, desto mehr. Je brutaler, desto stärker. Die Dynamik des Kriegs und überhaupt jeder lang anhaltenden Gewalt hat es an sich, dass sie nicht nur die Täter demoralisiert, sondern auch die passiven Beobachter und sogar die Opfer. Der Preis des Lebens sinkt dramatisch. Menschen, die vom Bösen berührt werden, nehmen es selten in Demut an. Sie werden eher gleichgültig oder lassen sich von den durch die Umgebung auferlegten Spielregeln anziehen, und seien sie auch noch so schrecklich. Kurz gesagt, der Anblick von Vertriebenen weckt die Lust auf Vertreibung, der Anblick von Geschlagenen löst die Lust zu schlagen aus. „Der Anblick des Blutes löst [...] aus die Begierde nach weiterem Blut.“ 28 Auch die unmittelbare Nachkriegszeit war keine normale Zeit. Nach jedem Krieg muss man zuerst aufräumen, stellt Augenzeugin Wisława Szymborska fest: „So eine Ordnung macht sich doch nicht allein. Jemand muss den Schutt wegräumen an die Straßenränder, damit die Wagen voller Leichen durchkommen können.“ 29 Erst danach kann man dazu übergehen, das zerschlagene Porzellan geduldig zu kitten, was selten in weniger als einer Generation geschieht. Jedenfalls kann man die unmittelbare Nachkriegszeit nicht einfach mit der Zeit vor dem Ausbruch des Konflikts vergleichen. Die Verbrechensrate wächst meistens weiter an. Diebstahl beeindruckt keinen. Der Preis des Lebens ist noch immer niedrig. Im allgemeinen Durcheinander ist es nicht leicht, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Es gibt übrigens auch niemanden, der sie verfolgen könnte. Die Polizei ist zumeist korrumpiert und selbst auf dem „Verbrechensmarkt“ aktiv. In einer der ersten Stettiner Zeitungen aus der Nachkriegszeit, dem „Pionier Szczeciński“ vom September 1945, stellt der Priester Kazimierz Żarnowiecki zutreffend fest, dass das wichtigste Nachkriegsproblem nicht die ausgebrannten Häuser sind, sondern der moralische Zusammenbruch. „Wegen des Krieges zerstritten sich nicht nur die Völker, die Menschen, sondern vor allem zerstritt sich der Mensch mit sich selbst, mit dem eigenen Gewissen.“ Für die dringlichste Aufgabe hielt er deshalb den Wiederaufbau „der lebenden Ruinen“. 30 27 Marcin Zaremba, Wielka Trwoga. Polska 1944–1947. Ludowa reakcja na kryzys, Kraków 2012, 584f; Dienke Hondius, Return. Holocaust Survivors and Dutch Anti-Semitism, Westport, CT 2003; Helga Embacher, „Plötzlich war man vogelfrei“. Flucht und Vertreibung europäischer Juden, in: Sylvia Hahn u. a. (Hgg.), Ausweisung, 232–234. 28 Sofsky, Traktat, 102. 29 Wisława Szymborska, Widok z ziarenkiem piasku, Poznań 1996, 145f. 30 Kazimierz Żarnowiecki, Żywe ruiny, in: Pionier Szczeciński, 05.09.1945, 2.

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7. DIE TRANSITSTADT STETTIN Um den Ausbruch des polnisch-jüdischen Antagonismus zu vermeiden, lenkten die Behörden die aus dem Osten ankommenden Juden nach Niederschlesien und Pommern. Hier war jeder ein Neuankömmling, der nicht in seinem Sessel saß, den Tee nicht aus seiner Tasse trank und nicht unter seiner Decke schlief. Hier fehlte es nicht an Wohnungen, hier fehlte es an Menschen, vor allem in Stettin, wo die ihrer Herkunft nach vielfältigste großstädtische Gesellschaft in Polen entstand. Abgesehen von den wenigen französischen Zwangsarbeitern, die sich – durch die Arbeit in den Werften und anderen Industriebetrieben angelockt – dazu entschieden, in der Stadt zu bleiben, lebten hier nebeneinander Deutsche, Polen, Russen und Juden, von denen nur wenige deutsche und Zehntausende polnische Juden waren. In der Mitte des Jahres 1945 dominierten also die Deutschen, die aber nicht unbedingt schon vor dem Krieg in Stettin gelebt hatten, und in ihren Händen lag die Stadtverwaltung, aber nach der Konferenz von Potsdam wurden sie weniger. 31 Einige wurden ausgesiedelt, andere gingen freiwillig, häufig auf illegalen Wegen, und wieder andere, vor allem Fachkräfte im Bereich der Seewirtschaft, wurden zum Bleiben gezwungen. 1946 stiegen dann die Juden zur zahlreichsten Gruppe auf, aber sie wanderten bald in Massen in den Westen aus, zuerst in die Lager der amerikanischen Besatzungszone, dann nach Israel. 32 In die Stadt zogen gleichzeitig polnische Remigranten aus dem Westen, vor allem aus Frankreich und Deutschland, polnische Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus dem Reich und dem ganzen ehemals besetzten Europa, Expatrianten (die man konventionell als Repatrianten bezeichnete) aus den Ostgebieten des alten Polen und verschiedenen Gebieten der Sowjetunion und sogar eine große Gruppe von Polen aus der chinesischen Mandschurei sowie – last but not least – Ansiedler aus dem Westpolen der Vorkriegszeit, hauptsächlich aus Posen, und aus Zentralpolen, vor allem aus dem zerstörten Warschau. 1947 kamen dann noch Lemken und Ukrainer dazu, die man aus Südostpolen zwangsumgesiedelt hatte, und schließlich zwei Jahre später Griechen und griechische Mazedonier, kommunistische Partisanen, die nach dem verlorenen Bürgerkrieg fliehen mussten. War die Versorgungslage in fast ganz Europa gleich nach dem Krieg schon schlimm, so war die Situation in Stettin, dessen Staatszugehörigkeit zunächst ungeklärt blieb, wirklich dramatisch. In der Stadt hungerte man. Es fehlte an Brot und Milch, vor allem für die Deutschen, derer man sich sicherlich am wenigsten annahm. Um Lebensmittel zu erwerben, mussten die Deutschen ihren Besitz verkaufen, der nach und nach in die Hände der Polen fiel. Das zweite Problem war bis 1947 die fehlende Sicherheit. Brände, Überfälle und Raub waren an der Tagesordnung. Die in Massen von sowjetischen Soldaten vergewaltigten deutschen Frauen waren für die polnischen Behörden im Grunde nicht von Interesse. Aber 31 Vgl. u. a. Andrei Karbovskii, Po linii Oder – Neise... Russkie, poliaki i nemcy v Ščecine (Štettine) v 1945–1956 gg., Moskva 2007. 32 Helga Hirsch, Gehen oder bleiben? Juden in Schlesien und Pommern 1945–1957, Göttingen 2011.

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auch Polinnen konnten sich nur unter Gefahr auf den Straßen in der Umgebung von Stettin bewegen. Obwohl die deutsche Bevölkerung systematisch abzog, blieb Stettin in den ersten Nachkriegsjahren eine Stadt, in der Deutsche und Polen sich tagtäglich begegneten. Dies war sicherlich nicht angenehm, da die durch die Geschichte belasteten Deutschen und Polen im Konkurrenzkampf zueinander standen, und das noch im Schatten der Sowjets. Die Notwendigkeit, in der zerstörten Stadt zu bleiben, führte aber zur Kooperation, insbesondere auf dem Schwarzmarkt, und durch häufige Begegnungen lernte man einander kennen. Das Ergebnis war manchmal Hilfeleistung bei der Flucht aus Stettin, manchmal Beteiligung an den Mahlzeiten, weswegen man manchmal sogar in der Stadt blieb. Alles in allem ging es den Deutschen in Stettin besser als den Schlesiern, die sich zum Deutschtum bekannten. Während man dort ein Programm zur Zwangspolonisierung auf den Weg brachte, hatten die Deutschen hier ihr Kulturzentrum, Schulen, ein Theater, eine Bibliothek und sogar eine Fußballmannschaft. 33 8. DIE STUNDE DER FRAUEN Man kann wohl erahnen, dass es in einer Stadt von so zweifelhaftem Ruf wie Stettin vor allem an Frauen fehlte. Die Situation erinnerte in gewissem Maße an Kalifornien in der Zeit des Goldrausches. 34 In dieser Situation konnten sich verlassene junge deutsche Frauen ihr Leben dadurch einfacher einrichten, dass sie einen Polen heirateten. 35 Übrigens verzeichneten alle neuen polnischen Westgebiete ein Frauendefizit, so dass man wohl kaum auch nur ein kleines Dorf finden würde, in dem nicht eine Deutsche geblieben wäre, und das oft mit dem bisherigen Zwangsarbeiter in der Wirtschaft ihrer Eltern. 36 Aus der Perspektive Stettins betrachtet lässt sich geradezu feststellen, dass junge und resolute deutsche Frauen in diesem spezifischen Nachkriegsklima ein Betätigungsfeld hatten, auch wenn dies ein Minenfeld war. Sie fanden viel einfacher als die Männer die bezahlte Arbeit, schlossen eher Bekanntschaften und sogar Freundschaften, die in jedem Fall nicht nur 33 Zu Schlesien vgl. v. a. Bernard Linek, „De-Germanization” and „Re-Polinization” in Upper Silesia, 1945–1950, in: Philipp Ther / Ana Siljak (Hgg.), Redrawing Nations: Ethnic Cleansing in East-Central Europe 1944–1948, Lanham 2001, 121–134 sowie Małgorzata Świder, Die sogenannte Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945–1950, Lauf an der Pegnitz 2002 und deren Beitrag in diesem Band. Zu Stettin besonders Jan Musekamp, Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005, Wiesbaden 2010. 34 Siehe z. B. Sarah Royce, A Frontier Lady. Recollections of the Gold Rush and Early California, hg. von Ralph Henry Gabriel, Lincoln/London 1977, 79–104. 35 Vgl. Kinga Konieczny/Andrzej Łazowski, A ty zostaniesz ze mną / Du aber bleibst bei mir, Szczecin 2008, dort auch meine Einleitung Autochtone, Migranten, ihre Erinnerung und die Geschichte. 36 Vgl. dazu den Dokumentarfilm von Michał Majerski, Kraj mojej matki - Meiner Mutter Land, Polska 2005.

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auf Sexualität basierten. Frauen schienen weiter und tiefer zu schauen, was es ihnen entschieden erleichterte, sich zu bewegen. Ursula Jünke, die unter Deutschen, Polen, polnischen Juden, schließlich Russen und sogar Briten aus der Verbindungsmission verkehrte, verdanken wir eine der überzeugendsten und leidenschaftlichsten Beschreibungen Stettins im Winter 1945/46. Sie arbeitete bei polnischen Fotografen, mit denen sie zum Essen in ein Restaurant ging. Die Polen, stellte sie fest, tanzen und singen immerzu, vor allem „Piosenka o mojej Warszawie” [Lied über mein Warschau], ein Lied, das 1944 Albert Harris (Aaron Hekelman) komponiert hatte, damals einer der größten polnische Schlagerkomponisten. Sowjetische Soldaten bestellten Fotos, und zu Ursulas Aufgaben gehörte es, die Gestalten zu kolorieren. „Ich hatte viel Glück, schrieb Ursula, weil ich etwas russisch und polnisch gelernt hatte.“ Wenn ein Russe Kontakt suchte, antwortete sie ihm auf Polnisch, und vor polnischen Milizionären gab sie sich als Russin aus. Wie es tatsächlich um die polnischsowjetische Freundschaft stand, verstand sie schnell. „Oftmals wurden die Glasleuchten der polnischen Restaurants von Russen zerschossen, ebenso wurden die riesigen Stalin- und Lenin-Transparente von den Polen zerstört.“ 37 Die gleichen Porträts übrigens, unter denen zur selben Zeit, allerdings in einem anderen Teil Europas die griechischen und griechisch-mazedonischen Aufständischen ums Leben kamen. Im Frühling 1946 hielt sich Libussa von Krockow gemeinsam mit ihrer Cousine Otti in Stettin auf. In den Straßen, so erinnerte sie sich, war das Lachen der Sieger zu hören, die man immer und überall leicht von den Besiegten unterscheiden kann. Sie benötigen mehr Platz. Die jungen deutschen Frauen wohnten bei – nomen est omen – Frau Glück und betrieben Wahrsagerei, um Geld für eine illegale Reise nach Stolp zu verdienen. Das Wahrsagen hatte sich schon im Krieg großer Beliebtheit erfreut, nur dass jetzt auch Deutsche bei Wahrsagern Informationen suchten. Obwohl es aus heutiger Sicht wirklich erstaunlich ist, wie gut damals alles in allem die Übermittlung von Informationen funktionierte, war es nicht leicht, Nachrichten darüber zu erhalten, worauf man am meisten wartete, Nachrichten über die Nächsten. Fast ganz Europa, vor allem aber der Osten des Kontinents, war auf dem Weg. Alle suchten irgendjemanden. Am schwersten war es im sowjetischen Osten, jemanden wiederzufinden. Vater Albin Janocha, ein junger Kapuzinermönch, der Ende August 1939 aus Rom nach Krakau und dann beinahe sofort nach Sibirien gekommen war, erhielt den ersten Brief von seiner Familie erst 1951. 38 Nach Stolp reisten die beiden deutschen Frauen mit der Bahn. Die Fahrkarten hatte ihnen ein polnischer Kunde besorgt, ein Bahnbeamter aus Posen, der zwei Söhne und eine Tochter suchte, die nach Deutschland verschleppt worden waren. Sie saßen schweigend im Abteil, den Blick starr auf eine polnische Zeitung gerichtet, die er ihnen für alle Fälle besorgt hatte, und waren davon über37 Stettin – Szczecin 1945–1946. Dokumente – Erinnerungen, Dokumenty – wspomnienia, Rostock 1994, 75–87. 38 Albin Janocha, Pod opieką Matki Bożej. Wspomnienia Sybiraka 1939–1956, hg. von Stanisław Ciesielski, Wrocław 1993, 172.

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zeugt, dass man sie nicht erkennen würde. Erst als gegen Ende der Reise der Zug für eine Kontrolle anhielt, zeigten ihnen die Polen, die das Spiel mit den Behörden im Blut haben, in welche Richtung sie fliehen sollen. Libussa konnte nur noch „Danke, vielen Dank, auf Wiedersehen! Do widzenia!“ sagen, und beide sprangen sicher aus dem Zug. 39 Die Rolle der Frauen während des Krieges und unmittelbar danach – in der Zeit der Flucht, des erzwungenen Zusammenlebens und der Vertreibungen – wird in der Historiographie nicht ausreichend gewürdigt. Es herrscht die Meinung vor, dass Frauen in diesen Situationen wehrlose Opfer seien. Aber diese Feststellung ist nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen gedeckt, wie Ellen Lammers feststellt. Schon eine oberflächliche Quellendurchsicht zeigt, dass Frauen sich in einer neuen Situation viel schneller zurechtfinden, was gewissermaßen zu deren „Neupositionierung“ in der Gesellschaft führt. Libussa von Krockow, die geradezu modellhafte Verkörperung einer Frau, die sich unter den ungewöhnlich schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit emanzipiert, stellt mit Überzeugung fest, dass männliche Prinzipien für das Überleben in Zeiten des Untergangs nicht geeignet sind. Männer lähmt vor allem aber die Angst. Sie wissen nämlich, dass Mut jetzt das letzte ist, was ihnen und vor allem ihren Nächsten helfen könnte. Die Frau ist zwar unvergleichbar mehr durch physische, darunter auch sexuelle Gewalt bedroht, hat aber sicherlich ein größeres Wirkungsfeld. Darüber hinaus lernt sie unabhängig von Ort und Zeit schnell, Sexualität zum Schutze ihrer selbst und ihrer Kinder auszunutzen, was zu einer Form der „Prostitution“ als Mittel zum Leben oder auch einfach zum Überleben führt. 40 Kaum erforscht ist auch die Frage nach der Verantwortung deutscher Frauen für den Krieg und die Kriegsführung. Jedenfalls waren sie sicherlich nicht immer die stereotypen unschuldigen Opfer, zu denen sie heute manchmal stilisiert werden; dabei ersetzt man allzu einfach die Siegerthese der Nachkriegszeit von der kollektiven deutschen Schuld durch die These kollektiver Unschuld, als ob im 20. Jahrhundert, in der Zeit des totalen Krieges die Beteiligung an direkten Kämpfen an der Front über Schuld und Unschuld entscheiden würden. „Die Mädchen verloren als erste den Verstand“ – schrieb Ernst Wiechert in seinem vergessenen Roman „Missa sine nomine“ 41. Die aus dem Osten fliehenden deutschen Frauen mit Kindern und Alten in ihrer Obhut waren zweifellos Opfer, zweifellos nicht die richtigen Opfer, aber nicht immer waren sie schuldlos.

39 Christian Graf von Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, München 1995, 245–249. 40 Siehe v. a. Ellen Lammers, Refugees, Gender and Human Security: A Theoretical Introduction and Annotated Bibliography, Utrecht 1999, v. a. 36–38, 59f, sowie auch Silke Satjukow, Der erste Sommer mit den „Russen”. Momentaufnahmen zwischen Erwartung und Erfahrung, in: Deutschland-Archiv 38/2005, 236–244. 41 Ernst Wiechert, Missa sine nomine, o.O. 1952, 45. Vgl. besonders Elizabeth Harvey, „Die deutsche Frau im Osten“: „Rasse“, Geschlecht und öffentlicher Raum im besetzen Polen 1940–1944, in: Archiv für Sozialgeschichte 38/1998, 191–214; Dies., Women and the Nazi East: Agents and Witnesses of Germanization, London 2003.

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9. POTSDAM ODER WAS MACHT MAN MIT DEN HYPERNATIONALISTISCHEN DEUTSCHEN Die Exterminierung der Volksdeutschen wäre eine Imitation der nationalsozialistischen Grausamkeit gewesen – so kommentierte sozusagen live direkt nach dem Krieg Eugen M. Kulischer, sicherlich einer der bedeutendsten Migrationsforscher, der für eine Verteilung der Volksdeutschen in alle Welt plädierte. 42 „Es wäre ein schlechter Dienst […], die Tschechoslowakei oder Polen mit Millionen hypernationalistischer Deutscher zu belasten“, fügte Joseph B. Schlechtmann hinzu. 43 Die Notwendigkeit, die durch den Krieg zerstrittenen Nationen zu separieren und die europäischen Staaten national zu homogenisieren, wurde über viele Jahre von fast niemandem bezweifelt. Die Deutschen in der Nachkriegszeit verwarfen mehrheitlich nicht einmal ideell den Nationalsozialismus, den sie für eine gute Idee hielten, nur schlecht realisiert, was an die spätere Parole „Sozialismus ja, Entgleisungen nein“ erinnert. 44 Auf deutschen Rassismus stieß man sogar an Orten, wo man es am wenigsten erwartete. 45 Die Quellen belegen das Ausmaß des Hasses Europas auf Deutsche eindeutig: „Millionen von den Pyrenäen bis Stalingrad hassen die Deutschen und verlangen nach den Galgen für Täter und ich rufe nach Vergeltung sogar während der Nachtträume“, schrieb am Ende des Krieges Ludwik Hirszfeld, der bekannte polnische Immunologe jüdischer Abstammung. 46 Sie lassen aber auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Hass der Deutschen auf die Juden und die Völker des europäischen Ostens zumindest nicht nachließ und in Bezug auf Polen sogar zunahm. „Wenn es noch einen Krieg gibt, dann werden die Deutschen es den Polen zeigen! Die Russen werden sie nicht mehr in Schutz nehmen! Dann werden wir sie bis an den Rand der Welt jagen und Polen von der Landkarte tilgen“, sagte 1946 ein deutscher Kapitän und gab damit die Stimmung auf der Straße wieder. 47 Mit der Niederlage gegen das große Russland kam man

42 Eugene M. Kulischer, Europe on the Move. War and Populations Changes, 1917–1947, New York 1948, Vf und 316. 43 Joseph B. Schechtman, Postwar Population Transfers, 367–395, Zitat 367f. 44 Vgl. z. B. Alfred D. Low, The Third Reich and the Holocaust in German Historiography. Toward the Historikerstreit of the Mid-1989s, Boulder/New York 1994, 79; Detlev Clemens, Eric Voegelin’s „Hitler and the Germans” Lectures in the Context of the Germans’ Treatment of Their Nazi Past, in: Eric Voegelin, Hitler and the Germans, ed. by Detlev Clemens and Brendan Purcell (The Collected Works of Eric Voegelin, Vol. 31), University of Missouri Press 1999, 1–21, und hier 8. 45 Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945–1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten, übersetzt von Anja Lutter und Hartmut Schröder, ausgewählt und kommentiert von Elke Scherstjanoi, Berlin 2005, 187. 46 Ludwik Hirszfeld, Historia jednego życia, Warszawa 2000, 433, 451, 474. Näheres bei Edmund Dmitrów, Niemcy i okupacja hitlerowska w oczach Polaków: Poglądy i opinie z lat 1945–1948, Warszawa 1987, 86–239; Włodzimierz Borodziej, Wojna i jej skutki w świadomości zbiorowej Polaków i Niemców w pół wieku po wojnie, in: Robert Traba u. a. (Hgg.), Tematy polsko-niemieckie, Olsztyn 1997, 15. 47 Gelfand, Deutschland Tagebuch, 306.

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sicherlich leichter zurecht als mit der Niederlage gegen Polen oder sogar die „Tschechei“, die viele Deutsche als Bestandteil des Reiches betrachteten. Allzu häufig behandelt man heute die Konferenz von Potsdam und ihre Beschlüsse zur Aussiedlung der Deutschen losgelöst von der Wirklichkeit von 1945. Dagegen begriff man in Potsdam die Idee der Umsiedlungen nicht als Strafe, sondern als stabilisierendes Element für Nachkriegseuropa. Man siedelte die Deutschen nicht aus, weil sie als rassisch weniger wertvolles Element galten, dem keine Rechte zukommen, sondern noch immer aus Furcht vor ihnen. Das hatte für den, der aus seinem Haus geworfen wurde, zwar keine größere Bedeutung, macht aber gerade den fundamentalen Unterschied zwischen der Nationalitätenpolitik des Dritten Reiches und der Alliierten aus, darunter auch Polens, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, aus denen die meisten deutschen Flüchtlinge stammten. Auch die Zwangsarbeit und die damit verbundene Gewalt gegen Deutsche hatten nach dem Krieg einen völlig anderen Charakter. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, aus den Deutschen ein Volk von Sklaven zu machen. Die Deutschen, die nach dem Krieg in Polen blieben, erhielten relativ schnell die vollen Bürgerrechte. 48 Mit Dieter Gosewinkel sei daran erinnert, dass darüber hinaus das entscheidende Kriterium für die Verleihung der polnischen Staatsbürgerschaft bzw. deren Nichtgewährung im Polen der Nachkriegszeit die politische Haltung während des Krieges war, und zwar im Sinne der Loyalität gegenüber der nationalen Gruppe, in der man lebte. In einzelnen Fällen entschieden Gerichte, denen man empfahl, die polnische Nationalität nicht im ethnographischen, sondern im politischen Sinne zu behandeln, also im Sinne der englischen oder französischen „nation“ als eines in einem Staat organisierten Volkes. 49 Mit Rassismus, wie Andreas Kossert etwas übereilt urteilt, hat das nicht viel gemein. 50 Wir wissen zwar, dass die Polen wie andere vom Dritten Reich besetzte Völker durch die Schule Hitlers gegangen sind. Die Polen mussten dann sogar noch zusätzlich die Schule Stalins durchlaufen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass sie sich dort nicht freiwillig aufhielten. Auch muss man mit Detlef Brandes daran erinnern, dass die Polen – ähnlich wie auch die anderen Alliierten – zum Glück nicht allzu aufmerksame Schüler der Nazis gewesen sind. 51 Sonst wäre nämlich den Deutschen nach dem Krieg ein völlig anderes Schicksal beschieden gewesen.

48 Michael G. Esch, „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950, Marburg 1998, 406–408. 49 Dieter Gosewinkel, The Dominance of Nationality? Nation and Citizenship from the Late Nineteenth Century Onwards: A Comparative European Perspective, in: German History 26/2008, Nr 1, 96–102 (Zitat 101). Vgl. Włodzimierz Borodziej / Hans Lemberg (Hgg.), Niemcy w Polsce 1945–1950, Wybór dokumentów, Bd. III: Auswahl und Bearbeitung Stanisław Jankowiak und Katrin Steffen, Warszawa 2001, Nr. 60 (109f.). 50 Kossert, Kalte Heimat, 33. 51 Detlef Brandes, Die Vertreibung als negativer Lernprozess. Vorbilder und Ursachen der Vertreibung der Deutschen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53/2005, 885–896, v. a. 896.

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10. EUROPÄISCHE VERTRIEBENENGEMEINSCHAFT Wenn man über Flüchtlinge im 20. Jahrhundert spricht, vergessen selbst die Spezialisten, dass die Erfahrung der Flucht einem großen Teil Europas im 20. Jahrhundert gemein ist. Unter den Ländern mit dem größten prozentualen Flüchtlingsanteil führen im Europa des 20. Jahrhunderts wohl Griechenland und Serbien. Nicht viel kleiner war der Anteil von Flüchtlingen in Polen und in Deutschland. Eine große Flüchtlingspopulation finden wir auch in Finnland. Nicht weniger Verbannte und Flüchtlinge gab es auch in fast allen postsowjetischen Staaten, besonders in der Ukraine und den drei baltischen Staaten. Manche der Völker des ehemaligen Jugoslawien kann man als Flüchtlingsvölker bezeichnen, weil sie im 20. Jahrhundert so viele Umsiedlungen erleben mussten. Einen relativ hohen Anteil an Flüchtlingen hatten aber auch Spanien, Italien und sogar Frankreich. 1962 stammte jeder fünfte Bewohner von Marseille aus Algerien, wobei fast alle diese Menschen dort geboren waren. Tatsächlich bildet aber der Zweite Weltkrieg in Osteuropa ein Phänomen für sich, auch in Bezug auf die Vertreibungen. Der Krieg riss die Migrationsbarrieren nieder, die sich – wie stets in solchen Fällen – danach lange nicht wiederherstellen ließen. Dennoch ließen zwei Jahre nach Kriegsende die Bevölkerungsverschiebungen allmählich nach. Dutzende Millionen von Flüchtlingen begannen unabhängig von ihrer Nationalität, ihren Alltag neu zu organisieren. Probleme mit dem Dach über dem Kopf, fehlende Schuhe und Kleidung nahmen ihre Zeit und ihren Einsatz in Anspruch. Beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten, aber sicherlich auch mit der Erinnerung an die verlorenen Familienmitglieder, die Häuser, Wirtschaften, die Heimat und die Gräber dort, konnten sie nicht wahrnehmen, wie viel sie verbindet und wie viel ihre Erfahrungen – bei allen Unterschieden – gemeinsam haben. Die Notwendigkeit, das eigene Haus zu verlassen und sich ins Unbekannte aufzumachen, ist so stressbeladen, dass man vom Flüchtling oder Deportierten kaum etwas anderes erwarten kann als Furcht und das Gefühl, von feindlichen Mächten umgeben zu sein. Doch der Historiker muss an die von Flüchtlingen kolportierten Berichte mit gebotener Vorsicht herangehen. Er muss daran denken, dass die Quellen, nicht anders als heute die Medien, vor allem Anomalien in den Vordergrund stellen, die leichter im Gedächtnis haften. Außerdem ist es heute Mode, Ereignisse eher zu dramatisieren, weshalb viele andere Aspekte der Flüchtlingserinnerungen übergangen und das komplizierte Leben der Verjagten, unabhängig von ihrer Nationalität, immer stärker vereinfacht werden. Deutsche, Polen und andere Vertriebene der Epoche des europäischen totalen Krieges verband nicht nur die Gemeinschaft der Vertreibungserfahrung, sondern sie verbindet bis heute das gemeinsame Nichtwissen darüber, auch wenn PeterPiotr Lachmann, ein deutsch-polnischer Dichter deutscher Abstammung, der seit 1945 mit Polen verbunden ist, davon überzeugt ist, dass die heutigen „Polen wissen, warum sie sich auf den sog. Wiedergewonnenen Gebieten befanden, aber die Deutschen wissen es nicht, oder sie erinnern sich nicht, weil sie sich nicht daran

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erinnern wollen, warum sie diese Gebiete verlassen mussten.“ 52 Wenn das tatsächlich so ist, dann sicherlich auf Grund des Kalten Krieges, der die (west)deutsche Erinnerung prägte. Denn spätestens seit 1949 befand sich der europäische Osten unter der Herrschaft einer namenlosen „kommunistischen Masse“, der gegenüber man die Reihen schließen musste. Viele unbequeme Fragen und Themen konnte man so an den Rand drängen, was übrigens keine deutsche oder polnische Spezialität ist. 53 In der deutschen Wissenschaft wurden diese Fragen seit den sechziger Jahren wieder aufgegriffen, aber in der öffentlichen Debatte eigentlich erst seit dem Jahr 2000, und das – sicherlich unbeabsichtigt – im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um das sogenannte Zentrum gegen Vertreibungen. 54 11. WER WAR OPFER UND WER TÄTER? Das Schicksal hat es so gefügt, stellte ein deutscher Masure aus Ostpreußen fest, der sich dafür entschieden hatte, in Polen zu bleiben, dass es in diesem grausamen Krieg keine wahren Sieger und Besiegten gegeben hat: „Vertriebene lebten in den Häusern Vertriebener.“ 55 Die individuelle Schicksalsgemeinschaft kann allerdings nicht die kollektive deutsche Verantwortlichkeit für den Krieg und die Art der Kriegsführung verdecken. Zwar finden wir den Begriff der Kollektivverantwortung nicht in Strafgesetzbüchern, aber wir sollten ihn in Politik und Geschichte nicht vermeiden, wo eine Abstufung der Opfer sogar notwendig ist, auch wenn wir dabei ein gewisses Unbehagen empfinden. Für uns ist es zwar selbstverständlich, dass jede Vertreibung – selbst wenn sie international sanktioniert ist – zugleich ein Übel ist und man deshalb mit jedem Zwangsumgesiedelten Mitgefühl haben muss, aber dies ändert keineswegs etwas an der nicht weniger weitreichenden Tatsache, dass Opfer nicht immer gleich sind und die deutsch-polnische Schicksalsgemeinschaft deshalb ihre Grenzen hat. 56 Die Polen hatten sechs Jahre unverschuldet Krieg hinter sich, während die Deutschen diesen Krieg auslösten 52 Hamlecik. Gespräch mit Peter-Piotr Lachmann, geführt von Teresa Torańska, in: Gazeta Wyborcza, 30.08.2004. 53 Jan M. Piskorski, Die vielen Gesichter der Geschichte: Erinnerung und Geschichtspolitik in Polen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2008, 83–94; Ders., Del culto a los héroes a la veneración de las víctimas. Los cambios en la cultura de la memoria, übersetzt von Jesús Millan, in: Ayer. Revista de la Historia Contemporánea 82/2011, Nr. 2, 261–284; deutsch: Vom Heldenkult zur Opferverehrung. Veränderungen in der Erinnerungskultur, übersetzt von Peter Oliver Loew, in: Pommersches Jahrbuch für Literatur 3/2013 (im Druck). 54 Siehe dazu u. a. Jan M. Piskorski, Dobra wola i polskie niepokoje, in: Gazeta Wyborcza 11.08.2004; Ders., Nationalitätenfrage. Kaum Spielräume: Die Vertreibung der Deutschen in Polen, in: Frankfurter Rundschau 20.08.2004; Ders., Krieg, Flucht, Vertreibung und Versöhnung im deutsch-polnischen Kontext, in: Bernd Rill (Hg.), Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen, München 2011, 113–115. 55 Hans-Jürgen Karp / Robert Traba (Hgg.), Codzienność zapamiętana. Warmia i Mazury we wspomnieniach, Olsztyn 2004, 129. 56 Vgl. Joachim Güntner, Opfer und Tabu. Günter Grass und das Denken im Trend, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.02.2002, 65.

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und sich größtenteils aktiv daran beteiligten, um am Ende dessen Opfer zu werden, auch wenn man darüber diskutieren kann, ob wirklich die letzten.57 Dies hat der amerikanische, in Deutschland hoch geschätzte Historiker Norman Naimark in dem inzwischen bekannten Satz gefasst: „Im Gegensatz zu all anderen Fällen von ethnischen Säuberungen bleibt bei der Vertreibung der Deutschen ein Gefühl der Ambivalenz darüber zurück, wer Opfer war und wer Täter.“ 58 Von Zeit zu Zeit rief man noch vor kurzem in Deutschland, besonders im Wahlkampf, dazu auf, Nachkriegstransfers grundsätzlich zu verdammen. Abgesehen davon, dass eine solche Forderung reinster Populismus ist und kein einziges Problem löst, schmälert es vor allem die Lebensweisheit der gesamten Kriegsgeneration. Wir können, ja wir müssen mit dieser Generation diskutieren 59, aber nur ernsthaft, unter Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Generation, aber ohne sich als Richter aufzuspielen, die außerdem – anders als bei einem ordentlichen Gerichtsprozess – nicht die Motivation ihrer Helden und die Umstände ihrer Taten einbeziehen. 60 Gerade Historiker müssen sich in der realen Welt bewegen. Umsiedlungen in der Nachkriegszeit könnte man reinen Gewissens nur dann verdammen, wenn man in hohem Maße glaubhaft machen könnte, dass die Transfers mehr Menschenleben gekostet haben als der Verzicht darauf und dass daraufhin mehr Kriege ausgebrochen seien als ohne sie. Mit Blick auf das Europa der Nachkriegszeit wäre eine solche Hypothese zumindest aus der heutigen Perspektive nicht leicht zu verteidigen, auch wenn wir zustimmen, dass sicherlich noch andere Faktoren darüber entscheiden. 61 In der wirklichen Welt wählt man nicht selten zwischen größerem und kleinerem Übel. Als man 1947 die Teilung Indiens und die damit verbundenen großen Umsiedlungen gestattete, habe man – so Stephen L. Keller – mit Sicherheit die bestmögliche Lösung gewählt, selbst wenn sie nicht gut gewesen sei. Gewiss war es 1945 in Europa nicht anders und man sollte sich 57 Vgl. den Titel des Buchs von K. Erik Franzen, Die Vertriebenen: Hitlers letzte Opfer, mit der Vorrede von Hans Lemberg, München 2001. Siehe auch in Bezug auf russisch-polnische Diskussionen Jerzy W. Borejsza im Rahmen einer Diskussion Tabu już nie ma, in: Gazeta Wyborcza 3.11.2003, 18. 58 Norman Naimark, Strategische Argumente, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.2004, 7. Siehe auch Jan M. Piskorski, Erinnerung als Aussöhnung. Vergangenheit als Quelle von Angst und Hoffnung, in: Peter Oliver Loew / Christian Prunitsch (Hgg.), Polen. Jubiläen und Debatten. Beiträge zur Erinnerungskultur, Wiesbaden 2012, 10–27, und hier besonders 25, wo von Opfern der Opfer die Rede ist. 59 Vgl. Jan M. Piskorski, Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift, Osnabrück, 2. Auflage 2007, 83–86 und 97–114. 60 So auch Samuel Salzborn, Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession, in: Michael Klundt / Samuel Salzborn / Marc Schwietring / Gerd Wiegel (Hgg.), Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert (Schriften zur politischen Bildung, Kultur und Kommunikation, Bd. 1), Gießen 2003, 17–41, und hier besonders 23. 61 Siehe v. a., wenn es um neuere Fachliteratur geht, Chaim Kaufmann, Possible and Impossible Solutions to Ethnic Civil Wars, in: International Security 1996, Nr. 4 (20), 136–175; Ders., When All Else Fails: Ethnic Population Transfers and Partitions in the Twentieth Century, in: International Security 23, Nr. 2, Fall 1998, 120–156.

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heutzutage eher mit der Vorbeugungsmaßnahmen in Bezug auf die nächsten Umsiedlungen als mit der Verbannung der vergangenen beschäftigen. 62 12. POLEN UND DEUTSCHE MÜSSEN SICH IM NAMEN EINER BESSEREN ZUKUNFT DIE HAND REICHEN Im Sommer 1946 schrieb der katholische Priester Edmund Helewski aus Chrapowo (Hohengrape) bei Pełczyce (Bernstein) in Pommern einen Protestbrief an die polnischen Behörden, weil Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes an ihn herangetreten waren. Sie hatten ihn dazu überreden wollen, in Polen zu bleiben, wobei sie ganz deutlich auf seine Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten zählten. Als er jedoch ablehnte, was er unter anderem mit seinen mangelnden Polnischkenntnissen begründete, beschimpften sie ihn als Hitlerschwein und raubten seine Koffer, woraufhin sie durchs Dorf gingen, und Süßigkeiten und Zigaretten verteilten, die angeblich aus dem Pfarrhaus stammten. Der in Stettin geborene Pfarrer Helewski, dessen Eltern noch polnisch gesprochen hatten, war von Berlin in die Provinz versetzt worden, weil er den Nationalsozialismus ablehnte und – wie viele katholische Priester in Preußen – polnischer Abstammung war. Während des Krieges bemühte er sich darum, französischen und polnischen Zwangsarbeitern zu helfen. Er hegte keinen Zweifel daran, wer die Schuld an diesem Krieg trug und dafür bestraft werden müsse. Gewiss hätte er ohne zu zögern die Feststellung des alten Christoph aus der heute zu Unrecht vergessenen Erzählung Ernst Wiecherts aus der Nachkriegszeit unterschrieben: „Und nach der Sünde treibt der liebe Gott aus. Nicht die Sünde der Väter, aber die Sünde der Söhne und Töchter. Unser aller Sünde.“ Zugleich war Pfarrer Helewski zutiefst überzeugt: „wenn Europa leben soll darf man keine weitere Rechtlosigkeit zulassen. Da sollten die guten Kräfte, zumal die Nachbarländer: Polen und Deutschland sich die Hand für eine bessere Zukunft reichen. Je eher, je besser“ – schlussfolgerte der Pfarrer aus Chrapowo. 63 Es ist hier nicht meine Aufgabe festzustellen, wie in der Praxis die Umsetzung der polnisch-deutschen Versöhnung für Europa auszusehen hat. Dass es darin keinen Platz für das seinerzeit geplante Zentrum gegen Vertreibungen in der Form gibt, die ihm der Bund der Vertriebenen geben wollte, wurde schließlich allgemein verstanden, wenn auch manchmal nach großem Widerstand. 64 Trotz vieler Stimmen, die zur Einkehr aufriefen – darunter auch der äußerst wichtige gemeinsame Appell von deutschen und polnischen Intellektuellen aus der Kopernikus-

62 Stephen L. Keller, Uprooting and Social Change. The Role of Refugees in Development, Delhi 1975, 36. Vgl. auch Jan M. Piskorski, Das europäische Memento. Am Anfang von Flucht und Vertreibung war der Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011, 112–121. 63 Wiechert, Missa sine nomine, 70; Niemcy w Polsce, Nr. 205, 349–351 (Interviews in Graupen und Bernstein im Juni 2009). 64 Siehe letztens Katrin Steffen, Differenzen im Gedächtnis. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ Revisited, in: Berliner Debatte Initial 2008, Nr. 6 (19), 36–50.

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gruppe 65 – gingen Deutschland und Polen wieder einmal getrennte Wege und entschieden sich in dieser Zwangssituation für ein Vertreibungsmuseum in Berlin und ein Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Offensichtlich werden beide Institutionen versuchen, zu einem komparatistischen Begriff zu kommen; genauso offensichtlich wird es ihnen aber nicht gelingen, ihren nationalen Schuhen zu entwachsen. Der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ fehlt schon im Namen die Kontextualisierung, denn wenn nicht der Krieg gewesen wäre, die Ursache allen späteren Übels, gäbe es keinen Grund, sich überhaupt zu versöhnen. „Wer künftigen Vertreibungen entgegenwirken will“ – nicht zum ersten Mal erlaube ich mir, Holm Sundhaussen zu zitieren, einen bedeutenden Historiker und Kenner der Mittel- und osteuropäischen Geschichte – „sollte nicht auf nationale Erinnerungen, sondern auf Ursachenanalyse setzen. Die jeweilige kollektive Erinnerung an Vertreibung ist [...] immer national oder völkisch aufgeladen und reproduziert damit gerade das, was zur Vertreibung geführt hat. Vertreibung als nationaler Erinnerungsort ist daher kontraproduktiv (selbst wenn er von Verweisen auf die Vertreibung anderer nationaler Gruppen umrahmt wird). Dagegen könnte Vertreibung als ‚europäischer Erinnerungsort’ einen Ausweg aus der nationalen Falle weisen.“ 66

Eine europäische „Stiftung Krieg, Flucht, Vertreibung, Versöhnung” wäre der Ort, wo die deutschen Vertriebenen einen Erinnerungsort hätten, zugleich aber die deutsche Verantwortung für den Krieg nicht verwischt würde. Zu oft möchte man nämlich, wie Samuel Salzborn konstatiert, „über ‚deutsche Opfer‘ reden, ohne t a t s ä c h l i c h über den Nationalsozialismus zu sprechen“. 67 Timothy Garton Ash, der 2005 zwischen Berlin und Posen reiste, hat nicht das erste und nicht das letzte Mal aufgezeigt, dass Europa Erinnerung nicht weniger braucht als Arbeitsplätze. Er sah Häuser, von denen fast jedes den Besitzer gewechselt hat, und er sah die idyllischen Wälder im deutsch-polnischen Grenzgebiet, und unter jedem einzelnen Wald liegen Leichen: „Leichen von Polen, die im Kampf mit der deutschen Besatzung starben. Leichen von Juden, die auf der Flucht von den KZ-Transporten starben. Leichen von Deutschen, die auf der Flucht vor der näher rückenden Roten Armee nach Westen starben. Und schließlich die Leichen von Hunderttausenden junger russischer Soldaten, die auf dem Weg nach Berlin getötet wurden.“ 68

Wenn wir uns auf die Abfolge einigen und es schaffen, ihr im Namen sowie in der Konzeption und Gestalt des neuen Museums Ausdruck zu verleihen, wäre es uns 65 Vgl. die Mitteilung über die Sitzung der Kopernikus-Gruppe am 30.11./1.12.2007: http:// www.deutsches-polen-institut.de/Projekte/Projekte-Aktuell/Kopernikus-Gruppe/raport14.php, (Stand: 01.12.2009). 66 Holm Sundhaussen, Einführende Bemerkungen: Wider Vertreibung als nationalen Erinnerungsort, in: Ulf Brunnbauer / Michael G. Esch / Holm Sundhaussen (Hgg.), Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, 31. 67 Salzborn, Opfer, Tabu, Kollektivschuld, 21f. 68 Timothy Garton Ash, Europe needs memory as much as it needs jobs, in: The Guardian 03.11.2005. Über die gemeinsame Erinnerung, die Europa braucht, sprach Ash wieder während des Geschichtsforums in Berlin im Juni 2009.

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allen viel einfacher, ein gemeinsames Projekt akzeptieren, das Deutschland und Polen, aber auch Europa stärken könnte. 69 Übersetzung aus dem Polnischen: Andreas Warnecke

69 Vgl. Jan M. Piskorski, Gemeinsames in einer leidvollen Geschichte. Chancen zur Überwindung deutsch-polnischer Differenzen, in: Neue Zürcher Zeitung, 07.09.2006, 5.

VERWEH(R)TE HEIMAT Michael Salewski † VORBEMERKUNG Dies wird kein Vortrag 1 wie andere auch, denn vor Ihnen steht nicht ein pensionierter Professor allein, sondern auch ein kleines Kind, das 1938 in Königsberg/Pr. geboren worden ist und seine formativen Jahre im Schatten von Krieg, Flucht und Nachkriegszeit erlebt hat. Leopold von Ranke hat gesagt: Der Historiker muss sein Sein gleichsam auslöschen, will er möglichst objektiv, sine ira et studio berichten, wie es eigentlich gewesen ist. Die Geschichtswissenschaft ist dem lange gefolgt, seit kurzem nicht mehr. Neue Sehweisen der und auf die Geschichte, für die es so komplizierte Begriffe wie „Erinnerungskultur“, „Destruktivismus“, „linguistic turn“ oder „visual turn“ gibt, laufen auf dasselbe heraus: Da alle Geisteswissenschaft per definitionem des Geistes nur subjektiv sein kann, wäre es unsinnig, das Subjekt auszublenden, und dies umso mehr, als dieses Subjekt sich immer automatisch selbst bespiegelt – 65 Jahre sind Teil der Geschichte und meines eigenen Selbst. Zwar kennt immer noch jeder Historiker den Satz: „Quod non est in actis non est in mundo“, aber der ist falsch, und wir sind gerade dabei umzulernen: Es kann sehr wohl etwas in der Welt sein, was sich in den Akten eben nicht finden lässt. Dieses Etwas steckt im Subjekt, in mir selbst, und es kommt darauf an, das Eine, vermeintlich Objektive, mit dem Anderen, dem vermeintlich Subjektiven, zu verbinden. Das eigene Erleben als Teil der allgemeinen Geschichte muss jenseits des rein Autobiographischen zugleich subjektiv und objektiv gesehen und zu einem neuen Ganzen zusammengeführt werden. Wie das geht, wissen wir noch nicht, wir experimentieren – und dieser Vortrag ist es: ein Experiment. Nach dieser capatio benevolentiae fange ich ganz unüblich und unhöflich mit „ich“ an … Ich war achtzehn, als ich meinen „Flüchtlingsausweis A“ bekam: ein kleines Stück Papier, so ähnlich, wie einst Führerscheine aussahen, nur nicht in grau, sondern in undefinierbarem grün. 1

Bei diesem Beitrag handelt es sich um den Text des öffentlichen Abendvortrags, den Michael Salewski am 14. November 2008 im Toscanasaal der Würzburger Residenz gehalten hat. Salewski hat das Manuskript seinerzeit für die Drucklegung in diesem Band geringfügig überarbeitet und hierbei die Vortragsform bewusst beibehalten.

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Michael Salewski

Ich besah mir das Ding von allen Seiten und steckte es dann zusammengefaltet in mein Portemonnaie. Als dieses einige Jahre später kaputt ging und ich ein neues brauchte, fand ich den Ausweis wieder: ich hatte ihn nicht ein einziges Mal gebraucht und längst vergessen, dass ich ihn überhaupt besaß. Dann kamen die Erinnerungen: Du bist ein Flüchtlingskind, sagte ich mir, deswegen verschwindest Du ohne das geringste Bedauern aus Montabaur, da hatte ich gerade mein Abitur gemacht. Du verschwindest, wie Du aus Passau verschwunden bist. Da hatte ich in einem Schülerheim gelebt, manchmal war es lustig. Du verschwindest, wie du aus Desching verschwunden bist, nie mehr auf den Kirschbaum hinter der Scheune. Du verschwindest, wie du aus Pulsnitz verschwunden bist, Dresden brannte immer noch, als meine Schwester und ich Fliegeralarm spielten und die Leute uns beschimpften. Du verschwindest wie aus Rockelkeim bei Wehlau. Die große Sandhöhle am Ufer der Alle wurde nicht mehr fertig! In der Höhle feuchter Schatten gegen die Hitze und die Sonne des Sommers 1944! Und du verschwindest wie aus Königsberg. Damals durfte ich zum ersten Mal in einem großen Lastauto mitfahren. Tausend Koffer, Kisten, Federbetten, Schachteln. „Lübeck in der Schachtel“ kam auch mit. Es ging über die Samitter Allee aus der Stadt heraus, die ich nie mehr wiedergesehen habe. Damals war ich sechs Jahre alt. Eine Heimat habe ich nicht. An Königsberg kann ich mich nur schwach erinnern, das Gartenhäuschen von Tante Gerta bei Wehlau, unserer Zuflucht vor den Bomben, war eine kleine Oase inmitten riesiger Felder, da war weit und breit keine Heimat zu sehen. In Rockelkeim ging es zu, wie das Marianne Peyinghaus von Gertlauken beschrieben hat. Den Fabrikhof im sächsischen Pulsnitz oder die Brotfabrik, in der wir Schule hatten, wirkten auch nicht heimelig. Aber Desching, Post Rathmannsdorf, Kreis Vilshofen! Der tiefe bayerische Wald! Wenn ein Mensch eine Heimat haben muss, dann die zwischen Vilshofen und Aicha vorm Wald. Da ist heute eine Autobahnausfahrt. Die erste Autobahn meines Lebens sah ich in Montabaur, da bekam ich meinen Flüchtlingsausweis A. Dass ich ihn nie brauchte, hing damit zusammen, dass wir Flüchtlinge alles hatten, was man brauchte. Also: genug zu essen, zu trinken. Wir brauchten nicht mehr zu frieren wie in dem scheußlichen Winter von 1946/47, und Bomben fielen auch keine mehr. Wir wohnten komfortabel in einem schlichten aber festen Flüchtlingsbau, nicht mehr in der zugigen Turnhalle in der Rathsmannsdorfer Schule oder über dem stinkenden Schweinestall in Desching. Duschen konnte man in Desching nicht. Duschen konnte man erst im städtischen Warmbad zu Montabaur. Fünf Minuten kosteten, ich weiß nicht mehr wie viel Pfennig. Auf alle Fälle zu viele. Bei fünf Kindern ging das ganz schön ins Geld, also geduscht wurde nicht jede Woche. Wir hatten neue Kleider und nicht mehr bloß die geflickten und kratzigen alten aus Königsberg. Meine Schwester Elke bekam sogar ein Kleid aus Fallschirmseide. Sie durfte es nur am Sonntag anziehen. Es ging uns gut, wir waren zufrieden, genauer: ich war zufrieden, und nie wäre mir die Idee gekommen: du bist ein Kriegskind, mehr: ein Flüchtlingskind. „Ach, Sie sind aus Königsberg?“ Wenn ich diese Frage hörte, sträubte sich mein Gefieder. Königsberg ist weg, pflegte ich mit meinem Doktorvater Walther Hubatsch zu sagen. Der war

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auch in Königsberg geboren, er hat es nie vergessen, der Kummer ob des Verlusts seiner Heimat stand ihm täglich ins Gesicht geschrieben. Kaliningrad ist nicht Königsberg, und als mich der Vopo in den siebziger Jahren an der Grenze zur Bundesrepublik fragte, wo ich geboren sei, und ich antwortete: In Königsberg/Pr. machte er ein offizielles Gesicht und belehrte mich: das heißt Kaliningrad. Bevor ich widersprechen konnte, stupste mich mein Begleiter an und flüsterte: „Lassen Sie es gut sein, wir wollen nach Hause!“ Es war nachts um halb drei. Im Grunde war es mir egal, Königsberg hatte sich dem Sechsjährigen noch nicht unverlöschlich eingeprägt, dafür war er zu jung. Wäre ich nur vier Jahre älter gewesen … Und wie wir uns gefürchtet haben, sagte ein Kollege, der 1932 geboren ist. Ich verstand nicht: Wenn die Sirenen heulten, weckte uns unsere Mutter, sie hatte drei kleine Kinder, fünf, vier, zwei Jahre alt. Das vierte war in Muttis Bauch. Wir Großen mussten uns ganz dick anziehen, obwohl es im Luftschutzkeller stickig heiß war, ich hasste das. Dann ab in den Keller. In jeder Ecke saß oder lag jemand, die Kinder quengelten und plärrten, schlafen konnte man auf den harten Pritschen überhaupt nicht. „Hast Du Angst gehabt“?, fragte mich Jahrzehnte später ein Freund. Angst? Da mochte es rumsen, die Lampen flackern, schwanken, die Leute schreien. Warum bloß? Meine Mutter winkte gelangweilt ab, wenn wir sie ansahen. „Es ist nichts“, sagte, sie, „das ist gleich vorbei, dann könnt ihr oben weiterschlafen“. Manchmal sagte sie: „Angsthaben gilt nicht“. Und wir hatten keine Angst. Ich schlief im Luftschutzkeller ein – so sicher wie in Abrahams Schoß. Komisch, dass ich das alles noch weiß, so als wäre es gestern geschehen. Ansonsten habe ich nämlich fast alles vergessen, alles ist schemenhaft geworden: das Studium, der Beruf, die Reisen. Ob Seoul, Teheran, Montreal, Annapolis, Tel Aviv: alles flache Bilder, ausgelaugt, halb verblasst. Rockelkeim und der blühende Garten, der Luftschutzkeller in Königsberg, der große Löschteich hinter dem Mischener Weg: die stehen mir so lebendig vor Augen wie eh und je. Der Flüchtlingsausweis A war eine Botschaft des Adenauerregimes: wir wissen, was ihr durchgemacht habt, es gibt Solidarität zwischen den Generationen und den Landsmannschaften. Wir im Westen haben euch aufgenommen, wir verteilen euere Lasten auf alle Schultern, ihr seid integriert – so ungefähr das Gegenteil dessen, was wir im Gaza-Streifen bis heute sehen können. Das Lastenausgleichsgesetz (LAG) vom 1. September 1952 – mit Bedacht war dieses Datum gewählt worden – war vor allem für Flüchtlinge eine Verheißung, manche erwarteten davon wahre Wunder, erst heute wissen wir, mit welchen Problemen und Vorbehalten das Gesetzeswerk behaftet war, Rüdiger Wenzel hat es gerade erst beschrieben. 2 Entscheidend war nicht der materielle Lastenausgleich, der war ohnehin unmöglich, sondern die Grundidee, nach der eben alle Deutschen den Krieg verloren hatten und gemeinsam die Kriegslasten tragen mussten. Der Lastenaus2

Rüdiger Wenzel, Die große Verschiebung? Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952 (Historische Mitteilungen, Beiheft 70), Stuttgart 2008.

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gleich hatte ähnliche psychologische Bedeutung wie der Marshallplan: Beide Initiativen waren in der Praxis unbedeutend, in den Auswirkungen überragend. Manche der älteren Flüchtlinge wurden, als die Idee mit dem Lastenausgleich hochkam, zu ehemaligen Gutsbesitzern in Ostpreußen, Schlesien und Pommern; Spötter meinten: hätten alle diese Güter wirklich existiert – Deutschland wäre so groß wie Amerika gewesen. Ich war zwölf und hütete mich zu erwähnen, dass zwei meiner Großonkel tatsächlich große Güter in Ostpreußen besessen hatten. Das eine hieß Kiaunischken und wurde während des Krieges in Stelterhof umbenannt, und nur weil die Behörden so langsam arbeiteten, wurde aus „Salewski“ nicht die Familie „Salken“. Als Kind war ich mit meinem Namen unglücklich, der klang so polnisch, und Polen waren fast so schlimm wie Juden: das war das erste, was ich als Kind in Königsberg lernte. Die meisten ehemaligen Gutsbesitzer wollten kein Gut im Westen, sondern ihre alten in Ostpreußen zurück. Wer aus dem Lastenausgleich einen bescheidenen Hof im Westen pachtete oder erwarb, verfiel bei einigen Standesgenossen aus dem Osten eisiger Verachtung; mein Großonkel hat darunter gelitten, als er aus einem ehemaligen Truppenübungsplatz der Engländer in der Lüneburger Heide einen blühenden Hof machte. Nein, ich wollte weder ein Kriegskind noch ein Flüchtling sein, und wenn ich an einem alten Familiengrab stand, wo die Namen der Großeltern, der Urgroßeltern eingemeißelt waren, ertappte ich mich bei dem Gedanken: schrecklich, die Kinder und Enkel wissen schon heute, wo sie enden werden. Das war eine unvorstellbare Vorstellung. Als Flüchtlingskind weißt du nicht, wo du begraben wirst – ist das nicht schön? Seit einigen Jahren ist die Kriegskinder-, die Flüchtlings- und Vertriebenenforschung in vollem Gang. Unzählig sind die Erinnerungsbücher, die Anthologien, die Symposien und die wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit diesen Phänomen beschäftigen, und erst seitdem wurde mir klar: tua res agitur. Als Historiker bin ich eigentlich verpflichtet, mich um diesen neuen Strang der Forschung zu kümmern und umso mehr, als die elende Diskussion um ein Zentrum gegen Vertreibungen erheblichen Einfluss auf das deutsch-polnische Verhältnis hat und es Aufgabe der Historiker ist, das Dumpfe zu klären, Ressentiments abzubauen, Klarheit zu schaffen. Jahrzehntelang hat das niemanden interessiert, auch ich bin nie danach gefragt worden, ob ich nicht etwas über Flucht und Vertreibung sagen oder schreiben wolle. Das hat sich in den letzten Jahren geradezu dramatisch geändert; plötzlich werde ich einer Generation zugerechnet, die durch den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit traumatisiert worden ist. Ich für meine Person verbitte mir das, von wegen Trauma! Wenn, dann höchstens Träume, und die werden zahlreicher und bunter, je älter man wird. Aber Trauma? Ich denke, dass nicht nur ich dagegen protestiere, die Kriegskindergeneration tut dies kollektiv – warum bloß? 60% der über 75-jährigen, so stand es neulich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sind vom Krieg noch heute traumatisiert. 3 Außerdem ist alles schon gesagt und geschrieben – was heute nahezu vergessen ist. Die große Dokumentation des Vertriebenministeriums aus den Jahren 3

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05.2008, 9.

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1954 bis 1961 unter der Federführung von Theodor Schieder zum Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde zuerst als Verschlusssache eingestuft. Diese Edition ist inzwischen längst frei zugänglich. Sie hat sich schon sehr früh darum bemüht, die Erfahrungen der Kriegsgeneration im Osten zu sammeln, festzuhalten, ansatzweise auszuwerten. Doch diese riesige Arbeit blühte im Verborgenen, sie trat weder ins Bewusstsein der Fachwissenschaft, noch in das der Bevölkerung, und nachdem Theodor Schieder von sittlich gefestigten Historikern völlig diskreditiert worden war, umso weniger, so dass der naive Wunsch laut werden konnte, nun endlich mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu beginnen, denn die vergehe durchaus, im Gegensatz zu einer anderen. Das war berechtigt, wenn auch mit einer ganz anderen Begründung. Natürlich war es auch schon vorher zu solcher Vergangenheitsbewältigung gekommen. Beispielsweise im Ostpreußenblatt und in anderen Flüchtlingsblättern. Das Ostpreußenblatt war meine erste Zeitungslektüre überhaupt, und meinen ersten Artikel überhaupt habe ich auch für das Ostpreußenblatt verfasst. Es gab in nahezu jeder Flüchtlingsfamilie eine Art Heimatecke. Idealtypischerweise hingen bei den Ostpreußen Bilder von der Marienburg, des Königsberger Doms, oft stilisierte Ostpreußenkarten, auf denen die Elchschaufel nicht fehlen durfte, das Ganze war oft garniert mit Sprüchen und Gedichten von Agnes Miegel und, bei Akademikern, mit Immanuel Kant und ein paar Alberten. Alberten waren kleine Anstecker aus Silber oder Gold mit einem Abbild des Herzogs Albrecht von Brandenburg, am Revers des Abituranzuges zu tragen. In Ostpreußen wurden mit Alberten Abiturienten beschenkt, die an der Universität Königsberg, der Albertina, studieren wollten oder sollten. Die Gesamtheit dieser Devotionalien samt ihrer psychologischen Wirkung wäre wohl noch wissenschaftlich zu untersuchen, sie hat auf die junge Kriegskindergeneration beträchtlichen Einfluss ausgeübt, und das erste Lied, das Kinder hörten, oft von der Mutter am Bett gesungen, war Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen, dem oft das Ännchen von Tharau folgte. Oder sie rezitierte Agnes Miegel aus den Frauen von Nidden: „Und die Düne kam und deckte sie zu“. Die Dünenlandschaft auf der Nehrung, die glitzernde Ostsee dahinter, die Bernsteine am Strand, die Mutter, die wer weiß wie weit in ungewisse Ferne schwamm, bis der Dreikäsehoch jammerte und schrie: das sind erste Erinnerungen, sie haften hartnäckig. Im Laufe der Jahrzehnte wurden solche Erinnerungen halbprofessionell wahrgenommen, wenn peußische Kommissionen, Arbeitskreise und „Tafelrunden“, Vertriebenenverbände und Vertriebenentreffen, meist Jahr für Jahr, dieses Brauchtum pflegten; Herbert Hupka und Herbert Czaja wurden zu ebenso bekannten wie umstrittenen Figuren der deutschen Politik. Matthias Stickler hat das mus-

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tergültig aufgearbeitet. 4 Der alte Königsberger Verlag Gräfe und Unzer, im Westen gut angekommen, versorgte die Flüchtlinge mit einer Unmasse von Erinnerungsliteratur und Bildmaterial aus der verlorenen Heimat, es gab nahezu kein Weihnachten, an dem nicht eine nostalgische Publikation dieses Verlags unter dem Weihnachtsbaum lag. Aber auch politische Parteien nahmen sich dessen an – beispielsweise der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Genau da lag das Problem, das nach und nach die Erinnerung an die Heimat in den Geruch des Reaktionären geraten ließ. Aus dem Geruch wurde oft der haut goût eines kaum verhüllten Rechtsradikalismus. Deswegen, ich erinnere mich, trat mein Vater demonstrativ aus dem Gesamtdeutschen Block/BHE aus und der CDU bei. So wenig man in einem demokratischen und freien Staat jemanden daran hindern konnte, sich seine eigene Vergangenheit zu zimmern, so sehr war dieser Staat verpflichtet, allem zu wehren, was dem Wohl des Staates und seiner Bevölkerung schädlich sein konnte – und dass die einseitigen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung insgesamt schädlich zu werden drohten: daran war je länger je weniger zu zweifeln. Man war nicht mehr einfach Sudetendeutscher, Ostpreuße, Schlesier oder Pommer, sondern mit diesen Bezeichnungen gingen politische Grundauffassungen einher. Die älteren Flüchtlingsgenerationen ließen sich davon weniger irritieren, für die jüngeren wurde das rasch zu einem Problem, und ich hütete mich immer öfters, mich als Ostpreuße zu „outen“, wie man heute sagt. Man geriet, etwa in Montabaur oder Bonn, leicht in den Geruch, reaktionär oder Schlimmeres zu sein, und die Kombination Ostpreuße und Reserveoffizier war Mitte der sechziger Jahr geradezu „tödlich“. In diesem Dilemma steckte die Flüchtlingsforschung ein paar Jahrzehnte, völlig ist sie noch nicht daraus heraus, und was wir hier und heute tun, ist der Versuch, sich über diese Zusammenhänge klarzuwerden, um die schädlichen Folgen zu minimieren, die guten zu befördern. Zu den schädlichen gehörte die Idealisierung der ostdeutschen Vergangenheit, die sich auf nahezu allen Feldern finden ließ, wenn aufgelistet wurde, woher beispielsweise deutsche Dichter, Philosophen oder Soldaten stammten: natürlich aus dem Osten; wo jenseits von Lübeck die schönsten Hansestädte lagen: natürlich Stettin, Danzig, Königsberg, Riga und Reval wurden gleich mitvereinnahmt. Wo es die dunkelsten Wälder und die kristallensten Seen gegeben hatte: in Ostpreußen, und die stolzesten Elche röhrten im schönsten kaiserlichen Jagdrevier: in der Romintener Heide. Die Verklärung des Ostens war auch Folge seiner Verwilderung nach 1945. Stereotyp wurde der Hinweis darauf, dass das Land im Osten die Kornkammer des Reiches gewesen war und sich nun nicht einmal mehr selbst ernähren konnte. Seitenlang waren die Berichte im Ostpreußenblatt über die „Versteppung“ oder „Versumpfung“ einst fruchtbaren Ackerlands. Die Rettung der staatlichen Trakehner Pferdezucht in den Westen wurde als Heldentat glorifiziert, und natürlich war die Milchleistung ostpreußischer Kühe doppelt so hoch wie die von westli4

Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004.

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chen Kühen – übrigens waren das bloß rotbunte, wohingegen eine richtige Kuh schwarz-weiß zu sein hatte, eben wie Preußen, wie Ostpreußen. Mit solchen Klischees wurden nicht nur wir Flüchtlingskinder gefüttert, sie verbreiteten sich allgemein in der Bevölkerung und führten zu unterschwelligen Ressentiments – etwa wenn meine Großmutter, auf einem großen Gut vor 1914 großgeworden, den Deschinger Bauern erklären wollte, wie man mit Kühen und Pferden, mit Pflug und Egge richtig umzugehen habe. Das trug zum gegenseitigen Verständnis nicht gerade bei. Dass gerade der Osten in den kritischen Jahren der Weimarer Republik in jeder Hinsicht ein Zuschussgebiet gewesen war, dem man mit der fatalen „Osthilfe“ zu Brünings Zeiten hatte zu Hilfe kommen wollen, war bei den Flüchtlingen in Vergessenheit geraten, desgleichen, dass nirgendwo die Saat des Nationalsozialismus früher und üppiger aufgegangen war als in Ostpreußen. Der „Erste Bericht“ des Gauleiters Erich Koch maßte sich schon 1928 an, aus Ostpreußen einen „Mustergau“ machen zu wollen, er blieb nicht erfolglos. Es war verständlich, dass solche historischen Hypotheken Abwehr gerade auch bei jenen auslösen musste, die ja ebenfalls zwangsumgesiedelt worden waren – in die ehemaligen deutschen Ostgebiete. Viele der aus Ostpolen Vertriebenen hofften jahrelang so wie die vertriebenen Deutschen darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können und nahmen ihre neue Heimat nicht richtig an – was mit zu den Zuständen der Verwahrlosung in Ostpreußen und Schlesien beigetragen hat. Die politischen Flüchtlingsverbände in Westdeutschland wurden nicht müde, das Unrecht der Vertreibung anzuprangern, meist mit der Hoffnung verbunden, alles werde wieder gut. Deutschland „3geteilt? niemals!“ hieß es auf einem Plakat des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“. Es kommt nicht von ungefähr, dass daraus das oft verspottete „ Kuratorium unheilbares Deutschland“ wurde. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Oder-Neiße-Grenze von den Westdeutschen, die Vertrieben inbegriffen, anerkannt wurde – ein sehr vielschichtiges Kapitel der Nachkriegszeit, das erst mit den Zwei-plus-VierVerhandlungen 1990 zum Abschluss kam. Unsere Familie, das heißt meine Mutter, meine Großmutter und wir dreieinhalb Kinder, flüchteten im November 1944 aus Ostpreußen, und zwar auf die komfortabelste Weise, denn wir saßen in einem Zug, hineingestopft von resoluten Damen der NSV, der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“, die den Versicherungen des Gauleiters Koch, Nemmersdorf und der temporäre Einbruch der Roten Armee nach Ostpreußen sei schon am Tag darauf bereinigt worden und nur ein Ausrutscher gewesen, der sich nie wiederholen würde, ebenso wenig Glauben schenkten, wie die endlosen Trecks, die an uns vorbeizogen. Ihr dumpfes Geräusch vergisst sich nicht. Nur Tage nach dem 21. Oktober 1944, dem Tag von Nemmersdorf, setzte sich unser Flüchtlingszug in Bewegung – wir waren dabei. Manchmal blieb er mitten auf freiem Feld stehen, die Menschen wurden nervös: Warum ging es nicht weiter?

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Weil wir offensichtlich viel zu spät in Dresden ankamen und dort alles voll von Flüchtlingen war, konnten wir dort nicht bleiben. Meine Großmutter tobte, was das denn für eine Organisation sei, da gehe es in Ostpreußen aber ganz anders zu! Wir standen stundenlang im Dresdner Hauptbahnhof, endlich setzte sich der Zug nach rückwärts wieder in Bewegung. Pulsnitz hieß der kleine Ort unweit Dresdens, mir kam er vor wie das Schlaraffenland, denn aus Pulsnitz kamen sie immer noch, die Lebkuchen, der eine oder andere fiel für uns Kinder ab. In Pulsnitz verschmolzen zwei Begriffe zu einem: Schule und Alarm. War nur Voralarm, musste man zur Schule, bei Hauptalarm durfte man zu Hause bleiben. Manchmal kam der Hauptalarm überraschend dann doch noch, wenn man schon in der Schule war. Den warteten wir dann in einem Keller der Brotfabrik ab, die war unsere Schule. Einmal warf „der Tommy“, wie das alle nannten und wir Kinder auch, Massen von Flugblättern ab, viele waren auf den Fabrikhof geflattert. Jauchzend sammelten wir sie, schichteten sie zu einem Haufen, und mit einem lauten „Heil Hitler“ wurde der Haufen von unserem Lehrer angezündet, das war ein Spaß! Wenig später brannte Dresden. Wie aus einer Theaterloge sahen wir auf den brennenden Himmel, Pulsitz blieb völlig unversehrt. Aber eine andere Flüchtlingsfamilie packte wieder zusammen was sie hatte. Wollen Sie mit? fragte die Frau. Tatsächlich war es ihrem Mann, einem hohen Reichsbahnbeamten gelungen, einen ganzen Viehwaggon nur für uns allein zu organisieren – zwei Flüchtlingsfamilien, zusammen neun Leute: das war alles in dem riesigen Viehwaggon, und der begab sich im März 1945 auf eine lange Reise. Irgendwann endete sie in Vilshofen, und da war die Flucht zu Ende. Erst viel später erfuhr ich, dass Flucht und Vertreibung für Millionen Menschen etwas ganz anderes gewesen waren, und es gab Zeiten, da schienen sich meine Mutter und meine Großmutter eher dafür zu schämen, dass das alles so glimpflich abgelaufen war, und als uns in Desching eine Tante besuchte, die mit einem Marineschiff über die Ostsee gekommen war, nachdem sie den Marsch über das Eis des Kurischen Haffs mitgemacht und überlebt hatte, wurden wir ganz klein. Waren wir überhaupt richtige Flüchtlinge? Und kam es mir nur so vor, als seien die geretteten Flüchtlinge von der „Gustloff“ oder einem anderen Schiff etwas Besonderes, gleichsam Edel-Flüchtlinge? Ob es tatsächlich im Selbstverständnis der Ostflüchtlinge solche Unterschiede gegeben hat, weiß ich nicht. Von den jüdischen Flüchtlingen weiß man, dass es in Israel noch bis zu Beginn der achtziger Jahre einen gewaltigen Unterschied ausmachte, ob man vor 1939 einigermaßen „normal“ eingewandert oder aus Todesangst während des Krieges geflohen war. Walther Grab, der deutsch-jüdische Historiker des Jakobinismus, pflegte nicht ohne Stolz zu erzählen, er habe sogar seinen Goldfisch im Glas heil von Berlin nach Tel Aviv gebracht – 1938. Zu den besonderen Phänomenen der Zeit nach 1945 gehörte die zwar nicht problemlose, aber doch äußerst erfolgreiche Integration der Flüchtlinge in die Bevölkerung des Westens, was für manche Gaue des Deutschen Reiches ganz besonders galt – etwa für Schleswig-Holstein, das seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelte. Dass es dabei immer wieder zu Konflikten mit den Einheimischen kam, war nur natürlich und sollte, wie jüngst in der „kalten Heimat“ bei Andreas

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Kossert nachzulesen 5, nicht überbewertet werden. Aber es mag sein, dass kindliche Erinnerungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kollidieren. Wie man es drehen und wenden mag: die nationalsozialistische Idee von der „Volksgemeinschaft“, übrigens eine Erfindung schon aus dem Ersten Weltkrieg, hatte in den vergangenen zwölf Jahren wenn nicht für gesellschaftliche Homogenität, so doch zum Abbau hoher landsmannschaftlicher Schranken geführt. Das galt für das Materielle, indem die „Deutsche Arbeitsfront“ dafür sorgte, dass im allgemeinen für die gleiche Arbeit der gleiche Lohn gezahlt wurde, es galt für das Religiöse, indem die Nationalsozialisten die Bedeutung der Konfessionen herabgespielt und den „Gottesglauben“ propagiert hatten, und nun eben auch für das Heimatliche, denn die Heimat war das Reich insgesamt, und das musste seit 1944 fast an allen Grenzen verteidigt werden. Ob sich die Nachkriegsgesellschaft deswegen wirklich stärker als zuvor wie „ein Volk“ gefühlt hat, wäre weiter zu prüfen, aber die alte NS-Parole: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ wirkte nach. Genauer: indem sie um den Begriff „Führer“ verkürzt wurde, stieg der Wert der beiden anderen Begriffe. Tatsächlich hielten gerade die Flüchtlinge an der Idee des Reiches lange fest. Von Ostpreußen aus gesehen war Deutschland immer nur als „das Reich“ bezeichnet worden; man fuhr von Königsberg „in das Reich“, in der Zwischenkriegszeit immer durch den „Korridor“, und von diesen Fahrten bei verhängten Fenstern und in plombierten Waggons wurde schon den kleinen Kindern erzählt. Hierin spiegelten sich nicht nur Versailler Absurditäten, sondern uralte historische Befunde. Ostpreußen hatte nicht zum „Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation)“ gehört und war gerade deswegen zum Nukleus eines neuen europäischen Großstaates geworden, den man nach den Bewohnern dieser Provinz nannte: Preußen. Erst seitdem es das Königreich Preußen überhaupt gab, wurden die Preußen zu Ostpreußen, und es gab sehr selbstbewusste Einwohner Königsbergs, die sich entschieden weigerten, Ostpreußen zu sein. Sie waren Preußen. Selbst ich werde unwirsch, wenn irgendwer von „Königsberg in Ostpreußen“ spricht, und ich kann mich dann oft besserwisserischer Belehrung nicht enthalten. Das Gefühl, dem Reich zuzugehören, war immer ambivalent: Auf der einen Seite rührte die Verklärung des Ostens aus einem unterschwelligen Minderwertigkeitsgefühl, nach dem man eben noch besser als das Reich sein musste – wir kennen dieses Phänomen aus der Genderforschung, wenn Frauen glauben „besser als Männer“ sein zu müssen. Auf der anderen Seite hielt sich der intelligente Separatismus, wie ich dieses betonte Ostpreußensein nennen möchte, auch seit der Wiederbegründung des Reiches im Jahr 1871, als Ostpreußen zum ersten Mal tatsächlich zu einer Reichsprovinz geworden war. Später haben vor allem die Nationalsozialisten versucht, aus Ostpreußen eine Art Kernreich für Großgermanien zu machen, wenn die ehrwürdige Universität als Grenzland- und Reichsuniversität bezeichnet wurde, ostpreußische Bauern in den eroberten Territorien Russlands siedeln, ostpreußische Soldaten zum Kern der SS-Wehrgrenztruppen werden sollten. Die Ostpreußen selbst schwankten zwischen ihrer Zugehörigkeit zum Reich 5

Andreas Kossert, Kalte Heimat: Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.

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und zu Preußen. Einmal überwog das eine, ein anderes Mal das andere, darüber hat sich noch Brüning Gedanken gemacht. Das Wunder der Integration von 14 Millionen Flüchtlingen war unmittelbare Folge des Krieges selbst. Es waren überwiegend Frauen und Kinder, die geflüchtet waren, die Männer standen im Feld, oft weit weg von Deutschland. Das hieß: zuerst mussten die Frauen integriert werden. Dass das einfacher war und besser gelang, als es der Fall gewesen wäre, wenn die Männer dabei gewesen wären, bedarf keiner Erläuterung. Erneut hat die Genderforschung beschrieben, wie die größere Flexibilität der Frauen, ihre höhere Kompromissbereitschaft, ihr vernetzteres Denken, ihr kooperatives Arbeiten, vielleicht sogar ihre höhere Intelligenz den Integrationsprozess erleichterten. Frauen waren, um es einfach und drastisch zu sagen, leichter zu handhaben und sich nicht zu schade, auch dann und da anzupacken, wo es nicht besonders „standesgemäß“ war. Mögen die „Trümmerfrauen“ ein Mythos sein: Das bisschen Wirtschaft, das es im zerbombten Deutschland unmittelbar nach dem Kriegsende noch gab, hielten Frauen in Schwung. Da die meisten dieser Frauen mit kleinen Kindern geflüchtet waren, blieben sie nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern unterlagen einer Doppel- und Dreifachbelastung, denn auch die Alten, die mitgeflüchtet waren, mussten von ihnen versorgt werden. Es mag sein, dass in dem einen oder anderen Fall auch Mitleidseffekte der Einheimischen bei den Hilfestellungen für diese Frauen eine Rolle gespielt haben – als Kind von sieben Jahren habe ich das durchaus gespürt, wenn meine Mutter mit vier kleinen Kindern und einer schwer herzkranken Mutter irgendwie über die Runden kommen musste. Wie die Wahrnehmung der Flüchtlingsfrauen in einer immer noch männlich definierten sozialen Umwelt aussah, wissen wir nicht, hier wäre ein fruchtbares Forschungsfeld zu erschließen. Die Flüchtlingsfrauen rotteten sich oft zusammen, wenn es um die Deckung des materiellen Bedarfs ging. Gemeinsame Hamsterfahrten oder gemeinsame Kinderbetreuung waren Voraussetzungen für’s Überleben. Vor allem Flüchtlingsfrauen erfuhren buchstäblich die Milde oder auch die Hartherzigkeit von Bauern bei solchen Hamsterfahrten, sie haben entscheidend zur Mentalitätsbildung beigetragen. Wir Kinder – ich im Alter zwischen sieben und zehn, meine Schwester ein Jahr jünger – wurden ebenfalls zum Hamstern geschickt, und binnen kürzester Zeit wussten wir die „guten“ von den „bösen“ Bauern zu unterscheiden. Wir fühlten uns frustriert und hilflos, wenn gleichaltrige einheimische Ministranten zu Ostern Eier zu Dutzenden mit Ratschen zu schnorren wussten, während wir vielleicht zwei, drei Eier für die ganze Familie ergattert hatten. In katholischen Gegenden wurden damals die Evangelischen oft als jene angesehen, die ihr Schicksal irgendwie verdient hatten, weil sie den falschen Glauben gehabt hatten. Dieses Vorurteil legte sich, als die Zeiten besser wurden, klang aber lange nach. Eine meiner schlimmsten Erinnerungen klebt an einem katholischen Priester, der sich zunächst weigerte, meine (evangelische) Großmutter zu begraben und sie zähneknirschend dann doch im hintersten Winkel an der Friedhofsmauer begrub. Auf dem schlichten Holzkreuz stand geschrieben: „Geboren in Ostpreußen, gestorben in Desching.“

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Ein heikles Thema ist das zwischenmenschliche, über das ich nicht reden kann, weil ich darüber zu wenig weiß. Ob, und wenn ja wie viele, Flüchtlingsfrauen sich am Ende selbst verkauft haben, ist nicht zu entscheiden, Rainer Werner Fassbinder hat dazu wohl das gesagt, was man sagen kann. Sieht man es positiv, trug auch dieses Verhalten zur Integration bei. Eheschließungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, Einheimischen und amerikanischen Besatzungssoldaten wurden gewöhnlich, und damit auch die sog. Mischehe, eine Vorläuferin der ökumenischen Bewegung. Kann man das Verdienst der Flüchtlingsfrauen an der gelingenden Integration nicht zu hoch einschätzen, wird es bei den Männern problematischer, aber auch diese hatten „Glück“. Jahrelang aus den zivilen Arbeitsprozessen als Soldaten oder Kriegsgefangene ausgeschlossen, kamen sie der Industrie und Landwirtschaft nach 1945 gerade recht, das abgezogene Heer der ausländischen Fremdarbeiter zu ersetzen. Die Umstellung der deutschen Wirtschaft vom Kriegs- zum Friedensbetrieb wäre nicht so reibungslos gelungen, wenn die geflüchteten Männer nicht in die freigewordenen Kriegsgefangenen- und Fremdarbeiterpositionen hätten einrücken können. Typisch war es, dass das für den akademischen Bereich nicht galt, wo hohe Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingsmännern grassierte. Mein Vater, im September 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassener ehemaliger Oberstudienrat, hatte in Bayern nicht die geringste Chance, eine neue Anstellung zu finden. Dazu trug ein weiteres Phänomen bei, das Stichwort lautet: „Fragebogen“. Mit der Entnazifizierung hatten alle Deutschen zu tun, sei es, dass sie als ehemalige Mitglieder der NSDAP in einem förmlichen Spruchkammerverfahren verurteilt oder entlastet wurden, sei es dass sie als ehemalige Widerständler ihr Verhalten der Mehrheit gegenüber erklären, sei es, dass sie alle alten Gewohnheiten und Rituale aus den glorreichen zwölf Jahren tunlichst vergessen mussten. An diesem Punkt waren die Kinder besonders betroffen, hatten diese doch die Zeit vor der „Machtergreifung“, ja vor dem Krieg nicht gekannt. Sie waren, ob sie es nun wollten oder nicht, nationalsozialistisch erzogen worden. Nur wenigen Kindern aus Kreisen des Widerstands oder eines fundamentalistischen Christentums war das erspart geblieben, aber wir wissen aus der Widerstandsforschung, dass das keineswegs ein traumafreies Weiterleben garantierte, oft ganz im Gegenteil. Darum soll es hier nicht gehen, hier interessiert die Mehrheit. Von dieser muss man deswegen reden, weil alle Kinder, die nach 1928 geboren wurden, gerade in jenen Jahren groß wurden, in denen der Nationalsozialismus seine schönsten Erfolge feierte und die größte Zustimmung erfuhr. Der Juli 1940 dürfte hier Höhe-und Kulminationspunkt gewesen sein. Ich bin im Januar 1938 geboren. Zum ersten Mal im Jahr 1942 wurde mir erklärt, dass wir im Krieg lebten. Das war ein leerer Begriff, denn den komplementären gab es nur in einer einzigen Wortverbindung, die bei dem kleinen Kind haften blieb: Friedensware. Ich erinnere mich des bombastischen „Prélude Nr. 3“ von Liszt aus dem Volksempfänger, wenn das Oberkommando der Wehrmacht wieder einen Sieg bekanntgab, ohne natürlich zu wissen, von wem diese schöne Musik stammte. Was ein Sieg war, wusste ich nicht, auf alle Fälle etwas Gutes, denn

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Großmutti und Mutti waren danach immer ganz fröhlich, das hatte Vorteile. Als Kind von vier Jahren ahnte man nicht, was hinter diesem Begriff steckte. Ich erinnere mich, dass meine Mutter Stecknadeln in eine große Karte stach. Eine besondere steckte in Kirkenes. Dort war mein Vater stationiert, er sah dauernd Nordlichter, ich wollte auch welche sehen, vergeblich. Ich wusste, dass es von Kirkenes nach Königsberg ein weiter Weg war, den er jedes Mal auf sich nahm, wenn er Urlaub hatte, den letzten im Frühjahr 1944. Bei der Beurteilung der Kinderkriegstraumata kommt es auf jedes Jahr an. Wer den märchenhaften Aufstieg der Partei, ihres „Führers“ und des Reiches schon bewusst miterlebt hatte, reagierte auf die folgenden Katastrophen ganz anderes als jene Kinder, die wie ich höchstens einen Hauch von Sieg gespürt hatten. Verdunkelung, Luftschutzkeller, Schachtelhalmsammeln, Flucht, Unbehaustsein verbanden sich zu einem als normal empfundenen Leben – bei Kindern zwischen vier und zehn. Dass all dies nicht „normal“ gewesen war, wurde mir erst nach dem zehnten Lebensjahr langsam bewusst; die Währungsreform von 1948 war ein psychologisch wichtiger Einschnitt, wahrscheinlich nicht nur für mich, und nun erst begann die eigentliche „Nachkriegszeit“. Diese ging aber nicht in eine Friedenszeit über, sondern in eine Vorkriegszeit, begann der „Kalte Krieg“ mit der Berlinblockade doch seine Drohungen zu entbinden, und die begriff der Zehnjährige so, wie die um 1930 Geborenen den drohenden Zweiten Weltkrieg empfunden haben müssen. Zu den Ritualen und Selbstverständlichkeiten der eigenen Kindheit zählten Hakenkreuzfahnen, vor allem an „Führers Geburtstag“, Gasmasken im Kindergarten, patzige dicke Dienstmädchen vom Land und glänzende scharfe Bombensplitter nach Luftangriffen. Man sammelte sie und lieferte sie ab – oder auch nicht. Hunger gab es nicht, wohl aber das seltsame Eintopfessen, das meist nicht schmeckte und die elende Verdunkelung. Elend deswegen, weil jedes Vergessen, jede Unachtsamkeit vom Blockwart sofort moniert wurde: der Blockwart klingelte und beschimpfte meine Mutter! Ausgerechnet am Heiligen Abend 1943. Das empfand schon das fünfjährige Kind als ungehörig, und so sorgte es mit dafür, dass das mit der Verdunkelung ja nicht vergessen wurde. Meine Großmutter erzählte später, mein erstes Wort sei nicht etwa Mutti gewesen sondern „Dunkeli“. Die nationalsozialistische Pest haftete jedem Deutschen noch Jahre nach dem Krieg wie Pech an. Der Aufbau von Staat und Gesellschaft erfolgte bewusst oder unbewusst immer vor der schwarzen Folie des „Dritten Reiches“, das auf diese Weise für nahezu alles zum Maßstab wurde, wenn auch zu einem negativen. Es fehlt die Zeit, um das im Einzelnen zu belegen und zu erläutern, hier geht es nur um die Kriegskinder, die in den neuen Staat hinein groß wurden und anders als die damals Erwachsenen keine anderen Maßstäbe besaßen als jene, die der Nationalsozialismus gepredigt und durchgesetzt hatte. Nazistisches Denken und Fühlen einschließlich des antisemitischen hatten die Kinder gleichsam mit der Muttermilch eingesogen. Erst die Generation der sog. „Achtundsechziger“ konnte sich davon befreien, und das hatte eine gesellschaftliche Erschütterung zur Folge, die ich einmal als einen „Hauch der Revolution“ bezeichnet habe. Es war selbstverständlich, dass man sich als Kind Uniform und Dolch des Pimpfes wünschte, als

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Pubertierender die SS toll fand und sich freiwillig meldete, man kennt das berühmteste Beispiel. Der „Fragebogen“ als kollektive Schreibübung der Nation war gut gemeint, bewirkte aber eher das Gegenteil: Die Inkonsequenz der Entnazifizierung spaltete die Gesellschaft in jene mit und ohne Persilschein. Dabei hing es ganz von der einzelnen Kammer, den einzelnen Richtern und Beisitzern, von deren auch familiärer Umgebung ab, ob sie ein richtiges Urteil überhaupt fällen konnten. Ich erinnere mich, wie wildfremde Männer mit meinem Vater, der ein braver PG gewesen war, zusammensaßen und beratschlagten, als das mit der Entnazifizierung in Vilshofen anstand. Es war selbstverständlich, dass man sich gegenseitig half, es entstand eine merkwürdige postnationalsozialistische Solidarität unter den Mitläufern. Nicht der Umstand, dass man in der Partei gewesen war, stellte das Hauptproblem dar sondern die Frage, wie unschuldig man in die vermeintlich erbarmungslose Mühle der NSDAP geraten war. All das wurde ganz offen vor Kinderohren erörtert, und so setzte sich schon sehr früh fest, dass man die Obrigkeit narren musste. Eine wahrnehmbare deutsche Obrigkeit gab es nicht mehr, nur eine ausländische, und der war niemand moralisch verpflichtet. Das geflügelte Wort von der „Siegerjustiz“ in Nürnberg sagte alles. Die Beamtenhörigkeit, der viele Deutsche seit Bismarcks Zeiten verfallen waren, wich einer unterschwelligen Opposition. In diesen Jahren wurde bereits eingeübt, was man später euphemistisch „zivilen Ungehorsam“ nannte. Der Werdegang von Günter Grass, 1927 in Danzig, Siegfried Lenz, 1926 in Lyck geboren und damit auch Kriegskinder, ist dafür typisch. Die Kriegskindergeneration wuchs nach 1945 mit einem natürlichen Misstrauen gegenüber aller Obrigkeit auf, und der Funke zündete, als diese Kinder erwachsen wurden: Mitte der sechziger Jahre. Mit der Ausstellung von „Persilscheinen“ war mein Vater lange beschäftigt, aber auch er erhielt „Persilscheine“. Wie diese Verbiegung der Vergangenheit – Ernst von Salomon hat das einfühlsam und sarkastisch zugleich beschrieben – auf die junge Generation wirkte, wie sie das Normen- und Wertegefüge veränderte, wäre zu untersuchen. Die Ergebnisse wären wohl ambivalent: auf der einen Seite befreiten sich die Spruchkammerdeutschen von der politischen Hörigkeit, auf der anderen übten sie jene Ellenbogenmentalität und politische Verlogenheit ein, die dem jungen Gemeinwesen zu schaffen machten und auch heute noch nicht so ganz überwunden sind, ich erspare mir die aktuellen Beispiele. Insgesamt wage ich nicht zu entscheiden, ob Entnazifizierung und Reeducation auf das Volk als Ganzes eher positiv oder negativ gewirkt haben. Auf die Kinder eher positiv, wurden sie doch ungleich stärker als die Erwachsenen von Anfang an mit den Segnungen der westlichen Kultur und Zivilisation konfrontiert, die man in „Centres culturels“, Amerikahäusern, auch in den Filmtheatern und PX-Läden sowie in anderen Einrichtungen der Besatzungsmächte machen konnte. Die, wie man sie später nannte, Amerikanisierung der Gesellschaft fand ihre Wurzeln nicht erst in den achtundsechziger Jahren, sondern war bereits mit den Reeducation-Programmen angelegt, und jeder von einem amerikanischen Panzer 1945 Kindern zugeworfener Kaugummi bewirkte mehr als ein

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ganzes Amerikahaus. Mit der amerikanischen Schulspeisung wurde Amerika schon für den zehnjährigen Knaben buchstäblich zum Land, in dem Milch und, nein, nicht Honig, sondern Maissirup floss. Und damit wurde der jungen Generation auch ein gleichsam natürlicher Hass auf den Nationalsozialismus eingeimpft, denn der hatte den Hunger verschuldet. Dass die nationalsozialistische Idee, in welcher Form auch immer, nach 1945 nur ein klägliches Schattendasein führte, ging nicht zuletzt darauf zurück, dass die Kinder, je älter sie wurden, begriffen, was ihnen in ihrer Kindheit wirklich angetan worden war. Erst im Abstand eines oder zweier Jahrzehnte war zu erahnen, dass das Leben, das man als kleiner Junge auf der Flucht und in der Fremde, oft hungrig und frierend geführt hatte, eben nicht „normal“ gewesen war, und je vernünftiger man wurde, desto deutlicher auch, dass daran die NSDAP schuld gewesen war. Die positiven Erinnerungen verblassten, die negativen traten schärfer ins Bewusstsein, und daraus resultierte eine westlich-demokratische Grundeinstellung, die zur politischen Stabilität der frühen Bundesrepublik beigetragen und dafür gesorgt hat, dass es keinen ernstzunehmenden Neo-Nationalsozialismus gab. Das wiederum war die Grundvoraussetzung für alles andere, man braucht das nicht näher zu erläutern. Im Übrigen haben die Schulen daran den geringsten Anteil gehabt. Allzu häufig wurde die jüngste Vergangenheit einfach ausgelassen, man kam im Geschichtsunterricht bis Bismarck, wenn es hoch kam, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Was es mit der Weimarer Republik und ihrem Scheitern auf sich gehabt hatte, erfuhren nur Studenten, die Karl Dietrich Brachers Bücher lasen; wie SS und Völkermord möglich wurden nur solche, denen Namen wie Raul Hilberg oder Eugen Kogon etwas sagten. Nichts davon in den Schulen, das war sicherlich auch Folge des Umstands, dass die notwendigen Lehrmittel, die auf diesen Erkenntnissen der Zeitgeschichte aufbauten, noch nicht ausreichend vorhanden waren – dafür Lehrer, die das alles selbst nicht nur miterlebt – sondern mitgetragen hatten. Nicht alle Lehrer nämlich waren aus Widerstandskreisen zu rekrutieren. Die gegenwärtige Debatte um die DDR-Geschichte in den Schulen weckt ein gespenstisches Déjà-vu. Gewiss, zumindest ich war nie von dem Gefühl geplagt, dass man mir meine Kindheit „gestohlen“ hatte, aber solche Empfindungen gab es doch, und das impfte dieser Generation ein besonderes Gegengift gegen den Nationalsozialismus ein, das umso besser wirkte, je lustvoller und spannender die westliche Kultur mit ihren kulinarischen (Coca-Cola und Hamburger) und technischen Hervorbringungen („Ami-Schlitten“ und Fernsehen) von den Heranwachsenden begriffen und erfahren wurde. Judith Kerr hat in ihrem preisgekrönten Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ 1971 einfühlsam beschrieben, wie Kinder den Nationalsozialismus – und auch die „Befreiung“ von ihm erlebt haben. Wenigstens am Rand soll darauf hingewiesen werden, dass sich die Kriegskindergeneration auch nach dem Kriterium der Schriftlichkeit gliedern lässt: Alle Kinder lernten bis 1940 in der Schule die sogenannte „deutsche Schrift“, zumeist Sütterlin. Die ab 1941 eingeschulten aber die „deutsche Normalschrift“, allgemein als die „lateinische“ bezeichnet. Das war nicht etwa vorweggenommener Gehor-

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sam den westlichen Besatzungsmächten gegenüber, sondern ging auf eine Anordnung der europagrößenwahnsinnigen NSDAP zurück. Über diese „List der Vernunft“, diese Ironie der Geschichte könnte man noch heute lachen; sie trug aber dazu bei, dass die Kinder ab dem Jahrgang 1935 nicht mehr lesen konnten, was ihre Eltern schrieben, wohl aber alle westlichen Ausländer – ich zählte zu diesen Kindern und lernte „deutsche Schrift“ erst, als ich beschloss, Historiker zu werden. Was dieses paläographische Aperçu soziologisch und psychologisch bedeutete, harrt der Untersuchung. Vielleicht gehörte dazu auch die „vaterlose Gesellschaft“. Die Demontage des Vaters als Idol der Familie und der Kinder war nämlich keineswegs eine Folge der Achtundsechziger-Bewegung, sondern hatte viel früher eingesetzt, und zwar als Resultat des Krieges, der den Kindern die Väter buchstäblich abhanden kommen ließ. Für die Generation der Kriegskinder war der Vater ein fremder Mann, der sich nur ganz selten sehen ließ und sich dann anmaßte, im familiären Umfeld bestimmen zu wollen – in seinem Urlaub. Väterurlaub war immer Ausnahmesituation. Die tagtägliche Erziehung der Kinder oblag den Müttern, ab dem zehnten Lebensjahr auch der Partei, und in der Volksschule wurde es nicht besser. Als ich in Rockelkeim eingeschult wurde, im Herbst 1944, war an der einklassigen Volksschule eine Lehrerin tätig, die in Wahrheit keine, sondern nur die Frau des Lehrers war. Der stand im russischen Feld, wie sie uns Kindern erklärte. Das heißt: selbst in der Schule, also in der prägenden Zeit, waren es überwiegend Frauen, die Kinder erzogen; die nicht vorhandenen Väter spielten keine Rolle. Im besten Fall wurden sie als Onkel auf Urlaub wahrgenommen. Das hatte enorme psychologische Folgen, die es den Vätern schwer machten, als sie wieder zurückkamen – zumeist aus der Kriegsgefangenschaft. Nicht als strahlende Helden, wie noch im Urlaub, sondern als geschlagene Elendsgestalten, die den heranwachsenden Kindern kein Vorbild waren. Und dies umso weniger, als der gesellschaftliche Comment diesen Männern immer noch die Dominanz auf nahezu allen Feldern des täglichen Lebens einräumte. Hilflos mussten Frauen und Kinder mitansehen, wie die Herren der Schöpfung wieder das Ruder übernahmen, ohne zu wissen, was in den vergangenen Jahren wirklich geschehen war, wohin man steuern musste. Die innere Distanz vor allem vieler Mädchen ihren Vätern gegenüber war dem Gefühl geschuldet, dass die Zuschreibung der Geschlechterrollen nicht mehr stimmte – formulieren konnten das erneut erst die Achtundsechziger. Sie stimmten auch deswegen nicht, weil es nach 1945 einen großen Frauenüberschuss gab. Nicht nur Kinder, vor allem junge Frauen mussten mit der Tatsache fertigwerden, dass auf jeden heiratsfähigen Mann zwei, drei heiratsfähige Mädchen kamen. Das Heer von einer Million junger Witwen musste versorgt werden, will man es so zynisch ausdrücken, und das nicht nur materiell. Das trug entscheidend zur männlichen gesellschaftlichen Dominanz der frühen Adenauerzeit bei. Als Kind hatte man es wie während des Krieges so auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit überall mit Frauen zu tun, Männer waren eine Seltenheit, und meist waren sie auch noch alt, oft versehrt. Die Mitte der fünfziger Jahre einsetzende Sexualrevolution war Folge des Ungleichgewichts der Geschlechter. Erst

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die Kriegskindergeneration balancierte das Ungleichgewicht wieder aus und befreite sich von jenen Sitten und Moralvorstellungen, die in den fünfziger Jahren als Palliativ gegen das Ungleichgewicht der Geschlechter gebildet worden waren. Kehrt man von diesen Genderaspekten wieder in die politische Wirklichkeit der Nachkriegszeit zurück, so gehört zu den positiven Folgen der gelingenden Flüchtlingsintegration das Verblassen des Heimatgedankens bei den meisten Flüchtlingen. Bei den Kindern sowieso, wenn sie nicht bereits zehn Jahre und älter gewesen waren, als sie flüchten mussten, aber auch bei den Erwachsenen. Das war Folge der „Neuen Heimat“. So nannte sich typischerweise ein gewerkschaftseigenes Hausbauunternehmen. Damit war der Gedanke verbunden, es sei möglich und erschwinglich, sich ein neues Heim in einer neuen Heimat zu schaffen – und viele Flüchtlinge schafften das auch. Seitdem sank das Interesse an einer Rückkehr in die alte Heimat rapide ab und wurde mehr und mehr nur noch künstlich gleichsam von „Berufsflüchtlingen“ wachgehalten, wobei die Zugehörigkeit zu der eigentlich betroffenen Generation bald keine Rolle mehr spielte; Erika Steinbach ist im Juli 1943 geboren und kann aus eigenem Erleben noch viel weniger aus Krieg und Heimat wissen als ich. Man kann behaupten, dass ohne diese Sozialisation im Westen die schließliche Versöhnung mit dem Osten, vor allem mit Polen und der Tschechoslowakei, nie gelungen wäre – negative Beispiele dafür gibt es zu Hauf, sowohl aus der Geschichte wie der Gegenwart. Dieses „Vergessen“ der ehemaligen Heimat war eine Grundbedingung für die Konsolidierung Deutschlands in seiner jeweiligen Gestalt nach 1945, und es waren oft gerade Flüchtlinge, die diesen Prozess förderten, weil sie um das Unheil wussten, das nach 1918 entstanden war, als ein rabiater Revisionismus jede Aussöhnung, weder mit Frankreich noch mit Polen möglich gemacht hatte. Die bewusste „Heimatvergessenheit“, in der berühmten „Charta der Heimatvertrieben“ vom 5. August 1950 zum Gewaltverzicht schon frühzeitig symbolisiert, war eine große politische Leistung der Flüchtlinge. Die Vertriebenenverbände wurden nicht müde, diesen Effekt der Charta in den politischen Himmel zu heben, dabei erreichten sie manchmal das Gegenteil. Das wiederum wurde kompensiert durch einen neuen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, und hier spielten die Kriegs- und Flüchtlingskinder eine neue Rolle – die Namen von Historikern wie Fritz Gause, Walther Hubatsch, Hans Wohlfeil, Andreas Hillgruber, Heinrich August Winkler – ich nenne hier nur Ostpreußen und darf mich selbst dazuzählen – weisen darauf hin, dass diese Flüchtlings- und Kriegskindergeneration es verstanden hat, den „langen Weg nach Westen“ nicht nur darzustellen, sondern als eine conditio sine qua non unseres freiheitlichen demokratischen Lebens zu begreifen. Dieses wurde eben vom Westen, nicht vom Osten bestimmt. In den Zeiten des Kalten Kriegs lief die Grenze zwischen Freiheit und Unterdrückung mitten durch Deutschland; entscheidend war, dass die ehemaligen Ostgebiete, also die alte Heimat, anscheinend fest in den Fängen des Kommunismus waren. Solange man diesen nicht offensiv zurückdrängen und besiegen konnte – und das gehörte zum Grundkonsens der westlichen Gesellschaften – war auch jeder Wunsch nach Rückkehr der oder in die Heimat von einst nicht nur Illusion, sondern hätte unkalkulierbare Gefahren heraufbeschworen – bis hin zum Doomsday eines dritten und letzten Weltkrieges.

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Die „Sakrifizierung“ des Ostens, wie das einst Graf Schlieffen im Zusammenhang mit seinem berühmten Plan antizipiert hatte, war der Preis für den Frieden in Europa – der längsten wirklichen Friedensperiode in der überschaubaren Geschichte des Kontinents. Damit bin ich schon bei den positiven Folgen des Bildes vom deutschen Osten, wie es sich in den Köpfen der Kriegs- und Flüchtlingskinder festgesetzt hat. Eben weil sie die alte Heimat nicht oder nicht mehr kannten, nur intellektuell wussten, woher sie stammten, konnten sie jene emotionsfreie Vernunft entwickeln, die für den Frieden Europas mitentscheidend wurde. Es ließe sich die These vertreten, dass gerade diese Generation dafür gesorgt hat, dass es nicht wie nach 1871 in Frankreich oder nach 1918 in Deutschland zu einem ständigen bedrohlichen territorialen Revisionismus kam, der alle Friedenskonzepte am Ende hätte zuschanden werden lassen. Seinerzeit war es um jeweils vergleichbar kleine Gebiete gegangen – Elsass und Lothringen, Eupen-Malmedy, Nordschleswig, Westpreußen und Posen, Teile Oberschlesiens. Dennoch wurden diese Verluste als so schmerzlich empfunden, dass sie fortlaufend Hass auf jene gebaren, die damals den Kindern das angetan hatten. Meine Großeltern väterlicherseits hatten 1914 vor den Russen aus Ostpreußen fliehen müssen. Dank Hindenburg und Tannenberg, so pflegte mein Großvater zu erzählen, war es dann doch gelungen, wieder in die alte Heimat zu gelangen. Als sie erneut fliehen mussten, flohen sie wieder an den gleichen Ort, der ihnen auch 1914 Zuflucht gewesen war: nach Uetersen in Schleswig-Holstein. Schon wenige Jahre nach 1945 baute mein Onkel dort eines jener kleinen Siedlungshäuschen, die für das norddeutsche Land typisch waren und gab damit zu verstehen, dass seine Familie diesmal nicht wieder nach Masuren zurückgehen würde – und auch wir Kinder waren froh, dass Onkel, Tante und Großeltern in der Rosenstadt eine neue Heimat gefunden hatten. Bis heute hat Uetersen deswegen für mich einen besonderen Klang. Der Roman „Heimatmuseum“ von Siegfried Lenz ist zu einer Chiffre für diesen Prozess geworden. Diese positive Entwicklung ist umso höher zu bewerten, als nach 1945 nicht nur eher kleine Randprovinzen des Reiches verloren zu gehen drohten, sondern ein ganzes Viertel des ehemaligen Reiches, das vielleicht auch deswegen sich so nicht mehr nannte. Die Verstümmelung Deutschlands, die uns Kindern in den vierziger und frühen fünfziger Jahren in der Schule ständig vor Augen gehalten wurde, wenn auf allen Erdkundeschullandkarten das „dreigeteilte“ Deutschland „in den Grenzen von 1937“ dargestellt wurde, entband aber keinen Hass; die Energien der Jugend zielten vielmehr in geradezu dialektischer Weise über Deutschland hinaus auf Europa. Entstehung und Aufblühen des Europagedankens in den frühen fünfziger Jahren waren unmittelbare Folge der Erkenntnis, dass die Geschichte des verkleinerten Deutschland in der Europas aufgehoben werden musste. Gerade die Kriegs- und Flüchtlingskinder wurden zu überzeugten Europäern der ersten Stunde. Für sie zuerst konnte Europa zu einer neuen Heimat werden, denn da sie in eigener Scholle nicht verwurzelt waren, fiel es ihnen leichter, anderswo Wurzeln zu schlagen: in der europäischen Idee. Es ist von tiefer Symbolik, dass die „Befreier Helgolands“, wie man René Leudesdorff und Georg von

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Hatzfeld nannte, 1950 neben der deutschen auch die Europafahne auf dem Eiland hissten. So scheint es am Ende fast so, als seien Flucht und Vertreibung sub specie historiae etwas Gutes gewesen – dem ist energisch zu widersprechen. Gleichgültig, ob unsere Generation durch Krieg und Flucht nun traumatisiert worden ist oder nicht: niemand aus Ostpreußen, der 1945 älter als vier Jahre war, wird jemals vergessen können, wie schön der Strand der Nehrung war, wie hohl die Sirenen in Königsberg heulten, wie kalt und schneereich es im Winter war, und es gibt noch heute viele Menschen meines Alters, die eben nicht mit so viel unverdientem Glück fliehen konnten wie wir. Die 2,5 Millionen Toten von Flucht und Vertreibung könnten ganz andere Geschichten erzählen als meine. Aus der verwehrten Heimat ist eine verwehte geworden. Aber man sollte sich ihrer erinnern, und deswegen ist die Idee mit dem Zentrum gegen Vertreibungen richtig – gleichgültig wo es errichtet wird.

BILDNACHWEIS: Albertus-Nadel (S. 181): http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alberte-doppel.jpg (Stand 22.11.2013) Plakat Kuratorium Unteilbares Deutschland (S. 183): http://commons.wikimedia.org/wiki/File:WikiProjekt_Private_Fahrzeugsammlung_Braunschweig_NIK_1903.JPG (Stand 22.11.2013)

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAN War. AdLS AdSD Anm. AP Kat. AP Op. AP Rac. AP A-P Art. BA Bd. BHE Bl. BdV BMVt BVfS CDU CSU d. h. DDR DNVP DP Dz. Zach. DzU ebd. EKD EU f bzw. ff FDP FN GB/BHE GR Hbd. Hg. bzw. Hgg. Jg. Kat. KC PPR

Archiwum Akt Nowych Warszawa Archiv der Landmannschaft Schlesien Archiv der sozialen Demokratie Anmerkung Archiwum Państwowe w Katowicach Archiwum Państwowe w Opolu Archiwum Państwowe w Raciborzu Archiwum Państwowe Wydział Administracyjno-Prawny Artikel Bundesarchiv Band Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten Blatt Bund der Vertriebenen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Bezirksverwaltung(en) für Staatssicherheit Christlich Demokratischen Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern e. V. das heißt Deutsche Demokratische Republik Deutschnationale Volkspartei Deutsche Partei Dziennik Zachodni Dziennik Urzędowy Ebenda Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Union folgende bzw. fortfolgende Freie Demokratische Partei Fußnote Gesamtdeutscher Block/BHE Gazeta Robotnicza Halbband Herausgeber bzw. (mehrere) Herausgeber Jahrgang Katowice Komitet Centralny Polskiej Partii Robotniczej

196 KPD ks. LS MAP MfS MIP MSWiA CA MZO NL NO Nr. NSDAP Og. Opr. o. V. PG Pkt. Pos. PPS Woj. Kom. Kat. Pr. PUR PZZ Red. RP Sign. SL Sp-Pol. SED SPD StP TR Tyg. Pow. u. a. UdSSR UWŚl v. a. vgl. WUInf. z. B. Z. ZAP ZM

Abkürzungsverzeichnis

Kommunistische Partei Deutschlands Ksiądz Landsmannschaft Schlesien Ministerstwo Administracji Publicznej Ministerium für Staatssicherheit Ministerstwo Informacji i Propagandy Ministerstwo Spraw Wewnętrznych i Administracji Centralne Archiwum Ministerstwo Ziem Odzyskanych Nachlass Nowiny Opolskie Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Wydział Organizacyjny Opracowanie ohne Verfasser Parteigenosse Punkt Position Polska Partia Socjalistyczna Wojewódzki Komitet w Katowicach Preußen Państwowy Urząd Repatriacyjny Polski Związek Zachodni Redaktion Rzeczpospolita Polska Signatur Sudetendeutsche Landsmannschaft Wydział Społeczno-Polityczny Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Starostwo Powiatowe Trybuna Robotnicza Tygodnik Powszechny unter anderem Union der sozialistischen Sowjetrepubliken Urząd Wojewódzki Śląski vor allem vergleiche Wojewódzki Urząd Informacji i Propagandy zum Beispiel Zeszyt Zachodnia Agencja Prasowa Zarząd Miasta

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Eva Dutz M.A. Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Theaterwissenschaften an den Universitäten München und Mainz. Verantwortliche für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Verlag edition text+kritik, München. Matthias Finster M.A. Studium der Neueren und Neuesten, der Mittelalterlichen Geschichte und der Politischen Wissenschaft an der Universität Würzburg. Referent für Schriftgutmanagement beim Bischöflichen Ordinariat der Diözese Würzburg. Dr. Andreas Kossert Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Dokumentationszentrum, Forschung, Veranstaltungen) der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Berlin). Dr. Christian Lotz Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Stuttgart, Stipendiat des Herder-Instituts Marburg. Prof. Dr. Gilad Margalit Professor am Departement of General History der Universität Haifa (University of Haifa) / Israel. Prof. Dr. Jan. M. Piskorski Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Geschichte Europas am Historischen Institut der Universität Stettin (Uniwersytet Szczeciński, Instytut Historii) / Polen. Prof. Dr. Michael Salewski † Emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 1984 bis 2000 Vorsitzender der RankeGesellschaft; verstorben am 4. Mai 2010. Prof. Dr. Matthias Stickler apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Hochschulkunde an der Universität Würzburg.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Małgorzata Świder Dozentin am Institut für Geschichte der Universität Oppeln (Uniwersytet Opolski, Instytut Historii) / Polen. Iris Thöres Studium der Fächer Geschichte und Deutsch für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Würzburg. 2008 Erstes und 2010 Zweites Staatsexamen. Studienrätin in Baden-Württemberg.

NAMENS- UND ORTSREGISTER Ackermann-Gemeinde 53, 144 Adenauer, Konrad 35f, 38, 40f, 43f, 134, 179, 191 Ägypten 42 Aicha vorm Wald 178 Akademischer Verein Logos 50 Albrecht von BrandenburgAnsbach, Herzog von Preußen 181 Albrecht, Erzherzog von Österreich 47 Algerien 171 al-Husseini, Haj Amin 42 Altgeld, Wolfgang 9 Annabring, Matthias 111, 113f Annapolis 179 Apponyi von Nagy-Apponyi, Albert Graf 126 as-Sadat, Muhammad Anwar 42 Auschwitz / Oświęcim 107, 159 Bad Cannstatt 139 Bad Godesberg 23, 26f Bad Homburg 35 Baden-Württemberg 52, 59, 61 Bader, Erik-Michael 137 Banat 12, 112 Bartoszewski, Władysław 150 Barzel, Rainer 57 Bauer, Otto 18 Bayern 35f, 53, 93, 111, 128f, 145, 187 Bednorz, Zbyszko 75 Beirut 42 Beneš, Edvard 19f, 36, 144f Bensberger Kreis 54f Bergneustadt 27, 30f, 138 Berlin 10, 13, 18, 49, 104, 146– 150, 174f, 184, 188 Bernstein / Pełczyce 174 Beuthen / Bytom 71, 75f, 82f Biafra 54 Bielitz / Bielsko 48f

Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten / BHE 52, 182 Blumenwitz, Dieter 62 Boglar 119 Böhmen 39, 91f Bonn 10, 17, 35, 37, 40, 63, 119, 134f, 150, 182 Booms, Hans 112, 123 Borchardt, Karl 9 Bracher, Karl Dietrich 190 Brandenburg 14, 143, 181 Brandt, Willy 28, 31, 41, 57, 134, 136 Braun, Joachim von 116 Breslau / Wrocław 89f Bromberg, Adam 160 Brüning, Heinrich 183, 186 Buchenwald 161 Budapest 111, 119 Bund der Vertriebenen / BdV 10f, 13, 17, 28f, 31–33, 45f, 53, 55–61, 63, 100, 131, 133– 154, 174 Bundesvertriebenenministerium 12, 100, 110, 112–118, 123, 128f Bündnis 90/Die Grünen 136, 145f Carl, Erzherzog von Österreich 47 CDU 11, 31f, 35, 52f, 55–60, 134–138, 140, 144f, 148–150, 153, 182 Conference on Jewish Claims against Germany 151 Conze, Werner 118 CSU 11, 32, 35, 53, 56-58, 60f, 135, 137f, 140, 144–146, 148–150, 153 Czaja, Albert 46–49, 51, 61 Czaja, Aloisia, geb. Smekal 46, 51, 61 Czaja, Christine Maria 52

200

Namens- und Ortsregister Czaja, Herbert 11f, 31, 45–63, 135f, 139f, 142, 144, 181 Czaja, Karl 48 Czempiel, Ernst-Otto 46, 62 Danzig / Gdańsk 13, 163, 175, 182, 189 DDR 46, 59, 89, 96, 99–101, 103–107, 138, 143, 154, 190 Debrecen 111 Desching 178, 183f, 186 Deutsche Christliche Volkspartei 49 Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei / DCSVP 53 Deutsche Partei / DP 11, 35f Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei / DSAP 18f Deutsches Historisches Museum 149f Dirks, Walter 161f DNVP 55 Dönhoff, Marion Gräfin 130f Dortmund 29–31 Dregger, Alfred 137, 140 Dresden 105, 178, 184 Dubiel, Paweł 70, 73 Egerland 36, 96 Egmating 93 EKD 28f, 54f Elliger, Katharina 89, 91f Elsass 193 England 41, 180 Erdei, Ferenc 113 Erhard, Ludwig 35, 40, 43, 135 Eschenburg, Theodor 36, 40 Eupen-Malmedy 193 Europäische Union / EU 87, 144, 159 Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität 147f Fassbinder, Rainer Werner 187 FDP 33, 54f, 134–136, 145 Finke, Thomas 138 Finnland 171 Fischer, Joseph („Joschka“) 136, 146

Frank, Hans 159 Frankfurt am Main 23, 103, 107 Frankreich 41, 165, 171, 192f Franz Joseph, Kaiser von Österreich 50 Friedrich, Erzherzog von Österreich 47 Furtwängler, Maria 10, 153 Galizien 50 Gause, Fritz 192 Gauß, Alfred 122, 128 Gaza 179 Generalgouvernement 159, 163 Genf 60, 136 George, Stefan 50 Gerlach, Helmut von 102 Gertlauken / Geroiskoje 178 Gesamtdeutscher Block/BHE 52, 182 Gleiwitz / Gliwice 75 Glotz, Peter 148 Goldschmidt, Georg 113, 122 Göttingen 49, 115–119 Grab, Walter 184 Grass, Günter 94, 151–153, 189 Grażyński, Michał 49, 80 Griechenland 171 Grillparzer, Franz 50 Grodno 160 Großpolen 159 Gustloff 184 Gyöngyösi, János 113 Habsburgermonarchie 36, 47f Halle 105 Hamm, Franz 114, 130 Hannover 136, 138 Harris, Albert (Hekelman, Aaron) 167 Hatzfeld, Georg von 193f Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 10, 150 Heidegger, Martin 162 Hein, Christoph 89 Helewski, Edmund 174 Helgoland 193 Henlein, Konrad 18f Hennig, Ottfried 135 Hessen 21f, 91f

Namens- und Ortsregister

201

Hilberg, Raul 190 Hilf, Rudolf 42f Hillgruber, Andreas 192 Hindenburg / Zabrze 70, 73 Hindenburg, Paul von 193 Hirschberg / Jelenia Góra 51 Hirszfeld, Ludwik 169 Hitler, Adolf 32, 49, 63, 68, 73, 90, 120, 155, 159–163, 170, 174, 184, 190 Hoeres, Peter 10 Hof 11 Hohengrape / Chrapowo 174 Holland 40, 164 Hubatsch, Walther 178, 192 Hupka, Herbert 136–140, 142, 181

Knopp, Guido 151, 153 Koch, Erich 183 Kogon, Eugen 161f, 190 Kohl, Helmut 58–60, 134f, 137f, 140, 142f, 145f Königsberg/Pr. / Kaliningrad 78, 177–182, 185, 188, 194 Koschyk, Hartmut 60f, 141 Kosovo 147 KPD 103 Krakau / Kraków 49–51, 61, 72, 159, 167 Krockow, Libussa von 167f Kronfuß, Wilhelm 128f Kulischer, Eugen M. 155, 169 Külz / Kulice 14 Kurth, Karl O. 116–118

Indien 173 Israel 41f, 165, 184 Italien 90, 163, 171 Izdebski, Zygmund 86

Lachmann, Peter-Piotr 171f Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn 110f, 128f Landsmannschaft der Oberschlesier 11, 48, 53, 55f, 61, 101 Landsmannschaft Ostpreußen 135, 150f Landsmannschaft Schlesien / LS 12, 55f, 58, 99–108, 135–139, 151 Lang-Strobnitz 18 Laun, Rudolf 118 Leber, Ludwig 110–112, 129 Leipzig 103, 105, 150 Lemberg, Eugen 23, 39 Lenz, Siegfried 189, 193 Leobschütz / Głubczyce 75, 85 Leuchtenberger, Johannes 95 Leudesdorff, René 193 Lodgman von Auen, Rudolf 36f London 19f, 37, 65 Lothringen 193 Lublin 159 Lublinitz / Lubliniec 82 Lyck / Ełk 189

Jäger, Willi 31 Jaksch, Wenzel 11, 17–33 Jalta 67, 138, 160 Janocha, Albin 167 Jerusalem 42 Jirgl, Reinhard 91 Jugoslawien 130, 171 Junge Union 52 Jünke, Ursula 167 Kaczyński, Jarosław 149 Kairo 42 Kann, Maria 163 Kant, Immanuel 181 Kapica, Bronisława 50f Kapica, Józef 50 Kattowitz / Katowice 48, 70, 74, 78, 80, 83f Kerr, Judith 190 Kertész, Stefan 113 Kiaunischken (Stelterhof) 180 Kiel 13 Kiesinger, Kurt Georg 37, 52, 57 Kirkenes 188 Kleczkowski, Adam 49–51 Knapek, Anita 96

Magdeburg 91 Mähren 39, 91 Mährisch-Altstadt / Staré Město 47 Mainz 59, 152 Mandschurei 165

202

Namens- und Ortsregister Mann, Thomas 161 Marburg 92 Marienbad / Mariánské Lázně 35 Marienburg 181 Marseille 171 Mecklenburg-Vorpommern 143 Męclewski, Edmunt 67 Meisner, Joachim Kardinal 63 Memel 90 Menke, Stefanie 10 Merkel, Angela 133, 148, 153 Miegel, Agnes 181 Mielec 50 Montabaur 178, 182 Montreal 179 Moskau / Moskwa 57, 77, 95 Mühl, Heinrich 11 München 19, 22f, 112 Münchener Abkommen 19, 30f, 36f, 39f, 48 Murgau 111 Museum des Zweiten Weltkriegs 13, 175 Nahm, Peter Paul 116 Nasser, Gamal Abd-el 42 Nationalsozialismus 19f, 37, 49f, 86, 93, 109–111, 114, 122, 124, 130, 144, 151, 154, 157, 169, 174f, 183, 185, 187–190 Nemmersdorf / Majakowskoje 183 Neumark (Ostbrandenburg) 14, 93 Neutraubling 96 Niederschlesien 55, 165 Nigeria 54 Nordschleswig 193 NSDAP 55, 71, 159, 187, 189– 191 Nürnberg 20f, 37, 189 Oberländer, Theodor 116, 118, 124 Oberlistingen 93 Oberschlesien 12, 47f, 55, 64–87, 138, 193 Oder-Neiße-Linie 12, 24, 28, 38, 54, 57, 59–62, 65–67, 77, 102–108, 142, 183

Ollenhauer, Erich 20–22, 24–26, 41, 136 Oppeln / Opole 73f, 77, 79, 83 Oppelner Schlesien 12, 64–87 Ost-Denkschrift der EKD 54 Österreich 18, 47, 50, 160 Österreichisch-Schlesien 47f, 53, 57 Österreich-Ungarn 48 Ostpreußen 95f, 98, 104, 172, 180–194 Ostpreußenblatt 181f Pant, Eduard 49f Papke, Gerhard 114 Paris 37 Passau 178 Paul, Ernst 26, 31 Pax-Christi-Bewegung 54 Peyinghaus, Marianne 178 Pintus, Elsa 163 Polen 12–14, 19, 29, 48–51, 54f, 57, 64–87, 102–104, 106f, 133, 138, 141f, 148–151, 154, 156–176, 180, 183, 192, Pommerellen 159 Pommern 14, 98, 104, 143, 160, 165f, 168, 174, 180 Posen (Provinz) 193 Posen / Poznan 165, 167, 175 Postdam 37, 66f, 74, 122, 157, 165, 169f Prag / Praha 19, 30f, 37 Preußen 47, 174, 177, 179, 183, 185f Preußische Treuhand 151 Przemyśl 51 Pulsnitz 178, 184 Ranke, Leopold von 177 Ranke-Gesellschaft 9–11 Rassow, Peter 110, 131 Rathmannsdorf 178 Ratibor / Racibórz 75, 84f Raup, Philipp M. 92 Reale, Eugenio 163 Rehs, Reinhold 17, 56 Reich-Ranicki, Marcel 152 Reimann, Manfred 95 Reinhardt, Eva-Maria 52

Namens- und Ortsregister Reitinger, Heinrich 110f, 128 Renner, Karl 18 Reval / Talinn 182 Riedel, Clemens 56 Riesengebirge 90 Riesengebirgler Heimatkreis Trautenau e.V. 10 Riga 182 Rockelkeim 178f, 191 Rohrbacher, Leopold 119 Rothen, Franz 116, 129 Rothfels, Hans 110, 118, 121, 131 Rottenburg 53 Russland / Sowjetunion 43, 51, 66, 96, 124, 138, 141, 156, 158f, 161, 165, 169f, 185 Sachsen 143 Sachsen-Anhalt 143 Salomon, Ernst von 189 Scheel, Walter 57 Schieder, Theodor 12, 109–132, 181 Schily, Otto 146f Schlechtmann, Joseph B. 169 Schlesien 12, 39, 47, 58, 70, 78f, 81, 83f, 92, 100f, 104, 136– 139, 151, 166, 180, 183 (vgl. auch die Stichwörter „Niederschlesien“, „Oberschlesien“, „Oppelner Schlesien“ und „Österreichisch-Schlesien“) Schlesien, Autonome Woiwodschaft 48f, 72, 76f, 80, 83f Schleswig-Holstein 184, 193 Schlieffen, Alfred Graf von 193 Schmid, Carlo 24f Schmidt, Helmut 30f, 66, 134f Schmilewski, Ulrich 9 Schorndorf 123 Schröder, Gerhard 146 Schumacher, Kurt 20f Schuttack, Franz 119f Schwarzwasser / Strumień 47 SED 12, 103–108, 136 Seebohm, Hans-Christoph 11, 35– 44 Seiler, Harald 161 Seliger-Gemeinde 11, 22f, 25–27, 31f Seoul 179

203 Serbien 171 Sibirien 167 Siebenbürgen 90 Skotschau / Skoczów 47f, 51 Slowakei 148 Spanien 42, 155, 171 Späth, Lothar 59 SPD 11, 17–33, 41, 55–57, 135f– 137, 140, 145f, 148f Stalin, Josef 51, 155, 159, 167, 170 Stalingrad 169 Steinbach Erika 134, 144, 146, 148, 150f, 192 Stern, Fritz 89 Stettin / Szczecin 14, 164–167, 174, 182 Saint-Germain-en-Laye 36 Sowjetunion (vgl. das Stichwort „Russland“) Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung 10, 13, 147, 149f, 175 Stiftung Kulturwerk Schlesien 9 Stoiber, Edmund 146 Stolp / Słupsk 167 Strasser, Otto 23 Strauß, Franz Josef 58 Stuttgart 38f, 51–53, 61, 92, 113, 128, 139, Sudentendeutsche Landsmannschaft / SL 11, 27, 36f, 39, 41, 42, 144f Sudetenland 19, 25, 27, 36, 38, 96 Sudetenschlesien 47 Szarvas 111 Szymborska, Wisława 164 Tafferner, Anton 119–128 Tannenberg / Stębark 193 Teheran 179 Tel Aviv 179, 184 Terentianus Maurus 9 Teschen / Cieszyn / Český Těšín 46-48 Thüringen 143 Trautenau / Trutnov 10 Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten 19 Trianon 111, 122 Troppau /Opava 47f

204

Namens- und Ortsregister Tschechien 10, 144f, 154 Tschechoslowakei / Tschechoslowakische Republik 17–20, 30f, 36–40, 48, 51, 53, 144, 162, 169f, 192 Tübinger Memorandum 54 Türkei 155 Tusk, Donald 149 Uetersen 193 Ukraine(r) 48, 157, 160, 165, 171 Ulitz, Otto 48, 55 Ungarn 12, 109–132, 136, 148, 160 Ungarndeutsche Landsmannschaft 110f, 129 Union der Vertriebenen 53 Universitätsbund Würzburg 9 Valjavec, Fritz 112 Vanek Milos 22 Vereinigte Staaten von Amerika / USA 36, 41, 43, 51, 106, 165, 180, 190 Vereinte Nationen / UN 38f, 42 Versailles 36 Vilshofen 178, 184, 189 Vogel, Hans-Jochen 137 Vreden 95

Waigel, Theo 140 Warschau / Warszawa 57, 65, 82, 100, 159, 163, 165, 167 Wehlau / Snamensk 178 Wehner, Herbert 22, 27, 29, 41, 136 Weidlein, Johann 111, 115–130 Weizsäcker, Richard von 136f Westpreußen 193 Wiechert, Ernst 168, 174 Wien 18, 47, 50, 111, 124 Wilson, Thomas Woodrow 38 Windelen, Heinrich 58, 135 Winkler, Heinrich August 192 Wittmann, Fritz 61, 144 Wohlfeil, Hans 192 Wolf, Christa 90 Würzburg 9f, 62, 109, 133, 177 Zakopane 50 Zamość 159 Żarnowiecki, Kazimierz 164 Zawadzki, Aleksander 71, 77-79 Zentralkomitee der deutschen Katholiken / ZdK 54, 59 Zentrum gegen Vertreibungen / ZgV 10, 13, 133, 143, 147f, 150, 172, 174, 180, 194 Zentrumspartei / Zentrum 49, 52, 55 Zimmermann, Friedrich 135 Zimmermann, Fritz 119–128

h i s t o r i s c h e m i t t e i lu ng e n



beihefte

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Jürgen Elvert. Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, ­Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale, Reinhard Zöllner.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0939–5385

20. Arnd Bauerkämper (Hg.) „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und ­Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone 1996. 230 S., kt. ISBN 978-3-515-06994-6 21. Stephan Lippert Felix Fürst Schwarzenberg Eine politische Biographie 1998. 446 S., geb. ISBN 978-3-515-06923-6 22. Martin Kerkhoff Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage 1945 ­ bis 1954 1996. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-07017-1 23. Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert 1997. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07098-0 24. Gabriele Clemens Britische Kulturpolitik in Deutschland (1945–1949) Literatur, Film, Musik und Theater 1997. 308 S., kt. ISBN 978-3-515-06830-7 25. Michael Salewski Die Deutschen und die See Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von J­ ürgen Elvert und Stefan Lippert 1998. 361 S., geb. ISBN 978-3-515-07319-6 26. Robert Bohn (Hg.) Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945 1997. 304 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07099-7 27. Heinrich Küppers Joseph Wirth



Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik 1997. 356 S., kt. ISBN 978-3-515-07012-6 28. Michael Salewski (Hg.) Das nukleare Jahrhundert 1998. 266 S., kt. ISBN 978-3-515-07321-9 29. Guido Müller (Hg.) Deutschland und der Westen Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag 1998. 381 S., kt. ISBN 978-3-515-07251-9 30. Imanuel Geiss Zukunft als Geschichte Historisch-politische Analyse und ­Prognosen zum Untergang des ­Sowjetkommunismus, 1980–1991 1998. II, 309 S., kt. ISBN 978-3-515-07223-6 31. Robert Bohn / Jürgen Elvert / Karl ­Christian Lammers (Hg.) Deutsch-skandinavische ­Beziehungen nach 1945 2000. 234 S., kt. ISBN 978-3-515-07320-2 32. Daniel Gossel Briten, Deutsche und Europa Die Deutsche Frage in der britischen ­Außenpolitik 1945–1962 1999. 259 S., geb. ISBN 978-3-515-07159-8 33. Karl J. Mayer Zwischen Krise und Krieg Frankreich in der Außenwirtschafts­politik der USA zwischen Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg 1999. XVI, 274 S., kt. ISBN 978-3-515-07373-8 34. Brigit Aschmann „Treue Freunde“?

Westdeutschland und Spanien 1945–1963 1999. 502 S. mit 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-07579-4 35. Jürgen Elvert Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen ­Neuordnung (1918–1945) 1999. 448 S., geb. ISBN 978-3-515-07641-8 36. Michael Salewski (Hg.) Was wäre wenn Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit 1999. 171 S. mit 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07588-6 37. Michael F. Scholz Skandinavische Erfahrungen ­erwünscht? Nachexil und Remigration 2000. 416 S., geb. ISBN 978-3-515-07651-7 38. Gunda Stöber Pressepolitik als Notwendigkeit Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 2000. 304 S., kt. ISBN 978-3-515-07521-3 39. Andreas Kloevekorn Die irische Verfassung von 1937 2000. 199 S., kt. ISBN 978-3-515-07708-8 40. Birgit Aschmann / Michael Salewski (Hg.) Das Bild „des Anderen“ Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert 2000. 234 S., kt. ISBN 978-3-515-07715-6 41. Winfried Mönch Entscheidungsschlacht „Invasion“ 1944? Prognosen und Diagnosen 2001. 276 S., kt. ISBN 978-3-515-07884-9 42. Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Innere Peripherien in Ost und West 2001. 188 S., kt. ISBN 978-3-515-07972-3 43. Peter Winzen Das Kaiserreich am Abgrund Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und ­Dokumentation 2002. 369 S., geb. ISBN 978-3-515-08024-8

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Autorität und Ohnmacht Der Nordirlandkonflikt und die katholische Kirche 2009. 511 S., kt. ISBN 978-3-515-09421-4 Günter Wollstein Ein deutsches Jahrhundert 1848–1945. Hoffnung und Hybris Aufsätze und Vorträge 2010. 437 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09622-5 James Stone The War Scare of 1875 Bismarck and Europe in the Mid-1870s. With a Foreword by Winfried Baumgart 2010. 385 S., kt. ISBN 978-3-515-09634-8 Werner Tschacher Königtum als lokale Praxis Aachen als Feld der kulturellen ­Realisierung von Herrschaft. Eine ­Verfassungsgeschichte (ca. 800–1918) 2010. 580 S., kt. ISBN 978-3-515-09672-0 Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.) Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart 2012. 313 S. mit 15 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10138-7 Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.) Maritime Wirtschaft in Deutschland Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 228 S. mit 41 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10137-0 Andreas Boldt Leopold von Ranke und Irland 2012. 28 S., kt. ISBN 978-3-515-10198-1 Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut L ­ angewand / Dirk Mellies / Hedwig R ­ ichter (Hg.) Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Post­ moderne. Festschrift für Thomas StammKuhlmann 2013. 372 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10423-4 Ralph L. Dietl Equal Security Europe and the SALT Process, 1969–1976 2013. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-10453-1

Der Band, der aus einer Würzburger Tagung der Ranke-Gesellschaft hervor­ ging, greift den in den öffentlichen Medien viel diskutierten Themenkomplex „Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration“ auf. Er legt Grundlagen für einen kritischen wissenschaftlichen Diskurs und leistet einen Beitrag zur Versachlichung einer bisweilen auch emotional geführten öffentlichen De­ batte. Die thematische Bandbreite reicht dabei von biographischen Abhand­ lungen über solche zu konkreten Fragen der komplexen Folgen von Flucht und Vertreibung in den Vertreibungsgebieten bzw. den Aufnahmegesell­ schaften bis hin zu Detailuntersuchungen zum Verbandswesen der Vertriebe­ nen und zu aktuellen Fragen der Erinnerungskultur.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10749-5