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German Pages 680 [681] Year 2021
Jüdisches Denken
Karl Erich Grözinger war bis 2007 Professor für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Von ihm sind zahlreiche Publikationen zu allen Phasen der jüdischen Religionsgeschichte sowie Texteditionen erschienen.
Karl Erich Grözinger
Jüdisches Denken Theologie – Philosophie – Mystik Band 3: Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert
Campus Verlag Frankfurt / New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-37514-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Umzug in der Synagoge mit den Tora-Rollen am Fest Simchat-Tora (Tora-Freude) mit der typischen, im Kapitel »Synagogenordnungen« beschriebenen, deutsch-jüdischen Kleiderordnung. Papier-Oblate, Sammlung Grözinger Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
INHALT VORWORT ..................................................................................................... 17 EINFÜHRUNG – GESCHICHTE UND KULTUR DES NEUZEITLICHEN JUDENTUMS ............................................................. 21 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12
Jüdische Neuzeit zwischen Mittelalter und Aufklärung .......................................................................... 21 Aufklärung und Emanzipation (1750–1900) .................... 22 Die demographische und politische Situation zu Beginn der Neuzeit ............................................................. 23 Die kulturelle und mentale Situation des neuzeitlichen Judentums .................................................... 26 Historiographische Bewertungskriterien .............................. 26 Sefardim, Aschkenasim, »Marranos« und andere ................. 28 Universitäten, Wissenschaften, Rabbiner und jüdische Ärzte........................................................................ 30 Die neuen Wissenschaften im aschkenasischen Raum ......... 32 Wissenschaft, Philosophie und Theologie ............................. 32 Historiographie, Autobiographie und Kunst.......................... 35 Traditions- und Religionskritik ............................................. 37 Die Rolle der Kabbala ........................................................... 38 Erziehung, Bildung und Sprachen ......................................... 41 Musik, Literatur und Theater................................................. 42 Messianische Bestrebungen und Bewegungen ...................... 44 Die Kodifizierung des jüdischen Rechts................................ 45
DAS RINGEN UM DIE VIELFALT WIDERSPRÜCHLICHER WAHRHEITEN IM ITALIEN DER FRÜHEN NEUZEIT ................... 47 I.
ERSTE ANZEICHEN DER VERÄNDERUNG – VORBEMERKUNG ................................................................................ 47
II.
‘ASARJA (BUONAIUTO) DEI ROSSI (CA. 1511 – CA. 1578) UND SEIN ME’OR ‘ENAJJIM................................................................ 49
Inhalt
6 1. 2. 3. 4.
III.
Leben und Werk .................................................................. 49 Historiographische Essays aus jüdischen und nichtjüdischen Quellen........................................................ 50 Prisca theologia und historische Wahrheit ........................ 51 Ideengeschichte.................................................................... 55
DIE ENZYKLOPÄDISTEN .................................................................... 59
A.
Anlässe und Ziele der Stoffsammlungen ................................. 59
B.
Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655) und ’Elija Delmedigo (1460–1497) .................................................... 62 1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 6. 7. 7.1 7.2
C.
Vorbemerkung..................................................................... 62 ’Elija Delmedigo – Leben und Werk ................................. 62 Josef Schlomo Delmedigo – Leben und Werk................... 65 Die Schriften Josef Schlomo Delmedigos........................... 66 Arten des Wissens – die Lehren von der doppelten und dreifachen »Wahrheit«................................................ 68 Josef Delmedigos Konzeption ............................................... 68 ’Elija Delmedigos Konzeption .............................................. 72 Josef Delmedigo und die Kabbala ...................................... 76 Das Ende des mittelalterlichen Aristotelismus – Josef Delmedigos Kritik und Neusetzung.......................... 79 Materie, Form und Seele ....................................................... 79 Die Separaten Intellekte der Aristoteliker ............................. 83
Tuvja Ha-Kohen (1652–1729) .................................................... 85 1. 2.
Ma‘ase Tuvja – eine medizinisch-philosophische Enzyklopädie........................................................................ 85 Zielsetzung des Buches – Bildung der Juden .................... 88
TRADITIONS- UND RELIGIONSKRITIK ............................................ 93 I.
LEONE MODENA DI VENEZIA (1571–1648) – ZWISCHEN RABBINISCHER TRADITION, KUNST, PHILOSOPHIE, KABBALA UND CHRISTENTUM ............................. 93 1. 2. 2.1
Biographische Notiz............................................................. 93 Kol Sachal – Stimme eines Toren ....................................... 93 Autorschaft und Geschichte des Buches................................ 93
Inhalt 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 3. 4. 5. 5.1 5.2 5.3 6. 7. 7.1 7.2 7.3 8.
II.
Der Charakter der Schrift Kol Sachal.................................... 96 Die philosophische Theologie des Kol Sachal ...................... 97 Die Gotteslehre...................................................................... 97 Der Sinn der Schöpfung – die Anthropologie ....................... 99 Die Lehre von der Vorsehung ............................................. 104 Die Lehre von Lohn und Vergeltung................................... 105 Die Unsterblichkeit der Seele .............................................. 106 Die Offenbarung und die Bedeutung der Tora ............... 108 Das Naturrecht .................................................................. 111 Die Schriftliche und die Mündliche Tora ......................... 114 Die neue Hermeneutik......................................................... 114 Das Fehlen einer ununterbrochenen Traditionskette ........... 117 Die beschränkte Autorität des Obergerichtshofes in Jerusalem ............................................................................. 119 Der neue Schulchan ‘Aruch .............................................. 122 Vernunft und Offenbarung, ihr Ort im jüdischen Leben .................................................................................. 124 Der biographische Befund ................................................... 124 Die Offenbarung.................................................................. 127 Die Vernunft........................................................................ 130 Die Geschichte als hermeneutische Kategorie ................ 133
URIEL DA COSTA (ACOSTA) (1583/4–1640).............................. 136 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
III.
7
Das Exemplarische des Falles Uriel da Costa ................. 136 Biographisches – Rückkehr zum Judentum und Konflikt .............................................................................. 138 Da Costas marranische Religion ...................................... 142 Die Thesen wider die rabbinische Tradition...................... 144 Das Naturrecht .................................................................. 150 Der Traktat wider die Unsterblichkeit der Seele ............ 152 Biblische Literaturkritik................................................... 156
BENTO BARUCH BENEDICTUS DE SPINOZA (1632–1677) ...... 158 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3
Biographisches ................................................................... 158 Spinoza – ein Vertreter des jüdischen Denkens?............ 159 Vernunft und Offenbarung............................................... 162 Die Traditions- und Religionskritik Spinozas ................. 164 Die Prophetie....................................................................... 166 Das Zeugnis der Schrift ....................................................... 170 Die Prophetie nach dem Zeugnis der Schrift ....................... 171
Inhalt
8 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6 4.6.1 4.6.2 5. 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Die Propheten nach dem Zeugnis der Schrift ...................... 174 Das neue Auslegungsparadigma und die neue hermeneutische Technik Spinozas ...................................... 177 Begriffsklärung: Hermeneutische Technik und Paradigma............................................................................ 177 Die neue hermeneutische Technik....................................... 178 Das neue hermeneutische Paradigma .................................. 182 Biblisch-jüdische Theologoumena im Lichte des spinozanischen Verstehensparadigmas................................ 184 Die Erwählung Israels ......................................................... 184 Das göttliche Gesetz ............................................................ 187 Die Philosophie Spinozas .................................................. 192 Grundlinien.......................................................................... 192 Die Lehre von der Erkenntnis.............................................. 196 Drei Erkenntnisgattungen .................................................... 196 Die intuitive Erkenntnis, Erkenntnis der »dritten Art«........ 199 Die dritte Erkenntnis als Weg und Inbegriff der Glückseligkeit...................................................................... 201 Die intelligible und ausgedehnte Substanz .......................... 202 Gott als intelligible und ausgedehnte Substanz ................... 202 Die Attribute Gottes ............................................................ 206 Die Modi oder Affectionen der göttlichen Substanz ........... 207 Natura naturans und natura naturata ................................. 211 Die Verwurzelung der spinozanischen Gott-Welt-Lehre in der jüdischen Tradition.................................................... 213 Der Mensch ......................................................................... 218 Das Wesen des Menschen ................................................... 218 Die Unfreiheit des Wollens ................................................. 220 Die conditio humana und das Lebensziel............................ 221 Zeitliche oder ewige Glückseligkeit – beatitudo ................. 225
RESTAURATIV-INTEGRATIVE ORTHODOXIE DER VORAUFKLÄRUNG .................................................................................. 229 I.
VORBEMERKUNG – WAS IST JÜDISCHE ORTHODOXIE? ........... 229
II.
DIE HAGGADA ALS THEOLOGISCHE MITTE DES JUDENTUMS – JEHUDA LIWAJ BEN BEZALEL – MAHARAL VON PRAG (1512/26–1609)..................................... 233
Inhalt 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 8. 9. 9.1 9.2 9.3 9.3.1
9.3.2 9.3.3 10. 11.
III.
9
Der Maharal als Schöpfer des Golem ............................. 233 Zwischen Worms, Posen, Nikolsburg und Prag.............. 235 Die Schriften des Maharal ................................................ 236 Ziele und Positionen: Tradition – Philosophie – Kabbala .............................................................................. 237 Kritik der Philosophie und »Kritik der reinen Vernunft« ........................................................................... 243 Natürliche und spirituelle Erkenntnis in einem zweigeteilten Sein – menschlicher und göttlicher Intellekt .............................................................................. 246 Das zweigeteilte Sein.......................................................... 251 Das neoplatonische Erbe ..................................................... 251 Das intelligible Sein – die Tora ........................................... 252 Die natürliche Welt und ihre Ursachen ............................... 254 Materie und Form – ontologisch-moralische Qualitäten ..... 256 Gott und die Schöpfung .................................................... 257 Der Mensch ....................................................................... 261 Der Mensch als »Ebenbild Gottes« ..................................... 261 Körper, Seele und Intellekt.................................................. 265 Unvollkommenheit und Vollendung von Welt und Mensch ................................................................................ 267 Die Unvollkommenheit von Schöpfung und Mensch – des Menschen Aufgabe sie zu vollenden – durch Gebot und Tora .............................................................................. 267 Vollendung und Devekut – das Haften am Göttlichen......... 270 Die Gelehrten als Mittler der Devekut ................................. 271 Israel ................................................................................... 273 Der Messias ........................................................................ 276
TRANSFORMATION DER THEOLOGISCH-PHILOSOPHISCHEN SCHOLASTIK IM RELIGIÖSEN GOTTESDIENST – MOSES ISSERLES (1525/30–1572) ............................................... 281 1. 2. 3. 4. 5.
Biographisches und Bedeutung ........................................ 281 Die Transformation von Philosophie und Kabbala in Religion .......................................................................... 283 Die Entsprechung von Tempel und »Sein« – nach dem Bild der mittelalterlichen Ontologie .............. 285 Die Kabbala entspricht der Philosophie .......................... 289 Gott – ein Kaleidoskop verschiedener Traditionen ........ 292
Inhalt
10 6. 7. 8. 8.1 8.2 8.3
IV.
Der Mensch und sein Ziel in dieser Welt – das Gesetz........................................................................... 295 Die Halacha als Abbild der Schöpfung – halachische Ebenbildlichkeit................................................................. 298 Die »Glaubensartikel« – ‘Ikkarim, nach Maimonides, ’Albo und Isserles .............................................................. 300 Bedingungen des Heils – Grundsätze (‘Ikkarim) des Glaubens.............................................................................. 300 Die Prinzipien des göttlichen Rechts nach Josef ’Albo ....... 306 Die Transformation der theologisch-philosophischen Scholastik in religiösen Gottesdienst bei Moses Isserles..... 309
TORAFRÖMMIGKEIT – HAJJIM AUS WOLOSCHYN (VOLOZHIN; 1749–1821) ................................................................ 313 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.5 2.6
Biographisches – die neue Jeschiva .................................. 313 Die Lehren des Rabbi Hajjim........................................... 315 Die Grundlagen ................................................................... 315 Gott...................................................................................... 317 Der Mensch ......................................................................... 324 Die Seins-Analogie zwischen Mensch und Kosmos ........... 326 Die Seelen des Menschen .................................................... 328 Die Tora............................................................................... 331 Der wahre Gottesdienst – das Studium der Halacha............ 333 Studium der Tora um ihrer selbst willen – ist das die Devekut? .............................................................................. 335
HASKALA – DIE JÜDISCHE AUFKLÄRUNG .................................... 343 I.
EINFÜHRUNG ...................................................................................... 343
II.
DER NATURWISSENSCHAFTLICH-EMPIRISTISCHE ANSATZ – MORDECHAI GUMPEL SCHNABER-LEVISON (1741–1797) .... 350 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Biographisches ................................................................... 350 Die Beziehungen zur zeitgenössischen Philosophie, insbesondere zu John Locke ............................................. 351 Die neuen Wissenschaften und die Tora.......................... 353 Physiko-Theologie statt Metaphysik ................................ 357 Proto-Darwinismus – die Hierarchie der Geschöpfe...... 363 Der Mensch ........................................................................ 365
Inhalt 6.1 6.2 7. 8. 8.1 8.2 9. 10.
III.
11
Der Mensch und seine Seele................................................ 365 Die Auferstehung der Toten ................................................ 367 Gott ..................................................................................... 368 Wahrheit und Glaube........................................................ 370 Die Wahrheit ....................................................................... 370 Der Glaube .......................................................................... 373 Die Prophetie...................................................................... 375 Die Notwendigkeit der Tora und ihrer Gebote ............... 377
DER RELIGIONSPOLITISCHE ANSATZ – MOSES MENDELSSOHN (1729–1786) .......................................... 380 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3. 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Biographisches – Konversionsdruck von außen ............. 380 Religion und Staat – Definitionen und Aufgaben – die Stellung des Judentums............................................... 385 Die Religion der Vernunft – oder die natürliche Religion............................................................................... 388 Die Grundzüge aller vernünftigen Religion......................... 388 Grundlehren der natürlichen Religion ................................. 391 Die hebräische Schrift Die Seele und der Phädon............... 391 Die Gottheit der natürlichen Theologie und der von ihr hervorgebrachte Kosmos................................................ 392 Der Mensch ......................................................................... 396 Die Seele.............................................................................. 396 Die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Heil .............. 400 Der menschliche Körper...................................................... 401 Der freie Wille und das Vorherwissen Gottes ..................... 402 Theodizee und Vergeltung................................................... 403 Das Judentum .................................................................... 404 Judentum als offenbartes Gesetz ......................................... 404 Wahrheit und Offenbarung.................................................. 407 Was ist Wahrheit?................................................................ 407 Die Offenbarung des Judentums.......................................... 410 Eine Kompromisslinie – Gesetz, Geschichtswahrheit und vorausgesetzte ewige Wahrheit .................................... 410 Sinn und Aufgabe des Zeremonialgesetzes ......................... 412 Die staatsrechtliche Seite des jüdischen Gesetzes – historiosophische Hermeneutik ........................................... 415
Inhalt
12
IV.
DER RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHE ANSATZ – SAUL ASCHER (1767–1822) .......................................................... 417 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 5. 6. 7. 8.
V.
Das Wesen des Judentums: Gesetz oder Glaube? – Die Zielsetzung des Leviathan........................................... 417 Religion als Gegenstand der Religionsphilosophie ......... 420 Das Wesen der Religion .................................................... 421 Offenbarungsreligion und der Glaube............................. 425 Die transzendente Grundlage der Offenbarung ................... 425 Der menschliche Glaube als Grundlage der Offenbarung ... 425 Der Glaube und die Vernunft – zwei eigenständige Erkenntnisweisen............................................................... 427 Die Phasen und Typen des Glaubens ............................... 430 Gesetz und Glaube – ihr Verhältnis zueinander............. 435 Die Reform des Judentums – Möglichkeiten und Grenzen .............................................................................. 437
DER HISTORISCHE ANSATZ – WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS – NACHMAN KROCHMAL (1785–1840) ............... 444 1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 5. 6. 7. 7.1 7.2 8. 8.1 8.2
Vorbemerkung................................................................... 444 Biographisches ................................................................... 444 Der More Nevuche ha-Seman – »Führer der Irrenden dieser Zeit«......................................................................... 446 Charakter und Ziel des Werkes ........................................... 446 Die »Irrenden dieser Zeit« .................................................. 447 Die Wege zum neuen Verstehen ...................................... 450 Das Wissen um die menschlichen Erkenntnisstufen und um die Geschichte – die Grundwissenschaften ................... 450 Die Entfaltung und Entstehung des menschlichen Wissens .. 453 Das Ziel der Erkenntnis des Menschen – das Geistige ........ 454 Der Geist eines Volkes als sein »Gott« – und Israels Gott, der »absolute Geist«................................................. 458 Gott als neoplatonischer Allgeist in neo-idealistischer Version................................................................................ 462 Die Geschichte.................................................................... 466 Die Geschichte als Lehrstück, das in die Herzen dringt ...... 466 Die Geschichte der Völker und die Geschichte Israels – ein Lehrstück ....................................................................... 467 Die Mündliche Tora .......................................................... 471 Die Halacha ......................................................................... 471 Die Haggada ........................................................................ 475
Inhalt
13
NEUORIENTIERUNG NACH DER AUFKLÄRUNG UND KONFESSIONALISIERUNG DES JUDENTUMS .............................. 477 I.
SUCHE NACH WEGEN AUS DEM VON DER AUFKLÄRUNG HERBEIGEFÜHRTEN DILEMMA JÜDISCHER IDENTITÄT ............. 477 1. 1.1 1.2 2. 3.
II.
UNBEWUSSTER WANDEL IM SELBSTVERSTÄNDNIS DES JUDENTUMS ....................................................................................... 489 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
III.
Idealistische Philosophie und Historiosophie – Wege der Neudefinition des Judentums .......................... 477 Judentum ein Volk oder eine Religion?............................... 477 Zum Begriff der Religion .................................................... 480 Die Einheit Gottes.............................................................. 484 Die geschichtliche Hermeneutik oder die »dogmatische Historiosophie« ......................................... 485
Synagogenordnungen ........................................................ 489 Gründe für das Entstehen von Synagogenordnungen.......... 489 Die Selbstbezeichnungen..................................................... 491 Der Rabbiner ....................................................................... 491 Die Synagoge ...................................................................... 493 Der Gottesdienst .................................................................. 494
JUDENTUM ALS RELIGION DER TORA – DIE NEOORTHODOXIE – SAMSON RAPHAEL HIRSCH (1808–1888) ...................................................................................... 496 1. 1.1 1.2 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1
Samson Raphael Hirsch, seine Neunzehn Briefe über Judentum und seine Gemeinde................................. 496 Biographisches .................................................................... 496 Die Neunzehn Briefe über Judentum und Hirschs Gemeinde ............................................................................ 496 Die Geschichte als Grundlage des Glaubens ................... 498 Die Lehren der Geschichte laut der Bibel ....................... 502 Der Schöpfer und die Schöpfung......................................... 502 Der Sinn der Schöpfung ...................................................... 505 Der Mensch ......................................................................... 507 Die Menschheitsgeschichte und der göttliche Erziehungsplan .................................................................... 510 Lessings und Hirschs Lehren von der göttlichen »Erziehung des Menschengeschlechts« ............................. 510
Inhalt
14 3.4.1.1 3.4.1.2 3.4.1.3 4.
Lessings Version vom göttlichen Erziehungsplan............... 510 Hirschs Version vom göttlichen Erziehungsplan................. 512 Die Erwählung Israels ......................................................... 513 Kritik an Rabbinismus, Philosophie und Teilen der Kabbala........................................................................ 515 5. Ein Judentum von Gebot mit Geist .................................. 516 6. Die Tora als jüdische Lebensregel – der Chaurew.......... 518 6.1 Der Chaurew als literarische Gattung – Sefer ha-Mizwot ... 518 6.2 Die Systematik der 613 Gebote bei Hirsch.......................... 522 6.3 Die Botschaft der sechs Gebotsgruppen .............................. 525 6.3.1 Die Thaúraúß (Torot) .......................................................... 525 6.3.1.1 Tora ‘im Derech ’Erez – eine Zwischenbemerkung............ 527 6.3.2 Edaúß (‘Edot, Zeugnisse) .................................................... 530 6.3.3 Mischpotim (Mischpatim, Satzungen), Chuckim (Hukkim, Gesetze) ............................................................... 532 6.3.4 Mizwaúß (Mizwot, Gebote).................................................. 535 6.3.5 Awaudóh (‘Avoda, Gottesdienst)......................................... 536
IV.
JUDENTUM ALS RELIGION DES GEISTES – SALOMON FORMSTECHER (1808–1889) ..................................... 538 1. 2. 3. 4. 4.1
Biographisches ................................................................... 538 Die Religion des Geistes .................................................... 538 Gott und die Welt .............................................................. 541 Natur und Geist ................................................................. 544 Natur und Geist, deren universale und individuelle Existenz ............................................................................... 544 4.2. Die Wirkungen des Geistes in dieser Welt – Wissenschaft und Offenbarung, Ästhetik und Ethik ........... 548 4.2.1 Die Wissenschaft ................................................................. 548 4.2.2 Die Offenbarung.................................................................. 549 4.2.3 Das Ziel des Menschen und die Stufen der historischen Offenbarungen – Naturreligion und Religion des Geistes... 553 4.2.4 Der Mensch als mixtum compositum aus Natur und Geist .................................................................................... 555 4.2.4.1 Unsterblichkeit und Auferstehung....................................... 559 5. Heidentum und Judentum ................................................ 561 6. Prophetie, Heilige Schrift und Tradition......................... 564 7. Die mosaische Vision der Staatsgründung als Theokratie .......................................................................... 565 8. Die Rolle und Bedeutung der Gebote und Zeremonien ........................................................................ 567
Inhalt 9. 10.
V.
Die Geschichts-Philosophie............................................... 569 Christentum und Islam als »getarnte« Sendboten des Judentums.................................................................... 574
JUDENTUM DES GEFÜHLS, DES BEWUSSTSEINS UND DER THEOLOGISCHEN WISSENSCHAFT – ABRAHAM GEIGER (1810–1874) ..................................................................................... 578 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 8.1 8.2 9. 10. 11.
VI.
15
Biographisches ................................................................... 578 Wissenschaft und Jüdische Theologie.............................. 579 Geigers Judenthum und seine Geschichte als theologisches Werk............................................................ 582 Das Wesen der Religion und das Wesen des Menschen............................................................................ 583 Der Mensch als Ebenbild Gottes ...................................... 591 Die Offenbarung – deren anthropologische und ethnische Grundlage.......................................................... 593 Das Wirken des Geistes in der Geschichte Israels – Offenbarung und Tradition.............................................. 601 Die theologischen Errungenschaften des Judentums ..... 605 Gott als Idee der Sittlichkeit ................................................ 605 Gott als das »Sein« .............................................................. 607 Gebot und Gottesdienst im Dienste des religiösen Bewusstseins....................................................................... 610 Die Reform des Gottesdienstes ......................................... 611 Die Stellung der Gebote .................................................... 613
JUDENTUM ALS RELIGION DER VERNUNFT – HERMANN COHEN (1842–1918) ................................................... 617 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2
Biographisches ................................................................... 617 Das Wesen der Religion .................................................... 619 Wahre Religion als philosophischer Monotheismus............ 619 Der Anteil der Religion an der Logik .................................. 619 Der Anteil der Religion an der Ethik und die »Eigenart« der Religion ......................................................................... 623 Das Verhältnis der Religion zur Ästhetik............................ 627 Der Anteil der Religion an der Psychologie ........................ 628 Die Korrelation als methodische Grundlage jeglicher Rede von Gott, Welt und Mensch..................... 630 Die Lehren von Gott............................................................ 635 Der Monotheismus und die Frage der »Schöpfung« ........... 636
Inhalt
16 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5. 5.1 5.2
Der Mensch ........................................................................ 640 Cohens Menschenbild und die Tradition............................. 640 Der von der Ethik kommende Anteil am Menschenbild ..... 641 Der von der Religion kommende Anteil am Menschenbild ...................................................................... 645 Vom Messias zur Messiasidee – zum Messianismus .......... 646 Die Unsterblichkeit der Seele .............................................. 649 Offenbarung und Gesetz................................................... 653 Die Bedeutung von Offenbarung und Gesetz ...................... 653 Der Inhalt der Offenbarung ................................................. 654
REGISTER .................................................................................................... 659
VORWORT Die Zeit, in der man das jüdische Mittelalter mit Moses Mendelssohn oder der Haskala, also der jüdischen Aufklärung, zu Ende gekommen sah, ist endgültig vorüber, dafür ist dieser Band ein eindrückliches Zeugnis. Das europäische Judentum ist nicht nur Judentum in Europa, sondern seinem Wesen und seiner Kultur nach europäisches Judentum. Das hatte zwar schon das in Band eins und zwei Dargestellte gezeigt, aber die innerjüdischen Veränderungen in der Neuzeit belegen mit unwiderlegbarem Nachdruck, wie eng verzahnt das europäische Judentum, trotz aller Ausgrenzungen, Vertreibungen und Pogrome, mit der allgemeinen kulturellen Entwicklung in Europa war. Auch wenn die Schrittmacher zuweilen nur Einzelne waren, und sie waren es nicht immer, so war das doch auch im christlichen Europa kaum anders. Das neue Denken in Philosophie, Wissenschaft und anderen Kulturbereichen hielt stets mit der allgemeinen Entwicklung Schritt, so dass sich auch für das europäische Judentum eine klar abgegrenzte Kultur der Neuzeit erkennen lässt, in deren Rahmen die jüdische Aufklärung letztlich nur ein weiterer Schritt war und nicht ein Umbruch von einem angeblich verlängerten Mittelalter. Dem Ende dieser Neuzeit kann indessen eine gewisse Phasenverzögerung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zugebilligt werden, weshalb dieser Band mit dem philosophischen Höhepunkt des deutsch-jüdischen Denkens abschließt, mit dem Marburger und Berliner Neu-Kantianer Hermann Cohen, der im April 1918 gegen Ende des Ersten Weltkrieges gestorben war. Mit den dem Krieg folgenden Umbrüchen, der Weimarer Zeit, dem erstarkenden Antisemitismus, der drohenden Katastrophe und den verstärkten zionistischen Bestrebungen, bricht auch kulturell und philosophisch eine andere Zeit in der Geschichte des jüdischen Denkens an. Mit dem Tod Cohens wurden die mit der Aufklärung gewachsenen optimistischen Aussichten des neuzeitlichen europäischen Judentums zu Grabe getragen. Das deutliche Profil der jüdischen Neuzeit und die große Fülle an denkerischen Leistungen, von denen hier nur ein bedauerlich schmaler Ausschnitt gezeigt werden kann, hatten zur Folge, dass Autor und Verlag entschieden, dem ursprünglich auf drei Bände ausgelegten Werk einen vierten für die Moderne bis zur Gegenwart folgen zu lassen. Viele bekannte und wichtige Namen, die teilweise wenigstens in der Einführung oder in den Fußnoten genannt werden konnten, wird man in der hier gebotenen ausführlicheren Darstellung vermissen. Aber das Ziel war, wie in den vorangegangenen Bänden, in einem vertretbaren Umfang ein gewisses repräsentatives Bild zu zeichnen, Grundlinien aufzuzeigen und angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Richtungen und Strömungen eine erste Orientierungshilfe zu bieten und dabei die voranschreitenden und die bewahrenden Kräfte gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Dies war umso mehr berechtigt, als auch das
18
Vorwort
konservative Bewahren, die »orthodoxe« Einstellung, nicht einfach eine Weitergabe des Überkommenen bedeutete. Auch das Weitergeben und Hüten der alten Werte konnte doch immer nur durch gewissen Neudeutungen gelingen, weshalb diese Richtung hier als »Restaurativ-integrative Orthodoxie« benannt wurde, weil sie, wie dann auch die Neoorthodoxie des 19. Jahrhunderts, doch etwas Neues im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen war. Das Überraschende wird für manchen Leser sein, dass Baruch Spinoza, den viele wegen seiner Haltung und seinen Lehren aus dem Kanon des jüdischen Denkens ausgeschlossen sehen wollen, nicht als ein einzelner unbegreiflicher Abtrünniger dasteht, sondern als gipfelnder Abschluss einer Linie, die sich im europäischen Judentum als relativ breiter Strom bis ins 16. Jahrhundert hinab verfolgen lässt. Spinoza ist damit, philosophiegeschichtlich gesprochen, ein integrales Glied des jüdischen Denkens. Er steht am Ende des zweiten Teiles, der die Überschrift »Traditions- und Religionskritik« trägt. Dieser Phase der Traditionsund Religionskritik ging eine andere des »Ringens um die widersprüchliche Vielfalt von Wahrheiten« voran. In dieser ersten kritischen Phase wurden nicht nur die aristotelischen Lehren des Mittelalters hinterfragt, sondern auch die sich gegenüberstehenden Wahrheiten von rabbinischer Tradition, Kabbala und Philosophie. Hinzu kamen die neuen Wahrheiten der empirischen Wissenschaften, der Astronomie, der Physik, der Medizin und schließlich auch der GeschichtsWissenschaft, die teilweise als doppelte Wahrheiten oder in enzyklopädischer Pluralität rezipiert wurden. Die in der Forschung bisher zuweilen als Ende des Mittelalters dargestellte Haskala (Aufklärung) markiert vor diesem Hintergrund letztlich nur eine weitere Etappe, die zum Teil von analogen Personengruppen, wie zum Beispiel von Ärzten, getragen wurde. Die Aufklärung selbst ist darum auch keine einlinige Bewegung, sondern verläuft in mehreren parallelen Strängen, die hier als unterschiedliche Ansätze dargestellt wurden, als naturwissenschaftlich-empiristischer Ansatz, als religionspolitischer, als religionswissenschaftlicher und als historischer Ansatz. Das folgende 19. Jahrhundert erscheint demgegenüber als eine Phase der versuchten Konsolidierung, hier als »Neuorientierung nach der Aufklärung« überschrieben. Jetzt wurden neuerliche Gesamtentwürfe der Deutung des Judentums vorgelegt, die zugleich die durch die Aufklärung vorbereitete »Konfessionalisierung« des Judentums verfestigten. Diese vielfältigen Neuentwürfe von Judentum des 19. Jahrhunderts bedienten sich auf breiter Front der in Deutschland und darüber hinaus angebotenen philosophischen Deutungsparadigmen, deren Herkunft durch die Kapitelüberschriften leicht zu erahnen ist: Judentum der Tora (Neoorthodoxie), und die dem Reformlager zuzurechnenden Entwürfe eines Judentums als Religion des Geistes, Judentum des Gefühls, des Bewusstseins und der theologischen Wissenschaft und schließlich Judentum als Religion der Vernunft.
Vorwort
19
Natürlich hat in der jüdischen Neuzeit die esoterische Theologie, das heißt die Kabbala, und mit ihr verbundene Formen der Mystik gleichfalls eine wesentliche Rolle gespielt. Darauf wurde in der hier folgenden Einführung hingewiesen, ihre ausführliche Darstellung findet sich jedoch schon im Band zwei des »Jüdischen Denkens«. Dort setzt die Neuzeit mit der für diese nicht unspezifischen lurianischen Kabbala ein. Hierher gehören die für die Magie-gläubige Renaissance und Neuzeit typischen Ba‘ale Schemot, die in der Einleitung zum Stifter der hasidischen Bewegung, Jisrael Ba‘al Schem Tov vorgestellt wurden und schließlich der Hasidismus selbst. Eine eigenwillige Tora-Mystik trug auch der hier im dritten Band zur restaurativ-integrativen Orthodoxie dargestellte Hajjim aus Woloschyn vor. Ich hoffe, mit dieser Auswahl an Denkern einen für diese Zeit repräsentativen Rahmen gesteckt zu haben, der künftigen Arbeiten zu weiteren Autoren als Anhalt dienen mag. Die lange versprochene Bibliographie muss nun allerdings bis zum vierten Band warten und ich bitte die Leser um Nachsicht, wird sie die hier eingebrachte Ernte doch gewiss dafür entlohnen. Mein Ausscheiden aus dem aktiven Universitätsdienst hat mir zwar die für diesen Band nötige Muße und Freiheit verschafft, mich aber zugleich der helfenden Hände beraubt. So bin ich froh, dass Julia Flechtner vom Campus Verlag freundlicherweise eine Dokumentvorlage erarbeitet hat, mit deren Hilfe die ganzen Formatierungsarbeiten geleistet werden konnten, und Judith Wilke-Primavesi, die verantwortliche Programmleiterin im Campus Verlag, mir alle erdenkliche Unterstützung zukommen ließ. Mein Freund Manfred Voigts hat mir zahlreiche wertvolle Hinweise gegeben und aus seiner reichen Bibliothek Bücher zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm herzlich danke. Das alleine verbleibende helfende Fundament für eine anhaltende häuslichakademische Arbeitsatmosphäre und für das mühevolle Korrekturen-Lesen war meine seit meiner ersten wissenschaftlichen Publikation mich begleitende Frau Elvira. Sie hat die viel gehörte Einsicht bewährt, dass Liebe viele Formen hat. Dank sei ihr! Berlin im Juli 2009
EINFÜHRUNG GESCHICHTE UND KULTUR DES NEUZEITLICHEN JUDENTUMS 1.
Jüdische Neuzeit zwischen Mittelalter und Aufklärung
Die Neuzeit als eigenständige kulturelle Epoche des Judentums ist in der Wissenschaft erst allmählich ins Bewusstsein getreten. Darum wurde das Ende des jüdischen Mittelalters in der Historiographie zum Teil bis heute erst in die Mitte oder an das Ende des 18. Jahrhunderts verlegt. Heinrich Graetz sah es mit der Publikation der ersten aufklärerischen Zeitschrift im Jahre 1750 gekommen, während Simon Dubnow gar bis zur Französischen Revolution 1789 warten wollte.1 Die Konsequenz dieser Datierung war, dass im Judentum das Mittelalter unmittelbar in die Aufklärung gemündet hätte ohne eine dazwischenliegende neuzeitliche Epoche. Dieser Eindruck konnte entstehen, wenn man den Blick vorwiegend auf die beherrschende rabbinische Rechtsliteratur richtete. Außerdem war diese Auffassung wohl von einer »germanozentrischen« Sicht der jüdischen Geschichte bedingt, das heißt von einer Ausblendung der Entwicklungen im mediterranen Raum und der Fixierung auf das Judentum Nordeuropas. Dabei hob man hauptsächlich auf die von Deutschland ausgehenden grundlegenden Umwälzungen durch die Haskala ab, das heißt der jüdischen Variante der Aufklärung und die ihr folgende Emanzipation, die rechtliche Gleichstellung der Juden. Erst die neuere Historiographie der letzten fünfzig Jahre hat das Bestehen einer klar abgrenzbaren jüdischen Renaissance und Neuzeit wahrgenommen und deren Beginn nahe an den allgemeinen europäischen geschichtlichen Rhythmus herangerückt. Michael Graetz etwa denkt für den Beginn der jüdischen Neuzeit an den Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert. Erste Anzeichen lassen sich indessen noch früher erkennen, zum Beispiel in dem jüdischen Renaissancephilosophen Leone Ebreo (1460–1523) und dessen Dhialoghi d’amore, der, chronologisch betrachtet, den ersten Band der vorliegenden Darstellung abschließt.2 Die Veränderung der Sicht und Epochenabgrenzung in der neueren Historiographie war vor allem dadurch bedingt, dass man den Blickwinkel für die Entscheidung über das Maß der Veränderungen in der jüdischen Geschichte erweiterte. Die neueren Betrachtungsweisen richteten ihr Augenmerk nunmehr auch auf Phänomene, die zuvor vernachlässigt wurden, also die modernen Wissenschaften, die
1
M. Graetz, Zur Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit in der jüdischen Geschichte, in: Ders., Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 1–17.VII–XV; und s. M. Meyer, Where Does the Modern Period of Jewish History Begin?, in: Judaism 24, 1975, S. 329–338.
2
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 566–584.
Einführung
22
Musik, die Demographie und die Geographie, wodurch Veränderungen wahrgenommen wurden, die etwa bei dem konservativeren jüdischen Recht nicht zu sehen waren. Geographisch gesprochen waren es vor allem die Entwicklungen in Norditalien, insbesondere im venezianischen Bereich und in den Niederlanden, welche die neue zeitliche Grenzziehung erforderten und die erst allmählich auch die weniger auffälligen Veränderungen in den deutschsprachigen Ländern und in Polen wahrnehmbar machten. Als wesentliches Merkmal für die neue Zeit muss auch und gerade für das Judentum die Erfindung der Buchdruckerkunst genannt werden, die eine Fülle von Publikationen in allen im Folgenden zu benennenden Wissensbereichen hervorbrachte, und die einer großen Zahl von Juden als Druckern, Lektoren und Redaktoren, auch in christlichen Druckhäusern, sowie als Buchhändler Brot verschaffte.3
2.
Aufklärung und Emanzipation (1750–1900)
Durch die Aufklärung und Emanzipation,4 die sich in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern zunächst in einzelnen aufgeklärten Gestalten ankündigte, sodann in Kreisen um Moses Mendelssohn (1729–1786)5 in Berlin und Isaak Euchel (1756–1804) in Königsberg gesellschaftlich nachweisbare Organisationsformen gewann und politisch ihren Ausgang von der französischen Revolution genommen hatte, ereigneten sich auch im nordeuropäischen Judentum gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen, die sich im italienischen Judentum, trotz der verbreiteten Einrichtung von Ghettos, bereits zwei Jahrhunderte früher spürbar gemacht hatten.6 Die ideologischen Differenzen zwischen »Neologen« und Konservativen wurden in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts im deutschen Sprachraum unüberbrückbar, so dass sie sich religionssoziologisch auszuwirken begannen, erkennbar an den landesweit erstellten »Synagogenordnungen«,7 in denen
3
D. Mantovan-Kromer, Überlieferung der Tradition und multikultureller Kontext: Der Jüdische Buchdruck und die venezianischen Druckereien im 16. Jahrundert, in: M. Graetz (Hg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums, S. 207–216; C. Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1964, S. 165–188.
4
Allgemein dazu s. J. Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, Frankfurt/M. 1986; zu fast allen folgenden Themen gibt es fundierte Artikel im Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, hrsg. von E.-V. Kotowski, J.H. Schoeps, H. Wallenborn, Darmstadt 2001, 2. Bde.
5
Zu ihm s. unten Kap. Haskala, III.
6
Zur Haskala s. unten Kap. Haskala, I–V. Zu Euchel ebd., I; zu den italienischen Vorläufern,
7
S. unten Kap. Neueorientierung nach der Aufklärung, II.
Kap. Das Ringen um die Vielfalt, I–III; Traditions- und Religionskritik, I.
Einführung
23
vorsichtige und auch stürmische Versuche zur Neugestaltung des Gottesdienstes in »Rechtsform« gebracht wurden, vermischt mit noch durchaus konservativen Elementen. Die Vorhut der organisierten Aufspaltung bildeten die Reformer vom Schlage Israel Jacobsons (1768–1828)8 und Eduard Kleys (1789–1867) mit der Hamburger »Tempelvereinigung«, die 1818 den Hamburger »Tempel« eröffnete. Eine bedeutende Rolle in der Reformbewegung spielten die von Ludwig Philippson (1811–1889) geforderten Rabbinerkonferenzen von 1844–1846, welche die hier vertretenen Abraham Geiger9 und Salomon Formstecher10 maßgeblich bestimmten. Einen Mittelweg zwischen Reform und Altgläubigen wählte die »Neoorthodoxie« um Samson Raphael Hirsch11 und das »positiv-historische Judentum«, dessen führender Kopf Zacharias Frankel (1801–1875) war, insbesondere als Direktor des »Jüdisch-theologischen Seminars« in Breslau.12 Die Altfrommen, nicht sehr präzise als »Orthodoxie« bezeichnet, wo »Orthopraxie« vielleicht passender wäre, sammelten sich selbst nach und nach unter der Zeitschrift Der treue Zionswächter, die von 1845–1855 in Altona erschien.13
3.
Die demographische und politische Situation zu Beginn der Neuzeit
Das hohe und ausgehende Mittelalter war von umfassenden Vertreibungen der Juden aus dem Westen und der Mitte Europas gekennzeichnet, von denen die aus Spanien im Jahre 1492 nur die sich am tiefsten einprägende gewesen war.14 Nachdem 1290 und 1394 die Juden aus England und Frankreich vertrieben worden waren und der »Schwarze Tod« in Deutschland (1348–1349) weitere Vertreibungen auslöste, folgten im 15. Jahrhundert weitere Ausweisungen und Mas-
8
Zum Ganzen s. H.M. Graupe, Die Enstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650–1942, Hamburg 1977, S. 200ff.; M.A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism; M. Brenner, S. Jersch-Wenzel, M.A. Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, insbes. Bd. 2, 1780–1871, München 1996–1997; G. Ballin, Geschichte der Juden in Seesen, Seesen 1979.
9
Zu ihm s. unten Kap. Neueorientierung nach der Aufklärung, V.
10
S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV.
11
Zu ihm s. unten Kap. Neueorientierung nach der Aufklärung, III.
12
Diese Richtung ist hier durch die Position des galizischen Aufklärers Nachman Krochmal rep-
13
Zur Orthodoxie s. das Standardwerk von M. Breuer, Jüdische Orthodoxie im deutschen Reich
räsentiert, s. unten Kap. Haskala, V. 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt/M. 1986; und unten Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie. 14
Zur Geschichte der Juden in der Neuzeit s. J.I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1991.
24
Einführung
saker, in Wien und Linz 1421, 1424 aus Köln, 1439 aus Augsburg, Bayern 1442 und 1450, Mähren 1454, Genf 1490, Mecklenburg und Pommern 1492, Halle und Magdeburg 1493, Niederösterreich, Steiermark und Kärnten 1496, Württemberg und Salzburg 1498, Nürnberg und Ulm 1499, Brandenburg 1510, Elsass, Colmar, Mühlhausen und Obernai 1512, Regensburg 1519, aufgrund von Luthers Drängen aus Sachsen 1537 und Thüringen 1540, aus Braunschweig, Hannover und Lüneburg 1553, Antwerpen 1549–50, aber auch aus italienischen Städten wie Perugia 1485, Vicenca 1486, Parma 1488, Milano und Lucca 1489, Florenz und die toskanischen Städte, sowie aus den Städten südlich von Rom im Bereich von Neapel 1510, 1498 aus Navarra und weiteren italienischen Städten bis herab in die siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts und schließlich auch aus der Provence und 1569 aus allen Orten des päpstlichen Kirchenstaates. Einzelne Ausnahmen gab es, bei denen die Juden in Städten bleiben durften, so Mainz oder Frankfurt am Main, in den hessischen Landen und den katholischen kirchlichen Staaten, Köln, Mainz, Trier, Münster, Minden, Halberstadt, Paderborn, Würzburg, Bamberg, Speyer und Fulda, oder in den sie umgebenden ländlichen Regionen, sowie in Rom und Ancona, Ferrara und Mantua, Florenz und Siena sowie Venedig. Schützend stellte sich auch Kaiser Karl V vor die Juden, nicht zuletzt dank der Interventionen des jüdischen Repräsentanten Josel von Rosenheim. Insgesamt aber hatten diese Vertreibungen eine fast vollständige Verlagerung der jüdischen Bevölkerung nach dem Osten, zum einen in das Königreich Polen und in das osmanische Reich, den Balkan eingeschlossen, zur Folge und damit ein fast vollständiges Ende jüdischer Religion, Kultur und Gelehrsamkeit in den genannten Regionen. Im Westen, ausgehend von Venedig, 1516, und begründet durch die päpstliche Bulle Cum Nimis Absurdum aus dem Jahr 1555, wurden die wenigen verbliebenen Juden zwangsweise in Ghettos umgesiedelt. Ein Umschwung erfolgte erst zwischen 1570–1600 im Gefolge der Entwicklung der absolutistisch-merkantilistischen Politik einzelner Landesherren in Böhmen, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden sowie Italien, die in ihren Herrschaftsbereichen Juden aus wirtschaftlichen Gründen wieder zuließen, was J. I. Israel als »philosemitischen Merkantilismus« bezeichnete, dem auch die verbreitete »Institution« des Hofjuden zu verdanken ist.15 Hinzu trat zugleich eine verbreitete philosemitische Wissenschaft und Hebraistik. Beide Richtungen dieser Bevölkerungsverlagerung hatten zur Folge, dass in den östlichen wie auch in einigen der verbliebenen Niederlassungsorte der Juden
15
Zur Institution des Hofjuden s. F. Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Darmstadt 2001; S. Hödl et al. (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin/Wien 2004; R. Ries, J.F. Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002; S. Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus, Tübingen 2001.
Einführung
25
im Westen ein Nebeneinander von Juden aus den unterschiedlichsten Kulturräumen entstand, die nun in einer bis dato nicht gekannten Intensität aufeinander einwirkten aber zugleich auch sich ihrer sprachlichen und kulturellen Differenzen bewusst wurden und diese Differenzen bis hinein in die Eheschließungen und die Gottesdienste in getrennten Synagogen bewahrten, so dass man nun von unterschiedlichen jüdischen Kulturen, der sefardischen und der aschkenasischen reden kann, die bis heute die jüdische Wirklichkeit prägen. Die jüdischspanische Kultur war fortan nicht die jüdische Kultur der iberischen Halbinsel sowenig wie die aschkenasische die des deutschsprachigen Raumes blieb. Vielmehr wurden diese beide Sprachkulturen nun in ihnen fremde sprachliche Kontexte verpflanzt, vor allem in den slawischen und den osmanisch-türkischen und anderen Sprachgebieten rund um das Mittelmeer, waren also nicht mehr die Kultur der Juden in Spanien oder der Juden in Deutschland, sondern über die Welt verstreute sefardische und aschkenasische Kultur. Zu der grundsätzlichen Differenzierung in zwei jüdische Kulturen gesellte sich in Folge der spanischen und portugiesischen Zwangstaufen von Juden in den Jahren 1391 bis 1492 eine kryptojüdische, oder neuchristliche Kultur, von Juden, die in der Öffentlichkeit Christen waren und im privaten Bereich im Maße des Möglichen ihre jüdischen Traditionen weiter bewahrten. Die Einführung der Inquisition in Spanien und Portugal, die eigens zur Entlarvung solcher judaisierender »Neuchristen« eingerichtet worden war, führte alsbald zu einer massiven Auswanderung der »Marranos«16 genannten Neuchristen (Conversos) nach Holland, Hamburg und in den Norden Italiens und deren mittelmeerische Besitzungen, die das religiöse und kulturelle
16
Cecil Roth, A History of the Marranos, Philadelphia 1947 (neu 1974); K. Dethlott, Marranen und Spinoza, in: F. Heimann-Jelinek, K. Schubert (Hg.), Spharadim-Spaniolen. Die Juden in Spanien – Die Sephardische Diaspora, Eisenstadt 1992, S. 155–165 (Studia Judaica Austriaca XIII); Israël S. Révah: Les Marranes, in: Revue des Études Juives, Paris 1959, 118, S. 29–77; Ernst Schulin, Die spanischen und portugiesischen Juden im 15. und 16. Jahrhundert. Eine Minderheit zwischen Integrationszwang und Verdrängung, in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. hrsg. von Bernd Martin und Ernst Schulin, München 1989 (4. Aufl.); Richard D. Barnett, W.M. Schwab (Hg.), The Sephardi Heritage. Essays on the History and Cultural Contribution of the Jews of Spain and Portugal, 2 Bde., Grendon/Northants/London 1971, 1989; Elie Kedourie (Hg.), Spain and the Jews. The Sephardi Experience 1492 and After, London 1992; Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. IV: Die Marranen im Schatten der Inquisition, Bodenheim 1991 (Neuauflage); F. Heymann, Tod oder Taufe. Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal, 1992; C. Wilke, Rheinaufwärts in den Orient. Die ›deutsche Straße‹ der portugiesischen Inquisitionsflüchtlinge unter Karl V., in: Kalonymos 3 Heft 3/2006, S. 1–3; Hering Torres, Max Sebastián, Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 2006; Marrano Poets of the Seventeenth Century. An Anthology of João Pinto Delgado, Antonio Enríquez Gómez, and Miguel de Barrois, ed. and translated by T. Oelman, London/Toronto 1982.
26
Einführung
Mosaik der vormals uniformen Ortsgemeinden weiter aufsplitterten und mit erheblichem religiösem Sprengstoff versahen.
4.
Die kulturelle und mentale Situation des neuzeitlichen Judentums
4.1
Historiographische Bewertungskriterien
So widersprüchlich die politisch-rechtliche Situation der Juden in Europa und im osmanischen Reich wegen der staatlichen Fragmentierung dieser Regionen war, so widersprüchlich erscheint auch das kulturell-religiöse Bild des Judentums, nicht zuletzt auch wegen der weiten räumlichen jüdischen Zerstreuung, vom Großreich Polen im Osten, über den deutschsprachigen Raum in der Mitte, die nord- und süditalienischen Kleinstaaten und schließlich den Raum des östlichen Mittelmeeres, ab 1655 kommt auch England wieder hinzu. Diese räumliche und kulturelle Differenzierung wie auch das Ineinander sich widersprechender geistiger Strömungen im Judentum ist der Grund für die zum Teil weit auseinander liegenden Beurteilungen der Epoche in der modernen Historiographie. Je nach geographischer, soziologischer und kulturphänomenologischer Akzentsetzung und Bewertung durch den Betrachter erscheint die jüdisch-neuzeitliche Epoche als »fortschrittlich« und »modern« oder als »konservativ« oder gar »rückwärtsgewandt«. Wenn man die Epoche nach ihren herausragenden Einzelpersönlichkeiten bewertet, erscheint sie stürmisch und revolutionär (so etwa bei Cecil Roth),17 wo die gesamte Gesellschaft und deren bestimmende Mentalität im Vordergrund steht, kommt man zu moderateren Urteilen und sieht mehr die perpetuierte konservative Seite (Robert Bonfil).18 Ausschlaggebend für die Beurteilung ist außerdem, wie man das für den modernen Beobachter verwirrende Ineinander von konservativen und progressiven, von rationalen und irrationalen Elementen oft bei ein und demselben Autor versteht. Häufig wird in der Fachliteratur darum mit dem Motiv der Verstellungsstrategien oder Tarnung (Camouflage) gearbeitet, mit der sich die Autoren angeblich vor unliebsamen Konsequenzen von Seiten der jüdischen wie der christlichen Obrigkeiten schützen wollten. Da tatsächlich mit solchen Tarnungsstrategien mancher Autoren zu rechnen ist, wie etwa im Falle des venezianischen Rabbiners Leone Modena (1571–1648),19 gibt es in der modernen Historiographie zuweilen die Neigung einen Autor ganz
17
C. Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1964.
18
R. Bonfil, Jewish Life in Renaissance Italy, Berkeley/Los Angeles 1994; ders., Rabbis and
19
Zu ihm s. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, I.
Jewish Communities in Renaissance Italy, London/Washington 1993.
Einführung
27
in eine Richtung zu bürsten, weil man die für den modernen Menschen unverständliche Verbindung von Ratio und Okkultem nicht für möglich hält. Ein besonders extremes Beispiel hierfür ist die Darstellung von Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655)20 durch Isaac Barzilay, der in Delmedigo einen sich tarnenden Rationalisten sehen will, trotz dessen massiver kabbalistischer Publikationstätigkeit, die Barzilay als Verstellungsstrategie deutet.21 Demgegenüber wird in der neueren Forschung gerade das Nebeneinander und Ineinander beider Elemente als Charakteristikum der Epoche gesehen, das heißt die Rezeption der Kabbala und des modernen Rationalismus und Empirismus durch ein und dieselbe Person und Gemeinschaft.22 Grundlegende Beurteilungsunterschiede der Epoche ergeben sich vor allem aus der einseitigen Konzentration auf unterschiedliche geographische Räume. Während im Norden Italiens seit dem 15. Jahrhundert eine äußerst dynamische und für Renaissancegedankengut offene jüdische Gemeinschaft sichtbar wird, hat man den aschkenasischen Regionen, Deutschland und Polen, jegliche Beeinflussung durch das neue Denken abgesprochen. Hiergegen hat sich allerdings nachdrücklich Jacob Elbaum23 ausgesprochen, der zahlreiche, wenn auch nur ephemere Rezeptionen der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, voran der Astronomie, in der Rechtsliteratur des aschkenasischen Raumes aufweist, die sich allerdings im Vergleich zu den Errungenschaften von einzelnen Juden oder auch des öffentlichen geistig-kulturellen Klimas ganzer Gemeinden im italienischen und holländischen Bereich eher bescheiden ausnehmen. Im aschkenasischen Raum kam die große Wende erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der sich Bahn brechenden Aufklärung.24 Sie hat allerdings so tiefgreifende Umbrüche im gesamten europäischen Judentum zur Folge, dass darüber die schon zweihundert Jahre früher einsetzenden Veränderungen im mediterranen Bereich von der modernen Historiographie lange kaum mehr wirklich wahrgenommen wurden. Mit der unten zu skizzierenden Religionstheorie Mendelssohns,25 nach welcher das Judentum nur eine der unterschiedlichen »Kirchen« ist, in denen sich die natürliche Religion manifestiert, ist die Konfessionalisierung des Judentums eingeleitet. Nachdem die absolutistischen Staaten den Rabbinern die Zivil- und 20
Zu ihm s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. B.
21
I. Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia) His Life, Works and Times, 1974;
22
Vgl. z. B. J.J. Petuchowski, The Theology of Haham David Nieto. An Eighteenth-Century De-
zu Delmedigo s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. B. fense of Jewish Tradition, 1970; E. Rivkin, Leon Da Modena and the Kol Sakhal, 1952; R. Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, 1994 (3. Aufl. 1995). 23
J. Elbaum, Openness and Insularity. Late Sixteenth Century Jewish Literature in Poland and
24
Literatur hierzu s. unten Kap. Haskala, I.
25
S. unten Kap. Haskala, III.
Ashkenaz, 1990 (Hebr.).
28
Einführung
Strafrechtsbefugnisse sowie das Recht auf den Synagogenbann entzogen hatten, ist die Frage nach dem Amtsverständnis des Rabbiners wie auch nach dem Wesen des Judentums völlig neu gestellt. Paradigmatisch für die neue Entwicklung sind die in den zahlreichen zum Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen »Synagogenordnungen« sich abzeichnenden Veränderungen, welche alleine durch die Übertragung hebräischer Fachtermini ins Deutsche eine schleichende Konfessionalisierung und Entnationalisierung des Judentums vorantrieben.26 Als ausschließlicher Daseinszweck des Judentums erscheint nun die Pflege der Religion in und um die Synagoge. Das Judentum ist nun »israelitische Glaubensgemeinde«, »mosaische Gemeinde«, »israelitische Kirchengemeinde«, »israelitische Kultusgemeinde«. Das dieser Religion dienende Personal sind »Geistliche«, »Seelsorger«, »israelitische Theologen«, »Lehrer«, »Prediger«, die nunmehr auch eine Amtstracht zu tragen haben, und »Kirchenbücher« führen. Die Synagogen sind »Tempel«, »Gotteshaus«, »Wohnung Gottes«, und müssen als solche staatlich genehmigt werden, der Almemor, das Lesepult, wird zum »Altar«. Württemberg kennt eine »Königlich israelische Ober- Kirchenbehörde«, Westfalen und andere Regionen »Consistorien«. Hanukka, das Lichterfest zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des Tempels in der makkabäischen Zeit, wird zuweilen »Weihnachten« genannt und die Bar Mizwa wird als »Konfirmation« zur Schulentlassungsfeier. Damit sind sämtliche ethnischen und »nationalen« Definitionen des Judentums ausgeschlossen. Konsequenterweise lässt Abraham Geiger27 in seinem 1854 erschienenen Israelitischen Gebetbuch sämtliche nationalen Elemente »in den Hintergrund treten«. Mit dem vom preußischen Staat 1876 erlassenen »Austrittsgesetz«, das unterschiedliche israelitische Religionsgemeinschaften nebeneinander zuließ, war die Konfessionalisierung auch rechtlich vollendet.
4.2
Sefardim, Aschkenasim, »Marranos« und andere
Ein wesentlicher Faktor für das allgemeine kulturelle und religiöse Klima der europäisch jüdischen Gemeinden, vor allem im Süden des Kontinents, in Holland, Hamburg und später auch England, ist der starke Zustrom der 1492 aus Spanien und ab 1496/7 aus Portugal vertriebenen sefardischen Juden, denen nach der Einführung der Inquisition auch in Portugal (1516) zunehmend zahllose »Conversos« oder »Marranos« folgten.28 Die Ankunft der vertriebenen sefardischen Ju-
26
Dazu s. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, II.
27
Zu ihm s. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, V.
28
H. Wallenborn, Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefardischer Migration im 17. Jahrhundert, Hildesheim 2003; M. Studemund-
Einführung
29
den in den aschkenasischen, italischen und levantinischen Gemeinden ließ das unterschiedliche Brauchtum der beiden jüdischen Kulturen und Rechtssysteme heftig aufeinanderprallen, was zu tiefgreifenden innergemeindlichen Auseinandersetzungen führte und die Autorität der Ortsrabbiner untergrub, wobei die Neuankömmlinge versuchten, ihr eigenes Recht durchzusetzen und sich weigerten die angestammten lokalen Rabbiner in deren Entscheidungen anzuerkennen, worüber zum Beispiel Leon David Messer aus Mantua als Rabbiner von Avlona/Valona in Albanien einen eindrucksvollen Bericht hinterließ.29 Die spanischen Juden brachten aus ihrem Heimatland nicht nur unterschiedliche Bräuche und Rechtsentscheidungen mit, sondern auch eine weit gefächerte philosophische Tradition und Kultur, wofür der erste jüdische Renaissancephilosoph Italiens, Leone Ebreo alias Jehuda Abravanel (1460–ca.1523), mit seinen überaus erfolgreichen Dialoghi d’amore (1535) ein eindrucksvolles Beispiel ist.30 Die vor allem ab dem 16. Jahrhundert in vermehrter Zahl aus Portugal geflohenen Marranos brachten eine andere Problematik in das jüdisch-religiöse Leben. Viele von ihnen kehrten zum Judentum zurück, hatten davon allerdings Vorstellungen, die sie sich ausschließlich aus ihrer christlichen Erziehung und ihrer Lektüre der lateinischen Bibel erworben hatten, hinzu kam, dass viele von ihnen Ärzte waren, die eine weitläufige weltliche Bildung besaßen.31 Diese in das Judentum Zurückgekehrten trafen nun auf ein Judentum rabbinischer Prägung mit seinem weitgefächerten nachbiblischen Gesetz, das ihnen vor dem Hintergrund ihrer biblischen Maßstäbe als eine willkürliche von der Tora abweichende menschliche Hinzufügung erschien, die sie glaubten ablehnen zu müssen. Das paradigmatische Beispiel einer derartigen konfliktreichen Rückkehr ins Judentum wurde der über Amsterdam nach Hamburg gekommene Uriel (Gabriel) (d)a Costa (1585–1640), der Heimat und Besitz in Portugal aufgegeben hatte, um das Ziel seiner Sehnsucht im Judentum zu erreichen, das ihm nun aber als Häresie erschien, was zwangsläufig zu Streit, zweimaligem Bann und schließlich zu da Costas Selbstmord führte.32
Halevy, Die Sefarden in Hamburg. Zur Geschichte einer Minderheit, Hamburg 1994–1997, 2 Bde. 29
David Messer, Kebod Chachamim. Polemische Abhandlung des Messer David aus Mantua über Gemeindestreitigkeiten in Avlona (um das Jahr 1510), Berlin, 1899 (Hebr.), hrsg. von S. Bernfeld.
30
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 566–585.
31
Dazu s. unten die Kap. Traditions- und Religionskritik, II. III. I.
32
S. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, II.
Einführung
30
4.3
Universitäten, Wissenschaften, Rabbiner und jüdische Ärzte
Ein weiteres wichtiges Element für die geistig-kulturelle Situation der Juden in Italien – und von da ausstrahlend auch in den übrigen Teilen Europas – ist die Zulassung von Juden zu einzelnen Universitäten, von denen Padua führend war.33 Zwischen 1617 und 1816 sind wenigstens 320 jüdische Graduierungen in Medizin aus Padua bekannt, zu denen gewiss noch eine weitere Zahl informeller Promotionen hinzuzurechnen ist. Demgegenüber zählt man zwischen 1520 und 1605 nur erst 29 Abschlüsse.34 Hinzu kommen einzelne weitere italienische Universitäten, aber auch das holländische Leiden, ab 1678 kurz auch Frankfurt an der Oder.35 Da das medizinische Curriculum in jenen Tagen nicht nur die somatischen Gegebenheiten im engeren Sinne zum Gegenstand hatte, sondern darüber hinaus die artes liberales,36 Philosophie, Latein, antike medizinische Texte, Botanik und Chemie umfasste und außerdem ein enges Zusammenleben der jüdischen mit christlichen Studenten mit sich brachte, verblieb die Wirkung dieser Studien nicht auf den professionellen Alltag eines Arztes beschränkt. Dies umso mehr, als die jüdischen Medizinkandidaten vor und neben ihren wissenschaftlichen Studien außerdem Rabbinica lernten, was dazu führte, dass es eine große Zahl von Gelehrten gab, die zugleich Ärzte und Rabbiner waren, wie etwa Judah Messer Leon (1470/72–1526?), Avtalion Modena (1529–1611), Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655), Verfasser des großen wissenschaftlichen Werkes Sefer ’Elim über Mathematik, Astronomie und Logik),37 Josef Hamiz, Tobias Cohen (1652–1729), Verfasser eines weitverbreiteten wissenschaftlichen und vor allem medizinischen Handbuches, Ma‘ase Tuvjah,38 Salomon (1642–1719) und Israel (1650–1717) Conegliano, David Nieto (1654–1728), Isaac Lampronti (1679– 1756), Autor einer mehrbändigen aus seiner Jeschiva hervorgegangenen rabbinisch wissenschaftlichen Enzyklopädie Pachad Jizchak und Hajjim Cantarini (1660–1731), Samson Morpurgo (1681–1740). Um die Betreuung der jüdischen
33
J. Shatzky, On Jewish Medical Students in Padua, in: Journal of the History of Medicine, 5
34
S. D.B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New
35
Ruderman, Jewish Thought, S. 230; und s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. C.
36
1. Grammatik: Lateinische Sprachlehre und die Werke der klassischen Schulautoren, 2. Rhe-
(1950), S. 444–447. Haven/London 1995, S. 100ff.
torik: Redeteile und Stillehre, 3. Dialektik bzw. Logik: Schlüsse und Beweise auf der Grundlage des Organons, 4. Arithmetik: Zahlentheorie, auch praktisches Rechnen, 5. Geometrie: euklidische Geometrie, Geographie, 6. Musik: Musiktheorie und Tonarten, 7. Astronomie: Lehre von den Sphären, den Himmelskörpern und ihren Bewegungen, unter Einschluss der Astrologie. 37
Über ihn s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. B.
38
Zu ihm unten ebd., III. C.
Einführung
31
Studenten innerhalb der nach Nationen organisierten Studentenschaft besser zu organisieren, hat der Mantovaner David Provenzali (Provençal, geb. 1506) und sein Sohn Abraham in Ferrara im Jahre 1564 sogar die Errichtung einer jüdischen Universität in Angriff genommen und in einem gedruckten Sendschreiben, welches die Grundzüge eines Lehrplanes formulierte, nach Mäzenen zur Unterstützung seiner eigenen Stiftung gesucht.39 Ähnliche Einrichtungen scheinen auch andernorts entstanden zu sein.40 Diese doppelte Ausbildung der jüdischen Ärzte ließ vor allem sie zur europaweit vernetzten intellektuellen jüdischen Elite schlechthin werden, die sich die Aufgabe stellte, moderne wissenschaftliche Bildung in das Judentum zu tragen und mit der jüdischen Theologie in Ausgleich zu bringen. Es waren gerade solche Ärzte und auch sonst naturwissenschaftlich und rabbinisch gebildete Männer die das unmittelbare Bindeglied zur Haskala (Aufklärung) in Preußen bildeten,41 wie Israel Ha-Levi Zamosc (1710–1772), Aaron Salomon Gumperz (1723–1769), die zu den ersten Lehrern Moses Mendelssohns gehörten, und Mordechai Gumpel Schnaber-Levison (1741–1794).42 Als Teilgebiet der Naturwissenschaften, dem sich nicht wenige Juden in zunehmendem Maße ab dem 14. bis zum 18. Jahrhundert, teilweise nur theoretisch, manche auch praktizierend, zuwandten, ist die Alchemie zu nennen.43 Hier sollen beispielweise genannt werden Leone Modena,44 dessen Sohn Mordechai als Folge der von ihm durchgeführten Silberproduktion starb,45 Josef Schlomo Delmedigo46 und vor allem der in Safed und Damaskus wirkende Kabbalist Hajjim Vital (1542–1620).47 Eine programmatische Hinwendung zur historischen Wissenschaft auch auf den Gebieten von Literatur und Kultur setzte in Italien mit ‘Asarja dei Rossi und dann vor allem im 19. Jahrhundert mit der Begründung der Wis-
39
M. Güdemann, Ein Projekt zur Gründung einer jüdischen Universität aus dem 16. Jahrhundert, in: A. Freimann, M. Hildesheimer, Festschrift zum siebzigsten Geburtstage A. Berliner’s, 1903, 164–175; D.B. Ruderman, The Impact of Science on Jewish Culture and Society in Venice (With Special Reference to Jewish Graduates of Padua’s Medical School), in: ders., Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York/London 1992, S. 519–553; ders., Jewish Thought and Scientific Discovery, s.oben.
40
Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 258f.
41
S. unten Kap. Haskala, I. II.
42
S. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 332ff.; und unten Kap. Haskala, II.
43
R. Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994 (19953).
44
Zu ihm s. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, I.
45
Siehe dazu L. Modena (hrsg. und übersetzt von M.R. Cohen), The Autobiography of a Seven-
46
Zu ihm s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. B.
47
Zu allen bei R. Patai, The Jewish Alchemists; zu Vital s. auch Jüdisches Denken, Bd. 2, Regis-
teenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah, Princeton 1988, S. 108f.
ter sub voc. Vital.
Einführung
32
senschaft des Judentums durch den Berliner Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden im Jahre 1819 ein.48
4.4
Die neuen Wissenschaften im aschkenasischen Raum
Auch vor den zuletzt genannten um Mendelssohn gescharten Gelehrten gab es im aschkenasischen Bereich, wenn auch ephemere und in der Wissenschaft kontrovers beurteilte49 Ansätze zur Auseinandersetzung mit den modernen Wissenschaften. Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht die Jeschiva des autoritativ gewordenen Kommentators des Rechtskodex Schulchan Aruch, des Krakauer Rabbiners Moses Isserles (1525/30–1572),50 sowie der Kreis von Gelehrten in Prag um Jehuda Ben Bezalel (Maharal) (1525–1609)51 und dessen Schüler David Gans (1541–1613), verfasste Werke über Mathematik und Geometrie und Astronomie, und stand mit Kepler und Tycho Brahe in freundschaftlicher Beziehung.52 Im Vordergrund stand bei den osteuropäischen Gelehrten die Astronomie und die Mathematik, da sie im Dienste der Rechtsdiskussion verwendet und gerechtfertigt werden konnten.
4.5
Wissenschaft, Philosophie und Theologie
Wie im christlichen Bereich ist auch bei den Juden mit dem Ende des Mittelalters das Ende des Aristotelismus heraufgezogen, die Behauptung der nahtlosen Übereinstimmung von Glaube und Vernunft war fraglich geworden. Das ptole48
H. Liebeschütz, Wissenschaft des Judentums und Historismus bei Abraham Geiger, in: Essays Presented to Leo Baeck on the Occasion of His Eightienth Birthday, 1954, S. 75–93; M.A. Meyer, Jewish Religious Reform and Wissenschaft des Judentums: The Position of Zunz, Geiger and Frankel, in: Leo Baeck Year Book XVI, 1971, S. 19–41; M. Brenner, S. Rohrbacher, Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000; M.A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, Detroit 1988; I. Schorsch, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, Hanover/London 1994.
49
L. Kaplan, Rationalism and Rabbinic Culture in Sixteenth-Century Eastern Europe: R. Mordecai Jaffe’s Levush Pinat Yikrat, 1983 (Diss. Harvard); J. Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, Oxford 1961; J. Elbaum, Openness and Insularity. Late Sixteenth Century Jewish Literature in Poland and Ashkenaz, Jerusalem 1990 (Hebr.).
50
Zu ihm s. unten Kap. Restaurativ-Integrative Orthodoxie, III.
51
Zu ihm s. ebd., II.
52
A. Neher, Jewish Thought and the Scientific Revolution of the Sixteenth Century. David Gans (1541–1613) and his Times, Oxford 1968.
Einführung
33
mäische Weltbild mit seinen ebenmäßigen Sphärenbewegungen um die Erde, welches die mittelalterlichen Philosophen auch bei den rabbinischen Juden verbreiteten, wurde nun dank der modernen Astronomie in Frage gestellt, was man zugleich als eine Bestätigung der antiken rabbinischen Auffassungen von der freien Bewegung der Sterne verstehen wollte. Empirische Naturbeobachtung und Wissenschaft wurde nun als Weg zur Erkenntnis des Schöpfers verstanden und auch von Juden propagiert. Der aristotelische kausale Konnex zwischen Physik und Metaphysik wurde bestritten und Theologie und Physik voneinander getrennt. ’Eljahu Delmedigo vertrat die These von einer doppelten Wahrheit, die der Wissenschaften und jene der Offenbarung, deren Verhältnis zueinander in einer diffizilen Balance zu halten sei.53 Der Prager Jehuda Ben Bezalel (Maharal) vertrat demgegenüber eine orthodoxere Position und nahm an, dass es eine doppelte Perspektive der Wahrnehmung der Welt gibt, von denen jede für sich gesehen tatsächliche Wahrheit neben der anderen ist.54 Der Italiener ‘Asarja dei Rossi beschritt einen anderen Weg und meinte, dass die rabbinischen Aggadot, welche Aussagen über die Natur und Chronologie machten, nicht Offenbarung seien, sondern persönliche Auffassungen, die man korrigieren dürfe.55 Im aschkenasischen Raum wurde die Wende des Denkens mit der Aufklärung heraufgeführt, sei es aus naturwissenschaftlichen Einsichten wie bei Gumpel Schnaber-Levison,56 oder mit religions-politischen und philosophischen Argumenten wie bei Moses Mendelssohn.57 Er verließ die Identifikation von Religion und Judentum und sah in ersterer ein universales menschliches Phänomen, in letzterem eine partikulare Gesetzgebung für das jüdische Volk. Im Sinne der Leibnitz-Wolffschen Philosophie erschließt sich nach ihm Religion ausschließlich über die Vernunft und hat im Grunde nur drei Grunderkenntnisse, nämlich dass es Gott, eine Vorsehung und die Unsterblichkeit der Seele gibt. Die öffentlichen Anstalten, welche diese Bildung befördern nannte er »Kirche«, so auch das Judentum, das diesem Ideal am weitesten entspreche, da es außer den genannten keine Dogmen kenne. Das Partikulare am Judentum ist dessen Offenbarung, die ausschließlich Gesetz sei, und darum nur diesem Volk gelte. Das Judentum nach Mendelssohn stand in Deutschland unter dem Einfluss der Philosophien von Kant, von Hobbes, von Herder, Schelling, Fichte, Hegel und von Schleiermacher.58 Viele Juden empfanden »Kants ethischen Rigoris-
53
Dazu s. unten Kap. Das Ringen, III. B; zur hebräischen Literatur in Italien s. auch S. Morais
54
S. unten Kap. Restaurativ-Integrative Orthodoxie, II, 5–7.
55
Dazu unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II.
56
S. unten Kap. Haskala, II.
57
S. ebd., III.
58
S. ebd., IV–V, und Neuorientierung nach der Aufklärung, I–VI.
(hrsg. von J.H. Greenstone), Italian Hebrew Literature, New York 1926.
Einführung
34
mus« als »dem Judentum kongenial«.59 Die Mendelssohnsche Formel vom offenbarten Gesetz führte auf der einen Seite zu einer Verkürzung des Judentums auf das Ethische (Lazarus Bendavid, Marcus Herz, Salomon Maimon), die in den großen Entwürfen des 19. und 20. Jahrhunderts ihre Krönung fand (Moritz Lazarus,60 Hermann Cohen,61 Leo Baeck62). Der Einfluss der neueren deutschidealistischen Geschichtsphilosophie (Herder und Hegel)63 führte hingegen im Sinne der Romantik zu einer neuen Definition der Erwählung Israels oder aber zur Historisierung des Judentums und der Offenbarung und damit zur Relativierung des Gesetzes wie in den hier vorgestellten Entwürfen von Salomon Formstecher (1808–1889)64 und Abraham Geiger (1810–1874).65 Samson Raphael Hirsch (1808–1888),66 der Begründer der »Neoorthodoxie«, hat, angelehnt an Lessing, Herder und Hegel, die biblischen Texte dezidiert im Sinne eines göttlichen Erziehungsplanes gelesen, innerhalb dessen Israel als ein aller üblichen Volksprädikate bares Gemeinwesen die reine absichtslose Toraerfüllung vorleben sollte. In alledem entfaltet sich der Geist Gottes als die allumfassende Weltkraft. Zu nennen sind noch die anderen vom deutschen Idealismus beeinflussten Philosophen wie Samuel Hirsch (1815–1889) mit seiner Religionsphilosophie der Juden 67und Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) mit seiner Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge.68
59
H.M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650–1942, Hamburg 19772, S. 142–152.
60
Sein programmatisches Hauptwerk: Die Ethik des Judentums, Frankfurt/M. 1898.
61
Zu ihm s. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, VI.
62
S. H.J. Schoeps, Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie der Neuzeit, 1935 (Neudruck in: Ders., Gesammelte Schriften, Hildesheim 1998ff.); A. Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Breslau 1935; M. Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933; M.J. Grózinger, Geschichte der jüdischen Philosophie und der jüdischen Philosophen von Moses Mendelssohn bis zur Gegenwart, Berlin 1930; J.B. Agus, Modern Philosophies of Judaism. A Study of Recent Jewish Philosophies of Religion, New York 1941.
63
Dazu s. D. Westerkamp, Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und
64
S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV.
65
Dazu s. ebd., V.
Konstruktion der Philosophie, München 2009.
66
Zu ihm s. ebd., III.
67
S. Hirsch, Die Religionsphilosophie der Juden oder das Prinzip der jüdischen Religionsanschauung und sein Verhältnis zum Heidenthum, Christenthum und zur absoluten Philosophie, Leipzig, 1842 (Neudruck Hildesheim 1886).
68
Erschien Frankfurt/M. 1835–1865, Neudruck Hildesheim et al. 1986; dazu Salomon Ludwig Steinheim. Zum Gedenken. Ein Sammelband, hrsg. von H.-J. Schoeps, H.M. Graupe, G.-H. Goeman, Leiden 1966; zu allen: J. Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933;
Einführung
4.6
35
Historiographie, Autobiographie und Kunst
Als Teil der neuen empirischen Weltbetrachtung kann auch die neuerliche Hinwendung zur Historiographie69 verstanden werden, die im Judentum nach der hellenistisch-römischen Zeit (Flavius Josephus) zum Erliegen gekommen war. Für das 16. Jahrhundert sind in einer eruptiven Weise nicht weniger als zehn Geschichtswerke entstanden, die wohl als historiographische Reaktion auf die Katastrophe der Austreibung aus der iberischen Halbinsel verstanden werden kann.70 An vorderster Stelle ist ‘Asarja dei Rossi (ca. 1511–1577) zu nennen, der in seinem umfassenden Me’or ‘Enajim (Licht der Augen)71 als erster außerjüdische Zeugnisse zur Bearbeitung jüdischer Quellen herangezogen hat. Dieses neue historiographische Interesse ist dann zunächst wieder zum Erliegen gekommen, um erst mit der Aufklärung, in Mendelssohns Einleitung zu seiner Bibelübersetzung, in Isaac Marcus Josts (1793–1860) Geschichte der Israeliten 72 und unter dem Einfluss des deutschen Idealismus bei L. Zunz,73 A. Geiger74 und
J.B. Agus, Modern Philosophies of Judaism. A Study of Recent Jewish Philosophies of Religion, New York 1941. 69
L.A. Segal, Historical Conciousness and Religious Tradition in Azariah de’ Rossis Me’or ‘Einayim, 1989; Y.H. Yerushalmi, Clio and the Jews: Reflections on Jewish Historiography in the Sixteenth Century, in: D.B. Ruderman, Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York/London 1992, S. 191–218; R. Bonfil, How Golden was the Age of Renaissance in Jewish Historiography, in: Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, S. 219–251; S. Bezalel, Leone da Modena’s Historical Thinking, in: Jewish Thought in the Seventeenth Century, hrsg. von I. Twersky, B. Septimus, Cambridge Mass. 1987, S. 381–398; und s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II; Traditions- und Religionskritik, I. 5.
70
In europäische Sprachen übersetzte Beispiele: A. de’ Rossi, J. Weinberg (Trsl.), The Light of the Eyes, New Haven/London, 2001; J. Ha-Kohen, M. Wiener, Emek habbacha von R. Joseph ha Cohen, Leipzig, 1858; G Hameln, B. Pappenheim, Die Memoiren der Glückel von Hameln, Weinheim, 1994; G. Hameln, A. Feilchenfeld, Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln, Königstein, 1980 (Neudruck Bodenheim 1999); S. Ibn Verga, M. Wiener, Schevet Jehuda, Hannover, 1856; L. Modena, Das antitalmudische Werk Leons »Kol sakhal« (Stimme des Thoren in deutscher Übersetzung, in: S. Stern (Hg.), Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im VII. Jahrhundert, Breslau, 1902; L. Modena, T. Fishman (Trsl.), Shaking the Pillars of Exile. »Voice of a Fool« an Early Modern Jewish Critique of Rabbinic Culture, Stanford 1997.
71
Dazu unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II.
72
I.M. Jost, Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Zeit, Berlin
73
Zu ihm u. a. M.A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in
74
Zu ihm s. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, V.
1820–1847 (10 Bde.); ders., Geschichte des Judenthums und seiner Secten, Leipzig 1857. Deutschland 1749–1824, München 1994, hier weitere Literatur.
Einführung
36
vor allem H. Graetz75 wieder den Anschluss an die zeitgenössische nichtjüdische Historiographie zu gewinnen. Die Hinwendung zur Geschichte wurde von einem Interesse am Individuum und seiner Geschichte begleitet, so dass nunmehr auch die ersten hebräischen Autobiographien zu verzeichnen sind. So die von Jizchak Abravanel (1437– 1508), Ascher Levy aus Reichshofen76 Leone Modena (1571–1648),77 Uriel Da Costa (ca. 1585–1640) (Lateinisch),78 Glückel von Hameln (Jiddisch) (1645– 1724),79 und Jakob Emden (1697–1776)80. Auch trifft man nun viele Autoren, die ihre Porträts auf ihre Publikationen druckten, was bisher als völlig ausgeschlossen galt.81 Im 19. Jahrhundert hat sich die Suche nach einem neuen jüdischen Selbstverständnis vor allem im Synagogenbau ausgedrückt, der die neue selbstbewusste Situierung in Europa mit der langen, und ursprünglich orientalischen Tradition in Verbindung zu bringen suchte.82 Es treten aber auch erste Maler wie Daniel Oppenheim (1799–1882) und andere auf, die sich jüdischer Themen annahmen.83
75
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 1853–1870.
76
Asher Halevi, Die Memoiren des Ascher Levy aus Reichshofen im Elsass (1598–1635), hrsg.
77
S. die oben genannte Übersetzung von M.R. Cohen, The Autobiography.
78
U. Da Costa, C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel Da Costa. Mit Einleitung, Übertragung und
und übers. M. Ginsburger, Berlin 1913.
Regesten, Amsterdam/Heidelberg/London 1922; Uriel da Da Costa, H.W. Krautz, Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens, Tübingen 2001. 79
S. die oben genannten deutschen Ausgaben, eine neue jiddische Ausgabe von H. Turnjanski, Glikel. Sichronot 1691–1719, Jerusalem 2006; und s. E. Grözinger, Glückel von Hameln, Kauffrau, Mutter und Erste jüdisch-deutsche Autorin, Berlin 2004.
80
J. Emden, M.R. Hayoun (Übers.), Memoires de Jacob Emden, Paris, 1992. Und s. M.M. Faierstein, Jewish Mystical Autobiographies, New York-Mahwah 1999, von H. Vital und Jizchak Isaac Safrin von Komarno.
81
So z. B. die hier besprochenen Autoren Josef Schlomo Delmedigo und Leone Modena; vgl. dazu H. Künzl, Die jüdische Kunst zwischen Mittelalter und Moderne: das 16. bis 18. Jahrhundert, in: M. Graetz (Hg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 75–96.
82
H. Eschwege, Die Synagoge in der deutschen Geschichte, Wiesbaden 1980; H. HammerSchenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933), Hamburg 1981; H.P. Schwarz (Hg.), Die Architektur der Synagoge, Stuttgart 1988.
83
H. Künzl, Jüdische Kunst von der biblischen Zeit bis in die Gegenwart, München 1992; M. Magall, Kleine Geschichte der jüdischen Kunst, Köln 1984.
Einführung
4.7
37
Traditions- und Religionskritik
Das neue historiographische Interesse diente auch der Kritik an der Tradition. So hatte schon ’Elijahu Delmedigo in seinem Bechinat ha-Dat das Alter des in seinen Tagen zum ersten Mal gedruckten Sohar mit historischen Argumenten bezweifelt.84 Weiter ging die von Leone Modena im Jahre 1624 angeblich nur publizierte, tatsächlich aber von ihm verfasste Schrift Kol Sachal (Stimme eines Toren).85 In ihr bestreitet der Autor die Sinaizität und damit Gültigkeit der gesamten so genannten Mündlichen Tora, das heißt der gesamten nachbiblischen rabbinischen Tradition inklusive des Talmud. An seine Stelle setzt er einen aus den biblischen Texten abgeleiteten Rechtskodex, der fast die gesamten nachbiblischen Rechtstraditionen mit ihren zum Teil erheblichen Beschränkungen und Verschärfungen beiseite schiebt und damit auch das erklärte Ziel verfolgt, die Juden und Nichtjuden trennenden Gesetze abzuschaffen, was allerdings zugleich von einer eine kritischen oder polemischen Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Christentum begleitet werden konnte.86 Letzteres wird ein Thema bis ins 19. Jahrhundert herein bleiben.87 Ein wichtiges Kennzeichen der Neuzeit bis herab über die Aufklärung und in das 19. Jahrhundert ist die kritische Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition und deren Normativität. Schon Leone Modena selbst war durch die Hamburger Gemeinde aufgerufen, entsprechende Anwürfe durch Uriel da Costa in dessen Propostas contra a tradição zurückzuweisen.88 Dieser reagierte durch ein weiteres traditionskritisches Werk, Exame das tradições phariseas, in das er auch den Redaktionsprozess der Bibel einbezieht.89 In seiner Autobiographie, die er kurz vor seinem Selbstmord verfasste, ging er indessen noch einen Schritt weiter und bestritt nicht nur die Göttlichkeit der nachbiblischen rabbinischen Tradition, der so genannten Mündlichen Tora, sondern auch die des Mosaischen Gesetzes.90 In all dem ist er gewiss als ein Vorläufer von Baruch Spinoza zu betrachten.91
84
Zu ihm s. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B, 2; 5.
85
Zu ihr s. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, I.
86
S. Leone Modenas Magen wa-Herev (Schild und Schwert), übersetzt von A. H. Podet, A Translation of the Magen Wa-Hereb By Leon Modena 1571–1648. Christianity Through a Rabbi’s Eyes, Lewiston, Queenston, Lampeter 2001.
87
Dazu vgl. unten Kap. Neuorientierung, IV, VI.
88
Dazu s. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, II, I.
89
U. Da Costa, H.P. Salomon, I.S.D. Sassoon (Trsl., Notes and Introd.), Examination of Pharisaic Traditions. Exame das tradições phariseas, Facsimile of the unique copy [...], Leiden/New York/Köln 1993; und s. unten zu Da Costa, Kap. Traditions- und Religionskritik, II.
90
U. Da Costa, C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel Da Costa. Mit Einleitung, Übertragung und
91
C. Gebhardt, Die Schriften, S. XXXIII–XL.
Regesten, Amsterdam/Heidelberg/London 1922, S. 110–130; und s. unten zu Da Costa.
Einführung
38
Nachdem der Aufklärer Moses Mendelssohn das offenbarte Gesetz als Wesen des Judentums bezeichnet, und die wahre Religion alleine der universalistischen Vernunft zugeordnet hatte, verlegte schon sein »Nachfolger« David Friedländer (1750–1834) den Akzent des Judentums auf die natürliche »Religion«, um so die Bedeutung des Gesetzes in Abrede zu stellen oder gar als der bürgerlichen Integration der Juden im Wege stehend zu apostrophieren.92 Mit der aufkommenden Romantik, der Geschichtsphilosophie und dem Historismus wurde wiederum die Historiographie als Waffe gegen die unveränderliche Bedeutung der Gesetze eingesetzt. Der theologische Protagonist der Reformbestrebungen, der Rabbiner und spätere Hochschullehrer Abraham Geiger (1810–1874) konzipierte für sein »historisches Judentum« den Gedanken einer revelatio continua, die in jeder Generation von deren religiösen Genies vorangetragen wird, Neues setzt und das Alte relativiert oder abrogiert, das heißt auch das Gesetz.93
4.8
Die Rolle der Kabbala
Wie auch in der zeitgenössischen christlichen Kultur trat neben das Interesse an den neuen Wissenschaften oft bei denselben Männern ein tiefgehendes Interesse an den Lehren und magischen Potenzen der Kabbala. Herausragendes Beispiel ist der kretisch-jüdische Gelehrte und Arzt Josef Schlomo Delmedigo (1591– 1655), den seine für seinen Stand nicht untypische Laufbahn über Padua, Ägypten, Konstantinopel, Polen, Hamburg, Glückstadt, Amsterdam und schließlich Frankfurt am Main führte. Während Delmedigos erstes Buch Sefer ’Elim sich mit dem Aufruf zur Befassung mit moderner Wissenschaft befasst, mit Mathematik, Astronomie, dabei geo- wie heliozentrische (Galileo, Copernicus, Kepler) Weltbilder erörternd, Mechanik und Musiktheorie, ist sein zwei Jahre später publiziertes Werk Ta‘alumot Hochma (Tiefen der Weisheit) eine meist kabbalistische Anthologie.94 Im Gegensatz zu älteren Auffassungen, die kabbalistischen und magischen Neigungen hinwegzuinterpretieren oder als Verstellungsstrategien zu verstehen, hat die neuere Forschung auf den synkretistischen Charakter auch der jüdischen Kultur hingewiesen.95 Ein weiteres Beispiel ist der italie92
M.A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, München 1994, S. 66ff.
93
S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV, V; und s. A. Gotzmann, Jüdische Theologie im Taumel der Geschichte: Religion und historisches Denken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: U. Wyrwa (Hg.), Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/M. 2003.
94
S. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III. B.
95
D.B. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, 1988; ders., S. A. Yagel, A Valley of Vision. The Heavenly Journey of Abraham ben Hananiah Yagel, Philadelphia 1990 (Übers. aus dem Hebräischen und Einlei-
Einführung
39
nisch-jüdische Arzt, Kabbalist, Magier und naturwissenschaftliche Denker Abraham Jagel (1553–ca.1623), bei dem alle diese Aktivitäten untrennbar miteinander verwoben sind.96 Neben solchen in verschiedenen Welten lebenden Gestalten gibt es auch reine Kabbalisten in großer Zahl, welche die Wissenschaften ablehnen. Eine der herausragenden Gestalten der Zeit ist Menachem ‘Asarja di-Fano (1548–1620), der selbst kabbalistische Schriften verfasste und sie, sowie solche von anderen, zum Druck beförderte, Mosche Hajjim Luzatto 1707–1746)97 und viele andere. Ein deutliches Indiz der stetig wachsenden Bedeutung der Kabbala ist die parallele Erstdrucklegung des kabbalistischen Hauptwerkes Sohar in Cremona (1559–1560) und Mantua (1558–1560) und sodann die Erfolgsgeschichte der neu aus dem palästinischen Safed herübergetragenen lurianischen Kabbala.98 Man muss außerdem betonen, dass es nicht nur rationalistische Wissenschaftler waren, die mit ihrer Weltsicht die Kabbala verbinden konnten. Es waren auch die Talmudisten und Rechtsgelehrten, die zu den Verehrern der Kabbala gehörten wie ja die meisten Kabbalisten zugleich rabbinisch-halachische Bildung besaßen. Voran ist hier der Verfasser des bis heute autoritativ gebliebenen Rechtskodex, des Schulchan ‘Aruch, Josef Karo (1488–1575) zu nennen, der nicht nur kabbalistische Texte studierte, sondern einer der herausragenden Vertreter des so genannten »Maggidismus« war.99 Diese Männer behaupteten, dass ihnen himmlische Herolde (Maggid) erscheinen, oder dass diese durch ihren Mund redeten und Offenbarungen mitteilten. Karo schrieb diese Offenbarungen in seinem mystischen Tagebuch Maggid Mescharim (Künder des Rechten) nieder, Hajjim Vital (1542–1620), der wichtigste Autor der lurianischen Kabbala, in einem Traumtagebuch Sefer Hesjonot (Buch der Visionen).100 Die Kabbala galt nicht nur den Juden als antike jüdische Tradition, sondern auch vielen christlichen Gelehrten, die ihretwegen mit jüdischen Kabbalisten in einen regen Austausch traten, voran der florentinische Graf Pico della Mirandola in dessen platonischer Akademie, die auch der deutsche Johannes Reuchlin be-
tung); ders., Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven/London 1995. 96
S. die voranstehenden Arbeiten von Ruderman.
97
J. Hansel, Moïse Hayyim Luzzatto (1707–1746). Kabbale et philosophie, Paris 2004.
98
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 619–681; G. Necker, Einführung in die lurianische Kabbala,
99
S. R.J.Z. Werblowsky, Joseph Karo, Lawyer and Mystic, Philadelphia 1980; M. Altshuler,
Frankfurt/M. 2008. Prophecy and Maggidism in the Life and Writings of R. Joseph Karo, in: Frankfurter Judaistische Studien 33 (2006), S. 81–110. 100
S. die oben genannten Publikationen von Werblowski, Altshuler und Faierstein.
Einführung
40
suchte und von dort die christliche Kabbala nach Deutschland trug.101 Die Kabbala dieser Zeit hat im Vergleich zu deren früheren Phasen starke magische Akzente gesetzt,102 dies zeigt sich auch an der zunehmenden Verbreitung des jüdischen Wundermannes Ba‘al Schem (Tov) (Meister des {guten} Gottesnamens) im aschkenasischen Judentum ab etwa dem 13. Jahrhundert, der seit dem 16. Jahrhundert die deutlichen Züge des Renaissance-Magus trägt und mit Hilfe der heiligen Gottesnamen Kranke heilt und Wunder tut.103 Der Begründer des osteuropäischen Hasidismus, Israel Ben Elieser Ba‘al Schem Tov (1700–1760) ist nur ein spätes Glied in einer langen Reihe solcher magischer Wundertäter.104 Die Mystik dieser Zeit war vor allem durch den genannten Maggidismus geprägt sowie durch die ausgedehnte Seelenwanderungslehre der lurianischen Kabbala, welche die Prostration auf Gräbern vorsah.105 Der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende osteuropäische Hasidismus hat auf der Grundlage der älteren Kabbala alphabetologische, weltflüchtig-unitive und kommunalistische Formen der Mystik entwickelt.106 Die Kabbala war es auch, welche der Alchemie, die zunächst nur in naturalistischen Kategorien konzipiert war, einen spirituellen Überbau gab, indem sie die alchemistische Lehre von der einen Ursubstanz auf die Lehre von der Einheit der 101
A. E. Waite, The Holy Kabbalah. A Study of the Secret Tradition in Israel, Royston 1996 (zuerst 1924); J. Reuchlin, M. und S. Goodman, On the Art of the Kabbalah – De Arte Cabbalistica, Lincoln/London 1983 (Neudruck 1993); K. E. Grözinger, Reuchlin und die Kabbala, in: Reuchlin und die Juden, hrsg. von A. Herzig und J.H. Schoeps, Sigmaringen 1993, S. 175– 187; C. Zika, Reuchlin und die Okkulte Tradition der Renaissance, Sigmaringen 1998; F. Secret, Les Kabbalistes Chrétiens de la Renaissance, Milano/Neully 1985; J.L. Blau, The Christian interpretation of the Cabbala in the Renaissance, New York 1944; Ch. Wirszubski, Pico della Mirandola’s Encounter with Jewish Mysticism, Jerusalem 1989; und die Serie: The Kabbalistic Library of Giovanni Pico della Mirandola, hrsg. von G. Busi, Torino 2004ff.
102
M. Idel, Jewish Magic from the Renaissance Period to Early Hasidism, in: J. Neusner, E.S. Frerichs, Religion, Science, and Magic. In Concert and in Conflict, New York/Oxford 1989, S. 82–117; ders., The Magical and Neoplatonic Interpretations of the Kabbalah in the Renaissanca, in: D.B. Ruderman, Essential Paper on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York/London 1992, S. 107–168.
103
K.E. Grözinger, Jüdische Wundermänner in Deutschland, in: Ders. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt/M. 1991, S. 190–221; K.E. Grözinger, Wundermann, Helfer und Fürsprecher. Eine Typologie der Figur des Ba‘al Schem in aschkenasisch-jüdischen Volkserzählungen, in: A. Grafton, M. Idel, Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 169–192 (erweitert in: Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 714– 753).
104
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 709–764.
105
Ebd., S. 676–681; K.E. Grözinger, jüdische Mystik, in: E.-V. Kotowski, J. H. Schoeps (Hg.),
106
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 765–910; K.E. Grözinger, Jüdische Mystik, ebd., S. 127–137.
Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Darmstadt 2001, II, S. 127–137.
Einführung
41
göttlichen Selbstoffenbarung in den zehn Sefirot übertrug. Die Ursubstanz hatte sich demnach schon dort im göttlich-sefirotischen Bereich in die vier spirituellen Elemente entfaltet.107 Dies hatte zur Folge, dass in die Alchemie der magische Gebrauch der Gottesnamen und die damit verbundenen alphabet-kombinatorischen Techniken Einzug hielten, was dann auch von christlichen Kabbalisten, Magiern und Alchemisten übernommen wurde und zu der weitläufigen magischen Literatur im Übergangsbereich von jüdischer und christlicher Kultur führte, wozu nur das bekannteste Beispiel, Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) mit seiner De occulta philosophia (1533) genannt sein mag.108 Solchen glühenden Vertretern der Kabbala stehen allerdings auch mächtige Gegner gegenüber. Zu ihnen gehörte der schon genannte kretisch-italienische Philosoph und Talmudist ’Elija Delmedigo (ca. 1460–1497), der in seinem Buch Bechinat ha-Dat (Prüfung der Religion) die Kabbala heftig attackierte und zu Recht deren vorgebliches Alter aus der Antike, der frühtalmudischen Zeit, bestritt, mit ihr auch die behauptete frühtalmudische Autorschaft des Sohar.109 Hier muss auch der noch in anderem Zusammenhang zu nennende weltläufige venezianisch Rabbiner Leone Modena (1571–1648) genannt werden, der gleichfalls eine scharfe antikabbalistische Schrift unter dem Titel ’Ari Nohem (Schnaubender Löwe) verfasste,110 so auch der Altonaer Jakob Emden (1697–1776), der bis heute gültige Argumente gegen das angeblich hohe Alter (zweites Jahrhundert der Zeitrechnung) des Sohar vortrug.111
4.9
Erziehung, Bildung und Sprachen
Die Erziehung der jüdischen Jugend geschah traditionellerweise im Elternhaus oder bei von der jüdischen Gemeinde finanzierten Kinderlehrern, aber auch auswärts an anderen Orten. Den Gegenstand dieser Erziehung bildeten in der Regel die traditionellen jüdischen Disziplinen Bibel und Talmud. Im aschkenasischen Bereich blieb dies bis ins 19. Jahrhundert auch weitgehend so. In Italien dagegen hört man häufig, dass die Kinder darüber hinaus in der Landessprache, in Latein, Instrumental- und Vokalmusik und sogar im Tanz unterrichtet wurden, wie dies Leone Modena in seiner Autobiographie schildert.112 Im Gegensatz zum aschkenasischen Raum, wo dies erst unter großen Kämpfen errungen werden musste, hat man in Italien in der Synagoge schon im 16. bis 17. Jahrhundert in der Lan107
Patai, Jewish Alchemists, Princeton 1994, S. 152ff.
108
Ebd., S. 154.
109
S. unten Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B, 2.5.2.
110
S. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, I.
111
S. bei I. Tishby, F. Lachower, The Wisdom of the Zohar, Oxford 1991, I, S. 33–50.
112
Cohen, Autobiography, S. 5, 86.
Einführung
42
dessprache gepredigt. Die Predigten Modenas waren in Venedig so beliebt, dass sie gelegentlich sogar von christlichen Geistlichen und Fürsten besucht wurden.113 Es war diese Vertrautheit mit der Landessprache und mit ihren Intellektuellen, die Leone Modena, lange vor Moses Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum,114 dazu brachte, in der Landessprache, Italienisch, ein Werk für Nichtjuden zu verfassen, in dem die Riten des Judentums erklärt werden.115 Hinzu kommen die zahlreichen Publikationen der zum Judentum zurückgekehrten Marranos, die ihre Werke in Portugiesisch verfassten. Im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts war die Sprachenfrage, vor allem die deutsche Predigt und deutsche Gebete im Gottesdienst Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen und wurde eine der Trennlinien zwischen »Neologen« und Altgläubigen.116 Die Aufklärung brachte ein neues Interesse an der Erziehung. Dies zeigt sich an der Errichtung so genannter Freischulen für unbemittelte jüdische Kinder, die Einbeziehung nichtjüdischer Fächer in den Unterricht und der damit einhergehenden Definition eines »Religionsunterrichtes« für den, in Anlehnung an den protestantischen Usus, die völlig neue Literaturgattung des Katechismus entstand.117
4.10 Musik, Literatur und Theater Die jüdischen Gemeinden im Italien des 17. Jahrhunderts waren trotz ihrer räumlichen und gesellschaftlichen Ausgrenzung, nicht zuletzt durch die Pflicht einen farbigen »Fleck« oder ein entsprechendes Tuch am Hut zu tragen, eng mit dem
113
Ebd., S. 96, 117; M. Saperstein, Italian Jewish Preaching: An Overview, in: D.B. Ruderman, Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, S. 85–104; ders., Jewish Preaching 1200–1800. An Anthology, New Haven/London 1989.
114
Zu Mendelssohns Jerusalem s. unten Kap. Haskala, III.
115
Historia De Gli Riti Hebraici Dove Si Ha Breve, E Total Relatione Di Tutta La Vita, Costumi, Riti, Et Osservanze, De Gl’ Hebrei di questi tempi Di Leon Modena Rabi Hebreo Di Venetia, Paris 1637; die von Modena selbst zum Druck gegebene Version erschien 1638 in Venedig; deutsche Übersetzung von Rafael Arnold, Leon Modena. Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche, Wiesbaden 2007.
116
S. M. Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, S. 46ff.; W.S. Zink, Synagogenordnungen in Hessen 1815–1848. Formen, Probleme und Ergebnisse des Wandels synagogaler Gottesdienstgestaltung und ihrer Institutionen im frühen 19. Jahrhundert, Aachen 1998, S. 61–68, 71ff.; s. unten Kap. Neueorientierung, II.
117
I. Lohmann (Hg.): Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825), 2001; ders., Euchels Bildungskonzeption, in: Ch. Schulte et al. (Hg.), Isaac Euchel. Der Kulturrevolutionär der jüdischen Aufklärung, Hannover 2009.
Einführung
43
kulturellen Leben der Zeit verschmolzen. Seit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 nach der Zeitrechnung haben die rabbinischen Gelehrten zum Zeichen der Trauer die Musik auf den religiösen Bereich, das heißt Hochzeitsfeiern und in der Synagoge, wegen des sabbatlichen Arbeitsverbotes, dem auch die Instrumentenbedienung unterlag, auf den einstimmigen Lobgesang beschränkt.118 Im Jahre 1623 erschien jedoch in Venedig ein Band mit polyphonen Gesängen für die Synagoge unter dem Titel Ha-Schirim ’ascher li-Schlomo (Die Lieder Salomos) aus der Feder des Mantuaners Salamone Rossi (ca. 1570–1630) mit einführenden Worten des venezianischen Rabbiners Leone Modena, der diese Innovation zeittypisch als Wiederentdeckung der alten Tempelmusik erklärte. Dies ist der erste nachweisliche Bruch mit dem altrabbinischen Herkommen des nur einstimmigen Vokalgesangs für die Synagoge und der Versuch eine hochqualifizierte Kunstmusik in der Synagoge zu etablieren. Der Jerusalemer Doyen der jüdischen Musikwissenschaft, Israel Adler, hat mit gutem Recht darauf verwiesen, dass die Schaffung einer jüdischen Kunstmusik noch einige Jahrzehnte früher hinabzudatieren ist und zwar in die Kreise der von der Kabbala beeinflussten Bruderschaften.119 Im aschkenasischen Raum hat die synagogale Kunstmusik erst im Gefolge der Reformierungen des Judentums im 19. Jahrhundert Fuß gefasst.120 Die Akteure der italienischen Kunstmusik der späten Renaissance waren, wie auch Rossi, meist an den italienischen Fürstenhöfen als Musiker und Komponisten verpflichtet und versuchten, ihre Kunst auch im Rahmen ihres Judentums auszuüben. Dies geschah nicht zuletzt im Rahmen von Hochzeiten und anderen religiösen Familienfeiern, bei der Begehung des karnevalistischen Purimfestes mit seinen Purimspielen und in jüdischen Theatern. Leone Modena, der venezianische Rabbiner, hat offenbar selbst Chöre geleitet, Gedichte und Theaterstücke verfasst. Im deutschen Judentum war die Einführung der Orgel in den Gottesdienst im 19. Jahrhundert Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, zum einen wegen des sabbatlichen Arbeitsverbotes das auch die Instrumentenbedienung betrifft und zum anderen wegen der religiösen Besetzung dieses Instru118
K.E. Grözinger, Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur. Talmud
119
I. Adler, Synagogale Kunstmusik in Europa aus der Zeit vor der Emanzipation. Hebräische
Midrasch Mystik, Tübingen 1982, S. 237–247. Gesänge und Kantaten, in: K.E. Grözinger (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt/M. 1991, 237–255; ders., The Rise of Art Music in the Italian Ghetto, in: A. Altmann (Hg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies (Brandeis Univ.) 1967, S. 321–364; und s. D. Harrán, As Framed, So Perceived: Salamone Rossi Ebreo, Late Renaissance Musician, in: D.B. Ruderman, G. Veltri, Cultural intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 178–215; ders., Tradition and Innovation in Jewish Music of the Later Renaissance, in: D.B. Ruderman (Hg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, S. 474–501. 120
A. Z. Idelsohn, Jewish Music – Its Historical Development, New York 1929/1992.
44
Einführung
mentes durch die christliche Kirche.121 Das Purimspiel ist von Italien ausgehend auch in den aschkenasischen Bereich gelangt und hat in Anlehnung an das deutsche Fastnachtspiel weite Verbreitung gefunden. Mit der Aufklärung begann sich auch dort eine Professionalisierung des Theaters anzubahnen, die schließlich mit Abraham Goldfadens Gründung im rumänischen Jassy (1876) erreicht war.122
4.11 Messianische Bestrebungen und Bewegungen Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) und Portugal (1498) sowie aus den zahlreichen deutschen Orten hat offenbar die Hoffnung auf ein Nahekommen der messianischen Zeit gestärkt, welche die gegenwärtigen Heimsuchungen als Wehen des Messias verstehen lassen konnten. Eine der herausragenden Gestalten des spanischen Judentums, Don Jizchak Abravanel (1447–1508), der zunächst aus Spanien, dann aus Portugal vertrieben, nach Neapel gelangte, verfasste nicht weniger als drei Bücher mit messianischen Berechnungen und Topoi, um sich und seine Generation der Vertreibung zu trösten. Abba Hillel Silver zählt in seinem Standardwerk A History of Messianic Speculation in Israel123 für das 16. Jahrhundert nicht weniger als zwölf Autoren auf, die sich mit messianischen Spekulationen befassen, für das 17. Jahrhundert sind es immer noch neun. An wirklichen Messiasprätendenten nennt er für das 16. Jahrhundert den deutschen Ascher Lämmlein der 1502 bei Venedig auftrat, David Reubeni (ca. 1490–1535) und Schlomo Molcho (ca. 1500–1532), während für das 17. Jahrhundert der 1665 erfolgte Auftritt von Schabtai Zwi (1626–1676) zu nennen ist, der die gesamte europäische und vorderorientalische Judenheit in Aufruhr versetzte und selbst bei Christen Eindruck machte. Juden in ganz Europa, unabhängig von sozialer Stellung oder lokalen Umständen taten Buße in Erwartung des Aufrufes des Messias ins Heilige Land zu ziehen. Nicht wenige verkauften Hab und Gut, um für den Abmarsch bereit zu sein.124 Auch nachdem der »Messias« unter dem Druck des Sultans zum Islam übergetreten war und schließlich starb, bedeutete dies noch nicht das Ende der Bewegung. Denn die aus Safed über Italien nach Europa gedrungene lurianische Kabbala hatte Intrepretationshilfen bereitgestellt, welche auch diese Ereignisse als Stufen zur endgültigen Erlösung deuten konn-
121
Grözinger, Musik und Gesang, S. 40–48, 119–132.
122
Zur Geschichte des jiddischen Theaters s. auch E. Grözinger, Die jiddische Kultur im Schatten
123
A.H. Silver, A History of Messianic Speculation in Israel. From the First to the Seventeenth
124
G. Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt/M. 1992, S. 529–688.
der Diktaturen. Israil Bercovici – Leben und Werk, Berlin/Wien 2002. Centuries, Boston 1927 (wieder 1959).
Einführung
45
ten.125 Es gibt indessen auch Deutungen der sabbatianischen Theologie, nicht der Bewegung, welche in dieser weniger eine nationale politische Erlösungslehre sehen, sondern eine Lehre der Erlösung der Religion und Gottes samt seines Messias.126 Nach dem Scheitern des Sabbatianismus wurde der messianische Impetus mit unterschiedlichen Motivationen durch den ihm folgenden osteuropäischen Hasidismus, voran seines Stifters, Israel Ben ’Elieser, dem Ba‘al Schem Tov, aufgenommen, etwa derart, dass der Erfolg der hasidischen Bewegung den Messias herbeibringen würde, oder dass man in einzelnen hasidischen Meistern den Messias zu erkennen glaubte, oder ihnen die Fähigkeit zuschrieb, durch bestimmte Aktionen seine Ankunft zu beschleunigen.127
4.12 Die Kodifizierung des jüdischen Rechts Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass es zur Widersprüchlichkeit der jüdischen Neuzeit ebenso hinzugehört, dass das 16. Jahrhundert den Höhepunkt der Kodifizierung des jüdischen Rechtes im Schulchan ‘Aruch (Gedeckter Tisch) durch Josef Karo (1488–1575) und dessen kommentierende Rezeption für das aschkenasische Judentum duch den Krakauer Rabbiner Moses Isserles (1525/30–1572)128 brachte, an den sich nun eine weitere Kette der Kommentierungen anschloss. Es war auch die Zeit eines ausufernden Pilpul (scharfsinnige hypothetische Deutungsweisen), einer art pour l’art der Talmudauslegung, die allerdings von Autoren der Musar-(Moral)-Literatur,129 dem Maharal (Jehuda Ben Bezalel) von Prag (1525–1609),130 Jesaja Horowitz (1565–1630), Verfasser 125
Scholem, Sabbatai Zwi, S. 64ff., 871ff.; Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 669; s. den anschaulichen Bericht der Glückel von Hameln, Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln, übers. A. Feilchenfeld, Königstein 1980, S. 60ff.
126
Y. Liebes, Sabbatean Messianism, in: Y. Liebes, Studies in Jewish Myth and Jewish Messian-
127
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 753–760; und s. M. Idel, Messianic Mystics, New Haven/London
128
Zu ihm s. unten Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, III.
129
S. unten zu Hajjim Woloschyner, Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, IV; und K. Rosen,
ism, Albany 1993, S. 93–106. 1998.
Rabbi Israel Salanter and the Musar Movement, London1945; H. Goldberg, Israel Salanter: Text, Structure, Idea. The Ethics of an Early Psychologist of the Unconscious, New York 1982; M.G. Glenn, Israel Salanter. Religious-Ethical Thinker. The Story of a Religious-Ethical Current in Nineteenth Century Judaism, New York 1953; L.E. Eckman, The History of the Musar Movement 1840–1945, New York 1975; I. Etkes, R. Jisra’el Salanter we-Reschitah schel Tenu‘at ha-Musar, Jerusalem 1982; und den Roman von Chaim Grade, The Yeshiva, New York 1977 (aus dem Jiddischen 1967); Kitve R. Jisra’el Salanter, hrsg. von M. Fechter, Jerusalem 1972. 130
Zu ihm s. unten Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, II.
46
Einführung
der Schne Luchot ha-Brit (Die beiden Tafeln des Bundes), und anderen beklagt wurde. In dieser zuletzt genannten Literatur, wie auch in der verbreiteten Volkserzählung tritt die moralische Belehrung an die Stelle der zünftigen Rechtsgelehrtheit.
DAS RINGEN UM DIE VIELFALT WIDERSPRÜCHLICHER WAHRHEITEN IM ITALIEN DER FRÜHEN NEUZEIT I.
ERSTE ANZEICHEN DER VERÄNDERUNG – VORBEMERKUNG
Bevor in der Neuzeit größere Werke zum jüdischen Denken in umfassenden Darstellungen entstanden, gab es in zahlreichen Schriften, die unterschiedliche Themen oder auch nur Teilaspekte des jüdischen Denkens behandelten, vielerorts neue Einsichten, die von den Autoren zuweilen nur am Rande erwähnt oder überhaupt nicht explizit gemacht wurden. Da aber solche implizite oder nur nebenbei auftauchende neue Teil-Gedanken, die noch nicht zum umfassenden System gereift waren, für die Entstehung späterer Gesamtsichten oft zur Voraussetzung wurden, werden sie, abweichend von den beiden vorangegangenen Bänden, hier in ihrer Bruchstückhaftigkeit dargestellt. Die Wendung zu neuen Denkansätzen geschah vor allem unter dem Einfluss der Explosion des Wissens, sei es in neuen Wissenschaften oder sei es durch die Wiederentdeckung von Texten der Antike ohne deren Verfremdung durch die mittelalterliche Kommentierung. Bei all dem hatte die Erfindung des Buchdrucks eine entscheidende Bedeutung, worauf die Autoren zum Teil selbst hinwiesen, denn nun wurde auf bislang ungekannte Weise altes und neues Wissen bereitgestellt und für weite Kreise verfügbar gemacht. Und nicht nur dies, die neue Präsenz des gesamten Wissenspanoramas regte zum Vergleichen an und forderte die Gegenüberstellung geradezu heraus, wodurch bisher unbeachtet gebliebene Widersprüche sichtbar wurden und Verunsicherung auslösten, beziehungsweise nach Lösungen verlangten. Die Tatsache der neuen Vielfalt war indessen nicht nur eine quantitative Veränderung, sondern sie besaß einen qualitativen Wert. Alleine schon die Anhäufung und bloße Sichtung des überbordenden Wissens galt nun als wichtiger Schritt der Bildung, weshalb viele der hier zu nennenden Werke buchstäblich »enzyklopädischen« Charakter in mancherlei Gestalt annahmen. Schon die »unkommentierte« Zusammenstellung von Wissensbeständen bewirkte eine Veränderung des Bewusstseins, dies um so mehr, wenn nun das religiöse Denken gleichsam nur zu einer unter anderen Disziplinen wurde. Gewiss hatte dies schon seine Vorläufer in den philosophisch-theologischen Enzyklopädien des Mittelalters.131 Während aber die mittelalterlichen Ansätze zur Enzyklopädie noch eher philosophische Doxographien blieben, die kaum weitere Verbreitung fanden, 131
Dazu s. The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, hrsg. von S. Harvey, Dordrecht/Boston/London 2000; A. Melamed, Hebrew Italian Renaissance and Early Modern Encyclopedias, in: Rivista di storia della filosofia 40 (1985), S. 91–112.
48
Anzeichen der Veränderung
trifft man nun auf enzyklopädische Werke, die wegen ihres zuweilen sehr praktisch-konkreten Zuschnitts und dank des Buchdrucks weitere Leserkreise fanden. Eine Enzyklopädie bedeutet hier jedoch nicht, dass das Wissen in alphabetisch geordneten Artikeln vorgeführt wird – aber auch das hat es mit Jizchak Lamprontis Pachad Jizchak 132 gegeben. Vielmehr gab es durchaus unterschiedliche Organisationsprinzipien zur Darstellung des Wissensbestandes. Das Entscheidende ist, dass in solchen Büchern dem Leser all das vorgetragen wird, was die Autoren für den Leser als wissenswert erachten. Neben der puren Wissensexplosion ist in der frühen Neuzeit noch eine weitere zentrale Veränderung eingetreten. Das Motto, mit dem der mesopotamische jüdische Philosoph, Sa‘adja Ga’on133 das jüdische Mittelalter eingeläutet hatte, ist nun radikal in Frage gestellt worden. Nämlich die Auffassung, dass sich Offenbarung und Vernunft nicht widersprechen, sondern dieselbe Botschaft nur in verschiedenem Sprachgewand vermitteln. Wo sich Offenbarung und Vernunft zu widersprechen schienen, griff man im Mittelalter zur philosophischen Allegorese und zu der Erklärung, dass die Offenbarung in Bildern und bildhaften Formeln sprach, damit sie auch vom einfachen Menschen verstanden würde, während die Vernunft eine höhere und klarere Einsicht in das selbe Wissen vermittelte. Desgleichen wurde jetzt in der Neuzeit die spekulative Vernunft, welche die Gebäude der mittelalterlichen Metaphysik entworfen hatten, nachhaltig durch die Bindung des Intellekts an die empirische Erfahrung auf den Boden der Realitäten zurückgezwungen. All diese grundsätzlichen Veränderungen sind in der einen oder anderen Form bei den im Folgenden zu besprechenden Autoren anzutreffen.
132
Pachad Jizchak, von Isaac Lampronti (1679–1756), die Bände ’Alef bis Mem erschienen zu Lebzeiten Lamprontis, der Rest zwischen 1864–1874 bei Mekize Nirdamim (Berlin), ein Nachdruck der Ausgabe Venedig (u. a.) 1750–1888 erschien 1970 in Jerusalem.
133
Zu ihm Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362ff.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
49
II.
‘ASARJA (BUONAIUTO) DEI ROSSI (CA. 1511 – CA. 1578) UND SEIN ME’OR ‘ENAJJIM
1.
Leben und Werk
Über das Leben und den Beruf des aus einer angesehenen und reichen italienisch-jüdischen Familie stammenden ‘Asarja dei Rossi, hebräisch ‘Asarja min ha-’Adumim, ist nur wenig bekannt.134 Die Lebensdaten sind aus einer Bemerkung in seinem Hauptwerk erschlossen. Des weiteren weiß man, dass er in Mantua geboren wurde, vorübergehend in Ancona und Sabbioneta weilte, hernach in Bologna zu finden war und schließlich in Ferrara lebte, wo er im Jahre 1571 das fürchterliche Erdbeben miterlebte, um schließlich wieder nach Mantua zurückzukehren, wo er zwischen 1573–1575 sein Buch Me’or ‘Enajjim (Leuchte für die Augen) zum Druck vorbereitete. Das Erdbeben von Ferrara, das er im ersten Teil seines Me’or ‘Enajjim unter der Überschrift Kol ’Elohim (Stimme Gottes) beschreibt und reflektiert, war nach eigenem Bekunden der Auslöser für seine schriftstellerische Tätigkeit. Der zweite Teil des Buches, unter dem Titel Hadrat Sekenim (Preis der Ältesten) ist eine erstmalige Übersetzung des so genannten Aristeas Briefes ins Hebräische, einer apokryphen Schrift, welche von der wunderbaren Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische auf Geheiß des ägyptischen Ptolemäers, Ptolemäus II Philadelphos (285–246 v.d.Z.), durch zweiundsiebzig (darum Septuaginta, lat. 70) der Ältesten der Juden aus Jerusalem berichtet. Der dritte, umfangreichste, Teil des Buches besteht, unter dem Titel ’Imre Bina (Worte der Einsicht), aus historiographischen Essays zur biblischen und antiken jüdischen Geschichte. ’Imre Bina ist, auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht, der wichtigste Teil des Werkes.135 Er besteht aus sechzig Kapiteln in vier 134
Zur Biographie s. Zunz, Jomtov Lipman, Toledot R. ‘Asarja min ha-’Adumim, in: Kerem Hemed V (1841), S. 131–158, VII (1843), S. 119–124 (beigedruckt in ‘Asarjas Mazref la-Kesef, Edinburg 1854; und in Me’or ‘Enajjim & Mazref la-Kesef, Wilna 1865–1863 s. unten); R. Bonfil, in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Kitve ‘Asarja min ha-’Adumim, Jerusalem 1991; S.W. Baron, ‘Azarjah de’ Rossi: A biographical Sketch, in: ders., History and Jewish Historians, Philadelphia 1964, S. 167–173, 405; J. Weinberg, Azariah dei Rossi, Towards a Reappraisal of the Last Years of his Life, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa 3,8 (1978), S. 493–511; I. Zinberg, A History of Jewish Literature. Italian Jewry in the Renaissance Era, New York 1974.
135
(1.) Die erste von ‘Asarja selbst vorbereitete Ausgabe erschien im Dezember 1573 in Mantua. (2.) Nach einem von dem venezianischen Rabbiner Samuel Juda Katzenellenbogen organisierten Protestaufruf gegen das Buch schritt ‘Asarja zu einer zweiten leicht revidierten Version. (3.) Nach dieser revidierten Version druckte Jizchak Levi im Jahre 1794 das Buch erneut in Berlin; (4.) dieser Ausgabe folgte ein Neudruck in Wien, 1829–1830; (5.) 1863–1865 gab Jizchak Eisik Ben-Ja‘akov das Buch in Wilna heraus; (6.) ihr folgte die bis heute beste Ausgabe
‘Asarja dei Rossi
50
Traktaten. Die hier verhandelten Themen sind unter anderen: Philo von Alexandrien und die jüdischen Gruppierungen seiner Zeit, jüdische und christliche Traditionen über die Entstehung der Septuaginta, die Geschichte der Juden in Alexandria und in der Cyrenaika, der Bar Kochba Krieg, die verlorenen zehn Stämme Israels, anscheinend vernunftwidrige Haggadot der Rabbinen, die in der alten Geschichtsschreibung verwendeten Kalender und die Rolle der jüdischen JahresZählung seit der Schöpfung, die Kleider der Priester, die Bedeutung von Omen, alte jüdische Münzen und das Alter der hebräischen Sprache und Schrift.
2.
Historiographische Essays aus jüdischen und nichtjüdischen Quellen
Die gezeichnete Fülle von anscheinend nicht zusammenhängenden Themen in Me’or ‘Enajjim ist jedoch durch etwas für die Entwicklung des jüdischen Denkens Entscheidendes zusammengebunden. Das, was diese Texte vereint, ist, dass sie allesamt mit historischen Themen zu tun haben und dass diese Themen aus der jüdischen Geschichte in zahlreiche nichtjüdische historische Zeugnisse eingebettet sind. ‘Asarja dei Rossi ist ein enzyklopädisch arbeitender Historiker. Und damit ist er ein absolutes Novum in der jüdischen Geistesgeschichte. Das Enzyklopädische zeigt sich daran, dass ‘Asarja in seinen Essays zu den einzelnen Themen nicht weniger als über 150 jüdische und mehr als 100 nichtjüdische Quellen zitiert und diskutiert. Zu den jüdischen Texten gehört außer der Bibel natürlich die gesamte antike rabbinische Literatur, die nachtalmudischen Texte, aber auch die von der rabbinischen Tradition ausgeschlossenen jüdischhellenistischen Texte wie Philo von Alexandrien und Josephus Flavius. Hinzu treten christliche Texte, das Neue Testament, die Kirchenväter, Kirchenhistoriker wie Eusebius von Caesarea, sodann Augustinus, Thomas von Aquin und weitere Autoren, schließlich Texte der klassischen griechischen und lateinischen Philovon David Kassel in Wilna, 1864–1866. Im Jahre 1576 hatte Asarja im Laufe der anhaltenden Kontroverse um sein Buch eine kürzere Zusammenfassung des Teiles zur jüdischen Chronologie unter dem Titel Mazref la-kesef (Silber-Schmelztiegel) verfasst, die er aber nicht mehr selbst publizierte. Diese erschien zum ersten Mal im Druck in Edinburg, 1854 unter Zwi Philipowski und wieder als Teil der Ausgabe des Me’or (Nr. 5) und (Nr. 6). Im Jahre 1991 gab R. Bonfil eine Anthologie mit Texten aus beiden Werken mit einer lesenswerten Einführung heraus, Kitve ‘Asarja min ha-’Adumim, Mivchar Perakim mi-toch Sefer Me’or ‘Enajjim we-Sefer Mazref la-Kesef, Jerusalem; dazu vgl. R. Bonfil, How Golden was the Age of the Renaissance in Jewish Historiography, in: D.B. Ruderman (Hg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York/London 1992, S. 219–251. Eine englische Übersetzung des Me’or samt Einleitung: J. Weinberg, The Light of the Eyes, Azariah de’ Rossi, New Haven/London 2001.
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sophie und Literatur, herab bis in ‘Asarjas Gegenwart. Mit einer solchen Bibliothek bricht ‘Asarja mit dem alten rabbinischen Grundsatz, der die Lektüre nichtjüdischer Bücher verbot.136 Und er tut dies nicht beiläufig, sondern erklärtermaßen, wenn er, sein Einführungskapitel zu ’Imre Bina zusammenfassend, sagt: »Und siehe, nachdem was in Kapitel zwei ausführlich dargelegt wurde, ist es ja klar, dass in allgemein weltlichen Angelegenheiten, wie in dieser Untersuchung, von der keinerlei Gesetzes- und Gebotserfüllung abhängt, jeder Schriftsteller von den Völkern der Welt vertrauenswürdig ist [...].«137 Aus dieser kurzen Bemerkung geht zugleich hervor, was ‘Asarja auch anderwärts betont, nämlich dass alles, was nicht unmittelbar die Gebotserfüllung betrifft, zu diesem neutralen Bereich gehört, mithin auch das, was man gemeinhin unter Theologie oder Glaubenslehre verstehen mag.
3.
Prisca theologia und historische Wahrheit
‘Asarjas Grundsatz der Freiheit zur Diskussion von theologisch-philosophischen Fragen ist es, der ihm die Freiheit zu ideengeschichtlichen Vergleichen verschafft. Hier huldigt er zugleich einer bei vielen Renaissance-Autoren verbreiteten Auffassung, nämlich dass in den alten Texten der verschiedenen Völkern alte Wahrheiten bewahrt wurden, die der doctrina christiana oder respektive judaica entsprechen. Es ist also die Lehre von einer prisca theologia, einer alten Theologie die durch die Jahrhunderte in allen Völkern verbreitet war. So sagt er zum Beispiel über die in seinen Tagen viel diskutierte »Hermetische Literatur«: »Und dieser Hermes war groß genug, um von der Naturwissenschaft und Astrologie zur Theologie voranzuschreiten. Und er verfasste für die Ägypter in ägyptischer Sprache und für die Griechen in Griechisch Bücher speziell zur Gotteslehre, eines mit Namen Poimandres/Pimander [...], dessen Gegenstand Gott und seine Fähigkeiten ist, und das zweite Asklepius, das vom Willen Gottes handelt. Und jeder der sie sieht wird wahrlich erkennen, dass er dabei, obgleich er von einem fremdstämmigen Volk stammt, sehr eng in den Spuren der Tora des Moses geht.«138 Dies ist so, meint ‘Asarja, weil Hermes gewiss von den Machttaten Gottes an seinem Volk Israel in Ägypten gehört habe und auch von der Sinaioffenbarung und sich dann aus Büchern über all das informiert habe. Hermes, so glaubt
136
Mischna, Sanhedrin 10,1.
137
Me’or ‘Enajjim, ’Imre Bina, c. 29, Kassel, S. 276, Weinberg, S. 407.
138
Me’or, ’Imre Bina, c. 4, Kassel, S. 101, Weinberg, S. 116.
‘Asarja dei Rossi
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‘Asarja, habe wie der andere, dieses Mal jüdische, Ägypter, nämlich Philo, dem ‘Asarja den bezeichnenden hebräischen Namen Jedidja (Freund-Jah’s) gibt, auch über die Schöpfung geschrieben. Beide, Hermes und Philo, taten dies, so ‘Asarja, mit der platonischen Terminologie von der Emanation, wie auch die Kabbalisten und die von ihnen beeinflussten christlichen Kabbalisten, welche diese Emanation »Sohn Gottes« nennen.139 Nach diesen Darlegungen kommt ‘Asarja zu dem erstaunlichen Schluss: »Solange du nicht die Grenze überschreitest und [Gott] Körperlichkeit zuschreibst, sondern jeweils zu unterscheiden weißt, dass das, was in unserer Erkenntnis geteilt, in Ihm tatsächlich eins ist [brauchen wir nicht besorgt zu sein]. Dann brauchen wir uns nicht über die verschiedenen Benennungen zu ereifern, sei es Sohn, oder Emanation, Licht, Sefira oder Idee, wie Plato sie zurecht nennt. Dies hat der gelehrte Galen in seinen medizinischen Büchern mehrfach gesagt, nämlich, solange die Gelehrten in der Sache übereinstimmen, ereifern wir uns nicht, wenn sie sich in der Terminologie unterscheiden.«140 Es ist hier schon der Gedanke von Moses Mendelssohn vorweggenommen, dass in Sachen der Philosophie und Theologie große Freiheit bei den Juden herrsche, hingegen das Gesetz derjenige Bereich der Tradition sei, an dem nicht gerüttelt werden dürfe. Dieser Grundsatz lässt sich natürlich nur da aufrechterhalten, wo man – wie später Moses Mendelssohn – das Judentum zuallererst mit der Kategorie des Gesetzes definiert und im Bereich der Theologie nur wenige philosophische Standards einzuhalten sind, welche das Judentum mit anderen Religionen teilt. Diese Freiheit der Heranziehung nichtjüdischer Literatur dient nun ‘Asarja bei der Darlegung aller historischer Fragen,141 die er erörtert. So auch bei der Thematik, welche erwartungsgemäß142 die meiste Unruhe bei seinen Widersa139
‘Asarja hält es darum sogar für möglich, dass die von den Christen den jüdischen Kabbalisten unterschobene Deutung des Trishagion tatsächlich von diesen verfasst sein könnte. S. bei Weinberg, S. 117.
140
Me’or, ’Imre Bina, c. 4, Kassel, S. 101, Weinberg, S. 117.
141
Zu ‘Asarjas Historiographie s. S.W. Baron, Azarja de’ Rossis Historical Method, in: ders., History and Jewish Historians, S. 205–239, 422–442; (Frz. in: REJ 86 (1928), S. 151–175; 87 (1929), S. 43–78. R. Bonfil, Some Reflections on the Place of Azariah de Rossi’s Meor Enayim in the Cultural Milieu of Italian Renaissance Jewry, in: Jewish Thought in the Sixteenth Century, hrsg. von B.D. Cooperman, Cambridge Mass. 1983, S. 23–48; ders. How Golden Was the Age of the Renaissance for Jewish Historiography?, in: Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, hrsg. von D.B. Ruderman, S. 219–251
142
Das sagt ‘Asarja selbst, Me’or, II, 25; Kassel, Weinberg, S. 369.
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chern ausgelöst hatte, nämlich bei der Erörterung der Frage über den jüdischen Kalender. Für die Zeitgenossen ‘Asarjas war es selbstverständlich, dass die Juden die Weltgeschichte seit dem ersten Tag der Schöpfung zählen. ‘Asarja stellt demgegenüber zunächst an den biblischen und nachbiblischen jüdischen Quellen fest, dass dies nicht immer der Fall gewesen war, sondern die Zählung nach den Weltjahren eine nach dem Abschluss des Talmud eingeführte rabbinische Konvention sei. Zuvor habe man ganz andere Ausgangspunkte für die Chronologie gehabt, etwa den Exodus, die Tempelzerstörung, oder nach den Regierungsjahren von Königen, auch nichtisraelitischer, oder nach der so genannten (seleukidischen) Dokumentenära.143 Außerdem stellt ‘Asarja fest, dass es auch bei den griechischen und lateinischen Autoren Differenzen gegeben habe, ab wann etwa die Dokumentenära zu zählen sei, mit anderen Worten, dass die Kalenderzählungen regional verschiedenen Konventionen folgten.144 Die in seiner eigenen Zeit gebräuchliche jüdische anno mundi Zählung kann ‘Asarja demnach erst für die gaonäische Zeit mit Rav Scherira Ga’on (906–1006) erkennen, also nur sechshundert Jahre vor seinen eigenen Tagen. Dieser anno mundi Kalender ist also nicht, wie die meisten seiner Zeitgenossen glaubten, eine Offenbarung vom Sinai.145 Die Quelle für diese Zählung seit der Schöpfung ist die, wohl im zweiten Jahrhundert der Zeitrechnung entstandene Baraita146 Seder ‘Olam Rabba (Die große Weltordnung), in welcher tatsächlich die biblischen Daten der Mosesbücher sowie die Angaben des so genannten deuteronomistischen Geschichtswerkes und bis Esra und Nehemia in einer chronologischen Gesamtschau dargestellt werden, die sich aber, wie gesagt, erst sehr viel später durchgesetzt hatte.147 In diesem Werk, dem Seder ‘Olam rabba, wird allerdings die persische Epoche statt ihrer tatsächlichen Dauer von 221 Jahren,148 auf 34 Jahre149 verkürzt, ein Fehler, den ‘Asarja unter Einbeziehung der nichtjüdischen Quellen nachweist. Desgleichen diagnostiziert ‘Asarja weitere Rechnungsdifferenzen, so hinsichtlich der Dauer der ägyptischen Gefangenschaft und der Epochen der beiden Jerusalemer Tempel.150 All das hat natürlich die Konsequenz, dass auch die rabbinische anno mundi Zählung nicht die wirkliche Zahl der Schöpfungsjahre repräsentiert. Daraus könnte man die Ungültigkeit der danach datierten Dokumente reklamie143
Me’or, ’Imre Bina, c. 25, Kassel, S. Weinberg, S. 369; und vgl. Weinberg, S. XXVII.
144
Me’or, II, 23, Kassel S. 249; Weinberg, S. 359f.
145
Me’or, ’Imre Bina, c. 25, Kassel, S. 257, Weinberg, S. 373.; und vgl. ebd., II, 25, Kassel, S.
146
Nicht in die Mischna inkorporierter Text.
147
D.h. die biblischen Bücher von Josua bis zu den Königsbüchern.
148
’Imre Bina, III, 42, Kassel, S. 361, Weinberg, S. 533.
149
’Imre Bina, II, 22.25; Kassel, S. 245, 256 (zu ergänzen nach Babyl. Talmud,‘Avoda Sara 9a),
150
Me’or, ’Imre Bina, II, 28, Kassel, S. 270, Weinberg. S. 394.
259, Weinberg, S. 377.
Weinberg, S. 352, 371.
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ren, mehr aber noch, wird damit jegliche messianische Spekulation aufgrund etwa der apokalyptischen Zahlen des Daniel-Buches ad absurdum geführt.151 Was will ‘Asarja mit solchen kritischen historiographischen Forschungen erreichen? Damit will er erklärtermaßen nicht die rabbinische Tradition und Gesellschaftsordnung umstoßen.152 Im Gegenteil, mehrfach betont ‘Asarja seine Treue zur rabbinischen Tradition und seinem Willen diese aufrecht zu erhalten. Hinsichtlich des Kalenders sagt er deshalb: »Ich will auf keinerlei Weise Zweifel säen oder [fehlerhafte Veränderungen] an all diesen Festlegungen behaupten, auch will ich unseren früheren Rabbinen, oder R. Hillel und seinem Gerichtshof nicht irgend welche Irrtümer und Torheiten zuschreiben, denn gewiss sahen und kannten sie alles, was wir oben dargelegt haben. So war es weise und gut dass sie hinsichtlich unserer eigenen Tradition übereingekommen waren und wir zu deren Einhaltung verpflichtet wurden, bis [...] für Zion der Erlöser als Lehrer des Rechtes kommt. [...]«153 Die erst in nachtalmudischer Zeit von den Rabbinen rezipierte anno mundi Zählung will ‘Asarja demnach ausdrücklich anerkennen. Allerdings erklärt er sie zu dem, was sie tatsächlich ist, nämlich zu einer von den rabbinischen Gelehrten eingerichteten Konvention, und nicht einer Zählung die den wirklich seit der Schöpfung verstrichenen Jahren entspricht. Der in ‘Asarjas Tagen und bis heute befolgte jüdische Kalender ist demnach eine menschliche Einrichtung und nicht eine göttliche Offenbarung. Dies gilt, auch wenn ‘Asarja die in den fünf Büchern der Tora des Moses angegebenen Zahlen als Offenbarung anerkennt. Die Ungenauigkeiten sind erst in den späteren menschlichen Fortschreibungen entstanden. Aus dem bislang beschriebenen Umgang ‘Asarjas mit den Daten der Vergangenheit wird deutlich, dass Geschichtsschreibung für ‘Asarja nicht in erster Linie die Nacherzählung von überlieferten Ereignissen oder gar der Stationen einer Heilsgeschichte ist, sondern die Erforschung der historischen Wahrheit mit Hilfe des Vergleiches unterschiedlicher Daten aus allen zur Verfügung stehenden Quellen, auch den nichtjüdischen.154 Die Historiographie ‘Asarjas entspricht so-
151
Vgl. Me’or, ’Imre Bina, III, 43.
152
L.A. Segal, Historical Consciousness and Religious Tradition in Azariah de’ Rossis Me’or
153
Me’or, ’Imre Bina, III, 40, Kassel, S. 344; Weinberg, S. 507.
154
Zu den entsprechenden Zielen in ‘Asarjas italienischem Text: Osservazioni di Buonaiuto de’
‘Einayim, Philadelphia 1989.
Rossi ebreo sopra diversi luoghi degli Evangelisti nuovamente esposti secondo la vera lezione siriaca (1577) MS Angelica Library, Rom, Narducci MS. 1948; s. J. Weinberg, The Beautiful
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mit, nach R. Bonfil, nicht dem im 16. Jahrhundert üblichen Paradigma der klassischen lateinischen Historiographen, dem die anderen historisch interessierten jüdischen Autoren dieser Zeit folgten,155 nämlich einer narratio rerum gestarum, das heißt einer Erzählung der Taten vor allem der Könige und großer Personen samt daraus ableitbarer moralischer Schlussfolgerungen. Was ‘Asarja tat, ist in der jüdischen Historiographie vollkommen neu und findet sein Pendant eher in der christlichen Kirchengeschichtsschreibung, in der es auch nicht um die Wiederholung der ja schon im Neuen Testament beschriebenen Heilsereignisse geht. Vielmehr geht es dort wie bei ‘Asarja um die Suche und Erforschung der historischen Wahrheit an einzelnen ausgewählten, natürlich auch für die jeweilige Gegenwart relevanten Themen.156 Also nicht Erzählung der Geschichte, sondern Erforschung der historischen Wahrheit ist das Ziel.
4.
Ideengeschichte
Die Erforschung der historischen Wahrheit bedeutet aber nicht die Suche nach einer ontologischen Wahrheit, dies hat sich schon an der Kalenderfrage erwiesen, sondern nach der historischen Wahrheit, also danach was wer wann, was und warum getan oder gedacht hat. Besonders dringlich stellte sich die Wahrheitsfrage natürlich angesichts der rabbinischen Haggada mit ihren teilweise für neuzeitliches Denken nicht mehr nachvollziehbaren Aussagen. Diese wurden ja schon von mittelalterlichen Rationalisten wie Maimonides als irrational und damit wahrheitsfern kritisiert, weshalb man sie allenfalls metaphorisch zu verstehen habe. Auch hier geht ‘Asarja einen neuen Weg, nämlich den Weg des Literaturhistorikers und Ideengeschichtlers, der versucht, nicht nach der Wahrheit der geäußerten Gedanken zu fragen, sondern nach deren Zugehörigkeit, Ursprung und Verstehenskontext, wohl wissend, dass es auch in diesen Dingen, wie bei den erörterten Kalenderfragen partikulare Wahrheiten oder Auffassungen gab und gibt. Allerdings ist auch eine solche »distanzierte« Traditionsforschung nicht ohne revolutionären Stachel, versteht sich doch die rabbinische Haggada als Schriftauslegung, ja noch mehr als sinaitische Tradition, als mündliche Tora und erhebt so recht eigentlich einen absoluten Wahrheitsanspruch. Soul: Azariah de’ Rossi’s Search for Truth, in: Cultural Intermediaries, Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, hrsg. von D.B. Ruderman, G. Veltri, Philadelphia 2004, S. 109–126. 155
Eljahu Capsali, Seder ‘Olam Suta, eine Geschichte der osmanischen Türken samt der von Venedig und des zeitgenössischen Judentums; Josef ha-Kohen, Divre ha-Jamim le-Malke Zarfat u-Veth ’Otoman ha-Togar, eine Geschichte der französischen und osmanischen Könige; David Gans, Zemach David, eine Chronologie der jüdischen Geschichte samt einer kurzen Weltgeschichte; Josef Sambari, Divre Josef, Eine Weltchronik seit der Schöpfung bis 1672.
156
R. Bonfil, Kitve ‘Asarja, S. 62–77; und ders., How Golden, in: Essential Papers.
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‘Asarjas Umgang mit solchen nicht mehr akzeptablen haggadischen Aussagen wird an dem folgenden Beispiel besonders anschaulich. Laut dem Babylonischen Talmud157 fragte Alexander der Mazedonier (der Große) die jüdischen Gelehrten des Südens: »Welche Entfernung ist größer, die vom Himmel zur Erde, oder die von Ost nach West.« Die Antwort der Rabbinen lautete: »Die vom Osten zum Westen [ist größer]. Dies ist zu beweisen: Ist die Sonne im Osten, so kann jeder auf sie schauen, ist die Sonne im Westen, so kann jeder auf sie schauen, ist die Sonne im Zenith [des Himmels], so kann sie niemand anschauen.« Ihnen gegenüber sagen die anderen rabbinischen »Weisen«, beide Entfernungen seien gleich und belegen dies mit den Schriftversen Ps. 103, 11f, wo es heißt: »denn so hoch der Himmel über der Erde ist« und »so fern der Osten vom Westen ist.« Allen möglichen nachtalmudischen Erklärungsversuchen dieser eigenartigen Antworten gegenüber verweist ‘Asarja auf ein grundlegendes Problem. Er weist darauf hin, dass die Antworten der Rabbinen von einem völlig anderen Weltbild ausgingen, als dem des ptolemäischen, nach welchem die Erde eine Kugel ist, die im Zentrum der Sonnenlaufbahn steht. Vielmehr, so erklärt ‘Asarja, glaubten die Rabbinen, die Erde sei eine flache Scheibe, über welcher sich der Himmel gleich einer übergestülpten Halbkugel wölbt. In einem solchen Weltbild lassen sich die Antworten der Weisen tatsächlich leichter verstehen. Diese Einsicht genügt ‘Asarja allerdings noch nicht. Ihm ist es wichtig nachzuweisen, dass die alten Rabbinen nicht einfach unwissend oder einfältig waren, sondern dass sie sich sehr wohl in die Bildungslandschaft ihrer Zeit einfügten: »Du siehst ja, dass auch die Gelehrten der Völker diesbezüglich verschiedene Auffassungen hatten. Du siehst dass der Philosoph [Aristoteles] im zweiten Kapitel seiner Meteorologica, wo er über das Erdbeben spricht, dem Anaxagoras widerspricht, weil dieser sagte, die Erde sei flach. Ebenso sahest du bei dem, was wir in der Einleitung des Buches über die Vielzahl der Auffassungen der Philosophen hinsichtlich der Ursachen von Erdbeben anführten, dass es solche gibt, welche sagten, sie sei flach. Außerdem findest du auch dass Plutarch in ›Einige Meinungen der Philosophen‹158, in welchem er die zahlreichen Auffassungen in dieser Sache bringt, sagt: ›Thales und die Stoiker sagen, die Erde sei eine Kugel, während Anaximander meint sie sei wie eine Säule, und Anaximenes wie ein Tisch und Leucippus wie ein Tambur. Demokrit sagte sie ähnele einem flachen, in der Mitte leicht vertieften Gefäß.‹ So siehst du, viele Aussagen unserer Weisen, seligen Angedenkens, können von jedem verständigen Menschen dahingehend beurteilt werden, dass sie
157
Babylonischer Talmud, Tamid 31b.
158
De placitis philosophorum.
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den Auffassungen der Gelehrten der Völker entsprechen, die an die Flächenhaftigkeit der Erde glauben.«159 Die für das zeitgenössische Denken ‘Asarjas zum Teil anstößigen Auffassungen der Rabbinen wie sie in der Midrasch-Literatur und den Talmudim zu finden sind, werden von ihm demnach als zeit- und schulbedingte Auffassungen erkannt, die allenfalls als Meinungen neben anderen stehen können, nicht aber Offenbarungscharakter haben, oder sonstwie Autorität beanspruchen können. Es gilt hier, was ‘Asarja im Zusammenhang seiner Kalendererörterungen einmal sagte: »Wir haben uns in die Position von Verteidigern [der Meinungen] beider Seiten versetzt und deren uns wahrscheinlich scheinende Herkunft dargelegt.«160 Eine absolute Autorität in allen Dingen, welche nicht die Halacha betreffen, gibt es darum nach Auffassung ‘Asarjas nicht, hier kann und soll die freie Wahrheitssuche stehen.161 Nach alledem ist es für ‘Asarja nicht verwunderlich, wenn auch die Rabbinen selbst zuweilen ihre zuvor gehegten Meinungen ändern, denn diese waren ausschließlich auf die menschliche Weisheit gegründet.162 ‘Asarja dei Rossis Positionen werden gewöhnlich als apologetisch beschrieben, weil er die rabbinische Tradition erklärtermaßen zu verteidigen sucht. Dies gilt insbesondere für die Halacha, die ihm als Teil der unantastbaren Offenbarung gilt. Allerdings ist diese Verteidigung der Tradition durch ‘Asarja auf eine völlig neue Basis gestellt, sie gehört zu einem völlig neuen Paradigma. Während der durchschnittliche Gläubige einfach die Wahrheit der wörtlich zu nehmenden Aggada verteidigen würde, hatten die mittelalterlichen Rationalisten die Wahrheit der Haggada nur hinter deren metaphorischen Verkleidung erkennen wollen, weshalb sie die »rationale Wahrheit« der Haggada mittels allegorischer Deutung aus ihr extrahieren mussten. Ganz anders ‘Asarja. Er lässt die Wahrheit der Aggada bestehen, erklärt sie aber zu einer Zeit- und Gruppen-spezifischen Wahrheit, zu persönlichen Auffassungen aufgrund der je verfügbaren menschlichen Erkenntnisse, die sich mit wachsender Erkenntnis auch ändern konnten und tatsächlich änderten. Ein Teil dieser Wahrheit wird als nützliche, Kultur und Gesellschaft stabilisierende, Konvention anerkannt, an der man darum mit gutem Recht festhält. Diese partikularen Wahrheiten erweisen sich darüber hinaus teil-
159
Me’or, ’Imre, Bina I, Kassel, S. 156; Weinberg, S. 203.
160
Me’or, ’Imre Bina 21, Kassel, S. 270, Weinberg, S. 394.
161
Ebd. ‘Asarja lehnt im Kontext der menschlichen Weisheit und Wissenschaft auch die Auffassung ab, dass die früheren Autoritäten die bessere Erkenntnis besäßen. Er glaubt demgegenüber dass es gerade die Neueren sind, die hier verlässlichere Erkenntnis haben; Meor, ’Imre Bina II, 14, Kassel, S. 197, Weinberg, S. 270.
162
Me’or, ’Imre Bina II, 11, Kassel, S. 179, Weinberg, S. 236; II, 28, Kassel, S. 278, Weinberg, S. 401.
58
‘Asarja dei Rossi
weise als Regionen, Kulturen und Gesellschaften übergreifende Wahrheiten, deren Partikularität nur in der Terminologie besteht, nicht aber in den zugrundeliegenden Konzepten. Damit ist – abgesehen von der Halacha – das Tor zu einem historischen Verständnis der jüdischen Kultur aufgestoßen und eine neue Offenheit zu den übrigen Kulturen, die der Suche nach der historischen Wahrheit dienlich ist.
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59
III. DIE ENZYKLOPÄDISTEN A.
Anlässe und Ziele der Stoffsammlungen
Die eingangs schon beschriebene Situation von jüdischen Studenten an christlichen Universitäten, welche diese als »approbierte« Ärzte verließen, hat eine modern ausgerichtete wissenschaftliche Elite hervorgebracht, die, in die jüdischen Gemeinden zurückgekehrt, die Defizite der jüdischen im Vergleich zur christlichen wissenschaftlichen Bildung schmerzlich wahrnahmen und sich deshalb die Aufgabe stellten, ihre Glaubensgenossen mit Texten zu versehen, welche diesem Mangel aufhelfen sollten und konnten. Diese Aufgabe war um so dringender, als die jungen Juden, welche an die christlichen Universitäten kamen, nicht selten mit Spott wegen ihrer wissenschaftlichen Unkenntnisse überzogen wurden, was häufig mit der religiösen Ideologie der Verwerfung der Juden durch Gott und der nunmehrigen Erwählung der Christen durch ihn verbunden wurde. Dies beschreibt einer der herausragendsten Enzyklopädisten dieser Zeit,163 der aus Metz in Lothringen gebürtige Tuvja Ha-Kohen (Tobias Cohn) (1652–1729). Ihm hatte der Brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm die Zulassung zum Medizinstudium an der Universität Frankfurt an der Oder verschafft und obendrein ein Stipendium für ihn ausgesetzt. Allerdings zog es Tuvja, wie er in der biographischen Notiz seiner Enzyklopädie, Ma‘ase Tuvja, schreibt, bald von dort weg, weil die Frankfurter Kollegen eine Freude daran hatten, ihn in Religionsdispute zu verwickeln: »Und tatsächlich bereiteten uns die Gelehrten der Universität große Ehre, aber zunehmend diskutierten sie mit uns gemäß ihrem Brauch mit großem Scharfsinn in langen Disputen über Glaubensfragen. Und manches Mal schmähten sie uns und riefen: Wo ist eure Weisheit und Einsicht. Sie wurde euch weg genommen und uns gegeben, denn keiner von euch weiß etwas und es gibt keinerlei Wissen in der Weisheit unter euch. [...] Aber wir taten unser Bestes in diesen Diskussionen, hatten wir doch Gott sei dank gute Kenntnisse
163
Schon Mischna und Talmud können in gewisser Weise als Enzyklopädien betrachtet werden, wird in ihnen doch das von den Rabbinen für wichtig erachtete Wissen ausgebreitet. Im Sinne europäischer Enzyklopädien gab es vereinzelt auch schon im Mittelalter jüdische enzyklopädische Texte, die aber zum größten Teil nie gedruckt wurden, s. dazu S. Harvey (Hg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy (Amsterdam Studies in Jewish Thought, Bd. 7) Dordrecht/Boston/London 2000, hier gibt es Arbeiten zur grundsätzlichen Charakteristik des Enzyklopädischen; und s. M. Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters, Berlin 1893.
60
Die Enzyklopädisten – Anlässe und Ziele der Stoffsammlungen in der Schrift, der Gemara und in den Midraschim. Dennoch waren wir in diesen Diskussionen im Vergleich zu ihnen schwach und armselig.«164
Es war diese Erfahrung, so Tuvja, die ihn das Gelübde tun ließ, ein Buch zu schreiben »das mehrere Wissenschaften und Kenntnisse enthält, um den Schmähern Antwort zu geben und ihnen zu zeigen, dass nicht nur sie alleine diese Wissenschaften erhalten haben, sondern dass es auch unter den Juden weise und kenntnisreiche Männer gibt.«165 Es waren also die Auseinandersetzungen im intellektuellen Milieu, welchen solche Bücher zu dienen hatten. Aber nicht nur der Auseinandersetzung sollten diese Werke dienen, sondern auch der Vorbereitung auf ein Studium an der Universität und der Bildung vonmodernen jüdischen Intellektuellen. Dieses Ziel scheint auch die erwähnte mehrbändige Enzyklopädie Pachad Jizchak von Jizchak (Isaac) Lampronti (1679–1756) verfolgt zu haben, die mitten aus dem Lehrbetrieb an Lamprontis Jeschiva in Ferrara hervorgegangen war.166 Die in der frühen Neuzeit entstandenen jüdischen Enzyklopädien wollten demnach das Wissen bereitstellen, welches ein moderner gebildeter Jude besitzen sollte. Und das heißt, dass hierher die Wissenschaft der »Theologie« und jüdischen Tradition gerade so gehören wie die philosophische Metaphysik, die Physik, die Mechanik und die Medizin.
164
Tuvja Ha-Kohen, Sefer Ma‘ase Tuvja, Venedig 1707, Bl. 5b-c.
165
Ma‘ase Tuvja, Bl. 5c.
166
Dazu s. D.B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven/London, 1995, S. 256–272; G. Miletti, Abraham Ben David Portaleone, Die Heldenschilde. Vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt und kommentiert, Frankfurt/M. et al. 2002; und ders., Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der Salomonische Tempel bei Abraham Ben David Portaleone (1542–1612), Berlin/New York 2004, er zählt auch Portaleones Schilte Gibborim (Heldenschilde) zur Gattung der Enzyklopädie, wenn hier auch das enzyklopädische Material zu den Sprachen, zu Gesangskunst, Musikinstrumenten, Gesellschaftsständen, Kriegstechniken, Edelsteinen und talismanischer Magie, Pharmakologie, Zoologie, Verdauung, Maßen und Gewichten, Weizen, Öl- und Weinbau, Salzgewinnung, Spezereien und Duftstoffen in eine »archäologische« Beschreibung des salomonischen Tempels eingefügt ist, was durchaus dem usus der christlichen Umwelt entsprach. Miletti folgt hier dem sehr lesenswerten Artikel von A. Melamed, The Hebrew Encyclopedias of the Renaissance, in: S. Harvey (Hg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, Dordrecht/Boston/London 2000, S. 441–464. Zu nennen ist hier unter anderen auch das im Manuskript gebliebene Bet Ya‘ar ha-Levanon-Be’er Scheva, von dem Arzt Avraham Yagel, Miletti, Glauben und Wissen, S. 177; Jakob Zahalon, ’Ozar ha-Hajjim, Venedig 1583, s. Ruderman, Jewish Thought, S. 232ff.; und das gleichfalls Manuskript gebliebene Hej ha-‘Olamim von Jochanan Alemanno, s. A. Melamed.
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Wenn nun die in solchen Enzyklopädien enthaltenen »theologisch«philosophischen Aussagen oft auch – wie in Diderots und d’Alemberts Encyclopédie –167 recht konservativ blieben, etwa in einer kritiklosen Anerkennung der biblischen Offenbarung, der rabbinischen Gelehrten und der mittelalterlichen Philosophie, so gewinnen diese Traditionselemente in ihrem anderen Kontext doch eine völlig neue Konnotation. Wenn hier die Lehren der biblischen Offenbarung und der talmudischen Gelehrsamkeit neben den mittelalterlichen und neuzeitlichen Wissenschaften stehen, so sind sie aus ihrer Ausschließlichkeit und alleinigen Legitimität, zu einer neben anderen Wissenschaften geworden, die ein Jude kennen sollte. Und oft ist es so, dass die Traditionskapitel Dinge vortragen, denen in jenen anderen Kapiteln eigentlich widersprochen wird, ohne dass man dies dem Leser eigens bewusst macht. Wesentlich ist, dass ihm die neuen Wissenschaften als legitimer Besitz neben die Traditionsgelehrsamkeit treten, dass er sie kennt, mit ihnen denkt und argumentiert, ohne dabei in Konflikt mit der Tradition zu geraten. Hierzu gehört auch, worauf Tuvja in seiner Vorrede hinweist, dass diejenigen Juden, welche ihre Tradition zwar kennen, diese nicht in der richtigen, wissenschaftlichen, Weise verstehen, und jene, die weder diese noch jene kennen, hier einen Anreiz zu einem pluralen jüdischen Wissen aus einer Hand erhalten sollen. Neben diesen grundsätzlichen Neuerungen bietet jede der Enzyklopädien dem wachsamen Leser neue Einsichten und Auffassungen, die nicht ohne Auswirkung auch auf sein religiöses Denken und sein Weltbild bleiben werden. Im Folgenden sollen dazu nur noch einige besonders wichtige Elemente herausgegriffen werden.
167
S. R. Darnton, Eine kleine Geschichte der Encyclopédie, in: Die Welt der Encyclopédie, hrsg. von A. Selg, R. Wieland, Frankfurt/M. 2001.
62
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
B.
Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655) und ’Elija Delmedigo (1460–1497)
1.
Vorbemerkung
Hier werden zwei Autoren zugleich verhandelt, die entfernt miteinander verwandt sind, und zwar weil sie eine zentrale thematische Frage gemeinsam hatten und weil das entscheidende Buch von ’Elija, Bechinat ha-Dat (Prüfung der Religion) zum ersten Mal in einer Sammlung erschien, die von einem Schüler Josef Delmedigos aus der Bibliothek Josefs zusammen mit Texten von Josef Delmedigo veröffentlicht wurde. ’Elija bestreitet dort das Alter der Kabbala, während Josef dieses in seinen Texten zu verteidigen sucht. Aber nicht dies ist der entscheidende Grund, die beiden Autoren hier zusammenzustellen, sondern ihre unten zu erörternde Lehre von der doppelten Wahrheit. Doch zunächst zu den Autoren und ihren Werken.
2.
’Elija Delmedigo – Leben und Werk
’Elija Delmedigo wird von J.J. Ross in der Einleitung zu ’Elijas jüdischem Hauptwerk, Bechinat ha-Dat (Prüfung der Religion)168 als eine Gestalt am Scheideweg zwischen jüdischem Mittelalter und jüdischer Neuzeitcharakterisiert, insofern er gleichsam der letzte Vertreter des mittelalterlichen Aristotelismus in der Version des Maimonides ist und diesen, wie viele seiner Zeitgenossen, zum Teil im Lichte von ’Ibn Ruschd oder der nachfolgenden Averroisten deutet, was zum Beispiel an der unten zu besprechenden Lehre von der doppelten Wahrheit erkennbar ist.169 ’Elija Delmedigo (1458–1493) hat nach den traditionellen rabbinischen Studien in seiner kretischen Heimatstadt Kandia und nach 168
Sefer Behinat Hadat of Elijah Del-Medigo, A critical edition with introduction, notes and commentary, by Jacob Joshua Ross, Tel Aviv 1984. Eine englische Zusammenfassung dieser Einleitung bietet der Autor: Jacob J. Ross, Elijah Delmedigo, Stanford Encyclopedia of Philosophy (www.seop.leeds.ac.uk/archives/win2006/entries/delmedigo).
169
Zu seiner Philosophie s. H. Graetz, Elija del Medigo, Ein jüdischer Popularphilosoph, in: MGWJ 20 (1871), S. 481–494; J. Guttman, Elijah Delmedigos Verhältnis zu Averoes in seinem Bechinat ha-Dat, in: A. Kohut, hrsg. von Jewish Studies in Memory of Israel Abrahams, New York 1927, S. 192–208; M. Hayoun, Judentum und Averroismus im Zeitalter der Renaissance. Der Fall Eliya Delmedigo, in: Aschkenas 4,2 (1994), S. 417–424; A.L. Motzkin, Elijah Delmedigo, Averroes and Averroism, in: Italia 6, 1–2 (1987), S. 7–19; K. Bland, Elija Delmedigo’s Averroist Response to the Kabbalahs of the Fifteenth Century Jewry and Pico della Mirandola, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 1 (1991), S. 23–53; ders., Elijah Delmedigo, Uni-city of Intellect and Immortality of Soul, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 61 (1995), S. 1–22.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
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einer Zwischenstation in Venedig 1480 in Padua das Medizinstudium aufgenommen. Bald nach seiner Ankunft in Venedig war er als herausragender Philosoph der aristotelischen Schule bekannt geworden und hielt hier und in Padua während der Studienjahre 1480–82 Vorlesungen über die aristotelischaverroistische Philosophie. Einer seiner Hörer war der florentinische Graf Giovanni Pico della Mirandola, mit dem er sich alsbald befreundete und der für mehrere Jahre zu seinem Patron wurde, und in dessen Kreisen in und um die platonische Akademie in Florenz er verkehrte. Für Pico hatte er mehrere philosophische Werke der peripatetisch-averroistischen Schule aus dem hebräischen ins Lateinische übersetzt.170 Mit der zunehmenden Hinwendung Picos zur platonischen Philosophie, zur Kabbala und zur hermetischen Literatur ist das Verhältnis zwischen den beiden allerdings in die Brüche gegangen, da ’Elija auf seinem maimonidisch rationalistischen Standpunkt beharrte. An die Stelle ’Elijas als judaistischer Mentor trat stattdessen, der wie Pico der Kabbala zugewandte, jüdische Arzt Jochanan Alemano.171 Mit Pico zerworfen und von der jüdischen Gemeinde in Padua wegen seines strikten Rationalismus verfolgt, kehrte ’Elija gegen Ende des Jahres 1490 enttäuscht in seine kretische Heimatstadt zurück. Dort schrieb er als Auseinandersetzung mit der philosophischen Neuorientierung seiner ehemaligen philosophischen Genossen und als Ortsbestimmung seines eigenen Rationalismus innerhalb des Judentums, sein Buch Bechinat ha-Dat (Prüfung der Religion), in dem er die platonisierenden Tendenzen, die sich sowohl in der jüdischen wie in der in der florentinischen Akademie aufkeimenden christlichen Kabbala manifestierten, angriff und auch zentrale christliche Dogmen als irrational an den Pranger stellte. Die unten zu besprechende Lehre von den zwei Wahrheiten ist andrerseits als Reaktion gegen die harmonisierenden Tendenzen der mittelalterlichen jüdische Philosophie gerichtet, welche den Gegensatz von Offenbarung und Vernunft in Abrede stellte und durch allegorische Schriftauslegung zu beseitigen suchte, ein Punkt an dem ’Elija auch seinen sonstigen »Lehrmeister« Maimonides kritisierte.172 ’Elija, der wie gesagt, noch dem im 170
B. Kieszkowski, Les Rapports entre Elie Delmedigo et Pic de la Mirandole, in: Rinascimento 55 (1964), S. 41–49; E.P. Mahoney, Giovanni Pico della Mirandola and Elijah Delmedigo, Nicoletto Vernia and Agostino Nifo, in: Giovanni Pico della Mirandola: Convegno internazionale di studi nel cinquecentesimo annivarsario della morte (1494–1994), Vol. 2, Rom 1997, S. 127–156.
171
Zu ihm vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 577f.
172
Den Sefer Bechinat ha-Dat zitiere ich nach der Ausgabe von J.J. Ross, Sefer Behinat Hadat of Elijah Del-Medigo, A critical edition with introduction, notes and Commentary, Tel Aviv 1984, seine Grundlage bildet eine nichtzensierte Handschrift, welche wichtige Textstellen bietet, welche in den älteren gedruckten Ausgaben aus Zensurgründen fehlten; frz. Übers. : Examen de la Religion. Le Testament philosophique du judaisme à la veille de l’expulsion. Trad. par M. R. Hayoun, Paris 1992. Weitere Werke von Elija Delmedigo sind: Heliae Hebrei Cre-
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Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
ersten Band dieses Werkes beschriebenen Aristotelismus angehörte, wird hier nur wegen seiner Lehre von der »doppelten Wahrheit«, die an sich auch noch aus dem mittelalterlichen Averroismus herrührt, besprochen, weil diese von seinem jüngeren Verwandten Josef Schlomo Delmedigo aufgenommen und im Sinne der Ideologie der Renaissance und Neuzeit rezipiert und uminstrumentalisiert wurde.
tensis philosophi acutissimae quaedam questiones: De primo motore; De efficientia mundi; De esse et essentia et uno, in: Johannes von Jandun, Quaestiones super octo libros physicorum Aristotelis, Venedig 1488 (Neudruck Frankfurt/M. 1969); De substantia orbis [...], hebr. Version: Ma’amar ‘Ezem ha-Galgal; Handschriften: Schte Sche’elot ‘ al Ha-Nefesh (Zwei Traktate über die Seele) Milano Biblioteca Ambrosiana, 128 und MS Paris: Bibliotheque Nationale, Hebr. 968; Ma‘amar ‘al ‘Ezem Ha-Galgal (Kommentar zu De Substantia Orbis), MS Paris: Bibliotèque Nationale Hebrew 968; Brief an Pico della Mirandola, MS Paris: Bibliotèque Nationale, Latin 6508; In Meteorologica Aristotelis (Epitome von Aristoteles’ Meteorologie), MS Vatican 4550 (Lateinische Übersetzung Delmedigos von Ibn Ruschds Epitome der Meteorologie des Aristoteles); Aristotle’s Book Lamda of the Metaphysics, MS Paris: Bibliotèque Nationale, Latin 6508 (Delmedigo’s Lateinische Übersetzung der hebräischen Übersetzung von Ibn Rushd). Averrois Commentatio in Metaphysica Aristotelis (Delmedigos Übersetzung von Ibn Rushds Epitome). Zu E. Delmedigo s. noch: K.P. Band, Elijah del Medigo’s response to the Kabbalahs of fifteenth-century Jewry and Pico della Mirandolo, in: The Journal of Jewish Thought and Philosophy 1(1991), S. 23–53; weitere Literatur: K.P. Band, Elijah Del Medigo, Unicity of Intellect, and Immortality of Soul, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 61 (1995), S. 1–22; D. Geffen, Insights into the Life and Thought of Elijah Del Medigo Based on His Published and Unpublished Works, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research, 41/42 (1973/74), S. 69–86; ders., Faith and Reason in Elijah del Medigo’s Behinat ha-Dat and the Philosophical Backgrounds of the Work, Diss. Columbia Univ. 1970; H. Hames, Elijah Delmedigo: An Archetype of the Halakhic Man?, in: Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, hrsg. von D.B. Ruderman and G. Veltri, Philadelphia 2004, S. 39–54; E.P. Mahoney, Giovanni Pico della Mirandola and Elia del Medigo, Nicoletto Vernia and Agostino Nifo, in: Giovani Pico della Mirandola: Convegno internazionale di studi nel cinqueccentesimo anniversario della morte (1494–1994), hrsg. von G.C. Garfagnini, 2 vols. Roma 1997; J.P. Montada, Elia del Medigo and his Phyical Quaestiones, in: Miscellena Mediaevalia 26 (1998): Was ist Philosophie in Mittelalter?, hrsg. von J.A. Aertsen and A. Speer, S. 929–936; J.P. Montada, Contuidad medieval en el Renascimento: El caso de Elia del Medigo, in: La Ciudad de Dios 206 (1993), S. 47–64; A.L. Motzkin, Elia del Medigo, Averroes and Averroism, in: Italia 6 (1987), S. 7–20; H. TiroshRothschild, Between Worlds: The Life and Thought of Rabbi David ben Judah Messer Leon, Albany 1991; N. Vogelmann Goldfeld, Elijah del Medigo e l’Averroismo ebraico, in: Z. Bemporad (Hg.), La cultura ebraica all’epoca di Lorenzo il Magnifico. Celebrazioni del 50 centenario della morte di Lorenzo il Magnifico, Firenze 1992, S. 43–47.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
3.
65
Josef Schlomo Delmedigo – Leben und Werk
Josef Schlomo Delmedigo, auch als Josef Schlomo Rofe173 (Akronym: Jaschar) aus Kandia bekannt, in Kreta geboren, hatte in Padua unter anderen bei Galileo Astronomie, Mathematik, Medizin und Philosophie studiert und hat hernach als Arzt auf Kreta, dann in Kairo, Konstantinopel, Rumänien, Polen,174 Wilna, Hamburg, Amsterdam, Frankfurt am Main und Prag gewirkt.175 Zeit seines Lebens war er trotz dieses unruhigen Wanderdaseins schriftstellerisch tätig und hat Texte über Astronomie, Mathematik, Geometrie, Medizin, Logik, Religion, Alchemie, Astrologie, und Kabbala verfasst, außerdem Kommentare zu rabbinischen Texten anderer Gelehrter.176 Wenigstens drei seiner Werke waren Enzyklopädien im engeren Sinne, aber auch die übrigen Texte sind meist enzyklopädisch angelegt, da Delmedigo bei allen Themen, die er anschneidet, seine ganze stupende Belesenheit einsetzt, die Meinungen aller ihm bekannter Autoritäten breit anführt, diese erörtert und deren Probleme aufzeigt – gleich einer universitären Vorlesung. Dabei zitiert er, meist mit genauer Stellenangabe, nicht nur fast alle mittelalterlichen jüdischen Philosophen, sondern, in seiner hebräischen Übertragung, auch die griechischen Originale der klassischen griechischen Philosophie, deren Sprache er trotz seiner griechischen Heimatsprache eigens erlernen musste, außerdem deren arabische Kommentatoren sowie auch lateinische Texte, inklusive christlicher Theologen. Natürlich zitiert er auch die mathematischen, astronomischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Texte seiner Gegenwart. Und zu all diesem kommt eine Fülle an kabbalistischen Werken, darunter vieles der damals noch neuen lurianischen Kabbala und natürlich auch die antike Midraschliteratur und die Talmudim. Mit seinen Werken will Delmedigo in erster Linie sein Wissen an seine jüdischen Volksgenossen weitergeben. Im Vordergrund steht deutlich, dieses Wissen in möglichster Breite mitzuteilen, zugleich eine kritische Kommentierung dazu zu liefern, um eine breite und fundierte Bildung zu vermitteln, wobei ihm vor allem solche Wissenschaften wichtig erscheinen, welche dem menschlichen Leben dienen und nicht leere Spekulationen sind.177 Dieser breite literarische, in seiner eigenen Bildungsbiographie 173
Arzt.
174
S. Schreiner, Josef Schelomo Delmedigos Aufenthalt in Polen-Litauen, in: An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance, hrsg. von G. Veltri und A. Winkelmann, Leiden 2003, S. 207–232.
175
J. Maier, Josef Salomon ben Elia Delmedigo (JaSCHaR) – ein Vertreter jüdisch-mediterraner Kultur in Aschkenas, in: Vom Mittelalter in die Neuzeit, hrsg. von M. Graetz und H. Künzl, Heidelberg 1999, S. 45–49.
176
Mehrere überkommene Listen seiner Werke findet man bei I. Barzilay, Yoseph Shlomo Del-
177
Sefer Mazref le-Hochma, Basel 1629, Bl. 9a.
medigo (Yashar of Candia), His Life, Works and Times, Leiden 1974.
66
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
verankerte, Ansatz ist zunächst weniger darauf ausgerichtet, neue philosophische oder wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwickeln, als vielmehr das weit verzweigte vorhandene Wissen zu sichten, zu ordnen und Kriterien für seine Betrachtung zu suchen. Gerade in Letzterem wird eine der geistesgeschichtlich bedeutsamen Leistungen dieses hochgebildeten Mannes liegen. Doch bei all dieser enzyklopädischen Wissensausbreitung ist Josef Delmedigos Position im Vergleich zu seinem älteren Verwandten ’Elija deutlich aus dem Mittelalter herausgeschritten und in die Neuzeit hinübergewechselt. Dies zeigt sich an der unten darzustellenden beißenden Kritik am Aristotelismus und dessen Ersetzung durch eine an der Empirie orientierte »Natur-Philosophie« auf der einen Seite und der Anerkennung der Kabbala als einer jüdischen Form des en vogue gekommenen Neo-Platonismus.
4.
Die Schriften Josef Schlomo Delmedigos
An gedruckten Werken Josef Schlomo Delmedigos, für die allesamt neuere Ausgaben fehlen – ein typisches Symptom des wissenschaftlichen Bearbeitungsstandes dieser Epoche – , liegen im Grunde zwei umfangreiche Konvolute vor, die beide Sammlungen ursprünglich separater Werke des Autors sind, samt weiteren Texten anderer Autoren aus der handschriftlichen Bibliothek von Josef Delmedigo.178 Das eine Werk, nach dem biblischen Wüsten-Lager der Israeliten, ’Elim, mit seinen 12 Quellen und 70 Palmen,179 genannt, erschien 1629 in Amsterdam bei Manasse Ben Israel180 und das andere Ta‘alumot Hochma (Tiefen der Weisheit), wurde von Delmedigos Schüler Schmu’el Aschkenasi (Samuel Germanus) in den Jahren 1929–1631 in Basel aus Heften seines Meisters in zwei Bänden publiziert.181 Der Sefer ’Elim besteht aus fünf Teilen: 1. Sefer ’Elim, 2. Ma‘ajan Gannim (Brunn der Gärten), bestehend aus 2a. Sod ha-Jesod (Das Geheimnis des Elementes), 2b. Hukkot Schamajim (Die Gesetze der Himmel), 2c. Gevurot haSchem (Die Machttaten Gottes), 2d. Ma‘ajan hatum (Der versiegelte Brunnen). Sefer ’Elim besteht aus mehreren Briefen seines Schülers an Delmedigo und von ihm selbst. Sie behandeln die Biographie und Bibliographie Delmedigos, 178
Eine ausführliche Darstellung der Bibliographie Delmedigos bietet, Barzilay, Delmedigo, S. 91–125, 328–338; und A. Geiger, Melo Chofnajim, Josef Salomo del Medigo, Nachgelassene Schriften, Bd. 3, hrsg. von L. Geiger, Berlin 1876 (Neudruck in: Bibliothek des deutschen Judentums, hrsg. von H.J. Schoeps, Hildesheim et al. 1999, Abt. 4).
179
Exodus 15, 27.
180
Die zweite Auflage erschien in Odessa 1864; davon ein Teilnachdruck des Teiles ’Elim, Israel
181
Im Internet: www.hebrewbooks.org/9403.
o.D.; hrsg. in Amsterdam: www. hebrewbooks.org/6641; www.lulu.com/content/955575.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
67
Mathematik und Geometrie, Astronomie Kabbala und Magie, Philosophie, inklusive Metaphysik und Theologie. Ma‘ajan Gannim: An seiner ersten Stelle, vor Sod ha-Jesod, steht der umstrittene ’Ahus-Brief Delmedigos, von dem Abraham Geiger in seinem Melo’ Hofnajjim182 eine anscheinend unzensierte Version mit deutlicher Kritik Delmedigos an der Kabbala publizierte, auf die Geiger und Barzilay183 ihre Meinung von einer negative Einstellung Delmedigos zur Kabbala gründeten. Die Echtheit dieser so genannten unzensierten Version wurde von Ruderman184 in Frage gestellt. Der unten darzustellende Befund von Delmedigos positiver Haltung zur Kabbala gibt Ruderman recht. Sod ha-Jesod behandelt Fragen der sphärischen Trigonometrie. Hukkot Schamajjim ist eine astronomische Darstellung der Lehren von Aristoteles, Ptolemäus, Kopernikus und deren Schülern. Gevurot haSchem behandelt nochmals astronomische Fragen unter anderem bezüglich der Lehren von Kopernikus, Tycho von Brahe, Johannes Kepler und Galileo. Ma‘ajan hatum beantwortet siebzig an Delmedigo gestellte Fragen zu Logik, Mathematik, Mechanik, Physik, Astronomie, Musik und Geometrie. Völlig anderer Natur ist das zweite, von Schmu’el Aschkenasi im Namen Delmedigos herausgegebene zweibändige Buch Ta‘alumot Hochma. Sein verbindendes Thema ist die Kabbala und metaphysische Fragen. Band I: 1. An erster Stelle dieser Sammlung steht die Erstpublikation des genanntenkabbalakritischen Werkes von ’Elija Delmedigo, Bechinat ha-Dat 185 ; 2. Lobesschreiben des Schülers von ’Elia über seinen Meister; 3. Sefer Mazref le-Hochma,186 Josef Delmedigos Verteidigung der Kabbala; 4. Erstpublikation der Legenden über Jizchak Luria, Schivche ha-’Ari 187; 5. ‘Olam katan (Mikrokosmos) des Kabbalisten Menachem ‘Asarja mi-Fano; 6. Kizzur ‘Olam ha-Tikkun (Kurzdarstellung der Welt der Wiederherstellung/Tikkun) von Josef Delmedigo; 7. ’Adam Kadmon (Urmensch, Bezeichnung für die zehn Sefirot), von R. Schimschon aus Jerusalem; 8. Sefer Schever Josef (Buch des Warenangebots von Josef), das heißt Delmedigos Darstellung lurianischer Texte in Form einer Anthologie aus der Hand von Delmedigo; 9. Die Kabbala des Israel Sarug; 10. Ein Schreiben des Moses ben Nachman (Ramban) über die Schriften von Maimonides; 11. Ein
182
A. Geiger, Josef Salomo del Medigo in: Melo Chofnajim, Berlin 1840; und s. A. Geiger, Nachgelassene Schriften, Bd. 3, hrsg. von L. Geiger (Berlin 1876), Neudruck, hrsg. von J.H. Schoeps, Hildesheim et al. 1999, S. 1–33.
183
Barzilay, Delmedigo, S. 99.
184
Ruderman, Jewish Thought, S. 128–152.
185
Dazu s. sogleich unten.
186
Zu ihm s. unten.
187
Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 672; s. J. Dan, Ha-Sippur ha-‘ivri bi-Jeme haBenajjim, Jerusalem 1974, S. 238–251.
68
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
Brief von Rabbi Anatoli an Maimonides, sowie Gedichte von ihm und ein Bannschreiben; 12. Drei Sendschreiben des Maimonides. Band II. Der zweite Band trägt den Titel Novlot Hochma (Frühreife Früchte der Weisheit) und stammt ganz aus der Hand Josef Delmedigos samt Eingriffen des Herausgebers Schmu’el Aschkenasi.188 Dieser Band verhandelt in anthologischer vergleichender Weise anhand von Texten aristotelischer und platonischer Philosophen sowie von Kabbalisten verschiedene Themen der Theologie. Zunächst verhandelt er unter dem Titel Novlot ’Ora (Frühreife Früchte des Lichtes) folgende Themen: Die creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts), das Wesen des Lichtes, Epistemologie, Urmaterie, Psychologie, Vorhersehung, Emanation. Als zweiter Teil folgt sodann eine Darstellung der lurianischen Kabbala. Schließlich steht am Ende das Schriftlein Koach ha-Schem (Die Macht des Namens), eine Darstellung der mystischen Bedeutung des Hebräischen in philosophischer Manier.
5.
Arten des Wissens – die Lehren von der doppelten und dreifachen »Wahrheit«
5.1
Josef Delmedigos Konzeption
Wie aus dem Vorangehenden deutlich wurde, hat sich Josef Delmedigo mit den offenbar widersprüchlichsten Wissenschaften oder Wissensbereichen befasst. Neben der modernen Astronomie, Medizin und Philosophie steht das massive corpus cabbalisticum. Dieses für modernes Denken sehr unvereinbar erscheinende Nebeneinander hat in der modernen Historiographie zu der Auffassung geführt, dass Delmedigo im Grunde seines Herzens ein moderner Rationalist sei und und sich mit der Kabbala und ihr entsprechenden Mythologemen gleichsam nur als Vorwand befasst habe, um seine wahre Gesinnung zu verbergen. So schon Abraham Geiger in seiner biographischen Schrift zu Delmedigo,189 dann aber sehr dezidiert Isaac Barzilay in seiner großen Monographie zu Delmedigo.190 Dieser Deutung hat David Ruderman191 mit Verweis auf das neue Bild vom Charakter der Renaissance nachdrücklich widersprochen. Aber auch schon eine kursorische Lektüre der publizierten Texte in Delmedigos Ta‘alumot Hochma zeigt die Unhaltbarkeit der Geiger-Barzilay’schen These, alleine schon aufgrund der Quantität. Warum sollte ein Autor sechshundert und vierzig eng
188
So Barzilay, Delmedigo, S. 116–121.
189
Geiger, Melo Chofnajim.
190
Yoseph Shlomo Delmedigo.
191
Jewish Thought, S. 118–152.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
69
bedruckte Seiten zur Kabbala hinausgehen lassen, um in dort versteckten Andeutungen seinen Widerstand gegen diese Lehren zu verbergen? Der Duktus der in der Sammlung Ta‘alumot Hochma auf Delmedigo selbst zurückgehenden Texte zeigen vielmehr einen Autor, der im Stile einer Universitätsvorlesung Meinungen von Kabbalisten, Philosophen und Rabbinen miteinander vergleicht, kritisiert und lobt und deren Übereinstimmungen wie Meinungsverschieden aufzeigt. Delmedigo ist hier ganz Wissenschaftler. Der in diesen Texten sichtbare schriftstellerische und gelehrte Duktus entspricht genau dem wie er in dem zweiten anscheinend völlig gegensätzlichen Werk Josef Delmedigos, dem Sefer ’Elim, zu erkennen ist. Delmedigo hat hier wie dort eine wissenschaftliche Distanz zu dem von ihm verarbeiteten Traditionsmaterial und kann zugleich sich anscheinend widersprechenden Aussagen hier und dort zustimmen. Der Grund für dieses unausgeglichen erscheinende Verhalten ist in Delmedigos mehrfach wiederholter Epistemologie zu finden, die eine grundsätzliche Dreiteilung allen Wissenserwerbes beschreibt. Er formuliert hierbei Auffassungen, wie sie mutatis mutandis erst im nachaufklärerischen deutschen Judentum von Saul Ascher192 unter dem Einfluss der englischen Empiristen wieder entdeckt wurden. Das von den Menschen erwerbbare Wissen ist nach Josef Delmedigo von dreifacher Natur. An erster Stelle steht die Erkenntnis, das heißt das Wissen, hernach folgen die Überzeugungen, oder das Denken, und schließlich der Glaube.193 Das sicherste oder objektivste von allen dreien ist das »Wissen« (die Erkenntnis), denn dieses wird durch auf Beweisen aufruhenden Schlussfolgerungen gewonnen, die ihrerseits auf sensiblen Erfahrungen aufbauen.194 Demgegenüber
192
S. unten Kap. Haskala, IV.
193
Dazu s. B. Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius, Tübingen 2007, er sagt dort zu Al-Frabi: »Während die Apodeixis ein unwiderlegbares Wissen produziert, das den möglichen Intellekt immer verwirklicht, bleiben Dialektik, Rhetorik und Poesie für Al-Farabi den Meinungen verbunden, die sie im Rezipienten erzeugen, und lassen die Möglichkeit eines Widerspruchs zu. Auf der Ebene der Meinungen verharrt für Al-Farabi auch die Religion (millah). Sie basiert auf Überzeugungen, die sich aus der Philosophie ableiten lassen und der Gesellschaft vermittelt werden, weil sie ihren Mitgliedern nützlich sind und allen die Option auf ein ewiges Leben sichern.« (S. 122f.); ähnlich zu Averroes: Die Apodeixis erzeugt Wissen, die Dialektik Meinungen und die Rhetorik Glauben, S. 124f.
194
Letzteres erklärt Delmedigo in seiner dem Gesagten unmittelbar vorangehenden Darstellung der aristotelischen Epistemologie, ’Elim, S. 76–84, speziell S. 87. Zur Sache selbst s. Moses Maimonides, Be’ur Millot ha-Higajon, Frankfurt/O. 1761; der Text findet sich im Internet: (jnul.huji.ac.il/dl/books/djvu/1775213/index), Scha’ar 8, S. 13b-14b. Zu diesen Beweisverfahren sagt Maimonides: »Jeden Syllogismus, dessen beide Voraussetzungen ›wahr‹ sind, nennen wir ›auf Beweisen aufgebaut (mofti)‹ […]. Und wenn auch nur eine der Voraussetzungen von den ›allgemeinen Auffassungen (mefursamot)‹ ist, nennen wir ihn dialektisch argumentativ
70
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
verdanken sich die »Überzeugungen« nur dialektischen argumentativen Schlussfolgerungen, deren Voraussetzungen jedermann, allen, oder der Mehrheit der Gelehrten, oder den Größten unter ihnen als wahr erscheinen.195 Der »Glaube« schließlich beruht nur auf Zeugnissen und Tradition: » So siehst du, dass diese drei Erwerbungen sich hinsichtlich ihrer Gegenstände wie ihrer Aktion unterscheiden. Hinsichtlich der Gegenstände heißt dies, dass der Gegenstand der Erkenntnis [des Wissens] die aufgrund von Ursachen notwendige wahre Sache ist, der Gegenstand des Denkens (Überzeugung) ist eine Sache, deren Wahrheit aufgrund von wahr erscheinenden Argumenten einleuchtet, während der Gegenstand des Glaubens das Zeugnis aus dem Mund eines Propheten, eines Lehrers oder Vaters ist. Und hinsichtlich der Aktion heißt dies, dass man die Erkenntnis erkennt (jada‘), das Denken denkt/meint (haschav) und den Glauben glaubt (’aman).«196 Delmedigo folgt hier Maimonides in dessen Traktat zur Logik. Nach ihm gibt es drei Beweisführungen zur Erlangung von Erkenntnis, den Beweis aufgrund erwiesener Axiome (mofti), den Beweis aufgrund einer Schlussfolgerung mittels akzeptierter Meinungen (Nizzuach) und schließlich den Beweis aufgrund von überkommenen autoritativen Traditionen, was ein rein rhetorischer Beweis (Halaza) ist.197 Für Delmedigo sind damit drei grundsätzlich verschiedene geistige WissensErwerbungen beschrieben, die in der menschlichen Realität nebeneinander stehen und je ihre eigene Berechtigung haben.198 Darum kann er, weiter differenzierend, sagen: »Von daher verstehst du den Unterschied zwischen der bewiesenen Erkenntnis, dem Denken und dem Glauben. Nämlich diese drei Erwerbungen, die im (Nizzuach)‹, wenn aber nur eine der Voraussetzungen ›überkommene Tradition‹ (mekubbalot)‹ ist, nennen wir ihn rhetorisch«; die »wahren Voraussetzungen« sind zuallererst die primären (z. B. der Teil ist kleiner als das Ganze) und sekundären (von jenen abgeleitete) Axiome, dann aber auch die empirische Erfahrung (z. B. Medikament NN hilft für Krankheit NN); die Axiome und Sinneswahrnehmung sind universal, die Auffassungen (z. B. moralische Urteile) und Traditionen (die man von einer oder mehreren Autoritätspersonen erhält) sind partikular, von Volk zu Volk verschieden; und vgl. Wolfson, Spinoza, II, S. 119f. 195
’Elim, Odessa, S. 84.
196
Ebd., S. 88.
197
Maimonides, Millot ha-Higajon, Scha‘ar 8, S. 14a-b.
198
Es sind diese drei Erkenntnisweisen, welche Baruch Spinoza, der den Sefer ’Elim nachweislich kannte, in seiner eigenen Epistemologie variierte, dazu s. J. Adler, Epistemological Categories in Delmedigo and Spinoza , in: Studia Spinozana, 15 (1999), S. 205–227.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
71
Intellekt dargestellt werden, haben das gemeinsam, dass sie – im Gegensatz zum Irrtum auf den dies nie zutrifft – alle drei wahr sein können. Aber sie sind dadurch voneinander verschieden, dass die Erkenntnis stets ein wahrer Besitz ist, während das Denken und der Glaube nur Phantasie und falsch sein können. Und des weiteren unterscheiden sich Erkenntnis und Denken vom Glauben dadurch, dass sie beide durch die Schlussfolgerung bestehen und gestützt werden, erstere durch den notwendigen Beweis, das zweite durch die wahrscheinlichen Argumente, während der Glaube keine Stütze außer der Tradition hat.«199 Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt. Josef Delmedigo geht noch einen Schritt weiter, der dieses Nebeneinander der drei geistigen Besitztümer regelt und teilweise hierarchisiert. Die stärkste Position hat die auf Beweisen ruhende Erkenntnis, denn sie verdrängt in jedem Fall den Glauben, wo dieser der bewiesenen Erkenntnis widerspricht, sie verdrängt ebenso das Denken (Überzeugung), welche beide irren können.200 Das bedeutet im Verhältnis von Glauben und Denken (Überzeugung), dass letzteres den Glauben nicht widerlegen kann, denn das Denken (Überzeugung) hängt immer von einer Reihe von Faktoren ab, die kontingent, oder gar subjektiv sind. Das bedeutet, wo Überzeugungen und Glaubensaussagen miteinander im Widerspruch stehen, gibt es keinen Grund Glaubensaussagen fallen zu lassen. Und gerade diese letzte Aussage ist für Josef Delmedigos Position das Entscheidende. Er hält nämlich einen Großteil der philosophischen Aussagen für nichts als Meinungen oder Überzeugungen, die mithin nicht die Macht haben können, Glaubensüberzeugungen umzustürzen. Im Einzelnen demonstriert dies Delmedigo anhand der mittelalterlich-aristotelischen Metaphysik wie auch deren Psychologie, wozu später noch einiges zu sagen sein wird. Die Zugehörigkeit der meisten philosophischen Behauptungen zur Kategorie der Überzeugung201 ist es darum auch, die Josef Delmedigo, noch innerhalb dieses anscheinend so »aufklärerischen« Buches, zu einem machtvollen Bekenntnis zur jüdischen Tradition – inklusive der Kabbala – führte, die man festhalten soll und kann, solange keine »Beweise« sondern nur Meinungen gegen sie vorgetragen werden. Denn die Überzeugungen, wie auch die Glaubensvorstellungen, können trügerisch und unwahr sein, nicht aber die Beweise, darum müssen bei-
199
’Elim, Odessa, S. 87.
200
Ebd.
201
Ebd.; diese Dreiteilung hat Baruch Spinoza aus dem Sefer ’Elim übernommen, s. kurze Abhandlung, S. 60f., und s. unten Kap. Traditions- und Religionskritik, III.5; J. Adler, Epistemological Categories in Delmedigo and Spinoza, in: Studia Spinozana 15 (1999), S. 205–227.
72
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
de, Glaube und Überzeugungen, nur vor der bewiesenen Erkenntnis weichen.202 Hinsichtlich vieler philosophischer Überzeugungen hat, so betont Josef Delmedigo in diesem Zusammenhang, die Erfahrung, das heißt die wissenschaftliche Empirie seiner Tage, viele logische Schlussfolgerungen der mittelalterlichen Philosophie widerlegt. Das ganze darf nun aber nicht als eine plumpe Apologie des Glaubens und der Ablehnung der Philosophie verstanden werden. Im Gegenteil, vielmehr will Josef Delmedigo mit dieser Dreiteilung des menschlichen Wissens die Freiheit verteidigen, sich um beide Wissensweisen zu bemühen, wohl wissend, dass sie zwei getrennte Wege sind, die sich nicht eigentlich voreinander rechtfertigen müssen, auch wenn sie, wie Josef in Ta‘alumot Hochma mehrfach betont, sich oft entsprechen und zuweilen nur eine unterschiedliche Sprache für ein und die selbe Sache gebrauchen. So bemerkt Josef Delmedigo auch mehrfach, dass er sich in der gerade zu bearbeitenden Sache, nur der einen, oder der anderen Wissenschaft zuwendet, um falsche Einwände abzuwehren. Hintergrund für Delmedigos Auffassung, sich mit so gegensätzlichen Wissensgebieten zu befassen ist die zunehmende Professionalisierung und Spezialisierung der Wissenschaften in seiner Zeit,203 auf die er wiederholt zu sprechen kommt. Was früher von den Philosophen alleine bearbeitet wurde, zerfällt nun in eine Vielzahl von Berufen und Wissensgebieten, die man nebeneinander betreiben kann, ohne dass diese Gebiete sich in die Quere kommen müssen. Im Gegenteil, diese Gebiete sollen streng voneinander geschieden werden.
5.2
’Elija Delmedigos Konzeption
Diese Auffassung Josef Delmedigos ist schon von der Lehre der doppelten Wahrheit204 vorbereitet worden, die sein älterer Verwandter ’Elija Delmedigo in
202
’Elim, S. 87.
203
Man vergleiche dazu die entsprechende Professionalisierung des Ba‘al Schem in der Neuzeit,
204
Zu ihr und ihrer Herleitung aus dem Averroismus, s. Adolf Hübsch, ’Elia Delmedigo’s Bechi-
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 729ff. nat ha-Dat und Ibn Roschd’s Facl ul-maqal, in: MGWJ Vol XXXI (1882), S. 555–562, XXXII (1983), S. 28–48; Julius Guttmann, Elia del Medigos Verhältnis zu Averroes in seinem Bechinat ha-Dat, in: Jewish Studies in Memory of Israel Abrahams, New York 1927; Sefer Behinat Hadat of Elijah Del-Medigo, A critical edition with introduction, notes and Commentary, by Jacob Joshua Ross, Tel Aviv 1984, S. 48–54 (hebr.). Die Lehre von der doppelten Wahrheit lässt sich letztlich auf Averroes (’Ibn Ruschd) zurückführen, der eine streng rationalistische Traditionsauslegung forderte, allerdings drei unterschiedliche Verständnisniveaus der Menschen konstatiert. Da ist das einfache Wortverständnis des Volkes; ihr überlegen ist die Sicht der Theologen, welche eine Distanz von Vernunft und Tradition wahrnehmen, diese aber durch allegorische Deutung oder Formelkompromisse auszugleichen suchen; ihr überlegen
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
73
seiner Streitschrift Bechinat ha-Dat vorgetragen hatte. Diese Schrift ’Elijas ist, wie schon gesagt, in Josef Delmedigos Sammlung Ta‘alumot Hochma an erster Stelle aufgenommen und zum ersten Mal publiziert worden. Gleich zu Beginn seiner Streitschrift über das Verhältnis von Religion und Philosophie sagt ’Elija: »Jeder vernünftige Mensch weiß wider allen Zweifel, dass die Methoden der Wissenschaften (Darke ha-Limmud) sehr verschieden voneinander sind, und dies nicht nur bei verschiedenen Wissenschaften, sondern sogar auch innerhalb einer Wissenschaft, das heißt, es ist so bei der Wissenschaft insgesamt. Du siehst ja, dass die richtige und spezielle wissenschaftliche Vorgehensweise der Talmudisten beim Finden der Rechtssatzungen anders ist als die spezifische wissenschaftliche Vorgehensweise der Grammatiker oder gar der Ausleger des Wortsinnes. Darum ist es angezeigt, dass wir bei der Bearbeitung jener unterschiedlichen Gegenstände je die angemessene und ihnen eigene/spezielle Methode anwenden, damit nicht jemand von uns [unberechtigterweise] für einen solcher Gegenstände etwa notwendige und unwiderlegliche [das heißt logische] Beweise fordert, sondern sich mit den für dieses jeweilige Wissensgebiet eigenen und richtigen Nachweisen begnügt.«205 ’Elija Delmedigo holt mit diesen Beispielen die jüdischen Leser dort ab, wo selbst der eher noch konservative Talmudist zustimmen muss, nämlich dass es bei der Bearbeitung unterschiedlicher Wissensgebiete innerhalb der talmudischen Wissenschaft unterschiedliche Methoden gibt und geben muss und dass eine Vermengung der Methoden zu keinen sinnvollen Ergebnissen führen kann. Das hier angezogene talmudische Beispiel ’Elijas ist allerdings nur das Prolegomenon für die nachfolgende Kernaussage, nämlich dass die Wahrheiten der Tora und die einzig wirkliche Erkenntnis der Wahrheit, ist die rationalistische, welche die Tradition nur im Sinne von Vernunftbeweisen verstehen will. Dieser klaren Hierarchie vom primitiven bis zum wahren Schriftverständnis setzten die christlichen Averroisten die Kompromissformel von der doppelten Wahrheit entgegen, indem sie von der Bipolarität von Offenbarung und Vernunft sprachen. Im Umgang mit der Spannung zwischen diesen beiden Polen, das heißt mit der Frage welcher Macht man sich mehr oder in welcher Weise zu beugen habe, der Vernunft oder der Offenbarung, wird von den verschiedenen Autoren unterschiedlich beantwortet (Ross). Die Lösung Elija Delmedigos ist eine dieser Lösungen, die zum einen die Position der absoluten Rationalität der Tradition vertritt, zum andern die Werteskala ’Ibn Ruschds auf den Kopf stellt, indem gleichsam der Wortsinn der Offenbarung die allgemeine verpflichtende Basis ist (nicht nur das einfältige Verständnis des Volkes), während die philosophische Wahrheit zwar der Elite gehört und diese auch die wirkliche Wahrheit ist, ohne die man allerdings auskommen kann. 205
Bechinat, Ross, S. 75.
74
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
nicht mit den Methoden der empirisch-logischen Beweisführung bestätigt oder widerlegt werden können.206 Für die Aussagen der Tora bleibt darum – was schon fast spinozistisch klingt – alleine diese selbst zuständig, dies müssen auch die philosophisch Gebildeten anerkennen. Die philosophische Beweisführung kann allenfalls unterstützend hinzutreten, niemals aber als Widerlegung. Wo aber offenbare Widersprüche zwischen beiden Aussageweisen bestehen, müssen diese als solche akzeptiert werden, ohne dass die eine durch die andere verdrängt werden dürfte, denn beide sich widerstreitende Aussagen unterliegen eben ihren je eigenen Methoden. Diese dürfen jedoch keinesfalls miteinander vermischt werden, um Übereinstimmung zu erzwingen. Eine solche Vermischung der Methoden, so ’Elija, war der kategorische Fehler der mittelalterlichen Philosophen, einschließlich des Maimonides, welche behaupteten, Tradition und rationale Philosophie stimmten bruchlos miteinander überein, eine »Übereinstimmung« die sie dann meist durch gezwungene Allegorese zu erreichen suchten.207 ’Elija meint demgegenüber, dass in solchen Fällen zwei unterschiedliche Aussagen anerkannt werden müssen, die nebeneinander bestehen bleiben, ohne sich gegenseitig zu verdrängen. Das Verhältnis der beiden Wahrheiten zueinander ist derart, dass die logische Wahrheit als zusätzliche Wahrheitsstufe für die intellektuelle Elite dient, ohne welche das einfache Volk sehr wohl leben kann und muss.208 An dieser Stelle macht ’Elija allerdings eine Einschränkung im Sinne der mittelalterlichen rationalistischen Philosophie, und vertritt die Meinung, dass die Tora vom Menschen nichts zu glauben verlangt, das widersprüchlich ist, nichts was den Grundaxiomen der Logik widerspricht, seien sie denkerisch oder durch die Sinne erwiesen. Wenn es allerdings Aussagen der Tora gäbe, die den Aussagen der Vernunft widersprächen, so würde man diese nicht, wie dies die mittelalterlichen Philosophen taten, durch Allegorese retuschieren, sondern in diesem Falle würde man die Aussage der Religion zurückweisen. ’Elija setzt noch eines darauf und sagt, man wiese solche der Philosophie widersprechende Aussagen der Tora zurück, selbst wenn sie tatsächlich wahr wären, »denn auch wenn wir solches nicht glaubten, würde uns keine göttliche Strafe treffen, da unser Intellekt seiner Natur nach, die Gott ihm gegeben hat, solches nicht annehmen und glauben kann.«209
206
Bechinat, I, 3, Ross, S. 78.
207
Bechinat, Ross, S. 92f.
208
Ebd., S. 76f. Ähnlich auch der italienische Philosoph Pietro Pomponazzi, s. B. Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius, Tübingen 2007, S. 163; zu Delmedigo selbst, s. ebd., S. 139–142.
209
Bechinat, I, 4, Ross, S. 81.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
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Solche vom Verstand nicht begreifbare Dinge sind wahrhafte Widersprüche (soterim) und Gegensätze (holfim, )חולפים, über die, wie schon Maimonides sagte,210 nicht einmal Gottes Allmacht erhaben ist.211 Hier ist ’Elija ganz averroistischmaimonidischer Rationalist. Um jedoch diese harte Position etwas zu neutralisieren, fügt ’Elija eine weitere Differenzierung hinzu. Er unterscheidet nämlich zwischen essentiellen Glaubensaussagen und nur solchen, die nur akzidentieller Natur sind. Letztere sind für die Erfüllung der Tora nicht notwendig. Dies trifft selbst für den Glauben an die Körperlichkeit Gottes zu, denn an sie zu glauben »schadet dem Glauben an das Wesen Gottes und seine beständigen Seiten nicht«.212 Es sind diese rationalistischen Voraussetzungen, aus denen ’Elija Delmedigo nicht nur die Lehren des Christentums zurückweist, sondern auch die der Kabbala, ganz abgesehen davon, dass er mit historischen Argumenten deren geringes Alter und damit deren fehlende Kanonizität nachweist.213 Wenn dem gegenüber der jüngere Josef Schlomo Delmedigo die Kabbala als eine Art jüdisch-platonische Philosophie anerkennt214 und gar deren Alter verteidigt, so ist ihm dies möglich, weil er aus der von ’Elija vorgetragenen Zweiteilung des Wissens eine Dreiteilung gemacht hat. Das strikte Gegenüber besteht nach ihm aus der bewiesenen Erkenntnis auf der einen und der puren philosophischen Überzeugung und dem Glauben auf der anderen Seite. Überzeugung und Glaube müssen vor der bewiesenen Erkenntnis weichen, während die Überzeugungen, das sind für ihn, wie gesagt, die meisten philosophischen Aussagen des Mittelalters, und der Glaube sich nicht gegenseitig verdrängen können. Die religiöse Tradition kann dadurch auf sehr viel breiterer Front vor den »Philosophien« bestehen, die ja nur »Überzeugungen« sind, während die religiöse Tradition durch die Offenbarung immerhin auf einem starken Fundament steht. Damit ist das Nebeneinander von Glaube, inklusive der Kabbala, und Philosophie gerechtfertigt. Ihre Unterschiedlichkeit muss und kann man hinnehmen, beide können sich nicht gegenseitig verdrängen, weil keines der beiden die Evidenzmacht
210
Moses Maimonides, More Nevuchim, III, 15, Übersetzung und Kommentar von A. Weiss,
211
Bechinat, I, 4, Ross, S. 82.
Hamburg 1972, III, S. 81f. 212
Ebd.
213
Bechinat, II, 2, Ross. S. 90–99. Zum Ganzen vgl. auch B. Roling, Aristotelische Naturphiloso-
214
Siehe dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 187ff., 211ff., 243ff. Die Kabbala ist laut Delmedigo
phie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius, S. 139–142. für die Toragelehrsamkeit die höchste Stufe, so wie für die Philosophie die Metaphysik (Mazref, Bl. 6b). Dies ist natürlich eine Spitze gegen die rabbinische Halachagelehrsamkeit, in der Delmedigo nur einen Ausbildungsgang für Rechtsgelehrte und Richter sieht, nicht aber Theologie.
76
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
hat, den anderen zu beiseite zu schieben. Dies kann einzig die bewiesene, auf die Sinneswahrnehmung gestützte Erkenntnis.
6.
Josef Delmedigo und die Kabbala
Die zuvor beschriebene Lehre von den drei Formen menschlichen Wissens ist der Schlüssel für Josef Delmedigos Verhältnis zur Kabbala. Ein wichtiges Element dieser Lehre ist die Scheidung des menschlichen Wissens in unterschiedliche Fachgebiete, die nebeneinander stehen können, ohne miteinander kollidieren zu müssen, auch wenn sie sich – gemessen mit dem Maß einer einheitlichen Wahrheitsfrage – widersprechen würden. Damit dies nicht eintritt, gilt es, die unterschiedlichen Methoden und Ziele dieser verschiedenen Fachgebiete zu beachten. Die konsequente Anwendung dieses Prinzips führt Delmedigo schließlich zu einer geradezu prä-spinozistischen Trennung von Prophetie und Wissenschaft. In seiner wichtigsten Schrift zum Thema Kabbala, dem Sefer Mazref la-Hochma (Schmelztiegel der Weisheit), in dem er die Kabbala erklärtermaßen verteidigen will,215 nimmt er den Gedanken der unterschiedlichen Arbeitsmethoden verschiedener Wissensbereiche mehrfach auf, um darauf hinzuweisen, dass die Aussagen der Kabbala nicht mit den Maßstäben der Naturwissenschaften oder der natürlichen Philosophie gemessen werden dürfen.216 Das bedeutet aber umgekehrt, und auch dies sagt er in dieser Schrift, dass man gerade wegen der Separiertheit des Wissens sich neben der Kabbala zugleich der Philosophie verschreiben darf und kann, wenn es die angestrebte Zielsetzung erfordert. Delmedigo meint, es habe darum in jeder Generation jüdische Philosophen gegeben, wie zum Beispiel den eigens herausgehobenen Sa‘adja Ga’on.217 Sa‘adja hat, so Delmedigo, gleich den unterschiedlichsten Spezialisten an einem königlichen Hof, die im Auftrag ihres Herrn Bücher zu klar umgrenzten Fachgebieten verfassen, ein philosophisches Werk gegen die Irrtümer seiner Zeitgenossen geschrieben, die nur mit dieser Wissenschaft zu bekämpfen waren. Das bedeute aber nicht, dass Sa‘adja damit alle Meinungen der Philosophen übernommen habe. Mit anderen Worten, ein Jude, der sich neben der Toragelehrsamkeit mit Philosophie befasst, kann und soll dies tun. Er soll dies aber mit einem kritischen Blick tun – eben so wie Delmedigo selbst die aristotelische Philosophie des Mittelalters kritisiert.218 In diesem Sinne definiert Delmedigo sodann seine eigene Schrift Mazref la-Hochma als eine Auftragsarbeit zur Verteidigung der Kabbala, die er als professioneller Fachmann durchführt, wie er ebenso eine Schrift zur 215
Mazref, Bl. 29a.
216
Vgl. Mazref, Bl. 12b, 16b, 17a, 28b.
217
Über ihn s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362ff.
218
Vgl, Mazref, S. 20a; und das folgende Kapitel.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
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Verteidigung der Philosophie verfassen könnte. Barzilay hat diese Äußerung Delmedigos mißverstanden und daraus dessen angebliche Verstellungsstrategie abgeleitet. Nach all dem bislang Gesagten will Delmedigo mit dem Hinweis, er könne die Philosophie ebenso wie die Kabbala verteidigen, nur seine Auffassung bekunden, dass ein Fachmann in verschiedenen Professionen die unterschiedlichsten Gegenstände behandeln kann, ohne in Selbstwidersprüche zu verfallen, vorausgesetzt dass er dafür die unterschiedlichen fachspezifischen Methoden einsetzt.219 Es ist dieser Kontext von unterschiedenen Wissensgebieten und deren je eigenen Methoden, der Delmedigo zu einer Trennung auch von Schriftauslegung und Natur-Wissenschaft führt, wie dies hernach Spinozas zentrale Aussage in seinem theologisch-politischen Traktat sein wird. Josef Delmedigo bezieht sich bei seiner diesbezüglichen Schlussfolgerung auf den More Nevuchim von Maimonides,220 wo Moses Maimonides sagt: »Wir haben bereits dargelegt, daß an allen Stellen, an denen das Erscheinen oder die Rede eines Engels erwähnt wird, dies in Wahrheit in der prophetischen Vision oder im Traume geschieht [...].« Dazu sagt Delmedigo: »Erschrecke nicht über meine Worte. Denn wenn du Kapitel 42, Teil II, des More liest, wirst du sehen und erkennen, dass alle Verse der Tora, welche von Engeln sprechen, im Traum oder in der prophetischen Vision geschehen sind. Dann wirst du wissen, dass die Prophezeiungen nicht gegeben wurden, um Wissenschaft zu lehren. Sie geschahen gemäß der Vorstellung/Phantasie des Propheten und nicht gemäß der existierenden Wahrheit. Denn der Propheten Hauptziel ist auf das Tun ausgerichtet, das heißt die Erfüllung der Gebote. Und darum darf man für die Naturwissenschaft (hochmat ha-teva‘) und die Metaphysik/Theologie (hochmat ha-’elohut) keine Beweise aus der Tora bringen, um zwischen den philosophischen Meinungen zu entscheiden. Denn die Methode der Tora entspricht der allgemein menschlichen Redeweise. Und das Wort der Weisen [im Talmud221] ist ja bekannt, dass der Prophet Jesaja [in seiner minimalistischen Beschreibung der Gottesvision, Jes 6] einem Stadtbewohner gleicht, Ezechiel hingegen [mit seiner üppigen Darstellung, Ez 1] einem Dorfbewohner. Jeder hat es gemäß seiner eigenen Phantasie/ Vorstellung und Gewohnheit gesehen. Selbst wenn die Propheten hinsichtlich der Weisheit die Großen ihrer Zeit waren, so geschieht die Prophetie doch gemäß dem Herkommen der Zeit und dem, was bei der Menge akzeptiert/angenommen ist. [...] Darum also sind [die Bilder der Propheten] er219
Mazref, Bl. 20a.
220
Buch II, Kapitel 42, Weiss, II, S. 272ff.
221
Babylonischer Talmud, Hagiga 13b.
78
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo schreckende und drohende Visionen/Phantasien, deren wörtliche Darstellung nichts mit dem [tatsächlich] Existierenden zu tun hat.«222
Damit werden die Schriftauslegung und die Wissenschaft in zwei separate Wissensbereiche getrennt, die nicht miteinander vermischt werden dürfen. Damit ist der Torawissenschaft das Recht abgesprochen, sich in die Erkenntnisprozesse der Philosophie einzumischen und sie entscheiden zu wollen. Aber auch das Umgekehrte gilt. Die Traditionsgelehrsamkeit, so auch die Kabbala, braucht sich nicht vor der Philosophie zu rechtfertigen – es sei denn, sie steht gegen bewiesenes Wissen im oben dargelegten Sinn. Für den Fachmann eines jeden Gebietes gilt allerdings, dass er sich innerhalb der je einzelnen Wissenschaft kritisch bewegen soll. So kritisiert Delmedigo, wie unten gezeigt wird, nachdrücklich die averroistisch-aristotelische Philosophie des Mittelalters wie er auch einzelne Kabbalisten kritisiert oder gar als Toren darstellt, wie den prophetischen Philosophen ’Avraham ’Abul‘afja.223 Was Delmedigo an der Kabbala wert findet sind die »Mysterien (Sodot) der Kabbalisten, sie sind tiefgehende Dinge, für welche die Gematriot [Zahlwertspekulationen] und die anderen Auslegungsmethoden allenfalls Tür und Anfang sind.«224 Ein letzter Grund, weshalb Delmedigo eine Neigung zur Kabbala hat, ist einer, der typisch für seine Zeit ist, nämlich die Nähe der Kabbala zum Platonismus: »Und wenn Maimonides sagt, dass die Nutzlosigkeit der Meinungen der früheren [Philosophen] den Kennern klar ist, so muss ich sagen, dass ich dem nicht zustimme. Denn die früheren Philosophen sagten mehr Richtiges als Aristoteles. [Das sieht jeder,] der jene wirklich verstanden hat, nicht so wie Aristoteles sie auslegte, der sie ja nur tadeln wollte, um alleine herrlich dazustehen. Und das ist jedem klar, der gelesen hat, was über die Weisheit des Demokrit und seine Elemente [die Atome] geschrieben wurde. Und insbesondere Plato, der Lehrer des Aristoteles, dessen Auffassungen fast mit jenen der Weisen Israels übereinstimmen. Und bei einigen Dingen sieht man, dass sie sich im Munde der Kabbalisten und in ihren Begriffen finden, nicht aber bei ihm. Und warum sollen wir da nicht an ihnen festhalten. Denn unser sind sie, von unseren Vorfahren haben es die Griechen bis heute geerbt.«225
222
Mazref, Bl. 29a.
223
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 335ff.; Mazref, Bl. 13b; und vgl. weiter Bl. 14a.
224
Mazref, Bl. 13a.
225
Mazref, Bl. 28b.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
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Delmedigo huldigt hier der in seiner Zeit weit verbreiteten Auffassung,226 dass die griechische Philosophie nichts als die von den Juden durch die widerlichen Umstände vergessene altisraelitische Weisheit sei. Dass dies natürlich insbesondere auf den Platonismus zutreffe, ist für Delmedigo deshalb besonders evident, weil die Kabbala bekanntlich eine große Nähe zur neoplatonischen Philosophie aufweist, und auch für uns Moderne nicht ohne sie zu verstehen ist.227 Delmedigo weist mehrfach auf solche Übereinstimmungen zwischen der Philosophie und der Kabbala hin. Der letztlich wichtigste Unterschied zwischen beiden ist allerdings der, dass diese Weisheit, das heißt die Kabbala »verschafft unserer Seele die Unsterblichkeit, nicht aber die Weisheit des Aristoteles.«228
7.
Das Ende des mittelalterlichen Aristotelismus – Josef Delmedigos Kritik und Neusetzung
7.1
Materie, Form und Seele
Die neue von Josef Delmedigo konzipierte Metaphysik wird innerhalb des Sefer ’Elim von Josefs Schüler Mosche Metz in einem Antwortbrief an den karäischen Gelehrten Serach Ben Nathan aus Troki im Namen des Meisters aufgrund der ihm vorliegenden Hefte der von Delmedigo konzipierten Enzyklopädie Bosmat Bat Schlomo und ’Arse ha-Levanon vorgetragen.229 Der Sturz der Metaphysik des aristotelischen Mittelalters und mit ihr zusammen der metaphysischen Psychologie beginnt mit einer neuen Analyse der Physik, in welcher die physikalischen Grundauffassungen dieser Philosophie, wie sie zum Beispiel hier im ersten Band230 im Namen von ’Avraham Ibn Da’ud dargestellt wurde, erschüttert werden. Die Ausführungen des Schülers beginnen mit einer zusammenhängenden Darstellung, die im Nachgang sodann in detaillierter Auseinandersetzung mit den Philosophen begründet wird. Hier die Darstellung von Metz: »Du wolltest meine Meinung über die aristotelischen natürlichen Prinzipien wissen, also über die Hyle (Materie), die Form und die Steresis [Entwerdung vor der Neuwerdung der Dinge],231 ob es über sie Hinweise in der Tora gibt, wie manche unserer Ausleger zu den Worten Tohu wa-Bohu glauben. Ich will dir kundtun, mein Freund, was ich aus den Worten des Buches Bosmat erfah226
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 570.
227
Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 187ff., 211ff., 243ff.
228
Mazref, Bl. 6b.
229
’Elim, Odessa, S. 40ff.
230
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407ff.
231
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 818; Bd. 1, S. 407–410.
80
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo ren konnte [...] und es scheint, dass mein Lehrer [Josef Delmedigo] die aristotelischen Annahmen bezüglich der natürlichen Prinzipien bestreitet. Er lehnt die Existenz der Hyle [als potentieller Trägerin der Form] vollkommen ab und nimmt selbst drei für das Existierende ausreichende Prinzipien an. Diese sind die Wärme, sie ist die Wirkursache [causa efficiens], sodann die Feuchtigkeit und schließlich die Trockenheit als die die Wirkung erleidenden Prinzipien. Sie unterscheiden sich in ihrer Natur [teva‘] und in ihrem Ort. Die Wärme aber ist die Sonne und das gesamte Heer des Himmels [die Gestirne] die von feuerhafter Natur sind, und sie wirken auf die beiden Elemente, sprich den Staub und das Wasser ein. Von der Luft glaubt er, gegen Aristoteles, dass sie dem Wasser angehört und eine Spezies von ihm ist, nämlich kalt und feucht, das heißt dass die Luft elastisches Wasser sowie heller und feiner ist. Jene beiden [genannten] Elemente aber sind einfacher, denn sie sind die Prinzipien, die nicht aus Form und Materie zusammengesetzt sind. Die Sterne wirken mit ihrem Licht und ihrer Wärme unablässig auf die untere Welt ein. Das elementare Feuer, das sich unter uns befindet, ist eine Spezies von ihnen, und dieses ist es, welches auf die genannten Elemente einwirkt, gart sie, mischt sie und bereitet sie zu gemäß der Natur der zusammengesetzten Substanzen nach ihren Spezies, wie es ihnen angemessen ist. Und je gemäß der Quantität des Feuchten und Trockenen, die sich vermischen, und ihres Verhältnisses zueinander und je nach dem Maß der Wirkung der Wärme auf sie unterscheiden sich die Spezies. Denn aus ihnen entstehen alle Geschöpfe, die reglosen Minerale, Pflanzen, Lebewesen und selbst der Mensch. Alle bestehen sie aus diesen Elementen.«232
Abschließend stellt der Autor fest, dass solange diese Mischung unter dem Einfluss der Wärme im richtigen Verhältnis erhalten bleibt, diese Wesen bestehen bleiben, aber zuende kommen, sobald sie sich trennen, »aber der Staub und das Wasser, die auf ewig die Prinzipien sind, gehen nicht zu Ende.« Die erste entscheidende Differenz zum mittelalterlichen Aristotelismus liegt im Verständnis der Hyle oder Materie. Die Aristoteliker schreiben der Materie ohne Form keine eigene Existenz zu. Erst wenn die Materie von der Form überkleidet wird, tritt sie in die Existenz, aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Demgegenüber stellt Josef Delmedigo nachdrücklich fest: »Die Hyle hat Existenz, nur ist diese nicht bemessen. Sie ist wie eine Gattung.«233 Die Formen die zu der Materie hinzutreten haben anders als die Materie keine eigene Substanz, sondern sie sind nur Akzidenzien. »Alleine die Materie ist Substanz, denn sie ist der substanzielle/wesenhafte Teil des Zusammengesetzten. Wohingegen die 232
’Elim, Odessa, S. 48f.
233
Ebd., S. 52.
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Form sie nur vervollkommnet [...] und sie schmückt, sie ist nichts anderes als eine akzidentielle Qualität, welche ihr den Namen und die Definition verschafft.«234 Wichtig bei dieser neuen Beschreibung der konkret existierenden Dinge in dieser Welt ist, dass hier der Form als einer geistigen, ja transzendenten Substanz, nicht nur die Substanzialität abgesprochen wird. Noch wichtiger ist, dass die Form nun nicht mehr als das eigentliche Bewegungs- und Lebensprinzip des Existierenden gilt, diese liegen nun in der Materie, beziehungsweise in den beiden materiellen Grundprinzipien, Staub und Wasser: »Nach unserer Auffassung liegt die Kraft der Liebesäpfel235 im Staub und im Wasser, und wenn die Qualitäten [Trockenes und Feuchtes] in ihrer Mischung in sie eintreten, das heißt, wenn sie durch die Wirkung der Wärme, gemäß dem der Natur oder ihrem Lenker bekannten Maß, auf sie entstehen, dann ersprossen die Liebesäpfel in Wirklichkeit (in actu) als eine Spezies für sich, unterschieden von den übrigen Kräutern der Erde. Das heißt, die [beiden] Qualitäten vervollkommnen das Seiende, und dafür bedarf es überhaupt keiner substanziellen Form.«236 Das Entstehen der Dinge in dieser Welt wird hier ausschließlich als ein physikalischer Vorgang zwischen Materie, den beiden Qualitäten und dem »Energieträger« Wärme beschrieben, der keinerlei spiritueller oder gar transzendenter Faktoren bedarf. Die Unterschiede und verschiedenen Arten entstehen alleine aufgrund der je spezifischen Mischung der beschriebenen Ingredienzien, eine für die Arten unterschiedliche Mischung, welche von der Natur vorbestimmt sind. So gilt für die Mineralien: »diese Mischung ist die Form ihrer Spezies, und von ihr rühren ihre Eigenschaften her. So ist es auch bei den Pflanzen, die aus der Mischung der Körper und der Qualitäten entstehen. Und ihre Mischung ist ihre Seele, die sie nährt, durch die sie genährt werden und wachsen und zeugen. [...] So ist es auch bei den [nicht vernunftbegabten] nicht sprechenden Lebewesen [nur besitzen sie] eine noch bessere rühmenswertere Mischung der Elemente [die nötig ist für die Sinne]. Und so ist es für die Vorstellungskraft und alle inneren Wirkungen der Seele wie das [analytische] Denken, die Synthese, das
234
Ebd., S. 51.
235
Äpfelchen der Alrauene oder Mandragora, hier nur als Beispiel verwendet.
236
’Elim, Odessa, S. 51.
82
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo Teilen und die Schlussfolgerung, sie alle fließen aus der Qualität der Mischung des Menschen, mehr noch als bei den übrigen Lebewesen.«237
Es ist wie in der mittelalterlichen Philosophie. Wenn man über die physikalischen Gegebenheiten der auf dieser Erde existierenden Dinge sprach, musste man zwangsläufig auch über den Menschen reden. Denn er galt nur als die Spitze in der Hierarchie der existierenden Dinge, die ihr Dasein allesamt den transzendenten Formgebern verdankten, bei den Aristotelikern dem »Aktiven Intellekt«.238 Zu diesen Formen gehörten auch die drei Seelen, die vegetative, die animalische und die rationale. Da Delmedigo nun alle Formen durch die Mischungen der Elemente ersetzte, musste er auch über die drei beseelten Gattungen reden, zu denen auch der Mensch gehört. Dass er mit dieser Gleichsetzung von Seele und Elementenmischung auch eine materialistische Anthropologie und Psychologie vertrat, die Entrüstung und Widerstand auslösen musste, war dem Autor nicht unbekannt, wenn er sagt: »Und siehe, ich sehe, viele werden mit dem gezückten Schwert gegen mich ausziehen die sagen ›was geschieht mit unserer Schwester, unserer Seele, wenn sie nur eine Mischung ist. Wehe unserem Ende!‹«239 Nach diesem für manchen seiner Leser ernüchternden Ergebnis stellt MetzDelmedigo gleichermaßen unerfreuliche intellektualistische Konzeption von Maimonides daneben, nach welcher vom Menschen nur das übrig bleibt, was er an Intellekt erworben hat. Aber auch die Position, dass man sein Überleben durch das Erfüllen der Gebote der Tora sichern könne, erscheint Delmedigo angesichts der vielen Völker, welche der Offenbarung Gottes nicht teilhaftig wurden, nicht sehr tröstlich. Ebensowenig erfreulich erscheint da die Position des Aristoteles und seinesgleichen, nach welchen die Seele durch ihre enge Verbindung mit dem Körperlichen gleichfalls der Auflösung entgegen sehen muss. Besser scheine da, so Delmedigo, die Konzeption Platos und der Kabbalisten, nach denen die Seele keine substanzielle Form ist, sondern ein Aufseher über den Körper, die auch ohne ihn existiert. Dazu meint Delmedigo allerdings »ich kann nicht verstehen, wie diese Seele bestehen könnte, es sei denn man zieht ihr ein Gewand über, wie dies manche der großen christlichen Theologen sagten«240 und wie dies ähnlich auch die Kabbalisten verstehen.241 Schließlich fügt Delmedigo noch hinzu: »Und siehe, wie gut ist es, wenn man diese Meinung [Platos und der Kabbalisten] festhalten und die Argumente dagegen widerlegen kann, denn da-
237
Ebd., S. 52f.
238
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 414, 452f., 558, 591f., 606.
239
’Elim, Odessa, S. 53f.
240
Ebd., S. 54.
241
Ebd., S. 57.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
83
durch sichern wir die Unsterblichkeit der Seele [...] wodurch das Denken der Zweifler zur Ruhe kommt. Sela!«242
7.2
Die Separaten Intellekte der Aristoteliker
Was mit den Formen und Seelen hienieden auf Erden geschah muss natürlich nun auch mit den »Separaten Intellekten« der aristotelischen Kosmologie geschehen. Die Attacke gegen die Vorstellung von intellektuellen Substanzen, welche die Sphären lenken und eines Zehnten Intellektes, welcher das Geschehen auf der Erde hervorbringt und den menschlichen Intellekt aus der Potenz in die Wirklichkeit erweckt, führt Delmedigo mit einer Reihe von philosophieinternen Argumenten. So mit der Frage, ob es im nichtkörperlichem Bereich überhaupt eine Mehrzahl gebe, ob man geistige Wesenheiten verschieden benennen könne, ob es da individuelle Substanzen geben könne, ob von der Materie gelöste Substanzen Akzidenzien tragen könnten, was er natürlich alles verneint,243 denn, da die neuere, nicht mittelalterliche, Philosophie auf Beweisen aufruht und nicht wie der Glaube auf überkommenen Traditionen, so fügt der Autor spitz hinzu, müsse man im philosophischen Diskurs eben Beweise bringen.244 Um schließlich zum letzten Stoß gegen die »Separaten Intellekte« auszuholen, legt der Autor erst dar, was die mittelalterlichen Denker bewogen habe, die Existenz dieser Intellekte zu behaupten, nämlich die unterschiedliche Bewegungen der Himmelskörper, die alle ihre nicht materielle Ursache haben müssen, denn wären sie von der Natur gesteuert, müssten sie sich alle gleich bewegen. Allerdings mussten diese mittelalterlichen Denker, so Delmedigo-Metz, zwei Bewegungen erklären, zum einen die des gesamten Universums innerhalb der allumfassenden Sphäre und sodann die gegenläufige Eigenbewegung der Planeten, also konnte die Bewegung nicht natürlich gesteuert sein, sondern mussten Intellekten folgen. Die eigenen Zweifel Delmedigos an dieser Konzeption wurden schließlich durch den Astronomen Kopernikus bestätigt, der die Erde aus ihre fixen Ruhe befreite und sich selbst samt den auf ihr befindlichen Elementen bewegen lässt, womit der gesamten aristotelischen Hypothese die Basis entzogen ist. Dies ist das Entscheidende und man »darf nicht das Existierende nach der Wissenschaft des Aristoteles zwingen, damit es mit ihr übereinstimmt, sondern die Wissenschaft muss sich nach der Wirklichkeit des Existierenden richten, wenn wir wollen dass sie wahr ist!«245 Als Resümee zitiert Metz seinen Lehrer Delmedigo, dass angesichts solcher vieler unsinniger Thesen der GottesPhilosophen, sprich der philosophischen Theologen, man sich lieber nicht Philo242
Ebd., S. 54.
243
Ebd., S. 54–57.
244
Ebd., S. 57.
245
Ebd., S. 58.
84
Die Enzyklopädisten – ’Elija und Josef Schlomo Delmedigo
soph nennen lassen möchte und dass es besser sei, »Natur-Philosoph«, das heißt Natur-Wissenschaftler, genannt zu werden. Delmedigo will, dass sich die Philosophie auf die Erforschung der sichtbaren Wirklichkeit konzentriert und sich nicht mit theologischen Spekulationen befasst. Darum sagt er, und dies ist nicht nur eine rhethorische Formel: »Warum sollten wir die Glaubensvorstellungen auf solche sich stets an allen Ecken und Enden ändernden Meinungen bauen. Da ist es besser ins Haus Gottes in den Spuren der göttlichen Kabbalisten zu gehen [...]«246 Mit diesen Worten wird nochmals der Grundsatz betont, dass man sich in Glaubensfragen auf die Stimme der Prophetie und religiösen Tradition verlassen muss, während in der Erforschung der sichtbaren Welt die Philosophie mit ihren Beweisverfahren ihr Recht hat. Mit dieser klaren Scheidelinie ist auch die intensive Befassung Delmedigos mit der Kabbala verständlich, denn er wollte ein gläubiger Jude sein und die Kabbala galt ihm als ein wichtiger Vertreter der jüdischen Tradition, die angesichts der klaren Trennung der Bereiche, sich nicht vor der Philosophie zu rechtfertigen hat, auch wenn sie dieser gelegentlich sehr nahe kommt und von Josef Delmedigo als eine vera philosophia judaica im Sinne der Entfaltung von Glaubenslehren behandelt wird. Und wie Delmedigo manche Philosophen lobt und mit anderen hart ins Gericht geht, so behandelt er auch die Autoren der Kabbala, die ihm nicht alle gleich gut erscheinen und sich gar wie Abraham ’Abul‘afia das Prädikat von Toren, gefallen lassen mussten.247
246
Ebd., S. 61.
247
So in Mazref le-Hochma, Bl. 13b.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
C.
TUVJA HA-KOHEN (1652–1729)
1.
Ma‘ase Tuvja – eine medizinisch-philosophische Enzyklopädie
85
Der in Metz geborene Absolvent der Universitäten Frankfurt an der Oder und Padua, als Hofmedicus am osmanischen Hof in Adrianopel und Istambul praktizierende und von 1715–1729 in Jerusalem lebende Arzt hat sein Werk im Vorwort selbst als Enzyklopädie bezeichnet, wenn er in der Einleitung sagt »ich habe mir vorgenommen zunächst in den Werken unserer früheren und späteren Gelehrten zu suchen und zu forschen und in einigen Schriften, die mir von meinem Vater und Lehrer [...] zugekommen waren. Und ihnen gegenüber suchte ich in den neueren Büchern der Gelehrten der Völker, die erst neuerdings auftraten. Und ich sammelte aus ihnen das beste ihres Honigs und ihrer Fülle und verfasste ein Buch, welches alles Wissen und alle Wissenschaften umfasst, die für alle Bücherkundigen und insbesondere die Mediziner nötig sind, und ich nannte es Ma‘ase Tuvja (Werk Tuvjas).«248 Das Buch hat insgesamt wenigstens fünfzehn Auflagen erfahren, was gewiss ein Hinweis auf seine große Bedeutung für die Entwicklung der Mentalität auch breiterer jüdischer Kreise ist.249 Tuvja teilte sein Werk in drei Hauptteile, die gemäß ihrem Inhalt dann später auch separat gedruckt wurden.250 Die Teile zerfallen ihrerseits wieder in verschiedene »Welten« (so im ersten, philosophischen, Hauptteil) und Bücher (im zweiten und dritten, medizinischen, Hauptteil). Der erste Hauptteil dieser nicht alphabetisch, sondern systematisch geordneten Enzyklopädie ist vielleicht nicht zufällig in fünf Abschnitte – gemäß der Tora – gegliedert. Er folgt dem mittelalterlichen System der Welthierarchie. Das heißt er beginnt 1. mit dem Unterabschnitt »Obere Welt« (‘Olam ha-‘eljon), dies ist die Lehre von Gott und den Engeln oder »Separaten Intellekten«. Es folgt 2. der Unterteil »Mittlere Welt« (‘Olam ha-’emza‘i), oder auch »Welt der Sphären« (‘Olam ha-Galgalim), die Welt der Gestirnsphären. Hier verhandelt der Autor alle ihm bekannten astronomischen Weltbilder, bis herab zu Kopernikus und Tycho von Brahe, die Möglichkeiten und Grenzen der Astrologie und Metereologie. Nach ihnen wird 3. die »Niedere Welt« (‘Olam ha-schafel)«, das heißt die irdische Welt behandelt. Hier wird die Frage der Schöpfung oder Ewigkeit der Welt, die Frage der Einzigkeit oder der Vielheit von Welten erörtert, außerdem die klimatische und soziologische (auch die zehn verlorenen israelitischen
248
Ma‘ase Tuvja, Bl. 5d und 76c.
249
Venedig 1707, 1715, 1728,1769, 1850, Jessnitz 1721, Lemberg 1866, 1867, 1875, Krakau
250
So zum Beispiel die Ausgabe von Jerusalem 1965 (Ed. Bakal).
1908, Podgorze 1908, Jerusalem 1967,1978, Booklyn 1974, Bne Brak 1978.
86
Die Enzyklopädisten – Tuvja Ha-Kohen
Stämme) wie geographische Beschreibung der Welt, inklusive fremder Pflanzen wie China-Rinde, Tee, Kaffee, Schokolade und Tabak. Im Unterteil 4, die »Kleine Welt«, der Mikrokosmos (‘Olam ha-katan), wird der Mensch beschrieben: Die Lebensalterszyklen, die Mischung der Körpersäfte und deren Auswirkungen auf die körperlichen und intellektuellen Eigenschaften des Menschen, welches die Grundlage für zulässige Prosopomantie ist; sodann außergewöhnliche Menschen, Riesen, Zwerge und Hybride. Schließlich gibt es noch Deutungen der Charaktere von Menschen aufgrund von deren tierähnlichem Aussehen, hingegen wird das Lesen der Handlinien von Tuvja abgelehnt Abschließend folgt 5. die »Elemente der Welt« (Jesode ha-‘Olam), wo die natürlichen Elemente, also das elementare Material und seine Zusammensetzungen verhandelt werden. Hier werden die Eigenschaften der Elemente samt den neuesten physikalischen Erkenntnissen, zum Beispiel der Pneumatik, erörtert und auch in Bildern dargestellt, so auch die Möglichkeit der Kugelform der Weltmeere. Nach diesem »philosophischen« Buch schließt sich unter dem Titel »Neue Welt« (‘Olam hadasch) das Lehrbuch der Medizin, Sefer ha-Refu’a an. Es baut inhaltlich in vielem auf dem »philosophischen« Teil des Gesamtwerkes auf und nimmt auf ihn Bezug. Die »Neue Welt« ist ihrerseits in weitere »Bücher« untergliedert und zwar in: Das erste Buch »Die neue Erde« (’Erez ha-hadascha). Dieser Titel bezieht sich, wie der Autor vermerkt, darauf, dass er eine »neue Heilkunst« gemäß der Ärzte der Gegenwart vorträgt, nämlich die sich auf den, hier allerdings nicht genannten, Paracelsus zurückführende »Iatrochemie«, das heißt der Heilkunst mit Hilfe von Mineralen und pflanzlichen Ingredienzien beziehungsweise der Chemie (’Al-kimija).251 Dieses Buch bietet zunächst eine kurze Einteilung der medizinischen Wissenschaft in die Disziplinen Physiologie, Pathologie, inklusive der Diagnostik, und »Tripotika« also die Therapie. Zur Physiologie liest man da zum Beispiel: »Die Physiologie, das heißt die Wissenschaft hinsichtlich der Anordnung und des Bestandes des Menschen, nämlich von Körper und Seele. Der Körper ist aus den vier Elementen und den Grundqualitäten zusammengesetzt. Die Elemente sind einfache Körper, die unterhalb der Mondsphäre bestehen, wie oben im Buch Elemente der Welt ausführlich beschrieben. Die Qualität der sich ändernden Mischungen und ihre Anzeichen von der Geburt bis zur Rückkehr in den Staub, ist gleichfalls im ersten Teil im Buch Mikrokosmos ausführlich beschrieben. Der Körper ist aus Flüssigkeiten, Schleimen und Ähnlichem sowie Unähnlichem zusammengesetzt [...] Die Arten von Geist 251
Vgl. Ruderman, Jewish Thought, S. 244ff.
Ringen um die Vielfalt der Wahrheiten
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sind feine Substanzen und Ursachen für alle Aktivitäten der Seele im Körper. Es gibt zwei Arten Geist: Erstens den vitalen Geist und zweitens den psychischen Geist, die ihrerseits doppelte Wirkungen haben. Der vitale Geist entsteht im Herzen und ist mit dem Blut vermischt und fließt durch die Adern, die den Puls erzeugen. Der psychische Geist ist von kalter Natur und entsteht im Hirn und durchströmt die Sehnen um psychische Aktionen hervorzubringen. [...] Und wenn sich diese beiden Geister verbinden, wird das Leben im Körper erhalten, und umgekehrt, wenn sie sich trennen, trennt sich auch das Leben aus dem Lebewesen.«252 Des weiteren spricht Tuvja von fünf Körperkräften, der Vital-Kraft, welche den Puls und den Blutkreislauf bewirkt, der Natur-Kraft, welche die Ernährung und das Wachstum hervorbringt und steuert, während die Psychische Kraft die fünf Sinne trägt. Hinzu tritt die Bewegungs-Kraft, schließlich die Kraft der Vorstellung, des Denkens und der Erinnerung. Dieses Buch beschreibt sodann die inneren Körperorgane, Herz, Hirn, Lunge etc., deren Pathologie und Diagnose sowie Therapien und Hygiene. Das nächste Buch »Das neue Haus« (Bet hadasch) beschreibt die Krankheiten sämtlicher Körperteile und Organe – das menschliche Haus – vom »Dach bis zum Fundament« und gibt die zugehörigen chemischen und pflanzlichen Therapien. Das folgende Buch »Bewahrung des Hauses« (Mischmeret ha-Bajit) behandelt Krankheiten, deren erstes Merkmal Fieber ist, deren Diagnose und Therapie. Der dritte Hauptteil des gesamten Werkes, »Welt des Wirkens« (‘Olam ha‘Asija) überschrieben, hat folgende Unterabteilungen: Das »Buch vom verschlossenen Garten« (Gan na‘ul) behandelt die Gynäkologie, Zeichen der Jungfernschaft, der Deflorierung, sexuelle Lust bis hin zu weiblicher Autoerotik, Frauenkrankheiten und deren Therapie sowie Geburtshilfe. »Das Buch von der Leibesfrucht« (Sefer Pri ha-Beten) handelt von den Kinderkrankheiten. »Das Buch vom versiegelten Quell« handelt von der Andrologie, das heißt von Beschwerden und Defekten des männlichen Zeugungsorgans. »Das Buch Granatapfelgarten« ist eine medizinische Pflanzenkunde, in welcher der Nutzen von Pflanzen und deren Teile für die Heilkunst beschrieben werden, wobei der Autor neben den hebräischen Namen auch deren deutsche und türkische Übersetzung bietet. »Das Buch Gewürzbeet« schließlich ist ein alphabetisches Glossar von Kräutern und Spezereien in drei Sprachen.
252
Ma‘ase Tuvja, ’Erez ha-hadascha, Bl. 94a.
88
2.
Die Enzyklopädisten – Tuvja Ha-Kohen
Zielsetzung des Buches – Bildung der Juden
Dieses wahrhaft enzyklopädische Werk Tuvjas will aber dennoch ein dezidiert jüdisch-enzyklopädisches Werk sein, das dem jüdischen Leben dienen soll. So sagt Tuvja einmal im Zusammenhang seiner Darstellung der Deutung von tierischen Zügen in der Physiognomie, dass er davon nicht alles gebracht hat, »weil weder die Ernährung noch das Leben von diesem Wissen abhängen und weil es dem Menschen nicht das ewige Leben verschafft.«253 Auch wenn man letztere Bemerkung nicht auf die Goldwaage legen muss, so zeigt sich diese religiöse Ausrichtung zum Beispiel sehr dezidiert in seinem theologischen Buch ‘Olam ha-‘eljon wo er sagt: »Es geziemt sich für jeden Angehörigen der Religion der mosaischen Tora und für jeden, der nicht den rechten Glauben verlassen will, an das Kommen des Messias zu glauben, weil die Tora gebietet, an die Worte der Propheten zu glauben [...] und die Propheten prophezeiten das Kommen des Messias. Daraus folgt, dass jeder, der nicht an ihn glaubt, die Worte der Propheten leugnet und ein positives Gebot übertritt.«254 Allerdings sieht Tuvja auch dass der Glaube an den Messias nicht zu den »Grunddogmen« (‘Ikkar) des biblischen Glaubens gehört und dessen Leugner darum kein »Leugner eines Grundsatzes« (Kofer be-‘Ikkar) ist. Aber andererseits ist dem Autor wichtig, dass man, wie dies schon Maimonides forderte, eine richtige Vorstellung von den göttlichen Dingen hat, die bei Tuvja nahtlos den Forderungen der aristotelischen jüdischen Philosophen wie auch von Sa‘adja Ga’on entsprechen. Dazu gehören der kosmologische und der teleologische Gottesbeweis sowie die philosophischen Lehren von der Einheit Gottes. Hierher gehört auch die richtige Vorstellung vom ewigen Leben und der Auferstehung, die Tuvja bewusstermaßen von Maimonides bezieht.255 Wichtig für das jüdische oder religiöse Bewusstsein von Tuvjas modernem Juden ist das konfliktfreie Nebeneinander von sich einander eigentlich widersprechenden Positionen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Lehre von der menschlichen Seele. In der oben vorgestellten Beschreibung des Menschen durch Tuvja wird in klarer medizinisch-naturwissenschaftlicher Weise von der Seele und ihren Kräften gesprochen und man gewinnt den Eindruck, dass die Frage einer Unsterblichkeit der Seele für das medizinische Denken und Handeln keine Rolle spielt und auch nicht in den Blick kommen kann. Demgegenüber
253
Ma‘ase Tuvja, ‘Olam ha-katan, Bl. 76c.
254
Ma‘ase Tuvja, Bl. 23b.
255
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471ff.
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verhandelt der erste, theologische Traktat des Buches, ‘Olam ha-‘eljon, die Frage nach der Vergeltung des menschlichen Tuns, nach dessen Tod unter der unzweifelhaften traditionellen Prämisse, dass Körper und Seele als zwei durchaus verschiedene Substanzen zu betrachten sind, von denen nach dem Tod jede ihr eigenes Schicksal hat. Den Körper erwartet die Vergänglichkeit oder allenfalls eine vorübergehende Auferstehung, die Seele hingegen die ewige Glückseligkeit in der rein geistigen Welt der Seelen, hier mit den mittelalterlichen Philosophen als »Kommende Welt« bezeichnet.256 Eine ähnliche nicht ausgeglichene Zweigleisigkeit, welche das Bewusstsein der Leser ohne erhobenen Finger in die Neuzeit lenkt, ist die Frage nach den das menschliche Leben bestimmenden Kräften. Das Nebeneinander von freier göttlicher Lenkung des Individuums, also der persönlichen Vorsehung, und der Wirkung der in die intelligible Welt hinaufreichenden Ursachenkette, zu der auch die Gestirne gehören, ist schon im mittelalterlichen Denken letztlich unausgeglichen nebeneinander stehen geblieben. Bei Tuvjas Buch kommt noch ein weiterer sehr prononcierter Faktor hinzu, der das menschliche Leben bestimmt und der doch letztlich außerhalb des göttlichen Vorsehungshandelns steht, nämlich die Natur, oder das natürliche Geschehen. Wie schon die mittelalterlichen Denker den Widerspruch von Gestirneinfluss und göttlichem Willen dadurch aufzufangen suchten, indem sie betonten, dass die Gestirne nach dem Willen Gottes handeln, so lässt auch Tuvja mehrfach einfließen, dass es sich bei der Natur als etwas von Gott gegebenes oder gesetztes handelt. Mit dieser Formel kann der Arzt Tuvja ohne Behinderung die Gesetze der Natur darstellen und deren nutzbringende Anwendung für die Zwecke des Menschen etwa bei der Heilung durch Kräuter und Minerale. In einem Kapitel über die Wirkung der Gestirne – nach mittelalterlichem Denken ja ein Glied der alles umfassenden Ursachenkette – auf die untere Welt sagt Tuvja einmal: »Die guten und bösen Geschehnisse und die Mischung der menschlichen Gattung sowie die Ordnung der niederen Welt samt den Geschehnissen, die sie während aller Jahreszeiten unter der Mondsphäre betreffen, sind allesamt natürliche und hängen von den Sternen ab, nach dem Gebot des Schöpfers, Er sei gesegnet. Und über den, der ein Fachmann in dieser Wissenschaft ist, sagten [die Rabbinen],257 der Gelehrte hat den Vorzug vor dem Propheten, wie ich sogleich erklären will. Und nun wollen wir mit den Luftveränderun-
256
Ma‘ase Tuvja, Bl. 20cff.; vgl. z.B Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 473; und K.E. Grözinger, Das Jenseits – zwischen Geschichte und Ontologie, in: Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. von E. Goodman-Thau, Berlin 1997, S. 47–60.
257
Babylonischer Talmud, Baba Batra 12a; Yalkut Schim‘oni, Tehillim § 841.
Die Enzyklopädisten – Tuvja Ha-Kohen
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gen des ganzen Jahres beginnen, die aus ihrem [der Luft] natürlichen Verhalten hervorgehen. [...]«258 Die Rolle der Gestirne im Verlauf dieser natürlichen Ereignisse ist nicht apriori vorauszusetzen, sondern alleine an den tatsächlichen Veränderungen der Witterung im Laufe eines Jahres nachzuweisen und zu erkennen, welche dann ja auch unterschiedliche Krankheiten der Menschen, wie den Katharr etc., hervorbringen. Dieser Einfluss der Gestirne zeigt sich laut Tuvja zum Beispiel auch anhand von für jedermann wahrnehmbaren Veränderungen in der Natur, unter anderen an der Pflanze namens »Heliotropius«, wohl der französisch »tournesol« genannten Sonnenblume, die sich nach der Sonne wendet, sodann bei dem Vogel Prorus, der sich nie beim Aufgang des Sirius, sondern nur nach dessen Untergang zeige, und der Vogel Loschzino singt nicht bei der Sommersonnenwende, während die ewig tätige Ameise zu Neumond rastet.259 Die Lehre von den ihrem Brauch folgenden Naturabläufen dient dem Arzt Tuvja sodann vor allem für die Beschreibung des Menschen mit seinen unterschiedlichen Säfte-Mischungen und den einzusetzenden Medikamenten. Damit wird das altrabbinische Prinzip, dass Gott der Arzt des Menschen sei,260 durch eine Lehre vom natürlichen Ablauf von Gesundheit und Krankheit ersetzt. Ein weiteres Beispiel für diese »Bildungspolitik« Tuvjas, die zunächst informieren will, ist das Kapitel über die Astronomie. Hier stellt Tuvja unter anderem anhand von mehreren Schaubildern die kosmologischen Theorien seit Ptolemäus bis Kopernikus und Tycho Brahe vor. Nach einer kurzen Darstellung des kopernikanischen Weltbildes folgt weiter unten im Text eine ausführliche Darstellung »aller Argumente und Beweise des Kopernikus und seiner Anhänger über die Ruhestellung der Sonne und die Bewegung der Erde, damit du weißt, was du ihm entgegnen kannst, denn er ist der Erstgeborene des Satan.«261 Diese »Schmähung« des Kopernikus ist all zu durchsichtig, denn wozu braucht ein Jude die wirklich komplizierten Argumente dieses Astronomen zu kennen, wenn er schon als Teufel abqualifiziert ist. Eines der Argumente gegen Kopernikus ist dann in der Tat nach Tuvja, dass das heliozentrische Weltbild einer ganzen Reihe von Bibelversen widerspricht. Nach diesem Einwand bringt Tuvja noch das Argument, dass alles Bewegliche bei einer Drehung der Erde von deren Oberfläche nach draußen geschleudert würde, wie man dies ja bei einem Rad sieht, das bei schneller Drehung alles auf ihm Haftende nach draußen schleudert, außerdem könnten die von einem Bogen abgeschossenen Pfeile, falls sich die Erde drehte, 258
Ma‘ase Tuvja, Bl. 61c.
259
Ebd., Bl. 60c-d.
260
S. Palästinischer Talmud, Pe’a 5a und öfters.
261
Ma‘ase Tuvja, Bl. 52a.
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ihr Ziel nicht erreichen, weil sich dieses ja schon wegbewegt hätte. Schließlich folgt noch das Argument Tychos, dass die Kanone, die in Richtung Osten abgeschossen, das Ziel vor der abgeschossenen Kugel erreichen würde, weil sich ja die Kanone mit der Erde schneller mitbewegt als die Kugel vermeintlich fliegt. All diesen Argumenten fehlt allerdings die dogmatische Schärfe, die etwa bei Maimonides zur Frage der Ewigkeit der Welt oder deren Erschaffung zu erkennen war, oder bei Sa‘adja Ga’on bei der Frage der creatio ex nihilo.262 Auf alle Fälle wird deutlich, dass das Informationsbedürfnis größer ist als das Schutzbedürfnis vor häretischen Gedanken und der Wunsch nach Wissen vieler Dinge stärker als der nach logischer Systematik.
262
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 375–376, S. 454–461.
TRADITIONS- UND RELIGIONSKRITIK I.
LEONE MODENA DI VENEZIA (1571–1648) – ZWISCHEN RABBINISCHER TRADITION, KUNST, PHILOSOPHIE, KABBALA UND CHRISTENTUM
1.
Biographische Notiz
Leon(e) Modena (1571–1648) war rabbinischer Gelehrter, Kritiker, Schriftsteller, Dichter, begnadeter Prediger, Musiker und Rabbiner. Nachdem er sich zuvor in verschiedenen – er selbst nennt in seiner Autobiographie sechsundzwanzig – Berufen betätigt hatte, unter anderen als Lehrer und »Verlags«-Korrektor, wurde er, nach Rabbinatsposten in verschiedenen Stäödten Norditaliens, 1612 Mitglied des Rabbinatskollegiums seiner von ihm über alles geliebten Heimatstadt Venedig, ein Amt das er bis zu seinem Lebensende begleitete. Als Rabbiner wurde er in unterschiedlichen Rechtsfragen konsultiert und zu schriflichen Stellungnahmen aufgefordert. Modena förderte die jüdische Musik, er war »Maestro di Capella« an der Singakeademie des Ghettos, befasste sich mit Alchemie und Theater und war leidenschaftlicher Glücksspieler. Er wird, wie unten noch deutlich werden wird, in der biographischen Literatur höchst umstritten und mit den gegensätzlichsten Bewertungen versehen. Seine Biographie und seine kulturellen Interessen, samt deren Widersprüchlichkeiten waren exemplarisch für seine Zeit. Sein Schreiben und Lehren waren aufs engste mit seiner Biographie verflochten, was im Folgenden noch deutlicher werden wird.
2.
Kol Sachal – Stimme eines Toren
2.1
Autorschaft und Geschichte des Buches
Im Jahre 1852 publizierte der italienische Rabbiner und Professor am Collegio Rabbinico Italiano Isaac Samuel Reggio (1784–1855) eine hebräische Schrift, Bechinat ha-Kabbala unter dem lateinischen Obertitel Examen Traditionis. Duo inedita et poene incognita Leonis Mutinensis opuscula complectens.263 Wie im lateinischen Titel schon vermerkt, hielt Reggio die in diesem Buch veröffentlichten zwei Schriften gleichermaßen für Werke von Leone Modena, dem bei Juden und Christen gleichermaßen bekannten und angesehenen Rabbiner. Der hebräische Titel des Buches selbst nennt die Titel beider Schriften und erklärt ihren Zusammenhang: 263
Goritia (Gorizia) 1852.
94
Leone Modena »Das Brüllen des Löwen (Scha’agat ’Arje) über die Stimme eines Toren (Kol Sachal) und zweiHäresien, die seine Hände pflanzten.264 Kritik und Widerlegung durch mich, den betrübten jungen Jehuda ’Arje aus Modena gegen das Buch, welches mein Widersacher Rabbi ’Amitai Bar Jeda‘ja Ibn Ras im Jahre 1500 in der Stadt Alcalá verfasste. Es kam im Monat Siwan des Jahres 1622 hier in Venedig in meine Hände, ich schrieb es ab, um seine Worte wider die Tradition und die Mündliche Tora zu widerlegen, wenn Gott mir hilft und zum Leben entscheidet.«
In der Einleitung des Buches führt Jehuda – Leone das in der Überschrift Zusammengefasste nochmals mit weiteren Einzelheiten aus. Danach ist ihm das Manuskript der »Narrenstimme« (Kol Sachal) von einem weitgereisten Freunde übergeben worden, als Jehuda selbst, im Jahre 1622, aus Schmerz über den Tod seines Sohnes an den Kanälen Venedigs spazieren ging. Es dauerte dann aber noch zwei Jahre, bis er Zeit für die Widerlegung in seiner Schrift Scha’agat ’Arje gefunden habe, die er nunmehr zusammen mit der Stimme eines Toren selbst zur Publikation vorbereitet hatte – zu der es allerdings nicht mehr gekommen ist, bis Reggio sie im 19. Jahrhundert veröffentlichte. Damit scheint das Verhältnis der beiden Schriften zueinander über jeden Zweifel geklärt, wenn die Widerlegung der massiven und eindrucksvollen »häretischen« und traditionskritischen Schrift durch Jehuda nicht seltsam farblos ausgefallen wäre. Dies muss um so mehr erstaunen als Jehuda ein überaus polemischer Autor sein konnte: In seiner Schrift Magen we-Zinna (Schutz und Schild) hatte er überaus vehement die gleichfalls traditionskritischen Auffassungen Uriel da Costas attackiert,265 ebenso in seinem ’Ari nohem (Schnaubender Löwe) den Sohar und die Lurianische Kabbala, mit Argumenten, die Autorschaft des Sohar betreffend, die bis heute gültig sind.266 Hinzu kommt, dass Jehuda schließlich in seinem Magen wa-Herev (Schild und Schwert) eine scharfe Polemik gegen das Christentum verfasste. Sollte dieser Verteidiger der jüdisch-rabbinischen Tradition tatsächlich der Autor der Toren-Stimme sein, wie Isaac Samuel Reggio aufgrund der genannten schwächlichen Widerlegung und einer Reihe sprachlicher Vergleiche mit den übrigen Schriften Modenas behauptet, eine Auffassung die auch einer der vehementesten Protagonisten der Wissenschaft des Judentums, Abraham Geiger, vertrat.267 Ihm folgte auch Simon Stern in seiner deutschen
264
Eine phonetische Anlehnung an Job 4, 10 mit neuer Bedeutung.
265
S. dazu Uriel Da Costa, Examination of Pharisaic Traditions, ed., translation and introduction
266
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 463ff.
267
A.Geiger, Leon da Modena, Rabbiner zu Venedig und seine Stellung zur Kabbalah zum Thal-
H.P. Salomon and I.S.D. Sassoon, Leiden/New York/Köln 1993, S. 10ff., S. 24–29.
mud und zum Christentum, Breslau 1856. Fritz Baer (Abner aus Burgos, Korrespondenzblatt
Traditions- und Religionskritik
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Ausgabe des Kol Sachal,268 die indessen nicht immer verlässlich ist. Ellis Rivkin hat dem in einem eigens dieser Frage gewidmeten Buch widersprochen und Modenas »Rechtgläubigkeit« verteidigt.269 Demgegenüber hat I.E. Barzilay270 die Autorschaft Modenas nachdrücklich bestätigt und ihm folgte auch Talya Fishman in ihrer Übersetzung des Kol Sachal und führt dazu eine Reihe von halachageschichtlichen, zeithistorischen und biblio-biographischen Details aus Modenas Leben sowie Übereinstimmungen mit den anderen Schriften Modenas zur Bestätigung an.271 Schließlich kann auch der Titel der Schrift Kol Sachal ein indirekter Hinweis auf Modenas Autorschaft sein. Denn die der Schrift folgende und expressis verbis von Modena verfasste Widerlegung trägt ja den Titel Scha’agat ’Arje. Und beides, der Titel der Hauptschrift, Kol Sachal, wie jener der Widerlegung, Scha’agat ’Arje, stammen aus Hiob 4, 10, wo es heißt: Scha’agat ’Arje we-Kol Schahal we-Schine Kefirim nitta‘u, »Noch brüllt der Löwe und knurrt der Leu, da sind schon ausgeschlagen der Junglöwen Zähne«272, wonach ja beide Erstgenannten, Löwe und Leu, synonym sind. Haupt und Nebentitel entstammen also derselben Quelle und deuten auf einen Autor. Doch die Frage der Autorschaft ist im vorliegenden Kontext nicht wirklich entscheidend, in dem es nicht um die Biographie Leone Modenas, sondern um geistesgeschichtliche Entwickdes Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums, X, 1929, S. 35–37) dachte hingegen an einen Marrano als Verfasser und Isaiah Sonne (Da Costa Studies, JQR XXII, 1931–32, S. 247–293, Leo da Modena über die Schrift Kol Sachal, MGWJ 77, 1993, S. 384–385, Leon Modena and the Da Costa Circle, HUCA XXI, 1948, S. 1– 10) denkt an Da Costa und redaktionelle Eingriffe Modenas. 268
Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im XVII. Jahrhundert, Breslau 1902.
269
E. Rivkin, Leon da Modena and the Kol Sakhal, Cincinnati 1952: »Leon was an enlightened spokesman for Rabbinic Judaism and he never deviated from his loyalties. He was a bitter opponent of heresy, and he never lost an opportunity to write polemics against those who sought to undermine the authority of the Oral Law. The Kol Sakhal was a work that came into his hands and which he sought to refute, in the same manner that he had refuted the Theses of Uriel da Costa« (S. 138).
270
Finalizing an Issue: Modena’s Authorship of the »Qol Sakhal«, in: Salo W. Baron Jubilee Vol. on the Occasion of Hith Eightieth Birthday, Engl. Sect. 1, Jerusalem 1974, S. 135–166. Auch Benjamin Klar verteidigt die Autorschaft Modenas, in Scha’agat ’Arje ‘al Kol Sachal, in: Tarbiz 13 (1942), S. 135–149.
271
T. Fishman, Shaking the Pillars of Exile. »Voice of a Fool« an Early Modern Jewish Critique of Rabbinic Culture, Stanford 1997; Stern, Der Kampf, S. 179, 172, weist auch auf Übereinstimmungen des Kol Sachal mit Modenas Riti Hebraici et observanzi degli Hebrei di questri tempi hin und findet darin den schlüssigen Erweis der Modena’schen Verfasserschaft. Desgleichen schon in Modenas Magen we-Zinna; s. auch Salomon-Sassoon, Uriel Da Costa, S. 28; J. Petuchowski, The Theology of Haham avid Nieto, New York 1954, S. 32–48.
272
Die Worte »da sind schon ausgeschlagen die Zähne der Junglöwen« kehren in der Überschrift als Schne Koferim nit‘u, »Zwei Leugner pflanzten« wieder.
Leone Modena
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lungen geht. Und die sind für Modenas Zeit mit diesem Text eindeutig belegt. Auch ist die Tatsache belegt, dass Modena den Text mit eigener Hand geschrieben, oder abgeschrieben hat, denn von den bekannten vier Manuskripten ist das älteste eindeutig ein Autograph Leone Modenas.273 Der Titel des Buches selbst ist offenbar absichtlich zweideutig gewählt. Glaubt man dem zitierten Titelblatt, so ist der Tor jener, der einen häretischen Antitraditionalismus vertritt. Nach den Abschlussworten der gesamten Schrift ist jedoch der Sachverhalt gerade umgekehrt. Dort sind es die so genannten »Weisen«, das heißt die Rabbiner und Talmudgläubigen und der Gewohnheit Verhafteten, welche die Toren sind. Ihnen gegenüber stehen die Verständigen, welchen den Argumenten des Autors von Kol Sachal folgen.274 Es gibt indessen eine beachtliche Reihe von Zeugnissen, die bestätigen, dass die von Kol Sachal vorgetragene Kritik an der Mündlichen Tora und der an sie gebundenen rabbinischen Autorität nicht die Stimme eines Einzelnen war.275 Benjamin Klar276 zeigte, dass die von Uriel da Costa im Jahre 1616 aus Hamburg nach Venedig gesandten Thesen gegen die Tradition dort auf weite Kreise von Sympathisanten stießen, zu denen auch der Arzt und venezianische Parnass (1614–1618) ’Avraham Farrar gehörte. Schon im Jahre 1594 gab es in Venedig einen Aufstand der Laien gegen die Rabbiner und ihre Vollmachten, Berichte über die Missachtung der Halacha und die Bestreitung der Gültigkeit der Mündlichen Tora, wogegen die venezianischen Rabbiner 1618 einen Bannfluch schleuderten. Noch 1695 beklagt sich der venezianische Rabbiner ’Avraham Viterbo über Juden seiner Gegenwart, die lehren, dass »die Mündliche Tora nicht mit der Schriftlichen Tora übereinstimmt, sondern dass sie von [den Rabbinern] frei erfunden wurde.«277
2.2
Der Charakter der Schrift Kol Sachal
Der Text von Kol Sachal ist in vier Traktate aufgeteilt, von denen der erste eine philosophische Theologie auf der Grundlage der mittelalterlichen rationalistischen Religionsphilosophie ist, wiewohl auch hierbei spezifische religiöse und theologische Akzente und Entwicklungen zu verzeichnen sind, insbesondere hinsichtlich der Offenbarung und des behaupteten Zweckes der Schöpfung. Der 273
Fishman, Shaking, S. 172. Dieses Manuskript (Bibliotheca Palatina Parma, de Rossi, Manoscritti Nr. 85) diente auch der Edition Reggios. Fishman bietet im Appendix ihrer Übersetzung eine Reihe von hebräischen Textvarianten, bei denen die Abschrift Reggios fehlerhaft war.
274
Reggio, S. 65; Stern, S. 343f.; Fishman, S. 158.
275
Dazu s. auch J.J. Petuchowski, The Theology of Haham David Nieto, insbes. S. 32–48.
276
Scha’agat ’Arje, Tarbiz 13 (1942).
277
A.H. Viterbo, ’Emunat Hachamim, nach B. Klar, Scha’agat ’Arje, S. 148.
Traditions- und Religionskritik
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zweite Traktat ist eine gelehrte und massive, auf historische Argumente gestützte, Infragestellung der rabbinischen Lehre von der Mündlichen Tora,278 das heißt ein historisch-rationalistischer Zweifel an deren Sinaizität und damit die Bestreitung von deren Status als Offenbarung. Während der erste Traktat gleichsam noch die mittelalterliche Verbindung und Identifizierung von Tradition und Philosophie fortführt, ist dieser zweite Teil ein vollkommener Bruch mit der gesamten rabbinischen Tradition und eine Erschütterung der Grundlagen des rabbinischen Judentums. Der dritte Traktat schließlich zieht daraus die Konsequenzen und formuliert einen neuen Rechtskodex für das Judentum, der sich alleine auf das stützt, was der Autor als sinaitische Offenbarung anerkennt, nämlich die fünf Bücher der Tora des Moses, wenn er sich in seiner Anordnung des Stoffes auch nach Jakob Ben Aschers (1270–1340) grundlegendem Halachakodex ’Arba‘a Turim richtet. Der Autor des Kol Sachal imitiert damit die grundlegende zweiteilige Form des maimonidischen Mischne Tora, die im Sefer ha-Madda gleichfalls mit einer philosophischen Theologie eröffnet wird, um sodann die Halacha vorzutragen. Dies ist natürlich nur eine sehr oberflächliche Nachahmung, da bei Maimonides die Infragestellung der Mündlichen Tora fehlt und die Halacha ganz auf dem Talmud aufgebaut ist, welchen der Autor des Kol Sachal gerade verwirft.
2.3
Die philosophische Theologie des Kol Sachal
Der philosophische Traktat des Kol Sachal verhandelt in zehn kurzen Kapiteln die folgenden Themen: 1. Die Existenz des Schöpfers, 2. Die Erschaffung der Welt, 3. Der Zweck und das Ziel der Schöpfung, 4. Die göttliche Vorsehung, 5. Die Vergeltung des menschlichen Tuns durch Gott, 6. Die himmlische Offenbarung der Tora, 7. Die Unsterblichkeit der Seele, 8. Die Theodizee, 9. Das Wesen von Lohn und Strafe nach dem Tode, 10. Epilog.
2.3.1 Die Gotteslehre In der Gotteslehre geht der Autor den bekannten mittelalterlichen Weg des kosmologischen Gottesbeweises279 aufgrund einer nicht endlos sich erstreckenden Ursachenkette, die ihn zu einem notwendig Existierenden als prima causa führt. Hinzu kommt der Beweis von der kosmologischen Ordnung, die nicht auf einen Zufall zurückführbar ist, sondern einem ordnenden Willen zugeschrieben werden muss. Damit übernimmt Kol Sachal die Formel der mittelalterlichen Philoso278
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff.
279
Dazu s. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 449ff., 376.
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phen, etwa des Maimonides, die mit Hilfe der Annahme eines ewigen göttlichen Willens die Zwangsläufigkeit des göttlichen Wirkens ausschließt und ihm eine Möglichkeit zur Intervention wie überhaupt die Erschaffung der Welt zu einem gewissen Zeitpunkt ermöglicht. All dies fasst der Autor in die folgenden kurzen Ausführungen zusammen: »Und so schritt ich Tag um Tag und erforschte die Geschöpfe dieser Welt und ihrer Teile, die Minerale, Pflanzen und Lebewesen, die sich in ihr finden und oberhalb der Himmelsfeste, die Sonne, den Mond und die Sterne, den Wechsel der Zeiten, das Jahr in seinen Jahreszeiten, bis ich schließlich ein wenig dieses wunderbare Bauwerk verstand. So brachte die Weisheit des Werkes und seiner Ordnung mich zu der Auffassung, dass es unmöglich ist, dass dies ohne die Absicht eines Baumeisters gemacht wurde, der selbst der Vollkommenste und Beste von allem ist. Denn ich sagte mir, die Sache macht sich nicht selbst, denn jedes in der Welt hervorgebrachte, das wir sehen, hat eine Ursache. Und unter den Existierenden ist eines besser als das andere und es ist ausgeschlossen, dass dies bis ins Unendliche reicht. Darum muss man notwendig zu etwas gelangen, das notwendigerweise existiert, das besser und vollkommener als alles ist; auch dass er alle diese Existierenden aus seinem einfachen Willen geschaffen, gebildet, gewirkt und gemacht hat und sie ebenso gemäß seinem Willen lenkt. So sind der Wirker und die Lenkung nicht zufällig, denn sonst wären sie nicht in jeder Hinsicht so geordnet, wie sie sind, sondern durch Wissen und Vernunft (Intellekt).«280 Von den weitergehenden Fragen den Schöpfer betreffend, was er unabhängig von der Schöpfung und seinem Wesen nach sei, hat der Autor bewusst Abstand genommen. Denn so meint er, dies könne man eben so wenig beantworten wie die Frage nach der menschlichen Seele, die ja doch nachweislich und »sichtbar« existiert, deren Wesen unabhängig vom Körper, sei es vor deren Einleibung oder danach, oder aber während ihrer Einwohnung im Leibe, nicht erkennbar ist. Aus dieser Analogie zieht der Kol Sachal aber zugleich den weitergehenden Schluss, dass Gott nicht mit der Welt eins ist (davak), dass er ihr vorangegangen ist und er sie »aus sich hervorbrachte/emanierte«281 und sie gemäß seinem Gutdünken in der nun existierenden Ordnung aus dem absoluten Nichts erschuf. Dies, so glaubt der Autor mit seinen philosophischen Vorgängern seit Sa‘adja, entspreche genau der Lehre der Tora:
280
Kol Sachal, I.1. Reggio, S. 6, Stern, S. 191f.; Fishman, S. 81f.; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 449–451.
281
האציל אותו ממנו, Kol Sachal I, 2, Reggio, S. 8.
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»Ich habe diese Welt und Wirklichkeit betrachtet und mich gefragt, ob dies möglicherweise seit Ewigkeit so war, oder ob dies durch einen Schöpfer neu hervorgebracht wurde, nachdem es zuvor nicht existiert hatte. Und für den Fall, dass es seit Ewigkeit so war, ob dann JHWH, Er sei gesegnet, und die Welt gleich einem Manne aus Körper und Seele waren, JHWH als Seele und die Welt als sein Körper, den er lenkt wie die Seele den Körper lenkt? [...] Aber ich entschied, dass dies so nicht sein könne, denn dann müsste der Beweger der Welt eine unveränderliche Natur haben, ohne dass er seine Lenkung verändern könnte. [...] dies würde aber bedeuten, dass ein geringes Wesen dieser niederen Welt vollkommener als der Beweger des Alls ist, denn der Mensch hat einen freien Willen über die Bewegungen seines Körpers und seines Tuns wie über die anderen Lebewesen, die Pflanzen und die Minerale. Und da sollte der Herr der Welt sein Handeln nur nach der Notwendigkeit ausführen? Das ist nicht glaubhaft! [...] so kam ich zu der gegenteiligen Auffassung, nämlich dass die Welt aus Nichts neu geschaffen wurde. Da gedachte ich des Beginnes der Tora des Moses Ben ‘Amram und fand sie bestätigt, nämlich: ›Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.‹« 282 Modena schwankt trotz der zuletzt so deutlichen Worte in seinen Formulierungen zwischen der creatio ex nihilo und der neoplatonischen Emanationslehre, wie die vom Ende dieses Kapitels genommenen Worte he’ezil ’oto mimennu, »emanierte sie aus sich«, bezeugen.
2.3.2 Der Sinn der Schöpfung – die Anthropologie Bei der Frage, wozu Gott die Welt erschaffen habe, verlässt der Autor die philosophische Argumentation. Denn im nachsa‘adjanischen kausalen Denkmodell der mittelalterlichen Philosophen kann man dem Menschen schwerlich eine so zentrale Rolle zuweisen wie dies die rabbinische Tradition wollte und Sa‘adja selbst noch nachdrücklich verteidigte283 und wie dies auch für das Denken von Kol Sachal ausschlaggebend ist. Wenn der Autor des Kol Sachal mit der biblisch rabbinischen Tradition und gegen das philosophische Mittelalter den Menschen wieder ins Zentrum der Schöpfung rückt, und die gesamte Schöpfung nur um seinetwillen erschaffen sein lässt, so tut er dies wie die Rabbinen aufgrund der Behauptung einer besonderen Relation zwischen Gott und dem Menschen. Nach der rabbinischen Tradition wurde Gott recht eigentlich nur König über die Welt dank des Gehorsams der Menschen, die seinen Willen befolgten. Das heißt, das
282
Kol Sachal, I,2, Reggion, S. 7f.; Stern, S. 193f.; Fishman, S. 82.
283
Sefer ’Emunot we-De‘ot, Kap. 4.1, Fürst, S. 255.
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Königtum Gottes bekommt erst wirklich Realität dadurch, dass er ein ihm dienendes Volk hat. Dies ist nach Auffassung der Rabbinen natürlich – bedauerlicherweise – nur Israel, welches die Tora angenommen hat.284 Der Autor des Kol Sachal begründet die Zentralität des Menschen in der Schöpfung gleichfalls mit dem unmittelbaren Nutzen den die Gottheit vom Menschen hat, womit er seinem eingangs gezeichneten philosophischen Gottesbild bewusst und zugegebenermaßen geradewegs ins Angesicht schlägt und einen sehr anthropomorphen Gott zeichnet. Die zwangsläufig zu erwartenden Einwände gegen einen solchen »menschlichen« Gott weist der Autor mit dem auch im Mittelalter üblichen Hinweis zurück, dass diese Redeweise nur der Unfähigkeit der menschlichen Sprache zuzuschreiben ist, nichts aber mit der wahren Wirklichkeit Gottes zu tun habe. Das eigentlich Neue an Modenas Auffassung vom Zweck der Schöpfung und der dem Menschen zugedachten Rolle ist nun dies, dass die Gottheit vom Menschen nicht Gehorsam und Gerechtigkeit erwartet. Der Mensch soll nicht Diener des himmlischen Königs sein, sondern der Mensch ist alleine zum Vergnügen Gottes erschaffen. Die ganze Schöpfung ist zum Vergnügen der Gottheit hervorgebracht worden, und der Mensch als besonderes Wesen hat hierin die höchste Stelle. Ihm dem höchsten Geschöpf sind alle anderen Geschöpfe zu Diensten, selbst die himmlischen Sphären und die »aristotelischen« Separaten Intellekte – so ferne es sie gibt. Mit dieser Erhöhung des Menschen sogar über die himmlischen Wesen verkehrt der Autor die mittelalterliche Hierarchie, in welcher der Mensch, etwa im Vergleich mit den Himmelskörpern und deren Intellekten, einen durchaus unbedeutenden Ort einnehmen musste.285 Dass eine höhere Stellung des Menschen nichts Ungewöhnliches ist, meint der Autor mit dem Beispiel plausibel machen zu können, dass nämlich die hochstehenden Herren der Herrscherhöfe gleichfalls die doch eigentlich niedriger stehenden Haustiere am Hofe, wie Affen oder Vögel, bedienen. Die Begründung dafür, warum gerade der Mensch demSchöpfer das höchste Vergnügen bereiten kann, klingt zunächst wieder ganz rabbinisch, denn sie ist der freie Wille des Menschen, mit dem er etwas tun oder lassen kann.286 Während der freie Wille des Menschen sich nach rabbinischer Auffassung nun aber gerade im Ethischen zu bewähren hat, um den Willen Gottes zu erfüllen, geht der Kol Sachal hierbei einen ganz anderen erstaunlichen Weg. Die hohe Stellung des Menschen dank seines freien Willens erweist sich nicht eigentlich im Gehorsam gegenüber der Tora, das heißt im Tun des von ihm Erwarteten, sondern in der Möglichkeit des Menschen, sich zu verändern und das Unerwartete zu tun. Dem284
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 245–253.
285
Vgl. ebd., S. 404.
286
Vgl. ebd., S. 278ff.
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gegenüber erfüllen die übrigen Geschöpfe ihre Bestimmung ohne jegliche Veränderung, was ja dem Schöpfer – so der Autor – kein Vergnügen mehr bereiten kann. Es ist nicht der einheitlich toratreue Mensch, der es dem Schöpfer des Kol Sachal angetan hat, sondern gerade die Abweichung, die bunte Vielfalt des menschlichen Handelns. Es ist die unerwartete Veränderung des menschlichen Tuns, sei es so oder so, das diesem Gott Vergnügen bereitet: »Es ist nur der Mensch, der auf und ab steigt, ab und auf, der sich von Mal zu Mal verändert, in seiner Erkenntnis, in seinen Forschungen, in seinem Willen und Begehren, in seinem Tun und seiner Wahl und Freiheit, die ihm gegeben ist. Und über sie ist gesagt: ›in Seinem Ebenbild und seiner Ähnlichkeit‹,287 denn er allein von allen Gattungen verändert sich. Ja auch unter den Menschen selbst findet man Weise und Toren, Tugendhafte und Geringe, Reiche und Bauern, solche die sich mit dieser und andere, die sich mit jener Kunst befassen, solche die mit ihrem Verstand Erfindungen machen, einer mehr als der andere, solche, die sich der Erkenntnis ihres Schöpfers rühmen und an ihm hangen, der eine gemäß des einen Gesetzes (Religion, dat), während ein anderer sich einem anderen Gesetz hingibt. Und darüber sitzt Er im Himmel und lacht, wie ein König aus Fleisch und Blut. Der freut sich nicht an seinen aufrechten Knechten, auch nicht an seinen geringen Dienern, sondern zum Beispiel an einem kleinen Hund, einem Affen, Vogel oder Pferd, die sich zuweilen wie Menschen verhalten und manches Mal wie Tiere ...«288 Diese eigenartige Darstellung des Schöpfungszweckes, nach welchem es der unstete, der irrende, erfolgreiche und zugleich schwache Mensch ist, an dem sich Gott ergötzt, bricht vollständig mit dem biblisch-rabbinischen und mittelalterlichen Menschenbild. Die von der Gottheit gewollte Menschheit vertritt demnach nicht der geradlinig strebende Mensch, der gehorsame Gottesknecht, der nur das von ihm Erwartete tut, oder, wie bei Maimonides, nur nach der Vervollkommnung seines Intellektes strebt,289 sondern es ist die Vielfalt, die Pluralität der Menschheit, in der es fromme Gottsucher neben Forschern, Künstlern und einfachen Landarbeitern gibt. Es ist somit nicht der durch die Halacha gegängelte Mensch, der allem Weltlichen absagt, der Gottes Freude verursacht, sondern das gesamte widersprüchliche Menschenleben. Das bedeutet, nicht die Einheit kann das Ziel sein, sondern die Vielfalt, die alle individuellen Regungen des Men-
287
Nach Gen 1, 26–27; s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 278ff.
288
Kol Sachal, I. 3, Reggio, S. 9; Stern, S. 197f.; Fishman, S. 84.
289
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 480–487; so auch Barzilay, Finalizing, S. 151.
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schen entfaltet. Nachdrücklich wiederholt der Autor sein neues von ihm geschautes Schöpfungsziel als Einleitung des folgenden Kapitels. Er glaubt, »dass die Welt für den Menschen erschaffen wurde und der Mensch dazu, den Schöpfer zu vergnügen, durch die Fülle der Unterschiede des Tuns und der Meinungen und Wahlentscheidungen eines jeden einzelnen Menschen.«290 Dieses neue anthropologische Programm spiegelt aufs Beste die Biographie von Leone Modena selbst wieder, der in seiner Autobiographie berichtet, er sei selbst als Jugendlicher »im Spielen eines Musikinstrumentes, in Gesang und Tanz« unterrichtet worden,291 der mitteilt, zeitweilig seinen Lebensunterhalt mit Musizieren und Verfassen von Sonetten und von Komödien verdient zu haben. Außerdem bekennt er mehrfach, dass er ein bis zur Sucht neigender Glücksspieler war, dass er seinen Freund Salamone Rossi in dessen Kompositionstätigkeit unterstützte, dass er sich mit Alchemie befasste, wobei sogar sein eigener Sohn tragisch ums Leben gekommen war, dass er sich Buchorakeln und Traumdeutungen hingab, Amulette schrieb und zugleich ein Recht entscheidender Rabbiner und gefeierter Prediger war.292 Die Vielfalt des menschlichen Tuns und Trachtens ist dem »Narren« so wichtig, dass er darin – wie gesagt – den Sinn der Schöpfung sieht. Und noch mehr als dies. Er begründet eben mit dieser menschlichen Vielfalt seine gesamte Theologie, wie die sogleich folgenden Abschnitte zeigen werden. Der Autor sagt dies ausdrücklich am Ende jenes Kapitels, das vom Zweck der Schöpfung handelt: »Lies dieses Kapitel noch einmal, denn es bildet die Grundlage für alle begründeten richtigen Glaubensgrundsätze, wie sie sich mir begründeten, nämlich das von der Vorsehung, dass die Tora vom Himmel kam, von Lohn und Strafe, von der Unsterblichkeit der Seele und so weiter. So wirst du erkennen, dass sie sich aus diesem ableiten, wie ich im folgenden erklären werde.«293 Das heißt, die Lehre vom Vergnügen Gottes an seiner Schöpfung ist dem Autor der Schlüssel für sein gesamtes theologisches Denken. Hier wird die Selbstreferenz der Logik, die nach Auffassung der mittelalterlichen Denker eine ontologi-
290
Kol Sachal, I, 4, Reggio, S. 9; Stern, S. 200; Fishman, S. 85.
291
The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah, trsl. M. R. Cohen, S. 5, hebr. hrsg. von D. Carpi, Sefer Hajje Jehuda ’Arje mi-Modena ’Isch Venezia, Tel Aviv 1985; ältere ungenaue Ausgabe: Hajje Jehuda, hrsg. von A. Kahana 1911.
292
Autobiography, S. 7.
293
Kol Sachal, I, 3, Reggio, S. 9; Stern, S. 198f.; Fishman, S. 85.
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sche Autonomie besitzt, einem von außen herzugezogenen Axiom unterworfen. Die Logik wird zur pragmatischen Logik im Rahmen eines neuen Referenzsystems. Mit dieser Wendung ist Modena ein typisches Kind seiner Zeit, wie auch aus den Schriften von Marsilio Ficino (1433–1499)294 und vor allem von Pico della Mirandola (1463–1494)295 deutlich wird. Pico sagt zur Stellung des Menschen in der Welt in seiner Oratio de hominis dignitate: »Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: ›Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.‹ Müssen wir darin nicht zugleich die höchste Freigebigkeit Gottvaters und das höchste Glück des Menschen bewundern? Des Menschen, dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will. […] In den Menschen aber hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt. Welche er selbst davon pflegen wird, diejenigen werden heranwachsen und werden in ihm ihre Früchte bringen. Wenn er nur die des Wachsens pflegt, wird er nicht mehr denn eine Pflanze sein. Pflegt er nur die sinnlichen Keime, wird er gleich dem Tiere stumpf werden. Bei der Pflege der rationalen wird er als ein himm294
Theologia Platonica, Florenz 1482.
295
Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, übers. Von H.W. Rüssel, Zürich 1988; vgl. Oration on the Dignity of man, transl. A. Robert Caponigri, introd. R. Kirk, Chicago 1956.
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lisches Wesen hervorgehen. Bei der Pflege der intellektualen wird er ein Engel und Gottes Sohn sein. […]Wer möchte nicht dies unser Chamäleon bewundern? Oder wer möchte überhaupt irgend etwas mehr bewundern?«296 Der Mensch als ein stetig sich wandelndes »Chamäleon«, dies ist die passende Charakterisierung der Biographie Leone Modenas und des anthropologischen Programms von Kol Sachal.
2.3.3 Die Lehre von der Vorsehung Die Lehre von der persönlichen Vorsehung für das Individuum durch Gott ergibt sich nach Auffassung des Kol Sachal geradewegs aus der Zielsetzung des Schöpfers. Denn, so Modena, würde Gott nicht jede einzelne Tat und jeden auch noch so verborgenen Gedanken des Menschen wahrnehmen, dann wäre ja der Schöpfungszweck verfehlt, denn eben darin, in Gottes Wahrnehmung aller Unterschiede findet er ja sein Vergnügen.297 Auch das Beispiel, das der Autor für diese Auffassung anführt, spricht Bände: So wie ein Schachspieler stets die Position, die Strategien und Gefährdungen von 32 Schachfiguren auf ein Mal im Auge haben muss und kann, so kann dies umso mehr auch Gott.298 Er beobachtet nicht nur alles, sondern er weiß auch alles, was in Gegenwart und Zukunft geschieht, ohne dass er dadurch den freien Willen des Menschen einschränkt. Die alte Problematik dieses Widerspruchs von der Allwissenheit Gottes und dem freien Willen des Menschen, also des Widerspruchs einer Pankausalität und der Freiheit des Menschlichen Tuns, wird von Kol Sachal hier mit großer Gelassenheit beiseite gewischt, denn ernst genommen, würde dieser Widerspruch das Schöpfungsziel zerstören. Gott ist ihm einerseits die causa causarum und er weiß darum alles, was er verursacht, sieht alles wie im Spiegel und nötigt den Menschen dennoch nicht in seinem Tun. Der Autor hält also zum einen am mittelalterlichen Kausalnexus der Weltenhierarchie fest. Zum andern befreit er den Menschen daraus, aber nicht wegen des ethischen Ziels, dem Menschen den freien Gehorsam gegenüber dem Gotteswillen zu ermöglichen, sondern um die Vielfalt der
296
Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, übers. Von H.W. Rüssel, S. 10–12; Barzilay verweist auch auf hebräische Autoren, die ähnliche Ansichten vertraten. So Jizchak Abravanel, Kommentar zu Gen 1,1; 1,26; s. bei Barzilay, Between Reason and Faith. Anti Rationalism in Italian Jewish Thought (1250–1650), The Hague 1967, S. 87ff.; Barzilay, Finalizing, S. 148; außerdem Jehuda Moscati, Sefer Nefuzot Jehuda, Lwow 1859, Homilie 34 Tif’eret ’Adam, S. 99ff.
297
Kol Sachal, I.3, Reggio, S. 9–11; Stern, S. 195–199; Fishman, S. 83–85.
298
Kol Sachal, I, 4, Reggio, S. 10; Stern, S. 201; Fishman, S. 86.
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menschlichen Möglichkeiten zu gewährleisten, an denen der Schöpfer seine Freude hat.
2.3.4 Die Lehre von Lohn und Vergeltung Ein weiteres Mal scheint Modena im Folgenden das Rad zur altrabbinischen Theologie zurückzudrehen, wenn er von Lohn und Vergeltung spricht, denen er im Kol Sachal ein eigenes Kapitel widmet. Natürlich kann Gott, der alles sieht, so beteuert der Autor, das Tun des Menschen billigen oder tadeln, belohnen oder bestrafen. Das Wesentliche wird hier wiederum in der folgenden Begründung gesagt. Wenn das Ziel der Schöpfung Gottes Vergnügen an der Vielfalt sein soll, gehört es nach dem Wesen der Dinge auch dazu, dass ihm manche Dinge mehr gefallen und andere weniger, »denn wenn vor ihm kein Unterschied ihres Tuns gälte, und ihm alles gleich wichtig wären, dann hätte er ja kein Vergnügen an ihnen, wie ich schon sagte, dass dies eben die Fülle der Veränderungen und Unterschiede ist.«299 Es ist demnach eben gerade das Maß des Vergnügens, welches den Schöpfer dazu bestimmt, das menschliche Handeln zu sanktionieren: »denn siehe, gemäß der Befriedigung, die ihm von einem Menschen mehr zuströmt als von einem anderen, in dem Maße liebt er oder haßt er ihn.«300 Das Maß dieser Liebe Gottes zu den Menschen richtet sich demnach nach emotionalen Satisfaktionen, wie sie jeder Mensch von sich selber kennt, »so sehen wir ja bei uns selbst, dass wir alle das lieben, was uns zusagt (razuj), und wir hassen das, was uns nicht befriedigt.«301 Auch hier zeigt sich die neue Verankerung der Logik, die in der anthropologischen Empirie ihren Fixpunkt hat. Und was für den Menschen gilt, muss um so mehr für den Allmächtigen gelten, der wie ein »menschlicher König die belohnt, die ihm wohlgefallen, und jene bestraft, die er hasst.«302 Der Autor weiß sehr wohl, dass er mit solchen Worten über die unveränderliche prima causa in einer Weise redet, die nicht angebracht und widersprüchlich ist. Aber er meint, auch wenn all dies anthropomorphe Redeweisen sind, welche das Wesen des eigentlich nicht »Leidensfähigen« nicht betreffen, so darf doch der menschliche Verstand in einer Weise reden, die ihm entspricht. Der Autor fordert hier das Recht zur menschlichen Redeweise von Gott wider alle philosophischen Beschränkungen. Man kennt die philosophische Wahrheit und darf sich dennoch der überzeugenden Rhetorik hingeben. Das hier vorgeführte Menschenbild ist nicht mehr das der jüdischen Antike und des jüdischen Mittelalters. Das Ideal des Menschen ist seine geistige und 299
Kol Sachal, I, 5, Reggio, S. 11; Stern, S. 203; Fishman, S. 87.
300
Kol Sachal, I, 5, Reggio, S. 11; Stern, S. 203; Fishman, S. 87.
301
Kol Sachal, I, 5, Reggio, S. 11; Stern, S. 203; Fishman, S. 87.
302
Kol Sachal, I, 5, Reggio, S. 11; Stern, S. 203; Fishman, S. 87.
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physische Vielfalt, seine Zuwendung zu den weltlichen Künsten und Wissenschaften, wobei die Veränderung, nicht die Stetigkeit, das Ziel sein muss. Hier äußert sich eine Lebensauffassung wie sie aus Modenas Autobiographie und Lebensgeschichte, und aus vielen Teilen der italienisch jüdischen Gesellschaft sichtbar wird,303 dies trotz gegenteiliger Tendenzen der Traditionsbewahrung und des mächtigen auch asketischen Einflusses der Kabbala.
2.3.5 Die Unsterblichkeit der Seele Der Duktus der bisherigen Argumentation Modenas, nämlich dass der Mensch als ein vom Schöpfer auserkorenes und entsprechend mit Willen und Verstand ausgestattetes Wesen den Zweck der Schöpfung zu erfüllen hat, indem er dem Schöpfer Freude bereitet, muss konsequenterweise zur Annahme der Unsterblichkeit der Seele, oder einer sonstwie nachtodlichen Existenz des Menschen, führen. Und es ist eben dieser Gedanke, der dem Autor das Hauptargument für die Unsterblichkeit der Seele ist: »Der stärkste Beweis dafür ist für mich dieser: Wenn nach der grundlegenden Annahme, dass der Mensch als ein besonderes Geschöpf erschaffen wurde, nicht wie die Engel und nicht wie die Tiere, nämlich um den Schöpfer durch seine rationalen, möglichen und seltsamen Taten zu vergnügen, wie könnten wir dann sagen, dass er am Ende keinen Vorteil vor den Tieren hätte und wie sie das selbe Schicksal und den selben Tode erlitten. Sollte das Geschöpf, das mit seinem Verstand Städte baut, Berge versetzt, Flussläufe umlenkt, die Bahnen der hohen Himmel kennt und seinen Gott erkennt, wie ein Pferd, ein Hund oder eine Fliege zugrunde und zuende gehen?«304 Hinzu treten noch weitere Argumente, wie jenes, dass in dem soeben genannten unwahrscheinlichen Falle, dass es mit dem Tode zu Ende ist, der Mensch gegenüber den Tieren sogar noch benachteiligt wäre, da er um sein zukünftiges Ende weiß, was ihm noch mehr Schmerz bereiten müßte als der wirkliche Tod.305 Ein weiteres Mal wird hier die Verlagerung im Wesen des Menschenbildes deutlich. Es ist nicht mehr eigentlich der Gebotsgehorsam und die dadurch erlangte Gerechtigkeit des Menschen, welche sein Überleben nach dem Tode erforderlich macht. Es ist das unterschiedliche Tun des Menschen, vom rationalen
303
C. Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1964, S. 44–63
304
Kol Sachal I, 7, Reggio, S. 14, I, 7; Stern, S. 210; Fishman, S. 91.
305
Kol Sachal I, 9, Reggio, S. 15; Stern, S. 219; Fishman, S. 91.
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bis zum Unbegreiflichen und seine schöpferische Genialität der Weltgestaltung, welche sein Überleben begründen sollen. Ein zusätzliches auffälliges Argument für die Unsterblichkeit der Seele im Gegensatz zum Leib ist dies: »Wenn die Natur, die nichts Vergebliches erzeugt, im Denken des Menschen das Verlangen auf ein ewiges Leben eingewurzelt hat, welches im Körper nicht zu erlangen ist ...«,306 dann, so der Autor, muss es dies auch in Wirklichkeit geben. Hier wird von der Natur des Menschen aus argumentiert, worin Modena Marsilio Ficino folgt.307 Was durch die Natur angelegt ist, muss auch natürlich eintreten. Untermauert wird dieses Argument – von der Unsterblichkeit der Seele im Gegensatz zum Körper – durch den auch schon bei früheren Autoren verwendete »Beweis«308 für die wesenhafte Trennung von Seele und Leib, nämlich dass im Alter der Körper an Kräften verliert, wohingegen der Geist sogar noch hinzugewinnen kann. Das heißt, es ist der im Alter noch wachsende Geist, welcher davon zeugt, dass er nicht mit dem Körper zusammen schwach wird und schließlich stirbt. Zu dieser positiven Affirmation von der »natürlichen« Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die der Natur der Schöpfung und ihrem Zweck entspricht, steht der Verfasser trotz eines gegensätzlichen Befundes in der offenbarten Tora. Gleich zu Beginn seiner Erörterung über die Unsterblichkeit stellt er fest, dass es um den logischen wie exegetischen Befund in der Frage der Unsterblichkeit außerordentlich schlecht bestellt ist. Entgegen der geläufigen Vorstellung der Rabbinen in der Mündlichen Tora spricht die Tora des Moses, das heißt die fünf Bücher des Pentateuch, an keiner Stelle von einer unsterblichen Seele und einer jenseitigen Vergeltung, dies betont der Kol Sachal nachdrücklich. Auch die Propheten und die übrigen Bücher der Bibel, so sieht Modena völlig korrekt, beschränken sich in dieser Frage allenfalls am Rande auf vage Andeutungen.309 Der Verfasser bemüht sich hier offenbar um eine philologisch theologiegeschichtlich korrekte Exegese der biblischen Bücher und verzichtet gezielt auf die rabbinische Hermeneutik, die entsprechende »Beweise« führen konnte, die der Kol Sachal aber als Menschenwerk abtut. Dieser hermeneutische Paradigmenwechsel wird sich noch deutlicher im zweiten Teil des Buches zeigen. Der Autor setzt noch ein Weiteres darauf und betont, dass es seit Menschengedenken keinen klaren Beweis für die Unsterblichkeit der Seele gegeben habe, weder bei Juden noch bei den Völkern, und noch niemals sei ein Toter zurückgekommen, um sie
306
Kol Sachal I, 9, Reggio, S. 14; Stern, S. 209; Fishman, S. 91.
307
S. dazu Josephine Burroughs, Renaissance Philosophy of Man, Introd. S. 191–192; bei Barzi-
308
More III, 52 (Weiss, S. 354); und Ahron ben Elijas v. Nicomedien, ‘Ez ha-Hajjim, Leipzig
309
Dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 198–202.
lay, Finalizing, S. 158. 1841, c. 106, S. 187ff.; c. 109, S. 194ff.
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zu bezeugen. Damit schlägt der Autor der gesamten religiösen Tradition mit ihren einschlägigen Berichten, wie auch den »logischen« philosophischen Argumentationen ins Gesicht und beharrt auf der menschlichen Erfahrung, die einem solchen Glauben offenbar widersprechen muss. Demgegenüber ist seine eigene Argumentation zugunsten der Unsterblichkeit der Seele bemüht, gerade der menschlichen Erfahrung gerecht zu werden und Argumente aus der »Natur«, die nichts Unnützes hervorbringt, zu gewinnen. Dass der Verfasser unter solchen Voraussetzungen das alte rabbinische »Dogma« von der Auferstehung des Fleisches erst gar nicht erwähnt, bedarf keiner weiteren Begründung.
3.
Die Offenbarung und die Bedeutung der Tora
Bei all dieser Betonung der emotionalen Satisfaktionstheorie hinsichtlich des menschlichen Handelns, bleibt der Autor des Kol Sachal ein Kind seiner Zeit, um dennoch von einer positiven Religion zu reden und den Glauben an eine Offenbarung zu bestärken. Er tut dies aber bezeichnenderweise wiederum mittels eines empirischen und anschließend mit einem historischen Argument. Die Offenbarung der Tora, so glaubt der Autor, war nötig, nachdem sich in der frühen Menschheitsgeschichte nach der Schöpfung herausgestellt hatte, dass der menschliche Verstand und sein Forschen zur Regelung seiner Verhältnisse dennoch nicht ausreichte: »und weil es tatsächlich deutlich wurde, dass vom Beginn der Schöpfung einige Generationen vergingen, und der menschliche Verstand nicht ausreichte, sein Verhalten von sich aus zu ordnen, und durch sein Forschen tauglich zu werden und das für ihn Gute zu erwerben, [...] war es nötig, den Menschen von Ihm eine Ordnung und Verhaltensweise in ihrem Leben für alle Lagen und Ereignisse mitzuteilen und zu offenbaren, damit sie sich danach ausrichten, und daraus jenes Ihm wohlgefällige Vergnügen sowie Lohn und Strafe erwüchsen [...] und diese Ordnung wird Tora genannt.«310 Damit scheint der Autor ein weiteres Mal ganz auf die alte Tradition einzuschwenken und seine Satisfaktionslehre dem positiven Gesetz zu unterstellen. Diese Rückwendung ist allerdings, was dann vor allem in den folgenden Traktaten des Buches deutlich werden wird, keine Rückwendung im Sinne des rabbinischen Judentums. Sie ist eher eine solche, wie sie in der religiös geprägten Renaissance im christlichen Europa akzeptabel war. Es ist nämlich alleine die Tora des Moses in ihren fünf Teilen (be-hamischa Humaschim), dem Pentateuch, wel-
310
Kol Sachal, I,6 , Reggio, S. 12; Stern, S. 205; Fishman, S. 88.
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che Kol Sachal als übermenschliche göttliche Offenbarung preist. Ein Beweis für diese Überlegenheit gerade dieser fünfteiligen Tora ist dem Verfasser des Kol Sachal der consensus gentium, das heißt die Anerkennung und Rezeption der Tora durch die drei großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Dieser Konsens der drei Religionen besteht auch dann noch, wenn sie alle drei von der Offenbarung durch Hinzufügungen oder Auslassungen teilweise abgewichen sind.311 Dass in dieser Argumentation, das heißt dem Vorwurf des Abweichens von der offenbarten Tora, das Judentum gleich neben den beiden anderen Religionen auftaucht ist kein Versehen, sondern wie die weiteren Teile des Buches zeigen werden, volle Absicht. Kol Sachal begründet diese seine für rabbinische Ohren häretische Auffassung mit historischen Argumenten, wie sie die rabbinische Tradition nicht kannte. Nach der rabbinischen Tradition steht die Tora, in ihrer doppelten Gestalt als Schriftliche und Mündliche Tora, jenseits der Geschichte. Sie ist überzeitlich und unveränderlich. Demgegenüber ist dem Autor des Kol Sachal der Blick in die Geschichte der Anlass, Veränderungen wahrzunehmen, das heißt Veränderungen von der Schriftlichen zur Mündlichen Tora. Es war schon ‘Asarja de Rossi, der in seinem weit ausladenden Me’or ‘Enajim das historiographische Prinzip in die jüdische Literatur einführte, das heißt Unterstützung für die eigene Auffassung nicht nur aus der eigenen jüdischen Tradition zu suchen, sondern gerade auch von außerjüdischen und gar christlichen Quellen. Doch zwischen ‘Asarja und Kol Sachal besteht ein wesentlicher Unterschied. ‘Asarja hält an der rabbinisch-talmudischen Tradition fest und lässt diese von den außerjüdischen Quellen als zeitbedingte Lehre bestätigen.312 Demgegenüber will Kol Sachal nur das Gemeinsame der drei großen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, als legitim gelten lassen, das heißt die fünf Bücher Mosis. Denn es ist nur die Tora des Moses, welche als Offenbarung anzuerkennen ist, sie enthält zum einen »die richtige natürliche Ordnung, das natürliche Gesetz, […], um danach uns, unser Haus und unseren Staat zu lenken.«313 Darüber hinaus enthält die Tora jene »Weisen, welche den Menschen zur Erkenntnis und Kenntnis seines Schöpfers führen, zum Anfang der Weisheit (Ps 111, 10), zur erhabensten Weisheit, nämlich der Gottesfurcht, durch Kleidung, Speise, Trank, Krankheit und Gesundheit, Frau, Kinder und Brüder, Reichtum und Armut, im Hause und auf
311
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 13; Stern, S. 206; Fishman, S. 89.
312
Vgl. dazu R. Bonfil, Kitve ‘Asarja min ha-’Adumim, Mivchar Perakim mi-toch Sefer »Me’or ‘Enajim« we-Sefer »Mazref la-Kesef«, Jerusalem 1991, S. 37ff. und oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II.
313
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 12; Stern, S. 206; Fishman, S. 89. Zu den drei Ordnungsbereichen vgl. Aristoteles, Politik, c. 1–2; J. ’Albo, Ikkarim, I.5,7.
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dem Feld, beim Säen und Ernten, Gebet und Gottesdienst, Tod und Bestattung, Handel und Wandel – wer kann sie zählen, all jene Anordnungen, die Mizwot heißen, die den Menschen in all seinen Bewegungen vervollkommnen, damit sie zum Wohlgefallen des Schöpfers seien.«314 Diese die ganze Vielfalt des menschlichen Lebens aufzählenden Tätigkeits- und Erfahrungsbereiche des Menschen, in denen er zur Vollkommenheit geführt werden soll, ist ein Echo der oben dargestellten Diversifikation des menschlichen Lebens, die dem Schöpfer Wohlgefallen bereitet – dies umso mehr, wenn diese menschliche Vielfalt nun durch das natürliche Toragesetz zur Vollkommenheit geführt werden soll. Die Gebote der Tora müssen sich demnach auf eine Vielfalt von Lebensbereichen erstrecken, weil Gott eben aus der Vielfalt des menschlichen Lebens sein Vergnügen bezieht. Die Kategorien des göttlichen Gesetzes, das Naturgesetz und jene Gebote, die zur Erkenntnis Gottes führen, sind zu halten, »denn für die Erfüllung der Wurzeln, die alle anerkennen, und für deren Übertretung wird es Lohn und Strafe geben.«315 Alles, was nicht in dieser Schriftlichen Tora steht, ist als Hinzufügung im Laufe der Geschichte zu betrachten. Modena huldigt hier einem biblizistischen Offenbarungskonzept, welches nicht nur die christlichen und muslimischen Additamenta kritisiert, sondern auch die gesamte nachbiblische rabbinische Tradition. Nur im Pentateuch ist das göttliche Licht offenbar. Kol Sachal betont dies, um gegen alle weiteren Offenbarungsansprüche, insbesondere hinsichtlich der rabbinischen Mündlichen Tora zu kämpfen. Das göttliche Vergnügen hat sein Maß ausschließlich in den Geboten des Pentateuch, in nichts Weiterem. Das Minimum der Schriftlichen Tora wird hier zum Maximum des Gesetzes erklärt, das den beiden Zielen dient, der sozialen und politischen Ordnung, das ist das Naturrecht, und der Erkenntnis Gottes. Kol Sachal lässt seine im Folgenden noch darzustellende historisch kritische Untersuchung, mit deren Hilfe er die Verbindlichkeit der gesamten Mündlichen Tora in Frage stellt, allerdings nur bis hinauf zur Richterzeit, beziehungsweise zum Buch der Richter reichen, nicht aber bis zum Pentateuch selbst. Letzteres wird dann im 19. Jahrhundert einem religiösen Historiker wie Abraham Geiger vorbehalten bleiben, der die Offenbarung weitestgehend auf deren anthropologischen Koordinaten reduziert.316 So weit geht Kol Sachal nicht. Offenbar braucht er die Autorität der göttlichen Offenbarung, um mit ihrer Hilfe gegen den menschlichen Offenbarungsanspruch, den er in der Mündlichen Tora sieht, anzukämpfen. Das hat zur Folge, dass neben die oben beschriebene Satisfaktionstheologie, 314
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 12f.; Stern, S. 206; Fishman, S. 89.
315
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 13; Stern, S. 207f. (hier nicht richtig übersetzt); Fishman, S. 90.
316
S. unten Kap. Neuorientierung, V.
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nach welcher die Diversifikation der menschlichen Möglichkeiten als Ursache des göttlichen Vergnügens und Wohlgefallens an der Welt beschrieben wird, das traditionelle ethische Element für das göttliche Wohlgefallen an die Seite gestellt wird. Danach hat Gott Wohlgefallen an der menschlichen Gebotserfüllung im Sinne der Schriftlichen Tora. Aber auch hier setzt Kol Sachal einen spezifischen Akzent, nach welchem der Grund für die Gebotserfüllung nicht wie bei den Rabbinen der Antike der Erweis des menschlichen Gehorsams gegenüber Gott ist. Auch greift der Autor nicht zu den vielfältigen innerweltlichen Begründungsmustern der mittelalterlichen Philosophen, die soziale, hygienische, psychologische, kognitive und noch weiter Gründe für die Gebotserfüllung durch den Menschen aufzählten. Für den Kol Sachal werden die nicht zum Naturrecht zählenden Gebote der Tora mit der Zielsetzung der Erlangung der Gotteserkenntnis und der Gottesfurcht des Menschenzusammengefasst. Abschließend muss allerdings vermerkt werden, dass der Autor des Kol Sachal in einem weiter unten noch zu besprechenden Zusammenhang die Rolle des Moses in der Toravermittlung relativiert, und – dabei einem alten rabbinischen Topos folgend317 – dem im 5. Jahrhundert aus dem babylonischen Exil zurückkehrenden Esra eine entscheidende Rolle bei der Toravermittlung zuschreibt, nachdem die Generationen davor die Tora offenbar aus Unkenntnis nicht befolgt hatten.318 Immerhin will T. Fishman darin einen Hinweis sehen, dass der Autor des Kol Sachal die Redaktion des Pentateuch dem Esra zuschreiben will, ohne damit allerdings dessen Offenbarung zu leugnen.319
4.
Das Naturrecht
Der Kol Sachal greift bei seiner Beschreibung der offenbarten Tora zu einer Darstellung, welche die später von Moses Mendelssohn geprägte Formel vorwegnimmt, dass das Judentum ausschließlich offenbartes Gesetz, nicht aber offenbarte Theologie besitze.320 Kol Sachal sagt, die den Menschen nötige »Ordnung wird Tora genannt, das heißt Belehrung und Lehre, um in der [moralischen] Aufrichtigkeit zur Vollkommenheit zu gelangen.«321 Diese Tora ist nach der Auffassung des Kol Sachal allen übrigen Gesetzen überlegen, was auch ein Mensch, der nicht Anhänger der drei genannten Religionen ist, anerkennen müsse, weil
317
Babylonischer Talmud, Sanhedrin 21b.
318
Kol Sachal, II, 2, Reggio, S. 24; Stern, S. 230; Fishman, S. 103.
319
Fishman, Shaking, S. 55.
320
S. unten Kap. Haskala, III.
321
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 13; Stern, S. 205; Fishman, S. 88f.
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sie vor allem »die gesamte natürliche gerechte (jaschar) Ordnung, das natürliche Recht (Gesetz, dat )« enthält.322 Modena schreibt das zu einer Zeit, in der auch christliche Gelehrte wie Hugo Grotius (1583–1645) oder Jean Bodin (1529/30–1596) vom Naturrecht sprechen, das bei ihnen aber in einem gewissen Gegensatz zum positiven Recht der Religionen steht. Desgleichen argumentiert Uriel da Costa, mit dem sich Modena ausführlich schriftlich auseinandersetzt, mit dem Naturrecht, von dem auch er glaubt, dass es der Tora des Moses überlegen sei. Es ist darum wichtig, die Position von Kol Sachal in dieser Debatte genauer zu verstehen. Hugo Grotius sieht in seiner grundlegenden Schrift De jure belli ac pacis von 1625 das natürliche Recht zum einen als göttlich an, da Gott der Schöpfer der Natur ist.323 Andrerseits sieht er aber die Gottheit durch das einmal der Natur eingepflanzte Gesetz selbst begrenzt,324 wohingegen der Mensch dank seiner Begabung mit der Vernunft im Rahmen des Naturrechtes eine Handlungsautonomie besitzt.325 Unter der Natur, von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, scheint Grotius die menschliche Natur zu verstehen, »in deren gottgeordneter Beschaffenheit er eine Grundlage des Rechtes erblickt.«326 Eine analoge, wenn auch freimütiger kritische, Position vertrat auch Uriel da Costa,327 der in seiner Autobiographie als ein Mensch angesichts des Todes vor der Wahrheit nicht mehr zurückzuschrecken gedenkt: »da kam mir der Zweifel, ob das mosaische Gesetz wirklich als Gottes Gesetz gelten dürfe, denn es gab vieles, was dagegen sprach, oder vielmehr das Gegenteil anzunehmen zwang. Endlich kam ich zu der Überzeugung, das Ge322
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 12; Stern, S. 206; Fishman, S. 89.
323
»Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung, wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst, eine moralische Notwendigkeit oder eine moralische Häßlichkeit innewohne, weshalb Gott, als der Schöpfer der Natur, eine solche Handlung entweder geboten oder verboten habe.« De jure belli, lib. I, cap. 1, § 10, zit. nach F. Jodl, Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft, Wien 1906 (Nachdruck Stuttgart o.D.), I, S. 201f.
324
»Demnach gibt es für den göttlichen Willen eine doppelte Schranke: nicht bloß in dem logisch und formal Unmöglichen, sondern auch in der inneren Natur der Dinge, so wie sie von Gott einmal geschaffen sind. Da diese ganz auf sich selber ruht und in ihr Recht und Unrecht begründet sind, so könnte man bei Grundlegung des natürlichen Rechts von der Existenz Gottes auch abstrahieren.« Ebd., S. 203.
325
»Diese von Vernunft geleitete Sorge um die Gemeinschaft ist die Quelle des eigentlich so genannten Rechts; es fließt aus der Natur eines mit Vernunft begabten, geselligen Wesens. Die Mutter des natürlichen Rects ist die menschliche Natur selbst [...]«, ebd., S. 204.
326
Ebd., S. 203.
327
Zu ihm s. unten Kap. Tradition und Religionskritik, II.5.
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setz sei nicht von Moses, sondern bloß eine menschliche Erfindung, wie es deren noch unzählige in der Welt gab. Vieles darin widerstritt nämlich dem Naturgesetz, und Gott, der Schöpfer der Natur, konnte doch nicht mit sich selbst im Widerspruch sein [...]«328 Dieses natürliche Gesetz da Costas hat seine wahre Norm gleichfalls in der menschlichen Vernunft, es ist darum allen Menschen qua Menschen gemein, weshalb es eines weiteren Gesetzes nicht bedarf. Darum »Was immer das mosaische Gesetz oder irgend ein anderes an Gutem enthält, schließt das Naturgesetz alles in vollkommener Form in sich, und wenn man auch nur ein wenig von dieser natürlichen Norm abweicht, entsteht sogleich Streit [...]«329 Das heißt, das mosaische Gesetz ist allenfalls darin gut, wo es dem umfassenderen Naturgesetz entspricht, es ist ihm aber niemals ebenbürtig oder gar überlegen. An dieser Stelle wird die Differenz zum Kol Sachal unübersehbar deutlich. Kol Sachal hält an der Tora des Moses fest und kehrt die Reihenfolge um. Die Tora ist es laut Kol Sachal, welche das natürliche Gesetz enthält, und zwar in einer Vollkommenheit, die menschlichem Vermögen herzustellen nicht gegeben ist. Dies ist auch der Grund, weshalb sie von allen bekannten Religionen übernommen wurde.330 In ihr ist die Vernunft und Gerechtigkeit für alle drei von Aristoteles definierten menschlichen Handlungsbereiche, Individuum, Familie und Staat, enthalten. Der weitere, oben schon angesprochene wesentliche Unterschied zu den genannten Zeitgenossen von Kol Sachal ist der, dass nach des Kol Sachal Auffassung der menschliche Verstand und menschliches Forschen nicht hinreichte und nie hinreichen wird, um die menschlichen Verhältnisse zu ordnen. Darum bedurfte es der göttlichen Tora und nur ihrer. Alle menschliche Hinzufügung, sei sie jüdisch, christlich oder muslimisch, ist eine Abirrung vom natürlichen Gesetz. Damit ist die theoretische Grundlage für die beißende Kritik an der rabbinisch-talmudischen Tradition gelegt, in der Modena eben ein solches vergebliches menschliches Bemühen sieht. Kol Sachal fordert demnach keine Ablehnung der positiven Religion, sondern nur eine Zurückweisung der nachbiblischen Tradition als menschgemachter, wie im zweiten Traktat mit historischen Argumenten belegt werden wird. Für die Frage, worin denn nun für den Kol Sachal die Natürlichkeit dieses Naturrechtes der Tora bestehe, nachdem es nicht aus der menschlichen natürlichen Vernunft stammt, verweist T. Fishman auf die Auffassung vom Naturrecht,
328
Nach der Übersetzung von C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel da Costa. Mit einer Einleitung, Übertragung und Regesten herausgegeben, Amsterdam/Heidelberg/London 1922, S. 129; zum Ganzen s. auch H. Jellinek, Uriel Acosta’s Leben und Lehre, Zerbst 1847.
329
Gebhardt, ebd., S. 140.
330
Kol Sachal, I, 6, Reggio, S. 13; Stern, S. 206; Fishman, S. 89.
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wie sie schon der Verfasser des Sefer ha-‘Ikkarim, Josef ’Albo (ca. 1360–1444), vertrat. Nach seiner Auffassung gab es drei verschiedene Rechte: »Das Gesetz ist entweder ein natürliches, oder ein bürgerliches, oder ein göttliches. Das natürliche ist gleich für jeden Menschen, jede Zeit und jeden Ort. – Das bürgerliche wird von einem oder mehreren Weisen dem Orte, der Zeit, und der Natur der zu Leitenden gemäß, bestimmt [...] – Das göttliche wird von Gott eingeführt, vermittelst eines Propheten, wie Adam oder Noah, wie die Unterweisung und Gesetz, worin Abraham die Menschen unterrichtete und übte zum Dienst Gottes, auf Dessen Geheiß er sie beschnitt [...]«331 Das bei ’Albo genannte natürliche Recht ist nach dem fünften Kapitel des Sefer ha-‘Ikkarim darum natürlich zu nennen, weil es »dem Menschen seiner Natur nach nothwendig« ist.332 Die Notwendigkeit dieses Rechtes ist bei ’Albo durch den Mangel des Menschen begründet, der es seiner Natur wegen braucht, nicht wegen seiner positiven Entsprechung mit der Schöpfungsordnung. Man mag die Gemeinsamkeit zu Kol Sachal darin sehen, dass auch bei ihm der zum Naturrecht zählende Anteil der Tora alles regelt, was dem Menschen für sein Ich, seine Familie und den Staat not zu tun ist. Die Differenz zu ’Albo besteht aber darin, dass ’Albo neben dem natürlichen Recht für alle Menschen und dem göttlichen »Ritualrecht« noch ein Gesellschaftsrecht kennt, während der Kol Sachal sowohl das Naturrecht wie auch das »Ritualrecht« göttlich sein lässt und keinerlei menschliches Konsensrecht anerkennen will. Es ist ja gerade ein solcher Konsens, nämlich das rabbinische Recht, den Kol Sachal als unzulässige Hinzufügung zum göttlichen Recht bekämpft.
5.
Die Schriftliche und die Mündliche Tora
5.1
Die neue Hermeneutik
Der zweite Traktat des Kol Sachal verfolgt das Ziel, die in der ersten Abhandlung schon unterstrichene Auffassung von Umfang und Natur der göttlichen Offenbarung zu untermauern. Hier will der Autor zeigen, dass alleine die »Schriftliche Tora« die Offenbarung Gottes ist, neben der es entgegen der »dogmatischen« Behauptung der rabbinischen Tradition keine sinaitische Offenbarung ei-
331
Nach Sefer ‘Ikkarim, Buch Ikkarim, Grund- und Glaubenslehren der Mosaischen Religion von Rab. Josef Albo, [...] ins Deutsche übertragen von. Dr. W. Schlessinger [...] und Dr. Ludw. Schlesinger, Berlin 19222, I,7, S. 27, und vgl. I, 5, S. 23f.
332
Albo, Ikkarim I, 5, S. 24.
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ner »Mündlichen Tora«333 gegeben habe. Das Fundament für die Argumentation wider eine mündliche Toraoffenbarung ist die neue Hermeneutik des Verfassers, und das bedeutet zugleich den Bruch mit der überkommenen rabbinischen Hermeneutik wie sie zum Beispiel in den so genannten sieben Regeln Hillels, den zwölf Jischma’els oder den zweiunddreißig ’Eli‘esers kodifiziert wurden.334 Modena verlässt diese metaphilologischen Regeln der Rabbinen und wendet sich einer historisch-philologischen Auslegung der biblischen Texte zu. Auch die schriftliche Tora gilt nun nicht mehr als das allumfassende Schatzhaus jeglichen menschlichen Wissens, aus dem es galt, alle nur erdenklichen Erkenntnisse eben mit den metaphilologischen Methoden abzuleiten. Vielmehr versteht Kol Sachal die Tora als in einer normalen menschlichen Sprache verfasst, die es gilt, mit den entsprechenden Methoden zu deuten und kritisch zu lesen. Das bedeutet unter anderem, dass die Tora und die gesamte Bibel wie historische Quellen zu lesen sind, entsprechend anderen antiken oder altorientalischen Texten, Josephus und das Neue Testament.335 Demnach ist die Tora nicht ein Textkorpus, das es mit anderen Regeln zu deuten gilt als die übrigen überkommenen Texte der Vergangenheit, sondern mit eben jenen Methoden, die man in seiner Zeit auf klassische Texte anwandte, bei denen auf Stil, Allegorie, Metapher, Rhetorik und dergleichen als üblichen Stilmitteln zu achten ist, bevor man falsche Schlüsse zieht. Der Autor des Kol Sachal vollzieht den hermeneutischen Paradigmenwechsel und damit die Beurteilung der rabbinischen Auslegungsmethoden nicht wie ‘Asarja dei Rossi aus historischer Distanz und der perspektivischen Deutung der rabbinischen Hermeneutik, sondern aus der aktuellen Auseinandersetzung um die Wahrheit, weshalb ihm die rabbinische Hermeneutik schlichtweg als falsch erscheinen musste, als willkürliche Erweiterung und Verkürzung der biblischen Texte. Modena führt den Paradigmenwechsel zu Moderne durch, ohne dies bewusst zu machen. Der rabbinische Deutekosmos wird nicht als unterschiedliches hermeneutisches Paradigma anerkannt, das seinen eigenen Regeln folgt und einen eigenen gesellschaftlichen Konsens erzeugte und auf ihm ruhte, sondern er wird aus dem Blickwinkel der eigenen Wende betrachtet und daraus als falsch, nicht als verschieden, beurteilt. Dieses ohne historische Distanz gefällte Urteil muss den Autor des Kol Sachal natürlich zur Polemik und gar zur Unterstellung einer böswilligen und machtlüsternen Verdrehung der Offenbarung durch die Rabbinen führen. Der überkommene soziale Konsens ist für Modena zerbrochen
333
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff.
334
S.H.L. Strack, G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch 19827, S. 25–40; K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruk- tion, hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung von Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Berlin, Dreieck Verlag des Forum Guardini, S. 11–36.
335
Kol Sachal III, Reggio, S. 38; Stern, S. 266; Fishman, S. 123.
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und mit ihm dessen hermeneutische Basis, darum ist die Auseinandersetzung um die Stütze dieses alten Konsens so heftig. Die neue Deutung der biblischen Texte ist jedoch auch nicht die der mittelalterlichen Rationalisten, welche die der Vernunft widersprechenden Aussagen der Bibel einfach als Metapher und Allegorie verstanden, die dementsprechend rational zu übersetzen ist. Die allegorische Deutung der mittelalterlichen Philosophen diente der Übertragung einer vorgeblich »poetischen Sprache« in den Kosmos der Ratio. Die Sprache der Bibel war nach der mittelalterlichrationalistischen Auffassung die bildliche Sprache für das einfache Volk die vom Philosophen in den Bereich der Ratio zu transportieren war. Nicht so bei Modena. Die Allegorie und Metapher waren für ihn künstlerische und rhetorische Mittel, die in ihrem künstlerisch-sprachlichen Kontext belassen werden, aber dort adäquat verstanden werden sollten. Nicht die Übertragung in ein anderes hermeneutisches Paradigma,336 nicht von der Volkssprache in die Philosophensprache, ist die Aufgabe des Exegeten, sondern das richtige Verstehen der rhetorischen Mittel in ihrem eigenen denkerischen und sprachlichen Kosmos. So darf man nach Modenas Auffassung die biblische Formulierung: »Und es sollen diese Worte, die ich dir heute gebiete auf deinem Herzen sein [...] und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden und sie sollen zum Erinnerungszeichen zwischen deinen Augen sein« (Dtn 6,6–8) nicht wie die Rabbinen dies tun, buchstäblich verstehen und aus ihnen das Gebot der Tefillin ableiten, das heißt die Verpflichtung sich auf Arm und Stirn Lederkapseln mit den entsprechenden Schrifttexten zu knüpfen.337 Diese biblischen Worte, so betont Modena, müssen verstanden werden wie etwa die anderen Worte desselben biblischen Buches Deuteronomium, wo es heißt: »Und ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden« (Dtn 10, 16), die ja auch nur metaphorisch zu deuten sind.338 Hier, im Falle der Tefillin, so wirft Modena den Rabbinen vor, erfinden sie ein neues Gebot wider den Schriftsinn, während sie in vielen anderen Fällen Gebote vermindern oder verkürzen, wie im Falle des Zizitgebotes, das heißt der Verpflichtung an die Ecken der Gewänder Schaufäden zu binden (Num 15, 38).339 Im letzteren Falle schränkten die Rabbinen das Gebot auf Kleidungsstücke ein, die tatsächlich vier Ecken haben, weshalb man heute zum Beispiel eigens ein viereckiges Tuch, den Tallit einsetzt, um mittels seiner Hilfe das Zizitgebot erfüllen zu können, was bei nicht eckigen Kleidungsstücken laut dieser Deutung nicht möglich und
336
Dazu s. K. E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation,
337
Kol Sachal III und II, 1, Reggio, S. 38, 21–23; Stern, S. 227, 261; Fishman, S. 101, 123.
338
Kol Sachal II, 3, Reggio, S. 26, Stern, S. 238; Fishman, S. 107.
339
Kol Sachal II, 1, Reggio, S. 21f.; Stern, S. 228; Fishman, S. 102.
Dekonstruktion, S. 11–36.
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nicht erforderlich ist.340 Der Autor des Kol Sachal wirft den Rabbinen mithin vor, zum einen, wie die gleichfalls von ihm attackierten Karäer,341 die Schrift zu wörtlich zu nehmen und sie andererseits wie die Christen willkürlich zu verkürzen. Modena weiß wohl, welche Argumente man seiner Position aus dem traditionellen Lager entgegenhalten würde und benennt sie sogleich, um sie im Weiteren Schritt für Schritt zu widerlegen: 1. Der erste Einwand, den er zu gewärtigen habe sei, dass die rabbinische Auslegung ja durch eine lange Tradition und das Brauchtum verbürgt sei. 2. Zum zweiten gebiete ja die Tora selbst, Dtn 17, 8–10, dass im Falle von Unklarheiten der Rechtsauslegung man sich an die jüdischen Gerichte, insbesondere an das Obergericht in Jerusalem wenden solle, um von dort eine verbindliche Auslegung des zweifelhaften Falles zu erhalten – und eben dies sei die Basis für die Mündliche Tora. 3. Drittens, schließlich, werde man auf die Magna Charta der rabbinischen Lehre von der doppelten Tora, den Beginn des Mischnatraktates Pirke ’Avot, verweisen, in welchem eine ununterbrochene Traditionslinie vom Sinai bis in die rabbinische Gegenwart überliefert werde.342 Alle drei Einwände werden nun im Folgenden mit Hilfe der neuen historischen und philologischen Hermeneutik widerlegt.
5.2
Das Fehlen einer ununterbrochenen Traditionskette
Als erstes widerlegt Modena das dritte Argument von der ununterbrochenen Traditionskette, das ihm als das Wesentlichste erscheint. Hierfür dient ihm eine historiographische Lektüre der biblischen Texte selbst. Dabei kommt er zu Schlussfolgerungen, welche mutatis mutandis noch in der modernen Forschung gelten. Aus den Berichten der biblischen Richter-, Samuel- und Königsbücher kommt er zu dem Schluss, dass der Pentateuch beim allgemeinen Volk der Richter- und Königszeit offenbar nicht bekannt gewesen war. Stattdessen hätten die jeweiligen Führer der Generationen dem Volk je und dann die Texte in der ihnen richtig dünkenden Weise ausgelegt. Aber es ist noch schlimmer gekommen:
340
Entsprechend ist das so genannte Tallit katan, das kleine Tallit, ein viereckiges Untergewand, an dem die Fäden angebracht werden können; vgl. Kol Sachal II, 1, Reggio, S. 22; Stern, S. 228; Fishman, S. 102.
341
Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 357f.
342
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 345f. und die zugehörige Mischnastelle ’Avot 1, 1. Kol Sachal, II, 1, Reggio, S. 22f;. Stern, S. 229; Fishman, S. 102f.
118
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»Nach und nach wurde die Tora selbst von den Führern des Volkes vergessen, wie es aus 2. Könige 22 zu ersehen ist: ›Es sprach Hilkijahu etc.: Ein Tora-Buch habe ich im Hause des Herrn gefunden etc. Und Schafan berichtete: Ein Buch gab mir der Priester Hilkijahu und Schafan las es [dem König] vor etc. Und als der König die Worte des Tora-Buches vernahm, zerriss er seine Kleider‹ (2. Kön, 22, 8ff). Das Buch muss also dem Hohenpriester, sprich dem Hüter der Tradition, das heißt dem Oberhaupt der Generation, unbekannt gewesen sein, ebenso dem König Josia, obwohl er fromm war und das Rechte in den Augen des Herrn tat.«343 In seinen Schlussfolgerungen aus der Lektüre der biblischen Texte schwankt der Autor von Kol Sachal zwischen der Auffassung, dass die Israeliten die Deutungen, welche Moses seinem Nachfolger Josua sehr wohl übergeben habe,344 im Laufe der Zeit schlichtweg vergessen hatten und sie nun wieder an sie erinnert wurden, und jener mehr radikalen, dass der Pentateuch den Israeliten der JosiaZeit wirklich als etwas Neues erschienen war.345 Dieser Eindruck verstärkt sich bei den nächsten historischen Ereignissen, welche Kol Sachal deutet, nämlich bei der Mission des nachexilischen aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrten Schriftgelehrten Esra. Hier spricht der Kol Sachal davon, dass Esra bei seiner Rückkehr dem Volk in Jerusalem das Tora-Buch »offenbarte«, welches sich bei ihnen gefunden habe, um es ihnen hernach nach seinem Verständnis auszulegen. Dies bedeute nicht, dass Esra an der von Moses geschriebenen Tora auch nur einen Buchstaben geändert habe, aber dennoch könne man sagen: »dass wir die gesamte Tora, die wir heute besitzen, [...] nicht von Moses, sondern ausschließlich von Esra empfingen. Denn bei ihm war sie verborgen, und so lag es an ihm, sie gemäß seinem Gutdünken und seinen Absichten den Israeliten zu überbringen – und verstehe dies!«346 Diese Formulierung ist weit von dem rabbinischen Diktum entfernt, nach welchem Moses dem Volk Israel die Tora in der althebräischen Schrift in der heiligen Sprache, Esra aber in der assyrischen Quadradtschrift und in Aramäisch übergeben habe.347 Modenas Formulierung klingt eher wie ein fernes Echo der samaritanischen, hellenistischen, karäischen und muslimischen Polemik gegen
343
Kol Sachal II, 2, Reggio, S. 23; Stern, S. 231; Fishman, S. 103f.
344
Kol Sachal II, 2, Reggio, S. 23; Stern, S. 230; Fishman, S. 103.
345
2. Könige 22; Nehemia 8, 14; Kol Sachal II, 2, Reggio, S. 23; Stern, S. 231; Fishman, S. 103f.
346
Reggio, S. 24; Stern, S. 233; Fishman, S. 104f.
347
Babylonischer Talmud, Sanhedrin 21b; s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 145.
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die Autorschaft des Moses und stattdessen einer Zuschreibung an Esra.348 Das mindeste, was Modena deutlich sagt ist, dass Esra die Tora nach eigenem Verständnis deutete und sich nicht auf eine mosaische Deutungstradition berief. Und dies war nach seiner Sicht der Dinge auch das weiterhin übliche Verfahren, nämlich dass jede Generation in eigener Verantwortung die alten Texte deutete und demnach auch die traditionellen Zuschreibungen einzelner Halachot an Esra fraglich bleiben müssen und folglich auch Esra keine mündliche Tradition begründet habe.349 Ein besonders bedeutsames Indiz für das Fehlen einer solchen autoritativen Tradition ist unserem Autor die allseits bezeugte Tatsache der sprichwörtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Rabbinen, die bis in die Gegenwart des Autors herabreicht. So waren zum Beispiel Raschi (1040–1105) und sein Enkel Rabbenu Tam (1100–1171) nicht einer Meinung über die Reihenfolge der Schrifttexte in den Kapseln der Tefillin,350 was wohl kaum der Fall sein konnte, hätten sie eine verbürgte Tradition besessen.351 Damit ist auch der erste Einwand hinsichtlich der alten und kontinuierlichen rabbinischen Auslegungstradition zurückgewiesen. Modena kann sie nicht erkennen.
5.3
Die beschränkte Autorität des Obergerichtshofes in Jerusalem
Das nächste Argument richtet sich gegen die Auslegung einer Bibelstelle, aus welcher die Rabbinen das Recht zur Begründung und Fortschreibung der Mündlichen Tora ableiteten. Der fragliche Text ist Dtn 17, 8–12, der bestimmt, dass in unklaren Rechtsfällen das oberste Gericht in Jerusalem zu hören sei, dessen Spruch man sodann zu befolgen habe. Die Mischna deutet diesen Text, der von dann und wann auftretenden problematischen Rechtsfällen spricht, in einem völlig neuen Sinn. Nämlich dahingehend, dass dieses Gericht nicht eigentlich über konkrete Rechtsfälle entschied, sondern über strittige Lehrmeinungen, das heißt dass dieses Gericht eine autoritative Rechtsauslegung vortrug, die sie innerhalb der Gerichtstradition überkommen hatte und die fortan als gültiges Recht zu gelten habe. Aus einem obersten Gerichtshof wurde so eine oberste Lehrbehörde. 348
Vgl. M. Gaster, The Samaritans: Their History, Doctrines and Literature, London 1923, S. 28ff., 90; E. Stein, Alttestamentliche Bibelkritik in der späthellenistischen Literatur, in: Collectanea Theologica Theologorum Polonorum 16 (1935), 3. S. 3–48, hier S. 34–43; L. Nemoy, ‘Al Qirqisanis’s Account of the Jewish Sects, in: HUCA 7 (1930), S. 317–98, hier S. 331; M. Perlman, The Medieval Polemics Between Islam and Judaism, in: Religion in a Relious Age, hrsg. von S. D. Goitein, Cambridge, Mass. 1974, S. 103–129, hier S. 110f.; nach Fishman, Shaking, S. 225.
349
Kol Sachal II, 2-3, Reggio, S. 24f.; Stern, S. 233ff.; Fishman, S. 103–109.
350
Dazu vgl. Y. Yadin, Tefillin from Qumran, Jerusalem 1969, S. 11–15.
351
Kol Sachal II, 3, Reggio, S. 25–28; Stern, S. 235–241; Fishman, S. 105–109.
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Demgegenüber beharrt Kol Sachal auf einer Deutung des Textes aus dem biblischen Zusammenhang, wonach dieses Gericht einzelne Fälle letztinstanzlich entscheidet, nicht aber rechtsetzende Behörde ist.352 Wieder ist es die neue Hermeneutik und der aufgekündigte rabbinisch-gesellschaftliche Konsens, mit denen die Stellung der rabbinischen Mündlichen Tora untergraben wird.353 Besonders schlecht kommen in der Sicht von Kol Sachal die Pharisäer weg, denen er vorwirft, eine Unzahl von Geboten erfunden zu haben, um das Volk unter ihre Herrschaft zu zwingen und die darauf bestanden, diese neuen Gebote nicht aufzuschreiben, um so den einfachen Mann in ihrer Abhängigkeit zu halten: »sogar als die Pharisäer zur Zeit der Könige des zweiten Tempels stärker als die übrigen Sekten wurden, wurden zunächst diejenigen, welche ihre [der Pharisäer] Verordnungen übertraten noch nicht nach ihnen verurteilt und bestraft, sondern zunächst nur diejenigen welche sie angenommen hatten [d.h. Anhänger der Pharisäer waren]. Aber Generation um Generation wurden ihre Verordnungen stärker, wurden wie die Gebote der Tora selbst, bis man schließlich auch sie Tora nannte, nämlich die Mündliche Tora. Und sie sagten, dass dies alles vom Sinai oder von den Propheten komme.«354 Der Autor des Kol Sachal zeichnet hier den Prozess der Entstehung der Mündlichen Tora, wie ihn ähnlich die moderne Forschung noch sieht, nämlich als eine voranschreitende Sammlung von Gewohnheitsrecht, die spätestens zur Zeit der entstehenden Kirche als Mündliche Tora und als Zaun um die Tora dogmatisiert wurde.355 Die Redaktion der Mischna durch Rabbi Jehuda ha-Nasi356 deutet Kol Sachal als den Versuch Rabbi Jehudas, der endlosen Gesetzesnovellierung ein Ende zu bereiten und das bis dahin Gültige jedem in die Hand zu geben, damit er sich aus der Abhängigkeit der rabbinischen Gelehrten befreien könne. Aber wieder begann das selbe Spiel: Die Gelehrten des Babylonischen Talmud bauten auf der
352
Kol Sachal II,4, Reggio, S. 28f.; Stern, S. 242–246; Fishman, S. 109–112. Noch Ch. Albeck sieht in seinem Mevo Ha-Mischna, Tel Aviv 1967, S. 4 in diesem biblischen Text eine Begründung der rabbinischen Autorität im Sinne der Mischna (deutsch: Ch. Albeck, Einführung in die Mischna, Berlin 1971).
353
Zur traditionellen Auslegung vgl. noch Sifre, Schoftim, hrsg. von Finkelstein, New York 1969
354
Kol Sachal II, 5, Reggio, S. 30, Stern, S. 248f.; Fishman, S. 112f.
355
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
356
Vgl. ebd., S. 166.
(Berlin 1939), S. 206.
Traditions- und Religionskritik
121
Mischna neue Türme von Gesetzen auf, in denen Modena nichts als eine babylonische Verwirrung sieht,357 die er mit den schärfsten Worten geißelt:358 »Nur an ihrer Wissenschaft, bei der es keine Gewissheit gibt, halten sie fest, und wer sie noch mehr verwirrt, wird gerühmt, und wer in den Talmudschulen schreit und lärmt, wird Erster. Das Seelenheil kann [nach ihrer Auffassung] nur durch das Verständnis der Kontroversen Abbajas und Rabbas erreicht werden [...] Ein Drittel dieser Wissenschaft bilden wüste und leere Worte, ein Drittel bezieht sich auf Speise, Trank und Koitus, ein halbes Drittel spricht über Gott wie über einen von den niedrigsten Menschen, und über die Diener Gottes wie um ihr Verdienst zu verringern. [...]«359 Durch die Kodifizierung der »menschlichen« Deutung als Mündliche Tora vom Sinai, so Modena, macht die rabbinische Halacha aus den weitgehend frommen und gerechten Juden ein Volk von Sündern, welches sich an vermeintlich göttlichem Recht versündige.360 Des weiteren ist er der Überzeugung, dass ohne die menschlichen Additamenta zur göttlichen Tora die Völker der Welt unter der einen Tora Gottes vereint wären und damit das Exil beendet würde.361 Auch wenn der Autor des Kol Sachal gelegentlich über sein Ziel hinausschießen mag, darf man ihn neben ‘Asarja dei Rossi dennoch mit Fug und Recht als einen der Pioniere der modernen Religionsgeschichtsschreibung nennen, wenn diese auch aus einem polemischen Motiv heraus entstand. Was ihn von späteren Autoren etwa vom Range eines Abraham Geiger362 im 19. Jahrhundert unterscheidet, ist, dass er den Pentateuch selbst noch nicht eigentlich in seine historische Betrachtung einbezieht und ihn als die Offenbarung Gottes stehen lässt, während er alle übrigen Texte der Bibel und der nachbiblischen Literatur als von Menschen gemachte Texte und somit als historische Quellen betrachtet und aus ihnen über die Stellung und Kenntnis der Schriftlichen Tora und einer vermeintlich Mündlichen Tora in der Geschichte Schlussfolgerungen zieht. Damit ist das rabbinische Gesellschaftsmodell, das auf der rabbinischen Hermeneutik und dem Dogma von der Mündlichen Tora aufruht, aufgekündigt. Diesem Modell schreibt der Autor von Kol Sachal auch die Schuld daran zu,
357
Kol Sachal II, 5, Reggio, S. 31; Stern, S. 249; Fishman, S. 113.
358
Kol Sachal II, 5, Reggio, S. 31, Stern, S. 251; Fishman, S. 114.
359
Kol Sachal II, 5, Reggio, S. 31; Stern, S. 251; Fishman, S. 114.
360
Kol Sachal II, 6, Reggio, S. 33; Stern, S. 255; Fishman, S. 116.
361
Kol Sachal II, 6 Reggio, S. 34; Stern, S. 256f.; Fishman, S. 117.
362
S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, V.
122
Leone Modena
dass es mit seinen den Alltag erschwerenden Halachot den Juden an allen Orten ihres Exils nur Verachtung durch die Völker beschere.363
6.
Der neue Schulchan ‘Aruch
Im dritten Teil des Buches legt der Verfasser einen Entwurf für einen eigenen auf den biblischen Geboten fußenden jüdischen Rechtskodex vor, bei dem er sich ankündigungsgemäß aus Gründen der Praktikabilität nicht an die Reihenfolge der Bibel hält oder, wie im Mittelalter verbreitet, die Gebote getrennt nach Gebot und Verbot aufzählt. Stattdessen hält sich Kol Sachal an die Anordnung des großen Kodex ’Arba‘a Turim von Ja‘akov Ben ’Ascher (abgeschlossen im Jahre 1340), die nachher auch zur Gliederung von Josef Karos (1488–1575) Schulchan ‘Aruch geführt hatte.364 Für den hier vorliegenden Zusammenhang sind nicht die einzelnen realen Gebote und die Auseinandersetzung mit der rabbinischen Deutung wichtig, sondern einige Grundzüge, welche Modenas Vorstellungen vom biblischen Recht im Gegensatz zum rabbinischen Verständnis prägten. Leitfaden der Gebotsdeutung ist dabei – und dies entspricht wiederum der typischen neuen Grundeinstellung des Autors – dass die Gebote dem Menschen gelten, sein Handeln bestimmen sollen und nicht auf die Gegenstände und Materialien bezogen werden sollen. Das bedeutet, der Mensch ist das Maß der richtigen Gebotserfüllung, nicht die betroffenen Gegenstände. So sei zum Beispiel das Ziel des Gebotes der Schaufäden, dass der Mensch der Gebote und Gottes eingedenk sei, und dies ist unabhängig von der Beschaffenheit und Qualität der Schaufäden selbst, der die rabbinische Diskussion und Gesetzgebung so großen Raum widmet. Dagegen polemisiert Modena: »Sie [die Rabbinen] unterscheiden zwischen der Pflicht der Gegenstände und der Pflicht des Menschen, wo erstere doch nicht zum Gebot Verpflichtete sind, sondern nur der Mensch als einer, der Gedächtnis und Verstand besitzt.«365 Das bedeutet, der Autor lehnt alle Bestimmungen, welche sich auf die Gegenstände beziehen ab und fragt nur danach, welches Ziel das Gebot am Menschen erreichen soll. Diese Leitlinie führt ihn zuweilen sogar zum Beifall für rabbinische Regeln, die nicht in der Tora stehen, die Modena aber zur Erreichung des von der Tora intendierten Zieles für vernünftig erachtet. So begrüßt er zum Beispiel die Verpflichtung zur Schma‘Rezitation als Königsproklamation Gottes und zum Schmone-‘Esre-Gebet, wiewohl über beide in der Schriftlichen Tora nichts einschlägiges geschrieben steht. Modena stimmt diesen rabbinischen Regelungen zu, weil »der Verstand dies als
363
Kol Sachal II, 5, Reggio, S. 30; Stern, S. 247; Fishman, S. 113.
364
Hierzu J. Petuchowski, ha-Haham David Nieto, S. 40.
365
Kol Sachal III, ’Orach Hajjim 19, Reggio, S. 37, Stern, S. 263; Fishman, S. 121.
Traditions- und Religionskritik
123
das wichtigste Gebot fordert, denn der Mensch besitzt kein besseres Zeichen der Anerkennung [Gottes] als den Gottesdienst für den Schöpfer, und dass er stets seiner eingedenk ist als des Herrn des Alls, und dass er seinen Preis mit der Sprache ausrufe, die Er ihm vor allen Lebewesen geschenkt hat, um von ihm alle sein Bedürfnis zu erbitten [...]«366 Es ist diese Zentrierung des Interesses auf den Menschen, welches in den zahlreichen behandelten Bestimmungen zu Folgerungen führte, die reichlich zweihundertundfünfzig Jahre später zu zentralen Anliegen der Reformer in Deutschland wurden: Die Kürzung von Gebeten und Gottesdienst, die die Menschen über Gebühr ermüden und keine Andacht ermöglichen, die freie Formulierung von persönlichen Gebeten, das Wort der Predigt im Gottesdienst, die Ruhe und Ordnung im Gottesdienst. Bedeutend ist auch die Ablehnung der vielfältigen rabbinischen Bestimmungen für die Weise den Schabbat zu halten. Bezüglich des Arbeitsverbotes möge jeder selbst ermessen, was für ihn Arbeit ist,367 Feuer im Haushalt dürfe sein, Brände darf man löschen. Wichtig ist es Modena auch, jene Bestimmungen fortzulassen, die ein gedeihliches und enges Zusammenleben mit den Nichtjuden behindern. Abschließend soll noch ein Beispiel angeführt werden, welches in besonders eindrucksvoller Weise zeigt, dass für Kol Sachal ausschließlich das menschliche Zusammenleben, nicht das formale Gebot im Zentrum des Interesses steht. Dafür scheut er auch nicht davor zurück zu völlig neuartigen Gebotsbegründungen zu greifen. Das biblische Gebot bezüglich der männlichen Haartracht sagt: »Ihr sollt den Rand (Pe’a) eures Haupthaars nicht rundum abscheren, auch sollst du den Rand deines Bartes nicht entfernen« (Lev 19, 27). Das rabbinische Interesse an diesem Gebot ist gänzlich auf die Sache, den Gegenstand der Haare, ausgerichtet, wie die entsprechende Bestimmung des Schulchan ‘Aruch zeigen mag: »Die Ränder (Pe’ot) des Haupt[haares] sind zwei. Das Ende des Haupt [haares] ist da, wo es auf die Wange trifft, und zwar links wie rechts. Sei es, dass er nur die Ränder (Pe’ot) abrasierte, oder den gesamten Kopf samt den Pe’ot, ist er schuldig. Er ist nur schuldig, wenn er es mit dem Schermesser macht, manche verbieten auch die Schere, die eine Art Schermesser ist. Und man sollte auf sie hören.«368 Ausschließliches Interesse findet hier die richtige materiell-technische Weise der Gebotsausführung. Demgegenüber achtet Modena auf die ihm wichtige Zielset366
Kol Sachal III, ’Orach Hajjim 20, Ha-Tefilla we-Keri’at Schma‘, Reggio, S. 39; Stern, S. 270;
367
Kol Sachal III, Reggio, S. 44; Stern, S. 284; Fishman, S. 131.
368
Schulchan ‘Aruch, Jore De‘a § 181 Abs. 1–3.
Fishman, S. 125.
124
Leone Modena
zung des Gebotes und findet sie in der moralischen Kommunikation der Menschen miteinander: »Das Rasieren des Bartes und die Beseitigung der Pe’ot (Ränder) bedeutet das Abrasieren des gesamten Bartes vom Ende der Seiten rundum bis ganz zum Punkt unterhalb des Mundes, so dass nichts vom Bart übrigbleibt, so dass man nicht mehr unterscheiden kann, ob er ein Mann oder eine Frau ist. Das bedeutet die vollständige Beseitigung des Bartes, sei es mit dem Schermesser oder mit der Schere, die eine Art Schermesser ist. Denn es ist klar, dass dies zur Unzucht führt – es ist dies gleich dem Verbot, dass ein Mann Frauenkleider anzieht. [...] Es ist also nicht verboten, das Haar von den Wangen zu entfernen, nicht einmal mit dem Schermesser.«369 Das Erreichen des moralischen Zieles ist demnach das Maß der Gebotserfüllung, das es folglich erlaubt, fast den gesamten Bart abzurasieren, solange noch ein Rest zur Unterscheidung von Mann und Frau bleibt. Es muss betont werden, dass Modenas Begründungen und Leitlinien der Gebotsinterpretation gewiss nicht immer jene der Entstehungszeit der Gebote und des biblischen Kontextes waren. Vielmehr hat er ein für ihn typisches Interpretationsparadigma an die biblischen Texte gelegt, nämlich dass sie dem Menschen dienen sollen, seiner Gotteserkenntnis und -verehrung, seinem moralischen, emotionalen und gesellschaftlichen Leben, gerade auch im Umgang mit Nichtjuden. Es sind diese Motivationen, in welchen sich die neue Zeit, das neue Denken des Renaissancejuden zu erkennen gibt.
7.
Vernunft und Offenbarung, ihr Ort im jüdischen Leben
7.1
Der biographische Befund
Schon oben wurde auf das anscheinend widersprüchliche Verhalten Modenas hingewiesen, der ganz unterschiedliche jüdische Positionen verurteilt und zugleich akzeptiert. Diese anscheinend unklare Positionierung hat seine wissenschaftlichen Bearbeiter oft irritiert und hat ihm gar den Vorwurf eines Hypokriten und Häretikers, oder zumindest der Charakterlosigkeit eingebracht.370 Letzterer Vorwurf kann indessen nicht ganz ausgeräumt werden, nicht allerdings wegen der notorischen Zwischenposition von Modena, sondern wegen seiner
369
Kol Sachal III, Jore De‘a, Reggio, S. 57; Stern, S. 321; Fishman, S. 147. Zum Ganzen vgl.
370
Vgl. z. B. Gustav Karpeles, Geschichte der jüdischenLiteratur, Berlin 19092, Band 2, S. 248.
Maimonides, More Nevuchim, III, 37; Mischne Tora Hilk. ‘Akum 12,1.
Traditions- und Religionskritik
125
krankhaften Sucht zum Glücksspiel, bei dem er, wie er in seiner Autobiographie Hajje Jehuda (Das Leben Jehudas)371 selbst beklagt, mehrfach hohe Summen verspielt hatte, die zu Lohnpfändungen und mehrjährigen Ratenzahlungen und Mittellosigkeit führten. Alle übrigen Qualitäten – wie auch das Glücksspiel – zeigen ihn als Mann seiner Zeit. Als Kind hat er, wie eingangs schon erwähnt, neben der rabbinischen Literatur auch Tanzen, Musik und Latein gelernt. Er war aktiver Poet und Dramatiker, hat Chöre geleitet, war Direktor einer Musikakademie, Autor und »Verlags«-Lektor, Lehrer für jüdische Fächer und, was ihm weites Ansehen bei Juden und Christen, adligen, internationalen und Kirchenvertretern, gleichermaßen einbrachte, er war ein begnadeter und viel gefragter Synagogenprediger. Überdies war er, wie er selbst bezeugt, stets in einem intensiven interreligiösen Dialog mit christlichen Zeitgenossen wie auch als innerjüdischer Apologet und Polemiker. Das Problem der Beurteilung Modenas durch die Wissenschaft ist, wie gesagt, vor allem darin begründet, dass er einige explizite Polemiken gegen unterschiedliche religiöse Positionen verfasste, die sich gegenseitig widersprechen oder doch zu widersprechen scheinen und dass er andererseits Textkorpora mit solchen Positionen kritiklos zitiert, obwohl er sie in den besagten polemischen Schriften ausdrücklich attackiert. So hat er im Jahre 1616 mit seiner Schrift Magen we-Zinna (Schutz und Schild) eine Polemik gegen die antirabbinischen Thesen von Uriel da Costa verfasst, in der Modena die rabbinische Tradition nachdrücklich verteidigt.372 Demgegenüber hat er 1624 in der pseudonym verfassten Schrift Kol Sachal – Scha’agat ’Arje373 selbst die rabbinische Tradition von Grund aus bestritten, wiewohl er diese in seinen Predigten immer wieder zitiert, wie auch in seinen halachischen Responsen. Des weiteren hat er in seiner 1638 371
Edition von Abraham Kahana, Kiev 1911; neuere und bessere Ed. von Daniel Carpi, Sefer Hajje Jehuda le-R. Jehuda ’Arje mi-Modena ’Isch Venezia, Tel Aviv 1985; englische Übersetzung von Mark R. Cohen, The Autobiography of a Seventeenth – Century Venetian Rabbi, Princeton 1988. Eine weitgreifende Biographie ist die als »University Microfilms International«-Edition vorliegende Brandeis Dissertation von: H.E. Adelman, Success and Failure in the Seventeenth Century Ghetto of Venice: The Life and Thought of Leon Modena, 1571– 1648.
372
Zu ihr s. Abraham Geiger, Leon da Modena Rabbiner zu Venedig (1571–1648) und seine Stellung zur Kabbala, zum Thalmud und zum Christentume, Breslau 1856, S. 25–29; Uriel da Costa. Examination of Pharisaic Traditions, Translation, Notes and Introduction by H.P. Salomon and J.S.D. Sasson, Leiden/New York/Köln, S. 9–12, 24–29.
373
Samuel Reggio, Examen Traditionis. Duo inedita et poene incognita Leonis Mutinensis opuscula complectens. Bechinat ha-Kabbala, Goritia (Gorizia) 1852. Deutsche Übersetzung von Simon Stern, Der Kampf des Rabbiners gegen den Talmud im XVII. Jahrhundert, Breslau 1902, englische Übersetzung von Talya Fishman, Shaking the Pillars of Exile. »Voice of a Fool« an Early Modern Jewish Critique of Rabbinic Culture, Stanford 1997.
Leone Modena
126
verfassten Schrift Ari nohem 374 die Kabbala angegriffen, obwohl er diese in seiner Jugend ausführlich kennenlernte und sie zum Beispiel in seinen Predigten des öfteren kritiklos zitiert und selbst Amulette verfasste. Schließlich hat er im Jahre 1643 eine antichristliche Polemik unter dem Titel Magen wa-Herev (Schild und Schwert)375 verfasst, wiewohl er mit vielen Christen in engem Gesprächsaustausch stand, für diese seine Darstellung der hebräischen Riten376 schrieb und diese auch gerne in seine öffentlich gehaltenen Synagogenpredigten ins Ghetto kamen. Schließlich betont er nachhaltig die Vernunft als einzig wahre Erkenntnisquelle und glaubt zugleich an Horoskope und Träume. Wir sehen hier also einen bei Juden und Christen beliebten Rabbiner, der nach allen Seiten Kritik austeilt und doch an allen teilhat. Wie ist das zu verstehen? Das Unverständnis rührt offenbar daher, dass man Modena jeweils ausschließlich aus den jeweiligen genannten religiösen Milieus heraus verstehen und nicht wahrnehmen wollte, dass bei ihm immer nur von einer partiellen Teilhabe geredet werden kann. Es scheint, Modena stand mitten in der jüdischen Gemeinschaft und anscheinend doch teilweise außerhalb ihrer. Aber eine solche Sicht ist unhistorisch. Denn vieles, was Modena dem Anschein nach außerhalb der Gesellschaft stellt, ist doch in dieser Gesellschaft weit verbreitet und gehört zu ihr, wie auch viele Elemente der Tradition. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Modenas Leidenschaft für das Glücksspiel, das ihn eigentlich außerhalb einer traditionstreuen jüdischen Gemeinschaft stellen müßte. Wie aber ist es dann zu erklären, dass Modena, nachdem er im Jahre 1625 wieder einmal 152 Dukaten verspielt hatte, er von der der Aschkenasischen Tora-Studien-Gesellschaft einen Kredit zur Bezahlung seiner Spielschulden erhielt – und noch mehr, die Rückzahlung der Schulden an die Toragemeinschaft dadurch erfolgte, dass die Gemeinschaft monatlich sechs Dukaten von Modenas Lehrhonorar von Seiten dieser Gemeinschaft als Schuldentilgung einbehielt!377 Aus alledem muss man schließen, dass Modena jenseits von seiner Ablehnung und gleichzeitigen Anerkennung der verschiedenen jüdischen und auch christlichen Positionen einen dritten Ort zwischen ihnen eingenommen hatte, der 374
Edition von Julius Fürst, Leipzig 1840; und N.S. Libawitsch, Jerusalem 1929, vgl. auch die
375
Edition von S. Simonsohn, Jerusalem 1960; engl. Übersetzung von Allan Howard Podet, A
Anthologie von Pnina Navè, Jehuda ’Arje mi-Modena, Leket Ketavim, Jerusalem 1968. Translation of the Magen Wa-Hereb By Leon Modena 1571–1648. Christianity Through a Rabbi’s Eyes, New York-Ontario 2001. 376
Historia De Gli Riti Hebraici Dove Si Ha Breve, E Total Relatione Di Tutta La Vita, Costumi, Riti, Et Osservanze, De Gl’ Hebrei di questi tempi Di Leon Modena Rabi Hebreo Di Venetia, Paris 1637; die von Modena selbst zum Druck gegebene Version erschien 1638 in Venedig; deutsche Übersetzung von Rafael Arnold, Leon Modena. Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche, Wiesbaden 2007.
377
L. Modena, Autobiography, S. 129f.
Traditions- und Religionskritik
127
es ihm erlaubte zugleich Rabbi und anscheinend voller »häretischer« Gedanken zu sein. Ich spreche hier ausdrücklich von Gedanken, da Modena seine häretisch anmutenden Schriften zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat, es also eine gewisse Differenz zwischen Außen und Innen gab, zwischen einem öffentlichen und einem geheimen Leben. Aber diese Differenz darf doch nicht als grundsätzliche Scheidung verstanden werden. Es ist vielmehr so, dass die zurückgehaltenen radikalen Positionen auch die milderen Äußerungen Modenas in der Öffentlichkeit in einem neuen und richtigeren Licht erscheinen lassen. Des Weiteren kann man sagen, dass Modena in seinen nicht veröffentlichten Gedanken nur Positionen formulierte, die in seiner Zeit im italienischen Judentum weit verbreitet waren. Jenseits von allen Vorverurteilungen muss versucht werden, den Schlüssel für Modenas Denken und Verhalten zu finden. Also den hermeneutischen Schlüssel, der seine Außen- und Innenseite miteinander verbindet und erkennen lässt, dass hier kein Hypokrit vor uns steht, sondern ein Mann mit klaren Auffassungen, die er nur in dosierten Mengen an die Öffentlichkeit weitergibt. Um Modenas Stellung zu verstehen, muss gefragt werden, mit welchen Kriterien er die jüdischen und christlichen Traditionen und damit seine eigene religiöse Gegenwart beurteilte. Es wird sich herausstellen, dass es gerade die Kriterien Modenas im Umgang mit diesen Traditionen sind, die das anscheinend widersprüchliche Bild entstehen lassen. Es wurde in der Wissenschaft bisher nicht genügend beachtet, wie Modena das für ihn wichtige Kriterium der »Vernunft« verstand und in welchem Verhältnis diese Vernunft zur Offenbarung und zum Glauben steht. Schließlich ist noch Modenas neue Text-Hermeneutik einzubeziehen. Diese drei Punkte sind es, die im Folgenden betrachtet werden sollen.
7.2
Die Offenbarung
Mehrfach beruft sich Leone Modena auf den jüdischen Philosophen schlechthin, auf Moses Maimonides. Scheinbar schreitet Modena in dessen Pfaden fort, nach denen die Vernunft die höchste Erkenntnisquelle des Menschen ist, welcher letztlich auch die Tora unterliegt. Die Tora müsse, so war die allgemeine Auffassung der mittelalterlichen Philosophen, gegebenenfalls allegorisch interpretiert werden, bis sie der Vernunft entspricht. Mit anderen Worten, Offenbarung und Vernunft entsprechen sich letztlich vollkommen. Aber schon an dieser Stelle zeigt sich die neuzeitliche Wende bei Modena. Für ihn sind Offenbarung und Vernunft zwei durchaus getrennte Bereiche, auch wenn die Offenbarung vom Menschen nicht verlangt, Unvernünftiges zu glauben. Was dieses Vernünftige an der Offenbarung ist, wird später noch deutlich werden. Zunächst gilt, dass nach der Auffassung Modenas die Offenbarung, wie sie in der Bibel festgehalten ist, und die Logik zwei völlig verschiedene Bereiche sind. Die Tora muss, so wie al-
Leone Modena
128
le übrigen anderen menschlichen Wissenschaftsbereiche – wie dies schon ’Elijahu Delmedigo forderte378 – nach ihren eigenen Regeln ausgelegt werden, womit ein bei Spinoza wieder hervortretendes Thema anklingt.379 Dies sagt Modena in einer Predigt zum Schavuotfest, also dem Fest der Toraoffenbarung in aller Öffentlichkeit: »So wird die Tora ausschließlich durch sich selbst ausgelegt. Aber bei den übrigen nichtbiblischen Wissenschaften lernt die eine von den anderen. So siehst du die dreizehn Regeln für die Toraauslegung, die R. Elieser aufzählt, Kal wa-Homer,380 Gesera schawa,381 Binjan ’Av 382 etc. Sie alle sind aus der Tora selbst gefunden und entsprechen nicht der Wissenschaft der Logik, welche das Werkzeug der Philosophen ist, oder der Zahl die das Instrument der Musik und der Technik und ihnen Ähnlichen ist. Ja selbst die Grammatik, die ja das Instrument für die Arbeit an der Sprache der Tora ist, geht aus ihr selbst hervor und leitet sich nicht von jenen ab.«383 Das Lob dieser eigenständigen und spezifischen Bibelwissenschaft stellt Modena anscheinend in die Reihe der rabbinischen Tradition. Und gemäß diesem Duktus kann Modena in derselben Predigt auch das Loblied der rabbinischen Tora schebe-‘al Peh, also der Mündlichen Tora, singen als einer Hilfe, auf welche die Juden zum Verstehen der Tora nicht verzichten können. Aber schon die weiteren Ausführungen zeigen, dass Modena hier einen Schwenk vollzieht, der nicht mehr im Sinne der rabbinischen Lehre von der Mündlichen Tora war. Er vergleicht da nämlich Schriftliche und Mündliche Tora mit Sonne und Mond, von denen die Sonne zur Beherrschung des Tages und der Mond als Leuchte in der Nacht zu dienen hat. Außerdem, so betont Modena dort, hat der Mond sein Licht ausschließlich der Sonne zu verdanken und nicht umgekehrt. Die niedrigere Rangstellung der Mündlichen Tora, sprich des Mondes, so betont er mit einem verschmitzten Verweis auf einen alten Midrasch, rührt daher, weil sich einst der Mond an die Stelle der Sonne setzen wollte und zur Strafe von Gott degradiert wurde. Aber, so fährt der Prediger Modena fort, in der Nacht des Exils braucht Israel, anders als einst am Berg Sinai und anders als dereinst in der Zeit der Erlö-
378
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III.B.5.2.
379
S. Kap. Traditions- und Religionskritik, III.4.5.
380
Schluss vom Leichten auf das Schwere.
381
Analogieschluss.
382
Auslegen zahlreicher Stelle von einer Hauptstelle aus; vgl. H.L. Strack, G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (7. Aufl.) München1982, S. 26ff.
383
Sefer Midbar Jehuda, zit. nach P. Navè, Jehuda ’Arje Mi-Modena, Leket Ketavim, Jerusalem 1968, S. 138.
Traditions- und Religionskritik
129
sung, noch das schwache Licht der Mündlichen Tora, das heißt der rabbinischen Auslegungen, gerade so wie das Kind der vielen Überredungskünste der Mutter bedarf, wiewohl diese hinter den wenigen in der Weisheit begründeten Worten des Vaters zurückstehen. In den nicht in der Synagoge vorgetragenen Texten wie in der oben beschriebenen offenen Attacke Modenas gegen die rabbinische Tradition, in dem Büchlein Kol Sachal und in der der gleichfalls nicht publizierten Polemik gegen das Christentum, dem Magen wa-Herev, Schild und Schwert, wird indessen noch deutlicher, was Modena unter den exegetischen Regeln der Schriftauslegung versteht. Diese aus der Schrift zu gewinnenden Regeln sind in erster Linie die hebräischen Sprachregeln, die Semantik und die Grammatik, sodann die Rhethorik mit ihren Verwendungen metaphorischer und uneigentlicher Rede, kurz die Suche nach dem Wortsinn der Schrift und nicht nach den extravaganten Deutungen der Rabbinen. Modena bricht demnach mit der rabbinischen MidraschHermeneutik, wenn es um die Feststellung der Wahrheit der Tora geht, wiewohl er diese metaphilologische rabbinische Hermeneutik als mütterliche Kindersprache für die finstere Zeit des Exils toleriert. Zu solchen extravaganten Deutungen der Rabbinen, die Modena aufgrund seiner eigenen Exegese ablehnt, gehört dann das oben schon genannte rabbinische Gebot des Tefillinanlegens, das wörtlich so in der Tora nicht zu finden ist, ebenso das Verbot der Vermischung von Milch und Fleisch, von dem die Bibel so nicht spricht. Modena will damit darauf hinweisen, dass eine der Schriftlichen Tora dienende Mündliche Tora nur eine an den natürlichen Sprachregeln gewonnene Auslegung sein kann, nicht aber die den Schrifttext dominierende rabbinische Auslegung. Gerade Letztere dient aber der Begründung weiter Teile der Halacha, die nun mittels der neuen philologischen Hermeneutik gestürzt werden müssen. Und diese Konsequenz zieht Modena auch im Kol Sachal. In ihm verwirft er mit Hilfe der neuen Hermeneutik die gesamte Mündliche Tora der rabbinischen Literatur als Menschenwerk, das keinerlei sinaitischen Anspruch erheben darf. Die Konsequenz für den Autor von Kol Sachal ist die beschriebene Entwicklung eines neuen Schulchan ‘Aruch, das heißt eines neuen Rechtskodex, der sich ausschließlich auf die Hebräische Bibel stützt. Die Schriftliche Tora, als die Sonne der Offenbarung, wird nach Modenas Auffassung in ihrer ausschließlichen Gültigkeit noch durch eine weitere schon genannte Tatsache bestätigt, nämlich durch den consensus gentium, das heißt durch die Tatsache, dass alle drei großen und bedeutsamen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, die Tora des Moses als Offenbarungsschrift anerkennen und angenommen haben, nur, dass alle drei Religionen, so auch das rabbinische Judentum, den vermessenen Fehler begangen haben, der einzigen wahren Offenbarung vom Sinai weitere Traditionen und Auslegungen angefügt zu haben, die sie nun gleichermaßen als Offenbarung deklarieren. Dies ist in den
Leone Modena
130
Augen Modenas ein sehr bedauerlicher Fehler, weil davon die Trennung der Religionen und auch die verachtete Stellung der Juden herrührt. Hätten sich sowohl die Rabbinen, die Christen und die Muslime nur an die Tora des Moses gehalten, wären sie heute alle eins und die Juden wären vollkommen in der sie umgebenden Gesellschaft integriert, nicht ausgestoßen und nicht verachtet.
7.3
Die Vernunft
Ein weiterer Punkt ist für das Verständnis der Position Modenas wichtig, nämlich sein Verständnis von Vernunft. In der schon zitierten Predigt zum Schavuotfest beruft sich Modena auf den Sefer ha-‘Ikkarim von Josef ’Albo, dahingehend, dass die Grundlage jeder Religion, oder die Grundlage des Glaubens, das Wissen um die Existenz Gottes sei. Mit der Bibel gesprochen, das Erste Gebot, wo Gott sagt: »Ich bin der Herr, dein Gott«. Aber, so fügt Modena hinzu, dieses Wissen, dieses Licht Gottes, ist in der Welt dem normalen Auge verborgen und darum bedarf es dafür der menschlichen Vernunft: »So ist es hinsichtlich der Glaubensvorstellungen und der Grundlagen der Religion, wiewohl sie dem Auge der Vernunft klar sind, können sie doch nicht vom natürlichen Auge wahrgenommen werden, wie zum Beispiel die Existenz Gottes, des Gartens Eden, des Gehinnom und dergleichen. Denn so wie der Blinde die Existenz des Lichtes nicht leugnet, wiewohl er es mit seinen Augen nicht sehen kann, so kann man auch den Glauben daran nicht leugnen, was der Verstand entscheidet, selbst wenn es mit unseren Augen nicht zu erkennen ist«.384 Das ist es also, was dieser Verstand erkennen kann. In seiner Polemik gegen das Christentum und dessen Glaubenssätze wird Modena noch deutlicher. Zunächst stellt er auch dort fest, dass der Glaube und die Vernunft eng zusammengehören, dass man also nichts glauben könne, was der Vernunft widerspricht. Doch betrachtet man die Ausführungen im Magen wa-Herev genauer, stellt sich heraus dass diese Vernunft zweigeteilt ist, nämlich in die rein logische Vernunft der Philosophen und die vernünftige Vorstellungskraft des Menschen. Unter Berufung auf Josef ’Albo sagt er da: »Der Glaube ist nichts, was man mit dem Mund ausspricht, sondern etwas, das man sich in der Seele vorstellt. Und man glaubt dabei, dass das, was man sich in der Seele vorstellt auch außerhalb ihrer existiert. Und dies bezieht sich
384
Midbar Jehuda, Navè, S. 138.
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nicht auf die für den Verstand [logisch] unmöglichen Dinge, auch wenn dies in der Natur unmöglich ist. Wie zum Beispiel, dass es möglich zu glauben ist, dass sich der Stab [Mosis] in eine Schlange verwandelt hatte; auch wenn dies in der Natur unmöglich ist, so kann man sich dies doch vorstellen. Der Verstand kann sich aber nicht vorstellen, dass die gerade teilbare Zahl zugleich eine ungerade nicht teilbare Zahl ist und dass etwas zugleich existiert und nicht existiert. Auch wird Gott nicht zugeschrieben, dass er ein Quadrat hervorbringt, dessen Diagonale gleich der Seitenlänge ist, oder dass das Vergangene nicht vergangen ist und dergleichen. Darum auch befiehlt Gott keinem Menschen, solches zu glauben.«385 Die Vernunft, die dem Glauben entspricht, hat demnach zwei Gesichter. Sie ist nach ihrer positiven Seite das für Menschen Vorstellbare, auch wenn dies in der natürlichen Wirklichkeit nicht vorkommt. Und nach ihrer negativen Seite ist die Vernunft die Ablehnung des logisch Unmöglichen. Mit dieser Doppeldefinition bricht Modena mit der Vernunft der mittelalterlichen Philosophen, die nicht alle vorstellbaren Sonderlichkeiten der Bibel akzeptieren konnte, sondern sie allegorisch wegdeutete. Die philosophische mittelalterliche Vernunft, so legt Modena in seinem Traktat gegen die Kabbala, Ari Nohem, ausführlich dar, baut ausschließlich auf Beweise und Schlussfolgerungen, nicht aber auf das für Menschen Denkbare. Die davon abweichende doppelgesichtige Vernunft Modenas ist es, die es ihm erlaubt, gegen die Kabbala und gegen die zentralen christlichen Dogmen zu polemisieren und zugleich analoge biblische Positionen zu verteidigen. Er tut dies aus der bislang gezeichneten Position, nämlich dass gemäss des consensus gentium die Tora des Moses die einzige wahre Offenbarung ist, die nach den oben gezeichneten Prinzipien auszulegen ist. Diese Prinzipien sind die philologisch-rhethorische Hermeneutik und zum anderen das hier gezeichnete doppelte Prinzip der Vernunft. Das bedeutet für Modena sodann: »In der Tora des Moses, die für alle Religionen die Hauptsache ist, findet man, dass der Heilige, Er sei gesegnet, nichts befiehlt, außer was von den Sinnen erfasst oder [durch den Verstand] vorstellbar ist. Und darum konnte dort auch nichts über die Erschaffung der Engel oder deutlich genug über die Unsterblichkeit der Seele, den Garten Eden, den Gehinnom sowie die Auferstehung von den Toten und dergleichen geschrieben werden, noch irgend ei-
385
Magen wa-Herev, Hibbur neged ha-Nazrut, me’et Jehuda ’Arjeh Mi-Modena, hrsg. von S. Simonsohn, Jerusalem 1960, S. 22; und vgl. A.H. Podet, A Translation of the Magen Wa-Hereb by Leon Modena, S. 39. Diese Auffassung, dass Gott nicht Herr über das Unmögliche ist, vertritt schon Maimonides, More III, 15 (Anf.); I, 75.
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ne Glaubensvorstellung befohlen werden, die nicht jedem einfachen Mann, einem Einfältigen oder einer Frau vorstellbar gewesen wäre«.386 Mit dieser Darlegung kann Modena zugleich erklären, warum für das spätere Judentum wichtige und zentrale Lehren wie zum Beispiel die Auferstehung des Fleisches nicht in der Tora stehen, wie auch, dass alle rabbinischen Glaubenslehren, die nicht in der Tora geschrieben steht, nicht zu glauben geboten sind. Aber derjenige, der eine größere verstandesmäßige Vorstellungskraft hat, kann solche Dinge wohl glauben, sofern sie nicht zu den unmöglichen, das heißt unlogischen, Dingen gehören. Die Polemiken Modenas gegen die Rabbinen, gegen die Kabbalisten und die Christen sind demnach nach diesen Vorgaben gestaltet. Glaubensvorstellungen, die er ablehnen will, muss er darum als Unmögliches darstellen, während solche Glaubenssätze, die für ihn akzeptabel sind, als »Denkbares« beschrieben werden müssen. So gehört zum Beispiel die christliche Trinitätslehre, sofern sie eine wirkliche Trennung etwa zwischen Gottvater und Sohn behauptet, wie auch die kabbalistische Lehre von den zehn Sefirot zu den unmöglichen, weil unlogischen, Dingen und deshalb abzulehnen sind. In dieser Sicht ist Modena so konsequent, dass er die christliche Trinitätslehre akzeptieren könnte, wenn die Trinität nur eine Beschreibungsweise für den einen einzigen Gott wäre: »Darüber ist zu sagen: Wenn sie [die Christen] damit nur das göttliche Wesen von innen, nicht von außen meinten, gäbe es keinen Dissens zwischen uns. Wenn nämlich Gott der Wissende und der sich selbst Erkennende ist und wenn dann das aus seinem Erkennen Erkannte ihn liebte, und dies alles seine Substanz und kein Akzidenz ist, werden wir dem nicht widersprechen. Und so nannten Ihn ja auch die Philosophen und Kabbalisten: Intellectus, Intelligens, Intellectum (Sechel, Maskil, Muskal). Und wenn sie dies dann Vater, Sohn und Geist nennen, so macht dies keinerlei Unterschied.«387 Mit anderen Worten, mit einer modalen Christologie kann sich Modena anfreunden, und vielleicht hatte er christliche Freunde, die so dachten, so dass sie hier mit dem Juden Modena eine echte Gemeinsamkeit hatten. Das Modell von der Vernunft des Denkbaren ist für Modena das Tableau für die Vielfalt der Glaubensvorstellungen innerhalb des Judentums und des Christentums. Jeder kann gemäß seiner Vernunft, das heißt seiner Vorstellungskraft, glauben, sofern er nicht die Grenzen des Unmöglichen überschreitet. Damit ist es auch möglich, dass Modena selbst zwar nicht an die magische Macht der Gottes386
Magen, Simonsohn, S. 22; Podet, S. 39.
387
Magen, Simonsohn, S. 25, Podet, S. 46f.
Traditions- und Religionskritik
133
namen glaubt, aber zugleich bereit ist, für solche Menschen, die an Amulette glauben, Amulette mit Gottesnamen zu schreiben. Der Glaube an sie ist zwar nicht Modenas eigener, er überschreitet aber nicht die Grenze des Vorstellbaren und ist somit zulässig, kann aber auch niemals geboten sein. Zum Abschluss muss noch ein letzter Bereich im Denken Modenas angesprochen werden, ohne den sein Umgang mit der Tradition und der Gegenwart nicht zu begreifen ist, nämlich sein Blick für die Geschichte.
8.
Die Geschichte als hermeneutische Kategorie
Oben war schon deutlich geworden, dass die Tora des Moses, das heißt die Offenbarung, nur mit ihren eigenen hermeneutischen Methoden ausgelegt werden kann. Neben der Sprachwissenschaft gehört hierzu nach der Auffassung von Leone Modena auch die Geschichte. Mit der historischen Betrachtung der biblischen Texte und der nachbiblischen Literatur steht und fällt die Beurteilung der Tradition. Mit historischen Argumenten widerlegt Modena in seinem Kol Sachal die Gültigkeit der Mündlichen Tora als einer vom Sinai her reichenden und damit göttlichen und verbindlichen Traditionskette, mit ihnen widerlegt er die Kabbala als alte Tradition und schließlich auch die Ansprüche der Kirche auf die Göttlichkeit Jesu. Die Verwendung der Geschichte zur Beurteilung der eigenen Tradition hatte schon ‘Asarja de Rossi in seinem Me’or ‘Enajjim in das zeitgenössische Judentum eingeführt, er hatte dies allerdings noch nicht als Schwert gegen die rabbinische Tradition, sondern zu deren Befestigung verwendet.388 Modena hingegen zieht aus dem Vergleich der historischen Quellen positive wie negative Schlüsse, um zu erfahren, was es zu einer bestimmten Zeit gegeben hatte und was nicht. So argumentiert er in seinem ’Ari nohem gegen das Alter der Kabbala mit dem Hinweis, dass weder die Ge’onim, das heißt die späten Gelehrten des Talmud, noch die Rabbanim nach Abschluss des Talmud etwas von dieser »Tradition« (Kabbala) wussten. Ganz ähnlich argumentiert der Kol Sachal hinsichtlich der Mündlichen Tora und vielleicht sogar hinsichtlich des Pentateuch, der bei der Auffindung des Tora-Buches im Jerusalemer Tempel offenbar nicht bekannt gewesen zu sein scheint, wie oben schon dargelegt wurde.389 In seinem ’Ari nohem gibt Modena sogar eine Hypothese, wie es zum Verlust einer gewiss einmal vorhandenen Lehre des Moses gekommen sei. Nämlich, dass jeder immer nur einen Teil dessen, von dem was er selbst empfangen hatte,
388
S. Joanna Weinberg, The Light of Eyes. Azaria de’ Rossi. Translated from the Hebrew with an
389
Kapitel 7.2.
introduction and annotations, New Haven/London 2001, S. XXV–XXXIII.
Leone Modena
134
weitergab, bis schließlich nichts mehr übrig geblieben war.390 Zwar spricht Modena hier explizit nur von der esoterischen Lehre, das heißt der Kabbala. Er tut dies aber so grundsätzlich und allgemein, dass dies auch die Thesen aus der Schrift Kol Sachal abdeckt, wo von der Mündlichen Tora als ganzer die Rede ist. Neben dieser Erklärung für den Verlust der Tradition nennt er im Kol Sachal außerdem die Not der Zeit und den moralischen Niedergang als Gründe für die Unterbrechung der angeblichen Traditionskette. Verwirrend ist allerdings, dass Modena am Ende von ’Ari nohem nun die rabbinische Tradition doch wieder als ununterbrochene Lehrkette betrachtet, auf die er sich selber stützt. Danach besteht seine Religion aus den Grundlagen der Religion, das sind für ihn die Vernunfterkenntnisse, das Gebet und: »Das Halten der Gebote gemäß der Tora des Moses und der Worte der Weisen, welche zu Recht Gelehrte der wahren Tradition (Kabbala) genannt werden dürfen, denn sie empfingen die Mündliche Tora über jene Traditionskette, die uns im Traktat ’Avot gelehrt wird, über alle Häupter der Generationen bis zur Gegenwart.«391 Der augenscheinlich widersprüchliche Befund dieser Äußerung lässt sich tatsächlich nur als eine Strategie des Andeutens und Verbergens erklären. Die Andeutung ist hier gewiss der Hinweis auf die Tora des Moses, und das Verbergen das Einstimmen in die Lehre von der Mündlichen Tora. Aus alledem darf man schließen, dass Modena kein eindeutig umschriebenes Bild von der jüdischen Religion hatte, sondern dass er eine Vielzahl von Positionen nicht nur sieht, sondern auch anerkennt. Dies ist auch ein Prinzip, das er in seinen Predigten verfolgte, nämlich den unterschiedlichen Erwartungen seiner Hörer gerecht zu werden. Diese Offenheit nach vielen Seiten hat wohl auch die ganz persönliche Seite, die es ihm erlaubte, in seinen eigenen Äußerungen flexibel sein zu können, um eben im Geflecht der Kommunikation für mehrere Seiten gesprächsfähig zu bleiben. Diese Einschätzung muss indessen keine Vermutung bleiben, sie entspricht vielmehr dem oben schon zitierten Text zum Menschenbild Modenas, das er mit christlichen Gelehrten wie Marsilio Ficino und Pico della Mirandola teilt.392 Nämlich das Bild vom Menschen, der als Individuum wie als ganze Menschheit auf und ab steigt, was von Gott so gewollt ist und ihm Vergnügen bereitet. Vor diesem Hintergrund werden auch die widersprüchlichen Äußerungen Modenas begreiflich. Sie entsprechen dem Menschen im dauernden Wandel. Ein Jude ist demnach ein Mensch, der die vorstellbaren Gedanken der Tradition gelten lässt,
390
’Ari nohem, Navè, S. 220.
391
Ebd., S. 244f.
392
Siehe zum Beispiel Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen, Stuttgart 1997, S. 9; Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, übers. von Herbert Werner Rüssel, Zürich 1988, S. 10.
Traditions- und Religionskritik
135
aber nicht für dogmatisch verbindlich hält, und so einene Vielfalt jüdischer Denkweisen anerkennt und mit ihnen allen gesprächsfähig bleibt, der aber zugleich die unlogischen Gedanken und Lehren der Tradition als nicht annehmbar ablehnt.
Uriel da Costa
136
II.
URIEL DA COSTA (ACOSTA) (1583/4–1640)
1.
Das Exemplarische des Falles Uriel da Costa
Das tragische Schicksal des zum Judentum zurückgekehrten »Neuchristen« oder »Marrano« Gabriel da Costa, der mit seiner Beschneidung den Namen Uriel angenommen hatte, könnte man als Unglücksfall eines verirrten Individuums ohne historische Bedeutung abtun, wenn nicht eben dieses Schicksal für die geistesgeschichtliche Situation des Judentums im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts eigentlich exemplarisch gewesen wäre. Es ist das Aufeinandertreffen der in großer Zahl zum Judentum zurückkehrenden, dem jüdischen Wissen und der rabbinischen und mittelalterlich jüdischen Kultur entfremdeten Zwangschristen aus Spanien und Portugal, welche die europäischen jüdischen Gemeinden überschwemmten, mit dem rabbinischen und mittelalterlichen Judentum. Diese ins rabbinische Judentum zurückkehrenden Menschen sind in der christlich katholischen Religion samt ihrem scholastischen, philosophischen und als Ärzte auch naturwissenschaftlichen Bildungskanon erzogen worden, und waren teilweise sogar, wie da Costa selbst, in kirchliche Ämter aufgerückt. Dennoch mochten sie die rechtliche Unfreiheit des Zwangschristentums nicht ertragen und praktizierten, wie da Costa, heimlich ein marranisches Krypto-Judentum.393 Es war diese religiöse, rechtliche und auch wirtschaftliche Beengung, welche diese Menschen zur Ausreise aus der iberischen Halbinsel drängte und dann auch zur Rückkehr in die Religion, die ihre Vorfahren unter Zwang verlassen mussten. Man könnte nun argumentieren, die geistigen und kulturellen Spannungen, welche mit der Aufnahme dieser zum Teil stark christlich geprägten Menschen in die Reihen des rabbinisch geprägteneuropäischen Judentums entstanden, dürften nicht eigentlich als tragende Faktoren für die Entwicklung der Geistes- und Kulturgeschichte des Judentums jener Zeit in Rechnung gestellt werden, vielmehr müssten die zurückkehrenden Personen, wie es damals auch von den führenden Kräften der jüdischen Gemeinden verstanden wurde, vor allem unter dem Gesichtspunkt der gelungenen Rückintegration in die rabbinisch – mittelalterliche Kultur betrachtet werden. Dies wäre allerdings eine kurzsichtige Betrachtungsweise. Vielmehr haben die oben schon dargestellten Diskussionen aus dem italienischen Judentum gezeigt, dass die in die jüdischen Gemeinden einströmenden »Marranos«, nicht eigentlich völlig neue und fremde Debatten in die Gemeinden hineintrugen, sondern dass sie eher der Verstärkung von Diskussionen dienten, die ohnehin schon im Gange waren, Fragen nach der Gültigkeit der
393
Zur marranischen Religion s. C. Roth, The Religion of the Marranos, in: The Jewish Quarterly Review, N.S., 1931, wieder in: C. Roth, A History of the Marranos, Philadelphia 1947, Kap. VII; und s. unten.
Traditions- und Religionskritik
137
rabbinischen Traditionen, nach der Bedeutung der Geschichte für die Erkenntnis der Wahrheit, Fragen der Hermeneutik für die Auslegung der heiligen Schriften und schließlich die Fragen nach dem Verhältnis von Offenbarung, Glaube und Vernunft, Diskussionen, die bis hinein in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und länger im europäischen Judentum diskutiert wurden.394 So betrachtet ist das Schicksal von Uriel da Costa exemplarisch, wie parallele Vorgänge um Abraham Mendes, gleichfalls in Amsterdam,395 und nur vierzig Jahre später um Baruch Benedict de Spinoza zeigen. In allen diesen Fällen stehen sich die unterschiedlichen Kategorien von Wahrheit gegenüber, hier der Begriff einer ontologischen Wahrheit, beziehungsweise der Wahrheit der Offenbarung, und dort eine soziologisch-historisch relative Wahrheit, die sich gleichsam in der Geschichte und Beständigkeit eines Volkes bewährte. Die Tragik des Geschehens um Uriel da Costa besteht eben darin, dass die Kontrahenten von beiden Seiten nicht erkannten, dass sie in ihren Auseinandersetzungen von unterschiedlichen Wahrheitsbegriffen ausgingen und die Existenz solcher auch nicht hätten akzeptieren und tolerieren können. Die Wahrheit, die da Costa zunächst suchte, war die ontologische Offenbarungswahrheit des mosaischen Pentateuch und der übrigen biblischen Bücher, während auf rabbinischer Seite die Wahrheit in der geschichtlich und sozial dynamischen Lehrtradition der Mündlichen Tora lag, welche durch die Geschichte des Volkes der Juden verbürgt ist und die fiktiv mit sinaitischer Autorität ausgestattet wurde. Erst später hat da Costa auch die Offenbarungswahrheit hinter sich gelassen und nach der Wahrheit des Naturgesetzes gesucht. Das Schicksal da Costas wurde dank der bewegenden von ihm hinterlassenen lateinischen Autobiographie Exemplar humanae vitae (Ein Beispiel menschlichen Lebens)396 in der Zeit der Aufklärung und der Romantik zum Symbol des 394
I. Sonne, Leon Modena and the Da Costa Circle in Amsterdam, in: HUCA XXI, Cincinnati 1948, S. 1–28; J. J. Petuchowski, The Theology of Haham David Nieto, An EighteenthCentury Defense of the Jewish Tradition (1954), New a. Rev. Edition, New York 1970, S. 40.
395
S. bei Salomon-Sassoon, Uriel da Costa, S. 20ff.
396
Die Autobiographie wurde 1687 in Gouda zum ersten Mal publiziert von Philip van Limborch (1633–1712) unter dem Titel Exemplar humanae vitae als Appendix seines De veritate Religionis Christianae Amica Collatio cum Erudito Judaeo; L. Weiß, das Leben Uriel Acostas, von ihm selbst kurz vor seinem Tode in lateinischer Sprache geschrieben. Übers. und mit einem Vor- und Schlußwort versehen, Berlin 1847; Weller, Uriel Acostas Selbstbiographie, lat. und dt., Leipzig 1847; die verlässlichste Ausgabe samt Übersetzung aufgrund einer Handschrift: C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel da Costa, Amsterdam/Heidelberg/London 1922; diese Autobiographie war lange die einzige Quelle, auf die sich Historiker stützen konnten; eine neuerliche zweisprachige Studienausgabe legte H.W. Krautz vor: Uriel da Costa. Exemplar humanae vitae – Beispiel eines menschlichen Lebens, Tübingen 2001; weitere Darstellungen: J. Kastein, Uriel da Costa oder die Tragödie der Gesinnung, Berlin 1932; vor allem die Einführung in: H.P. Salomon and I.S.D. Sassoon, Uriel da Costa, Examination of Pharisaic Traditions. Exame
Uriel da Costa
138
Lebens eines tragisch endenden Freidenkers und Deisten, der sich gegen die Orthodoxie stellt. So etwa in Karl Gutzkows auch ins Hebräische und Jiddische übersetzter Tragödie Uriel Acosta (1847).397 Demgegenüber zählte ihn Heinrich Graetz in seiner Geschichte der Juden, samt Leone Modena und Josef Delmedigo und den von ihm nicht sonderlich geschätzten Kabbalisten zu den von ihm so benannten »Wühlern«, unter dem eindeutigen Motto »Die Entstellung und Verkümmerung«.398
2.
Biographisches – Rückkehr zum Judentum und Konflikt
Uriel da Costa wurde unter dem Vornamen Gabriel im portugiesischen Porto zwischen November 1583 und März 1584 als Nachkomme von wohlsituierten 1601 geadelten Neuchristen der zweiten Generation als eines von sechs Kindern geboren.399 Im Jahre 1600 nahm Gabriel das Studium des Kanonischen Rechts an der Universität von Coimbra auf, unterbrach es dann, um es im Jahre 1604 fortzusetzen. 1609 war er Schatzmeister der Kollegiatenkirche S. Martinho de Cedofeita, und hatte dazu die niedrigen klerikalen Weihen samt der Tonsur empfangen. 1611 gab er diese Stellung auf, um sich den finanziellen Angelegenheiten der Familie zu widmen – der Vater war 1608 gestorben. Im Februar/März 1614 schiffte sich Gabriel da Costa mit seiner Mutter, seiner Frau und drei seiner Brüder samt deren Frauen heimlich nach Amsterdam ein, und dies wohl, wie I.S. Révah’s400 Forschungen zu den Inquisitonsakten zeigten, weil Gabriel da Costa das tradições phariseas. Facsimile of the unique copy in the Royal Library of Copenhagen. Supplemented by Semuel da Silva’s Treatise on the Immortality of the Soul, Tratado da immortalidade da alma, Leiden/New York/Köln 1993. 397
Gutzkow hatte zuvor schon (1833) eine Erzählung unter dem Titel »Der Sadduzäer von Amsterdam« verfasst. Eine kurze Darstellung der künstlerischen Rezeptionen der Gestalt da Costas findet sich in EJ Bd. 5, Sp. 988. S. noch A. Klaar, Uriel da Costa. Leben und Bekenntnis eines Freidenkers vor 300 Jahren, Berlin 1909; positiv, als Vordenker Spinozas, sieht ihn Herrmann Jellinek, selbst ein Kämpfer wider die Institutionen; so auch die von seinem Bruder Adolf Ahron Jellinek verfasste Schrift: Uriel Acosta’s Leben und Lehre. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Moral, wie zur Berichtigung der Gutzkow’schen Fiktionen über Acosta, und zur Charakteristik der damaligen Juden, Zerbst 1847. Herrmann Jellinek wurde im Gefolge der 1848er Revolution in Wien standrechtlich erschossen.
398
Bd 10, S. 113ff.; zur Rezeption da Costas und älterer Literatur s. bei C. Gebhardt, Die Schrif-
399
Ich folge hier Salomon/Sassoon, Uriel da Costa, S. 1ff.
400
Y. Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994, S. 63–76, kommt aufgrund
ten, S. 225ff.
der Forschungen von I.S. Révah, La religion d’Uriel da Costa, Marrane de Pôrto, d’après des documents inédits, in: Revue de l’histoire des religions 161 (1962), S. 45–76, und ders., Du ›marranisme‹ au judaisme et au déisme: Uriel da Costa et sa famille, in: Annuaire du Collège
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139
und Teile seiner Familie, auch in der Zeit als er in kirchlichen Diensten stand, ein äußerst aktiver Anhänger des marranischen Kryptojudentums war und damit in höchster Gefahr schwebte, wozu unten noch näheres zu sagen sein wird. 1615 in Amsterdam angekommen, kehrten alle ausgewanderten da Costas zum rabbinischen Judentum zurück. Ein Teil der Familie blieb in Amsterdam, während der nunmehr Uriel heißende Gabriel sich mit seinem älteren Bruder und ihrer beider Frauen nach Hamburg begab, um dort eine Filiale des Familienbetriebes zu begründen. Und hier in Hamburg nahm das Drama seinen Lauf. Der »Neujude« Uriel erkannte sehr schnell, dass das Judentum, das ihn aufgenommen hatte, nicht den Vorstellungen entsprach, die er sich selbst aufgrund seiner marranischen Traditionen und seiner Lektüre der lateinischen Bibel des »Alten Testaments« (Vulgata) vom »mosaischen Judentum« gemacht hatte, wiewohl es Hinweise gibt, dass da Costa mehr Kenntnisse vom nachbiblischen Judentum hatte, als seine Autobiographie glauben macht.401 Wie immer diese Frage zu entscheiden ist, auf alle Fälle verfasste da Costa im Jahre 1616 einen Katalog von »Elf Fragen«, in denen er auf die gravierenden Unterschiede zwischen der Tora des Moses und der rabbinischen »Mündlichen Tora« hinwies und die er an die spanisch – portugiesische Gemeinde in Venedig schickte. Diese beauftragte den Rabbiner der aschkenasischen Gemeinde, den oben ausführlich besprochenen Leone Modena, mit einer Erwiderung. Diesem Auftrag entsprach Modena (1616/7)402 in Form eines Schreibens, welches unter Androhung des Synagogenbannes von da Costa einen Widerruf forderte, sowie in Form eines kleinen Traktats, Magen we-Zinna (Schutz und Schild), in welchem er zunächst die elf Fragen da Costas in Hebräisch wiedergibt, um dann auf sie einzugehen.403 In der zweiten Hälfte des Jahres de France, vols. 1967–1972; und ders. Les écrits portugais d’Uriel da Costa, in: Annuaire de l’École Pratique des Hautes Études (1963–1955), S. 265–274, zu der Auffassung, dass da Costa sehr wohl Kenntnisse vom nachbiblischen Judentum hatte und in seiner »marranischen Religion« auch eine Reihe nachbiblisch-jüdischer Bräuche pflegte. 401
Y. Yovel, Spinoza, kommt aufgrund der Arbeiten von Révah (s. vorangehende FN) zu der Auffassung, dass da Costa sehr wohl Kenntnisse vom nachbiblischen Judentum hatte und in seiner »marranischen Religion« auch eine Reihe nachbiblisch-jüdischer Bräuche pflegte. Zu da Costas und Spinozas unterschiedlich motivierter Auseinandersetzung mit der verfassten Religion s. H. Mechoulan, L ’anticléricalisme d’Uriel da Costa et de Spinoza face à l’orthodoxie, in: Aspects de l’anticléricalisme du Moyen Âge à nos jours, Hommage à Robert Joly, hrsg. von J. Marx, Bruxelles 1988, S. 57–71.
402
Der hebräische Text samt Übersetzung bei Gebhardt, Die Schriften, S. 150f.
403
Zu ihr s. Abraham Geiger, Leon da Modena Rabbiner zu Venedig (1571–1648) und seine Stellung zur Kabbala, zum Thalmud und zum Christenthume, Breslau 1856, insbes. S. 25f., Geiger glaubt allerdings, dass die Thesen von Leone Modena stammen; der hebräische Text von Magen we-Zinna ebd. im hebr. Teil.
Uriel da Costa
140
1618 wurde über da Costa unter der Leitung Modenas in Venedig der Synagogen-Bann ausgerufen, der noch im selben Jahr in Hamburg bestätigt wurde. Dennoch blieb da Costa bis 1623 in Hamburg, und arbeitete dort, nicht ohne den Einfluss der Texte von Modena,404 an einer erweiterten Fassung seiner Elf Thesen sowie an einem daran angefügten längern Traktat über die Unsterblichkeit der Seele, die da Costa nachdrücklich bestritt. Von diesem Text, den da Costa zum Druck vorbereitete, hat ein jüdischer Arzt namens Dr. Samuel da Silva, gleichfalls ein »Marrano« und ehemals Bekannter da Costas, einige Bogen zu Gesicht bekommen, worauf er im Jahre 1623 in Amsterdam einen Angriff gegen da Costa unter dem Titel Tratado da Immortalidade da Alma (Traktat über die Unsterblichkeit der Seele) publizierte, in welchem er die drei ihm vorliegenden Kapitel aus da Costas Schrift publizierte und sie polemisch zu widerlegen suchte. Die Folge war eine Bestätigung des Synagogenbannes durch die drei Amsterdamer portugiesischen Gemeinden. Dies hinderte da Costa nicht, im Jahre 1624, ebenfalls in Amsterdam, sein gesamtes Buch unter dem Titel Exame das tradicoẽs Phariseas conferidas com á lei escrita (Prüfung der pharisäischen Traditionen verglichen mit der Schriftlichen Tora) zu publizieren. Die jüdischen Gemeindevertreter schalteten nun die christlichen Behörden ein, weil diese Schrift ja zugleich auch ein Angriff auf die christliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele war. Da Costa wurde umgehend arrestiert, aber von seinen Brüdern durch die Stellung einer Kaution wieder befreit und mit dreihundert Gulden Geldstrafe belegt, während die gesamte Auflage seines Buches öffentlich verbrannt wurde – offenbar nur zwei bislang bekannte Exemplare entgingen dem Feuer. Da Costa zog nun anscheinend für vier Jahre nach Utrecht, um dann nach Hamburg zurückzukehren. Unter der Vermittlung eines Cousins hatte da Costa, um fünfzehn Jahre nach dem Bann wieder in die jüdische Gemeinschaft zurückkehren zu können, wohl 1632 oder 1633 einen Widerruf seiner Thesen unterschrieben.405 Doch schon kurze Zeit danach bestätigte die Amsterdamer Gemeinde den Venezianisch-Hamburgischen Bann erneut, nachdem da Costa angezeigt worden war, die Speisegesetze nicht zu beachten und zwei Christen vom Übertritt zum Judentum abgeraten zu haben, und er sich geweigert hatte, eine öffentliche Bußprozedur über sich ergehen zu lassen.406 Nach weiterem siebenjährigem Leid unter dem Synagogenbann unterzog sich da Costa dennoch der angedrohten Rückkehr-Prozedur, über die er in seiner kurz vor seinem Suizid im Jahre 1640 verfassten Autobiographie schreibt:
404
Siehe Salomon-Sasson, Uriel da Costa, S. 24–29.
405
Exemplar, S. 130, 110.
406
Exemplar, S. 132, 110.
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»Ich trat in die Synagoge ein, die voll von Männern und Frauen war; denn sie waren zu dem Schauspiel zusammengeströmt. Sobald es an der Zeit war, bestieg ich die Holzestrade, die für die Predigt und andere gottesdienstliche Handlungen mitten in der Synagoge ist, und las mit lauter Stimme eine von ihnen aufgesetzte Schrift, in der meine Beichte enthalten war: ich sei wert, tausendfachen Todes zu sterben für das, was ich begangen, nämlich Sabbathschändung, Untreue gegen den Glauben, den ich so schwer verletzt, dass ich sogar anderen den Eintritt ins Judentum widerraten hätte; zur Sühne wolle ich mich ihrer Verfügung unterwerfen und alles erfüllen, was man mir auferlegte; im übrigen verspräche ich, in derartige Frevel und Verbrechen nicht mehr zurückzufallen. Nach dem Lesen stieg ich von der Estrade herab, und der Vorsitzende der Gemeinde trat an mich heran, um mir ins Ohr zu flüstern, ich möge mich in irgend einen Winkel der Synagoge stellen. Ich begab mich in einen Winkel, worauf mir der Synagogendiener sagte, ich solle mich entblößen. Ich entblößte meinen Leib bis zum Gürtel, band mir ein Tuch um den Kopf, legte die Schuhe ab und streckte die Arme aus, indem ich mit den Händen eine Art Säule erfaßte. Der Synagogendiener kam herzu und band mir die Hände mit Stricken an jene Säule. Hierauf kam der Vorsänger herzu und nachdem er eine Lederpeitsche erhalten, versetzte er mir der Tradition gemäß neununddreißig Schläge an die Seiten, denn das Gesetz bestimmt, die Zahl vierzig nicht zu überschreiten, und da diese Leute so gewissenhaft und genau sind, nehmen sie sich in Acht, durch Überschreitung der Zahl sich zufällig einmal zu versündigen. Während der Schläge wurde ein Psalm gesungen. Nachdem das erfüllt war, setzte ich mich auf den Boden, der Prediger oder Weise (wie lächerlich sind doch die menschlichen Dinge), kam zu mir und löste mich von dem Bann, und damit war mir schon die Pforte des Himmels aufgetan, die vorher mit den stärksten Riegeln verschlossen war und mich von Schwelle und Eingang ausgeschlossen. Danach legte ich meine Kleider wieder an, ging zur Schwelle der Synagoge und streckte mich dort nieder, während der Synagogendiener meinen Kopf stützte. Dann schritten alle beim Ausgang über mich hinweg, indem sie den einen Fuß erhoben und über meine Unterschenkel hinwegschritten, und alle taten es, Knaben wie Greise (kein Affe könnte den Menschen ein abgeschmackteres Treiben oder lächerlichere Gesten vorführen). Nachdem das Geschäft verrichtet und als niemand mehr da war, erhob ich mich vom Platze, wurde von dem, der mir beistand, vom Staub gereinigt (niemand soll sagen, sie hätten mich nicht ehrenvoll behandelt, denn wenn sie mich auch erst geißelten, so beklagten sie mich doch und streichelten mein Haupt), und ich begab mich nach Hause. [...] Urteile nun jeder, der es vernommen, was für ein Schauspiel es ist, einen alten Mann zu sehen, von nicht geringer Herkunft, von Natur überaus schamhaft, in öffentlicher Versammlung vor allen, Männern, Frauen und Kindern
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142
entblößt und gegeißelt [...] Er überlege, was für ein Schmerz, den wütendsten Feinden zu Füßen zu fallen, von denen man so viel Übel, so viel Unrecht erfahren hat, und sich niederzuwerfen, um sich von ihnen mit Füßen treten zu lassen.«407 Der nach eigenem Bekunden408 sehr von seinem Ehrgefühl geprägte da Costa und nun so Geschmähte, konnte dies offenbar nicht länger ertragen und wählte im April 1640 den Freitod mit Hilfe einer Pistole. Ein weiterer Bericht von dieser Tat will wissen, dass da Costa eine zweite Pistole vorbereitet hatte, um seinen Bruder oder Cousin, der in die ganze Angelegenheit involviert war, mit in den Tod zu nehmen, was aber offenbar misslungen ist.409
3.
Da Costas marranische Religion
Im Jahre 1618 wurden die in Portugal zurückgebliebene Schwester Uriel da Costas, Maria da Costa, deren Ehemann Alvaro Gomes Bravo und weitere Verwandte von der Inquisition eingekerkert und den inquisitorischen Prozeduren unterworfen. Aus den Protokollen der Inquisition geht hervor, dass es, vor allem in der Familie der Mutter, Branca da Costa, eine lange Tradition des marranischen Judentums gab, die schon im 16. Jahrhundert einige Familienmitglieder im auto dafé enden ließ. Oft war es so, dass vor allem die Frauen ohne das Wissen der männlichen Familienmitglieder heimlich jüdische Bräuche pflegten. Es liegt wohl vor allem an den von den Inquisitoren aufgelisteten und gesuchten Indizien, dass uns aus diesem Zusammenhang nur Bräuche des heimlichen Judentums aber kaum Glaubenslehren überliefert wurden. So gab da Costas Schwester Maria im Jahre 1618 folgendes zu Protokoll: »Meine Mutter, Branca da Costa, hat mich im Glauben an das Gesetz des Moses unterwiesen, es muss vor etwa elf Jahren gewesen sein; sie hat mich gelehrt, an den Gott des Himmels zu glauben, montags und donnerstags zu fasten, den ganzen Tag ohne Essen und Trinken, bis zum Abend und dann alles andere außer Fleisch zu essen, auch keinen Fisch ohne Schuppen und kein Fett, die Samstagsruhe zu bewahren, an diesem Tag eine saubere Bluse anzuziehen, am Freitag die Leuchter zu reinigen, dies alles um das Gesetz des Moses zu halten; und von dieser Lehre überzeugt, habe ich dieses Gesetz an407
Exemplar humanae vitae, Übs. C. Gebhardt, Die Schriften, S. 134ff. Es ist dieselbe Zeremonie, der sich auch Abraham Mendes zu unterziehen hatte, s. Salomon-Sassoon, Uriel da Costa, S. 20f.
408
So mehrfach in der Autobiographie.
409
Siehe Salomon-Sassoon, Uriel da Costa, S. 23.
Traditions- und Religionskritik
143
genommen und habe dies meiner Mutter gegenüber erklärt, und von diesem Augenblick an behandelten wir uns als Personen, die vom (katholischen) Glauben fern sind ...«410 Der Ehemann Marias, Alvaro Gomes Bravo, berichtet ganz ähnlich von seiner eigenen Bekehrung zum marranischen Judentum, dieses Mal tritt aber Gabriel da Costa aktiv auf, wie dies auch in den anderen Berichten der Fall ist. Alvaro sagte: »... es war vor etwa zehn Jahren, an Monat und Tag erinnere ich mich nicht genau, in Porto, im Hause meiner Schwiegermutter, der ›Neuchristin‹ Branca da Costa, die alleine mit dem ›Neuchristen‹ Gabriel da Costa Portugal verlassen hat, er ist ein sehr kultivierter Mensch, war Schatzmeister der (Kirche von) Cedofeite, und er sagte zu mir, dass er ein Jude sei, und nicht an die Religion Christi unseres Herrn glaube, weil es in ihr kein Heil gebe, und dass es alleine das Gesetz des Moses sei, in dem ich mein Heil erlangen könne, und um dieses einzuhalten müsse ich montags und donnerstags fasten [... es folgen die selben weiteren Anweisungen wie in der Aussage Marias], denn er, Gabriel da Costa, glaube an dieses Gesetz, und übe die besagten Zeremonien, um dieses einzuhalten [...]«411 Alle die in den Akten gefundenen Aussagen der Angeklagten zusammengenommen, ergeben, dass die marranische Religion, welche auch die da Costas übten insgesamt aus sieben Ritualkomplexen besteht: 1. Die jüdischen Feiertage, 2. eine spezielle Liturgie, meist Psalmen ohne deren christliche Schlussformeln, 3. die wöchentlichen Fastentage, 4. ein spezieller antichristlicher »Schmähritus« für die Nacht des Weihnachts- und Johannis-Festes, 5. Der Halla – Ritus (Teighebe), 6. die Speisegesetze in eingeschränkter Form und 7. Totenriten. Diese rituelle Religion, so resumiert Révah, ist ein verarmtes rabbinisches Judentum, das allerdings nicht ausschließlich aus der Lektüre der Bibel geflossen sein konnte, sondern noch Elemente des nachbiblischen rabbinischen Judentums bewahrte, also neben einer Reihe rein biblischer Gebote auch solche, die eine rabbinische Deutung aufweisen, wie das Halla-Gebot, das in der Bibel eine Erstlings-Gabe an die Priester war, und nun ein häuslicher Ritus beim Backen geworden war, außerdem nichtbiblische rabbinische Neuerungen, wie das Zünden der Schabbatlichter, das Fasten am 17. des Monats Tammus und am 9. Av, rabbinisch erlaubte aber nicht verpflichtende nichtbiblische Gebote, wie das dreitägige Fasten zu Purim, die zwei wöchentlichen Fasttage, und die Bußzeit zwischen den beiden ge410
I.S. Révah, La religion d’Uriel da Costa, S. 63.
411
Révah, La religion, S. 63f.
Uriel da Costa
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nannten Fastentagen in den Monaten Tammus und Av. Hierher gehört auch das Ausgießen des Trinkwassers im Hause, wenn ein Todesfall eintritt. Schließlich gibt es ganz eigene marranische Neuerungen, vor allem im Bereich der Gebete, so zum Beispiel die Verwendung des Vaterunsers und der erwähnte antichristliche Ritus für Weihnachten und Johannis, von dem Folgendes berichtet wird: Zwei der Angeklagten Frauen berichten, dass sie in den besagten Nächten in ihr Trinkwasser drei Schluck Wein und drei Bissen Brot und schließlich drei glühende Kohlestückchen warfen – der Sinn dieses Ritus mit Brot und Wein, den Symbolen des Corpus Christi, dürfte klar sein.412 Aus alledem folgt, dass die in der Autobiographie hervorgehobene Ursache der Hinwendung da Costas zum Judentum nicht alleine in der Lektüre der mosaischen Tora gesucht werden kann, sondern eben marranischen Hintergrund hatte. Hinzu kommt außerdem das unten noch zu erwähnende Element der persönlichen Verzweiflung da Costas angesichts eines für ihn bedrohlich erscheinenden Jenseits.
4.
Die Thesen wider die rabbinische Tradition
Da Costas Propostas contra a Tradiçaõ oder »Elf Fragen«, in deren hebräischem Text, sind Hebräisch in Modenas Magen we-Zinna 413 erhalten und portugiesisch in Rephael d’Aguilars handschriftlichen Repostas a certas propostas contra a tradiçaõ (1639), beide Versionen, samt deutscher Übersetzungen bietet C. Gebhardt.414 Dies sind insgesamt elf Thesen, deren Ziel es ist, den sinaitischen Anspruch der rabbinischen Tradition, das heißt der für das rabbinische Judentum konstitutiven »Mündlichen Tora«415 in Frage zu stellen, oder vielmehr zurückzuweisen.416 Die in den Thesen erörterten halachischen Fragen sind: 1. Das Gebot, Tefillin anzulegen, 2. der Modus der Beschneidung, ob die Meziza (Absaugen des Blutes) und Peri‘a (Freilegen der Eichel) biblisch seien, 3. die Doppelfeiertage in der Diaspora, 4. der Modus der Todesstrafe des Verbrennens, 5. die Strafe für den Besitzer eines stößigen Stiers, der einen Menschen getötet hat, 6. wörtliche oder kompensatorische Deutung der Talions-Strafe (Auge um Auge, etc.), 7. die biblische Nicht-Existenz und daraus folgend die Unverbindlichkeit der »Mündlichen Tora«, 8. unwürdige Ansichten und Lehrmeinungen der rabbinischen Tradi412
Ebd., S. 70.
413
Publiziert von A. Geiger im Hebräischen Teil seines: Leon da Modena Rabbiner zu Venedig
414
Die Schriften, S. 2–32.
415
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff.
416
Eine Erörterung der Thesen im Rahmen anderer entsprechender Werke bei Petuchowski, The-
(1571–1648), Breslau 1856.
ology of David Nieto, S. 34–48.
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tion, 9. ob Gelübde aufgelöst werden können, 10. Verbindlichkeit oder Nutzen des so genannten »Zaunes um die Tora«, das heißt der rabbinischen Präventivgesetze, und 11. Unerlaubtheit des Gebots-Segens über rabbinischen Geboten. Hinter all den von da Costa vorgetragenen Bestreitungen der Gültigkeit der genannten Gebotskomplexe steht, wie unten nochmals erörtert wird, ein »biblizistisch-ontologischer« Wahrheitsbegriff und damit verbunden eine Bestreitung der rabbinischen Hermeneutik, die ja gerade die Aufgabe hatte die »Mündliche Tora« exegetisch aus der »Schriflichen Tora« abzuleiten und mit ihr zu rechtfertigen. Die rabbinische Auslegung der biblischen Texte ist bekanntlich amplifizierend, um bestimmte von den Rabbinen als nötig erachtete Novellierungen oder aus der Tradition überkommene Rechtsbräuche durch den Bibeltext zu legitimieren, wofür zum Teil die als Middot bekannten metaphilologischen Techniken eingesetzt werden.417 Demgegenüber ist da Costas Hermeneutik reduktiv und kontextbezogen, wofür die modernere philologische Text-Hermeneutik und Argumente der praktischen Vernunft wie auch der Geschichte eingesetzt werden. Dies führt da Costa insgesamt zu der Schlussfolgerung, dass die gesamte rabbinische Halacha »nicht von der Tora, sondern von Menschen geboten« ist.418 Schon Leone Modena hat in seiner Widerlegung der Thesen da Costas in seinem Magen we-Zinna erkannt, dass all die von da Costa vorgetragenen Fragen recht eigentlich in der siebenten Frage, über die Stellung der »Mündlichen Tora« ihre systematische Grundlage haben, weshalb er ihre Erörterung an den Anfang seiner Widerlegung stellte. Sie soll darum auch hier ins Zentrum der Darstellung gerückt werden: »Siebte Frage: Über das Grundsätzliche der Mündlichen Tora. Es genügt allein, um das Fundament der Tora umzustürzen, wenn man sagt, man müsse die Vorschriften der Tora auf Grund der Überlieferung und Tradition beurteilen, und man müsse an diese glauben wie an die Tora des Moses selbst. Dies ist wahrlich beinahe soviel, wie die Tora zu ändern, wie eine neue Tora, die der wirklichen entgegensteht, wo man doch unmöglich sagen kann, dass es eine Mündliche Tora außer der Schriftlichen Tora gibt, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Es ist aus der Tora nicht ersichtlich, dass es eine andere Tora oder einen Kommentar zu ihr gibt, dies hätte doch in der Tora erwähnt werden müssen, denn ohne einen solchen Hinweis ist jeglicher irgend geartete Beweis hinfällig. Ja selbst wenn diejenigen, die die Mündliche Tora bezeugen, Männer wären, die Wunder vollbrächten, so dürften wir doch auf ihre Worte keine Rücksicht nehmen, wenn sie nicht mit der Schriftlichen Tora überein417
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 172.
418
So zu Frage 1, Gebhardt, S. 10, 3.
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Uriel da Costa
stimmten. Denn nachdem die Tora uns durch den höchsten aller Propheten gegeben wurde und ihr Empfang und ihr Abschluß durch den Mund Gottes bestätigt wurde, gibt es für uns kein anderes untrügliches Zeichen, die wahren von den falschen Propheten zu unterscheiden, als die Übereinstimmung mit der Tora. 2. Es ist aus der Tora selbst ersichtlich, dass es nichts außer ihr gibt. Darum richten wir uns nach ihren Worten und nach nichts anderem, da unser Lehrer Mose zu wiederholten Malen hervorhebt, besonders 5. Buch Mose, Cap. 4 [v.1.2]: und jetzt, Israel, höre auf die Gesetze usw.; ihr sollt nichts hinzufügen und nichts hinwegnehmen, und das Wort heute soll nachdrücklich hervorheben: es gibt keine Gebote weiter, als die ich euch heute befohlen habe, und du sollst nicht berücksichtigen solche, die kommen und sagen, ich hätte noch anderes vorgeschrieben außer diesem; ich gebe sie alle öffentlich und schriftlich, nicht durch mündliche Einflüsterungen. Ebenso Cap. 27 [v. 26]: Verflucht, wer nicht hält die Worte dieser Tora usw., d. h. es gibt nur diese Tora und ich gebe euch keine andere. 3. Auch die Prozesse, die in Mosis Zeit begannen, wurden nicht von der Überlieferung her entschieden, sondern auf Grund der Tora: alle schweren Fälle sollen sie zu Mose bringen (Ex 18, 26), und ebenso befahl die Tora, auch später daran festzuhalten und bei schweren Fällen an den Priester oder den Richter sich zu wenden, und nicht nach einer anderen Tora zu entscheiden, sondern Gott wird seinen Geist über sie ausgießen (4 Mose 11, 29), um nach der schriftlichen Tora zu urteilen. [...] Nachdem wir nun dargelegt, dass keine andere Tora und keine andere Erläuterung außer der schriftlichen von Gott stammt, muß also die in den erwähnten und anderen Erklärungen genannte Tradition von Menschen sein. Zu dieser kann man sagen: Abgesehen davon, dass es ein großes Unglück wäre, wenn man den Menschen Gelegenheit gäbe, von Mosis Tora abzuweichen, sie zu erläutern und zu verändern, und menschlichen Erklärungen zu gehorchen statt göttlichen, folgt daraus: Wenn man sieht, dass diese Überlieferung von Menschen herrührt, wäre es eine Häresie, sie der göttlichen Überlieferung gleichzustellen und zu sagen, wir seien verpflichtet, alle Gesetze des Talmud zu halten wie die der Tora von Moses. Allerdings müssen wir zugeben, dass hinsichtlich der praktischen Ausführung ein Gewohnheitsrecht möglich ist, jedoch müssen wir genau prüfen, ob dieses mit der Tora übereinstimmt. In diesem Falle hat es Geltung; im anderen Falle ist es nichtig.«419 Gegen diese schriftimmanente Argumentation da Costas bringt Modena die traditionellen pragmatischen Argumente vor, nämlich dass die Schriftliche Tora ja 419
Magen we-Zinna, Geiger, Modena, Hebr. Tl. S. 2b-3a; vgl. Gebhart, Die Schriften, S. 18f.
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ohne den Kommentar der Mündlichen überhaupt nicht praktikabel sei, was schon hinsichtlich der Vokalzeichen gelte, ohne die ja die Schriftliche Tora von vorneherein vieldeutig sei. Außerdem habe Gott in der Tora bewusst manches unklar formuliert, damit sich die Israeliten in jeder Generation an die Priester, Propheten, Richter und Gelehrten wenden müssten, wodurch eine einheitliche Auslegung und Praxis gesichert werde und nicht jeder nach seinem eigenen Gutdünken verfahre. Dies habe auch ermöglicht, dass stets notwendige Schutzmaßnahmen verordnet werden konnten (der Zaun um die Tora), sofern diese nicht der Tora widersprechen, wie ja auch die Bibel selbst (5. Mose 17) auf die Lehrautorität des Hohen Gerichts in Jerusalem verweise, dessen Entscheidungen als Präzedenzrecht eben Gültigkeit habe. Die notwendigen Erklärungen seien darum keine zweite Tora, sondern eben auch Tora des Moses, weshalb man nicht sagen könne, die Mündliche Tora widerspräche der Schriftlichen.420 Uriel da Costa hat in seiner schließlich publizierten Schrift Exame das tradicoẽs Phariseas conferidas com á lei escrita seine elf Thesen in überarbeiteter und erweiterter Form selbst publiziert und ist dabei mehrfach auf Modenas Argumentation eingegangen, was sich am deutlichsten daran zeigt, dass er Modena folgte und die ehemals siebte Frage zur Mündlichen Tora wegen ihrer Grundsätzlichkeit nun tatsächlich an den Anfang stellt. In dieser Version bietet da Costa nochmals klar zugespitzte Formulierungen, die aus der Sicht des reinen philologischen Textverständnisses nicht zu bestreiten sind. So zum Beispiel hinsichtlich der so genannten Übereinstimmung der beiden Torot: »The Tradition called Oral Tora is contrary to the Written Law [...]. Two opposites are incompatible and truth cannot be found in both. Therefore the Tradition wich is contrary to the Law must be false if the Law is true, which it is.«421 Die Behauptung Modenas, Gott habe absichtlich manches in der Tora unklar formuliert, kontert da Costa nun mit der These, dass ein Gesetz, das ohne eine mündliche Erklärung unverständlich ist, ein »unvollkommenes« Gesetz sei, was man vom Gesetz Gottes doch nicht sagen dürfe, vielmehr müsse es allenfalls aus sich selbst erklärt werden »Therefore the true explanation which is to be found within the Law is sufficient for its understanding.«422 Ein weiteres wichtiges neues Argument gegen die Existenz einer mündlichen Tradition seit dem Sinai ist ein wissenspsychologisches, die eine lange Tradierung menschlichen Wissens ohne schriftliche Fixierung für unmöglich hält, »wegen der bekannten Unmöglichkeit einer verlässlichen mündlichen Tradierung über nahezu zweitausend Jahre« seit dem Sinai bis zum Abschluss des Talmud.423 420
Magen we-Zinna, Geiger, Modena, S. 4a-5b.
421
Salomon-Sassoon, S. 271.
422
Ebd., S. 272.
423
Ebd., S. 273.
Uriel da Costa
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Neben die biblizistisch-ontologische Offenbarungswahrheit tritt bei da Costa nun komplementär, analog zu den oben dargestellten Autoren,424 eine zweite Wahrheit, nämlich die historische. Denn auch eine historische Lektüre der Hebräischen Bibel ist für da Costa, wie auch für den Autor von Kol Sachal,425 ein Hinweis für die Nichtexistenz einer wie immer gearteten mündlichen Tora. Denn die Richterbücher wie dann vor allem der erstaunliche Fund des offenbar unbekannten Buches der Tora des Moses, von der das Königsbuch (2 Könige 22) berichtet, ist ihm ein Hinweis für die Nichtexistenz einer solchen Tora.426 Die Mündliche Tora ist für da Costa vielmehr das, was man heute in jedem modernen wissenschaftlichen Buch zum Thema finden kann: »In fact we know the Tradition was committed to writing over a long period of time, successive generations adding what they thought their predecessors had ommitted. [...] each author added to the existing corpus whatever seemed fit to him.«427 Die große Neuerung einer Mündlichen Tora und damit die Differenz von Sadduzäern und Pharisäern hinsichtlich deren Anerkennung, so schließt da Costa aufgrund der kanonischen Traditionsgenealogie im Mischna-Traktat ’Avot (Sprüche der Väter),428 hat Antigonos von Socho (um 300 od. 200 v.d.Z.) eingeführt, wogegen die von den Pharisäern als Häretiker betrachteten Zadok (Eponym der Sadduzäer) und Boethos (Boethusäer), die Schüler des Antigonos, rebelliert hätten.429 Die hier sichtbare historische Wahrheitssuche, von welcher die biblischen Texte zunächst ausgenommen waren, rücken für da Costa jedoch immer mehr ins Zentrum. Diese Entwicklung seines Denkens, welche er kurz vor seinem Tode in seiner Autobiographie dokumentiert, ging einher mit der Ablösung der biblizistisch-ontologischen Wahrheit durch eine andere ontologische Wahrheit, nämlich der des Naturrechtes. Dazu sagt er in seiner Autobiographie: »Später im Verlaufe der Zeit, wie Erfahrung und Jahre vieles enthüllen und demgemäß das Urteil eines Menschen wandeln – ich darf wie gesagt frei reden, denn warum sollte einer, der gleichsam sein Testament aufsetzt, um den Menschen den Sinn des Lebens und ein wahres Beispiel menschlicher Leiden zu hinterlassen, im Angesichte des Todes nicht die Wahrheit reden dürfen? – da kam mir der Zweifel, ob das mosaische Gesetz (Lex Mosis) wirklich als
424
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II. B.
425
Dazu siehe das vorangehende Kapitel zu Leone Modena.
426
Salomon-Sassoon, S. 273.
427
Ebd., S. 273f.
428
Kapitel 3; und vgl. Avot de Rabbi Nathan A, 5, Ausgabe S.Z. Schechter, New York 1967, S.
429
Salomon-Sassoon, S. 274.
26.
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Gottes Gesetz (Dei lege) gelten dürfe, denn es gab vieles, was dagegen sprach, oder vielmehr das Gegenteil anzunehmen zwang. Endlich kam ich zu der Überzeugung, das Gesetz sei nicht von Moses, sondern bloß eine menschliche Erfindung, wie es deren noch unzählige in der Welt gab. Vieles darin widerstritt nämlich dem Naturgesetz (lege naturae), und Gott, der Schöpfer der Natur (autor naturae), konnte doch nicht mit sich selbst im Widerspruch sein, was der Fall gewesen wäre, wenn er etwas vorgeschrieben hätte, das im Widerspruch mit der menschlichen Natur steht, als deren Schöpfer er doch galt.«430 Zu recht wird angesichts solcher Worte darauf hingewiesen,431 dass da Costa hier ein früher Vertreter eines »Deismus« ist, der sich im philosophischen Denken Europas vor allem mit Männern wie Jean Bodin in Frankreich (15229/30 – 1596), Herbert von Cherbury in England (1583–1648) und anderen anbahnte. »Gott galt ihnen zwar als Weltschöpfer, sie bestritten aber, dass er in das Weltgeschehen eingreifen und die menschlichen Geschicke lenken könne. Da sie die Annahme einer Offenbarung ablehnten, sprachen sie den Kirchen das Recht ab, sich auf geoffenbarte Wahrheiten zu berufen. Keineswegs wollten sie die Religion als solche verwerfen; sie bekannten sich vielmehr zu einer natürlichen Religion auf der Grundlage der natürlichen Sittlichkeit. [...] Typisch für den Deismus ist die Hochschätzung der Freiheit des Denkens [...].«432 »In die menschliche Seele hat Gott nämlich die moralischen Vorstellungen gelegt, die die Menschen dann selber mit Hilfe der Vernunft hervorbringen können, und der Wille ist stark genug, sich nach der erlangten Einsicht zu richten.«433
430
Übs. nach Exemplar, Gebhardt, Die Schriften, S. 129f., 109f., mit einer Korrektur im letzten Satz. Zu dieser Argumentation vergleiche man Hugo Grotius (1583–1645) in seinem De jure belli et pacis: »Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung, wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst, eine moralische Notwendigkeit oder eine moralische Häßlichkeit innewohne, weshalb Gott, als Schöpfer der Natur, eine solche Handlung entweder geboten oder verboten habe.«, lib I, cap 1, 10, nach F. Jodl, Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft, (Wien 1906/1929) Neudruck o.D., Bd. I, S. 201f.
431
S. Gebhardt, Die Schriften, S. XXXIII.
432
Vgl. W. Röd, Der Weg der Philosophie, Band 2, 17. bis 20. Jahrhundert, München 2000, S. 84.
433
Søren Holm, Religionsphilosophie, Stuttgart 1960, S. 161. Er unterscheidet indessen den im 17. Jahrhundert entstandenen »historischen Deismus«, Toland, Cherbury u. a. von einem »philosophischen«, dessen bekanntester Vertreter Voltaire gewesen sei, S. 160.
Uriel da Costa
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5.
Das Naturrecht
Im zuletzt zitierten Text aus der Autobiographie stellt da Costa nun nicht nur das rabbinische Recht in Frage, sondern dehnt seinen Zweifel auf die gesamte mosaische Tora aus, die ihm nunmehr, wie die rabbinische Halacha, als Menschenwerk erscheint. Das einzig verbleibende gültige göttliche Gesetz ist für ihn jetzt die lex naturalis. Der Begriff eines Naturrechts (dat tiv‘it) wird in der jüdischen Literatur zum ersten Mal von Josef ’Albo (ca.1388–1444)434 in seinem Sefer ha ‘Ikkarim (Buch der Grundlehren)435verwendet, ist aber als Konzept zumindest seit Sa‘adja Ga’ons Begriff von »Vernunftgeboten« (mizwot sichlijot),436 das heißt Verpflichtungen, welche der Mensch auf Grund seiner eigenen Vernunft als geboten erkennt, in das philosophische Denken des Judentums eingeführt, wenn man nicht schon die rabbinischen noachidischen Gebote als ersten Keim dafür halten will.437 ’Albo, der sich in seiner Rechtstheorie an Thomas von Aquin anlehnt,438 unterscheidet wie oben scon gezeigt zwischen drei Rechtstypen, einem »Naturrecht« (dat tiv‘it) »weil es für den Menschen gemäß seiner Natur nötig ist«,439 einem konventionellen Recht (dat nimusit), das von den Gelehrten einer jeweiligen Gesellschaft eingeführt wird, und einem »göttlichen Recht (dat ’elohit),440 welches Gott vermittels eines Propheten, wie Adam und Noah, von Verhaltensweisen und Anweisungen Abrahams oder schließlich durch einen Boten wie Moses anordnet. Die Ziele dieser drei Rechtstypen sind teilweise verschieden, überschneiden sich aber auch. Das Naturrecht soll den Frevel fernhalten und die Aufrichtigkeit herbeiführen, um die Menschen vor Diebstahl, Raub und Mord zu bewahren und so eine sichere menschliche Gesellschaft gewährleisten. Das konventionelle Recht soll das Tadelnswerte fernhalten und das Ange-
434
R. Lerner, Natural Law in Albo's Book of Roots, in: Ancients and Moderns: Essays on the Tradition of Political Philosophy in Honor of Leo Strauss, J. Cropsey (Hg.), New York 1964, S. 132–147; J. Guttmann, Le-heker ha-mekorot shel sefer ha-‘ikkarim, in: Dat u-mada‘: kovetz m’amarim ve-harza’ot, S.H. Bergman, N. Rotenstreich (eds.), Jerusalem 1955, S. 169–191; D. Novak, The Image of the Non-Jew in Judaism. A Historical and Constructive Study of the Noahides Laws, New York 1983; ders., Natural Law in Judaism, Cambridge 1998; J.D. Bleich, Judaism and Natural Law, in: Proceedings of the Eighth World Congress of Jewish Studies, Jerusalem 1982, III, S. 7–11.
435
J. ’Albo, Sefer ha-‘Ikkarim Warschau 1867 (Neudruck Jerusalem); dt.: W. Schlessinger, L. Schlesinger, Sefer ‘Ikkarim, Buch Ikkarim Grund- und Glaubenslehren der Mosaischen Religion von Rab. Joseph Albo, Berlin 1922.
436
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393ff.
437
Dazu s. Novak, Natural Law, und A Historical and Constructive Study of the Noahides Laws.
438
S. Guttman, le-heker.
439
Sefer ha-‘Ikkarim I, 5, S. 34, Schlessinger, S. 24; und s. oben Kap. I.4.
440
Sefer ha-‘Ikkarim, S. 38, Schlessinger, S. 27.
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nehme herbeiführen, um auf diese Weise gleichfalls eine wohlverträgliche Staatsordnung zu gewinnen. Das göttliche Gesetz schließlich soll den Menschen auf die Gewinnung der wahren Glückseligkeit (Hazlacha) zubereiten, das heißt auf die Glückseligkeit der Seele und deren Unsterblichkeit. Dabei greift dieses Gesetz auch zu Anweisungen, welche wie die beiden zuvor genannten, dem Staat die nötige Vervollkommnung und Ordnung verschaffen.441 Die drei Gesetzestypen ’Albos stehen hiernach in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, das jeweils höhere erreicht außer der zusätzlichen Gewinne auch das jeweilige Ziel des niedrigeren. Das heißt, in dem göttlichen Gesetz alleine, welches das höchste Ziel, die Glückseligkeit der Seele verschafft, sind zugleich die Ziele und Funktionen der beiden anderen mit enthalten. Wer im Besitz des göttlichen Gesetzes ist, braucht die beiden andern nicht mehr, weil dieses eben alle Ziele erreichen lässt und die dafür nötigen Anordnungen in sich enthält, und Entsprechendes gilt im Verhältnis von konventionellem und Naturrecht. Die Gültigkeitsbereiche der drei Gesetze sind demnach Bereiche aufsteigender Qualität und zugleich abnehmender Quantität. Das Naturrecht gilt für alle Menschen, alle Zeiten und Orte gleichermaßen, das konventionelle gilt für einen bestimmten Ort, bestimmte Zeit und eine bestimmte Menschengruppe, je nach deren besonderen und religiösen Bräuchen. Das göttliche Gesetz schließlich ist das von den drei oben schon genannten Vermittlern von Gott gebrachte Gesetz, das mit Adam und Noah sichtlich das göttliche Universalgesetz ist, und mit Abraham und Moses seine geschichtlich bedingte Begrenzung auf den Bereich der Anerkennung der mosaischen Tora, das heißt auf Israel, erfahren hat. Uriel da Costa vertritt in seiner Autobiographie dieser Konzeption ’Albos gegenüber eine völlig andere Auffassung. Für ihn ist das göttliche Gesetz mit dem Naturrecht identisch.442 Und dieses ist ein Gesetz, welches Gott in die gesamte Schöpfung und insbesondere in den Menschen als Teil dieser Schöpfung gelegt hat. Weiterer Offenbarungen durch Propheten und Boten bedurfte es darum nicht, sie können deshalb nur menschgemacht sein. Mit dieser Auffassung nimmt da Costa einen Faden auf, der im Grunde von den jüdischen Philosophen seit Sa‘adja schon gesponnen wurde, nämlich die Auffassung, dass das den Menschen nötige Gesetz gänzlich von der menschlichen Vernunft erkennbar ist. Dies drückten sie dadurch aus, dass sie behaupteten, dass die Tora an keiner Stelle der Vernunft widerspräche und die für den Menschen rational vorläufig noch nicht einsehbaren Offenbarungsgebote letztlich eben doch der Vernunft entsprechen.
441
Sefer ha ‘Ikkarim, I,7, S. 38; Schlessinger, S. 27.
442
In der überarbeiteten Form seiner Thesen am Anfang der Exame unterscheidet da Costa noch das »Natural Law« vom »Divine Law« fügt jedoch hinzu: »The divine Law neither legislated against nor abrogated natural law. Therefore anything forbidden by natural law remains forbidden by the divine law.«, Exame, Salomon-Sassoon, S. 366.
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Uriel da Costa
Wenn die mittelalterlichen Philosophen aber dennoch an der Offenbarung der Tora festhielten, so war dies eher eine historisch und anthropologisch nötige Konzession, das heißt ein Zugeständnis an die Schwachheit des menschlichen Geistes, solange dieser durch seine Verkettung mit der Materie oder den Zeitumständen443 behindert wird. Aber letztlich, so die Philosophen, lehrt die Tora nichts, was außerhalb der Vernunft steht, und damit kann auch die Tora keine höheren Ziele verfolgen als das reine Vernunftgesetz. Von dieser Identität von göttlichem und Vernunftgesetz war – wie nun Josef ’Albo – schon der mittelalterliche Philosophiekritiker Jehuda Ha-Levi444 abgewichen.
6.
Der Traktat wider die Unsterblichkeit der Seele
Es war vielleicht eine Anregung aus Modenas Magen we-Zinna, welche da Costa veranlasste, seinen im Exame enthaltenen überarbeiteten und erweiterten Thesen wider die rabbinische Tradition nun auch einen längeren Traktat zur Unsterblichkeit der Seele folgen zu lassen. Denn Modena führte unter seinen Argumenten für die Notwendigkeit der Mündlichen Tora unter anderem auch den Hinweis auf, dass die Schriftliche Tora ja nirgends von der Unsterblichkeit der Seele, von Lohn und Strafe, jenseitigem Garten Eden und Gehinnom sowie der Auferstehung des Fleisches sage, wiewohl diese Vorstellungen ja wohl vernünftigerweise zu jeder Religion gehörten. Es war darum, so Modena, die Mündliche Tora, welche dieses Defizit der Schriftlichen Tora ausgleichen musste. Für da Costa war dieses Argument Modenas natürlich ein willkommener Anlass, um nun eben das absolute Fehlen dieser Themen in den biblischen Texten zu konstatieren, ein Unterfangen, welches das tragische Ende da Costas wesentlich beschleunigte, weil er damit nicht nur jüdisch-rabbinische, sondern zugleich christliche Positionen bestritt. Der zweite, und längere, Teil seines Exame das tradicoẽs Phariseas conferidas com á lei escrita (Prüfung der pharisäischen Traditionen verglichen mit der Schriftlichen Tora) widmet sich der rabbinisch-jüdischen und auch mittelalterlich philosophischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Da Costa bedient sich für diese Widerlegung vor allem der Schrifttexte, welche er wider deren rabbinisch-haggadische Deutung kontextbezogen und philologisch interpretierte, aber auch rationaler Argumente, wobei er sich allerdings nicht der mittelalterlich-spekulativen Vernunft bedient, sondern einer auf die Naturerfahrung gegründete.
443
So bei Maimonides, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 481f.
444
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 610ff.
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Diese praktische Vernunft zeigt sich sogleich daran, dass er der eigentlichen Erörterung der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele die Frage vorausschickt, was denn die Seele eigentlich sei. Auf alle Fälle, so polemisiert er gleich zu Eingang, ist sie nicht etwas wie einige Ignoranten meinten eine »damsel housed in our bodies«.445 Vielmehr, so meint er, sei die menschliche Seele der »vitale Geist, der das Individuum belebt, der im Blut enthalten ist.«446 Es ist jener Geist, mit dessen Hilfe der Mensch lebt, arbeitet und sich bewegt. Insofern ist die menschliche Seele nur dadurch von der Seele der Tiere verschieden, als die menschliche Seele mit Vernunft begabt ist, jene der Tiere aber nicht. Diese eine und einzige Seele des Menschen ist es, welche ihn belebt und auch vernünftig sein lässt.447 Der für da Costa unvermeidliche Schluss aus der Verortung von Lebensgeist und Intellekt und deren Identifizierung mit der einen Seele, die im Blut behaust ist, ist es, »dass die wahre Natur der intellektuellen Fähigkeit des Menschen physisch ist. Sie hat ihren Ort im Herzen, von dem sie ein organischer Teil ist. So wie eine lebendige Person ohne Augen nicht sehen kann, so kann eine tote Person ohne Herz nichts mehr erkennen.«448 »Das Erkennen ist«, so sagt da Costa nochmals an anderer Stelle, »eine Fähigkeit, die nicht von der Materie getrennt ist, sondern es ist ein Ausfluss der Materie, wie Sehen, Hören, Erinnern und andere Funktionen der sensitiven Seele.«449 Die Seele ist demnach wie die anderen Glieder und Organe des Leibes körperlich und sie bildet mit ihnen zusammen den einen menschlichen Leib. Wenn sich da Costa in der Identifikation von Seele und Leiblichkeit auch auf den Schriftvers »Denn die Seele des Fleisches ist im Blut«450 berufen kann, so fügt er hierfür auch eine rational-biologische Argumentation hinzu, die er von dem Spanier Michael Servet, dem Entdecker des kleinen Blutkreislaufes übernommen hat451: »Die Seele hat ihren Ort zu allererst im Herzen, welches die Quelle und das Prinzip des Lebens genannt wird, weil von ihm alle Venen und Arterien ausgehen, die man die Gefäße und Behälter des Lebensgeistes nennen kann, der mit dem Blut vermischt und vereint ist.«452
445
Exame, Salomon-Sassoon, S. 311.
446
Ebd., S. 311.
447
Ebd., S. 322.
448
Ebd., S. 349.
449
Ebd., S. 369.
450
3 Mose 17, 11; da Costa zitiert für diese Identifikation allerdings Gen 9, 4–5 »nur Fleisch, mit
451
So L. Strauss, Uriel da Costa, in: ders., Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften,
452
Exame, Salomon-Sassoon, S. 363.
seiner Seele, seinem Blut, sollt ihr nicht essen«, S. 365. hrsg. von H. und W. Meier, Stuttgart/Weimar1996/2001, S. 88f.
Uriel da Costa
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Ein komplementäres Argument dafür, dass die Seele des Menschen wie das der Tiere im Blut angesiedelt ist, ist der Hinweis da Costas, dass sowohl Tier als auch Mensch beim Verlust von Blut sterben. Wäre also die Seele des Menschen ein anderes Wesen als jenes im Blut verbreitete, so müsste er ja trotz des Blutverlustes dank jenes anderen Seelenwesens weiterleben können.453 Wenn es nun erwiesen ist, dass die menschliche Seele wie die der Tiere eine im Blut eingemischte materielle Substanz ist, so muss man auch schließen, dass die menschliche Seele, wie jene der verschiedenen Tierarten, mit ihren je eigenen Eigenschaften durch die natürliche Zeugung weitergegeben wird gerade so wie die tierischen Instinkte, die ja oft der menschlichen Intelligenz nahekommen.454 Die Seele ist also nichts, was dem Menschen, wie etwa in dem rabbinischen Traktat von der Erzeugung des Kindes, oder von den platonisierenden Philosophen und Kabbalisten beschrieben,455 von Außen hinzukommt, noch auch ist die Seele je vom Körper unabhängig existierend.456 Angesichts dieses so gezeichneten Befundes ist für da Costa die Schlussfolgerung unausweichlich: »Hinsichtlich der Frage, ob die menschliche Seele sterblich oder unsterblich ist, antworten wir aufgrund des zuvor Gesagten, dass es evident erscheint, dass, wenn sie wie gesagt im Blut enthalten ist, sie sterblich ist. Es ist tatsächlich so, dass es der vitale Geist ist, welcher stirbt und erlischt, bevor das menschliche Wesen zuende geht [...]«457 Diese Schlussfolgerung sieht da Costa – zu recht – durch die jüdische Bibel bestätigt, wozu im ersten Band dieses Buches genug gesagt ist.458 Nach den vielen biblischen Belegen, aus denen die Vorstellung von der Sterblichkeit der Seele im Denken Altisraels zu beweisen ist, sieht sich da Costa genötigt, jene anderen biblischen Stellen des näheren zu erörtern, aus denen seine Gegner und die rabbinische Tradition die Unsterblichkeit der Seele belegen wollen. Da ist zum ersten die Geschichte von der Erschaffung des Menschen, nach welcher Gott dem Menschen den Lebensodem (Nischmat Hajjim; Odem / Seele
453
Ebd., S. 365.
454
Ebd., S. 311, 372.
455
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263ff., 514ff., 542ff., 559; und Bd. 2, S. 326ff., 360ff., 444ff.,
456
Exame, Salomon-Sassoon, S. 312.
586ff., 661–675. 457
Ebd., S. 312, 374.
458
Exame, S. 313ff.; und s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129ff., 198ff.
Traditions- und Religionskritik
155
des Lebens)459 in die Nase geblasen hat. Gegen ein wörtliches Verständnis dieser Erzählung ist nach da Costa alleine schon einzuwenden, dass dies ein unakzeptabler Anthropomorphismus in der Gottesvorstellung wäre. Demgegenüber müsse man sagen, dass Gott machte, dass der Geist des Lebens in die Nase des ersten Menschen drang, wodurch dieser belebt wurde. Aber »Dieser Geist oder Atem ist kein Teil Gottes, noch kam er direkt aus ihm, vielmehr hat Gott ihn aus der Luft genommen, gerade so wie er dessen Körper aus der Erde gemacht hatte.«460 Schließlich weist da Costa noch das Argument zurück,461 die Unsterblichkeit der Seele sei durch die Gottebenbildlichkeit des Menschen gegeben.462 Wenn aber, wie da Costas Kontrahenten glauben, die Gottebenbildlichkeit des Menschen die Unsterblichkeit seiner Seele verursachte, so müsste diese Gottebenbildlichkeit um so mehr für die übrigen Qualitäten des Menschen gelten, seine irdische Lebensdauer, seine Erkenntnisfähigkeit oder seine Macht. Aber wir wissen ja, dass all diese menschlichen Fähigkeiten sehr beschränkt sind. Also kann mit der Vorstellung von der Ebenbildlichkeit all dies nicht gemeint sein, vielmehr müsse man sie als Symbol dafür nehmen, dass der Mensch Gott darin ähnle, dass er über die anderen Kreaturen in der Schöpfung herrsche, oder Gerechtigkeit verwalte, Deutungen der imago-Lehre wie sie ja in der hebräischen Bibel zu finden sind.463 Nachdem also die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele abgewiesen ist, muss man als Folge davon noch eine Reihe weiterer rabbinischer und kabbalistischer Lehren als falsch zurückweisen, nämlich die Lehre vom Gehinnom (Purgatorium),464 also jenem nachtodlichen Vergeltungsort für das Böse, außerdem die Seelenwanderung,465 die Gebete und Opfer für die Toten und schließlich auch den Glauben an die Auferstehung.466 All diesen Erwartungen einer nachtodlichen Existenz bescheinigt da Costa einen schädlichen Einfluss auf die menschliche Lebensqualität. Sie förderten nur die Traurigkeit, seien angsteinflößend und führten zu einer Geringschätzung der irdischen Güter,467 die man, so da Costas Aufforderung sehr wohl genießen solle.468 Es ist diese diesseitsbezogene Haltung,
459
Gen 2,7.
460
Ebd., S. 355.
461
Ebd., S. 319, 383f.
462
Dazu s. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 211.
463
S. ebd., S. 129ff.
464
S. ebd., S. 207, 244, 265, 267, 268, 561; Bd. 2, S. 575, 879.
465
Exame, S. 341, 406f.
466
Ebd., S. 339f., 414–419.
467
Ebd., und S. 343.
468
Ebd., S. 318.
Uriel da Costa
156
welche Leo Strauss469 das Epikureische Motiv in da Costas Lebenseinstellungnannte, das heißt die Leugnung eines menschlichen Lebens im Jenseits zugunsten des irdischen Diesseits. In der Autobiographie beschreibt da Costa, wie sehr schon die katholischen Jenseitsvorstellungen ihn ängstigten und ihm das Gefühl vermittelten, die von der Kirche angebotenen Heilsmittel würden zur Erlangung eines ewigen Lebens nicht ausreichen, weshalb er sich den Büchern des »Gesetzes Mosis« und den Propheten zugewandt habe.470
7.
Biblische Literaturkritik
Schon oben wurde auf die Verwerfung der gesamten Tora als Offenbarungsschrift durch da Costa hingewiesen, die er in der kurz vor seinem Tode verfassten Autobiographie äußerte. Als er in den Jahren vor 1624 an seiner Exame arbeitete, hatte er die Tora des Moses noch als göttliche Offenbarung betrachtet. Allerdings standen seiner ansonsten richtigen Feststellung, dass es in der Bibel keinen Hinweis auf ein nachtodliches Leben, etwa in Form der Auferstehung, gebe, doch einige biblische Texte entgegen, so im Buche Jesaja (26, 19) und Daniel (12, 2). Da nun da Costa aus der neutestamentlichen und apokryphen Literatur bekannt war, dass die Sadduzäer sowohl die Auferstehung leugneten als auch die mit der Tora gleichrangige Kanonizität der prophetischen Schriften, kam er zu der Auffassung, dass alle übrigen biblischen Schriften, oder zumindest jene oder Teile jener, welche pharisäisches Gedankengut vertraten, schlicht pharisäische Literatur, nicht aber Teil der Offenbarung seien.471 So sagt er über das Danielbuch: »In diesem Fall zeigt der Inhalt des Buches, dass es nichts anderes als ein Produkt der pharisäischen Ideologie ist und im Gegensatz zum Gesetz [zur Tora] steht. Es geht in der Maskerade der Prophetie einher, um die Menschen irrezuführen und den falschen Lehren seines Autors Autorität zu verleihen.«472 Als Beleg für derartige Pseudepigraphie nennt da Costa des weiteren das Buch Judith, den dritten und vierten Esra, Sapientia Salomonis, das Buch Esther und noch weitere.473 469
L. Strauss, Die Tradition der Religionskritik, § 2 Uriel da Costa, und: Zur Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer, beide in: L. Strauss, Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, hrsg. von H. und W. Meier, in: B. Spinoza, Gesammelte Schriften, hrsg. von H. Meier, Stuttgart 2001, S. 83–96, 406–414; wenig überzeugend ist S. Shepard, The Background of Uriel da Costa’s Heresy – Marranism, Scepticism, Karaism, in: Judaism 20, 3 (1971), S. 341–350.
470
Exemplar, S. 124ff., 105f.
471
Ebd., S. 339.
472
Ebd., S. 339.
473
Ebd., S. 340, 401–406.
Traditions- und Religionskritik
157
Was da Costa hier unternimmt, ist nichts weniger als der Beginn einer biblischen Literaturkritik aufgrund theologiegeschichtlicher Einsichten. Dass er damit, wie später Spinoza, den Widerstand der Rabbinen und seine Bannung auslöste, ist angesichts der Tragweite dieser Auffassungen für das traditionell rabbinische Verständnis vom Judentum nicht verwunderlich.
Baruch Spinoza
158
III. BENTO BARUCH BENEDICTUS DE SPINOZA (1632–1677) 1.
Biographisches
Baruch (portugiesisch Bento) de Spinoza, der sich später selbst mit seinem lateinischen Pendant Benedictus nannte, ist im am 24. November 1932 in Amsterdam als Kind einer um 1600 aus Portugal in die Niederlande gereisten Marrano – Familie geboren worden. Am 27. Juli 1656 wurde er nach vorheriger Verwarnung durch den »kleinen Bann« (Nidduj) mit dem »Großen Bann«, dem (Herem) aus der Amsterdamer Synagogengemeinde ausgeschlossen. Zuvor hatte er ebenda eine traditionelle jüdische Bildung genossen, Hebräisch, Bibel, Kommentare,474 Talmud, Rechtskodices und auch jüdische Philosophen, die in seinen hinterlassenen Werken teilweise namentlich teilweise ohne Nennung präsent sind. Seine Lehrer waren waren Manasse Ben Jisrael (1604–1657) und Rabbi Saul Levi Morteira (1596–1660). Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen Uriel da Costa ist Spinozas Verhältnis zu seiner jüdischen Heimatgemeinde nicht durch jene in da Costas Schicksal vorherrschende verzweifelte Dramatik gekennzeichnet, hat nicht den Geruch einer Tragödie, denn Spinoza wusste sehr früh, was er wollte, und war wohl ab Ende 1655, innerhalb der jüdischen Gemeinde, Mitglied eines freigeistigen Kreises um den aus Portugal gekommenen Arzt Juan de Prado (geb. 1614).475 Dieser Kreis, in welchem Gedanken herrschten wie die »Kritik aller traditionellen Formen göttlicher Offenbarung; Zweifel an der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, Naturgesetze als unveränderliche Gesetze Gottes; Interpretation der Religion unter einem allein moralischen, allen Menschen gemeinsamen Aspekt«,476 war der Anlass großer Unruhe in der sefardisch jüdischen Gemeinde Amsterdams, in dessen Gefolge auch de Prado mit dem Bann belegt wurde, dem er sich dann allerdings beugte. Spinoza hingegen hat sich vom »Kleinen Bann« nicht beeindrucken lassen und hat sich selbst von der Gemeinde gelöst, der Herem hat diesen Schritt nur noch besiegelt.477 Spinoza verkehrte fortan in freireli474
Abraham Ibn Esra wird mehrfach genannt, Jizchak ’Abravanel.
475
Zur Biographie Spinozas siehe: Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente (Übersetzungen C. Gebhardt), hrsg. M. Walther, Hamburg1998; C. Gebhardt, Spinoza, Leipzig 1932; Y. Yovel, Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994; I. S. Révah, Spinoza et Juan de Prado, Paris 1959; ders., Aux origines de la rupture spinozienne: Nouveaux documents sur l’incroyance dans la communauté judéo-potugaise d’Amsterdam à l’époque de l’excommunication de Spinoza, in: Revue des Études Juives 123 (1964), S. 359–431; W. Bartuschat, Baruch de Spinoza, München 1996; B. Alexander, Spinoza, München 1923.
476
Bartuschat, Spinoza, S. 15.
477
Der Wortlaut des Bannes in deutscher Übersetzung bei Gebhardt, Spinoza, S. 28ff.; und s. I.S. Révah, Spinoza, S. 57f.; A. Kasher, Sh. Biderman, Spinoza’s Excommunication, in: Special
Traditions- und Religionskritik
159
giösen christlichen Kreisen, bei den Collegianten.478 Seit etwa 1652 hatte er Latein im Hause des kritischen Denkers Francis van der Emden studiert. Spinoza hat sich, nachdem er seine Beteiligung am familiären Handelsgeschäft abgegeben hatte, mit finanzieller Unterstützung von Freunden und Gönnern und auch teilweise beim Schleifen von optischen Linsen, die aber vor allem eigener wissenschaftlicher Forschung dienten, in die dörfliche Abgelegenheit von Rijnsburg, nach Voorburg und schließlich nach den Haag begeben, allerdings nicht ohne einen regen schriftlichen und persönlichen Kontakt zu philosophischen Freunden aufrecht zu erhalten. In den Jahren nach dem Ausscheiden aus dem Handelsgeschäft wandte er sich verschiedenen Wissenschaften und der Philosophie, insbesondere der von René Descartes, zu. Am 21. Februar 1677 ist Spinoza an Tuberkulose gestorben.
2.
Spinoza – ein Vertreter des jüdischen Denkens?
Der Ideenhistoriker hat im Gegensatz zum Dogmatiker nicht das Problem, sich mit der Frage der andauernden formalen Zugehörigkeit seiner Protagonisten zu einer religiösen Gemeinschaft auseinander setzen zu müssen. Für ihn gelten vielmehr geistesgeschichtliche Kriterien. Spinoza war bis zum Alter von 24 Jahren aktives, zahlendes Mitglied der portugiesisch jüdischen Gemeinde in Amsterdam. Während dieser Zeit hat er eine gründliche jüdische Ausbildung genossen und hat auch die Grundlagen seiner philosophischen Kenntnisse durch die Lektüre der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Philosophen gewonnen, Moses Maimonides,479 Levi Ben Gerson (Gersonides,1288 – 1344),480 Colloquium in Memory of Baruch Spinoza, 21 February 1977, Tel Aviv University, Tel Aviv 1977, S. 31–58 (Hebr.), ders., When was Spinoza Banned?, in: Studia Rosenthaliana 12 (1978), S. 108ff. 478
S. Gebhardt, Spinoza, S. 45ff.
479
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
480
Hebräischer Text: Milchamot Ha-Schem. Die Kämpfe Gottes. Religionsphilosophische und kosmische Fragen, in sechs Büchern abgehandelt von Levi ben Gerson, hrsg. von L. Lamm, Berlin 1923; Erstausgabe Riva di Trento 1560 (Neudruck Israel o.D.), dt. Übers. B. Kellermann, Berlin 1914–1916; Engl. Übers. (ohne Teil V,1), S. Feldmann, Philadelphia 1984–99; R. Eisen, Gersonides on Providence, Covenant, and the Chosen People: A Study in Medieval Jewish Philosophy and Biblical Commentary , Albany 1995; J. Guttman, Die Philosophie des Judentums, München 1933, S. 220–237; S. Feldman, The Wars of the Lord (3 volumes), Jewish Publication Society; C. Fraenkel, Lewi ben Gershom, in: Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen, hrsg. A.B. Kilcher, O. Fraisse, Y. Schwartz, Stuttgart 2003 (Darmstadt), S. 93–96; C. Touati, La pensée philosophique et théologique de Gersonide, Paris 1973; G. Dahan (Hg.), Gersonide en son temps, Louvain/Paris 1991; G. Freudenthal (Hg.), Studies on Gersonides, Leiden 1992 (hier weitere Bibliographie).
Baruch Spinoza
160
Hasdaj Crescas (1340–1410/11),481 Jehuda Abravanel (Leone Ebreo)482, den Philosophen und Bibelkommentatoren ’Avraham Ibn Esra (1092–1167), Josef Schlomo Delmedigo, ’Avraham Herrera und noch anderer.483 Der TheologischPolitische Traktat ist eine Auseinandersetzung mit der Jüdischen Bibel, und auch die neutestamentlichen Teile werden hier gleichsam nur als Fortführung dieser Tradition gesehen. Spinoza fügt sich in eine mit der Renaissance innerhalb des europäischen Judentums aufgekommene traditionskritischen Strömung, wie sie oben gezeichnet wurde. Der Synagogenbann und Spinozas vordergründige Auseinandersetzung vor allem mit Descartes, das Lateinische als seine wesentliche Autorensprache, haben es nicht verhindert,484 dass Spinoza spätestens seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt durch Moses Mendelssohn, sodann durch das ganze 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart, zu einem unverzichtbaren Teil des innerjüdischen Diskurses wurde. Beteiligt an diesen Bemühungen waren nicht zuletzt die Vertreter der »Wissenschaft des Judentums«, welche die Einflüsse des jüdischen Denkens auf Spinoza herauszuarbeiten suchten, und zum anderen den Einfluss des jüdischen Denkers Spinoza auf die moderne Philosophie aufzuzeigen sich bemühten. Manfred Walther, der diese Nachwirkungen Spinozas dargestellt hat, kommt für das 20. Jahrhundert zu der Bemerkung: »Welches Gewicht die Spinoza-Frage für das 481
Zu ihm s. J. Guttmann, Philosophie, S. 237–256; Sefer Or Hashem by Hasdai Crescas, first Edition, Ferrara 1555, Facsimile edn. by E. Shweid, Jerusalem 1970; Sefer Or ha-Shem, hrsg. von S. Fisher, Jerusalem 1990; Harry Austryn Wolfson, Crescas‘ Critique of Aristotle, Cambridge, Mass. 1929; M. Joel, Don Chasdai Creskas’ religionsphilosophische Lehren in ihrem geschichtlichen Einflusse dargestellt, Breslau 1866, Neudruck in: ders., Beiträge zur Geschichte der Philosophie, Hildesheim 1978.
482
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 566–584.
483
Hierzu s. Z. Levy, Das Einwirken jüdischer Einflüsse auf Spinozas Philosophie, in: Jüdische Fragen als Themata der Philosophie, hrsg. S.S. Gehlhaar, Cuxhaven/Dartford 1996, S. 9–40; ders., Über die Einflüsse jüdischer Philosophen auf Spinozas Kurzen Traktat und auf seine Ethik, in: Zur Aktualität der Ethik Spinozas, hrsg. von K. Hammacher, I. Reimers-Tovote, M. Walther, Würzburg 2000, S. 403–418; pro und contra zur Frage, ob Spinoza als »jüdischer Philosoph« zu betrachten sei: I. Franck, Was Spinoza a »Jewish« Philosopher?, in: Judaism 111, Vol. 28, 3 (1979), S. 345–352, er antwortet mit einem talmudischen Dictum: »just as in the case of a nut, though it is spoiled with mud and filth, yet are the contents not detestable, so in the case of the scholar, although he may have sinned, yet is his Torah not detested«, ebd., S. 352; H.M. Raven, L.E. Goodman (Hg.), Jewish Themes in Spinoza’s Philosophy, Albany 2002.
484
Es gab ja schon, beginnend mit Leone Ebreo, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 566ff., und mit ’Elija Delmedigo (Helias Hebraeus Cretensis), s. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III.B.2, Manasse Ben Jisrael oder auch Uriel da Costa, s. oben Kap. Traditions- und Religionskritik, II, jüdische Autoren, die neben Latein auch in anderen, vor allem den iberischen, Sprachen philosophische Werke publizierten (S. Wolfson, Spinoza, I, S. 11f.).
Traditions- und Religionskritik
161
Selbstverständnis der wissenschaftlich ausgebildeten und wissenschaftlich tätigen Deutschen jüdischer Herkunft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, also vor Beginn der NS-Zeit, hatte, lässt sich deutlich daran erkennen, dass die allermeisten derjenigen, die in den Ausbildungs- und Wissenschaftsinstitutionen arbeiteten bzw. sie durchlaufen hatten, die aus den Anfängen der Wissenschaft des Judentums hervorgegangen sind, über Spinoza gearbeitet und manche zudem ihre Dissertation über ihn geschrieben haben.«485 Er nennt sodann Julius Guttmann, Fritz Bamberger, Martin Buber, Hermann Cohen, Ismar Elbogen, Abraham Geiger, Julius Lewkowitz, Leo Strauss und Max Wiener.486 Für viele Juden ist Spinoza der erste weltliche Jude, der die Möglichkeiten nicht religiöser Definitionen des Judentums eröffnete. So zum Beispiel für Albert Einstein: In einem 2008 aufgetauchten Brief schreibt dieser an seinen Briefpartner: »das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger, aber doch reichlich primitiver Legenden«, »Für mich ist die unverfälschte jüdische Religion wie alle anderen Religionen eine Inkarnation des primitiven Aberglaubens. Und das jüdische Volk, zu dem ich gern gehöre und mit dessen Mentalität ich tief verwachsen bin, hat für mich doch keine andersartige Qualität als alle anderen Völker«. Und auf die Frage eines New Yorker Rabbiners, ob er an Gott glaube, erwiderte er: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.«487 Des semi-offiziösen Widerrufs des Synagogenbannes gegen Spinoza durch Jakob Klausner bei der Spinoza-Festveranstaltung der Hebräischen Universität im Jerusalem des Jahres 1927 hätte es angesichts dieses Befundes nicht eigentlich bedurft. Klausner rief damals: »Gelöst ist der Bann! Gewichen ist das Vergehen des Judentums gegen dich! Gesühnt ist deine Schuld ihm gegenüber! Unser Bruder bist Du! Unser Bruder bist Du!«488 Ein solcher Widerruf war um so weniger nötig, als der Bann einer Synagogengemeinde nicht mit der Exkommunikation durch eine Kirchenzentrale und damit mit dem Ausschluss aus dem Heil zu vergleichen ist. Der Herem hat disziplinierende, maßregelnde, temporäre und vor allem eine regional begrenzte Funktion.489 485
M. Walther, Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie, in: W. Stegmaier (Hg.),
486
Walther, Spinoza und das Problem, S. 317. Im Anhang zählt Walther insgesamt 14 Autoren
487
Vgl. Der Tagesspiegel, Berlin vom 15.5.2008, Nr. 19 903, S. 29.
Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M., S. 281–330, hier S. 317. mit teilweise mehreren Spinoza-Arbeiten aus diesem Umkreis auf. 488
Bei Walther, Spinoza und das Problem, S. 316.
489
In der sefardischen Gemeinde von Amsterdam wurden zwischen 1622 und 1683 nicht weniger als vierzig Männer und Frauen gebannt, und zwar wegen einer Vielfalt von Gründen, die von der Steuerzahlung, Ungehorsam, Verspottung der jüdischen Gemeinde, bis zu eigentlichen religiösen Delikten reichte, s. Y. Kaplan, The Social Function of the Herem, in: ders., An Alter-
Baruch Spinoza
162
3.
Vernunft und Offenbarung
Die Säule der Theologie des jüdischen Mittelalters war die Verbindung von Vernunft und Offenbarung. Sie wurde von Sa‘adja Ga’on (882–942) zu Beginn seines philosophischen Hauptwerkes Sefer ’Emunot we-De’ot 490 mit den folgenden programmatischen Sätzen eröffnet: »Die Quelle jeglichen Wissens und der Brunn aller Erkenntnis [...] sind drei: Das erste ist die Sinneswahrnehmung, das zweite ist die Erkenntnis mittels der Vernunft und das dritte ist die Erkenntnis aufgrund einer notwendigen Schlußfolgerung.«491 »Wir aber, die Monotheisten, bestätigen diese drei Wege zur Erkenntnis, fügen ihnen aber noch eine vierte hinzu, die wir mittels jener drei lernten, und sie wurde uns zum Fundament, nämlich die wohlbegründete wahre Tradition, denn sie ist errichtet auf der Sinneswahrnehmung und auf der Vernunfterkenntnis [und der notwendigen Schlussfolgerung].«492 Es ist diese Formel von der Priorität der Vernunft und deren Übereinstimmung mit der sinaitischen Offenbarung, welche der Motor des mittelalterlichen jüdischen Denkens war. Es war dieser Versuch der Quadratur des Kreises, welche der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, eingeschlossen der Kabbala, eine Vielzahl von Problemen bescherte, welche sie nunmehr durch neue Formeln aufzulösen suchte. Da ist zum einen die Feststellung der Körperlosigkeit Gottes mit den daraus folgenden Konsequenzen der Unerkennbarkeit Gottes, seiner Unfähigkeit zur Kommunikation mit dem Begrenzten und Körperlichen. Daraus ergaben sich die weiteren Fragen der Einheit Gottes und der Unmöglichkeit von differenzierenden Attributen seines Wesens. Das kausale Denken bescherte dieser Philosophie das Problem der Unmöglichkeit einer Schöpfung gegenüber der logischen Annahme der Ewigkeit der Welt oder doch wenigstens der Materie. Es stellte sich die Frage der Möglichkeit der Offenbarung und umgekehrt die Möglichkeit der Kommunikation des Menschen mit Gott und die nunmehrige Bedeutung der Gebote. Die Sa‘adja folgenden Philosophen – wie auch die Kabbalisten – suchten nach unterschiedlichen Formeln, welche das offenbar Unvereinbare miteinander in Einklang bringen sollte. Schon Sa‘adja wollte das Problem der native Path to Modernity. The Sephardi Disapora in Western Europe, Leiden/Boston/Köln 2000, S. 108–142. 490
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362–400.
491
Ha-nivhar be-’Emunot we-De’ot le-Rabbenu Sa‘adja Ben Josef Fajumi, hrsg. und übers. ins Hebr. D. Kafich (K), S. 14; J. Fürst, Saadja Fajjumi Emunot we-Deot, Leipzig 1845 (Neudruck Hildesheim 1970) (F), S. 21; vgl. Neumark, Sa‘adyas Philosophy, S. 168.
492
K, S. 15; F, S. 23.
Traditions- und Religionskritik
163
Offenbarung mit der Formel einer von Gott jeweils ad hoc erschaffenen Offenbarungsgestalt493 oder Maimonides mit einer »erschaffenen Stimme«494 lösen. Der eigentlich notwendigen Schlussfolgerung einer ewigen Welt aus der Definition Gottes als prima causa versuchte man mit der Einführung eines mit Gottes Wesen identischem »Willen« Gottes zu begegnen,495 der die creatio ex nihilo in einem einmaligen Schöpferakt denkbar machen sollte. Die Fähigkeit des Menschen mit der unpersönlichen körperlosen Gottheit zu kommunizieren wurde mit Hilfe eines spiritualisierten Menschenbildes bewerkstelligt, nach welchem das Wesen des Menschen die gleichfalls körperlose rationale Seele oder dessen Intellekt ist,496 um den Preis der Marginalisierung der menschlichen Körperlichkeit als einer nur vorübergehenden unwesentlichen Bleibe. Kurz, die Welt und alles Geschöpfliche war von der Gottheit und ihrer Entourage durch die tiefe dualistische Kluft zwischen Geist und Materie voneinander geschieden, die nur durch eine Reihe von Systemwidrigkeiten der genannten Art überbrückt werden konnte. Der junge Spinoza, der im Rahmen seiner jüdischen Erziehung nachweislich mit diesen Systemen des jüdischen Mittelalters vertraut wurde, hat deren intellektuell-rationalistischen Elemente begierig aufgesogen, während ihm offenbar gleichzeitig die systemfremden Elemente der altjüdischen rabbinischen Tradition zum Problem wurden. Er hat sich darum die Aufgabe gestellt, die beiden sich letztlich fremden Elemente, die Offenbarung und Vernunft, wieder voneinander zu scheiden, wobei er sich auf eine ganze Reihe jüdischer Vorläufer stützen konnte, die wohl noch verborgen, oft nur andeutungsweise oder ängstlich, die Konsequenzen der rationalistischen Seite des mittelalterlich jüdischen Denkens andeuteten und formulierten. H. A. Wolfson hat das Resumee seines lesenswerten The Philosophy of Spinoza 497 unter der Überschrift »What is new in Spinoza?« darum zu Recht mit der Einschätzung eröffnet: »Novelty in philosophy is often a matter of daring rather than of invention. In thought, as in nature, there is no creation from absolute nothing, not are there any leaps.«498 Spinoza konnte in zwiefacher Hinsicht auf solche kritische Traditionen für seinen neuen mutigen Ansatz zurückgreifen. Für die Kritik an der jüdischen Tradition, und der Erkenntnis von deren Historizität, konnte er auf die oben vorge-
493
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 386f.
494
So Maimonides, More Nevuchim, II, c. 33, Weiss, II, S. 230; und s. Deraschot ha-Ran, Derascha 9, Taklitor ha-Torani; Sefer Torat ha-Mincha le-Rabbi Ja‘akov Sakili, Derascha 24, Taklitor ha-Torani.
495
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 532ff (Ibn Gevirol), S. 496ff., (Ps. Empedokles), S. 459ff.
496
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S 462ff., 514ff., 542ff.
(Maimonides). 497
New York 1958 (1934).
498
Wolfson, Spinoza, S. 331.
Baruch Spinoza
164
stellten Autoren oder das von ihnen repräsentierte Umfeld zurückgreifen,499 für die philosophische Problematik der Unvereinbarkeiten von Tradition und Vernunft wiederum auf die im Vorangehenden skizzierte nachmittelalterliche Diskussion um die alternativen Wahrheiten, aber auch auf ältere, oben schon genannte, Autoren, welche das auch Spinoza eng vertraute maimonidische Erbe500 mit ersten kritischen Fragen versahen, so etwa Levi Ben Gerson (Gersonides) und Hasdaj Crescas, außerdem Leone Ebreo (Jehuda Abravanel).
4.
Die Traditions- und Religionskritik Spinozas
Wenn man die von Sa‘adja Ga’on vorgenommene Identifizierung von Vernunft und Offenbarung als die Ursünde des mittelalterlichen jüdischen Philosophierens betrachtet, so scheint es gerechtfertigt und geradezu gefordert, dass die erste Veröffentlichung von Spinozas »eigenen Lehren«501 im Tractatus theologicopoliticus von 1670502 erfolgte, also in einem nicht eigentlich philosophischen, sondern Bibel-kritischen Werk.503 Das erklärte Ziel dieses Werkes war nämlich grade die »Trennung der Philosophie von der Theologie«504 oder der historischpartikularen Offenbarung von den universalen Erkenntnissen der Vernunft. Erst nachdem diese Trennung begründet und damit die Traditionsfesseln der mittelalterlichen Philosophie gesprengt waren, konnte das rationalistische Erbe dieser Philosophie in seiner ungebremsten Konsequenz entfaltet werden. Und dies ist das tatsächliche Ziel Spinozas.
499
Neben Uriel da Costa ist hier vor allem der Amsterdamer Freidenker-Kreis um Daniel de Prado und Daniel de Ribera, die gleichfalls in das Visier der Gemeindebehörden geraten waren, zu nennen, s. D. Krochmalnik, Praktische Philosophie als Religionsersatz. Spinozas Auseinandersetzung mit dem Judentum, Diss. München (Hochsch. f. Philosophie/Phil. Fak SJ) 1988, S. 11ff.; I.S. Révah, Aux Origines de la Rupture Spinozienne. Nouveaux Documents sur l’incroyance dans la communauté judéo-portugaise d’Amsterdam à l’époque de l’excommunation de Spinoza, in: REJ, III, 3,4, Paris 1964, S. 359–431.
500
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
501
Nach den Descartes darstellenden Renati Des Cartes Principorum Philosophiae Pars I et II. More Geometrico demonstrata […] Accesserunt eiusdem Cogita Metaphysica, die 1663 in Amsterdam erschienen waren.
502
Ich zitiere nach der zweisprachigen Ausgabe: Spinoza. Tractatus Theologico-Politicus. Theologisch-Politischer Traktat, hrsg. G. Gawlick und F. Niewöhner, Darmstadt 19892 (künftig: TPT).
503
Hierzu siehe L. Strauss, Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, hrsg. von W. und H. Meier, in L. Strauss, Gesammelte Schriften, hrsg. von H. Meier, Bd. 1, Stuttgart 1996/2001.
504
TPT II, S. 99; vgl. Einleitung, S. 19.
Traditions- und Religionskritik
165
Der Theologisch-Politische-Traktat kommt denn auch sogleich in seinem ersten Kapitel direkt zur Sache, nämlich zur Frage nach dem Wesen der Prophetie. Schon hier zeigt sich die Verankerung des spinozistischen Denkens in der mittelalterlichen philosophischen Tradition des Judentums, denn Spinoza will in diesem ersten Kapitel nur über die »Prophetie« noch nicht aber über die »Propheten« sprechen, denen das zweite Kapitel vorbehalten ist. Hinter dieser sachlichen Trennung zweier eigentlich zusammengehöriger Themenkomplexe ist wie in weiteren anderen Kapiteln des Traktates klar die maimonidische Tradition zu erkennen, worauf schon Manuel Joel mit allem Nachdruck hingewiesen hatte.505 Denn Maimonides erörtert zum einen das Prinzip der Prophetie als natürliches anthropologisch-angelologisches Phänomen, um von hier aus die tatsächliche Konkretisierung der Prophetie im prophetischen Reden und Denken darzustellen. Im übrigen zeigt die Vielfalt der parallelen Motive in den entsprechenden Kapiteln des More506 und den beiden Kapiteln Spinozas zur Prophetie, dass Spinoza seine Argumentation zunächst mit und dann vor allem gegen Maimonides aufbaut, er also gleichsam vor dem aufgeschlagenen Buch des Maimonides schreibt.507
505
M. Joel, Spinoza’s Theologisch-Politischer Traktat. Auf seine Quellen geprüft, Breslau 1870 (Neudruck in: ders. Beiträge zur Geschichte der Philosophie, Hildesheim 1978). David Neumark, in seinem Aufsatz: Crescas and Spinoza, in: Essays in Jewish Philosophy, Amsterdam 1971, S. 301–346, versteht den Theologisch Politischen Traktat geradezu als eine Auseinandersetzung mit Crescas’ ’Or Ha-Shem (’Adonaj), bei der Spinoza von ihm übernommen und ihm widersprochen hat. Sein Resümee lautet: »The two standard works of Spinoza, both taken together, and considered in their relation to the book ›Or Adonai‹, present the two manners of argumentation of Crescas’ common sense and biblical argumentation, the ›Ethics‹ on that of his philosophic argumentation.« (S. 346).
506
More Nevuchim II, 32–38, Weiss, S. 220–313.
507
An parallelen Motiven seien genannt: Die entscheidende Rolle der Imaginationskraft für die Prophetie, die Bedeutung des menschlichen Intellekts als natürlicher Anlage des Menschen für Prophetie und Wissenschaft, die Mitteilung der universalen Lehren von Gottes Einheit an alle Israeliten, weil diese auch durch natürliche Forschung erlangt werden können, die »erschaffene Stimme«, mit welcher Gott sich hören lässt, die Erörterung der Aussage, Gott habe mit Moses von Angesicht zu Angesicht gesprochen, der Traum und die Vision sowie das Wort als Expression der prophetischen Imaginationskraft, die Rolle der Engel bei der prophetischen Offenbarung, die Quelle der mosaischen Prophetie zwischen den beiden Cherubim, dass die Israeliten / Propheten alles direkt auf Gott beziehen, ohne die Zwischenursachen zu nennen, und schließlich, dass die Israeliten am Sinai nur ein Geräusch vernahmen, dessen semantische Übersetzung dann Moses mitteilen musste.
Baruch Spinoza
166
4.1
Die Prophetie
Das erste Kapitel des Theologisch-Politischen-Traktates eröffnet Spinoza mit folgender Definition der Prophetie: »Prophetie oder Offenbarung ist die von Gott den Menschen offenbarte sichere Erkenntnis einer Sache.«508 »Aus der schon gegebenen Definition folgt, dass man die natürliche Erkenntnis Prophetie nennen kann. Denn was wir durch das natürliche Licht (lumine naturali) erkennen, hängt bloß von der Erkenntnis Gottes und von seinem ewigen Ratschluss (aeternis decretis) ab. Weil aber diese natürliche Erkenntnis allen Menschen gemeinsam ist (sie beruht ja auf Grundlagen, die allen Menschen gemeinsam sind) […]«509 Mit der nahe liegenden Gleichsetzung von prophetischer und natürlicher Erkenntnis steht Spinoza recht eigentlich noch auf festem maimonidischem Boden. Nach der Auffassung von Maimonides ist, wie hier im ersten Band dargestellt,510 die Prophetie eine natürliche menschliche Anlage, nämlich die seines zunächst potentiellen, dann zunehmend zu verwirklichenden Intellekts, weshalb unter natürlichen Umständen eigentlich alle Menschen Propheten werden können. Dies wird von Maimonides nochmals dadurch unterstrichen, dass die Erkenntnis eines Gelehrten oder Forschers sich von derselben intellektuellen Ursache ableitet wie die des Propheten. Worin sich beide schließlich jedoch unterscheiden ist, dass beim wirklichen Propheten die rein intellektuelle Erkenntnis mittels der menschlichen, sprich prophetischen, »Imaginationskraft« in allgemein verständliche Sprache und Bilder übersetzt wird.511 Es ist noch ein weiterer Punkt der Gemeinsamkeit in der Theorie von den Grundlagen der Prophetie zwischen Maimonides und Spinoza hervorzuheben, an dem sich indessen sogleich ein erster wichtiger Unterschied geltend macht. Es ist die Teilhabe des Menschen an Gottes »Natur«. Spinoza sagt dazu: »Nichtsdestoweniger aber hat die natürliche Erkenntnis ein gleiches Recht göttlich zu heißen, wie irgend eine andere, welche immer es sei, denn die Natur Gottes, soweit wir an ihr teilhaben, und der Ratschluss Gottes (Deique decreta) geben sie uns gleichsam ein […]«512
508
TPT 1, S. 31.
509
Ebd., S. 31f.
510
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 468–471.
511
S. ebd., S. 470.
512
TPT 1, S. 33.
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Weiter unten betont er ein weiteres Mal, dass hinsichtlich der Gewissheit, welche der natürlichen Erkenntnis innewohnt »und hinsichtlich der Quelle, aus der sie sich herleitet (nämlich Gott)«, sie in keiner Weise der prophetischen Erkenntnis nachsteht.513 Auch für Maimonides ist die menschliche Teilhabe an der transzendenten Ursache der Erkenntnis die Grundlage der Prophetie, nämlich die Teilhabe an der »Natur« des Aktiven Intellekts, also jener angelischen Substanz, welche als zehnte die Reihe der Separaten Intellekte abschließt und Ursache für die menschliche intellektuelle Entwicklung ist.514 Die Vorstellung von den Separaten Intellekten ist aber schon vor Spinoza der Aristoteleskritik zum Opfer gefallen, so zum Beispiel in jenem Werk des Josef Schlomo Delmedigo, Sefer ’Elim,515 das höchstwahrscheinlich auch im Besitze von Spinoza war.516 Darum wird bei Spinoza die unvermittelte gnoseologische Teilhabe des Menschen an der Gottheit selbst vorausgesetzt, was sich aus der unten noch darzustellenden Gotteslehre und Anthropologie Spinozas zwangsläufig ergeben musste. Wie schon bei Maimonides wird nun allerdings auch bei Spinoza zwischen den verschiedenen Besitzern der göttlichen Erkenntnis geschieden. Laut Maimonides sind jene Besitzer der göttlichen Erkenntnis, deren »Imaginationskraft« unterentwickelt ist als »Wissenschaftler« und »Gelehrte« zu bezeichnen, hingegen sind solche, bei denen das Denkvermögen (der Intellekt) und die Imaginationskraft gleichermaßen ausgebildet sind, tatsächlich »Propheten« zu nennen.517 Ebenso unterscheidet Spinoza zwischen zwei Gruppen der Erkennenden: »Obschon also das natürliche Wissen göttlich ist, können wir doch seine Vertreter nicht Propheten nennen. Denn was sie lehren, das können die anderen Menschen mit gleicher Gewissheit und Gültigkeit wie sie selbst erkennen und annehmen und nicht etwa durch den bloßen Glauben. Da also unser Geist (mens nostra) schon allein dadurch, dass er die Natur Gottes gegenständlich in sich begreift (in se continet) und an ihr teilhat, die Möglichkeit besitzt, sich Begriffe zu bilden, die die Natur der Dinge klarlegen und die Lebensführung lehren, so können wir mit Recht die Natur des Geistes (mentis) so begriffen als die erste Ursache der göttlichen Offenbarung nehmen. Denn alles, was wir klar und deutlich erkennen, gibt die Idee Gottes […] und die Natur uns ein, allerdings nicht mit Worten, sondern auf eine vollkommenere Art, die mit der Natur des Geistes (mentis) völlig harmoniert, wie jeder, der die Ge-
513
Ebd., S. 33.
514
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 470, 451–459.
515
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III.B.7.
516
J. Adler, Epistemological Categories in Delmedigo and Spinoza, in: Studia Spinozana 15
517
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 470.
(1999), S. 205–227.
Baruch Spinoza
168
wissheit des Verstandes (intellectus) gekostet hat, aus eigener Erfahrung weiß.«518 Der menschliche Geist (mens) kann also wegen seiner Teilhabe am göttlichen Geist zu Recht als die erste Ursache der göttlichen Offenbarung betrachtet werden. Es ist die Göttlichkeit des menschlichen Geistes – was dies für Spinoza tatsächlich bedeutet, wird im Rahmen seiner Modallehre noch deutlich werden – , die den menschlichen Erkenntnisprozess als von Gott verursachten und gleichzeitig in der menschlichen Natur liegenden Vorgang erscheinen lässt. Um nun nochmals Gemeinsamkeit und Differenz zu Maimonides zu verdeutlichen, darf man sagen: Nach Auffassung von Maimonides entsteht die Erkenntnis des Wissenschaftlers durch viel Intellekt und wenig Imagination, während die Erkenntnis des Propheten aus viel Intellekt plus starker Imagination besteht, welche die intellektuelle Erkenntnis in Sprache und Bilder übersetzt. Bei Spinoza entsteht die natürliche Erkenntnis aus viel intuitivem Intellekt, der Begriffe bildet, während die prophetische Erkenntnis durch das niedrigere sprachliche Medium, die Imagination, zustande kommt. Ob hierbei der Intellekt noch eine Rolle spielt bleibt eher ungewiss. Zu Beginn des zweiten Kapitels, das von den Propheten handelt stellt Spinoza allerdings ausdrücklich fest, was der Duktus des ersten Kapitels sein sollte. Er betont da, »dass die Propheten nicht etwa einen vollkommeneren Geist (mente), sondern nur eine lebhaftere Vorstellungskraft (potentia imaginandi) besaßen.«519 Das heißt, es ist nicht ausgeschlossen, dass auch bei der Prophetie das lumen naturalis beim Erkenntnisgewinn beteiligt ist. Dies zu betonen ist wichtig, da aus den sogleich zu besprechenden Definitionen des »Propheten« und den weiteren Ausführungen im ersten und zweiten Kapitel deutlich wird, dass für Spinoza neben der alles beherrschenden prophetischen Fähigkeit, der Imaginationskraft (potentia imaginandi), das Element des Denkvermögens (lumen naturalis / cognitio naturalis / ratiocinium), anders als bei Maimonides, für die Prophetie keine Rolle mehr spielte. 520 Zu dieser Schlussfolgerung kommt Spinoza aufgrund der biblischen Zeugnisse. Denn sie alleine können zum Wesen der Prophetie befragt werden, »Denn was vermögen wir von Dingen, die über die Grenzen unseres Verstandes hinausgehen, auszusagen, außer eben das, was uns von den Propheten selbst mündlich oder schriftlich mitgeteilt wird?«521 Zur der Frage, wie dann nach biblischer Vorstellung eine solche Offenbarung vonstatten ging, meint er resignierend »ich gestehe aber, dass es
518
TPT 1, S. 33.
519
TPT 2, S. 65.
520
Ebd., S. 67.
521
TPT 1, S. 35.
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169
mir unbekannt ist, nach welchen Naturgesetzen es geschah.«522 Spinoza verabschiedet sich demnach von der rein »naturalistischen« Erklärung der Prophetie, welche Maimonides vertreten hat, und behält nur noch deren eine, die psychologische Komponente, nämlich die Imaginationskraft, bei. Der Offenbarungsmodus der Prophetie entspricht nach seiner Auffassung jedenfalls nicht mehr dem natürlichen Erkenntnisvorgang, sondern muss ein Vorgang jenseits des Natürlichen sein. Darüber kann aber – wieder im Gegensatz zur mittelalterlichen Philosophie – die Philosophie keine Auskunft geben, sondern alleine das Zeugnis der biblischen Texte. Es ist diese religionsgeschichtliche Hinwendung zu den biblischen Texten und den religiösen Phänomenen, welche Spinoza recht eigentlich zum Begründer der modernen Bibelexegese werden ließen. Spinoza kann sich demnach auf Maimonides stützen, um die Göttlichkeit der rationalen Erkenntnis und ihre der Prophetie adäquate Qualität zu behaupten. Und zugleich kann er, auf Maimonides zurückgreifend, die »Imaginationskraft« als das eigentliche proprium der Prophetie in den Vordergrund rücken. Allerdings war für Maimonides der Intellekt die Voraussetzung für beide, die wissenschaftliche wie die prophetische Erkenntnis, wobei der Prophet das superadditum der lebendigeren Imaginationskraft besaß. Spinoza wird die beiden letztlich aufteilen, den Intellekt der natürlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis zusprechen und die Imagination dem Propheten. Es ist wert, hier noch einmal die Meinung von Josef Schlomo Delmedigo anzuführen, der in dieser Aufteilung von wissenschaftlicher Vernunft und prophetischer Imagination Spinoza vorangegangen ist. Unter Berufung auf den More Nevuchim des Maimonides (II, 42), wo dieser die Schau von Engeln durchweg als prophetische oder gar Traumbilder erklärt, sagt Delmedigo: »Erschrecke nicht über meine Worte, aber wenn du das Kapitel 42 des zweiten Teiles im More liest, wirst du erkennen und wissen, dass alle Verse der Tora, die über sie [die Dämonen und Engel] sprechen, allesamt im Traum oder in prophetischer Vision geschahen. Sie wollen keine Wissenschaft lehren, vielmehr geschahen sie durch die Imagination (Dimajon) des Propheten, nicht nach der Wahrheit des wirklich Existierenden. Denn ihr Hauptziel war auf das Tun ausgerichtet, also auf die Erfüllung der Gebote. Darum darf man für die Naturwissenschaft und Theologie (Metaphysik, Hochmat ha-’Elohut) keine wissenschaftlichen Beweise aus den Worten der Tora bringen, um zwischen den philosophischen Meinungen zu entscheiden, denn die Tora redete in der Sprache der Menschen. Und man kennt ja den Spruch der Rabbinen, dass Jesaja einem Städter und Ezechiel einem Dorfmann glich, und jeder sah gemäß seiner Imagination und Gewohnheit. Auch wenn die Propheten in Sa522
Ebd., S. 61.
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Baruch Spinoza
chen Wissenschaft die Großen ihrer Zeit waren, so geht doch die Prophetie gemäß den allgemeinen Auffassungen (ha-Mefursam) und dem bei der Volksmenge Überkommenen einher. […] Dies sind also furchterregende Phantasiegebilde (Imaginationen), die keine wörtliche Wirklichkeit besaßen.«523
4.2
Das Zeugnis der Schrift
Bei seiner Befragung der biblischen Texte weist Spinoza sowohl die rabbinische wie auch die mittelalterlich-philosophische Hermeneutik zurück. Weder dürfen die biblischen Texte nach der metaphilologischen Technik der Rabbinen und deren heilsgeschichtlich ethischen Deutungen524 ausgelegt werden, noch mit der philosophischen Allegorese, die den biblischen Text als Metaphern für die Lehren der Vernunft versteht. Spinoza vollzieht demnach einen doppelten Bruch, der indessen schon von Autoren wie ‘Asarja dei Rossi und Leone Modena vorbereitet war.525 Demgegenüber will Spinoza die Bibel wie jeden gewöhnlichen Text lesen, seine Göttlichkeit, Sinaizität und prophetische Würde hat er nicht aufgrund seiner Kanonisierung. Diese Qualitäten müssen an jedem einzelnen biblischen Text erst erwiesen werden. Dazu müssen die Texte in ihrem Wortsinn verstanden und deren Aussage eruiert werden, unabhängig von der Wahrheitsfrage. Erst wenn die Bedeutung eines Textes mit Hilfe der hebräischen Semantik, Syntax und Rhethorik sowie mit Hilfe historischer Kriterien in seiner Aussage verstanden ist, kann man die Wahrheitsfrage an ihn stellen und kann über seine »Göttlichkeit« und religiöse Dignität entscheiden. Während nun Spinoza mit seinem sprachlich historischen Zugang zu den Texten der Bibel einen Fortschritt begründet, der bis heute zu den Grundlagen der modernen Bibelwissenschaft gehört, der zwischen den einzelnen Texten scheidet, ihre Verfasserschaft, deren Widersprüchlichkeiten und Entstehungszeiten erörtert und darstellt, bleibt er hinsichtlich der Wahrheitsfrage den Kriterien seiner eigenen Philosophie verpflichtet, nach deren Vorgaben auch die Göttlichkeit oder Alltäglichkeit eines Textes entschieden wird. Diese Feststellung darf indessen nicht als Kritik verstanden werden, denn sie ist bis in die Gegenwart unentrinnbar. Die wichtigste Errungenschaft Spinozas ist vielmehr die bewusste Trennung zwischen der Frage nach der Bedeutung eines Textes und der Wahrheitsfrage. Damit hat Spinoza dem bis dahin üblichen Verfahren einen Riegel vorgeschoben, nämlich dass die Bibelexegese die je eigene
523
Sefer Mazref la-Hochma, in: J.S. Delmedigo, Ta‘alumot Hochma, Basel 1629, Bl. 29a.
524
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 221–234.
525
Zu ihnen s. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II; Traditions- und Religionskritik, I.
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Wahrheit, sei es die rabbinische, die kabbalistische oder philosophische im Text selbst finden will und ihn so lange deutet, bis sie ihn findet. Mit Spinozas Deutung der biblischen Texte wird die semantische Distanz, der Unterschied der Theologien und Weltanschauungen zwischen Exeget und biblischem Text, ja auch unter den biblischen Texten selbst, ins Bewusstsein gehoben. Damit erhält der bibische Text auch für die jeweiligen religiösen Traditionen, sei es das Judentum oder das Christentum, einen völlig neuen Stellenwert, der erst noch zu finden und zu definieren war. Diese Neudefinition der biblischen Texte für die gegenwärtige praktizierte Religion war nicht mehr Spinozas Aufgabe und auch nicht sein Anliegen. Eine solche Neudefinition vermochten auch die Vertreter der jüdischen Gemeinde Amsterdams nicht zu sehen, weshalb sie zu dem drastischen Schritt der Ausgrenzung greifen mussten. Solche Neudefinitionen wurden dann erst mit der Aufklärung und den Reformen im 19. Jahrhundert gefunden.526 Sie hätten den Ausschluss Spinozas aus dem Kontext der jüdischen Gemeinde nicht mehr erfordert. Und bis heute ist das Verhältnis zu Spinoza im Judentum von der je eigenen Sicht und Bedeutung der biblischen Texte für das Judentum abhängig und da dies ein überaus plurales ist, ist es auch die Ein- oder Ausschließung Spinozas in oder aus dem jüdischen Diskurs.
4.3
Die Prophetie nach dem Zeugnis der Schrift
Bei der Erörterung der Prophetie aufgrund der Zeugnisse der Schrift verhandelt Spinoza zwei Gesichtspunkte, nämlich die Funktion des Propheten in der menschlichen Gesellschaft und die Modi oder Medien, durch die dem Propheten die göttliche Botschaft übermittelt wird. Gleich zu Beginn des ersten Kapitels kommt Spinoza auf die Funktion des Propheten zu sprechen, die von der Bibelwissenschaft im Grunde bis heute, wenn auch mit gewissen Veränderungen, so gesehen wird: »Der Prophet heißt nämlich bei den Hebräern nabi, das heißt Redner und Dolmetscher (orator et interpres), aber in der Schrift wird das Wort immer für den Dolmetscher Gottes gebraucht […]«527 »Prophet aber ist derjenige, der das von Gott Offenbarte denen verdolmetscht (interpretatur), die eine sichere Erkenntnis des von Gott Offenbarten nicht haben und es daher nur durch den Glauben annehmen können.«528
526
S. unten Kap. Haskala; und Neuorientierung nach der Aufklärung.
527
TPT 1, S. 31.
528
TPT 1, S. 31 und Adnotatio II, S. 33.
Baruch Spinoza
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Natürlich entspringen die Worte »die eine sichere Erkenntnis des von Gott Offenbarten nicht haben« der schon oben besprochenen elitistisch-rationalistischen Theorie der Offenbarung Spinozas. Aber die Beschreibung des Propheten als Boten und Vermittler des göttlichen Wortes trifft doch das Wesentliche der biblischen Prophetie.529 Was nun die Medien der prophetischen Offenbarung anbelangen, so sieht Spinoza das Richtige, wenn er sagt, dass hierfür das Wort und das Gesicht, also bildhafte Wahrnehmungen die zentrale Rolle spielten, wobei Spinoza in den Berichten zum Teil wirkliche und zum Teil imaginäre Ereignisse geschildert sieht, also von den Propheten tatsächlich gehörte und gesehene Phänomene oder solche die ihnen nur in ihrer Vorstellung oder auch im Traum begegneten. Die tatsächliche Audition sieht er zum Beispiel bei der Sinaioffenbarung: »Gleichwohl wird man, wenn man der Schrift nicht Gewalt antun will, ohne weiteres zugeben müssen, dass die Israeliten eine wirkliche Stimme gehört haben.«530 Dazu fügt sich, dass Spinoza die Bibel zu recht so versteht, dass sie nicht der Auffassung sei, »Gott sei unkörperlich und habe weder Bild noch Gestalt«. »Die Schrift sagt sogar deutlich, Gott habe eine Gestalt und sie sei dem Moses, wie er Gott sprechen hörte, sichtbar geworden, jedoch habe er nur die Rückseite Gottes zu sehen bekommen.«531 Bei derartigen Erörterungen der Schriftzeugnisse ist es nach dem oben schon vermerkten Prinzip nicht angezeigt, die Wahrheitsfrage zu stellen, denn diese müsste nach Auffassung von Spinoza wie bei der mittelalterlichen Philosophen negativ ausfallen. Hier gilt es zunächst einmal den Wortsinn der Schrift zu erheben. Eine gesonderte Erörterung widmet Spinoza in diesem Zusammenhang der Frage nach dem »Geist Gottes«, der ja in der Schrift als Medium der prophetischen Offenbarung genannt wird. In einer sehr detaillierten lexikographischen Erörterung zeigt Spinoza, dass das entsprechende hebräische Wort Ruach wenigstens sieben unterschiedliche Bedeutungen hat, Wind, Hauch, Willenskraft, Tüchtigkeit, Gesinnung, aber auch Geist (lateinisch: mens) oder Seele und schließlich sogar Himmelsrichtung, das heißt allesamt Bedeutungen, die nichts spezifisch Göttliches bezeichnen und schon gar nichts im Sinne einer Emanationslehre. Da dem so ist folgt des weiteren eine Untersuchung zur Attributierung des Wortes Ruach durch den beigegebenen Genitiv »Gottes«. Auch dies führt zu keinem Ergebnis, welches den »Geist Gottes« als eine auf den Menschen ausgegossene transzendente Substanz erscheinen ließe. Das Resultat ist, dass mit »Geist Gottes« in der Schrift gemeint sein kann: ein heftiger Wind, hoher Mut, 529
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 84ff.
530
TPT 1, S. 39.
531
TPT 1, S. 41.
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außergewöhnliche Tugend oder Kraft etc. »Weil ferner die Schrift in der Regel um der Schwachheit des Volkes willen Gott wie einen Menschen schildert und ihm Geist, Seele, seelische Affekte ebenso wie Körper und Atem zuschreibt, so wird Geist Gottes in den heiligen Schriften auch häufig für Sinn, Seele, Affekt, Kraft und Atem Gottes gebraucht.«532 Spinoza weist demnach darauf hin, dass die Schrift in anthropomorpher Weise von Gott spricht, dies ist die Bedeutung der Texte. Die Frage nach der Wahrheit schimmert allerdings durch, wenn Spinoza die Notwendigkeit für diese anthropomorphe Rede der »Schwachheit des Volkes« zuschreibt. Nachdem also die Offenbarungsmedien, inklusive des Gottesgeistes, als sprachlich bildliche Ausdrucksweisen erkannt sind, die nichts mit der philosophisch erkannten Gotteswirklichkeit zu tun haben, kann Spinoza in Anlehnung an Maimonides zu der psychologischen Erklärung mit Hilfe der Imaginationskraft schreiten: »Wir können also nunmehr ohne Bedenken behaupten, dass die Propheten nur mit Hilfe des Vorstellungsvermögens (ope imaginationis) die Offenbarung Gottes empfangen haben, d.h. durch Vermittlung von Worten oder Bildern, sei es von wirklichen oder imaginären. Denn da wir in der Schrift keine anderen Mittel finden, haben wir, wie schon gezeigt, auch kein Recht, andere zu erfinden. Ich gestehe aber, dass es mir unbekannt ist, nach welchen Naturgesetzen es geschah.«533 Mit diesen Worten wird die mittelalterliche, das heißt auch maimonidische Interpretation der Prophetie534 als Geist-Emanation aus dem Aktiven Intellekt oder sonst einer intelligiblen überirdischen Substanz abgelehnt. Sie wird als »Erfindung« gebrandmarkt.535 Da es für das Phänomen der Prophetie demnach keine mit der Vernunft erkennbare Erklärung gibt, muss man sich mit dem Zeugnis der Schrift bescheiden. Dass indessen Spinoza dies selbst nicht konsequent tut. zeigt sich bei seiner Übernahme des maimonidischen Interpretaments der »Imaginations-« oder »Vorstellungskraft« als Medium der Prophetie. Mit dieser Erklärung des prophetischen Phänomens ist jedoch Spinoza ein Instrument an die Hand ge-
532
TPT 1, S. 55.
533
TPT 1, S. 61.
534
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 468ff.
535
Als akzeptablere Deutung erscheint Spinoza da schon die Erklärung des Phänomens mit Hilfe einer von Gott eigens erschaffenen Stimme, die er gleichfalls bei Maimonides kennengelernt hat, TPT 1, S. 39. Hierzu s. S. Pines, Spinoza’s Tractatus Theologico-Politicus and the Jewish Philosophical Tradition, in Jewish Thought in the Seventeenth Century, hrsg. von I. Twersky & B. Septimus, Cambridge (Mass.) 1987, S.499–521.
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174
geben, welches die großen Differenzen, auch das Widersprüchliche und Unstete der biblischen Prophetie in rationalen Kategorien verstehbar macht, weil eben die menschliche Imaginationskraft von Mensch zu Mensch verschieden und bei ein und demselben hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität auch nicht stetig ist.536
4.4
Die Propheten nach dem Zeugnis der Schrift
Im zweiten Kapitel des Traktats, der trotz seiner zeitbedingten Einschränkungen als ein Schulbeispiel religionsgeschichtlicher Arbeit an der Bibel – teilweise unter Einschluss des neuen Testaments – bezeichnet werden kann, führt Spinoza eine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung der prophetischen Texte der Bibel durch, die wegen der vorangegangenen Analyse sich als »Imaginations-« oder »Vorstellungsgeschichte« gibt, aber schon alle Anzeichen einer Ideen- oder Theologiegeschichte der biblischen Schriften trägt. Die Darlegungen des zweiten Kapitels des Traktates sind von der Beobachtung erheblicher Differenzen in den Anschauungen, Ausführungen, Bildern und Themen der biblischen Propheten getragen. Da sind zum Beispiel die inhaltlichen Differenzen zwischen dem Buch Ezechiel und den fünf Mosesbüchern, welche, worauf Spinoza nachdrücklich hinweist, schon die Rabbinen überlegen ließen, ob Ezechiel nicht aus dem Kanon auszuschließen sei,537 des weiteren die widersprüchlichen Aussagen bei Samuel, Jeremia, Joel, Moses und dem neutestamentlichen Paulus, ob Gott seine einmal gefällten Entschlüsse bereuen und seine Absichten verändern könne.538 Auch das von den Propheten gebotene Anschauungsmaterial etwa hinsichtlich der Schau Gottes weist etwa zwischen Jesajas (Jes 6) und Ezechiels (Ez 1) Berufungsvision Unterschiede auf, welche wiederum schon die Rabbinen für erklärungsbedürftig hielten,539 wie überhaupt zwischen den Propheten, Moses eingeschlossen, ein Dissenz besteht, ob sich die Gottheit in einer sichtbaren Gestalt zeigen konnte oder nicht.540 Der geschulte Hebraist Spinoza verweist auch auf die erheblichen stilistischen Unterschiede der Prophetenrede und ihres Bildmaterials. »Die Prophezeiungen des Hesekiel [Ezechiel] und Amos sind nicht wie die des Jesaja und des Nahum in einem geschmackvollen, sondern in einem mehr ungebildeten Stil abgefasst. Wer Hebräisch versteht, kann dem noch weiter nachgehen […]«541 Man kann also sagen, 536
TPT 1, S. 63.
537
TPT 2, S. 93.
538
TPT 2, S. 93f.
539
TPT 2, S. 75f.
540
TPT 2, S. 89.
541
TPT 2, S. 75.
Traditions- und Religionskritik
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»dass Gott sich keines besonderen Stils der Rede bedient, sondern dass er lediglich entsprechend der Bildung und der Fähigkeit des Propheten geschmackvoll, bündig, streng, ungebildet, weitschweifig oder dunkel spricht.«542 Auch der Berufsstand, aus dem die Propheten kamen, wirkt sich offenbar auf den Stil der Prophetenrede und Bildgestaltung aus: »war der Prophet ein Bauer, so zeigten sich ihm Ochsen, Kühe usw., war er Soldat, dann Heerführer und Heerscharen, war er schließlich Hofmann, dann ein Königsthron und ähnliche Dinge.«543 Für die Geschichte der wissenschaftlichen »Religionsgeschichte« besonders eindrucksvoll ist der kleine Passus zur Darlegung der mosaischen, sprich pentateuchischen Gottesvorstellung. Aus Mosesreden wie »Nun weiß ich, dass JHWH größer ist als alle Götter« (Ex 18, 11) und ähnlichen zieht Spinoza die wohl bewusst vorsichtig formulierte Folgerung: »Er [Moses] gab zwar zu, dass es Wesen gebe, die (ohne Zweifel auf Gottes Anordnung und Befehl) Gottes Stelle vertreten, d.h. Wesen, denen Gott die Autorität, das Recht und die Macht verliehen hat, die Völker zu leiten, für sie zu sorgen und sie zu behüten. Von dem Wesen aber, das sie [die Israeliten] zu verehren gehalten waren, lehrte er, es sei der höchste und oberste Gott oder (um den hebräischen Ausdruck zu gebrauchen) der Gott der Götter.«544 Hinzu kommt die auch an anderen Stellen der Bibel vertretene Auffassung, dass jedes Volk und jedes Land seine eigenen Götter habe.545 Außerdem registriert Spinoza die aus den Vätergeschichten der Genesis erkennbare Ansicht, dass die Erzväter jeweils einen ihnen zugeordneten Vätergott haben.546 Kurz, Spinoza sieht hier eine Vorstellung, welche die moderne Religionswissenschaft als »Henotheismus« zu bezeichnen pflegt, also die Auffassung, dass es zwar mehrere Götter gebe, man selbst aber nur einen zu verehren habe.547 Spinoza stellt auch fest, dass Moses in Genesis Kapitel 1 offenbar noch nicht die in Spinozas Tagen allgemein akzeptierte – allerdings erst seit Sa‘adja Ga’on dogmatische – Lehre von der creatio ex nihilo 548 vertrete, sondern dass er die Welt »aus dem Chaos in eine Ordnung gebracht und der Natur alle Samen eingepflanzt habe«.549 Aufge-
542
TPT 2, S. 75.
543
TPT 2, S. 73.
544
TPT 2, S. 87.
545
TPT 2, S. 89.87.
546
TPT 2, S. 83; s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 50, 53ff., 67, 148.
547
Zum Ganzen vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 119, 127.
548
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 170, 257f., 258, 375f., 378, 496.
549
TPT 2, S. 87.
Baruch Spinoza
176
fallen ist Spinoza des weiteren, dass es offenbar Propheten gab, die bevorzugt, oder nur, Heil und andere, die bevorzugt, oder nur, Unheil prophezeiten550 Eine weitere Reihe von Beobachtungen am biblischen Text weist auf die Differenz des wissenschaftlichen und philosophischen Wissensstandes zwischen Spinozas Gegenwart und den Ansichten der biblischen Autoren hin. Hier wird der biblische Text also mittels der wissenschaftlichen Wahrheitsfrage gemessen: Josua, der sah, dass die Sonne am Himmel stehen blieb, war offenbar noch der Meinung, die Sonne umkreise die Erde,551 Salomo kannte offensichtlich nicht die Zahl pi welche das genaue Verhältnis von Kreisdurchmesser und Kreisumfang bestimmt.552 Philosophische Mängel lassen der erste Mensch, Adam, Abraham, Moses und Jona erkennen, da sie offenbar noch nichts von der Omnipräsenz und Omniscienz Gottes wussten und glaubten, man könne sich vor Gott verbergen.553 In diesem Zusammenhang ist auch die spezifisch spinozanische Auffassung, dass der Mensch keinen freien Willen habe, als Kriterium eingesetzt, wenn Spinoza vorwurfsvoll bemerkt, »Den Propheten endlich, die an die Willensfreiheit und Selbstbestimmung des Menschen glaubten, offenbarte sich Gott, als ob er auf das menschliche Handeln keinen Einfluss ausübe und die zukünftigen Handlungen der Menschen nicht kenne.«554 Aus diesen und dergleichen Beobachtungen am biblischen Text zieht Spinoza die in seiner Darlegung vorangestellten und für rabbinische, christliche und mittelalterlich-philosophische Ohren natürlich lästerlich erscheinenden folgenden Schlussfolgerungen: Die Prophetie vermittelte den Propheten offenbar keine neuen Anschauungen, sondern belässt einen jeden da, wo er ist, weshalb auch ihre Auffassungen von Gott eher gewöhnlich waren.555 Vielmehr fügt sich die prophetische Botschaft, die eben vor allem ethischer Natur ist, in die individuellen Auffassungen der Propheten ein, auch wenn diese falsch oder nicht Konsens sind. Die Prophetie macht den Propheten niemals klüger,556 deshalb wissen die Propheten auch nicht alles, was der Mensch wissen kann – eine Auffassung welche der rabbinischen Sicht von der Tora direkt ins Gesicht schlägt.557 Vollends häretisch muss es klingen, wenn von den Israeliten der Offenbarungsurkunde gesagt wird:
550
TPT 2, S. 71, 75.
551
TPT 2, S. 81.
552
TPT 2, S. 81.
553
TPT 2, S. 83, 85, 93.
554
TPT 2, S. 73.
555
TPT 2, S. 83.
556
TPT 2, S. 79.
557
Ebd.; und s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227.
Traditions- und Religionskritik
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»Die Israeliten wußten von Gott so gut wie nichts, obgleich er sich ihnen offenbart hat. Das bewiesen sie mehr als genug, als sie wenige Tage darauf [nach der Sinaioffenbarung] seinen Dienst und seine Verehrung auf ein Kalb übertrugen und in diesem die Götter sahen, die sie aus Ägypten geführt hatten. Es wäre ja auch kaum zu glauben, daß Menschen, die dem Aberglauben der Ägypter verfallen […] waren, eine richtige Erkenntnis von Gott besessen haben sollten oder dass Moses sie etwas anderes gelehrt haben sollte, als was den Lebenswandel angeht, allerdings nicht als Philosoph, damit sie dann aus freiem Willen gut lebten, sondern als Gesetzgeber, um sie durch die Herrschaft des Gesetzes zu zwingen […] Er belehrte sie also gerade so, wie Eltern ihre noch unvernünftigen Kinder zu belehren pflegen.«558 Aus alledem folgt, dass die prophetischen, will sagen biblischen, Lehren über Gott, Welt, Mensch und dessen angeblich freien Willen angesichts ihrer zufälligen Subjektivität nicht verbindlich sein können, allenfalls die ethische Botschaft – zu deren sehr minimalem Umfang in den Augen Spinozas später noch etwas zu sagen sein wird.559 Kein Wunder, dass der einzige Autor der Bibel, der Spinozas Wohlgefallen findet, der als Autor der Sprüche und des Predigers (Kohelet) geltende weise König Salomo ist, »der durch sein natürliches Licht (lumen naturalis) alle seine Zeitgenossen übertraf. Darum hielt er sich auch für über dem Gesetz stehend (denn das Gesetz ist nur für diejenigen gegeben, die der Vernunft und der Belehrung durch den natürlichen Verstand entbehren) und achtete die Gesetze gering, die den König betrafen […]«560 Auch wenn Salomo dann wegen seiner Übertretungen getadelt wird, wird er gepriesen, weil er lehrte, »dass alle Glücksgüter für die Sterblichen wertlos seinen (s. Prediger Salomo) und daß die Menschen kein größeres Gut hätten als den Verstand und dass es keine größere Strafe für sie gebe als die Torheit (s. Sprüche Salomonis, Kap 16, V. 22).«561
4.5
Das neue Auslegungsparadigma und die neue hermeneutische Technik Spinozas
4.5.1 Begriffsklärung: Hermeneutische Technik und Paradigma Nachdem Spinoza in den ersten beiden Kapiteln des Theologisch-PolitischenTraktats sowohl das rabbinisch-midraschische wie auch das mittelalterlich philo558
TPT 2, S. 91.
559
TPT 2, S. 79, 95, 97.
560
TPT 2, S. 93.
561
Ebd.
Baruch Spinoza
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sophische hermeneutische Paradigma für die Schriftauslegung zurückgewiesen hatte,562 führt er zu Beginn des dritten Kapitels, mit dem er die Darstellung einer Reihe weiterer biblischer Themen erörtert, zunächst sein eigenes hermeneutisches Paradigma ein. Unter hermeneutischem Paradigma verstehe ich den ideologischen Hintergrund der Textdeutung, von der her die Texte verstanden werden, also die eigene Philosophie, die das Verständnis der Texte erschließen soll. Dies ist zu unterscheiden von der hermeneutischen Technik, also jenen philologischen oder metaphilologischen Methoden, mit deren Hilfe die Wörter und Sätze des Textes erschlossen werden, also etwa Wortbildung, Wortzerlegung, Kontextvergleich etc. Ihr widmet sich Spinoza im siebten Kapitel des Traktats.563
4.5.2 Die neue hermeneutische Technik Schon ‘Asarja dei Rossi, den Spinoza mit aller Wahrscheinlichkeit kannte,564 oder das ihm wohl unbekannt gebliebene Kol Sachal, haben die rabbinischmidraschische Auslegungstechnik verlassen und die biblischen Texte mit philologischen und historischen Methoden gedeutet. Spinoza nimmt diese Methode auf, aber ihm gebührt das Verdienst, diese Frage grundsätzlich reflektiert und dargelegt zu haben. Er formuliert dabei Forderungen an die Schriftexegese, die bis heute für die moderne Bibelwissenschaft gelten. Dazu gehören die sprachwissenschaftlichen Voraussetzungen, hier speziell der Hebraistik, sodann das, was man heute unter die so genannten »Einleitungswissenschaften« zusammenfasst und schließlich die Theologiegeschichte als jeweiliger Verstehenshintergrund des Einzeltextes. All das muss bearbeitet werden, um die Textwissenschaft analog der Naturwissenschaft betreiben zu können, die ihrerseits jedermann verstehbares rationales propädeutisches Wissen voraussetzt.565 Dabei verhält sich der Text der Schrift wie die Natur, er gibt von den Dingen, die er verhandelt keine Definitionen, weshalb man das Material erst zur Kenntnis nehmen muss, um dann aus ihm die Definitionen zu erschließen, so wie Spinoza es zum Beispiel an der Prophetie aufgezeigt hat. Und diese Dinge der Schrift sind historische Dinge, 562
Zu den beiden Begriffe der hermeneutischen Technik und Paradigma, s. K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung von Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Berlin (Dreieck Verlag des Forum Guardini), S. 11–36.
563
Zu den hier verwendeten Begriffen s. K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, S. 11–36.
564
Dies sieht man zum Beispiel bei der Erörterung der »falschen« rabbinischen Chronologie, TPT 7, S. 249, ein zentrales Thema ‘Asarjas, s. oben, und s. Joel, Spinoza’s Theologisch-Politischer Traktat, S. 62; in ZPT 9, S. 319 Adnotatio XVI, beruft er sich in dieser Frage allerdings auf Levi ben Gerson.
565
TPT 7.
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sie haben eine Geschichte, ihre Texte sind also nicht en bloc vom Himmel offenbarte Schriften. Zur Erhellung dieser Geschichte müsse man, so Spinoza, drei Dinge beachten 1. Die Eigentümlichkeiten der hebräischen Sprache, das heißt deren gewöhnlichen Sprachgebrauch. 2. Es muss für jedes einzelne biblische Buch eine Konkordanz der wichtigsten Aussprüche (sententias) zusammengestellt werden, um so zu erkennen, was die einzelnen beschriebenen Gegenstände bedeuten, und um von ihnen aus das Unverständliche zu deuten. In diesem Zusammenhang formuliert Spinoza den zentralen, von der traditionellen rabbinischen und mittelalterlich-philosophischen Exegese grundlegend abweichenden Grundsatz »bloß um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit handelt es sich. Ja, man muß sich vor allem hüten, solange der Sinn der Schrift in Frage steht, daß man sich nicht durch eigene Erwägungen, soweit sie auf den Prinzipien natürlicher Erkenntnis beruhen (ganz zu schweigen von den Vorurteilen [praejudicia]), dazu verleiten läßt, den wahren Sinn einer Stelle mit der Wahrheit ihres Inhalts zu verwechseln. Der Sinn ist bloß aus dem Sprachgebrauch zu ermitteln oder aus solchen Erwägungen, die nur die Schrift als Grundlage anerkennen.«566 Das bedeutet, man darf keinesfalls, wie es die antike rabbinische und die mittelalterliche Schriftexegese getan haben, das als Wahrheit zu Erwartende in der Schrift suchen wollen, sondern man muss darauf vorbereitet sein, einen Sinn in der Schrift zu finden, welcher der eigenen Wahrheit zuwiderläuft. Man darf also nicht das eigene hermeneutische Paradigma, den eigenen Verstehenshorizont, mit dem biblischen identifizieren, sondern man muss anerkennen, dass das biblische Paradigma und das eigene voneinander verschieden sind. 3. Als drittes nennt Spinoza die Notwendigkeit, die Geschichte eines jeden einzelnen Buches, wie auch des gesamten Kanons, zu erforschen, damit Zeit, Umstände, Adressaten und so der Sinn des jeweils gemeinten Wortes deutlich werden.567 Um dem Leser den schwierigen Weg des Schriftverständnisses deutlich zu machen, weist Spinoza eigens auf eine ganze Reihe gerade für die hebräische Bibel schmerzliche Probleme hin. Trotz einer sehr anerkennenswerten jüdischen Tradition der hebräischen Lexik ist zu beklagen, dass z.B. »fast alle Namen von Früchten, Vögeln, Fischen« im Laufe der Zeit verloren gegangen sind,568 man besitzt keine »Phraseologie«, kein Wörterbuch, keine Grammatik und Stilistik 566
TPT 7, S. 237.
567
TPT 7, S. 239.
568
TPT 7, S. 251.
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des biblischen Hebräisch, so dass vieles, trotz der Kenntnis der Vokabeln unverständlich bleiben muss. Hinzu kommt die normale Doppeldeutigkeit von Wörtern, die im Hebräischen dadurch um ein Vieles gesteigert ist, dass die Vokale nicht mitgeschrieben werden und die masoretische Vokalisation allenfalls den Wert einer späteren Interpretation besitzt, die Konjunktionen und Adverbien generell mehrdeutig sind, Tempora und Modi fehlen.569 Auch eine Kenntnis der für das Verständnis eines Textes so zentralen literarischen Gattungen fehle noch weitgehend, ist doch dieselbe Erzählung als Märchen, als politische oder gar heilige Geschichte völlig anders zu verstehen.570 Schließlich muss noch das Problem der Textüberlieferung, die zahlreichen Textvarianten, bedacht, auch die Frage gestellt werden, ob manche Texte nur als Übersetzung oder im Original vorliegen.571 Allesamt Probleme, welche Spinoza zu dem Resümee führen »Ich halte diese Schwierigkeiten für so groß, daß ich kein Bedenken trage zu behaupten: bei den meisten Stellen kennen wir den Sinn der Schrift entweder gar nicht oder vermuten nur aufs Geratewohl, ohne Gewißheit.«572 In den Kapiteln acht bis zehn, die einem einen Eindruck von Spinozas traditioneller rabbinisch-jüdischer Bildung vermitteln, wendet Spinoza diese hermeneutischen Techniken an, um Untersuchungen über die Geschichte der biblischen Bücher anzustellen. Die Resultate dieser Untersuchungen stellt er sogleich in den Überschriften voran: »8. Kapitel. In ihm wird gezeigt, daß die fünf Bücher Mose sowie die Bücher Josua, der Richter, Ruth, Samuelis und der Könige nicht von diesem selbstgeschrieben sind. Sodann wird untersucht, ob sie sämtlich von mehreren Verfassern herrühren oder bloß von einem und welchem. 9. Kapitel. Weitere Untersuchungen über dieselben Bücher, ob nämlich Esra die letzte Hand an sie gelegt hat; ferner ob die Randbemerkungen, die sich in den hebräischen Handschriften finden, verschiedene Lesarten darstellen. 10. Die übrigen Bücher des Alten Testaments werden in der gleichen Weise wie die ersten untersucht.«573 Es folgt sodann eine analoge Untersuchung zu den Apostelbriefen des Neuen Testaments, die hier beiseite gelassen werden kann. Die Untersuchungen im Einzelnen gehen literarkritisch voran, suchen nach Widersprüchen und Unstimmig-
569
TPT 7, S. 251, 253, 255.
570
TPT 7, S. 259.
571
TPT 7, S. 261.
572
TPT 7, S. 261.
573
TPT, Verzeichnis der Kapitel, S. 27.
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keiten im Text, materieller, stilistischer und chronologischer Art.574 Das Resultat ist, Moses konnte nicht der Verfasser der fünf nach ihm genannten Bücher sein, ebensowenig kann das Buch Josua von Mosis Nachfolger, das Richterbuch nicht von den Richtern, Samuel nicht von Samuel verfasst worden sein, die Königsbücher geben sich selbst als Auszüge aus den altisraelitischen Hofchroniken zu erkennen. Schließlich kommt Spinoza zu dem bis heute in seinen wesentlichen Teilen gültigen Schluss, dass all diese genannten Bücher »von einem und demselben Geschichtsschreiber verfaßt sind, der die alte Geschichte der Juden von ihrem ersten Ursprung an bis zur ersten Zerstörung der Stadt schreiben wollte.«575 Spinoza äußert immerhin noch die Vermutung, dies sei der nachexilische Schriftgelehrte Esra gewesen.576 Zu den Büchern der Chronik vermutet Spinoza, dass sie lange nach Esra und sogar »nach der Wiederherstellung des Tempels durch Judas Makkabäus geschrieben wurden«.577 Ebenso spät datiert er die Psalmen und die Proverbien. Die Texte des Jeremiabuches erkennt er als Sammlung aus unterschiedlichen Quellen, Ezechiel erscheint als Fragment – und dergleichen zu weiteren biblischen Büchern.578 Schließlich äußert sich Spinoza zur Kanonfrage und kommt zu der Auffassung, »daß es vor der Zeit der Makkabäer noch keinen Kanon der heiligen Bücher gegeben hat, sondern daß die Bücher, die wir nunmehr besitzen, zur Zeit des zweiten Tempels von den Pharisäern, die auch die Gebetsformeln eingeführt haben, aus vielen anderen ausgewählt und bloß nach ihrer Entscheidung in den Kanon aufgenommen worden sind.«579 Aus alledem zieht Spinoza den unausweichlichen Schluss, dass die Autorität der Heiligen Schrift nicht aus dem einmal überkommenen Kanon abgeleitet werden könne, sondern diese Frage für jedes einzelne seiner Bücher extra gestellt werden müsse. Diese von Fall zu Fall erforderliche Prüfung der Schriftautorität muss, wie aus den gesamten Ausführungen des Traktates erhellt, nach inhaltlichen Kriterien geschehen, die, so muss man allerdings zugeben, sich von Epoche zu Epoche verändern, oder gar von Autor zu Autor, und dies gerade auch innerhalb der jüdischen Tradition. Spinozas eigenes Kriterium fasst er einmal so zusammen: 574
Im Kapitel 9 des TPT, S. 317, beschreibt Spinoza seine Erkenntnisse wie folgt: »Ich habe nicht nötig, hier den ganzen Pentateuch durchzugehen. Wer einmal darauf geachtet hat, wie in diesen fünf Büchern alles, Gebote und Geschichten, durcheinander, ohne Ordnung und ohne Rücksicht auf die Zeit, wiedergegeben wird und wie dieselbe Geschichte öfters und zuweilen ganz verändert wiederkehrt, der wird unschwer erkennen, daß alles nur, wie es gerade kam, zusammengetragen und aufgehäuft ist, damit es später leichter zu prüfen und in Ordnung zu bringen wäre.«
575
TPT 8, S. 299.
576
TPT 8, S. 301.
577
TPT 10, S. 345.
578
TPT 10.
579
TPT 10, S. 367ff.
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»Heilig und göttlich nennt man das, was zur Übung der Frömmigkeit und Religion bestimmt ist, und nur so lange wird es heilig sein, als die Menschen es in religiösem Sinne gebrauchen. Hören sie auf, fromm zu sein, so hört es damit auch auf, heilig zu sein. Wird es zu gottlosen Zwecken bestimmt, so wird eben das, was zuvor heilig war, nunmehr unrein und gemein.«580
4.5.3 Das neue hermeneutische Paradigma Spinoza polemisierte mit aller Energie gegen das rationalistische hermeneutische Paradigma des Maimonides. Er zitiert dazu den More Nevuchim ausführlich und resümiert: »Darum kann sich nach der Ansicht des Maimonides der wahre Sinn der Schrift weder aus ihr selbst ergeben noch aus ihr entnommen werden. Daß dies gleichfalls falsch ist, geht aus diesem Kapitel hervor, denn ich habe mit Gründen und Beweisen dargetan, daß der Sinn der Schrift sich aus der Schrift selbst ergibt und bloß aus ihr zu entnehmen ist […]«581, weil »nahezu alles, was wir in der Schrift finden, ist […] nicht aus Prinzipien abzuleiten, die dem natürlichen Licht bekannt sind; darum können wir uns von seiner Wahrheit auch nicht kraft des natürlichen Lichts überzeugen und folglich auch nicht vom wahren Sinn und Geist der Schrift.«582 Trotz dieser berechtigten Polemik kann natürlich auch Spinoza nicht ohne ein hermeneutisches Paradigma die Texte der Schrift verstehen. Dies zeigt sich schon etwa darin, dass er die Propheten als ganz natürliche Menschen begreift und deren Vorstellungsvermögen (Imaginationskraft) im prophetischen Akt wirksam sieht, also eine natürliche psychische Komponente. Deutlicher wird dies im dritten Kapitel, in welchem er von der Erwählung Israels handelt. Das Ziel dieses Kapitels ist eine Frage, in der es weniger um den Sinn der Schrift geht, sondern um die »Wahrheit«. Das heißt es wird nach dem wahren Verständnis dessen gefragt, was die biblische Rede von der Erwählung Israels – dies ist der »Sinn« der biblischen Texte – sei. Die – laut Spinoza – der Vorstellungswelt der Israeliten angepasste biblische Auffassung, dass ein persönlicher Gott dieses Volk zu seinem eigenen Volk erwählt hat, soll nunmehr auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Das heißt, Spinoza will hier vom »Sinn der Schrift«, von dem was die Autoren gemäß ihren Auffassungen formulieren, zur eigentlichen Wahrheit, also zu einer Beurteilung dieser biblischen Ansichten gemäß seiner ei-
580
TPT 12, S. 397; und vgl. S. 399.
581
TPT 7, S. 273; vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 37–48.
582
TPT 7, S. 269.
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genen philosophischen Einsicht kommen.583 Sein Ziel ist es dabei, nachzuweisen, dass die Erwählung Israels in Wahrheit nicht als eine exklusive und auf ewig angelegte Zuwendung Gottes nur zu Israel zu verstehen ist, wie dies von den Texten selbst gemäß ihren eigenen Vorstellungen gesagt wird. Natürlich findet er für Gottes Sorge und Zuwendung auch an die übrigen Völker ebenfalls geeignete Stellen in der Schrift. Aber die entscheidende Antwort und das entscheidende Argument, um vom Sinn der Schrift zur Wahrheit der Schrift zu gelangen, ist auch bei Spinoza das hermeneutische Paradigma, also der Verstehenshorizont, vor dem die biblischen Texte gedeutet werden sollen. Diesen beschreibt Spinoza wie folgt: »Bevor ich beginne, will ich kurz erklären, was ich unter der Leitung Gottes, unter dem äußeren und inneren Beistand Gottes, unter der Auserwählung Gottes und schließlich, was ich unter dem Schicksal im folgenden verstehe. Unter der Leitung Gottes verstehe ich jene feste und unveränderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der Naturdinge. Schon oben habe ich es ausgesprochen […], daß die allgemeinen Gesetze der Natur, nach denen alles geschieht und bestimmt wird, nichts anderes sind als Gottes ewige Ratschlüsse, die stets ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen. […] Weil ferner die Macht aller Naturdinge nichts anderes ist als Gottes Macht selbst, durch die allein alles geschieht und bestimmt wird, wird folglich alles was der Mensch, der ja ein Teil der Natur ist, um seiner selbst willen und zu seiner Selbsterhaltung tut oder was die Natur ihm ohne sein Zutun darbietet, ihm allein von der göttlichen Macht dargeboten, die teils durch die menschliche Natur, teils durch äußere Dinge wirkt. Darum dürfen wir alles, was die menschliche Natur bloß aus eigener Macht leisten kann, um ihr Sein zu erhalten, den inneren Beistand Gottes, und was außerdem durch die Macht der äußeren Ursachen zum Nutzen des Menschen geschieht, den äußeren Beistand Gottes nennen. Daraus läßt sich nun leicht entnehmen, was man unter Gottes Auserwählung zu verstehen hat. [...]. Unter Schicksal schließlich verstehe ich nichts anderes als die Leitung Gottes, soweit sie die menschlichen Dinge durch äußere und unvermutete Ursachen lenkt.«584 Will man also in Wahrheit verstehen, was damit gemeint ist, wenn die Bibel von Gottes Leitung, Vorsehung, Hilfe und Erwählung spricht, muss dies in das Verstehensparadigma Spinozas, sprich in seine eigene Philosophie, übersetzt wer583
Er formuliert diese nötige Differenzierung einmal sehr klar: »Es ist ein anderes, die Schrift und den Sinn der Propheten, ein anderes aber, den Sinn Gottes, d.h. die Wahrheit der Sache selbst zu verstehen.«, TPT 12, S. 405; vgl. noch TPT 15, S. 449.
584
TPT 3, S. 103ff. Hervorhebungen KEG.
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den. Der Unterschied zwischen Spinoza und den rabbinischen wie mittelalterlichen Deutern ist der, dass jene glaubten, das eigene Verstehensparadigma sei bereits in der Bibel vorhanden, allerdings durch metaphorische oder allegorische Redeweise verdeckt, oder dem Volk mundgerecht gemacht, während Spinoza die Distanz betont. Er stellt fest, dass die Bibel selbst aus einem anderen Verstehensparadigma heraus formuliert, in einer anderen Geistes- und Denkwelt zu Hause ist, und dass das in den biblischen Schriften Gesagte so von den biblischen Autoren tatsächlich gemeint war. Wir in der jeweiligen eigenen Gegenwart müssen die göttliche Botschaft im Rahmen des eigenen Verstehensparadigmas analog neu formulieren. Dieses neue Verstehensparadigma von Spinoza ist, kurz gesagt, die neue spinozanische Weltanschauung und Gotteslehre, die weiter unten im Zusammenhang noch dargestellt werden wird. Wo immer Spinoza im Theologisch-Politischen-Traktat biblische oder jüdische und christliche Auffassungen gemäß ihrem »Wahrheitssinn« umschreibt, sind sie gemäß diesem Verstehensparadigma formuliert. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Deutern wendet er dieses Paradigma konsequent an und nimmt nicht wie jene zu einer Mischkonzeption aus »Vernunft« und biblisch-jüdischchristlicher Tradition Zuflucht. Dies ist es, was Spinozas Deutungen von Religion, sei sie biblisch, jüdisch oder christlich, ihren für seine Zeitgenossen radikalen und häretisch anmutenden Charakter verlieh.
4.6
Biblisch-jüdische Theologoumena im Lichte des spinozanischen Verstehensparadigmas
4.6.1 Die Erwählung Israels Schon die eingangs dargestellte Lehre Spinozas von der Prophetie entpuppt sich als die Folge des neuen Auslegungsparadigmas. Die Prophetie muss darum als ein natürliches menschliches Phänomen verstanden werden und rührt nur insofern von Gott her, als die menschliche Natur und die ihr entspringende Imaginationskraft auf dem natürlichen Weg von Gott herrühren. Die Frage der Prophetie wird auch nochmals im Zusammenhang der Lehre von der Erwählung Israels erörtert und von Spinoza dahingehend beantwortet, dass die Prophetie eine universelle, allgemein menschliche Erscheinung sei – eine Auffassung, die ja auch schon Maimonides vertreten hatte, der allerdings im Zuge seiner erwähnten »Mischkonzeption« das göttliche Eingreifen im Falle der Prophetie als eine Verhinderung der natürlichen Anlage verstand, und somit die Prophetie auf auserwählte Israeliten beschränkt sah.585 Spinoza, der konsequente »Rationalist« muss die Prophetie als nicht spezifisch israelitisches, sondern als universelles Phäno585
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 469.
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men begreifen, wofür er natürlich auch eine ganze Reihe Schriftbelege vorweisen kann.586 Er versäumt es in diesem Zusammenhang nicht, den jüdischen Diskurs aufzunehmen und eigens gegen die »pharisäische«, sprich rabbinische, Position zu polemisieren, wie sie vor allem Jehuda Ha-Levi,587 aber auch Raschi in seinem Kommentar zu Exodus 33, 16 vertreten,588 nämlich dass die Prophetie ausschließlich auf Israel beschränkt sei. Diese universalistische Auffassung der Prophetie, und mit ihr zusammen das spezifische Verständnis von der Prophetie, begründet Spinoza eigens noch mit der Natur des Menschen, das heißt mit dessen grundsätzlichen Strebungen. Diese sind nach Spinoza 1. »die Dinge durch ihre ersten Ursachen zu verstehen«, also die Erkenntnis, 2. »die Leidenschaften zähmen«, das sind die Tugenden, und schließlich 3. »sicher und bei gesundem Körper leben«, sprich das physische Wohlergehen. Die Ursachen oder Mittel, durch welche diese Ziele erreicht werden können, verteilen sich auf den oben schon genannten »inneren« und »äußeren« Beistand Gottes, und dieser Zuordnung entsprechen auch die Möglichkeiten der menschliche Beteiligung an der Erreichung dieser Ziele. Die Mittel zur Erreichung der beiden erstgenannten Ziele sind in der menschlichen Natur selbst enthalten, während die Erlangung des dritten Zieles wesentlich in äußeren Faktoren zu suchen ist. Das heißt, die Erlangung von Erkenntnis und Tugend ist im wesentlichen in der Natur des Menschen begründet, und da alle Menschen gleich sind, ist das Erlangen dieser beiden Ziele eine allgemeinmenschliche Möglichkeit und nichts, wodurch sich die Israeliten von den übrigen Menschen unterscheiden würden. Und da die Prophetie ein Medium des Erkenntnisgewinns ist, muss auch die Prophetie ein universelles Phänomen sein, was ja bereits mit anderen Argumenten erwiesen wurde. Wichtiger für die weitere Vorstellung von der »Erwählung« ist nun, dass das dritte der genannten menschlichen Ziele weitestgehend vom »äußeren Beistand Gottes«, das heißt vom »Schicksal« abhängt, mithin nicht in der menschlichen Befugnis liegt, darum nicht allgemeinmenschlich ist. Allerdings kann die Bildung einer organisierten menschlichen Gesellschaft oder eines Staates diesem dritten Ziel dienen, sofern ein solcher Staat mit weisen Führern begnadet ist und sich darum weise Gesetze auferlegen kann. Dies kann die Abhängigkeit vom Schicksal mindern. Wenn aber eine Gesellschaft aus Ungebildeten besteht, und dies meint Spinoza an den biblischen Texten bezüglich Israels zu erkennen, so ist ihr Bestand in hohem Maße vom Schicksal, sprich von dem »äußeren Beistand Gottes« abhängig. Und da der altisraelitische Staat einst stark und erfolgreich 586
TPT 3, S. 117, 119.
587
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 601–609.
588
Deutsche Übersetzung bei S. Bamberger, Raschi ‘al ha-Tora, Raschis Pentateuchkommentar, Frankfurt/M. 1935, S. 267.
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war, hatten die Israeliten allen Grund, Gott darob zu loben. Angesichts einer solchen Aufteilung der Ursachen zur Erlangung der menschlichen Ziele kommt Spinoza zu dem Resultat: »Die Völker unterscheiden sich also voneinander nur hinsichtlich ihrer Gesellschaft und Gesetze, unter denen sie leben und regiert werden. So ist auch das hebräische Volk nicht hinsichtlich seines Verstandes und seiner Seelenruhe von Gott vor den anderen auserwählt gewesen, sondern hinsichtlich seiner Gesellschaft und seines Schicksals, wie es sein Reich erlangte und so viele Jahre hindurch erhielt.«589 Daraus ergibt sich für Spinoza, dass die Erwählung Israels, gemäß der Beistandsweisen Gottes etwas sein muss, was nicht allgemein menschlich, wie Erkenntnis und Tugend, ist, sondern etwas, das zum dritten Teil des menschlichen Strebens gehört, also die Sicherheit und das Wohlbefinden des Leibes, was sich am besten im Rahmen eines Staatsgefüges erfüllt. Folglich sagt Spinoza: »Ihre Auserwählung und Berufung bestand also bloß in dem zeitlichen Glück und den günstigen Verhältnissen ihres Reiches«,590 »während in den anderen Dingen und gerade in denen, die das wahre Glück des Menschen begründen, die Juden den übrigen Völkern gleich waren.«591 Und da zu dem zeitlichen Glück ein wohlorganisierter Staat gehört, sind die biblischen Gesetze Teil einer Staatsverfassung, die nur auf diesen altjüdischen Staat bezogen sind und keine universelle Bedeutung haben. Vielmehr sind diese Gesetze vergleichbar den Staatsgesetzen anderer Völker, von deren Existenz auch schon die Bibel zu berichten weiß.592 Aus solchen biblischen Stellen, welche dem Volk das Exil und den beiden altisraelitischen Staaten den Untergang androhten, und deren tatsächlichem Eintritt, zieht Spinoza schließlich die letzte Konsequenz und sagt, dass diese Erwählung Israels nur eine bedingte, also zeitlich begrenzte gewesen sei.593 Dem möglichen Einwand, dass das Volk Israel die Vertreibung aus dem Heiligen Land und den Untergang seiner Staaten ja überlebt habe, begegnet Spinoza mit der Bemerkung, dass dies nur der Absonderung der Juden und dem daraus entstandenen Hass der Völker zu verdanken sei. Hier fügt Spinoza indessen noch eine Bemerkung an, die für manchen Zionisten wie eine Prophetie geklungen hatte. Spinoza meint nämlich, die Beschneidung sei eines jener janusköpfigen Elemente des Hasses und der Bewahrung des jüdischen Volkes:
589
TPT 3, S. 109.
590
TPT 3, S. 109.
591
TPT 3, S. 113.
592
TPT 3, S. 111.
593
TPT 3, S. 127.
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»Das Zeichen der Beschneidung halte ich dabei für so bedeutungsvoll, daß ich überzeugt bin, dies allein werde das Volk für immer erhalten. Ja, wenn die Grundsätze ihrer Religion ihren Sinn nicht verweichlichen, so möchte ich ohne weiters glauben, daß sie einmal bei gegebener Gelegenheit, wie ja menschliche Dinge dem Wechsel unterworfen sind, ihr Reich wieder aufrichten und daß Gott sie von neuem auserwählt.«594 Man beachte aber, dass diese Hoffnung, trotz der theologischen Formulierung, sich nur dank dem Wechsel der menschlichen Dinge und dem Beharrungsvermögen der Juden wird erfüllen können, nicht durch ein übernatürliches Eingreifen des Himmels. Nicht zu Unrecht sagt angesichts dieses Befundes Yosef Hayim Yerushalmi: »Ich sehe […] im dritten Kapitel des Tractatus TheologicoPoliticus eine wichtige Station auf dem Weg zur Säkularisierung der jüdischen Geschichte wie zur Historisierung des Judentums gleichermaßen […]«595
4.6.2 Das göttliche Gesetz Recht eigentlich betrachtet kennt Spinoza nur ein einziges Gesetz und dies ist die Notwendigkeit der Natur. Dazu gehört zum Beispiel, dass beim Zusammenstoß von Körpern der eine so viel an Bewegungsenergie verliert wie er an den anderen abgibt. Da nun aber auch die Menschen ein Teil der Natur sind und somit ein Teil der Naturnotwendigkeit durch den Menschen realisiert wird, ist es erlaubt zu sagen, dass ein Teil des Gesetzes »vom Belieben des Menschen« abhängt, wiewohl auch hier eine Notwendigkeit herrscht. Eine solche Notwendigkeit, die in der menschlichen Natur liegt, ist es zum Beispiel, dass wenn sich der Mensch einer bestimmten Sache erinnert, er sich zugleich an andere ähnliche Dinge erinnert. Hier herrscht eine für den Menschen gleichsam unbewusste Notwendigkeit. »Wenn ich auch unbedingt zugebe, daß alles nach den allgemeinen Naturgesetzen zum Existieren und Wirken bestimmt wird, so sage ich doch, daß diese Gesetze vom Belieben der Menschen abhängig sind: 1. Weil der Mensch , sofern er ein Teil der Natur ist, auch einen Teil der Macht der Natur bildet« […].596 Allerdings, so fährt Spinoza fort, wird der Begriff des Gesetzes gewöhnlich in einem eingeschränkteren Sinne verwendet, nämlich als »die Lebensweise, die der Mensch sich oder anderen um eines bestimmten Zweckes willen vorschreibt.«597
594
TPT 3, S. 129.
595
Dazu s. Y.H. Yerushalmi, Spinoza und das Überleben des jüdischen Volkes, München 1999,
596
TPT 4, S. 133.
597
TPT 4, S. 135.
S. 42.
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188
Von diesem eingeschränkteren Gesetzes-Begriff, also dem, der dem menschlichen »Belieben« unterliegt, schreitet nun Spinoza weiter, um eine Unterscheidung zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Gesetz vorzunehmen, wobei er sich an Josef ’Albos Begriff vom göttlichen Gesetz anlehnen konnte. Dieser Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz wird nun aber nicht durch die mögliche Autorschaft eines solchen Gesetzes, also hier Mensch und da Gott, begründet, sondern durch die jeweilige Zwecksetzung des Gesetzes: »Da also das Gesetz nichts anderes ist, als die Lebensweise, welche die Menschen zu irgendeinem Zweck sich oder anderen vorschreiben, so zerfällt anscheinend das Gesetz in ein menschliches und ein göttliches. Unter dem menschlichen Gesetz verstehe ich die Lebensweise, die bloß der Sicherung des Lebens und des Staates dient; unter dem göttlichen Gesetz aber diejenige, die allein auf das höchste Gut, nämlich die wahre Erkenntnis und die Liebe Gottes abzielt. Der Grund, warum ich dieses Gesetz göttlich nenne, liegt in der Natur des höchsten Gutes [für den Menschen] […]«598 Beide, das menschliche und das göttliche Gesetz, sind im hier erörterten Fall von Menschen erlassene Gesetze. Die Attributierung »göttlich« oder »menschlich« erhalten sie ausschließlich nach ihrer Funktion im menschlichen Leben, nämlich ob sie der höheren, das heißt intellektuellen, oder der niedrigeren, heißt körperlichen, Seite des Menschen dienen, da der höhere Teil des Menschen, sein Verstand, nur zur Vollkommenheit durch die Erkenntnis Gottes gelangen kann, »weil ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann«.599 Wenn nun ohne Gott nichts sein noch begriffen werden kann, so bedeutet dies, dass alles in der Natur den Begriff Gottes in sich trägt. Daher ist der Weg zur Erkenntnis Gottes – und dies entspricht wieder ganz der mittelalterlich-philosophischen Position – der, dass »Je mehr wir daher die natürlichen Dinge erkennen, desto größer und vollkommener wird auch unsere Erkenntnis Gottes oder […] je mehr wir die natürlichen Dinge erkennen, desto vollkommener erkennen wir das Wesen Gottes (das die Ursache aller Dinge ist). Und so hängt also unsere ganze Erkenntnis, d.h. unser höchstes Gut, nicht so sehr von der Erkenntnis Gottes ab, sondern besteht vielmehr ganz und gar in ihr.«600 Aus alledem folgt, dass nur der das göttliche Gesetz befolgt, der Gott zu lieben trachtet, denn dies ist die höchste Glückseligkeit des Menschen und sie eben
598
TPT 4, S. 137; zu ’Albo vgl o. Kap. II.5.
599
TPT 4, S. 137.
600
TPT 4, S. 139.
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wird erreicht durch das beschriebene Streben nach Erkenntnis.601 Das menschliche Gesetz beinhaltet demnach alles übrige, was nicht in der Zwecksetzung des göttlichen liegt, also die Organisation des physischen menschlichen Lebens. So weit hat Spinoza vom göttlichen Gesetz gesprochen, ohne die Tora des Moses auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Der nächste Schritt der mittelalterlichen Philosophen, die so weit mit Spinoza hätten gehen können, wäre nun gewesen, die Identität von göttlichem Gesetz und Tora festzustellen, mit dem Hinweis darauf, dass sie ja vollkommen der Vernunft entspreche. Diesen letzteren Schritt aber konnte Spinoza nicht gehen, nachdem er Prophetie und Vernunft voneinander geschieden hat und das erklärte Ziel des TheologischPolitischen Traktats eben die Trennung von Glauben oder Theologie von der Philosophie ist.602 Nachdem die Bedeutung und Zielsetzung des eigentlichen »göttlichen Gesetzes« beschrieben ist, kommt Spinoza auf eine uneigentliche Verwendung dieses Begriffes zu sprechen. Diese uneigentliche Verwendung des Begriffs »göttliches Gesetz« rühre allerdings nicht von der Zielsetzung dieses Gesetzes her, sondern von seiner Herkunft, nämlich von der Prophetie, die ja – mit den oben ausgeführten Einschränkungen – als von Gott kommend erachtet wird. »Und in diesem Sinne kann auch das mosaische Gesetz ein Gesetz Gottes oder göttliches Gesetz heißen, obschon es nicht allgemeingültig, sondern in der Hauptsache dem Charakter und insbesondere der Erhaltung eines einzelnen Volkes angepaßt war, denn wir glauben doch, daß es sich auf prophetische Erleuchtung gründet.«603 Also, das eigentliche göttliche Gesetz, welches der menschlichen Glückseligkeit dient, und sich aus der allgemeinen Menschennatur ableitet, ist universell, allgemeinmenschlich, das mosaische Gesetz hingegen ist partikular, nur auf die Israeliten ausgerichtet, aber eben prophetisch und kann deshalb im Sinne eines Relations- oder Zuschreibungsbegriffes auch göttlich genannt werden. Es gibt für Spinoza demnach das »natürliche göttliche Gesetz«, welches das zuerst behandelte ist, und außerdem das prophetisch-göttliche oder mosaische Gesetz, welches das zuletzt beschriebene meint. Εs ergibt sich aus alledem von selbst, dass die so genannten Zeremonialgesetze, wie auch alle übrigen Gesetze des Pentateuch, jüdisch gesprochen, der Schriftlichen Tora des Moses, nicht zur Erlangung der Glückseligkeit (beatitudo), sondern allenfalls dem Wohlleben der Israeliten im ehemals altorientalischen Staat dienten und mit dessen Untergang gleichfalls bedeutungslos geworden sind.604 Dasselbe gilt für die biblischen Erzählungen, die ja allesamt nur dem 601
TPT 4, S. 141.
602
TPT 14, S. 429, 443.
603
TPT 4, S. 141.
604
TPT 5, S. 163, 167, 169.
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einfachen Auffassungsvermögen der alten Israeliten angepasst waren und bestenfalls dazu dienen konnten, das einfache Volk zu einem rechtschaffenen Leben anzuhalten.605 Es ist immer wieder der Verweis auf die beschränkte Fassungskraft der alten Israeliten, der als Erklärungsmuster für die Gestalt der biblischen Texte dient. Auch die mittelalterlichen Denker argumentierten ja schon mit diesem Motiv, allerdings schlossen sie daraus, dass die Schrift darum zur metaphorischen und allegorischen Sprache ihre Zuflucht nahm, hinter welcher die eigentlichen philosophischen Wahrheiten verborgen seien. Spinoza wird an diesem Punkt sehr viel grundsätzlicher und konzediert den biblischen Texten nicht diese didaktische Weitsicht, welche es angeblich vermochte, in ein und demselben Text eine doppelte Botschaft zu transportieren, eine philosophische im Hintergrund und eine anthropomorph-personalistische im Vordergrund. Spinoza glaubt nicht an einen solchen doppelten Sinn der Schrift – oder gar vierfachen, wie er sich im Mittelalter unter dem Einfluss der Kabbala entwickelt hatte606 – sondern billigt ihr nur eine einzige Sinnebene zu und das ist die wörtliche. Darum muss er den Schluss ziehen, dass das, was in den biblischen Texten steht, von den alten Israeliten wirklich so geglaubt wurde. Der Grund für diese einfachen Anschauungen, denen sich die Schrift anpasste, war die mangelnde Erkenntnis jener Menschen. Sie war es darum auch, die den Gedanken an ein göttliches Gesetz bei ihnen entstehen ließ, als ob Gott einen Willen besäße, welchen er den Menschen in Form eines Gebotes mitteilen wollte. Demgegenüber – und hier schlägt wieder das spinozistische Auslegungsparadigma voll durch – muss man wissen, dass bei Gott der Wille und sein Wesen ein und dasselbe sind.607 Was Gott, aus der Sicht der Menschen, will, ist letztlich nichts anderes als die unveränderliche Notwendigkeit, die dem Wesen Gottes entspringt. Hier stellt sich Spinoza diametral gegen Maimonides und andere mittelalterliche Denker, denen die Annahme eines göttlichen Willens der Schlüssel für die Möglichkeit göttlichen Wunderwirkens und einer Schöpfung der Welt in der Zeit aus dem Nichts war.608 Mit Hilfe des Beharrens auf einem Willen Gottes haben viele mittelalterliche Denker sich der Konsequenz ihres kausalen oder emanatistischen Denkansatzes entziehen wollen, ein Kompromiss, den Spinoza nicht zu akzeptieren bereit war. Die Konzeption eines Gotteswillens und damit der Möglichkeit, neben dem notwendig-kausalen Geschen ein voluntaristisches anzunehmen, schreibt Spinoza der mangelnden Erkenntnisfähigkeit der Menschen zu. Es ist alleine der Erkenntnisprozess, der
605
TPT 5, S. 179ff., 183.
606
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 338, 365f., 384, 425, 467, 578; Bd. 2, S. 200–209.
607
S. H.A, Wolfson The Philosophy of Spinoza, I, S. 89f., 400–422.
608
TPT 4, S. 145; Jehuda Ha-Levi, Kusari, V, 18, 7–9; und s. Jüdisches Denken, Bd. 1, Maimonides, S. 459ff.; Pseudo Empedokles, S. 496f.; Jizchak Jisraeli, S. 510f., Ibn Gevirol, S. 532f.
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ohne die Mittel körperlicher Übermittlung sondern alleine durch den menschlichen Geist zustande kommt, welcher nicht in die Irre solcher unzureichender Erkenntnis führt. Also »Hätte Gott ohne die Anwendung körperlicher Mittel unmittelbar zu ihnen gesprochen, so hätten sie es nicht als Gesetz, sondern als ewige Wahrheit aufgefaßt.«609 Und die Prophetie, auch die des Moses, bediente sich ja, wie oben gezeigt mit der »Imaginationskraft« solch eines körperlichen Mediums.610 Resümee der ganzen Überlegungen ist schließlich: »Da nun die gesamte Schrift zunächst für ein ganzes Volk und weiterhin für die Menschheit überhaupt offenbart worden ist, mußte ihr Inhalt im Wesentlichen der Fassungskraft des gewöhnlichen Volkes angepaßt und bloß aus der Erfahrung [d.h. durch Geschichten] bestätigt werden. Ich will die Sache klarer auseinandersetzen. Die rein spekulativen Lehren der Schrift sind in der Hauptsache folgende: es gibt einen Gott oder ein Wesen, das alles geschaffen hat und mit der höchsten Weisheit leitet und erhält und für die Menschen Sorge trägt, versteht sich für solche, die fromm und rechtschaffen leben, während es die übrigen mit vielen Strafen heimsucht und von den Guten absondert. Dies begründet die Schrift bloß durch die Erfahrung, nämlich durch die Geschichten, die sie erzählt; […] daraus geht, wie ich glaube, mit völliger Klarheit hervor, für wen und in welchem Sinne der Glaube an die in der Heiligen Schrift enthaltenen Geschichten notwendig ist. Ganz augenscheinlich folgt aus dem eben Gezeigten, daß die Kenntnis und der Glaube an sie nur für das gewöhnliche Volk höchst notwendig ist, weil sein Geist nicht imstande ist, die Dinge klar und deutlich zu erfassen. […] Endlich folgt daraus: wer die Geschichten der Schrift nicht kennt und auch durch das natürliche Licht nichts weiß, der ist zwar nicht gerade gottlos oder verstockt, aber doch auch kein rechter Mensch, ja fast ein Tier und besitzt keine Gabe Gottes.«611 Immerhin, wenigstens eine von den beiden Gaben, den Glauben oder die Vernunft, braucht man, um Mensch zu sein! Dass die beiden, wenn sie ordentlich getrennt sind, sich nicht gegenseitig ausschließen, sieht Spinoza darin begründet, dass sich die Religion, deren Ziel alleine der Gehorsam gegen Gottes Willen ist,
609
TPT 4, S. 147.
610
Eigenartiger Weise billigt Spinoza Jesus Christus einen solchen direkten Erkenntnisempfang im Geiste zu, der darum die Dinge adäquat begriffen habe, was allerdings die Kirchen nicht daran gehindert habe, ihn wiederum falsch zu verstehen, TPT 4, S. 149; TPT 5, S. 177.
611
TPT 5, S. 181ff.
Baruch Spinoza
192
in diesem ethischen Postulat auch mit der Ethik der Vernunft trifft, die ihr nicht widerspricht.612
5.
Die Philosophie Spinozas
5.1
Grundlinien
Nach dem oben zur Position Spinozas im Rahmen des Jüdischen Denkens Gesagten und nach Aufgabenstellung dieses Bandes wird Spinoza hier vor allem vor dem Hintergrund des Jüdischen Denkens dargestellt, wohl wissend, dass für die meisten Philosophie-Historiker Spinoza vor allem einen Teil der »europäischen« Philosophiegeschichte bildete. Für Spinoza selbst waren jedoch die drei in Hebräisch, Latein und Arabisch geschriebenen philosophischen Literaturen eine gemeinsame Tradition, die letztlich auf der griechischen Philosophie aufruhte.613 Aber schon Harry Austryn Wolfson vertrat in seiner The Philosophy of Spinoza die These, dass für Spinoza »Hebrew sources appear as the matrix in which the general outline of ideas was formed.«614 Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass die Philosophie Spinozas in weitem Maße geradezu als Auseinandersetzung mit seinen jüdisch-philosophischen Lehrmeistern verstanden werden kann, wofür ja der Theologisch-PolitischeTraktat ein weiteres untrügliches Indiz ist. Diesen Eindruck bestätigt auch eine Lektüre des philosophischen Werkes Milchamot ha-Schem (Kämpfe Gottes) von Levi Ben Gerson,615 einem hebräischen »Lehrbuch« der mittelalterlich arabischen und hebräischen Philosophie, das bis in die Formulierungen hinein die Themenstellungen Spinozas vorbereitet und in der Ethik wohl eigens zitiert wird. Diese »hebräisch«-griechische Matrix des spinozanischen Denkens zeigt sich zuallererst in der zentralen Deutung des Intellekts, oder der Vernunft, die nicht nur als anthropologische Kategorie gilt, sondern auch bei Spinoza noch ontologischer Natur war, das heißt, dass sie zuallererst eine göttliche übermenschliche Kategorie war, an welcher der Mensch und in gewisser Weise alle in der Welt existierenden Dinge teilhatten. Ein Zweites war die grundlegende Problematik des Verhältnisses von Materie und Intellekt, mittelalterlich meist als Materie und Form behandelt. In diesem Zusammenhang spielt auch für Spinoza, wie für die 612
TPT 15, S. 461.
613
Wolfson, The Philosophy of Spinoza (Spinoza), I, S. 10.
614
Wolfon, Spinoza, I, S. 13; und s. Y. Sonne, Spinoza und die jüdische Philosophie des Mittelal-
615
Milchamot Ha-Schem. Die Kämpfe Gottes. Religionsphilosophische und kosmische Fragen, in
ters, Firenze 1925. sechs Büchern abgehandelt von Levi ben Gerson, hrsg. von L. Lamm, Berlin 1923; Erstausgabe Riva di Trento 1560 (Neudruck Israel o.D.).
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mittelalterlichen Denker, der Mensch eine besondere Rolle, insofern er im eminenten Sinn als der Besitzer von beiden galt, also an ihm dieses Verhältnis zum Problem und zum Ansatzpunkt für Lösungsvorschläge wurde. Ein Letztes schließlich ist das gemeinsame Bemühen, die gesamte Existenz aus einer einzigen Ursache her zu verstehen und insofern das gesamte Seiende als eine Einheit zu erfassen. Gerade am letzteren Punkt zeigen sich jedoch die grundlegenden Trennlinien, die nichts desto weniger als Zeugen der gemeinsamen Matrix erscheinen. Spinoza hat mit der für ein strikt kausales oder auch emanatistischen Denkens inkonsequenten Dualität von Intellekt und Materie gebrochen, welcher auch noch sein wichtigster »lateinischer« Lehrmeister René Descartes (1596–1650) verschrieben war, von dem Spinoza ansonsten vieles, bis hinein in die Terminologie, übernommen hat.616 Damit hat Spinoza die von der mittelalterlichen Philosophie nur ausweichend und mit inkonsequenten Lösungen beantwortete Frage, wie aus einer rein intellektuellen ersten Ursache (Gott) schließlich die Materie verursacht werden konnte, da doch eine Ursache nur das bewirken kann, was in ihr selbst vorhanden ist, einer Entscheidung zugeführt.617 Die Platoniker sprachen in diesem Zusammenhang vom Nachlassen der göttlichen Emanationskraft mit voranschreitender Entfernung von der Emanationsquelle, die dann zu einem Umschlag vom Intellektuellen zum Materiellen führte618 oder aber man versuchte es mit dem Brückenschlag zur biblischen Schöpfungslehre, indem man dem Schöpfer einen Willen zuschrieb, der ohne einer notwendigen Kausalität zu unterliegen in freier Entscheidung eine creatio ex nihilo zu einem von ihm gewollten Zeitpunkt hervorbringen konnte.619 Spinoza ließ sich auf keine derartige Kompromisse ein. Er wählte aus der hebräischen Philosophie alleine deren rationalistischkausalistische Tradition und verwarf die ihr widersprechende voluntaristischkreationistische biblisch-rabbinische Traditionslinie. Dies hatte zur Konsequenz, dass der Gott Spinozas, auch diese Redeweise ist ein Erbe der Vergangenheit, kein willentlich handelnder war, sondern einer der gemäß der Notwendigkeit 616
Dazu siehe das trotz seiner irrtümlichen Grundannahmen lesenswerte hebräische Buch von Josef Ben-Schlomo, Perakim be-Torato schel Baruch Spinoza, Tel Aviv 19904 (1983). Ben Schlomo bestreitet jeglichen Einfluss des jüdischen Denkens auf Spinoza und lässt ihn ganz in der Auseinandersetzung mit Descartes aufgehen. Zu diesem Urteil kommt er allerdings, wie aus dem Anhang S. 99ff. hervorgeht, aufgrund eines völlig unhistorischen, fast ausschließlich auf die Bibel begründeten Maßstabs für das jüdische Denken, was einigermaßen unbegreiflich ist, da Ben-Josef als Autor bedeutender Werke zur Kabbala, insbesondere von Mosche Cordovero, hervorgetreten ist. Ben Schlomo sieht in Spinoza die totale Alternative zu den westlichen Religionen, ja eine Antithese zum Judentum (S. 99).
617
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 411.
618
S. ebd., S. 506.
619
S. ebd., S. 459ff., 496ff., 507ff., 532ff.
194
Baruch Spinoza
seiner Natur wirkte, reine Ursache im streng kausalen Sinne ist. Die nächst weitere fast noch drastischere Konsequenz war die, dass dieser Gott nunmehr als die wahrhafte Ursache von allem Seienden gemäß dem Grundsatz, dass Ursache und Wirkung keine sich widersprechenden Kategorien haben können, nunmehr in seinem Wesen nicht nur den Intellekt, sondern auch die Materie repräsentieren müsse. Sie nannte er nach dem Vorgang von Descartes, die »Ausdehnung« (Extension), um sie von der konkret irdischen Materie zu unterscheiden, wozu unten noch Weiteres zu sagen sein wird. Immerhin kann darauf verwiesen werden, dass die ersten Schritte in dieser Richtung bereits von den jüdischen Neuplatonikern Jizchak Jisraeli, Pseudo-Empedokles und vor allem Schlomo Ibn Gevirol getan wurden, nach denen bereits die erste emanierte Substanz, der Intellekt, aus Materie und Form besteht, die ihrerseits im »Wesen« und »Willen« der Gottheit ihr Urbild haben. Außerdem glaubt Ibn Gevirol, dass der Träger der materiellen Kategorien selbst noch eine intelligible Substanz sei, wodurch die Distanz von Materie und Form, d.h. Geist, ein weiteres Mal verringert wurde.620 Erhalten bleibt bei Spinoza die mittelalterliche Makro-Mikrokosmos-Struktur der Anthropologie, die auch als die Lehre von der »Gottebenbildlichkeit« des Menschen verstanden wurde. Der Mensch wird bei Spinoza nun wieder in ganzheitlicher Weise Ebenbild Gottes, das heißt als Einheit von Materie und Geist, und nicht nur als psychisches oder intellektuelles Wesen, wie dies die mittelalterlichen Denker sagen mussten, nachdem ihr Gott reiner Geist war. Ein weiteres Element dieser »Ebenbildlichkeit« des Menschen ist noch, dass er nun, wie die Gottheit selbst, aus der Notwendigkeit der Natur und nicht aufgrund eines freien Willens handelt. Josef Ben-Schlomo weist darauf hin, dass Spinoza bei seiner Darstellung der Philosophie in der »Ethik« den archimedischen Punkt des Philosophierens verschoben habe. Während die mittelalterlichen Denker den Weg der Schlussfolgerungen von der Wirkungsvielfalt in der Welt bis zur prima causa gegangen seien und mithin den Maßstab des Begrenzten und Verursachten für des Unverursachte und Unbegrenzte gesetzt hätten, und auch Descartes das menschliche denkende Individuum (cogito ergo sum – ich denke, also bin ich) zum Ausgangspunkt seines Philosophierens genommen habe, hätte Spinoza eine vollständige Umkehrung vollzogen. Spinoza habe nämlich die Reihenfolge umgekehrt und sei vom Absoluten, von der sich selbst verursachenden Ursache, das heißt von Gott aus, zu den Wirkungen vorangeschritten, weil letztere adäquat eben nur im Lichte dieser ersten Ursache zu verstehen sind. Dies ist zweifellos eine Aussage, die den Duktus des spinozanischen Hauptwerkes der Ethik621 trifft. Dennoch ist für 620
S. ebd., S. 534–539, 491–496, 502–506.
621
Ich zitiere nach der zweisprachigen Ausgabe: Spinoza, Tractatus de Intellectus Emendatione. Ethica. Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes. Ethik, hrsg. von K. Blumenstock,
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die zentrale Argumentation der Einheit von Materie und Form auch für Spinoza die Beobachtung am Menschen ausschlaggebend, wie im Kapitel über das Menschenbild deutlich werden wird. Dieser anthropologische Akzent wird gleichfalls durch das Werk im ganzen bestätigt, insofern es, wie sein Titel anzeigt und die Quantitäten der Themen innerhalb des Werkes betätigen, vor allem um den Menschen und dessen Weg zur Glückseligkeit (beatitudo) kreist und die ontologische Theologie, welche im öffentlichen Bewusstsein viel stärker präsent ist, doch auch aus der Betrachtung des begrenzten und verursachten Menschen gewonnen ist. All diese Bezüge zur mittelalterlichen Tradition sind dem Leser zunächst durch Spinozas Darstellungsweise »more geometrico«, das heißt mit den von der euklidischen Geometrie übernommenen Argumentationsweise in Definitionen, Axiomen, Lehrsätzen und Anmerkungen verstellt, werden aber der weitergehenden Reflexion deutlich. Ein letztes Indiz für diese Verbundenheit gerade mit der hebräisch-philosophischen Tradition ist, dass Spinoza, der in der Ethik seine Quellen fast nie bezeichnet, neben dem wohl nur zwei Mal genannten Descartes und den Stoikern, an prominenter Stelle einmal eigens »einige Hebräer«622 nennt, welchen er die Ehre gibt, die zentrale These Spinozas, nämlich die Vereinigung von »Denken« und »Ausdehnung« in der einen Substanz, sprich in der Gottheit, »gleichsam durch einen Nebel gesehen zu haben«. Stärker konnte die Filiation des eigenen Denkens aus der jüdischen Tradition in diesem Werk kaum ausgedrückt werden. Die Philosophie Spinozas wird zu Recht als eine religiöse oder theologische Philosophie623 bezeichnet, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie als »Ethik« konzipiert ist, deren Ziel die Weisung des Weges zur menschlichen Glückseligkeit ist. Religiös ist sie auch darin, dass sie, recht betrachtet ohne Not, von Gott als der Ursache allen Seins und dem Ziel der menschlichen Erkenntnis spricht. Sie wiederum, die Gotteserkenntnis, macht des Menschen Glückseligkeit aus.
deutsch auf der Grundlage der Übersetzung von Berthold Auerbach (s. den sehr versteckten Vermerk S. 565), Darmstadt 19894. 622
Ethik II, 7. Lehrsatz, S. 171.
623
Vgl. F. Bülow, Spinoza. Die Ethik Schriften und Briefe, Stuttgart 1976, die Einführung; H.A. Wolfson, The Philosophy of Spinoza, S. 345ff.
Baruch Spinoza
196
5.2
Die Lehre von der Erkenntnis
5.2.1 Drei Erkenntnisgattungen Die Frage der richtigen Erkenntnis des Menschen spielt in Spinozas Denken eine bedeutende Rolle. Er kommt darauf in mehreren seiner Texte zu sprechen, in der Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück,624 im Traktat über die Berichtigung des Verstandes 625 und schließlich in der Ethik, 626 in welcher vor allem die »Erkenntnis der dritten Art« als grundlegend für die Glückseligkeit des Menschen erklärt wird. Beherrscht ist Spinozas Lehre von der Erkenntnis durch deren Einteilung in eben drei Gattungen, wobei allerdings die »Erkenntnis der ersten Gattung« in zwei Teile zerfällt, weshalb Spinoza neben den drei zuweilen von vier Arten der Erkenntnis spricht. Harry A. Wolfson627 fasst sie kurz so zusammen: 1. Sinneswahrnehmung, Imagination und Gedächtnis, 2. Vernunfterkenntnis, zerfallend in a. einfache Vorstellungen (simple ideas, Ideen), b. allgemeine Auffassungen (common notions) und c. die Schlussfolgerungen aus ihnen. 3. Erkenntnis von Vorstellungen (Ideen) insofern sie auf Gott bezogen sind. Von diesen drei Erkenntnisgattungen erklärt Spinoza die erste für »inadäquat«, während die beiden übrigen »adäquat« zu nennen sind. J. Adler hat in einem Aufsatz zu den »Epistemological Categories in Delmedigo and Spinoza«628 die These vertreten, dass Spinoza, in dessen Bibliothek sich aller Wahrscheinlichkeit nach der Sefer ’Elim von Josef Schlomo Delmedigo befunden hatte,629 seine eigenen drei Erkenntnisgattungen von Delmedigos oben630 besprochenen Lehren hinsichtlich der dreifachen Wahrheit hatte inspirieren lassen. Demgegenüber argumentiert Wolfson, dass die Grundstruktur der drei, beziehungsweise vier Erkenntnisweisen Spinozas von den im ersten Band dieses Buches631 zitierten drei plus einem Erkenntnismittel Sa‘adjas vorgegeben worden sei, nämlich 1. der Sinneswahrnehmung, 2. der Erkenntnis mittels der Vernunft und 3. der Erkenntnis aufgrund der notwendigen Schlussfolgerung, zu denen sich als vierte schließlich die wahre Tradition gesellte, die ihrerseits auf den erstgenannten drei Prinzipien aufgebaut sei. Neben den bisher genannten epistemologischen Konzeptionen spielt außerdem die Epistemo-
624
Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, hrsg. von C. Geb-
625
In: Spinoza, Opera.Werke, Lateinisch und deutsch, Zweiter Band, hrsg. von K. Blumenstock,
hardt, Hamburg 1965, c. 1–2, S. 60ff. Darmstadt 19894. 626
Ethik II, Prop. 40, Scholium 2, S. 227.
627
Spinoza, II, S. 131.
628
Studia Spinozana 15 (1999), S. 205–227.
629
S. Adler, Epistemological, S. 207f.
630
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III., B., 5.
631
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365.
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logie von Moses Maimonides eine wichtige Rolle, die dieser in seinem Be’ur Millot ha-Higajon (Erläuterung der logischen Begriffe) 632 dargestellt hatte. Es besteht allerdings kein Zweifel, dass Spinoza mit seiner Lehre von den drei Erkenntnisweisen die oben gezeichnete Diskussion um die unterschiedlichen Wahrheiten aufnimmt und fortführt, darum sollen hier die wichtigsten Positionen tabellarisch nebeneinandergestellt und daraus einige Schlussfolgerungen gezogen werden (M = Maimonides, D = Delmedigo, S = Spinoza, die Ziffern bezeichnen die drei Erkenntnisstufen eines jeden Denkers): Maimonides
Delmedigo
Spinoza S3. Intuitive Erkenntnis, adäquate Vorstellung der Attribute Gottes, als Voraussetzung weiterer Erkenntnis, sub specie aeternitatis
M1a. Wahre Erkenntnis aufgrund von Sinneswahrnehmung, Syllogismen auf der Basis von primären Axiomen und sekundär erweislichen Sätzen, Erfahrung, das ist: Syllogismus aufgrund von Beweisen (mofti) M1a/b: 1a plus vollkommene Imaginationskraft schafft Prophetie M2. Erkenntnis aufgrund der Argumentation (Nizzuach) mit von Gruppen allgemein akzeptierten Meinungen, M3. Erkenntnis aufgrund argumentierender Rhetorik (Halaza) mit gruppenspezifischen Traditionsauffassungen
D1. wahre Erkenntnis durch Schlussfolgerung aufgrund von axiomatischen und auf Sinneswahrnehmung gestützten Beweisen
S2. Wahrer Glaube, adäquate Vorstellung, aufgrund der Vernunft, lehrt wahres vom Falschen zu unterscheiden
632
D2. Überzeugung / Denken dank dialektischer Argumentation aufgrund von allgemein akzeptierten Meinungen, kann falsch sein D3. Glaube aufgrund von Tradition und Autorität, kann falsch sein, Prophetie als Erzeugnis der Imagination
S1a. Glaube (inadäquate Vorstellungen) aufgrund von Hörensagen und Vorstellungen; Prophetie als Frucht der Imagination. S1b. Glauben aufgrund zufälliger Erfahrung, Ursache der Falschheit
Hier nach der Ausgabe Frankfurt/O., 1761, zitiert. S. Internet: jnul.huji.ac.il/dl/books/djvu.
Baruch Spinoza
198
Maimonides ist den beiden folgenden Autoren bekannt, weshalb man bei einem Vergleich der drei Positionen sinnvollerweise bei ihm einsetzt. Für Maimonides ist die unter M1 aufgeführte Position die einzige universale, für alle Menschen gleichermaßen gültige Erkenntnisweise, nämlich die von der Sinneswahrnehmung und von Erkenntnisaxiomen ausgehenden Schlussfolgerung. Nur partikulare, wenn auch noch argumentative Bedeutung, hat die nächste Position, M2, bei welcher aufgrund von allgemein akzeptierten Meinungen innerhalb einer bestimmten Volksgruppe aus argumentiert wird. Die letzte Stelle nimmt schließlich die Erkenntnis aufgrund von reinen Traditionsaussagen ein, bei der man nicht mehr argumentieren, sondern innerhalb einer abgeschlossenen Gruppe nur noch rhetorisch zu überzeugen versucht. Wichtig ist, dass für Maimonides die Prophetie als natürliche Gabe des menschlichen Intellekts, zu der allerdings eine kräftige Imaginationskraft treten muss, welche die rein intellektuellen Erkenntnisse in Bilder und Sprache zu übersetzen vermag,633 zur ersten, das heißt höchsten Erkenntnisform gehört. Gerade an dieser Stelle hat sich Delmedigo von Maimonides getrennt und hat die prophetische Erkenntnis vollkommen von der intellektuellen getrennt und sie der menschlichen Imaginationskraft zugeschrieben, mit der Folge, dass die prophetische Wahrheit strikt von der wissenschaftlichen Wahrheit zu trennen ist, ja die Botschaft der Propheten reines Bild ist, das nicht mit der existierenden Wirklichkeit zu verwechseln ist. Dies ist kein Schade, weil das Anliegen der Propheten nicht die Vermittlung von wissenschaftlicher Wahrheit, sondern von ethischem Handeln ist, wie der oben634 angeführte Passus deutlich ausspricht. Spinoza folgt in dieser Verschiebung der Prophetie Delmedigo, trennt sie von der Vernunft, schreibt sie der Imagination zu und gibt ihr dasselbe ethische, nichtepistemische Ziel. Die eigentliche wirklich wahrhafte rationale Erkenntnis bezeichnet Spinoza eigenartigerweise mit dem Begriff »wahrer Glaube« (Kurze Abhandlung)635 beziehungsweis »adäquate Vorstellung« (ideas adaequatas) oder »Vernunft« (ratio).636 Die aufgrund von allgemein akzeptierten Auffassungen argumentierende Erkenntnis, die bei Maimonides und Delmedigo immerhin noch eine Stufe höher stand als die reinen traditionellen Glaubensüberzeugungen (M2, D2), ist bei Spinoza zu den letzteren hinabgerückt. Also allgemeine Meinungen und prophetische Erkenntnisse gelten ihm gleichermaßen gering, sie sind alle-
633
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 469.
634
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III., B., 5.1.
635
Kurze Abhandlung 1, S. 60.
636
Ethik, 2, Prop. 40, Scholium 2, S. 227.
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samt »inadäquate Vorstellungen«.637 Hierher gehören für Spinoza selbst die für Maimonides noch so hoch angesiedelten »Erfahrungen«. Völlig neu und als spezifisch spinozanisch zu beurteilen ist die an höchster Stelle (S3)638 stehende »intuitive Erkenntnis« (scientia intuitiva), die in einer merkwürdigen Schwebe zwischen der spontanen Erkenntnis der Grundaxiome (der Teil ist kleiner als das Ganze) und der fast mystische Untertöne bekommenden Erkenntnis der immanenten Allursächlichkeit der Gottheit steht.
5.2.2 Die intuitive Erkenntnis, Erkenntnis der »dritten Art« Diese intuitive Erkenntnis darf nicht als überrationale Erkenntnis verstanden werden, sondern müsste nach modernem Sprachgebrauch eher als spontane Erkenntnis benannt werden. Spinoza erläutert eine solche spontane, intuitive Erkenntnis am Beispiel der Zahlenreihe 1, 2, 3, für die eine vierte Zahl gesucht wird, die zur 3 im selben Verhältnis steht wie die 2 zur 1. Die gesuchte Zahl ist natürlich die Zahl 6. Die erste Erkenntnisart wird zu dieser Zahl nach dem Brauch der Kaufleute so kommen, dass man die zweite mit der dritten Zahl multipliziert und dann durch die erste teilt: 2 x 3 = 6, geteilt durch 1 ergibt 6. Die zweite Erkenntnisart wird nach dem Lehrsatz 19 im siebten Buch des Euklid nach der allgemeinen Eigenschaft der Proportionen auf die 6 kommen. Die dritte Erkenntnisart wird hingegen auf den ersten Blick erkennen »dass die vierte Proportionszahl 6 ist, und zwar viel klarer, weil wir aus dem Verhältnisse der ersten Zahl zur zweiten, das wir auf den ersten Blick sehen (uno intuito videmus), die vierte selbst erschließen.«639 Dieses Beispiel für eine spontane, intuitive Erkenntnis täuscht allerdings über deren weitergehende Bedeutung hinweg, die gänzlich in der Ontologie Spinozas begründet ist. Mit anderen Worten, diese dritte Erkenntnisart ist von der Ontologie Spinozas her definiert und ohne sie nicht zu haben. Um dies zu verstehen, muss man einige Schritte vollziehen. Im Teil zwei der Ethik sagt Spinoza in der 44. Propositio, noch durchaus gemäß dem antik-mittelalterlichen Vernunftbegriff, dass es in der Natur der Vernunft (ratio) liege, »die Dinge nicht als zufälli-
637
Ethik 2, Prop. 41 Dem., S. 229: »In der vorherigen Anmerkung haben wir gesagt, dass zur Erkenntnis der ersten Gattung alle diejenigen Vorstellungen gehören, welche inadäquat und verworren sind; und folglich ist diese Erkenntnis die einzige Ursache der Falschheit. Ferner haben wir gesagt, dass zur Erkenntnis der zweiten und dritten Gattung diejenigen gehören, welche adäquat sind. Folglich sind sie nothwendig die wahre.«
638
Spinoza verkehrt die Reihenfolge bei der Aufzählung und spricht in aufsteigender Qualität von
639
Ethik 2, Prop. 40, Scholium 2, S. 227ff.
erster, zweiter und dritter Gattung der Erkenntnis.
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200
ge, sondern als nothwendige zu betrachten«.640 Daraus folgt für Spinoza im Folgesatz 2,641 dass es in der Natur der Vernunft liege, die Dinge »unter der Form der Ewigkeit aufzufassen (sub quâdam aeternitatis specie)«. Was diese Betrachtungsweise sub specie aeternitatis bedeutet, sagt er im »Beweis« dieses Folgesatzes: »Denn es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge als nothwendige und nicht als zufällige zu betrachten […]. Diese Nothwendigkeit der Dinge fasst sie aber (nach Lehrsatz 41 dieses Theiles) wahrhaft auf, d.h. […] wie sie an sich ist. Aber (nach Lehrsatz 16, Theil 1) ist diese Nothwendigkeit der Dinge die Nothwendigkeit der ewigen Natur Gottes selbst, also liegt es in der Natur der Vernunft, die Dinge unter dieser Form der Ewigkeit (sub hâc aeternitatis specie) zu betrachten.«642 Die wahre Erkenntnis schließt also die spinozanische Vorstellung von Gott als der notwendigen und immanenten Ursache allen Seins ein. Dies betont Spinoza sogleich ein weiteres Mal, wenn er sagt: »die einzelnen Dinge können aber […] nicht ohne Gott begriffen werden, weil sie aber […] Gott zur Ursache haben, insofern er unter einem Attribute betrachtet wird, dessen Modi die Dinge selbst sind, müssen nothwendig ihre Vorstellungen […] den Begriff des Attributs derselben, das heisst […] das ewige und unendliche Wesen Gottes in sich schließen.«643 Diese Grundlage jeglicher adäquaten Erkenntnis kann sowohl mit der zweiten wie auch mit der dritten Erkenntnisart erlangt werden, wobei sogar die zweite als Zwischenschritt zur dritten Erkenntnis anerkannt wird,644 ein weiterer Beleg dafür, dass die dritte Erkenntnis nicht als mystische Intuition missverstanden werden darf, wenn sie auch strukturell sehr nahe an entsprechenden mystischen kabbalistischen und hasidischen Konzeptionen liegt.645 Die dritte, die »intuitive« Erkenntnisart, die für Spinoza die höchste neoetische (intellektuelle) Tugend ist, wird nun einmal in einer Weise definiert, welche anzeigt, dass das Prädikat »intuitiv« für Spinoza weniger vom Prozess der Erkenntnis, als von deren Ziel und Inhalt her definiert ist. Also nicht die Spontaneität der Einsicht macht diese Erkenntnis zu einer intuitiven, sondern deren Inhalt:
640
Ethik, S. 233.
641
Ethik, S. 235.
642
Ethik 2 Prop. 44, Corollarium 2, Demonstratio, S. 235.
643
Ethik 2, Prop. 45, Demonstratio, S. 235ff.
644
Ethik 5, Prop. 28, S. 539.
645
S. dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 295f., 329, 341f., 363, 372, 377, 767, 769, 772f., 774, 781, 790, 830, 831f., 849.
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»Die dritte Art der Erkenntnis geht von der adäquaten Vorstellung gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge […]. Je mehr wir daher die Dinge auf diese Weise erkennen, um so mehr erkennen wir […] Gott, und folglich […] ist die höchste Tugend des Geistes (mentis), d.h. […] das Vermögen oder die Natur des Geistes oder […] sein höchstes Bestreben, die Dinge nach der dritten Art der Erkenntnis zu erkennen.«646 Wesentlich für die dritte Erkenntnis ist also der allumfassende Gottesbezug, die Sicht sub specie aeternitatis. Dies wird im Scholium zum Lehrsatz (Propositio) 29647 nochmals verdeutlicht. Spinoza unterscheidet dort zweierlei Arten, in welchen wir die Dinge als wirkliche begreifen. Die erste Art ist die, die Dinge in Beziehung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort als daseiend zu begreifen, die zweite hingegen ist die »insofern wir sie [die Dinge] als in Gott enthalten und aus der Nothwendigkeit der göttlichen Natur folgend betrachten. Diejenigen aber, die auf diese zweite Art als wahr oder wirklich begriffen werden, begreifen wir unter der Form der Ewigkeit (sub aeternitatis specie), und ihre Vorstellungen schliessen die ewige und unendliche Wesenheit Gottes in sich.«648
5.2.3 Die dritte Erkenntnis als Weg und Inbegriff der Glückseligkeit Die Sonderstellung der dritten Art der Erkenntnis im Rahmen der spinozanischen Erkenntnislehre erweist sich schließlich darin, dass sie nicht eine nur intellektuelle Errungenschaft bleibt, sondern zum Inbegriff des guten und gelingenden Lebens für Spinoza wird. Aus dieser Erkenntnis entspringt im Menschen »die verstandesmäßige Liebe Gottes (amor Dei intellectualis)«.649 Und in dieser Liebe zu
646
Ethik 5, Prop. 25, Demonstratio, S. 537.
647
Ethik 5, S. 541.
648
Ethik 5, Prop. 29, Scholium, S. 541. Die Nähe dieser Auffassungen zu den späteren hasidischen Forderungen, alles nur im Lichte der Gottheit wahrzunehmen, ist unverkennbar, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 766ff., 780ff., 889ff.; Wolfson, Spinoza, betont zur dritten Art der Erkenntnis, sie komme, im Gegensatz zur zweiten, ohne die Sinneswahrnehmung zustande (II, S. 155), und: »The common notions [notiones communes] are formed by the mind from that which the body has in common with other bodies [zweite Art der Erkenntnis], whereas the idea of God arises in in the mind itself [drittte Art der Erkenntnis] by virtue of its being a part of the infinite intellect of God.« (II, S. 162f). Der unendliche Intellekt Gottes ist einer der unmittelbaren Modi, welche aus den Attributen Gottes entspringen; für die Extensio sind dies Ruhe und Bewegung und für das Denken eben der unendliche Intellekt. (s. ebd., S. 161).
649
Ethik, 5, Prop. 33, S. 543.
Baruch Spinoza
202
Gott besteht die Glückseligkeit (beatitudo) des Menschen.650 Diese Erkenntnis, aber auch schon die zweite, führt den Menschen zur Freiheit vom Leiden unter den »Affecten«, also jenen halben, inadäquaten Erkenntnissen, die den Menschen hin und her reißen. Diese Erkenntnis lässt auch die Schrecken des Todes verblassen, weil »nämlich der Tod um so weniger schädlich ist, je grösser die klare und bestimmte Erkenntnis des Geistes ist, und folglich je mehr der Geist (mens) Gott liebt.«651 Es ist diese Erkenntnis, schließlich, welche dem Menschen, das heißt einem Teil seines Geistes alleine, die Unsterblichkeit verschafft, ein anscheinend unstimmiges Relikt der maimonidischen Philosophie,652 das im Kapitel über die spinozanische Anthropologie noch zu erörtern sein wird.
5.3
Die intelligible und ausgedehnte Substanz
5.3.1 Gott als intelligible und ausgedehnte Substanz Am Anfang der Ethik Spinozas steht der erste Teil mit dem Titel »Von Gott« und zwar der Auffassung folgend, dass man nichts »Verursachtes«, und das ist alles in dieser Welt, ohne die Kenntnis von dessen Ursache richtig erkennen könne653 und man darum sinnvollerweise bei der ersten Ursache einsetze.654 Spinoza eröffnet seine Ethik mit einer Reihe von Definitionen, die letztlich auf die Definition Gottes als der »ersten Ursache« hinauslaufen. Die erste Definition stellt zunächst fest, dass das schlechthin Unverursachte die Ursache seiner selbst (causa sui) sein müsse und dass bei diesem Selbstverursachten das Wesen (essentia) zugleich dessen Existenz (existentia) beinhalte. Mit anderen Worten, zur Essenz dieses Wesens gehört immer auch die Existenz, was ja zum Beispiel im Falle des Menschen nicht zutrifft: Er hat ein bestimmtes Wesen (Essenz), muss deshalb aber noch nicht zwangsläufig auch wirklich existieren. Spinoza spricht hier also von dem, was die mittelalterlichen Philosophen als das »notwendig Existierende« bezeichnet haben, das also nicht nur eine mögliche Existenz hat wie die gesamte »Schöpfung«. Nur wenn es ein solches notwendig Existierendes gibt, so die Mittelalterlichen, ist die Existenz der gesamten Welt, die ja nur möglicherweise existiert, denkbar, und dieses war für sie eben die prima causa, das heißt Gott.
650
Ethik, 5, Prop. 42, Demonstratio, S. 557.
651
Ethik 5, Prop. 38. Schol., S. 549.
652
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 416, 475.
653
Ethik, Einleitung, S. 71.
654
Ebd., S. 67.
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203
Der nächste Schritt in Spinozas Definitionen ist der entscheidende, in ihm definiert er den Begriff der Substanz.655 In die mittelalterliche jüdische Philosophie wurde dieser aristotelische Begriff von Sa‘adja Ga’on eingeführt.656 Laut den zehn aristotelischen Kategorien bestehen alle Dinge in dieser Welt aus Substanz und Akzidenzien. Die Substanz ist das Wesen einer Sache, das was ein Ding ausmacht, etwas, das in sich selbst besteht, also alleine bestehen kann ohne jene Akzidenzien, so zum Beispiel der Tisch. Im Gegensatz dazu sind die Akzidenzien Eigenschaften, die in etwas anderem existieren und ohne jenes andere nicht bestehen können, also die Farbe des Tisches, oder seine Größe etc. Da nun die Gottheit, wie schon Sa‘adja feststellte, ganz anders als alles Verursachte und Geschaffene ist, absolute Einheit ist, hat Er weder Akzidenzien noch Substanz, Er ist völlig verschieden. Im Zuge dieser Zweiteilung in Schöpfer und Geschöpfe konnten die mittelalterlichen Denker auch nichtkörperlichen Wesen Substanz zuschreiben, wie der Seele, der formlosen Urmaterie, oder den abstrakten Formen. Dieser mittelalterliche Substanzbegriff hat aber grundlegende Unschärfen. Wenn eine Substanz etwas ist, das in sich selbst bestehen kann (subsitiert), wie steht es dann mit allen Körpern in dieser Welt, die ja allesamt im Raume bestehen und ohne diesen nicht existieren können, oder die Materie, welche nicht ohne Form existiert und die Seele nicht ohne Körper. Hier macht Spinoza einen konsequenten Schnitt und sagt: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und aus sich begriffen wird; das heisst das, dessen Begriff nicht des Begriffes eines anderen Dinges bedarf, um daraus gebildet werden zu müssen.«657 Der erste Teil der Definition »was in sich ist«, ist noch durchaus mittelalterlich, aber durch die Hinzufügung der Begreifbarkeit aus sich selbst, wird schnell klar, dass es hier nur eines geben kann, was vollkommen aus sich selbst begriffen werden kann, nämlich die »erste Ursache«. Alles Übrige bedarf zu seiner Begreifbarkeit die vorangegangenen Ursachen. Der Tisch bedarf des Holzes oder sonstiger Materialien, bedarf des Tischlers, bedarf der Menschen, die eine Ablage brauchen, oder auch des Raumes, in dem er steht. Dies trifft auf alles in dieser Welt zu. Darum lautet schließlich die Zieldefinition: »Unter Gott verstehe ich das schlechthin unendlich Seyende (ens absolutè infinitum), d.h. die Substanz, die aus unendlichen Attributen besteht, von denen jedes ein ewiges und unendliches Wesen ausdrückt.«658 655
Zum Folgenden vgl. Wolfson, Spinoza, I, c. 3, S. 61ff.
656
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 379–384.
657
Ethik, 1, Def. 3, S. 87.
Baruch Spinoza
204
Es ist alleine Gott, der den vorangegangenen Substanzdefinitionen entsprechen kann, es gibt demnach nur eine einzige Substanz,659 und wenn dem so ist, muss alles Übrige durch ihn und in ihm bestehen und ist ohne ihn weder existenzfähig noch begreifbar. »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden.«660 Das muss nun natürlich auch für die Vielfalt der nichtsubstanziellen Attribute gelten, zu denen, wie sogleich deutlich wird, noch so genannte Modi oder Affectionen treten, zu welchen auch die Materie gehört. Mit dieser, nicht gänzlich neuen, Substanzdefinition661 hat Spinoza die kompromisslose Konsequenz aus der mittelalterlichen Rede, Gott sei die Ursache aller Ursachen, gezogen vor allem bezüglich des dort nie wirklich gelösten Problems der Herkunft der Materie. Nach dem Kausalprinzip, nach welchem die Ursache nur Wirkungen hervorbringen könne, die in ihr selbst angelegt sind, wie das Feuer die Wärme oder das Eis die Kälte, nicht aber umgekehrt, war es nicht denkbar, dass Gott, die absolute Einheit, unmittelbare Ursache zweier so gegensätzlicher Substanzen wie Intellekt und Materie sein könne. Die Lösungen des Problems sind die bekannten, im ersten Band dieser Darstellung beschriebenen, Hypostasen des allmählichen Übergangs des Intelligiblen zum Materiellen662 oder eben der freie Schöpfungswille.663 Es ist diese Problematik, welche Spinoza mit seiner Zerschlagung des gordischen Knotens gelöst sieht, wenn er nach diesen Feststellungen bemerkt: »alle, die die göttliche Natur irgendwie erwogen haben, verneinen, dass Gott körperlich sey […] Inzwischen zeigen sie jedoch durch andere Gründe, mit denen sie eben dies zu beweisen suchen, deutlich, dass sie die körperliche oder ausgedehnte Substanz (substantia corporea sive extensa) selbst von der göttlichen Natur durchaus trennen und als von Gott geschaffen annehmen. Aus welcher göttlichen Macht sie aber hat geschaffen werden können, das wissen sie durchaus nicht, was deutlich zeigt, dass sie das, was sie selbst sagen, nicht verstehen. Ich wenigstens habe meinem Urtheile nach deutlich genug bewiesen […], dass keine Substanz von einer anderen hervorgebracht oder erschaffen werden kann. Ferner haben wir […] gezeigt, dass es ausser Gott keine Substanz geben noch begriffen werden kann, und hieraus haben
658
Ethik, 1, Def. 3, S. 87.
659
Ethik, 1, Prop. 14, S. 105.
660
Ethik, 1, Prop. 15, S. 107.
661
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 528–532, 536–539. Die Welt als Aspekt der Gottheit wird auch in
662
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 410–414, 451ff., 491ff., 502ff., 534ff., 558f.
663
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 459ff., 496ff., 505ff., 532ff.
der Kabbala gedacht, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 251, 634–638, 891.
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205
wir geschlossen, dass die ausgedehnte Substanz eines von den unendlichen Attributen Gottes ist.«664 Ist die »körperliche oder ausgedehnte« Substanz – die hier nur uneigentlich mit dem Substanzbegriff benannt wird – eines von den Attributen der einen und einzigen Substanz, das heißt Gottes, so ist das mittelalterliche Kausalproblem gelöst: Gott kann dann auch die Ursache des Körperlich-Materiellen sein. Der radikale Substanzbegriff, der nur einem Wesen zukommt, das aus sich selbst existiert und begriffen werden kann, hat zur Folge, dass man auch nicht im Sinne des Kreationismus davon reden kann, Gott habe die »Substanz der Materie« hervorgebracht. Kurz, nicht nur das rein Geistig- Intellektuelle, sondern auch das Materielle, das hier mit Descartes »Ausdehnung« (Extension) benannt wird,665 gehört zur Natur der göttlichen Substanz. Nachdem schon für die mittelalterlichen Philosophen der Intellekt, oder das Denken, schlechthin als Gottes Wesen bestimmt worden war,666 kann man nach Spinoza nunmehr sagen: »das ausgedehnte Ding (res extensa) und das denkende Ding (res cogitans) (sind) entweder Attribute Gottes oder […] Affectionen [Zustände] der Attribute Gottes.«667 Also Geist und Materie gehören gleichermaßen zur Natur Gottes. Dass diese Auffassung sich sodann auch im Menschenbild auswirken wird, oder von dort her beeinflusst war, ist naheliegend, denn auch für den Menschen wird nun gelten, dass bei ihm Geist und Materie nicht zwei substanziell verschiedene Teile des einen Menschen sind, wozu unten noch Näheres auszuführen ist. Es ist der mittelalterlichen dualistischen Weltsicht, nach der es diese beiden grundlegenden Wesenheiten, Geist (bzw. Form) und Materie gibt, geschuldet, dass die beiden genannten Attribute auch für Spinoza im Zentrum seiner Lehre von den göttlichen Attributen steht. Dennoch betont Spinoza, dass es nicht bei diesen vom Menschen nun einmal wahrgenommenen Gottesattributen bleibt, sondern dass Gott, als die Ursache des unendlichen Seins nicht anders sein kann, als dass er eben unendlich viele Attribute besitzt. Darum sagt Spinoza im 11. Lehrsatz:
664
Ethik, 1, Prop. 15, Scholium, S. 107f.
665
Vgl. W. Röd, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, München
666
Meist ergibt sich dies im Rückschluss, da man über Gott selbst doch eigentlich nichts aussagen
667
Ethik, 1, Prop. 14, Corrolarium (Folgesatz), 2.
2000, II, S. 28. kann, s. Bd. 1, S. 23, 226, 417; Bd. 2, S. 256, 432.
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»Gott oder die aus unendlichen Attributen (attributibus) bestehende Substanz, von denen ein jedes ewige und unendliche Wesenheit (essentiam) ausdrückt, ist nothwendig da (necessariò existit).«668
5.3.2 Die Attribute Gottes Die Frage, ob man der Gottheit, wie es die biblisch-rabbinische Religion ohne Zögern tut, Attribute wie gerecht, barmherzig, liebend, Vater und dergleichen zuschreiben könne, war ein zentrales Thema der mittelalterlichen jüdischen Philosophie. Meist wurde die Frage negativ beschieden. Allenfalls, so konnte man zugestehen, könne man von so genannten »Wirkattributen« sprechen, also von den Menschen so wahrgenommene göttliche Wirkungen in der Welt, die von ihnen entsprechend benannt wurden, die aber nichts mit dem Wesen der Gottheit gemein hätten.669 Eine weitere Möglichkeit waren die »Negationsattribute«, die nichts positiv über die Gottheit aussagen wollten, sondern nur die Gegenteiligen Mängel von ihm ausschließen sollten, etwa wenn man sagt Gott lebe, so sei damit nicht »Leben« im irdischen Sinn gemeint, sondern nur, dass man nicht glauben solle, Gott sei »tot« etc. Manche wollten noch Relationsattribute anerkennen, die sie unschädlich für das Verständnis vom göttlichen Wesen hielten. Denn wenn ein Mensch zugleich Vater, Sohn, Ehemann und Onkel sei, so ändere dies doch nichts an seinem einheitlichen Wesen. Mit dieser mittelalterlich-philosophischen Tradition hat Spinoza vollkommen gebrochen, wofür er aber Wegbereiter wie etwa Hasdaj Crescas670 hatte. Für Spinoza ist die einzige existierende Substanz zwangsläufig Trägerin aller möglichen Attribute. Es ist nun an der Zeit zu fragen, was Spinoza denn unter einem Attribut versteht. Dazu äußert er sich wiederum in den den ersten Teil der Ethik einleitenden Definitionen. Nach der schon besprochenen Substanzdefinition heißt es da: »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand (intellectus) von der Substanz als ihr Wesen ausmachend erkennt (ejusdem essentiam constituens).«671
668
Ethik, 1, Prop. 11, S. 99. Gott kann kein Attribut abgesprochen werden, Ethik, 1, Prop. 14,
669
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 381, 411, 442ff.
670
Crescas argumentiert gegen Maimonides, dass die von Maimonides zugelassenen »Negations-
Demonstratio, S. 105
attribute« tatsächlich doch positive Attributierungen sind, die auch ohne Vorbehalt als solche anzuerkennen seien, als Attribute des Wesens; vgl. M. Waxmann, The Philosophy of Don Hasdai Crescas, New York 1920 (auch als: Kessinger Publishing’s Rare Reprints), S. 66–69. 671
Ethik, 1, Definitiones 4, S. 87.
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Daraus ist zunächst zu entnehmen, dass das Attribut offenbar die Essenz der Substanz konstituiert, also nicht eine zufällige Qualität ist, die auch fehlen könnte, wie das vom mittelalterlichen Akzidenz galt – der Tisch blieb danach Tisch, auch wenn seine rote Farbe fehlte. Nicht so die spinozanische Substanz Gottes. Hier gilt, dass etwa die zentralen Attribute der Ausdehnung wie des Denkens wesentlich für die Substanz sind, ohne sie wäre die Substanz verringert. Dieses Verständnis wird nun allerdings dadurch in Frage gestellt, wenn Spinoza in dieser Definition sagt »was der Verstand von der Substanz als ihr Wesen ausmachend erkennt«. Dies könnte bedeuten, dass diese Attribute (im Sinne des mittelalterlichen Nominalismus) nur durch den menschlichen Verstand als solche wahrgenommen oder konzipiert werden, ohne dass ihnen eine wesenhafte Wirklichkeit in der Gottheit entspricht. Dieser falsche Eindruck wird jedoch an späterer Stelle der Ethik nachdrücklich korrigiert. Dort heißt es unter anderem: »Gott oder alle Attribute sind ewig. […] Ferner ist unter Gottes Attributen das zu verstehen, was (nach Def. 4) die Wesenheit der göttlichen Substanz ausdrückt (Divinae substantiae essentiam exprimit), d.h. das, was zur Substanz gehört (quod ad substantiam pertinet): diess selbige, sage ich, müssen die Attribute selbst enthalten. Nun gehört zur Natur der Substanz […] die Ewigkeit, folglich muss jedes Attribut die Ewigkeit enthalten, folglich sind alle ewig.«672 Also die Attribute sind nichts, was ein an die Zeit gebundener menschlicher Intellekt von Gott erkennen oder konzipieren mag, sondern sie sind ewig und unveränderlich wie die Gottheit selbst,673 eben weil sie deren Wesen zum Ausdruck bringen oder konstituieren: »Das Denken (cogitatio) ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Wesen (res cogitans).«674 »Die Ausdehnung (extensio) ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein ausgedehntes Wesen (res extensa).«675 Zugleich sind die Attribute aber das, woran menschliche Gotteserkenntnis möglich ist.
5.3.3 Die Modi oder Affectionen der göttlichen Substanz Wenn nun Gott die einzige Substanz des Daseins ist und die Attribute, gleich ewig wie Er, das Wesen der Gottheit konstituieren, so muss sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis die nicht ewigen, zeitlichen Einzeldinge zur göttli672
Ethik, 1, Prop. 19 samt Demonstratio, S. 121.
673
Ethik, 1, Prop. 20, Corrollarium 2, S. 123.
674
Ethik, 2, Prop. 1, S. 163.
675
Ethik, 2, Prop. 2, S. 165.
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chen Substanz stehen, die sie trägt, verursacht und begreifen lässt. Dies zu erläutern dient die umfassende Lehre von den Modi. Während nun für die Gottheit selbst gilt, dass bei ihr das Dasein (Existenz) und das Wesen (Essenz) identisch sind,676 gilt dies nicht für die Einzeldinge in dieser Welt. Das Wesen des Menschen ist unabhängig von der Existenz eines besonderen menschlichen Individuums. Das heißt, wenn zum Beispiel das Wesen Mensch eine bestimmte Existenzdauer hat, also von der Zeit affiziert wird, so ist dieses Menschenwesen in einen speziellen Zustand versetzt. Dies gilt für alle Individuen der Gattung Mensch und anderer Wesen. Dieser Zustand wird als »Modus« des menschlichen Wesens beschrieben. So auch werden die göttlichen Attribute affiziert, das heißt in unterschiedliche Zustände versetzt, was letztlich dann auch auf die Substanz selbst bezogen gesagt werden kann. So am Beginn des ersten Teiles der Ethik. Nach der Definition des Attributs folgt die Definition des Modus: »Unter Modus verstehe ich die Affectionen der Substanz, oder das, was in einem Andern ist, wodurch man es auch begreift.«677 Wenn nun ein Modus aus der unbeschränkten Natur eines ewigen Attributs folgt, muss auch dieser ewig sein,678 es gibt demnach auch ewige Modi. Über sie ist Spinoza indessen etwas wortkarg. Nur so viel ist deutlich, dass etwa zwei aus dem ewigen Attribut der »Ausdehnung« folgende ewige Modi die »Bewegung« und »Ruhe« sind,679 zum Attribut der »cogitatio« (Denken) nennt er einmal die »unendliche Möglichkeit des Denkens«,680 oder den »absoluten unendlichen Intellekt«.681 Das heißt, hier werden Gemeinsamkeiten der Dinge die zur »Ausdehnung« oder zum »Denken« gehören entsprechend dem mittelalterlichen Denken gleichsam als »Hypostasen« konzipiert. Allerdings ist deren Bedeutung im System nicht vollkommen ersichtlich, da aus den »unendlichen Modi« wegen ihrer Unendlichkeit und Ewigkeit niemals endliche und zeitlich beschränkte Modi hervorgehen können, sie also nicht die Ursachen der endlichen Modi sind.682 Nach W. Bartuschat entsprechen diesen »unendlichen Modi« in der körperlichen Welt immerhin allen Menschen gemeinsame Begriffe (notiones communes), die als eine allen Menschen zur Verfügung stehende Erkenntnisgrundlage dienen, im
676
Ethik, 1, Prop. 20, S. 121.
677
Ethik, 1, Definitionen, 5, S. 87.
678
Ethik, 1, Prop. 21.
679
S. Alexander, Spinoza, S. 94; und Bartuschat, Spinoza, S. 74–79.
680
Alexander, Spinoza, S. 95.
681
Bartuschat, Spinoza, S. 75.
682
Ethik, 1, Prop. 22, 23, S. 125; ebd., Prop. 28, Demonstratio, S. 129.
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Gegensatz zu den von den Menschen erschlossenen Gattungsbegriffen, die als »Allgemeinbegriffe« (notiones universales) nur Gespinste unseres Denkens sind, aber keiner ontologischen Wirklichkeit entsprechen.683 Zur Entstehung der endlichen Modi, also der konkreten Dinge in dieser Welt sagt Spinoza, dass sie nur dadurch entstehen, dass ein jeder solcher Modus durch einen anderen von gleicher Natur beschränkt wird. Das Denken kann nur vom Denken, ein Körper nur von einem Körper beschränkt werden, niemals wechselweise.684 Diese Modi sind also endliche und begrenzte Zustände der Substanz oder der Attribute der Gottheit. Darum kann Spinoza sagen: »Die Modi können […] ohne Substanz nicht seyn noch begriffen werden; wesshalb diese allein in der göttlichen Natur seyn und aus ihr allein begriffen werden können. Nun gibt es ausser Substanzen685 und Modi nichts. Also kann nichts ohne Gott seyn oder begriffen werden.«686 Das bedeutet für die individuellen Dinge in dieser Welt: »Die besonderen Dinge sind nichts als Affectionen oder Modi der Attribute Gottes, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise (certo et determinato modo) ausgedrückt werden (exprimuntur).«687 Also auch die endlichen Modi bringen die göttliche Substanz zum Ausdruck. Zu recht wird von Bartuschat und Alexander688 darauf hingewiesen, dass in der kausalen Kette der spinozanischen Welt- oder »Gottesauffassung« ein logisches Übergangsglied vom Unendlichen zum Endlichen nicht sichtbar wird. Es gibt indessen einen Hinweis darauf, wie sich Spinoza diesen logisch schwierigen Schritt vorstellt, eine Lösung, die wiederum nur seinem spezifischen und mit dem mittelalterlichen Denken brechenden Denken entspricht: »Was aber endlich ist und ein bestimmtes Daseyn hat, hat nicht von der unbeschränkten Natur irgend eines göttlichen Attributs hervorgebracht werden können; denn alles, was aus der unbeschränkten Natur irgend eines göttlichen Attributs folgt, ist unendlich und ewig. […] Es musste also folgen oder zum Daseyn und Wirken bestimmt werden von Gott oder irgend einem Attribute
683
Bartuschat, Spinoza, S. 78.
684
Ethik, 1, Def. 2, S. 87.
685
Das heißt es gibt eben nur die eine göttliche Substanz.
686
Ethik, 1, Prop. 15, Demonstratio, S. 107; vgl. noch Prop. 28, Demonstratio, S. 129f.
687
Ethik, 1, Prop. 25, Corrolarium, S. 129.
688
Bartuschat, Spinoza, S. 74f; Alexander, Spinoza, S. 93.
210
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desselben, wiefern dieses durch eine Modification modificirt ist, welche endlich ist und ein bestimmtes Daseyn hat. […] Ferner musste diese Ursache oder dieser Modus […] wieder von einer anderen bestimmt werden, welcher auch endlich ist und ein bestimmtes Daseyn hat, und wieder dieser letzte (aus dem selben Grunde) von einer anderen, und so immerfort […] in das Unendliche (in infinitum).«689 Dies scheint der Schlüssel der Lösung. Das Endliche hat am Unendlichen Teil durch die unendliche Ursachenkette, durch den regressus ad infinitum, der im mittelalterlichen Denken als ausgeschlossen galt und was sogar als Basis des kosmologischen Gottesbeweises diente.690 Die unendliche Ursachenkette der endlichen Ursachen – eine Möglichkeit die schon Hasdaj Crescas anerkennt691 – scheint für Spinoza eine kategoriale Gemeinsamkeit zwischen der unendlichen Substanz und ihren unendlichen Attributen und Modi und den endlichen Modi, den konkreten Dingen dieser Welt zu schaffen. Dasselbe Muster zeigt sich ein weiteres Mal bei der Erörterung der Unfreiheit des menschlichen Willens: »Der Wille (voluntas) kann nicht eine freie, sondern nur eine nothwendige Ursache genannt werden. Beweis. Der Wille ist nur ein gewisser Modus des Denkens (cogitandi modus), wie der Verstand (intellectus), folglich kann […] ein jeder Willensact (volitio) nur da seyn und zum Wirken bestimmt werden, wenn er von einer anderen Ursache bestimmt wird, und diese wieder von einer anderen und so fort bis ins Unendliche.«692 Da Gott selbst nur nach der Notwendigkeit seiner unendlichen Natur handelt,693 das heißt hier nach dem unendlichen Attribut des »Denkens«, kann der begrenzte menschliche Willensakt als endlicher Modus des unendlichen göttlichen Denkens gleichfalls nur durch eine unendliche Kette endlicher Ursachen zu einem endlichen »Willensakt« werden.694 689
Ethik, 1, Prop. 28, Demonstratio, S. 129f.
690
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 377, 410.
691
S. C. Sirat, A History of Jewish Philosophy in the Middle Ages, Cambridge et al. 1985, S. 361f. In seiner Epistel Nr. 12 weist Spinoza eigens auf seine Übereinstimmung mit Crescas hin, s. Wolfson, Spinoza, I, S. 391.
692
Ethik, 1, Prop. 32 samt Demonstratio, S. 135.
693
Ethik, 1, Prop. 32, Corrollarium, 2, S. 137.
694
Ethik, 2, Prop. 9, S. 173; ebd., Prop.13, Axioma 2, Lemma (Lehnsatz) 3, S. 185. Wolfson, Spinoza, I, S. 390. Wolfson, Spinoza, I, S. 390f., glaubt indessen, dass diese unendliche Ursachenreihe nach Spinoza aus dem »mediate infinite mode« und dieses von den »immediate infinite modes« hervorgingen. Demnach hätte Spinoza, analog zu den mittelalterlichen Lösungen der Überbrückung des Hiatus vom Geist zur Materie, hier den Hiatus vom Unendlichen zum
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211
5.3.4 Natura naturans und natura naturata Nachdem schon gesagt ist, dass es außer der Substanz und den Modi nichts gibt, die Welt also nur die Ansammlung unendlich vieler »Zustände« der einen Substanz ist, sollen die wichtigsten damit gegebenen Gedanken noch gesammelt werden. Die Einheit des Seins wird, das haben die bisherigen Darstellungen schon ergeben, durch die eine Substanz, Gott, dargestellt, allerdings gibt es innerhalb oder an dieser Substanz die Differenz von Substanz und Modus der Substanz. Diese Differenzierung des Einen kann von Spinoza terminologisch nun auch in eine seit der Scholastik gebräuchliche Redeweise übertragen werden, die teilweise schon angeklungen war, die aber nunmehr zu der von Spinoza eher beiläufig hingeworfenen Formulierung deus seu natura, oder deus sive natura (Gott, oder die Natur) führte.695 Der Lehrsatz 29 im Teil I (De Deo) lautet: »Es giebt in der Natur nichts Zufälliges, sondern Alles ist aus Nothwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu seyn und zu wirken.«696 Zu diesem Lehrsatz, der nochmals mit radikaler Konsequenz das mittelalterliche Kausalprinzip zu Ende denkt, wird von Spinoza mit folgender Anmerkung erläutert: »Bevor ich weiter gehe, will ich hier erklären oder vielmehr erinnern, was bei uns unter schaffender Natur (natura naturans) und was unter geschaffener Natur (natura naturata) zu verstehen ist. Denn ich glaube, aus dem Vorigen habe sich schon ergeben, dass wir unter schaffender Natur das verstehen, was in sich ist und aus sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, welche ewiges und unendliches Wesen ausdrücken, d.h. […] Gott insofern er als freie Ursache betrachtet wird. Unter geschaffener Natur aber verstehe ich alles, was aus der Nothwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden göttlichen Attributs erfolgt; d.h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als
Endlichen durch die Einfügung der genannten beiden Mittelinstanzen gelöst. Die Formulierungen an anderer Stelle des Buches kommen indessen der hier vorgetragenen Auffassung erheblich näher: »Infinite substance by its very nature contains within itself immediate infinite modes, and the immediate infinite modes contain within themselves mediate infinite modes, and the mediate infinite modes contain within themselves the infinite number of finite modes, which last are arranged as a series of causes and effects.«, Spinoza, I, S. 398. 695
Ethik, 4, Einleitung, S. 383; ebd., Prop. 4, Demonstratio, S. 393.
696
Ethik, 1, Prop. 29, S. 131.
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Dinge betrachtet werden, welche in Gott sind und ohne Gott weder seyn noch begriffen werden können.«697 Der Begriff »Natur« ist demnach eine das gesamte Sein umgreifende Bezeichnung, alles ist Natur, angefangen von »Gott« bis herab zum kleinsten Einzelding. »Natur« bedeutet in diesem Satz allerdings nicht die hier auf der Erde sichtbaren Naturgesetze, sie sind allenfalls die »geschaffene Natur«. »Natur« im umfassenden Sinn, für alles zusammengenommen, steht hier für das »All«, in dem alles Sein zusammengefasst ist. Es ist die Substanz schlechthin, Gott. Denn »Alles […] ist in Gott, und Alles, was geschieht, geschieht blos durch die Gesetze der unendlichen Natur Gottes und erfolgt aus der Nothwendigkeit seines Wesens.«698 Für den von den mittelalterlichen jüdischen Philosophen zur Rettung des Schöpfungsgedankens eingeführten »Willen« Gottes bleibt hier natürlich kein Raum.699 Für das Verständnis des Seins wichtig ist noch die Feststellung des elften Lehrsatzes in Teil zwei der Ethik,700 nämlich dass die unendlichen Attribute Gottes, jedes für sich genommen, jeweils die unendliche Wesenheit der Substanz ausdrückt. Also das Denken allein und die Ausdehnung alleine drücken die Gesamtheit der Gottheit aus. Die Unterscheidung ist gewissermaßen nur eine andere Hinsicht auf diese ununterscheidbare Einheit. Desungeachtet gilt aber, dass Gott nicht pauschal als Ursache aller Dinge zu bezeichnen ist, sondern hier differenziert gesprochen werden muss. So ist Gott zum Beispiel Ursache der körperlichen Dinge nur unter dem Gesichtspunkt des Attributes der »Ausdehnung« und Ursache der geistigen Dinge, etwa einer bestimmten Vorstellung oder Idee, nur insofern Gott unter dem Attribut des Denkens betrachtet wird.701 Dies erinnert an die kabbalistische Vorstellung, nach der zum Beispiel die guten Erscheinungen in der Welt ein Ausfluss der göttlichen Sefira (Attributes) Hesed (Liebe) und die schlechten Dinge ein Ausfluss der Sefira Din (Gericht) sind,702 wobei auch hier gilt, dass diese unterschiedlichen Sefirot innerhalb der göttlichen Sefirotwelt vollkommen eins und nur in der geschöpflichen Welt zu unterscheiden sind. Da nun aber die unterschiedlichen Attribute Gottes ein und dieselbe unendliche Gottheit zum Ausdruck bringen und ihre Unterscheidung nur eine Frage des Hinblicks ist, kann Spinoza sagen:
697
Ebd., 29, Scholium, S. 133.
698
Ethik, 1, Prop. 15, Scholium, S. 113.
699
Ethik, 1, Prop. 17, S. 115: »Gott handelt blos nach den Gesetzen seiner natur und von Nie-
700
Ethik, 1, Prop. 11, S. 99.
701
Ethik, 2, Prop. 11, S. 169.
702
S. Bd. 2, S. 137f., 236ff., 431ff., 573ff.
mand gezwungen.«; und s. ebd., S. 117 im Scholium.
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213
»Die Ordnung und Verknüpfung der Vorstellungen ist dieselbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.«703 Daraus ergibt sich der »Folgesatz«: »dass das Denkvermögen Gottes seinem wirklichen Vermögen zu handeln gleich ist, d.h. Alles, was aus der unendlichen Natur Gottes formal [d.h. in Wirklichkeit] folgt, das folgt aus der Vorstellung Gottes in derselben Ordnung und in derselben Verknüpfung objektiv.«704 Mit anderen Worten, es gibt nur ein Handeln Gottes und nur ein Geschehen in der Welt, allerdings kann dies in unterschiedlicher Hinsicht betrachtet werden, zum Beispiel entweder unter denkerisch intellektueller Hinsicht oder unter materiell räumlicher Hinsicht.
5.3.5 Die Verwurzelung der spinozanischen Gott-Welt-Lehre in der jüdischen Tradition In einem Werk, welches fast vollständig ohne die Zitierung von anderen Autoren auskommt, hat es gewiss eine Bedeutung, wenn schließlich doch einmal eine Autorengruppe genannt wird und der Autor darüber hinaus betont, dass seine eigene Auffassung von jener wenigstens schon vorausgeahnt worden sei. Und gerade dies tut Spinoza im Blick auf den zuletzt formulierten Gedanken, nämlich dass die göttliche Substanz absolut eine ist, jedoch zuweilen unter diesem und zuweilen unter jenem Attribut erfasst wird. Und wenn diese genannten Autoren ausgerechnet »quidam Hebraeorum«, einige Hebräer, sind, so muss im Rahmen dieser Darstellung, in welcher die Stellung Spinozas innerhalb der Geschichte des jüdischen Denkens durchaus diskussionswürdig ist, dies ein besonderes Augenmerk finden. An der besagten Stelle, sogleich nach dem hier zuletzt zitierten »Folgesatz« sagt Spinoza: »Ehe wir weiter gehen, müssen wir uns hier das ins Gedächtnis zurückrufen, was wir oben gezeigt haben, dass nämlich Alles, was immer von dem unendlichen Verstande (infinito intellectu) [d.h. Gott] als die Wesenheit der Substanz wahrgenommen werden kann, nur zu einer Substanz gehört, und folglich die denkende Substanz (substantia cogitans) und die ausgedehnte Sub703
Ethik, 2, Prop. 7, S. 169.
704
Ethik 2, Corrollarium, S. 169; dazu s. W. Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, S. 71–80.
214
Baruch Spinoza
stanz (substantia extensa) eine und dieselbe Substanz ist, welche bald unter diesem, bald unter jenem Attribute gefasst wird (comprehenditur). So ist auch der Modus der Ausdehnung (modus extensionis) und die Vorstellung dieses Modus (idea illius modi) ein und dasselbe Ding (res), aber auf zwei Weisen ausgedrückt (expressa). Diess scheinen einige Hebräer gleichsam durch den Nebel gesehen zu haben, da sie nämlich annehmen, Gott (Deum), Gottes Verstand (Dei intellectum) und die von ihm verstandenen Dinge (resque ab ipso intellectas) seyen eins und dasselbe (unum et idem). Z. B. ein in der Natur (in naturâ) vorhandener Kreis und die Vorstellung des vorhandenen Kreises (idea circuli existensis), welche auch in Gott ist, ein und dasselbe Ding, welches durch verschiedene Attribute ausgedrückt wird. Wir mögen demnach die Natur unter dem Attribut der Ausdehnung (extensionis) oder unter dem Attribute des Denkens (cogitationis) oder unter irgend einem anderen begreifen, so werden wir ein und die selbe Ordnung oder ein und dieselbe Verknüpfung von Ursachen (causarum connexionem) d.h. dieselben Dinge aufeinanderfolgend finden. […] Solange also die Dinge als Modi des Denkens betrachtet werden, müssen wir die Ordnung der ganzen Natur oder die Verknüpfung der Ursachen blos durch das Attribut des Denkens erklären, und insofern sie als Modi der Ausdehnung betrachtet werden, muss auch die Ordnung der ganzen Natur blos durch das Attribut der Ausdehnung erklärt werden, und so verstehe ich es auch bei anderen Attributen. Darum ist Gott, insofern er aus unendlichen Attributen besteht, wahrhaft die Ursache der Dinge, wie sie an sich sind.«705 In dieser »Anmerkung« ist das Zentrum der spinozanischen Ontologie formuliert: Gott ist die Ursache aller unzähligen, unendlichen, Dinge, weil er, absolut eins seiend, doch unendlich viele Attribute besitzt. Die Vielheit in der Einheit wird nun mit jener »hebräischen« aristotelischen Formel belegt, nach welcher Gott, Gottes Verstand (Intellectus) und das von ihm Verstandene (Intellectum) eins seien. Nach Spinoza bedeutet sie, dass das reale Ding in der Welt (zum Beispiel der Kreis) und die Idee des Dinges, das heißt die Vorstellung vom Wesen des Dinges (was einen Kreis ausmacht), ein und dasselbe sind. Also res cogitata und res extensa ein und dieselbe Sache sind die, nur unter verschiedener Hinsicht ausgedrückt ist. Wichtig ist außerdem, dass die »Idee« der Sache sowohl vom Menschen wahrgenommen werden kann wie sie zugleich in der Gottheit existiert. Das heißt, die reale ausgedehnte Welt ist in der Gottheit, unter dem Gesichtspunkt des Denkens auch als Idee ausgedrückt wie als ausgedehnte Sache.
705
Ethik, 2, Prop. 7, Scholium, S. 169ff.
Traditions- und Religionskritik
215
Die auf Aristoteles zurückgehende706 »hebräische« Formel wurde in die mittelalterliche jüdische Philosophie von Moses Maimonides eingeführt.707 Sie lautet dort: »Du weißt ja, wie allgemein bekannt der Ausspruch ist, den die Philosophen708 über Gott gegeben haben, nämlich er sei das Denkvermögen (der Intellekt), der Denkende und das Gedachte zugleich (hu ha-Sechel, we ha-Maskil we ha-Muskal), und daß diese drei Dinge in Gott nur Eines sind, worin es keine Vielheit gibt.«709 Diese Gleichung trifft laut Maimonides für jeden aktuellen Denkvorgang zu, auch beim Menschen. Allerdings ist bei Gott dieser Zustand stets aktuell, beim Menschen nur gelegentlich anzutreffen. Wenn ein Mensch zum Beispiel an einen Baum denkt, dann ist der menschliche Verstand der zugleich Denkende und die intelligible, von der Materie gelöste, Form des Baumes in seinem Intellekt präsent und mit diesem Eins. Damit ist aber noch nicht, wie bei Spinoza gesagt, dass der konkrete in der Natur vorhandene »ausgedehnte« Baum mit dem Denker eins sei. Maimonides verhandelt demnach eine erkenntnistheoretische Frage, nicht eine ontologische. Dies verändert sich bei Maimonides insofern, als er im folgenden Kapitel sagt, alle Dinge in der Welt hätten vier Ursachen, die Materie (Stoff), die Form, die bewirkende Ursache und den Zweck.710 Und da nun nach dem kausalemanatistischen System von Maimonides Gott die höchste Form-Ursache von allem ist,711 ist immerhin eine gewisse Form-Identität zwischen göttlichem Denken und der auf der Erde im Baum erscheinenden Form gegeben. Ganz anders sieht die Sache bei Levi ben Gerschon (Gerschom) (1288–1344) aus.712 Nach ihm kann man von der Gottheit sagen: »Der erste Intellekt (haSechel ha-rischon) ist absolut und notwendigerweise das Gesetz von [allem] Existierenden, deren Ordnung (Seder) und Maß (Joscher).«713 An anderer Stelle, der die Vorsehung Gottes behandelt, sagt Gersonides, dass Gott die Dinge nicht von ihnen her, also vom irdischen Geschehen her erkenne, sondern weil diese »Wahrgenommenen Dinge« (Muskalot, Intellecta) schon in Ihm sind und die Wirklichkeit erst hervorbringen: »Die Existenz der Dinge ist von der ›erkannten‹
706
Aristoteles, Metaphysik, XII, S. 7.
707
Dazu s. Wolfson, Spinoza, II, S. 24ff. Sie wird in der jüdischen Literatur wiederholt aufge-
708
S. Aristoteles, Metaphysik, XII, 7.
nommen, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 262, 354f. 709
More Nevuchim, I, S. 68; Weiss, I, S. 253; Ibn Tibbon, S. 99.
710
More Nevuchim, I, S. 69; Weiss, I, S. 264; d.h. die causa materialis, formalis, efficiens und fi-
711
More Nevuchim, I, S. 69; Weiss, I, S. 266f.
712
Zu ihm s. C. Fraenkel, Lewi ben Gershom, in: Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen, hrsg.
713
Milchamot Ha-Schem, Ma’amar, 5, Helek, 3, Perk, 5, S. 257.
nalis.
von A.B. Kilcher, O. Fraisse, Y. Schwartz, Stuttgart 2003 (Darmstadt), S. 93–96.
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Baruch Spinoza
(muskal) Ordnung, die sie in Ihm, Er sei gesegnet, haben, verursacht.«714 Bevor man nun die »hebräische« Formel bei Gersonides versteht, muss schließlich noch hinzugefügt werden, dass er die von den jüdischen Aristotelikern vertretene Auffassung teilt, dass die Erste Ursache sich einer Reihe von intelligiblen Zwischenursachen, der »Separaten Intellekte«, bedient, um in der Welt zu wirken.715 Diese Zwischenursachen erkennen ihre eigene Ursache, nämlich Gott, teilweise, und somit auch teilweise die »allgemeine göttliche Ordnung«, womit sie sodann als Gottes Instrumente auf die Welt wirken. Nach diesen Prolegomena kann der folgende Text zur Einheit von Sechel, Maskil und Muskal bei Gersonides verstanden werden: »Und weil diese Ordnung nicht anders vollkommen sein kann als in der Zusammenfassung all dieser Beweger [Zwischenursachen], muss diese Sache für sie notwendigerweise von einer höheren Ursache geordnet sein, welche sie erkennt, und in der sie allesamt vervollkommnet werden. Und darum empfangen diese Beweger von Ihm in dieser Weise, damit in Ihm das Gesetz [aller] Existierenden in höchster Weise vervollkommnet wird. Darum muss die Erste Ursache notwendigerweise die höchste Erkenntnis des Gesetzes, der Ordnung und desMaßes der Existierenden haben. Und darum erkennst du, warum in Ihm dieses Gesetz eines ist. Und dieses geht als abgestufte Form von ihm aus, weil dieses ›Erkannte‹ (Intellectum, Muskal) seinem Wesen nach die Erste Ursache ist, denn das Denkvermögen, (Intellectus, Sechel) und der Denkende (Intellegens, Maskil) sind notwendig eins, wie der Philosoph [Aristoteles] erklärt hat […]. Darum erkennt die Erste Ursache ihre eigene Substanz (Wesen, ‘Azmut), und während sie ihre eigene Substanz /Wesen) erkennt, erkennt sie in der vollkommensten Weise alles Existierende in eins, denn sie erkennt sie [die existierenden Dinge] in der Hinsicht, dass sie zahlenmäßig alle eins sind. […] Und es ist klar, dass ihr diese Erkenntnis stets anhaftet, denn die Wirklichkeit des Intellekts (Sechel) ist das stete Erkennen […], denn wenn das Erkennen einmal von ihm aufhörte, wäre er kein Intellekt mehr, und es wäre vernichtet, was doch nie vernichtet werden kann. Und auch dies ist klar, dass er all jene ›Erkannten‹ (Intellecta, Muskalot) zusammen erkennt, und nicht eins nach dem andern […], denn sonst würde sich seine Substanz (Wesen) stets verändern […] was unmöglich ist.«716 Hier ist die »hebräische« Formel von der Identität von Verstand, Verstehendem und Verstandenem, wie bei Spinoza zu einer ontologischen Formel geworden. In 714
Milchamot Ha-Schem, Ma’amar, 3, Perek, 5, S. 148.
715
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 417f., 454, 462, 475.
716
Milchamot Ha-Schem, Ma’amar, 5, Helek, 3, Perek, 12, S. 278f.
Traditions- und Religionskritik
217
der Erkenntnis ihrer eigenen Substanz erkennt die Gottheit zugleich alles Existierende und ist so zugleich das allgemeine Gesetz für alles Existierende. Für diese Version des Levi ben Gerschon gilt in der Tat das Urteil Spinozas, dass seine eigene Lehre hier wie durch einen Nebel sichtbar wird. Der entscheidende Unterschied bleibt allerdings, dass Gersonides in diesem Erkenntnisakt des Existierenden die Wirkung des allgemeinen göttlichen Gesetzes in Allem sieht, nicht aber die Wirklichkeit der »ausgedehnten Sache« also des Materiellen. Aber auch in diesem Punkt kommt Gersonides Spinoza schon einen weiten Schritt entgegen, insofern er nicht die Auffassung vertritt, Gott habe die Materie aus Nichts erschaffen. Vielmehr sieht Gersonides in einer ewigen und endlosen Materie überhaupt kein Problem, zumal von einer creatio ex nihilo in der Bibel nirgendwo die Rede sei.717 An dieser Stelle muss auch noch an die Auffassung des Kabbalisten Jizchak Lurja (1534–1572) erinnert werden, wie sie im zweiten Band dieses Buches beschrieben wurde.718 Danach wird die Gottheit als das Allumfassende Sein dargestellt, außer dem es kein anderes gibt. Allerdings erscheinen die vielen Gliederungen dieses Seins, sowohl im metaphysischen wie im irdischen Bereich als Bechinot, das heißt als Aspekte oder »Modi«, der einen Gottheit, des Unendlichen, ’En Sof. 719 Dieses Beispiel zeigt, dass es im damaligen Judentum verschiedene Versuche gegeben hat, das gesamte Sein als nur eine einzige göttliche
717
Milchamot Ha-Schem, Ma’amar, 6, Helek, 1, Perek, 17, S. 365f. Außer dem genannten Thema lassen sich noch weitere wichtige Parallelen zu Spinoza bei Gersonides finden, so die Auffassung, dass die Erkenntnis zur Glückseligkeit führe, und vor allem manche Themen, welche Spinoza im Theologisch-Politischen-Traktat hinsichtlich der Prophetie verhandelt.
718
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–638.
719
In diesem Zusammenhang wird in der Literatur vor allem auf das Werk des jüdischspanischen, zuletzt in Amsterdam lebenden, Abraham Cohen Herrera (1570?-1635/9) verwiesen, der eine neoplatonische Deutung der lurianischen Kabbala in seinem Werk Scha’ar haSchamajim, Pforte des Himmels, vortrug und dessen hebräische Teilübersetzung Spinozas Lehrer Isaak Aboab de Fonseca im Jahre 1655 in Amsterdam publizierte. Eine hebräische Gesamtübersetzung legte vor: N. Yosha, Avraham Kohen de Herera. Bet ’Elohim. Scha’ar haSchamajim, Jerusalem 2002; dazu s. Das Buch שער השמיםoder Pforte des Himmels, von Abraham Herrerea, übs. F. Häußermann, eingel. von G. Scholem, Frankfurt a. M. 1974; eine gesamte engl. Übersetzung liegt nun vor von K. Krabbenhoft, Abraham de Herrera. Gate of Heaven, Leiden 2002. Hierzu vgl. man etwa im dritten Buch Kap. 5, Nissim, S. 343, in einem Kapitel über die Einheit Gottes: »Er ist jene Einheit, die in ihrem Wesen bis ins Unendliche existiert, die einfach ist, eines, vollkommen unteilbar, er ist in allen, die er verursacht, welche die übrigen Dinge sind. Er ist ganz in allen zugegen, in jedem Einzelnen und in allen seinen Teilen. So dass er die hinreichende (vollkommene) Ursache für deren Entstehen, Existenz, Dauer und Wirkung ist.« Die dt. Version bei Häußermann, S. 83.
Baruch Spinoza
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Realität zu beschreiben und die existierenden Dinge in der physischen Welt als Aspekte oder unterschiedliche Zustände dieses Seins zu beschreiben.720
5.4
Der Mensch
5.4.1 Das Wesen des Menschen Der Mensch war nach biblischer Vorstellung ein einheitliches, belebtes körperliches Wesen,721 die hellenistische und rabbinische Literatur ließen ihn zu einem Kompositum aus Leib und Seele werden, die beide zusammen das Wesen des Menschen ausmachten.722 Die mittelalterlichen Philosophen verkürzten das Wesen des Menschen auf dessen Intellekt (Aristoteliker)723 oder auf dessen rationale Seele (Platoniker), während die Kabbalisten im und um den Sohar, dem Körper neben der Seele wiederum konstitutive Bedeutung für das Menschsein zusprachen.724 Nach den obigen spinozanischen Aussagen zur Gottheit, die selbst aus Extension und Denken besteht, ist nichts anderes zu erwarten, als dass Spinoza sich gleichsam wieder der biblischen oder kabbalistischen Position annähern müsse. Und in der Tat ist ihm der Mensch das vollkommenste »Ebenbild Gottes« als ihn, mehr als alle anderen endlichen Modi auf dieser Welt, die Modalitäten der beiden zentralen Attribute Gottes, Ausdehnung und Denken konstituieren. So sagt Spinoza im Corrollarium (Folgesatz) zum zehnten Lehrsatz von Teil II der Ethik:
720
Zur kabbalistischen Deutung Spinozas in der Spinoza-Literatur s. den sehr erhellenden Aufsatz von A.B. Kilcher, Kabbala in der Maske der Philosophie. Zu einer Interpretationsfigur in der Spinoza-Literatur, in: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. von H. Delf, J.H. Schoeps, M. Walther, Berlin 1994, S. 193–242. Die bei Kabbala in der Maske, S. 207 zitierte Deutung der Trias ist eine spinozistisch verkürzte Version des Textes bei Cordovero im Pardes Rimmonim, Scha‘ar, 8, Perek, 13, S. 45a. Auch der gleichzeitig mit Lurja in Safed lebende Kodifikator der spanischen Kabbala, Moses Cordovero, gibt der Formel einen ontologischen allerdings »idealistischen« Sinn, wenn er nach Kilchers Wiedergabe sagt: »Der Schöpfer ist selbst Erkenntnis, der Erkennende und das Erkannte […] Indem er sich selbst erkennt und weiß, erkennt und weiß er auch alles, was da ist. Es ist nichts vorhanden, das nicht mit ihm vereinigt wäre und das er nicht in seiner Wesenheit finden sollte. Er ist das Urbild alles Seins und alle Dinge sind in ihm.« Tatsächlich schwankt die Darstellung Cordoveros in platonisierendem Sinn, wenn er hinzufügt, dass die von Gott erkannten Dinge in einer »feineren erhabeneren Form« im Wesen des Schöpfers existieren.
721
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129ff.
722
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 206–212.
723
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462ff., 500ff., 514ff., 542ff., 559ff., 581ff., 601ff.
724
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 437ff., 579ff.
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»Hieraus folgt, dass das Wesen des Menschen aus gewissen Modificationen der Attribute Gottes besteht. [… die Wesenheit des Menschen ] ist also etwas, was in Gott ist, und was ohne Gott weder seyn noch begriffen werden kann, oder […] eine Affection oder ein Modus, welcher Gottes Natur auf gewisse und bestimmte Weise ausdrückt.«725 Dass hier die beide zentralen göttlichen Attribute wie auch die übrigen gemeint sind, wird sodann mehrfach nochmals betont. »Hieraus folgt, dass der Mensch aus Geist (mens) und Körper besteht, und dass der menschliche Körper, sowie wir ihn wahrnehmen, da ist.«726 Der Mensch ist wie alle übrigen Modi eine Ausdrucksform der göttlichen Natur, weshalb Spinoza sogar allen Individuen, wenn auch in Abstufung, eine gewisse Beseeltheit zugesteht,727 denn alle Modi haben, wie die Substanz selbst, die attributale Doppel-, oder Vielfachstruktur, die sich durch verschiedene Hinsichten äußert. Also es ist ein einheitlicher Mensch, der je nach Hinblick sowohl von mentalem wie körperlichem Wesen ist: »Diese Vorstellung des Geistes (mentis idea) ist auf dieselbe Weise mit dem Geiste vereinigt, wie der Geist selbst mit dem Körper vereinigt ist. [… das heißt, dass] der Geist und der Körper ein und dasselbe Individuum sind, welches bald unter dem Attribute des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begriffen wird.«728 Aber auch hier gilt die schon genannte kausale Trennung. Gott ist Ursache des Denkens, sofern er selbst denkendes Wesen ist, und ist Ursache des Körpers, sofern er ein ausgedehntes Wesen ist. Allerdings ist ja die göttliche Substanz eine einzige und aus ihr geht nur eine Handlung hervor, die allerdings unter verschiedener Hinsicht begriffen werden muss, einmal als Denken und einmal als Ausdehnung.729 Mit dieser Feststellung wird zugleich der mittelalterlichen Vorstellung – wie sie zum Beispiel Abraham Ibn Da’ud darstellte730 – widersprochen, nach welcher es der Geist, das heißt die Form, ist, welche die Materie bewegt. Der Geist bewegt laut Spinoza nicht den Körper und umgekehrt die Materie nicht den Geist.731 Diese Irrmeinung, so Spinoza, rührt eben von jener schon genannten Parallelität dieser beiden Attribute her. Man kann also nicht von einem
725
Ethik, 2, Prop. 10, Corrollarium, S. 177.
726
Ethik, 2, Prop. 13, Corrollarium, S. 183; und s. ebd., Prop. 11, Demonstratio, S. 179.
727
Ethik, 2, Prop. 13, Scholium, S. 183.
728
Ethik, 2, Prop. 21 und Scholium, S. 203ff.; Ethik, 3, Prop. 2, Scholium, S. 263.
729
Ethik, 3, Prop. 2, Demonstratio, S. 263.
730
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407ff.
731
Ethik, 3, Prop. 2, S. 263; Scholium, S. 265.
220
Baruch Spinoza
kausalen Verhältnis von Körper und Geist reden, sondern von einem parallelaspektualen. Der Mensch handelt und dies kann einmal korporal und einmal mental begriffen werden, je nach Hinblick.732 Das korporale Handeln hat seine Ursachen in Modi der Extension und die parallelen Gedanken in Modi des Denkens.
5.4.2 Die Unfreiheit des Wollens Es ist diese zuvor gennannte Irrmeinung des kausalen Verhältnisses zwischen den beiden Aspekten der Ausdehnung und des Denkens, welche die Menschen auch zu der Illusion eines freien Willens verführt. Tatsache ist, dass die Menschen die wahren Ursachen ihres körperlichen Handelns nicht wirklich kennen und sie daher dem Aspekt des Denkens, das heißt einem Willensentschluss des Denkens zuschreiben.733 Dezidiert äußer sich Spinoza dazu mit folgender »Anmerkung«: »Die Menschen täuschen sich, indem sie glauben, sie seyen frei. Diese Meinung beruht blos darauf, dass sie sich ihrer Handlungen bewusst sind, ohne die Ursachen zu kennen, von welchen sie bestimmt werden. Das ist also die Vorstellung ihrer Freiheit, dass sie die Ursachen ihrer Handlungen nicht erkennen, denn dass sie sagen, die menschlichen Handlungen hangen vom Willen ab, das sind Worte, von denen sie keine Vorstellung haben. Denn was der Wille ist und wie er den Körper bewegt, das wissen sie alle nicht.«734 Mit einer solchen Verneinung des persönlichen freien Willens widerstreitet Spinoza einem breiten Strom der jüdischen Tradition, die ihre Ethik und Torabefolgung ganz auf die Willensfreiheit des Menschen stellt. Aber auch in diesem Punkt gibt es ein jüdisches Präzedens, nämlich wieder den Philosophen Hasdaj Crescas in dessen Sefer ’Or ha-Schem.735 Denn nach seiner Auffassung geschieht von Gott aus gesehen alles notwendigerweise. Dennoch spricht Crescas von der Entscheidungsmöglichkeit des Menschen, sofern diesem die ihn tatsächlich bestimmenden Ursachen verborgen bleiben: »though man, in making a choice, is unconcious of any compulsion and restraint, it is quite possible, that were it not for some cause that compels him to choose one of the alternatives, he would de-
732
Ethik, 3, Prop. 2, Scholium, S. 263–269.
733
Ethik, 3, Prop. 2, Scholium, S. 269.
734
Ethik, 2, Prop. 35, Scholium, S. 217.
735
S. D. Neumark, Crescas and Spinoza.
Traditions- und Religionskritik
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sire both alternatives alike«.736 Spinoza fasst seine Auffassung von der Unfreiheit des menschlichen Willens eigens in einen Lehrsatz: »Es giebt im Geiste (in mente) keinen unbeschränkten oder freien Willen, sondern der Geist wird diess oder jenes wollen, von einer Ursache bestimmt, welche ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wieder von einer anderen, und so ins Unendliche fort.«737 Der Wille ist nach Spinoza nicht eine eigene Instanz des Geistes. Vielmehr gibt es nur separate einzelne Willensakte des Geistes, die dieser aufgrund bestimmter Vorstellungen (Ideen) durchführt.738
5.4.3 Die conditio humana und das Lebensziel Da der Mensch nur einer von den unendlich vielen endlichen Modi Gottes ist, gelten für ihn zunächst dieselben Bedingungen wie für sie. Und die zentrale Aussage über diese individuellen Dinge ist zunächst, dass sie ein Beharrungsvermögen besitzen und darum nur von einer äußeren Ursache zerstört werden können.739 Die eigene Aktivität der Dinge besteht, laut Lehrsatz 6, deshalb darin, sich selbst zu bewahren: »Jedes Ding strebt, so viel an ihm liegt, in seinem Seyn zu beharren (in suo esse perseverare conatur).«740 Aus dem sogleich anschließenden Beweis dieser Behauptung, wird deutlich, dass Spinoza hier weniger eine empirische Beobachtung vorträgt, sondern dass diese Meinung ontologisch begründet ist: »Denn die einzelnen Dinge sind Modi, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden […] d.h. Dinge, welche Gottes Vermögen, wodurch Gott ist und handelt, auf gewisse und bestimmte Weise ausdrücken. Kein Ding hat etwas in sich, wodurch es zerstört werden könnte oder was sein Daseyn aufhöbe […], sondern es widersetzt sich viel-
736
’Or ha-Schem, II, V, 3, Übs. nach Wolfson, Spinoza, I, S. 428; und s. Joel, Creskas, S. 48f; D.J. Lasker, Chasdai Crescas, in: History of Jewish Philosophy, hrsg. von D.H. Frank, O. Leaman, London/New York 1997, S. 399–414, hier S. 407; und s. S. Feldman, Crescas’ Theological Determinism, in: Da‘at, 9 (1992), S. 3–28; C. Sirat, History, S. 367.
737
Ethik, 2, Prop. 48, S. 239.
738
Ethik 2, Demonstratio, S. 240f.
739
Ethik, 3, Prop. 4, S. 273.
740
Ethik, 3, Prop. 6, S. 273.
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mehr allem, was sein Daseyn aufheben kann […], also strebt es so viel es kann und an ihm liegt, in seinem Seyn zu beharren.«741 Im oben zitierten Lehrsatz sechs taucht schon jene Formulierung auf, welche zu einem zentralen Begriff auch zur Beschreibung der menschlichen Situation wird, nämlich das »Bestreben«, lateinisch der conatus. Es ist dieses Bestreben der Dinge, in ihrem eigenen Sein zu beharren, in welchem Spinoza »die wirkliche Wesenheit des Dinges« sieht.742 Dies gilt darum auch für den Menschen und zwar in beiden Hinsichten, unter denen er betrachtet werden kann, betrachtet man ihn als Geist oder aber als Körper. Bezüglich dieser beiden Aspekte des Menschen erfährt auch der »conatus« eine Differenzierung: »Dieses Streben (hic conatus), auf den Geist (mentem) allein bezogen, heisst Wille (voluntas), aber auf Geist und Körper zusammen bezogen, nennt man es Trieb (appetitus), welcher nichts anderes ist, als die Wesenheit (essentia) des Menschen selbst, aus dessen Natur das, was zu seiner Erhaltung dient, nothwendig folgt; und daher ist der Mensch dieses zu thun bestimmt.«743 Der Begriff erfährt des weiteren noch eine Differenzierung als cupiditas, Begierde, welche sich vom appetitus dadurch unterscheidet, dass er dem Menschen selbst bewusst ist. Nach dieser weiteren Anmerkung folgt nun jedoch eine für die Ethik zentrale Aussage: »Aus diesem Allem ist also entschieden, dass wir nichts erstreben (conari), wollen (velle), begehren (appetere) noch wünschen (cupere), weil wir es für gut halten, sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen.«744 Weiter unten im Text745 kommt Spinoza nochmals auf diese Aussage zurück und ergänzt sie durch ihr negatives Pendant, nämlich dass wir das »übel« nennen, was wir verabscheuen, und nicht dass wir es verabscheuen weil es übel sei. Die zentralen ethischen Begriffe »gut« und »böse« werden hier von der Natur des Menschen, des Individuums, her definiert nicht von gesellschaftlichen Normen oder von den Vorgaben einer Offenbarung. Gut und böse sind jene Qualitäten welche den Menschen jenem Musterbild der menschlichen Natur (exemplar hu-
741
Ebd., Demonstratio, S. 273.
742
Ethik, 3, Prop. 7, S. 273.
743
Ethik, 3, Prop. 9, Scholium, S. 275.
744
Ebd.
745
Ethik, 3, Prop. 39, Scholium, S. 317.
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manae naturae), das er sich vorsetzt, näherbringt, oder ihn abhält.746 In diesem Sinne definiert Spinoza »1.Unter gut verstehe ich das, wovon wir gewiss wissen, dass es uns nützlich sey. 2. Unter böse aber das, wovon wir gewiss wissen, dass es uns hindert, irgend eines Guten theilhaftig zu werden.«747 Aus diesen Definitionen folgt ein entsprechendes Verständnis der Tugend, die nichts anderes ist als das Vermögen des Menschen nach den Gesetzen seiner eigenen Natur zu handeln.748 Oder noch weiter, gemäß dem eingangs Gesagten, »die Grundlage der Tugend« ist das Bestreben, »das eigene Seyn zu erhalten.«749 Und je mehr es ein Mensch vermag, das ihm Nützliche zu suchen und sein Sein zu erhalten, »um so mehr ist er mit Tugend begabt.«,750 denn »das Selbsterhaltungsstreben ist die erste und einzige Grundlage der Tugend.«751 Entsteht nun angesichts solcher Aussagen der Eindruck Spinoza vertrete einen hedonistisch, selbstsüchtigen Utilitarismus, so muss daran erinnert werden, dass der Mensch ja unter dem Attribut des Denkens ebenso wie unter dem Attribut des Körperlichen zu betrachten ist. So viel ist klar, das eigene Vergnügen und die eigene Lust, gerade auch im körperlichen Bereich, sind nach alledem legitime Zustände des menschlichen Lebens, die Anteil an der göttlichen Natur verschaffen.752 Diese aber werden, ja müssen, durch die andere Hinsicht des menschlichen Wesens, nämlich die Vernunft, in Relation gesetzt werden. Spinoza betont noch eigens, und dies ist in der Einheit von Geist und Körper im Menschen begründet, dass die Vernunft nichts gegen die Natur verlangt, so dass ein jeder sich lieben und seinen eigenen Nutzen suchen darf. Aber dazu gehört eben, dass diese Multiplikation des Nutzens bei allen Wesen nur zusammen mit Ihresgleichen am erfolgreichsten zu erreichen ist. Und dies ist beim Menschen der andere Mensch. Darum können die Menschen im wohlverstandenen Eigennutz sich nichts besseres wünschen, als dass alle Menschen in Allem übereinstimmen, »dass die Geister und Körper Aller gleichsam einen Geist und einen Körper bilden […] und Alle zugleich den gemeinschaftlichen Nutzen Aller für
746
Ethik, 4, Einleitung, S. 387.
747
Ethik, 4, Definitionen, S. 387; und s. Ethik, 4, Prop. 19, S. 413.
748
Ethik, 4, Axiom, S. 389; ebd., Prop. 18, Demonstratio, S. 411.
749
Ethik, 4, Prop. 18, Scholium, S. 411.
750
Ethik, 4, Prop. 20, S. 415; vgl. ebd., Prop. 22, S. 417.
751
Ethik, 4, Prop. 22, Corrolarium, S. 417.
752
Vgl. z. B. noch Ethik, 4, Caput, (§) 30, 31, S. 501.
Baruch Spinoza
224
sich suchen.«753 Und an dieser Stelle muss die Vernunft eine besondere Rolle spielen, denn »Hieraus folgt, dass die Menschen, welche von der Vernunft (ratione) geleitet werden, d.h. Menschen, welche unter der Leitung der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts für sich begehren, was sie nicht auch für die übrigen Menschen wünschen, und dass sie also gerecht, treu und ehrenhaft sind.«754 Die gesellschaftliche Moral wird hier auf den oben schon genannten Grund gestellt, nämlich das menschliche Streben der Selbsterhaltung, das sich eben am besten in der menschlichen Gesellschaft verwirklichen lässt. Nunmehr wird also die oben schon angeführte Definition der Tugend, die auf der Selbsterhaltung ruht, durch ihre zweite Seite im Menschen ergänzt: »Durchaus tugendhaft handeln ist nichts Anderes in uns, als nach der Leitung der Vernunft handeln, leben, sein Seyn erhalten (diese drei bedeuten dasselbe) aus dem Grunde, dass man seinen eigenen Nutzen sucht.«755 Dieser leichte Schwenk zurück zur mittelalterlichen und aristotelischen Philosophie,756 welcher der Vernunft einen gewissen Primat für das Handeln und das Erreichen des menschlichen Lebenszieles einräumt, gewinnt nun zunehmend an Macht, so dass das anscheinend hedonistische Ziel des Eigennutzes und der Selbsterhaltung seine Krönung alsbald in dem sieht, was auch Spinozas eigenes Leben bestimmt hat, nämlich im Weg der Erkenntnis und des kontemplativen Daseins. Spinoza ist überzeugt, dass nur ein Leben unter der Herrschaft der Vernunft notwendigerweise und von Natur aus eine Übereinstimmung zwischen den Menschen zur Folge hat.757 Bei dieser Hinwendung zur menschlichen Vernunft als einem wesentlichen Teil der Selbsterhaltung werden von Spinoza jene Aussagen vom Eigennutz, der Selbsterhaltung und –vervollkommnung einfach auf die menschliche Ratio übertragen. Ihr Streben (conatus) ist nun eben auf Erkenntnis ausgerichtet, und für sie ist folglich nur das nützlich, was der Förderung der Erkenntnis dient.758 Auch die
753
Ethik, 4, Prop. 18, Scholium, S. 413.
754
Ebd.
755
Ethik, 4, Prop. 24, S. 417.
756
Vgl. z. B. Maimonides’ Auffassung von der vom Menschen zu erstrebenden doppelten Vollkommenheit, der leiblichen und hernach der geistigen, wobei Letzterer der absolut höhere Rang zukommt, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 482ff.
757
Ethik, 4, Prop. 35, S. 429.
758
Ethik, 4, Prop. 26, S. 419, samt Demonstratio.
Traditions- und Religionskritik
225
Begriffe von »gut« und »böse« werden nun auf die Vernunft angewandt, gut ist, was der Erkenntnis dient, böse, was sie behindert.759 Und hier schließt sich der Kreis zu dem oben schon über die Erkenntnis gesagten, nämlich dass das höchste Gut der Vernunft eben die Erkenntnis Gottes ist und die höchste Tugend des menschlichen Geistes (mens), Gott zu erkennen.760 Es ist schließlich auch die Erkenntnis, die den Menschen von der Herrschaft der Affekte befreit, die ihn gewöhnlich nach den unterschiedlichsten Seiten zerren. Da aber das Leben unter der Herrschaft der Vernunft den wenigsten Menschen wirklich gegeben ist, müssen die Affekte durch Regeln der Gesellschaft oder des Staates in Bann gehalten werden, eine Einrichtung, die bei vollkommener Herrschaft der Vernunft nicht vonnöten gewesen wäre.761 Zu dieser Kategorie staatlicher Regulierung der Affekte ist eben dann auch das biblische Gesetz zu rechnen, welches das Gesetz des alten israelitischen Staates war, wie oben schon gezeigt wurde.
5.4.4 Zeitliche oder ewige Glückseligkeit – beatitudo Der fünfte Teil der Ethik nimmt diesen aristotelisch-maimonidischen Schwenk zum Primat der Vernunft auf, was sich schon in der Überschrift ankündigt: »Von der Macht des Verstandes (intellectus) oder von der menschlichen Freiheit.«762 Hier will Spinoza demnach aufzeigen, wie groß die Macht der Vernunft ist, wie sie die Affekte beherrschen kann, um die Freiheit des Geistes zu erlangen, was nichts weniger als die menschliche Glückseligkeit (beatitudo) bedeutet.763 Diese wird, wie schon gegen Ende des vierten Teiles der Ethik deutlich wird, zunächst als gegenwärtiger Zustand, als Glück im irdischen Leben beschrieben: »Es ist daher für das Leben hauptsächlich von Nutzen, den Verstand oder die Vernunft (intellectum, seu rationem) so viel wir können zu vervollkommnen, und hierin allein besteht das höchste Glück oder die Glückseligkeit (felicitas, seu beatitudo) des Menschen; denn die Glückseligkeit ist nichts Anderes, als eben die Zufriedenheit der Seele (animi acquiescentia), welche aus der intuitiven Erkenntnis Gottes entspringt; den Verstand vervollkommnen ist aber
759
Ethik, 4, Prop. 27, S. 419.
760
Ethik, 4, Prop. 28.
761
Ethik, 4, Prop. 37, Scholium, 2, S. 439.
762
Ethik, 5, S. 505.
763
Ethik, 5, Einleitung, S. 507.
Baruch Spinoza
226
nichts Anderes, als Gott und Gottes Attribute und Thaten, die aus der Nothwendigkeit seiner Natur folgen, verstehen.«764 Bei dieser Feststellung bleibt Spinoza aber erstaunlicherweise nicht stehen. Wie er schon mit der Hinwendung zur Vernunft als dem besseren Teil des Menschen – der ja doch nur einer ist und an den beiden Attributen Gottes, Ausdehnung und Denken in modaler Abstufung gleichermaßen Teil hat – letztlich zu Maimonides zurückkehrt, so tut er dies auch mit seiner Erörterung der möglichen und wirklichen Unsterblichkeit gerade des menschlichen Geistes, wiewohl dieser ja doch nur aspektual vom Körper verschieden ist. Nach Maimonides ist es der vom Menschen im Laufe seines Lebens »Erworbene Intellekt«, der ihn dem angelischen »Aktiven Intellekt« ähnlich werden lässt, und so kann gerade dieser Teil des Menschen in den »Aktiven Intellekt« eingehen und ewig bleiben.765 Analog sagt Spinoza: »Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht gänzlich vernichtet werden, sondern es bleibt Etwas von ihm übrig, das ewig ist.«766 Es ist auch nach Spinoza nur ein »Etwas«, das übrigbleibt, denn als Ganzes dauert der menschliche Geist nur so lange wie sein Körper,767 eine Aussage, welche den bisherigen Feststellungen der Einheit des menschlichen Wesens entspricht. Dieses Fortdauern eines »Etwas« nach dem leiblich-geistigen Tod hat nun wie bei Maimonides mit der erlangten Erkenntnis des Menschen zu tun, und auch Spinoza spricht hier von einer mit der gewonnenen Erkenntnis wachsenden Quantität des übrigbleibenden Restes.768 Dies wird in folgender Erklärung wenigstens angedeutet: »Wenn wir uns daher auch nicht erinnern, vor dem Körper da gewesen zu seyn, so bemerken wir doch, dass unser Geist ewig ist, insofern er die Wesenheit (essentiam) des Körpers unter der Form der Ewigkeit enthält (sub aeternitate specie involvit), und dass dieses sein Daseyn nicht durch die Zeit definirt oder durch Dauer erklärt werden könne. Unser Geist (mens) kann daher nur insofern dauernd genannt und sein Daseyn durch eine gewisse Zeit definirt werden, als er das wirkliche Daseyn des Körpers in sich schließt, und hat
764
Ethik, 4, Caput, (§) 4, S. 489.
765
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 416, 602.
766
Ethik, 5, Prop. 23, S. 535.
767
Ethik, 5, Prop. 23, Demonstratio, S. 535.
768
Ethik, 5, Prop. 38, Demonstratio, S. 549, und vgl. Ethik, 5, Prop. 40, Corrollarium, S. 553.
Traditions- und Religionskritik
227
nur in so fern das Vermögen, das Daseyn der Dinge in der Zeit zu bestimmen und sie unter der Form der Dauer (duratione) zu begreifen.«769 In einer späteren Anmerkung (Scholium) drückt sich Spinoza über den Zusammenhang von richtiger Erkenntnis und Ewigkeit des Geistes noch etwas deutlicher aus. Es ist die dritte Art der Erkenntnis, welche die Dinge sub specie aeternitatis begreift, welche dem Geist seine Ewigkeit sichert: »obgleich wir jetzt überzeugt sind, dass der Geist ewig ist, insofern er die Dinge unter der Form der Ewigkeit begreift.«770 An dieser Stelle gilt es aber ein Missverständnis auszuräumen, das als »gemeine Meinung der Leute« sehr verbreitet ist. Dieses Missverständnis ist die Vermischung von »Dauer« (duratio) mit der Ewigkeit (aeternitas). Die »Dauer« ist eine zeitliche Kategorie, sie ist zeitlich messbar und wäre demnach nur eine Art Verlängerung des zeitlich irdischen Daseins. Demgegenüber ist die »Ewigkeit« nichts Zeitliches. Sie ist mit der Kategorie der Zeit nicht erfassbar. Darum ist es falsch zu glauben, dass man nach dem Tode »übrig bleibt«.771 Abschließend fasst Spinoza noch einmal zusammen und sagt: »Diess ist es, was ich mir vorgenommen hatte von dem Geiste darzuthun, insofern er ohne Beziehung auf das Daseyn des Körpers betrachtet wird. Hieraus, zusammengenommen mit L[ehrsatz] 21, Th[eil] 1 und anderen Sätzen, erhellt, dass unser Geist, sofern er erkennt, ein ewiger Modus des Denkens ist, der von einem anderen ewigen Modus des Denkens bestimmt wird, und dieser wieder von einem anderen, und so ins Unendliche fort, so dass alle zusammen Gottes ewigen und unendlichen Verstand (intellectum) ausmachen.«772
769
Ethik, 5, Prop. 23, Scholium, S. 537.
770
Ethik, 5, Prop. 31, Scholium, S. 543.
771
Ethik, 5, Prop. 34, Scholium, S. 545.
772
Ethik, 5, Prop. 40, Scholium, S. 553.
RESTAURATIV-INTEGRATIVE ORTHODOXIE DER VORAUFKLÄRUNG I.
VORBEMERKUNG – WAS IST JÜDISCHE ORTHODOXIE?
In der Geschichtsschreibung pflegt die Bezeichnung »Orthodoxie« (Rechtgläubigkeit) für die konservativen Richtungen des Judentums erst für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet zu werden. Der früheste Beleg dafür scheint ein Brief des christlichen Berliner Malers Daniel Chodowiecki aus dem Jahre 1783 an die Gräfin Solms-Lauenbach zu sein.773 Der Begriff wurde zunächst wohl in polemischer Weise von den so genannten »neologischen« »fortschrittlichen« Denkern als Kampfbegriff gegen die traditionalistischen Reformgegner verwendet,774 erst gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch als stolze Selbstbezeichnung der Tora-treuen Juden. In der Presse trat die Orthodoxie unter diesem Namen in einem im Juli 1845 zum ersten Mal erscheinenden Wochenblatt unter einem einschlägigen Titel auf: Der treue ZionsWächter. Organ zur Wahrnehmung der Interessen des orthodoxen Judenthums.775 Das zentrale Element aller als »orthodox« zu bezeichnender jüdischer Richtungen ist in erster Linie das Festhalten an der vollen Gültigkeit der Halacha. Diese zentrale Stellung des Gesetzes und des von ihm geforderten Tuns hat gelegentlich zu der verkürzenden Bezeichnung solcher Richtungen als »Orthopraxie« geführt im Gegensatz zu jenen »neologischen« Richtungen, bei denen der »Glaube« im Mittelpunkt der Definition des Judentums stand.776 Gegen eine solches auf das Halachische verkürztes Verständnis der Orthodoxie hat der bekannte Historiker und Nachkomme von Samson Raphael Hirsch, Mordechai Breuer, in seiner grundlegenden Darstellung »Orthodoxie im deutschen Reich 1871–1918« nachdrücklich, wenn auch typisch einseitig, Einspruch erhoben: »Die Benennung einer solchen religiösen Richtung als orthodox, zu deutsch: rechtgläubig, ist vielfach und von verschiedenen Seiten in Frage gestellt worden. Nicht ganz zu Recht. Gewiß war die hervorstehende Eigenart der Orthodoxie, in christlichen sowohl als auch in liberal- jüdischen Augen, ihre unerbittliche Gesetzestreue. Dogmatik bildete nie ein zentrales Gebiet der traditi-
773
In einem Brief an die Gräfin Solms-Lauenbach, zitiert in der Zeitschrift: Ost und West 1903, Heft 12, S. 832; vgl. J.D. Eisensteins hebräische Enzyklopädie ’Ozar Yisrael, Band 1, Art. »orthodox«.
774
In der deutsch jüdischen Presse offenbar zum ersten Mal in diesem Sinne im Jahre 1843 in:
775
Einsehbar im Internet unter: www.compact memory.
776
Vgl. Jüdisches Lexikon, Berlin 1927, Bd. IV,1, Sp. 617.
Der Orient 1843, Nr. 21, S. 161ff.
Was ist jüdische Orthodoxie?
230
onellen jüdischen Religionslehre. Aber es hieße die Orthodoxie gründlich mißverstehen, wollte man sie einer Orthopraxie gleichstellen. Es bedurfte eines großen Glaubens, eines Glaubens, zu dem mancher sich erst in schweren Kämpfen durchrang, um sich im tätigen Leben als orthodoxer Jude in einer Welt des religiösen Indifferentismus und Abfalls zu behaupten. Zudem war der Typus des orthodoxen Juden keineswegs ein in äußeren Religionshandlungen erstarrter Mensch; er war zumeist ein Gemütsmensch, in dessen Religiosität das Fühlen, Denken und Erleben eine große Rolle spielte. Ganz abgesehen davon bekannten sich die Vertreter der Orthodoxie mit besonderer Betonung zu den Glaubenswahrheiten ihrer Richtung, besonders zu der Offenbarungslehre, wenn immer sie sich von anderen Richtungen im deutschen Judentum abgrenzten.« 777 So sagt es auch die Redaktion des Treuen Zionswächters, bestehend aus dem Altonaer Oberrabiner Jakob Aaron Ettlinger (1798–1871) und dem dortigen Schuldirektor Dr. Samuel Enoch (1814–1876), in ihrem programmatischen Eröffnungsartikel. Nach einer Auseinandersetzung mit den Bestrebungen der verschiedenen Reformer heißt es da: »Wer darf sagen: Bis hieher und nicht weiter? Fortbilden schließt jeden Stillstand aus, Fortbilden negirt jede Autorität, Fortbilden endet nur im ReformVerein, d.h. außerhalb des Judenthums. Das wäre unser Glaubensbekenntniß, und somit hätten wir entschieden das Terrain bezeichnet, auf welchem wir uns unter göttlichem Beistande zu bewegen gedenken. Erhalten wollen wir den gottgeoffenbarten Glauben, ihn erhalten mit allen seinen Consequenzen, ihn erhalten in den Gegensätzen des Lebens, erhalten im Kampfe gegen die Meinungen. Unsere Religion ist die bekannte Religion der That, wir thun, nicht was, sondern weil wir glauben. Wir erkennen nicht an die Fortbildung einer Religion, weil unsere Religion ganz göttlich, und der Begriff Gottes der Fortbildung nicht möglich. Wir bekämpfen die so genannten Reform-Bestrebungen im Judenthume, theils weil sie nach jüdischen Begriffen ungesetzlich, theils weil die Erfahrung gelehrt, in welchem Sinne sie größtentheils unternommen, zu welchem Endziele hin sie führen und führen müssen. […]«778 Auch hier also wird, bei allem Bestehen auf der Religion der Tat, auf den dieser Tat voranstehenden Glauben als dem Fundament der orthodoxen Religion verwiesen. 777
Frankfurt/M. 1986, S. 3f.
778
Der treue Zionswächter, 1,1 (3. Juli 1845), S. 3.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
231
Diese Charakteristik einer jüdischen Orthodoxie gilt auch schon für die um Jahrhunderte früheren Vertreter eines konservativen Judentums. Auch für sie war die Gültigkeit des Religionsgesetzes unbestritten und zentraler Teil der göttlichen Offenbarung. Und wie für die Bewahrer der Tradition im Deutschland des 19. Jahrhunderts stand auch für sie das Dogmatische vor allem dann im Vordergrund, wenn es galt, sich von anderen, neueren Richtungen des Judentums abzugrenzen. Für die frühneuzeitlichen Juden waren solche »neueren« Richtungen die mittelalterliche Philosophie in ihren verschiedenen Spielarten und gleichermaßen die unterschiedlichen Systeme der Kabbala. Aus allerjüngster Zeit kam die Hinwendung zur modernen Wissenschaft, zur kritischen Historiographie und der damit gepaarten Traditionskritik hinzu. Die Methodik der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen der altrabbinisch-talmudischen Lehren beschränkte sich jedoch bei all den hier wahlweise aufzuführenden Denkern nicht auf das ab- und ausgrenzen, sondern auch in einer behutsamen Rezeption. Das herausragendste Merkmal dieser umsichtigen Rezeption der neuen Strömungen war dies, dass deren Texte jetzt als Teil der jüdischen Tradition reklamiert wurden. Die Texte der Philosophen und Kabbalisten standen nun nicht mehr in erster Linie als Zeugen einer eigenständigen Interpretation des Judentums da, sondern wurden als Teil der vielfältigen Rinnsale und Bäche der jüdischen Tradition behandelt, aus denen es nach je eigenen Vorlieben auszuwählen galt. Diese Einfügung der neuen Textkorpora in das Repositum jüdischer Tradition und der nachfolgenden selektiven Auswahl veränderte die Bedeutung dieser inkludierten Korpora grundlegend. Die neuzeitlich konservativen Autoren sahen vor sich keinen separaten Kosmos der Philosophie oder der Kabbala mit ihren je eigenen und spezifischen denkerischen und hermeneutischen Prinzipien, sondern Traditions- und Textmaterial, das dem eigenen rabbinischen Lehrkosmos eingefügt werden konnte, allerdings zu dessen Bedingungen und mit dessen Zielsetzungen. Dies will die Überschrift des vorliegenden Kapitels angezeigen und die neuzeitliche »Orthodoxie« als restaurativ und integrativ zugleich charakterisieren. Die konservativen Lehrer wollten nun auch im wirklichen Sinne »Orthodoxie«, also »Rechtgläubigkeit« darstellen und nicht »Orthopraxie«, worin ihnen die vereinnahmten Lehrsysteme der Philosophie und Kabbala ohnehin entgegenkamen, die ja gerade dieses Ziel, wenn auch in ihrem eigenen Verstande, verfolgten. Es ist diese Umarmung der häresieverdächtigen Systeme, die das orthodoxe Denken so aufgeschlossen und modern erscheinen lassen. Aber man muss beachten, dass Philosophie, Kabbala und moderne Wissenschaft hier stets in den Dienst der Tradition gestellt werden, diese neuen Entwicklungen nur zugelassen werden, wo sie die »Grunddogmen« des rabbinischen Denkens entweder befördern können, oder diesen wenigstens nicht widersprechen oder sie nicht leugnen.
232
Was ist jüdische Orthodoxie?
Es ist bei alledem keine Frage, dass trotz dieser achtsamen Rezeption neuer Motive, Erkenntnisse und Denkweisen auch das Gerüst selbst, das rabbinische Denken einer fast unmerklichen Veränderung unterworfen wird, einer Veränderung, die nicht in Brüchen geschieht, sondern dem Wachstum von Pflanzen unter veränderten klimatischen und ökologischen Verhältnissen gleicht.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
II.
DIE HAGGADA ALS THEOLOGISCHE MITTE DES JUDENTUMS – JEHUDA LIWAJ BEN BEZALEL – MAHARAL VON PRAG (1512/26–1609)
1.
Der Maharal als Schöpfer des Golem
233
Jehuda Liwaj oder Juda Löw Ben Bezalel (Akronym: MaHaRal, Morenu haRav-Liwaj, Unser Lehrer der Rav Liwaj), auch als der Hohe Rabbi Löw bekannt, ist im Prager Lokalbewusstsein wie in der Welt und in der Weltliteratur779 – auch im Film780 – vor allem als der legendäre Schöpfer des Golem bekannt, also jener Gestalt aus Lehm, die der Meister in einem Ritus am Ufer der Moldau mit der Rezitation von Gottesnamen belebte und die ihm fortan diente, die Judenfeinde in der Stadt zu bekämpfen. Als »Jossele« der Golem indessen seine Aufgaben erfüllt hatte, hat ihn der Maharal mittels des »umgekehrten Ritus« wieder in einen Lehmklos verwandelt, dessen Reste nach der Legende auf dem Dachboden der Prager Altneuschul verblieben. Die Zuschreibung einer Golemlegende, deren es in der jüdischen Tradition zahlreiche gab,781 gerade an den Prager Oberrabbiner ist indessen nicht alt. In schriftlichen Quellen findet sie sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhun-
779
G. Meyrink, Der Golem, Leipzig 1915; Franz Kafka, zu seiner Golem-Legende, s. K.E. Grözinger, Kafka und die Kabbala. Das jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, Berlin/Wien 2003, S. 151–163; Arthur Holitscher: Der Golem. Drama, Berlin 1908; Stanisław Lem, Golem XIV (SF 1981), dt. Also sprach Golem, Frankfurt/M. 1984; Isaac Bashevis Singer: The Golem, Erzählung (engl.), 1982; und s. B. Rosenfeld, Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur, Breslau 1934; F. Cebulla, Schlange und Messias und andere mythologisch-kabbalistische Schriften, Kahla 2002 (Kurzform dieses Artikels im Internet unter: golem-net.de/golem.htm); L.A. Goldsmith, The Golem Remembered, 1909–1980. Variations of a Jewish Legend, Detroit 1981; M. Idel, Golem. Jewish Magical and Mystical Traditions on the Artificial Anthropoid, Albany 1990 (deutsch, Der Golem, Frankfurt/M. 2007); S. Mayer, Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes, Bern 1975; A. Neher, Faust et le Maharal de Prague. Le mythe et le réel, Paris 1987; G. Scholem, Die Vorstellungen vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen, in: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt/M. 1873, S. 209–260; und in Grözinger, Jüdisches Denken, II, s. Register, sub voce: Golem.
780
I. Gesang, H. Wiesenberg, Der Golem, (1915); Paul Wegener mit drei Golem-Filmen, Der Golem, (1914), Der Golem und die Tänzerin, (1917), und Der Golem, wie er in die Welt kam, (1920), und andere; dazu s. H. Simon und I. Stratenwert (Hg.), Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004.
781
Idel, Golem; Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 2, Register sub voce Golem.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
234
derts und in mündlichen Prager Legenden,782 belegt zum Beispiel in der 1847 in Prag erstmals erschienenen Erzählungssammlung von Wolf Pascheles,783 in einer älteren Form, wie sie dann auch in der deutschen Literatur rezipiert worden ist. In völlig anderer Gestalt erschien sodann 1909 in Pietrkov als hebräischjiddische Ausgabe unter dem Titel Nifle’ot Maharal (Wundertaten des Maharal)784 ein ganzer Golem-Legendenzyklus über den Maharal, welcher später von Chajjim Bloch unter dem Titel Der Prager Golem, Wien 1919,785 in deutscher Sprache vorgelegt wurde. Inzwischen weiß man auch, wer der Autor jenes bei seinem Erscheinen angeblich dreihundert Jahre alten Zyklus war, nämlich der auch sonst als rühriger Erzähler und Herausgeber hasidischer Legenden bekannte Judel Rosenberg (1860–1936).786 Während in der aschkenasisch-hasidischen Mystik des 13. Jahrhunderts der tatsächliche Versuch, einen Golem zu erschaffen als Teil der mystischen Aktivitäten gefordert war,787 wird ab dem 14./15. Jahrhundert verschiedenen Meistern in Legenden die Erschaffung eines Golem zugeschrieben,788 ohne dass diese tatsächlich jenen mystischen oder namenmagischen Versuch selbst unternommen hätten, dies gilt insbesondere für Philosophen wie zum Beispiel Salomo Ibn Gevirol.789 Dasselbe gilt auch für Jehuda Liwaj, dessen hier zu besprechende Schriften nur wenig790 Anlass geben, gerade ihm die Erschaffung eines Golem zuzuschreiben. Auch wenn der Maharal die Kabbala kennt, sie positiv beurteilt und sich ihrer bedient und Magie für möglich hält, ist er damit im Vergleich zu anderen Autoren seiner Zeit kein besonders herausragender Aspirant, das Zentrum solcher Legenden zu sein. Dazu gaben wohl eher sein fast biblisches Alter Anlass, sein stetes Engagement in der Prager Gemeinde, wenn diese ihn auch zwei Mal bei seiner Kandidatur um das Ober-Rabbinat der Stadt übergangen hat782
Idel, Golem, S. 252.
783
Wolf Pascheles, Sippurim. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten, Prag 18704, Neudruck, Hildesheim1976, I, S. 51f.
784
Neuauflage: Warschau 1913, unter dem Titel: Ma‘ase funem Maharal mi-Prag […] Golem.
785
Neuauflage: Berlin 1920. Bloch gab, ermuntert durch den großen Erfolg der Prager Sammlung eine weitere Sammlung über R. Elija von Chelm, einem Zeitgenossen des Maharal, und seinen Golem heraus: Ch. Bloch, Israel der Gotteskämpfer. Der Baalschem von Chelm und sein Golem.
786
Über ihn und seine Werke s. G. Nig’al, Ha-Sipporet ha-hasidit, Toledoteha we-Nos’eha, Jeru-
787
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 348–354; und K.E. Grözinger, Between Magic and Religion –
salem 1981, S. 49f. Askenazi Hasidic Piety, in: K.E. Grözinger und J. Dan, Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, Berlin 1995, S. 28–43. 788
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 718ff.
789
Vgl. Idel, Golem, S. 233f.; zu Ibn Gevirol s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 525–552.
790
S. aber unten unter Gott und die Schöpfung.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
235
te. Mehr dazu beigetragen hat aber wohl die Tatsache dass Jehuda im Jahre 1592 zu einer Audienz bei Kaiser Rudolf II auf den Hradschin gebeten wurde, einem Kaiser, der sich bekanntlich nachdrücklich für esoterische Dinge interessierte, und letztlich, dass Jehuda schließlich doch noch 1599 im hohen Alter zum Oberrabiner Prags ernannt wurde und es bis zu seinem Tode im Jahre 1609 blieb.
2.
Zwischen Worms, Posen, Nikolsburg und Prag
Juda Löw ist wohl 1512 (jedenfalls nicht später als 1526) entweder in Worms oder im polnischen Posen geboren.791 Seine Kindheit hat er in der einen oder der anderen der beiden Städte verbracht. Erst mit dem Jahr 1553 gibt es sichere Nachrichten, die uns Juda Löw als Rabbiner von Nikolsburg und Obberrabbiner von Mähren finden lassen. Dieses Amt hatte er von 1553 bis 1573 inne. Aus unbekannten Gründen zog er 1573 als Privatperson nach Prag, und wurde dort unter der Patronage des Finanzmagnaten Mordechai Meisel zum Leiter der von Meisel eingerichteten Klaus, das heißt einer Art Bet-Midrasch, einem Lehrhaus zum öffentlichen Torastudium für Gelehrte. In diesen Jahren als Klausvorsteher, die bis 1584 andauerten, verfolgte Juda auch öffentliche Erziehungsziele, indem er Mischna-Bruderschaften einrichtete und in der rechtlichen Gestaltung der örtlichen Beerdigungsbruderschaft (Hevra Kaddischa) aktiv war. Vor allem begann er in dieser Zeit an seinen weit ausladenden Publikationen zu arbeiten und sie zu veröffentlichen, die später noch genannt werden müssen. Bei der Neuvergabe des Rabbinerpostens in Prag im Jahre 1583 wurde Juda, wie schon erwähnt, übergangen, was vielleicht der Grund war, weshalb er Prag wieder verließ und von 1584–1587 einem Ruf auf das Oberrabbinat nach Posen folgte. Der Grund, weshalb Juda danach so schnell wieder nach Prag zurückkehrte, war vielleicht der,
791
Zur Biographie und auch Theologie Maharals s. B.L. Sherwin, Mystical Theology and Social Dissent. The Life and Works of Judah Loew of Prague, London/Toronto 1982; B.Z. Bokser, The Maharal. The Mystical Philosophy of Rabbi Judah Loew of Prague, Northvale/London 1994 [ursprünglich: From the World of the Cabbalah, New York 1954]; A. Neher, Le puits de l’exil. Tradition et modernité: la pensée du Maharal de Prague (1512–1609), Paris 1991 (1966) (Hebr.: Mischnato schel ha-Maharal mi-Prag, Jerusalem 2003); ders., Faust et le Maharal de Prague, Paris 1987; Th. Dreyfus, Dieu parle aux homes. La théologie de la Révélation selon le Maharal de Prague, Paris 1969; A. Mauskopf, The religious Philosophy of the Maharal of Prague, New York 19662 (Brooklyn 1949); F. Thieberger, The great Rabbi Loew of Prague, London 1954; B. Gross, Le Messianisme Juif. »L’Eternité d’ Israël« du Maharal de Prague, Paris 1969 (Hebr.: Nezach Jisrael. Haschkafato ha-meschichit schel ha-Maharal mi-Prag. ‘Al haGalut we ha-Ge’ulla, Tel Aviv 1974); A. Gottesdiener, Ha-Maharal mi-Prag. Hajjaw, Tekufato we-Torato, Jerusalem 1975/6; romanhaft: Y.D. Shulman, The Maharal of Prague. The Story of Rabbi Yehuda Loew, New York/London, Jerusalem 1992.
236
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
dass der damals amtierende Prager Rabbiner sein Amt verlassen hatte und Juda sich erneut Hoffnungen auf eine Berufung nach Prag machte. Auf alle Fälle war er von 1588–1592 wieder in der Stadt an der Moldau, wo er die Klaus leitete und wegen der Vakanz des Rabbinats zur beherrschenden rabbinischen Figur geworden war. Allerdings wurde er bei der Neubesetzung des Postens im Jahr 1592 erneut übergangen, wiewohl man ihn zu einer Art Kandidaturpredigt in die Altneuschul eingeladen hatte. Wohl wegen der abermaligen Zurückweisung verließ Juda Prag erneut, um wieder Oberrabbiner von Polen zu werden. Wann er dieses Amt aufgab, ist nicht ganz klar, auf alle Fälle war er 1597 wieder in Prag. Und erst mehr als ein Jahr danach erfüllte sich dann der lang ersehnte Traum, dass Juda schließlich 1599 zum Oberrabbiner von Prag ernannt wurde. Im Jahre 1604 hat man ihm auf seinen eigenen Wunsch einen Assistenten beigegeben, Efraim Lunschitz (Lenczycz), der auch sein Nachfolger werden sollte.
3.
Die Schriften des Maharal
Die Schriften des Maharal sind im Wesentlichen Kommentare und Erörterungen zu ausgewählten haggadischen (erzählerisch-theologischen) Texten aus den beiden Talmudim und der weit ausladenden Midraschliteratur. Man kann sie mit Fug und Recht als eine systematische Enzyklopädie der rabbinischen Haggada, und damit Theologie, bezeichnen. Ihr erklärtes Ziel war es, dem Unverständnis dieser Literatur bei seinen Zeitgenossen entgegenzuwirken, die solcherart theologisch-philosophischer Erörterung religiös-jüdischer Themen allenfalls bei der mittelalterlichen Philosophie oder in der Kabbala finden konnten, wenn sie denn überhaupt danach fragten, und nicht ihr Judentum ausschließlich in der Halacha verwirklicht sahen. Wie oben schon angedeutet, hat Löw erst in relativ hohem Alter, mit 66 Jahren, seine publizistische Tätigkeit begonnen und dabei gewiss auf Materialien zurückgegriffen, die aus seiner langjährigen Rabbinatstätigkeit resultierten. Die Schriften, welche nunmehr als Gesamtausgabe vorliegen, werden im Folgenden nach ihrem ursprünglichen Erscheinungsdatum aufgeführt. Die hier verwendete Gesamtausgabe sind die Sifre Maharal, Bne Brak 1972– 1980 (ursprünglich London), ed. H.J.L. Ho[e]nig und Söhne (18 Bde.) mit einem zusätzlichen Einführungsband von: A. Gottesdiener, Maharal mi-Prag, Hajjaw, Tekufato we-Torato, Jerusalem 1976. Eine weitere Gesamtausgabe erschien unter dem Titel: Kol Sifre Maharal mi-Prag, New York 1969 (12 Bde.). Die Bände im Einzelnen nach deren erstem Erscheinen: 1. Gur ’Arje (Jungleu), Prag 1578 2. Gevurot ha-Schem (Die Machttaten des Herrn), Krakau 1582 3. Drusch le-Schabbat Teschuva (Predigt zum Buß-Schabbat), Prag 1584
Restaurativ-integrative Orthodoxie
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5. Drusch le-Schabbat ha-gadol (Predigt zum Großen Schabbat, d.h. vor Pesach), Prag, 1589 6. Derech ha-Hajjim (Der Weg zum Leben), Krakau 1589 7. Drusch ‘al ha-Tora (Predigt über die Tora), Prag 1592 8. Netivot ‘Olam (Pfade der Ewigkeit), Prag 1595 9. Hesped (Trauerrede), Prag 1598 9. Tif’eret Jisra’el (Der Schmuck Israels), Venedig 1599 10. Be’er ha-Gola (Brunnen des Exils), Prag 1600 11. Nezach Jisra’el (Die Ewigkeit Israels), Prag 1600 12. ’Or hadasch (Neues Licht), Prag 1600 13. Ner Mizwa (Leuchte des Gebots), Prag 1600 14. Hiddusche Jore De‘ah (Novellen zum Schulchan ‘Aruch, Jore De‘a), Fürth 1775 15. Hiddusche ’Aggadot (Novellen zu den Aggadot) (Perusche Maharal mi-Prag le-’Aggadot ha-Schas), 4. Bde, Jerusalem 1958. 1959. 1960. 1967. 16. Haggada schel Pesach, London 1960, ein anthologischer Kommentar zur Pesach-Haggada aus verschiedenen Schriften Maharals.
4.
Ziele und Positionen: Tradition-Philosophie-Kabbala
Die zweimalige Zurücksetzung Juda Löws bei der Vergabe des Prager Rabbineramtes hat gewiss mit seinen erzieherischen und gesellschaftlich-moralischen Auffassungen zu tun, die er unerschrocken gerade in jenen Predigten vortrug, mit denen er sich um das Rabbineramt bewarb. Zu diesen Vorstellungen gehörte vor allem seine Opposition gegen den Pilpul, also jener scharfsinnigen hypothetischen Konstruktion von Rechtsfällen zum talmudischen Text, deren erzieherischen Sinn Juda nicht erkennen wollte. Stattdessen plädierte er für ein von der Bibel über die Mischna zum Talmud sukzessiv aufbauendes Lehrprogramm, damit ein tragfähiges Fundament für die weitere Bildung gelegt würde, in dem nicht fragmentiertes, sondern kohärentes Wissen nach einer festen Ordnung aufgebaut wird, das sich auf eine sichere Kenntnis der hebräischen Sprache und ihrer Grammatik stützt.792 Allerdings bleibt dieses Erziehungsprogramm weit hinter dem der sefardischen und italienischen Vorstellungen zurück, wie sie etwa aus der Erziehung Leone Modenas sichtbar wurden, wenn Löw auch das Studium der Naturwissenschaften für erlaubt hält.793 Dennoch ist ein solches Programm für die aschkenasische Umgebung, in welcher der Pilpul vorherrscht, Grund zur Gegnerschaft.
792
Vgl. Gottesdiener, Ha-Maharal, S. 78–88.
793
S.oben. Kap. Religions- und Traditionskritik, I; und Gottesdiener, Maharal, S. 84.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Hier kann auch die Zielsetzung des reichen literarischen Wirkens von Juda Löw genannt werden, nämlich die Hinwendung zur haggadischen (predigenden) Literatur des Talmud und Midrasch als der rabbinisch theologischen Literatur. In ihr lernt man sich und die Welt verstehen, das was Gott für den Menschen ist und was der Mensch und insbesondere Israel im Chor der Völker der Welt. Juda hält dieses Verstehen für ein zentrales Element der Religion und votiert gegenüber den puren Halachisten für ein theologisch-philosophisches Verständnis der Religion. Damit nimmt er das Anliegen der mittelalterlichen Philosophen und Kabbalisten auf, allerdings sind gerade die Philosophen jene, deren Deutungen von Gott und Welt Juda aufs schärfste bekämpfen will. Sie attackiert er viele Male, und verwirft vor allem ausdrücklich die aristotelischen Lehren vom angelischen Aktiven Intellekt,794 der den Philosophen als Ordner der Welt und Ursache des menschlichen Intellekts gilt. Insofern fügt sich der Maharal in die oben schon beschriebene Bekämpfung des mittelalterlichen Aristotelismus in der Renaissance ein und hat demgegenüber deutliche – wenn auch nicht eingestandene – neoplatonische Neigungen. Aber Juda tut dies nicht aus philosophischen oder gar naturwissenschaftlichen Erwägungen, sondern in der Auffassung, dass alleine die rabbinische Haggada die wahre jüdische Theologie vertritt, neben welche allerdings auch die Texte der Kabbala als legitime jüdisch-theologische Literatur treten dürfen. Dies ist das dezidierte Programm aller seiner Schriften: »Damit du wissest, dass die Worte der Weisen [des Talmud und Midrasch] die Wahrheit sind und an dem, was [die Philosophen] sich daraus erklärten nichts ist. Dafür also will ich dir all diese Worte erklären, und du wirst den wahren Sinn ihrer [der Gelehrten von Talmud und Midrasch] Worte verstehen können, denn sie sind Worte einer sehr tiefen Weisheit. […] Wisse, die Worte der Weisen gleichen den Worten der Tora, alles vernunftgemäße Vorstellungen, wie es sich den Weisen ziemt, und nicht wie die Worte des [philosophischen] Denkens.«795 Man mag in dieser Zurückwendung zur antiken jüdischen Literatur das typische Anliegen der Renaissance erkennen, welche eben in den alten Texten die prisca theologia, also die alte Theologie erkennt, aber der Maharal lässt dies eben, entgegen den Humanisten, nur für die jüdische Literatur gelten, keinesfalls für die nichtjüdische. Die nach Maharals Meinung bestehende Unzulässigkeit nichtjüdischer Literatur in Sachen Religion ist es auch, die ihn veranlasst, eine mehrseitige Attacke 794
Zu ihm bzw. zur Aktiven Vernunft, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 412, 416f., 419f., 452f.,
795
Gevurot ’Adonaj, c. 9, S. 57b. Vgl. auch Be’er ha-Gola, Hakdamat ha-Mehabber, S. 11.
470; Bd. 2, S. 179, 304f.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
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gegen den oben besprochenen ‘Asarja dei Rossi zu reiten,796 dem er gerade dies vorwirft, nichtjüdische Literatur zum Verstehen der jüdischen Tradition herangezogen zu haben.797 Aber nicht nur dies. Es ist die »Verwegenheit« dei Rossis, auf interne Widersprüche in den rabbinischen Texten hinzuweisen, ganz zu schweigen von solchen mit außerjüdischen Texten und der allgemeinen Vernunft, die der Maharal geißelt. Das Ziel von Maharal ist es demgegenüber, die alten rabbinischen Texte gerade so zu erklären, dass alle »scheinbaren« Widersprüche sich in Wohlgefallen auflösen. Die philosophie- oder theologiegeschichtliche Position Juda Löws wird deutlicher, wenn man die einzelnen von ihm expressis verbis vorgetragenen Einwände gegen die jüdische Philosophie des Mittelalters, die er gut kennt, betrachtet, deren wichtigste hier genannt werden sollen. Grundsätzlich ist Maharal der Überzeugung, dass Gott den Völkern der Welt und damit den Philosophen – inklusive den jüdischen – zwar Weisheit geschenkt habe, aber eben nur »geschenkt«, was nach seiner Meinung bedeutet, dass die nichtjüdische Weisheit »nicht vom Wesen der göttlichen Weisheit« ist. Denn der rabbinische Segensspruch, der davon spricht, Gott habe »Fleisch und Blut« von seiner Weisheit geschenkt, will der Maharal so verstehen: »denn die Völker […] weil sie materielles Fleisch und Blut sind, hat ihnen der Name [Gott] eine Weisheit zufließen lassen, welche nicht die Wahrheit der göttlichen Weisheit ist, denn die göttliche Weisheit ist ›getrennt‹ [von der Materie] und göttlich. Aber den Israeliten ließ er die oberste göttliche Weisheit zufließen […] denn die Vernunft (Sechel) in der Tora ist eine [von der Materie] getrennte Vernunft. Er hat Israel ein vollkommen vernünftiges Recht (Mischpat) geschenkt.«798 Die jüdische Weisheit der Tora ist also von der irdisch menschlichen Weisheit durch Welten getrennt. Es zeigt sich schon hier der das ganze Werk Maharals durchziehende recht eigentlich platonische Dualismus von Form und Materie, oder Geist / Intellekt und Materie, von Natur und göttlicher Übernatur, der später noch näher zu beleuchten sein wird. Maharal verwendet in diesem Zusammenhang das den göttlichen Bereich qualifizierende Adjektiv nivdal, also getrennt,
796
Be’er ha-Gola, S. 126b-141b.
797
Z. B.: »Und schau, der Mann, den wir genannt haben, suchte in den Büchern der Gojim und der Völker und um ihretwillen widerspricht er ihren [der Weisen] Worte.«, Be’er ha-Gola, S. 132a.
798
Netivot ‘Olam, I, S. 59b.
240
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
das seine Herkunft von den Sechalim nivdalim, den Separaten Intellekten, der aristotelischen Kosmologie beziehungsweise Angelologie hat.799 Diese qualitativ-ontologische Unterscheidung von göttlicher und materieller Vernunft, oder Tora-Vernunft und Vernunft der Völker, sucht Maharal jedoch auch inhaltlich zu präzisieren und glaubt sich dabei sogar auf Maimonides berufen zu können: »Hinsichtlich dessen, was die Gelehrten der Völker über die Dinge unterhalb der Mondsphäre sagen, soll man auf sie hören, denn sie sind Gelehrte in Sachen der Natur, aber hinsichtlich dessen, was sie über die Dinge oberhalb der Mondsphäre sagen, also die Dinge, die jenseits der Natur liegen, darf man nicht auf sie hören. Denn sie sind gelehrt in Sachen der natürlichen Welt, aber oberhalb der Natur in Sachen der göttlichen Weisheit hört man nicht auf sie.«800 In Sachen der Naturwissenschaft, so Maharal, darf man also die Erkenntnisse der Philosophen und Naturforscher heranziehen, nicht aber in Dingen die den göttlichen Bereich betreffen. Dass dieser – laut Maharal – schon oberhalb der Mondsphäre beginnt, lässt sich aus Maimonides schwerlich ableiten, auch nicht dass etwa der kosmologische Gottesbeweis im Sinne einer ersten Ursache der Welt eine unerlaubte Aussage der Philosophen sei. Maimonides verwehrt den Philosophen allenfalls aus den Naturgesetzen der bestehenden Welt auf die Vorgänge vor der Welterschaffung und -Vollendung zu schließen. Auch seine Zweifel an der Richtigkeit der Lehre von den »Zehn Separaten Intellekten«, sind keine grundsätzliche Ablehnung theologisch-kosmologischer Spekulationen. Juda Löw glaubt demgegenüber an zwei qualitativ und ontologisch völlig unterschiedliche Welten, die natürliche und die übernatürliche, welche folglich auch ihre je eigene Wissenschaft haben.801 Dies Lehre von den zwei zu unterscheidenden Vernunftwahrheiten, der natürlichen und der göttlichen, ist auch nicht mit der oben beschriebenen802 Lehre von der doppelten oder dreifachen Wahrheit zu verwechseln, die in ihren Definitionen vom Menschen ausgeht und danach fragt, woher er seine Erkenntnis hat, aus der Forschung und Schlussfolgerung der Vernunft, oder aus verbürgten Traditionen. Hier bei Maharal werden ontologische Aussagen gemacht: So wie es zwei inkompatible Welten gibt, so auch zwei verschiedene Intellekte, zwei unterschiedliche Qualitäten von Vernunft.
799
Oder Separate Intelligenzen, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 417f., 423, 454, 462, 475.
800
Netivot ‘Olam, I, S. 59a. Zu der analogen, aber nicht identischen Äußerung von Maimonides
801
Dazu vgl auch Be’er ha-Gola, S. 112a.
802
S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B, 5.
s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 448.
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Aus dieser grundsätzlichen Trennung der zwei unterschiedlichen Erkenntnisbereiche zieht der Maharal nun allerdings die schon oben in der Berufung auf Maimonides angezeigte Folgerung, dass man die Naturwissenschaften der Völker nicht abzulehnen braucht, sondern sie sogar zu betreiben sind, da ja auch sie auf von Gott geschenkter Weisheit beruhen, sie: »Wir sehen also, dass man die Weisheit der Völker erlernen soll, denn weshalb sollte man eine Weisheit, die von Gott kommt nicht erlernen.«803 Dies gilt insbesondere dann, ja ist Pflicht, wenn man dadurch das Wesen der doch von Gott erschaffenen Welt erkennen kann.804 Allerdings wird auch diese Schlussfolgerung im Licht der rabbinischen Forderung, man müsse die Tora buchstäblich tagein und tagaus lernen, eingeschränkt, nämlich dahingehend, dass die nichtjüdische Wissenschaft allenfalls zur Förderung des Verständnisses der jüdischen Gelehrsamkeit herangezogen werden könne, gleichsam als Leiter zu jener, oder lieber doch ganz zu meiden sei. Und so resümiert Juda den gesamten Abschnitt mit der altrabbinischen Lizenz, dass man die nichtjüdischen Wissenschaften studieren solle, »damit man ihren Worten erwidern könne«. »Wenn man aber in ihren Worten etwas Akzeptables findet, das den Glauben stützt, kann man es annehmen, wenn aber auch nur das Allergeringste, das dem Glauben Israels oder den Worten der Weisen widerspricht, darf man keinesfalls auf sie hören.«805 Abschließend muss zu Maharals Grundkoordinaten noch die Frage gestellt werden, ob der Maharal von Prag ein Kabbalist oder Vertreter einer mystischen Theologie ist. Es war der große Kabbala-Forscher Gerschom Scholem, der die Debatte darüber angestoßen hat. In seinem Standardwerk »Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen«806 wirft er die Bemerkung hin »Der Prager Rabbiner aus dem 16. Jahrhundert hat einige seiner umfangreichen Schriften – wie etwa das große Buch Geburoth Adonaj, ›Die gewaltigen Taten Gottes‹ – dem Unternehmen gewidmet, die Ideen der Kabbalisten auszudrücken, ohne deren Terminologie zu benutzen oder in den Vordergrund zu schieben. Er ist in diesem Unternehmen so erfolgreich gewesen, daß es manchen modernen Gelehrten, da der Autor sie nicht ausdrücklich darauf hinweist, völlig entgangen ist, daß sie es mit kabbalistischen Gedankengängen zu tun haben.« Natürlich haben die Worte dieses Wegweisers der modernen judaistischen Wissenschaft alsbald zu Versuchen geführt, die These Scholems zu untermauern. So hat zum Beispiel André Neher 803
Netivot ‘Olam, I, S. 59b-60a.
804
Netivot ‘Olam, I, S. 61a.
805
Netivot ‘Olam, I, S. 61b-62a.
806
Frankfurt/M. 1967 (1957), S. 372.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Scholem zugestimmt.807 In Le puits de l’exil meint Neher: Les gloses du Maharal »sont vibrantes d’une mystique qui leur assigne leur place non pas dans le courant talmudique classique, mais dans cet autre courant talmudique que représent la kabbale et le hassidisme, et dont le Maharal est l’un des chaînons.«808 Auch Roland Goetschel unterstützt diese Ansicht und kommt zu der Auffassung »We do not hesitate to say that there are indeed many places in most of his books where the Maharal deals with kabbalistic teachings.«809 Demgegenüber vertrat Benjamin Gross gerade die gegensätzliche Auffassung: »in all his work […] there is not in that an echo of the doctrine of the sefirot or of the theory of the emanation, not the sitra achra or of the four worlds of the Kabbalah. The lexicon is not borrowed from the kabbalistic lexicon but is received from the Aristotelian classical lexicon.«810 Alle diese Autoren haben in mancher Hinsicht Richtiges gesehen und sind in ihrem Urteil doch einseitig, was zum Teil auf einer zu geringen Textbasis beruhen mag. So viel ist richtig. Das Lexikon Maharals ist nicht das der Kabbala, wiewohl er sie zitiert, viel eher das der Philosophie, aber dann nicht nur der aristotelischen, sondern auch der platonischen. Wichtiger aber ist, dass seine Anliegen weder die der Kabbalisten noch die der Philosophen sind. Vielmehr versucht er in der Kommentierung der alten Midraschim und Talmudim zu einer eigenen Position zu gelangen, die nach Elementen aus all den genannten Richtungen greift, um damit die Positionen der antiken Rabbinen zu rechtfertigen. Zu einer solchen Mittelposition findet schließlich auch Roland Goetschel in einem Aufsatz von 2002: »Toute l’originalité du Maharal est d’être parvenu à opérer dans sa pensée une synthèse harmonieuse entre des élements apparemment fort hétérogènes.« 811 Die Frage, ob der Maharal dann wenigstens eine mystische Theologie oder Philosophie vorgetragen habe, wie dies in den Buchtiteln von Ben Zion Bokser812 und Byron L. Sherwin813 angezeigt und in deren Texten dann auch aus-
807
A. Neher, Faust et le Maharal de Prague. Le mythe et le réel. Paris 1987; A. Neher, Le puits de
808
Le puits, S. 15.
809
R. Goetschel, The Maharal of Prague and the Kabbalah, in: K.E. Grözinger und J. Dan (Hg.),
810
B. Gross, Kabbalah and Philosophy in the Doctrine of Maharal of Prague, in: Revelation Faith
811
R. Goetschel, Les trois piliers du monde d’après le Maharal de Prague, in: M. Voigts (Hg.),
l’exil. Tradition et modernité: la pensée du Maharal de Prague (1512–1609), Paris 1991.
Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, Berlin 1995, S. 172–180. Reason, hrsg. von M. Hallamish und M. Schwarcz, Ramat-Gan, 1976, S. 88. Von Enoch bis Kafka. Festschrift für Karl E. Grözinger zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2002, S. 133–144, hier S. 144. 812
The Maharal. The Mystical Philosophy of Rabbi Judah Loew of Prague, Northvale/London 1994 [ursprünglich: From the World of the Cabbalah, New York 1954].
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drücklich geäußert wird, hängt natürlich von der Definition des »Mystischen« ab. Auf alle Fälle fordert der Maharal kein ekstatisches Leben, nichts was aus der Gemeinschaft der normalen Frömmigkeit hinausführt. Immerhin ist der hebräische terminus technicus für das mystische Erlebnis, nämlich Devekut, das »Anhaften« in den Texten Maharals häufig anzutreffen. 814 Allein, es bleibt die Frage, wie er diesen versteht. Nach dem Duktus der Theologie Juda Löws ist mit Devekut eher eine konstante ontologische Möglichkeit beziehungsweise Realität beschrieben, aber keine irgendwie geartete ekstatische Ausnahmesituation von Einzelnen oder von Gruppen, keine Ausnahmesituation des Bewusstseins, allenfalls das Ziel am Ende des Lebens, wozu unten noch Näheres zu sagen sein wird. Also sollte man den Maharal nicht einen Mystiker und seine Theologie nicht mystisch nennen.
5.
Kritik der Philosophie und »Kritik der reinen Vernunft«
Juda Löw setzt sich an zahlreichen Stellen seiner Midraschauslegungen mit unterschiedlichen philosophischen Lehren auseinander, um sie zurückzuweisen. So weist er die maimonidische Lehre815 zurück, Gottes Wissen und Wille sei mit dem Wesen Gottes gleich, weshalb in Gott weder das Wollen noch das Wissen eine Veränderung bedeute, noch das göttliche Wissen den Lauf der Dinge prädestiniere. Maharal meint demgegenüber, dass Wissen und Wollen nicht zu Gottes Wesen, sondern zu dessen Wirkungen gehörten, die sein Wesen nicht tangieren.816 Sie sind nach seiner Auffassung also zu dem zu rechnen, was Maimonides die »Wirkattribute« nennt,817 also Attribute, die Gottes Wirkungen in dieser Welt beschreiben, nicht aber sein Wesen. Und solche Wirkattribute, meint der Maharal, kann Gott unzählige haben, wie dies ja auch die Kabbalisten lehren.818 Ebenso weist Maharal die philosophische Definition Gottes als »Intellekt« (Sechel) zurück, denn Gott sei eben nicht durch eine Definition einzuschränken, sondern er sei die absolute Einfachheit, die nicht definierbar ist.819 Außerdem verwirft er die, zum Beispiel von Leone Modena820 und von ’Eli‘eser ’Aschkenasi, dem 813
Mystical Theology and Social Dissent. The Life and Works of Judah Loew of Prague, Lon-
814
Vgl. vor allem Sherwin, S. 123 und öfter.
don/Toronto 1982. 815
Dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 359f.
816
Derech ha-Hajjim, S. 233a-b.
817
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–446.
818
Zu Creascas Lehre von der Möglichkeit vieler Gottesattribute s. oben zu Spinoza Kap. Traditi-
819
Derech ha-Hajjim, S. 235a.
820
S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, I, 7.
ons- und Religionskritik, III, 5.3.2.
244
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
weltläufigen rationalistischen sefardischen Rabbiner von Krakau,821 geäußerte Auffassung, dass Gottes Allmacht auch das logisch Unmögliche nicht vollbringen könne, Gottes Vollmacht ist für den Maharal unbeschränkt.822 An anderer Stelle weist Maharal die philosophische Auffassung zurück, die Gottheit handle nur aus zwangsläufiger Notwendigkeit und nicht nach freiem Willen. Denn wäre Gott nicht frei, bliebe ja kein Raum für das menschliche Gebet.823 Was nun den philosophischen teleologischen Gottesbeweis anbelangt, der aus der Ordnung der Schöpfung auf eine erste ordnende Ursache schließt,824 ihm kann Mahral sehr wohl zustimmen, denn er bestätigt ja den jüdischen Glauben an eine schöpferische göttliche Macht. Zugleich aber verweist er auf die Grenzen eines solchen mit menschlichem Denken erlangten Beweises, denn wie läßt sich nach dieser Logik, die von einer wohlgeordneten Welt ausgeht, das Böse in der Welt erklären? Hier verweist der Maharal auf die Unvollkommenheit des menschlichen Denkens und der menschlichen Erkenntnis, die nie fest, sondern stets im Fluss also »zufällig« ist.825 Maharal widerspricht auch dem mittelalterlich-philosophischen Axiom, dass aus der Einheit Gottes wiederum nur eine Einheit verursacht werden könne, weshalb die Philosophen ja die ganze Theorie von den sukzessiven Mittelinstanzen der »Separaten Intellekte« entwickelten, welche die Entstehung der Vielfalt aus der Einheit erklären sollte.826 Mit der Verwerfung der intelligiblen Mittelinstanzen fällt für Maharal auch die zugehörige maimonidische Erkenntnistheorie und Soteriologie. Das heißt, er lehnt die Auffassung von der doppelten Aufgabe des so genannten Aktiven Intellekts ab, der nach Auffassung etwa von Maimonides den Erkenntnisprozess des Menschen anregt, so dass der Mensch durch den Erwerb von Erkenntnis dem Aktiven Intellekt ähnlich und mit ihm schließlich gleich wird und so, in diesen eingehend, die Erlösung findet.827 Der Widerspruch Maharals gegen die philosophischen Thesen erfolgt hier, wie auch sonst meistens, nicht mit logischen Argumenten, sondern mit dem Verweis auf die biblisch-rabbinische Tradition.828 Im Fall der Weltentstehungs821
Über ihn s. Neher, Mischnato, S. 108f. Juda zitiert in Derech ha-Hajjim aus ’Eli‘esers Ma‘ase
822
Derech Hajjim, S. 236.
ha-Schem einen Abschnitt über dessen Auffassung vom Wissen Gottes. 823
Be’er ha-Gola, S. 53.
824
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 249–256.
825
Tif’eret Jisra’el, S. 50f.
826
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 411f.
827
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462ff., 471–479.
828
Eine herausragende Ausnahme von seiner traditionsbezogenen Argumentationsweise gegen die Philosophie ist die Auseinandersetzung mit den Aristotelikern, vor allem in der Gestalt des Levi ben Gerschon, in den Einleitungen zu seinem Gevurot ha-Schem, worauf unten (8. Gott und die Schöpfung) zurückzukommen ist.
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lehre argumentiert Maharal zum Beispiel damit, dass bei der Annahme von Mittelinstanzen nicht mehr Gott der Schöpfer der Welt wäre, sondern eben die Mittelinstanzen. Gegen die philosophische Erkenntnis- und Erlösungslehre verweist er auf die Tora und ihre Gebote, welche dieses Ziel, die Erlösung zu bewirken, hätten und nicht der menschliche Erkenntnistrieb, oder sein Intellekt.829 Juda Löw überwindet demnach die mittelalterliche Scholastik nicht wie die italienischen Denker mit Hilfe der Empirie und des Experiments, sondern durch eine Rückkehr zu den alten Traditionen. Dass dies auch bei ihm nicht ohne Anleihen an philosophische Errungenschaften geht, ist mehrfach schon angeklungen und soll unten noch deutlicher werden. Die Zurückweisung der Lehre vom aristotelischen Aktiven Intellekt und den Separaten Intelligenzen hat auch die Rückkehr zur rabbinischen Anthropologie zur Folge, welche den Menschen höher einstuft als die Engel,830 nachdem die Philosophen die Intellekte, in welchen sie die Engel der Tradition erkennen wollten,831 hierarchisch höher als den Menschen eingestuft hatten. Im Zusammenhang mit der philosophischen Erlösungslehre bekämpft der Maharal außerdem die philosophischen Versuche, einen vernünftigen Sinn für die biblischen Gebote zu finden, das heißt die Bemühung der Philosophen um die so genannten Ta‘ame ha-Mizwot (Gründe der Gebote).832 Er beharrt demgegenüber auf dem rabbinischen Grundsatz, dass die Gebote ihren Sinn einzig und alleine in ihrer Herkunft von Gott, als Gebote Gottes, haben.833 Er wird diese Herkunft der Gebote allerdings nicht wie der rabbinische Midrasch und die Bibel durch einen geschichtlichen Vorgang begründen, sondern – und das ist das Spezifikum Maharals – durch die Einfügung in seine dualistische Ontologie, die unten noch zu besprechen sein wird. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Zurückweisung des Vorwurfs der Philosophen, die Bibel und die rabbinische Tradition sprächen von Gott in anthropomorphistischer Weise, was der Einheit und Einfachheit der Gottheit widerspreche. Maharal betont demgegenüber, diese theologischen Anthropomorphismen brächten keine Vielheit in die Gottheit, weil sie nichts über das Wesen Gottes aussagten, sondern die Dinge und Ereignisse nur schilderten, wie sie sich dem Menschen darstellen, ja wie sie für ihn existieren.834 In geradezu kantianischer Manier vertritt der Maharal die Auffassung, dass die Menschen niemals über Gott an sich, oder überhaupt über keinerlei »Ding an sich«
829
Nezach Jisra’el, S. 15b; Tif’eret Jisra’el, S. 33b-34a, 36a-b (c. 11),40 (c. 12), 54b, 91.
830
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 278ff.
831
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 453.
832
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394, 424ff., 480ff., 610ff., 693ff.; Bd. 2, S. 23, 604.
833
Tif’eret Jisra’el, S. 20f., 28f.
834
Tif’eret isra’el, S. 96a.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
reden könnten, sondern immer nur insofern und inwiefern sich die Dinge auf ihn selbst beziehen. Der Mensch kann also in seiner Beschreibung der Welt niemals von sich selbst absehen, so dass sich ihm alles Existierende nur in seiner Bezogenheit auf sein eigenes Dasein darstellt: »es ziemt sich, dass über Gott so gesprochen wird, wie er sich dem Menschen vorfinden lässt [oder: wie er für den Menschen existiert, ’ascher hu nimza ’el ha ’Adam], und so wie der Mensch es aufnimmt, so wird es über Ihn [über Gott] gesagt. […] Denn [der Mensch] benennt die existierenden Dinge mit wechselnden Benennungen, gerade so wie sie untereinander in Beziehung stehen (mitjachasim). So wird die Luft im Verhältnis zum Wasser ›warm‹ genannt, aber im Verhältnis zum Feuer ›kalt‹, da jenes noch wärmer ist. Und so werden alle Dinge gemäß dem Verhältnis zu den anderen Dingen benannt. Und nun steht ja alles Existierende in Beziehung zum Menschen (mitjachasim ’el ha ’Adam), denn er ist die Hauptsache der unteren Welt. Darum benennt der Mensch die Dinge je so, wie sie zum Menschen in Beziehung treten (mitjachasim ’el ha-’Adam) und nicht gemäß deren Beziehung zu Anderem. Um so mehr wird auch Gott so benannt, wie er zum Menschen [in Beziehung] tritt.«835 Es ist demnach alleine der Blick des Menschen, durch den alle Erkenntnis entsteht. Und dieser Blick kann vom Menschen selbst nicht absehen. Nie wird er das »Ding an sich« wahrnehmen oder benennen können, stets wird er es nur aus seiner Beziehung zu sich selbst wahrnehmen.
6.
Natürliche und spirituelle Erkenntnis in einem zweigeteilten Sein – menschlicher und göttlicher Intellekt
Das erklärte Ziel seines im Jahre 1600 erschienenen Buches Be’er ha-Gola (Brunnen/Erklärung des Exils) ist laut dem Vorwort von Juda Löw die Verteidigung der rabbinischen Tradition, das heißt der Mündlichen Tora, gegen jene, die sie verspotten. Juda zählt dort sogleich sieben Vorwürfe auf, welche die Verächter von Mischna und Talmud erheben, und die er in den sieben Kapiteln des Buches zu widerlegen gedenkt. Diese Vorwürfe gegen die Tradition sind laut Juda die Folgenden: 1. In Mischna und Talmud gibt es Dinge, die als klare Zufügungen zur Tora des Moses wie auch Weglassungen von ihr zu beurteilen sind.
835
Tif’eret Jisra’el, S. 96a-b.
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2. An vielen Stellen widersprechen sie [die Gelehrten des Talmud] dem Verstand und der Vernunft. 3. Die Rabbinen bieten falsche Auslegungen des biblischen Textes und Abweichungen von Grammatik und Ausdrucksweise der [hebräischen] Sprache. 4. In der Haggada des Talmud gibt es ungeziemende Aussagen über Gott. 5. In der Haggada des Talmud gibt es eitle Dinge die keinerlei Sinn machen. 6. Das rabbinische Denken widerspricht der Astronomie und Naturwissenschaft. 7. Die rabbinischen Gelehrten haben Recht und Gerechtigkeit gegenüber den Ungebildeten und Nichtisraeliten nicht beachtet, um sich an ihnen zu rächen und sie zu beschämen. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies gerade solche Vorwürfe sind, wie man sie von den oben beschriebenen intellektuellen italienischen Juden hören konnte und es ist daher kein Zufall dass die Attacke gegen ‘Asarja dei Rossi gerade in diesem Buch Maharals erfolgt. Juda Löw gibt sich mit der Aufnahme dieser Debatte klar als Verteidiger der Tradition, als Restaurator, zu erkennen, der wider den traditionskritischen Modernismus seiner Zeit kämpft. Für die hier zu erörternde Frage sind vor allem der zweite und der sechste Vorwurf entscheidend, also die Beanstandung, dass viele Äußerungen der rabbinischen Gelehrten nicht mit der Vernunft und mit den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinbaren seien. Dies sind Vorwürfe, die Juda Löw nicht einfach vom Tisch wischen kann, weiß er doch selber zu gut, dass dies tatsächlich so ist. Anders als die italienischen Vertreter einer doppelten Erkenntnis, welche die unterschiedlichen Erkenntnisweisen durch deren Herkunft unterschieden, hier der menschliche Verstand, dort die verbürgte Tradition, die sich aber dennoch aneinander messen lassen müssen, greift der Maharal zu einer grundlegend anderen Lösung, die zugleich die Grundlage seines gesamten Denkens ausmachte. Vieles, was man in dieser Welt als historische, menschliche, gesellschaftliche oder sonstwie eingetretene Entwicklungen begreifen und erklären kann, wie zum Beispiel die Erwählung Israels, dessen Gegensatz zu den Völkern, das Exil oder die menschliche Sünde, ist für den Maharal ganz anders zu erklären, nämlich als in der Struktur des Seins verankert, also nicht zufällig, nicht kontingent. In diesem Sinne deutet er auch das Problem des offenbaren Widerspruches zwischen dem rabbinischen und dem philosophisch – naturwissenschaftlichen Denken: »Wir haben dir schon vielmals erklärt, dass ihre [der talmudischen Gelehrten] Weisheitsworte [wahrhafte] Weisheit und [intelligibler] Intellekt sind und nicht auf die Materie bezogene Worte, darum werden sie ›Worte der Weisen‹ genannt, denn sie sind ausschließlich das Intelligible betreffende Worte. Die Worte der Weisen beziehen sich also nur auf das Wesen der Sache und haben
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nichts mit den materiellen und offenbaren Dingen zu schaffen. Und bezüglich dessen, was der Gegner [in dem hier auszulegenden Text] von Seiten der Natur[gesetze] einwarf, ist nicht ausschlaggebend, denn für Wunder bringt man keine Beweise von Seiten der Natur.«836 Damit will der Maharal sagen, dass die Wissenschaften dieser Welt sich ausschließlich mit den natürlichen materiellen Dingen befassen, wohingegen das rabbinische Denken mit dem nichtmateriellen rein geistigen Wesen der Sache befasst ist. Und während man die weltliche Erkenntnis aus der Betrachtung der materiellen vorfindlichen Dinge gewinnt, kann die Erkenntnis des Wesens der Dinge alleine durch eine höher spirituelle Erkenntnis gewonnen werden. Und die Erkenntnisquelle dafür ist die Tora, von der es in den Texten des Maharal unzählige Male heißt, dass sie sichli, das heißt intelligibel, im Sinne von spirituell, sei. Es gibt demnach eine natürliche und eine übernatürliche Erkenntnis. Und die letztere ist die »Intellektserkenntnis«, deren Quelle die Tora ist. Der Begriff des »Intellekts« und sein zugehöriges Adjektiv sichli bezeichnet also nicht den natürlichen menschlichen Intellekt, sondern den göttlichen Intellekt, den der Mensch nicht durch seine natürliche Bemühung erlangen kann: »Die rabbinischen Weisen besitzen die empfangenen Worte der Weisheit, die göttliche Weisheit, auf der ihre Wege gründen. Der Mensch aber, der diese Wege nicht besitzt, sondern nur die natürlichen, den menschlichen Intellekt, ist von den Worten der Weisen weit entfernt.«837 »Wisse, wo immer du so etwas [von den rabbinischen Gelehrten Geäußertes] findest, das vom menschlichen Intellekt ferne ist, hat dies seinen Grund darin, dass ihre Worte gemäß der Tora sind, welches der göttliche Intellekt ist, der oberhalb des menschlichen Intellekts steht.«838 Wiewohl nun aber der natürliche menschliche Intellekt und der spirituelle göttliche Intellekt völlig unterschiedlicher Qualität sind, ontologisch unterschieden sind, können sie sich dennoch den gleichen irdischen Fragestellungen zuwenden und jede der beiden Erkenntnisweisen wird am selben Gegenstand zu den ihr eigenen Antworten kommen. Juda Löw erklärt das zum Beispiel an der Astrono-
836
Be’er ha-Gola, S. 137b.
837
Be’er ha-Gola, S. 22b (2. Brunnen/Erklärung).
838
Be’er ha-Gola, S. 37b. Gegenüber dem göttlichen Intellekt, welcher der Intellekt der Tora ist, steht der menschliche Intellekt, der seinerseits nochmals unterteilt werden kann in den SprechIntellekt, also der intellektuellen Begabung der Sprache, die allen Menschen eignet, und den Forschungs-Intellekt, das ist der Intellekt der Gelehrten, also von Philosophen und Naturwissenschaftlern, Netivot ‘Olam, II, S. 108a.
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mie, die ja für die jüdischen Gelehrten zur Feststellung des Kalenders ebenso wichtig ist wie für die nichtjüdische Naturwissenschaft. Die grundlegende Verschiedenheit der beiden Wissenschaften kann Maharal an der geläufigen rabbinischen Formulierung vom Sod ha-‘Ibbur festmachen, was man ja wörtlich als »Mysterium, Geheimnis der Interkalation« übersetzen kann. Darum sagt der Maharal zur weltlichen »Weisheit der der Astronomie«: »Die gesamte ›Weisheit der Astronomie‹ kann niemals ›Weisheit‹ genannt werden, denn ›Weisheit‹ wird nur etwas genannt, wodurch man erkennt, was die Sache wirklich ist. Und dies findet man bei ihrer [der Völker] Weisheit nicht, denn es gibt keinen der die wirkliche Wahrheit erkannte […], welche das ›Mysterium der Interkalation‹ ist. Denn sie [die jüdischen Weisen] kennen deren Wahrheit wie sie sie aus dem Mund Gottes empfingen. Die Gelehrten der Völker kennen dagegen nur das Zeitmaß des Sonnen- und Gestirnumlaufes sowie das der Umrundungen des Mondes. Aber sie kennen nicht den Grund der Sache, und weshalb sie so ist, und warum genau. Und eben dies wird das ›Mysterium der Interkalation‹ genannt, denn dadurch kennt man die ganze Angelegenheit des Sonnen- und Gestirnlaufes gemäß der intelligiblen/spirituellen (sichli) Vorstellung und deren Wesen.«839 Die Dinge dieser Welt haben demnach eine natürliche Außenseite, welche man mit der menschlichen Wissenschaft erkunden kann, und eine spirituelle, »intelligible« Innenseite, deren Kenntnis nur durch die Offenbarung aus dem Mund Gottes zu erhalten ist. Diese unterschiedlichen Seiten der Wahrnehmung der Welt sind jedoch nicht nur im unterschiedlichen Modus der Erkenntnis begründet, sind also nicht nur epistemischer Natur, sondern sie haben eine ontologische Ursache. In dieser Welt gibt es nach Auffassung von Juda Löw eine doppelte Seinsordnung. Die eine ist die natürliche Ordnung und die andere ist die übernatürliche »intelligible« oder spirituelle (sichli) Ordnung. Diese beiden Seins-Ordnungen sind zwar ineinander verflochten aber nur der zur »intelligiblen« Seite gehörende Mensch kann neben der natürlichen Ordnung auch die »intelligible« Weltordnung wahrnehmen oder sie gar erfahren.840 Zu dieser intelligiblen Ordnung gehören auch die in dieser Welt geschehenden Wunder, die nicht der Naturordnung folgen, weshalb der Maharal sagen kann: »So wie die Welt der Natur eine wohlgeordnete Ordnung hat, die gemäß ihrer Natur abläuft, so haben auch die Wunder eine Ordnung.«841 Beide Ordnungen sind von Gott eingesetzt, aber sie sind doch 839
Be’er ha-Gola, S. 119b.
840
Gevurot ha-Schem, S. 7.
841
Gevurot ha-Schem, S. 7, 11.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
grundlegend verschieden und wirken dennoch nebeneinander. Maharal erklärt das einmal an der für naturwissenschaftliche Ohren unmöglichen Geschichte im Josua-Buch, nach welcher Josua Sonne und Mond geboten habe, am Himmel stillzustehen.842 Für Maharal besteht hier keinerlei Problem. Die Sache ist wirklich so geschehen, nur, dass die »Natur-Menschen« dies weder erleben noch wahrnehmen konnten, wohl aber die »Geist-Menschen«: »Es ist allerdings zu prüfen, ob dieses Wunder der gesamten Welt widerfahren ist oder nur jenem [Gesichts-] Winkel. Denn man muss sagen, dass Josua und den Israeliten unter jenem [Gesichts-] Winkel die Sonne still stand, der gesamten übrigen Welt aber nicht. […] Und wenn du fragst, wie ist das vorstellbar, dass die Sonne zugleich voranschritt und stehen blieb, wo doch R. Levi Ben Gerschon843 schrieb, dass dies zwei Gegensätze an einem Träger seien, weshalb dies unmöglich sei. Wir sagten ja aber schon, dass er nicht recht hat, denn es ist sehr wohl möglich, dass die Sonne gemäß ihrem Brauch voranschritt und von Seiten des Wunders zugleich stehen blieb. Denn eine Sache kann sehr wohl zwei Gegensätze besitzen, nämlich unterhalb zweier unterschiedlicher Aspekte, wobei die Natur etwas für sich und das Nichtnatürliche etwas für sich ist […] also stand die Sonne unter zwei unterschiedlichen Aspekten, sie schritt voran gemäß der Natur und blieb stehen gemäß des Nichtnatürlichen.«844 Abschließend ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der Maharal nach dem zuvor Gesagten die mittelalterliche Auffassung von der Identität von menschlicher Vernunft und Prophetie ablehnen musste. Erstaunlich ist allerdings, dass er nun der Prophetie nicht jenen göttlichen Intellekt zuschreibt, den er selber als die wahre Erkenntnisquelle preist. Vielmehr folgt Maharal dem altrabbinischen Diktum, nachdem der Weise den Vorzug vor dem Propheten hat. Denn so der Maharal, das Wahrnehmungsorgan des Propheten ist nicht die »Weisheit«, sondern – wie dies auch Spinoza sagt – die Imaginationskraft des Menschen. Und diese kann ähnlich wie die fünf Sinne, nur Dinge wahrnehmen, die mit dem Menschen in Beziehung stehen, nicht aber solche die völlig losgelöst von seinem körperlichen Dasein sind, wie die Unsterblichkeit der Seele und die »Kommende Welt«, weshalb eben in der Bibel darüber nichts zu lesen ist. Was hier zunächst eine Erklärung und Rechtfertigung nachbiblischer Lehren der Rabbinen ist, von denen in der Bibel selbst nichts zu lesen ist, wird aber de facto zu einer epistemologi842
Josua, 10, S. 12f.
843
Levi Ben Gerschon, Milchamot Ha-Schem, Die Kämpfe Gottes, Berlin 1923; Teil II,
844
Gevurot ha-Schem, S. 15.
Ma’amar, 6, Perek, 12, S. 455.
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251
schen Minderwertigkeitserklärung der Prophetie gegenüber der »göttlichen« Weisheit der rabbinischen Gelehrten, die natürlich auch weit über dem nur menschlichen Intellekt steht, der gleichfalls wegen seiner Gebundenheit an die Materie nur beschränkt erkenntnisfähig ist, das heißt, nur erkennt was der Naturordnung entspricht, nicht aber das, was über ihr steht.845 Diesem Verdikt würde natürlich das ganze biblische Wort verfallen, wenn es nicht – und dies ist das Hauptanliegen Maharals – mit der Kraft des von der Materie ungebundenen göttlichen Intellekts gelesen wird.
7.
Das zweigeteilte Sein
7.1
Das neoplatonische Erbe
Maharal vertritt, wiewohl er sich von der Philosophie fernhalten will, letztlich eine platonische Weltsicht. Da ist zum einen die natürliche irdische Welt, die von der Materie (Homer) und dem »Naturgesetz« bestimmt ist und sodann die übernatürliche ideelle, intelligible Welt, die von der intelligiblen »Form« (Zura), oder der »von der Materie getrennten Form« (nivdal) bestimmt ist. Die beiden Begriffe »Form« und »Materie«, die nach der mittelalterlichen aristotelischen Philosophie nur logische Unterscheidungen hinsichtlich eines je existierenden Gegenstandes waren und nach der platonischen Vorstellung immerhin auch getrennt tatsächlich existierten, diese beiden Begriffe sind bei Maharal zu ontologischen Qualitätsbegriffen geworden. Form und Materie sagen für ihn nichts über die »natürliche« oder logische Zusammensetzung von Gegenständen aus, sondern sie bezeichnen gegensätzliche Qualitäten, von denen ein Gegenstand mehr oder weniger besitzen kann, je nach der Seite, welcher er zuneigt, sei es nach der göttlich-intelligiblen, oder nach der natürlich-materiellen. Form und Materie werden nun zu Synonymen von »heilig« und »unheilig«, von göttlich und irdisch-materiell, von »von der Materie gesondert« (nivdal) oder »materiell«, rein oder sündig, »intelligibel / spirituell« (sichli) oder »natürlich / materiell« (tiv‘i / homari/Homer). Es ist dieses qualitativ dualistisch verstandene Begriffspaar, Form und Materie, welches bei dem hasidischen Autor Ja‘akov Josef aus Polna’a zum Zentrum seines Denkens wurde.846 Es wurde oben schon deutlich, dass Maharal das aristotelisch-mittelalterliche Modell der dreiteiligen Welt von Separaten Intellekten, Sphären und Erde ablehnte. Stattdessen vertritt er ein dualistisches Modell, das er auf den biblischen Schöpfungsbericht (Gen 1,6) stützte, in welchem von einer Himmelsfeste die
845
Ebd., S. 2f., 6, 7.
846
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 855–859, 862–865.
252
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Rede ist, welche die oberen von den unteren Wassern trennt. Diese Feste (Rakia), welche von den mittelalterlichen Philosophen mit den Gestirnsphären identifiziert wurde, ist nach Maharal dagegen die ontologische Trennungslinie von ideeller Geistwelt und irdischer Naturwelt, »dieser Rakia trennt zwischen den Oberen und den Unteren«.847 In diese grundlegende Zweiteilung kann Maharal dennoch auch die traditionelle mittelalterliche Dreiteilung einzeichnen, aber dann doch so, dass alleine die oberste Weltstufe die »intelligible« (sichli), die »Welt der Wahrheit«848 ist, in der es keinerlei Zusammensetzung gibt. Von dieser Weltstufe kann er, unverblümt neoplatonisch, sagen, sie sei »aus Gott emaniert«,849 sie ist vollkommen eins, ist Gott heilig, und um ihretwillen ist die Welt erschaffen worden. Die dann folgenden Gestirnsphären sind die »mittlere Welt« in der es ein gewisses Maß von Zusammensetzung gibt, während in der unteren, der irdischen Welt, alles zusammengesetzt ist.850 Während nun die Heiligkeit und Einheit der ersten intelligiblen Weltstufe ihre Abgesondertheit von den übrigen Weltstufen ihrer engen Emanationsbeziehung zur Gottheit verdankt, rührt die Vielfalt und Zusammengesetztheit der beiden folgenden Stufen daher, dass sie »verursacht« sind, und »die Vielfalt rührt von Seiten des Verursachten her, denn vom Verursachten kommt zwangsläufig die Vielfalt«.851 Nach dieser etwas variierten Weltbeschreibung gibt es also eine oberste heilige und völlig von der Materie getrennte Welt der Einheit und darunter, unterhalb der »Himmelsfeste«, die in abgestufter Intensität mit der Materie verbundenen Gestirnsphären und schließlich die Erde.
7.2
Das intelligible Sein – die Tora
Nach diesen neoplatonisch geprägten Festlegungen bezüglich der grundsätzlichen Zweiteilung des Seins gehen die Erwägungen des Maharal jedoch noch weiter, um anzuzeigen, was die Sonderstellung der obersten »intelligiblen« Weltstufe ausmacht. In ihr erkennt er das Reschit (Anfang) der biblischen Schöpfungsgeschichte, das am Beginn der Welterschaffung stand. Der Maharal reiht sich hier in die bei jüdischen Denkern weit verbreitete Spekulation852 um dieses 847
Be’er ha-Gola, S. 128, 111a-b.
848
Derech Hajjim, S. 57b.
849
Nezach Jisra’el, S. 18a.
850
Nezach Isra’el, S. 17b.
851
Nezach Jisra’el, S. 18a.
852
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 260, 575; Bd. 2, S. 122, 153, 482, 530f., 542, 605, 720, 766, 812, 858, 860; und s. K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung von Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Berlin 1994, S. 11–36; ders., Die hermeneutischen Paradigmata ha-
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erste Wort der Bibel ein, das von den meisten Auslegern nicht temporal, sondern instrumental gedeutet wird – also nicht »am Anfang«, sondern »mit dem Anfang« schuf Gott Himmel und Erde. Maharal, der sich allerdings gegen die Annahme jedweden Schöpfungsinstrumentes Gottes wehrte, welches die alleinige Schöpfermacht Gottes in Frage gestellt hätte, übersetzt be-Reschit darum nicht instrumental sondern als modus commodi, das heißt: Für dieses Reschit, um seinetwillen, hat Gott den Rest der Welten geschaffen. Dieses Reschit ist laut Maharal nicht Schöpfungsinstrument, sondern Anfang, zu dessen Gunsten der Rest der Welt hervorgebracht wurde. Dieser »Anfang«, dieses »pricipium«, ist aber nach Auffassung des Maharal in seiner Einheit, Einfachheit und Abgesondertheit (nivdal) noch ganz auf die Seite Gottes und nicht auf die Seite des in der Materie Existierenden gehörig.853 In Anlehnung an den alten rabbinischen Midrasch, nach welchem Gott mit dem Blick in die Tora die Welt geschaffen habe,854 sieht nun auch Maharal in der Tora dieses Reschit. Aber der Linie seiner Ontologisierung der rabbinischen Begriffe folgend, wird bei ihm die »intelligible«, von der Materie »abgesonderte« (nivdelet) Tora die der Schöpfung zugrunde liegende Ordnung: »da es hier also ein Reschit gibt, das ›eins‹ ist, wurde für dieses principium (hatchala, Anfang, Grundlage) alles erschaffen, denn das All ist die Vervollkommnung des principium. Und es gibt darüber Meinungsverschiedenheiten, was dieses principium sei, um dessetwillen alles erschaffen wurde. Und darum sagt [der Midrasch] ›um der Tora willen‹, weil die Tora intelligibel / geistig (sichlit) ist. Sie ist hinsichtlich ihrer Stufe vor allem und wurde vor allem erschaffen […], deshalb hat Gott, als er die Welt erschaffen wollte, zunächst die Ordnung der Welt ins Dasein treten lassen […], denn die Tora ist die Ordnung und Leitungsmacht (Hanhaga) des Existierenden.«855 Die Tora ist demnach nicht nur die Quelle der übernatürlichen Weisheit, sondern sie ist zugleich der übernatürliche Seinsgrund der gesamten Schöpfung und deren übernatürliche Ordnung, die höher steht als die – gleichfalls von Gott gegebene – natürliche Ordnung der Welt. Die im rabbinischen Midrasch eher implizit enthaltene Vorstellung, dass die Tora zugleich Welt- und Sittengesetz sei, wird bei Maharal zur ausdrücklichen Lehre vom Sein:
sidischer Tora-Deutung. Prinzipien der Innovation, in: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, hrsg. von W. Stegmaier, Frankfurt/M. 2000, S. 188–210. 853
Nezach Jisra’el, S. 18a.
854
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 259f.
855
Nezach Jisra’el, S. 16b.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
254
»durch die Tora werden die Taten der Menschen geordnet und die ganze Welt folgt der Tora, denn mit der Tora ordnete Gott die Welt […]. Darum ist es geziemend, dass sich alles, der gesamte Lauf (Hanhaga) der Welt und auch das Tun der Menschen, nach der Tora richtet.«856 Und um die Identität von erster intelligibler Weltstufe und Tora nochmals abzusichern sei erwähnt, dass Maharal auch von der Tora ausdrücklich sagt, dass sie aus der Gottheit »emaniert sei«,857 wie wir dies zuvor von eben jener ersten Weltstufe gehört haben. Auch auf die Herkunft dieses Gedankens aus dem neoplatonischen Denken wird einmal unverhüllt hingewiesen, wenn der Maharal sagt: »Denn Gott emaniert den allumfassenden Intellekt, dies ist die Tora, die ihrerseits den Intellekt emaniert, der dem All (Klal) zukommt, sofern es das umfassende All ist«.858 Hier ist unschwer der neoplatonische Weltintellekt als erste Stufe der Emanation aus dem »Einen«, das heiß der Gottheit, erkennbar.859 Mit dieser Charakterisierung lässt sich natürlich auch beim Maharal, analog zu dem Vorgang in der Kabbala,860 der fundamentalistische Gedanke äußern, dass wenn »die Tora die Ordnung allen Existierenden ist […] eine Hinzufügung oder Auslassung von der Ordnung der Existenz der Welt die Zerstörung der ganzen Welt bedeutet.«861 Das heißt, Maharal formuliert hier eine fundamentale Verteidigung der Integrität und Unverkürzbarkeit der Tora in allen Details. Ein weiteres neoplatonisches Charakteristikum dieser Tora sei abschließend erwähnt, nämlich dass sie das intelligible Urbild (Zijjur muskal) der Welt wie auch der menschlichen Handlungen ist, die »Ideenwelt« alles irdischen Seins.862
7.3
Die natürliche Welt und ihre Ursachen
Dem Vorwurf der Tora-Gegner, die rabbinischen Weisen verstünden nichts von den Naturwissenschaften, begegnet der Maharal mit einer Erörterung der in der Welt wirkenden Ursachen. Maharal wählt dafür das Beispiel des Regenbogens. Dieser wird in der biblischen Sintflutgeschichte (Gen 9) als von Gott gesetztes Erinnerungszeichen für Gottes Selbstverpflichtung gedeutet, dass Gott die Welt nicht mehr in einer Flut zerstören wolle. Demgegenüber sehen die Naturwissen856
Netivot ‘Olam, II, S. 37a.
857
Tif’eret Jisra’el, S. 54b; Derech Hajjim, S. 7b, hier mit dem terminus technicus ’azal; sonst
858
Tif’eret Jisra’el, S. 54b.
meist schafa‘. 859
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 494, 504, 508, 534, 542, 584.
860
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 398–403, 406, 520ff.
861
Tif’eret Jisra’el, S. 151b (c. 49).
862
Derech Hajjim, S. 69a.
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schaftler für den Regenbogen selbstverständlich eine natürliche Ursache, worauf der Maharal eigens hinweist. Der Maharal bestreitet angesichts dieses Widerspruchs aber die Wirksamkeit der natürlichen Ursachen und der natürlichen Weltordnung keineswegs. Vielmehr greift er zu der oben schon sichtbar gewordenen Lösung von einer doppelten Kausalität in dieser Welt, einer natürlichen und einer göttlichen und sagt dazu: »Die göttliche Ursache steht für sich und die natürliche steht für sich, allerdings ist die natürliche Ursache der göttlichen zwangsweise unterworfen.«863 Und wenn nun die rabbinischen Gelehrten, so Maharal, etwas sagen, das der natürlichen Ordnung widerspricht, so ist dies darin begründet, dass sie überhaupt nicht von den natürlichen Ursachen und deren Ordnung handeln, sondern stets von den göttlichen, »denn klein und gering ist die natürliche Ursache, dieses [Thema] gebührt den Naturwissenschaftlern (Hachame ha-Teva‘) oder den Ärzten (Rof’im), nicht aber den [rabbinischen] Weisen, denn sie sprechen von jener Ursache, welche die die Natur zwingt.«864 Maharal bestätigt in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich, dass auch die natürlichen Ursachen zwingend sind, dass es allerdings über ihnen noch eine »Ursache der Ursachen« gibt, nämlich Gott, welche jene natürlichen Ursachen beherrscht. Auch die Gestalt des Menschen, so fügt der Maharal als weiteres Beispiel an, hat eine natürliche Ursache, aber diese hat nun ihrerseits eine göttliche Ursache über sich.865 So kann die Bibel sehr zu Recht sagen, Gott sei der Schöpfer und Vater des Menschen, obwohl der fleischlich-menschliche Vater den Sohn zur Welt brachte und die Natur den ganzen Bau des Menschen gestaltete.866 Dieses letztere Beispiel, an welchem der wollende Mensch, die Natur und sodann die göttliche Ursache beteiligt sind, ist paradigmatisch für das gesamte Weltgeschehen. Demnach gibt es drei Weltlenkungsweisen (Hanhaga). Die erste Weltlenkungsweise ist die natürliche, welcher auch der Mensch unterliegt, die zweite ist die menschliche, das heißt der Wille des Menschen, der sich zum Beispiel in konventionellen Gesetzen (Nimus, griechisch: Nomos) ausdrückt, und schließlich die göttliche, die über der Natur und über dem menschlichen Willen steht und dies ist die Tora.867
863
Be’er ha-Gola, S. 66b.
864
Be’er ha-Gola, S. 106a.
865
Be’er ha-Gola, S. 106a.
866
Nezach Jisra’el, S. 12b.
867
Derech Hajjim, S. 123a-b, in: Netivot ‘Olam, I, S. 96 sieht das Dreierschema indessen leicht verändert aus: Seder ‘Olam (also die Naturordnung), Hanhaga sichlit (die intellektuellspirituell-göttliche Lenkung), Hanhaga sche-lo be-Teva‘ (die nicht der Natur entsprechende Lenkung), welche die Wunder hervorbringt. Hier ist also die übernatürliche göttliche Lenkung in zwei Stränge aufgeteilt, während der menschliche Wille fehlt.
256
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Über all dieser Dreiteilung der Weltwirkungsursachen betont indessen der Maharal nachdrücklich, dass auch die Naturordnung von Gott gesetzt ist und in seinem Auftrag handelt.
7.4
Materie und Form – ontologisch-moralische Qualitäten
Materie und Form waren, wie zuvor schon vermerkt, für die mittelalterlichen Philosophen die beiden Ursachen, Materialursache und Formursache, aus denen die existierenden Dinge ins Dasein gebracht wurden. Bei Juda Löw (Maharal) haben die beiden Begriffe diese Bedeutung verloren, wenn auch sein Sprachgebrauch anscheinend die überkommene Vorstellung bewahrt. Für ihn bezeichnen die beiden Begriffe Materie und Form nun nicht mehr die causa materialis und die causa formalis 868 der existierenden Dinge, sondern sie sind zu Wert- oder Relationsbegriffen geworden. Sie sind Relationsbegriffe insofern sie die Zugehörigkeit zu den beiden Welten im dualistischen Seinsverständnis des Maharal benennen. Sie sind Wertbegriffe insofern die Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Welt des Seins Göttlichkeit oder Materialität ausdrücken. Es ist beim Begriff »Materie« also nicht an die konkrete Materie zu denken, sondern an etwas, das dem minderen Daseinsbereich des Materiellen angehört, wie umgekehrt die »Form« Zugehörigkeit zum göttlichen Bereich bezeichnet. Ein anschauliches Zeugnis für diesen Sprachgebrauch ist die Beschreibung des Moses, des Empfängers der intelligiblen-spirituellen Tora: »Wisse, die Stufe unseres Lehrers Moses, Friede auf ihn, war die Stufe der Form, denn er war auf seiner Stufe von der Materie getrennt, denn die Separaten Intellekte sind reine Form, und wer der Stufe der Intellekte nahe ist, ist der Form nahe. Darum war unser Lehrer Moses ausschließlich Form ohne Materie.«869 Der Form-Mensch ist demnach ein intellektuell-spirituell vorangeschrittener Mensch, während der Materie-Mensch der natürliche Mensch ist. Entsprechend kann Maharal sagen, die Israeliten seien vollkommen vom Materiellen getrennt im Gegensatz zu den Völkern der Welt, die am Materiellen hängen.870 Dies war und ist allerdings nicht immer so, denn alles hängt von der Entwicklung zur intelligiblen Weltordnung, sprich zur Tora hin, ab. So waren die Israeliten vor der Toraoffenbarung noch nicht »Form-Menschen«, sondern allen Völkern gleich.
868
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 312.
869
Gevurot ha-Schem, S. 82b.
870
Gevurot ha-Schem, S. 85b-86a.
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Erst mit der Gabe der Tora empfingen sie die hohe Stufe der »Form«, die sie fortan von allen Völkern unterschied.871 Entsprechend gilt vom menschlichen Individuum: »Wenn der Mensch noch nicht vollkommen ist, sprich in seiner Kindheit verharrt, herrscht die Materie über die Form, so dass die Materie den Menschen führt und er den körperlichen Dingen nachgeht, die materiell sind. Erst wenn der Mensch heranwächst, herrscht die Form über die Materie und dann lenkt die Form den Menschen, dann wird die Materie zwangsläufig von der Form gelenkt. So war Israel anfangs unter der Hand der Ägypter, als sie aber vollkommen waren, erstarkte Israel über Ägypten, welche die Materie sind. Verstehe dies gut!«872 Die beiden zugehörigen Adjektive »formhaft« und »materiell« qualifizieren dementsprechend die Dinge und Geschehnisse in dieser Welt unabhängig von deren physischer Gegebenheit. Das naturhaft Irdische, wozu auch der natürlich menschliche Intellekt und das natürliche Handeln gehört, ist darum »materiell«, während das Denken und Handeln gemäß der Tora das »formhafte« ist.873 Damit ist auch gesagt, dass das »Materielle« das Böse und das »Formhafte«, welches zugleich das Tora-intellektuelle ist, das Gute.874 Abschließend sei vermerkt, dass bei den Israeliten der »Mensch« dadurch zur Vollkommenheit gebracht wird, dass Form und Materie sich vereinigen, das heißt der Mann, das ist die Form, und die Frau, die Materie.875
8.
Gott und die Schöpfung
In seinem Reden über Gott schließt sich Maharal, wo immer es geht, dem rabbinischen Duktus an. Das bedeutet aber nicht, dass er einfach das rabbinische Gottesbild übernehmen kann. Durch die mittelalterliche Philosphie ist auch dem Maharal die theologische Unschuld genommen und er kann sich nicht erlauben, dass man ihm ein anthropomorphes Gottesbild vorwirft. Es ist in den Einleitungen zu seinem Buch Gevurot ha-Schem, in denen er sich in für ihn ungewöhnlicher Breite mit der Philosophie auseinandersetzt und zwar mit der aristotelischen, die in der Gestalt des Levi Ben Gerschon, für Juda die Irreleitung des 871
Be’er ha-Gola, S. 36b.
872
Gevurot ha-Schem, S. 30b.
873
Tif’eret Jisra’el, S. 10 a-b.
874
Vgl. Derech Hajjim, S. 78a.
875
Be’er ha-Gola, S. 36b-37a.
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menschlichen Denkens schlechthin ist. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage der Wunder und der Bedeutung des göttlichen Wissens. Hinsichtlich des göttlichen Wissens stellt sich hier die Frage, inwieweit das Wissen Gottes durch sein Wissen der veränderlichen Dinge einer Veränderung unterliegt und dass dies folglich, da Gottes Wissen und Wesen eins seien, eine Veränderung im göttlichen Wesen bedeute. Die andere Frage ist die Annahme des Aktiven Intellekts, jener kosmischen Engelsmacht, die als Mittelstufe an Gottes Stelle die Wunder wirke. Juda Löw lehnt alle derartigen aristotelischen Vorstellungen ab und holt zu einer Äußerung über Gott aus, die zwischen rabbinischer Diktion und philosophischen Mindestforderungen steht: »Wir die Schüler Moses, Friede auf ihn, sagen nicht so, und Gott behüte, dass man so über Ihn spreche. Denn Er, Er sei gesegnet, den die rabbinischen Weisen mit dem Namen ›Der Heilige, gesegnet sei Er‹ benannten, wird nicht ›Der Intellekt, gesegnet sei Er‹ genannt. Denn sein wahres Wesen ist nicht bekannt, nur dass er von jeglicher Materie, jeglichem Körper und Existierendem abgesondert (nivdal) ist. Darum heißt er ›Heiliger, gesegnet sei Er‹, denn das Wesen der Heiligkeit ist das Abgesondertsein. Denn Er, Er sei gesegnet, ist in der allervollkommensten Einfachheit einfach.«876 Diese Einfachheit und vollkommene Absonderung bedeutet für Maharal, dass Gott keinerlei Definition unterliegt und grenzenlos ist. Denn das hebräische Wort für »Definition«, Geder, bedeutet ja Begrenzung. Der undefinierte Gott ist der grenzenlose. Und da Er keine Grenze besitzt, ist nichts von ihm »abgetrennt«. Das Attribut nivdal abgesondert, abgetrennt, wird hier in einer etwas anderen Weise als sonst gebraucht. Während der Maharal sonst unter nivdal das Spirituelle, das Intelligible, von aller Materie Abgesonderte versteht, bezeichnet das Attribut hier in seiner Negation, dass Gott als der Unbegrenzte mit allem verbunden ist. Darum, so schließt der Maharal, weiß Gott alles, vermag er alles und hat alles hervorgebracht.877 Wichtig zu betonen ist in diesem Zusammenhang ein weiteres Mal, dass das Wissen Gottes, der ja kein definierter Intellekt ist, nicht mit seinem Wesen identisch ist. Für Maharal ist das Wissen und das Wirken Gottes nicht sein Wesen, sondern Gottes Wirkung und Handlung, allerdings nicht Handlung, die sein Wesen ausmacht, sondern Wirkung, welche die Empfänger trifft. Hier nimmt Maharal im Grunde die maimonidischen »Wirkattribute« auf, die nichts über Gottes Wesen, sondern nur etwas über das Empfinden der Bewirkten und der Empfänger solcher Wirkungen aussagen. Gottes Wissen und Handeln ist das, wie Gott dem Menschen erfahrbar ist. 876
Gevurot ha-Schem, S. 9.
877
Ebd.
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In einem weiteren Schritt klärt nun Maharal inwieweit dieser Gott mit allem verbunden, also »nicht abgesondert« ist. Damit verbunden ist das alte philosophische Problem, wie denn aus dem Einen und Einfachen das Viele hervorgehen kann und außerdem wie die von den Philosophen nicht beantwortete Frage, in welcher Weise denn aus Intellekt Materie werden könne, zu lösen ist. Das heißt, Juda Löw nimmt die zentralen Fragen der mittelalterlichen Philosophen auf, welche diese mit ihren Theorien der intelligiblen Mittelstufen lösen wollten, die an einer gewissen Stufe in Materie umschlugen. Maharals Lösung ist die, dass er Gott nicht als »Intellekt« versteht sondern als das »Sein«. Dafür ist ihm natürlich der vierbuchstabige Gottesname, JHWH, wichtiges Argument, denn dieser ist ja aus dem hebräischen Verbum für »sein«, haja, ableitbar. Im Gegensatz zu dem Begriff des Intellekts, so Maharal, unterliegt der des »Seins« keiner Definition, und damit keiner Grenze, keinem Geder: »darum sind diejenigen Toren, welche sagen, Sein Wesen sei ›Intellekt‹ […]. Darum gab es ja den Einwand, wie [es vorstellbar sei, dass] aus dem einfachen Intellekt die Materie hervorgehen konnte […]. Wenn man aber sagt, dass Sein Wesen das einfache Sein (Hawajja peschuta) ist, dann können aus Ihm, dem einfachen Sein, viele Seiende in der Welt hervorgehen. Und obwohl die Geschöpfe körperlich sind, werden sie aus ihm, Er sei gesegnet, seiend, weil Er als einfaches Sein nicht definiert (jugdar, begrenzt) ist und aus seinem Sein alle Seienden hervorgehen.«878 Das Problem des Gegensatzes von Materie und Geist ist hier ausgeschieden, da beide am Sein teilhaben. Hier taucht jedoch eine neuerliche Schwierigkeit auf, nämlich dass nun die Gottheit mit allen Dingen etwas Gemeinsames habe, ja dass sogar seine Einheit zu einer Vielheit geworden sei, da sie denselben Namen des Seins tragen. Diese Frage wird kurzerhand so gelöst: »Da aus seinem Sein alles ins Sein trat, ist dies keine Vergemeinschaftung / Vervielfältigung, denn sie gingen ja aus Ihm hervor, aus seinem einfachen Sein trat alles in die Existenz, und dies alles ist Nichts ohne ihn. Und nur sein Sein wird Sein genannt und kein anderes außer ihm.«879 Mit anderen Worten, es gibt nur das Sein Gottes und sonst keines, also kann von einer Hinzufügung und Vervielfältigung keine Rede sein.
878
Gevurot ha-Schem, S. 10.
879
Ebd.
260
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Es ist dies eine platonische Grundposition, die nur ein göttliches Sein im wirklichen Sinne anerkennt, wo immer man von Seiendem sprechen kann und nach der alles Nichtgöttliche Nichtseiend ist.880 Und angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, wenn das Gottesbild Löws noch weitere platonische Züge aufweist. Mehrfach begegnet man in seinen Schriften dem neoplatonischen Grundgesetz des Seins, dass zu Beginn alles in einem »Progressus« aus der Gottheit hervorgeht, mit dem einzigen Ziel, in einem »Regressus« wieder in die Gottheit zurückzukehren. Für dieses Rückstreben zur Gottheit sind die von der Tora gebotenen Opfer für Gott, die Liebe zu ihm und die Umkehr (Teschuva) allesamt Zeugen und diesbezügliche Forderungen der Religion: »denn die Liebe des Menschen zu Gott ist seitens des Menschen an sich nichts, vielmehr kommt der Mensch von Gott, und zu Ihm kehrt er zurück, denn alles kehrt zu Ihm zurück. Denn nichts ist ohne Ihn, nur Er, Er ist einer und keiner außer ihm.«881 »So wie die Welt aus Gott emanierte (huschpa‘) so kehrt sie auch wieder zu ihrer Ursache zurück, denn sie hängt an ihrer Ursache, und dadurch kehrt sie zu Ihm, Er sei gesegnet, zurück.«882 Zur Beschreibung des Hervorgehens der Schöpfung aus dem einen Sein Gottes kann der Mahral nun auch zur kabbalistischen Onomatologie greifen,883 dies um so mehr als der Schem Hawajja, der »Name des Seins« (das ist JHWH), für ihn den Inbegriff des göttlichen Wesens ausdrückt. Dieser Name des Seins ist es, welcher das Dasein der Dinge hervorbrachte und verbürgt. Nach diesem Namen folgt der Gottesname Zeva’ot (Heerscharen), aus dem die Vielheit der nachfolgenden Zeugungen hervorgeht.884 Überhaupt ist der Vorgang der Emanation, wie bei den platonischen mittelalterlichen Philosophen, das Mittel der Vervielfältigung der Geschöpfe:
880
Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 489, 492, 499, 563; Bd. 2, S. 73, 227, 250f., 252f., 309– 312, 323, 412, 563; allerdings wird da auch gesagt, Gott stehe über und jenseits von allem Sein, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 492, 537; Bd. 2, S. 157, 160ff., 525.
881
Netivot ‘Olam, II, S. 39a; und vgl. Derech Hajjim, S. 61b.
882
Netivot ‘Olam, I, S. 84a.
883
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 341–354; Bd. 2, S. 47ff., 70ff., 150ff., 304ff., 346ff.,
884
Be’er ha-Gola, S. 80b.
395ff., 557, 766ff., 793ff.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
261
»Er, Er sei gesegnet, hat alles erschaffen. Und das Problem, wie denn aus dem Einen die Vielfalt hervorgehen könne ist einfach: Aus Gott, der Eins ist, emanierte eine Sache, das ist der Anfang (Reschit) der Schöpfung und danach erfolgte eine weitere Emanation auf diesen Anfang. Und dies macht einen großen Unterschied, denn da der Anfang schon da war und auf diesen eine weitere Emanation erfolgte. Denn wären aus Ihm zwei Dinge emaniert, jedes für sich, wäre es schwer [zu begründen], wie aus dem Einen zwei getrennte Dinge hervorgehen könnten. So ist aber nur ein Ding von ihm emaniert worden, der ›Anfang‹ der Schöpfung, und danach wurde auf den Anfang [erneut auf-] emaniert, und dadurch entstand der Unterschied und die Vielzahl der Existierenden, das heißt von Seiten der Empfänger.«885 Dieses Reschit, kann Maharal, wie schon gezeigt, mit der älteren rabbinischen Tradition auch mit der Tora identifizieren. Damit ist die Tora, die göttliche Weisheit das erste Emanat, aus dem dann durch weitere Aufemanationen die besagte Vielfalt hervorging.886 Dieses Modell verlagert die Pluralisierung auf die Empfänger, während aus Gott gleichsam immer nur eines hervorquillt. Das heißt, der eine Gott emaniert das eine Sein, welches sich auf der Empfängerseite als Pluralisierung darstellt. Es liegt nun nicht mehr ferne, dass der Maharal auch auf den Sefer Jezira (das Buch der Schöpfung)887 Bezug nimmt und auf dessen Aussage, dass Gott mit seinen Namen die Welt erschaffen habe,888 und noch in sie eingreifen kann. Damit sieht auch der Maharal in der Namenmagie ein legitimes menschliches Handeln, das nicht wider die Ordnung der Welt agiert. Es ist zumindest eine Stelle wie diese, welche die Zuschreibung einer Golem-Schöpfung an den Maharal plausibel erscheinen ließe.
9.
Der Mensch
9.1
Der Mensch als »Ebenbild Gottes«
Schon im vorangehenden Abschnitt zu Form und Materie war über den Menschen zu sprechen. Dabei wurde deutlich, dass der Mensch zwischen den beiden Qualitäten Form und Materie aufgespannt ist, er zwischen ihnen schwankt und gemäß seinem Anteil an ihnen zu beurteilen ist. Dies sind auch die Kategorien, 885
Nezach Jisra’el, S. 16a.
886
Netivot ‘Olam, S. 20a.
887
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 29–64; und Sefer Jezira, Buch der Schöpfung, aus d.
888
Be’er ha-Gola, S. 27b.
Hebräischen übs. und hrsg. von K. Herrmann, Frankfurt/M./Leipzig 2008.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
262
nach welchen der »Erste Mensch«, der Adam, vor und nach dem Sündenfall zu beurteilen ist. Das Maß der Vollkommenheit des Menschen, beziehungsweise seines Menschseins, richtet sich nach der Nähe zur Form, nach seiner Abgelöstheit von der Materie und dies galt schon für den Protoplasten: »Die Stufe des Menschen, als er noch in seiner Vollkommenheit war, war die abgelöste (nivdelet, separate), materielose Stufe. Und die abgelöste Stufe hat weder Maß noch Grenze, darum reichte der Mensch, als er erschaffen wurde, vom einen Ende der Welt zum anderen. Als er aber sündigte und sich dem Materiellen zuneigte, schrumpfte er zusammen und es verblieb ihm nicht mehr die abgelöste Stufe.«889 Wieder begegnen wir hier der Ontologisierung eines alten legendenhaften rabbinischen Midrasch, nach welchem der Erste Mensch zunächst in den genannten weltfüllenden Ausmaßen geschaffen worden war und von Gott hernach auf das spätere Maß reduziert wurde.890 Nach Maharals Deutung war die Größe des Adam darin begründet, dass er nicht materiell oder körperlich war und Maß und Grenze eben nur bei Körpern, nicht aber bei intelligiblen, rein geistigen Substanzen vorkommen. Der Sündenfall des Menschen bestand nun darin, dass er sich dem »Materiellen« zuwandte, wodurch er zwangläufig Maß und Grenze unterworfen wurde. Wiederum zeigt sich hier Juda Löws platonische Auffassung von der Materie, die die Quelle des Bösen ist. »Denn alle Dinge, welche von der Materie abgelöst sind, heißen gut. […] abgelöst von der Materie, die böse ist«. 891 Allerdings ist der Gegensatz zu dieser »Materie«, wie nach dem oben Gesagten eher selbstverständlich ist, nicht das, was der realen Materie reale Form gibt. Die Form, von der hier die Rede sein muss, ist erwartungsgemäß der »göttliche Intellekt«, das heißt die Tora.892 Der Sündenfall des Adam hat deshalb nach Auffassung des Maharal zu einer Art Erbsünde geführt, denn fortan waren alle Menschen mit der Materie verbunden. Genauer gesagt, wurde im Menschen das vermindert, was Jehuda Ha-Levi einst mit dem Begriff ‘Injan ’elohi, »die göttliche Sache« bezeichnet hatte.893 Diese »göttliche Sache« (res divina) hatte bei Jehuda Ha-Levi eine anthropologische wie auch eine kosmologische Funktion. Das heißt, es war das Göttliche, das in der Welt der Schöpfung wie im Menschen wirkte. Ähnlich beim Maharal. Allerdings hat er der Deutung der »göttlichen Sache« auf der menschlichen Ebene
889
Ebd., S. 126a.
890
Bereschit Rabba, Par. 8, Piska 1.
891
Derech Hajjim, S. 78a.
892
Ebd.
893
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 598–601.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
263
eine weitere klare Deutung hinzugefügt. Die »göttliche Sache« ist für ihn mit dem biblischen Zelem ’Elohim, also der »Gottebenbildlichkeit« des Menschen identisch: »Wir sagten ja schon, dass der Mensch bei den Unteren im Ebenbild Gottes (be-Zelem ’elohi) erschaffen wurde. Aber dieses Zelem (Ebenbild), welches Gott gegeben hat, ist nicht die vollständige ›göttliche Sache‹ wie bei den Oberen, denn die Bezeichnung ’Adam (Mensch / der Erdige) liegt auf ihm. Aber gemäß der ›göttlichen Sache‹, die in ihm ist, heißt es über ihn, er sei das All, wie dies für Gott bei den Oberen gilt. Und über den Menschen, der bei den Unteren als Zelem ’Elohim erschaffen wurde, kann man sagen, dass er bei den Unteren das All ist und nicht nur ein Teil. Und weil er dank dieser ›göttlichen Sache« notwendigerweise das All ist, und nicht ein Teil, ist dies das Wesen der Form des Menschen, darum achten wir nicht mehr auf das Maß des Körpers, denn das Wesen / Hauptsache des Menschen ist es, dass die ›göttliche Sache‹ in ihm ist, neben welcher der Körper bedeutungslos ist.«894 Wie Gott bei den Oberen alles umfasst, so der Erste Mensch bei den Unteren, worin er wahrhaft »Ebenbild Gottes« ist. Voraussetzung für diese Allumfassung des Menschen bei den »Unteren« war aber seine Freiheit von der Materie, ohne die das Göttliche unbegrenzt ist. Nach dem Sündenfall aber, der eine Hinwendung zum Materiellen war, wurde der Mensch verringert: »als der Mensch sündigte, hat Er ihn verringert«.895 Diese Verringerung betraf nicht, wie dies der bildhafte rabbinische Midrasch darstellte, die äußerliche Gestalt des Menschen, sondern das intelligible Zelem ’Elohim in ihm, das allerdings das menschliche Wesen ausmacht. Der Maharal betont jedoch ausdrücklich, dass dies nur eine Verringerung, nicht eine Entfernung des göttlichen Zelem war. Aber der Mensch war nach dem Fall dennoch ein anderer als vor der Sünde:
894
Gur ’Arje, Devarim, S. 32a.
895
Gur ’Arje, Devarim, S. 32a. An dieser Stelle ist es wert darauf hinzuweisen, dass die »göttliche Sache«, das heißt die menschliche Ebenbildlichkeit nicht etwa wie bei Maimonides nur auf den menschlichen Intellekt zu beziehen ist. Vielmehr inhäriert dem Menschen als ganzem diese Ebenbildlichkeit. Dazu gehört zum Beispiel die traditionelle Anzahl seiner Glieder, die nicht »natürlich« ist, wie die Ärzte glauben – so Maharal – sondern darin zeigt sich der übernatürliche göttliche Intellekt. Wie die Kabbalisten sieht Maharal in dieser intelligiblen Struktur des Menschen zugleich die Voraussetzung dafür, dass der Mensch die 248 positiven Gebote der Tora, die göttlichen Handlungen, ausführen kann, die ihn zum Herrscher über die untere Welt werden lassen; Tif’eret Jisrae’el, S. 16; vgl Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 437ff., 579ff.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
264
»Und siehe, er war nach dem Sündenfall ein anderer als vor dem Sündenfall, insofern er vor dem Fall das All war, so dass nichts außerhalb seiner war, und nach dem Fall Er diese Sache verringert hatte. Gewiss, Er hat sie verringert, aber das göttliche Zelem wurde nicht vom Menschen weggenommen, nur vermindert. Wir sagten dir ja schon, dass nicht jede ›göttliche Sache‹ gleich ist, es gibt den Fall dass sie vollständig ist und nicht zum Körper hinneigt, und den Fall dass sie nicht so göttlich ist.«896 Die Bewertung des Menschen richtet sich fürderhin demzufolge nach dem Maß seiner verbliebenen »Gottebenbildlichkeit«, welche ihrerseits vom Maß der Vermengung des Menschen mit dem Materiellen abhängt.897 Und gerade dies, so wird noch deutlicher werden, ist der Unterschied zwischen Israel und den Völkern der Welt. Denn die Qualität der Ebenbildlichkeit gehört grundsätzlich allen Menschen dank ihres Menschseins, allerdings ist das Maß des verbliebenen Restes unterschiedlich.898 Das einzige Mittel, das Maß der Ebenbildlichkeit zu erhöhen, ist der Erwerb des »Intellekts«, womit aber ausschließlich die Tora gemeint ist, nicht der natürliche menschliche Intellekt. Ohne Tora ist der Mensch »materiell«.899 Und eben darin beruht der wesentliche Unterschied zwischen Israel und den Völkern der Welt, die Israeliten haben die Tora und vor allem die Gebote, welche »übernatürliche« göttliche Handlungen sind, mit deren Hilfe sie den adamitischen Urzustand des Menschseins wieder erlangen können. Warum nun aber gerade Israel erwählt wurde, die Tora zu empfangen, ist später noch zu erörtern. Auf alle Fälle gilt für die menschlichen Individuen, dass die »Gottebenbildlichkeit« eine allgemeinmenschliche von Gott gegebene Anlage ist, darum kann auch der zum Judentum Übergetretene, der Proselyt, wie die Israeliten selbst werden, »denn wenn er zum Judentum übertritt, hat er die israelitische Qualität. Wenn er übertritt, wird er dem Volk Israel beigesellt und wird wie es.«900 Wiewohl der Maharal bei der gesamten Erörterung um die »göttliche Sache« von Jehuda Ha-Levi abhängig ist, bleibt er seiner eigenen Konzeption treu, dass die Ebenbildlichkeit allen Adamiten und nicht nur den Israeliten gehört, und der Proselyt – im Gegensatz zu Ha-Levis Konzeption901 – vollwertiges Mitglied in Israel werden kann.
896
Gur ’Arje, Devarim, S. 32b-33a.
897
Gevurot ha-Schem, S. 311b-312a.
898
Ebd.
899
Derech Hajjim, S. 78a.
900
Tif’eret Jisra’el, S. 10 a-b (c. 1).
901
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 601ff.
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265
Allerdings meint der Maharal, dass bei den Völkern die Gottebenbildlichkeit fast vollkommen hinter deren Neigung zum »Materiellen« verschwindet und wie als nichts erachtet wird, dies umso mehr nach der Erwählung Israels. Denn der Besitz der Ebenbildlichkeit ist doch wesentlich vom wahren Menschsein abhängig, und dies ist dort, wo die Tora ist, das heißt in Israel.902
9.2
Körper, Seele und Intellekt
Abgesehen von der Vorstellung des Menschen als Ebenbild Gottes greift der Maharal auch auf die anthropologischen Lehren der mittelalterlichen Philosophen zurück, nicht aber ohne diese seinem neuen dualistischen Denken anzupassen. Ganz mittelalterlich-platonisch klingt die in seinen Texten verbreitete Formel: »Im Menschen gibt es drei Dinge, den Körper (Guf) die Seele (Nefesch) und den Intellekt (Sechel).«903 Demnach wäre die Seele die Mittlerin zwischen dem rein Geistigen und dem vollkommen Materiellen.904 Aber Juda Löw verlässt diese klare Dreiteilung und nimmt eine Differenzierung der Seele vor, welche den im Zitat genannten Intellekt zu etwas völlig Neuem werden lässt. Maharal, der mit Maimonides, entgegen den Platonikern, nur von einer Seele sprechen will, schreibt dieser mit Maimonides mehrere »Kräfte« zu. Nach Maimonides sind dies, von unten nach oben, die natürliche Kraft, die belebende Kraft und die seelische Kraft.905 Die Platoniker sprechen demgegenüber von drei Seelen, der vegetativen, der animalischen und der rationalen.906 Maimonides, der dem Intellekt eine eigene Stelle zuschreibt, nennt die dritte Seelenkraft daher nur »seelisch« nicht rational. Juda Löw verbindet für seine Zwecke die beiden mittelalterlichen Konzeptionen und gibt dem Menschen nun zwei Seelenkräfte, die er, von oben nach unten so benennt: 1. Die »rationale Seele«, die so genannt wird, nur solange sie noch nicht mit dem Körper verbunden ist. Durch ihre Verbindung mit der Materie wird sie zur »Sprachseele«. In der mittelalterlichen Philosophie waren die Termini »rationale Seele« und »Sprachseele« Synonyme für die eine oberste Seelenstufe. Beim Maharal werden die Begriffe zu konsekutiven Begriffen. Vor der Einleibung ist die902
Nezach Jisra’el, S. 73b, 74a; und s. unten zum Kapitel Israel.
903
Gevurot ha-Schem, S. 51a, 188b.
904
Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 542.
905
Derech Hajjim, S. 204b, koach tiv‘i, koach hijjuni, koach nafschi.
906
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 504f., 514f., 522, 565.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
266
se Seele »rationale Seele«, durch ihre Einleibung wird sie zur seelischen »Sprachkraft« (Koach ha-medabber, Koach dabri).907 Sie ist von niedrigerem Rang, weil sie nun die gesamte Tora, welche sie vor der Einleibung kannte, vergessen hat, und weil sie nicht mehr absolut von der Materie separiert ist. An anderer Stelle nennt Maharal diese Kraft, gleichsam als Reminiszenz an die mittelalterliche Terminologie, den »Sprach-Intellekt« (ha-Sechel ha-dabri)908 oder Nefesch medabberet (Sprechseele).909 Und da diese Seelenkraft mit der Materie verbunden ist, haben sie die Früheren, so meint Mahral, auch den »Hylischen Intellekt« genannt.910 Mit diesem materiegebundenen Intellekt ist wohl auch der Sechel ’enoschi, also der nur »menschliche Intellekt, der mit der Materie verbunden ist«, oder der Sechel ha-’Adam (der menschliche Intellekt)911 gemeint.912 Diese Seelenkraft nennt Maharal auch die »göttliche Seelenkraft«.913 Es ist auch diese Seele, von der Maharal sodann in gut neoplatonischer Manier sagt, sie sei »aus den Oberen emaniert«, oder aus Gott selbst.914 2. Die zweite Seelenkraft ist die »Seele, wie sie alle übrigen Lebewesen haben«.915 Sie ist auch die »nicht vom Körper getrennte Seelenkraft«.916 In dieser Seelenkraft sind demnach die »vegetative« und »animalische« Seele oder Seelenkraft des Mittelalters zusammengefasst, die in den Erörterungen Maharal sonst keine weitere wichtige Rolle spielt. Das dritte Element der oben genannten Dreiteiligkeit des Menschen ist nun also der Intellekt. Er ist der schon beschriebene göttliche Tora-Intellekt, der also an die Toragabe gebunden und darum nur in Israel anzutreffen ist. Erst wenn der Mensch diesen Intellekt erwirbt, hat er die menschliche Vollkommenheit erreicht. Auch diesem Intellekt gibt Juda Löw, außer den oben genannten, noch weitere Bezeichnungen: »Der vom Körper getrennte Intellekt«,917 und, zu unterscheiden vom »menschlichen Intellekt«, der »Intellekt, den es im Menschen gibt«918 und schließlich der »forschende Verstand« (Sechel ha-‘ijjuni).919
907
Gevurot ha-Schem, S. 112b; oder: Nefesch ha-medabberet, Derech Hajjim, S. 55a.
908
Derech Hajjim, S. 55a.
909
Derech Hajjim, S. 86a.
910
Ebd.
911
Netivot ‘OlamI, S. 26 (c. 6).
912
Derech Hajjim, S. 25b.
913
Gevurot ha-Schem, S. 155a.
914
Tif’eret Jisra’el, S. 31b, 27a.
915
Sefer Derech Hajjim, S. 86a.
916
Gevurot ha-Schem, S. 155a.
917
Derech Hajjim, S. 86a.
918
Ebd., S. 189b.
919
Ebd., S. 55a.
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9.3
267
Die Unvollkommenheit und Vollendung von Welt und Mensch
9.3.1 Die Unvollkommenheit von Schöpfung und Mensch – des Menschen Aufgabe sie zu vollenden – durch Gebot und Tora Der biblische und rabbinische Optimismus,920 demzufolge die Welt gut, ja »sehr gut« ist, wie es der biblische Schöpfungsbericht nachdrücklich betont, ist schon durch die dualistischen Konzeptionen der spanischen Kabbala921 und der mit Maharal kontemporären lurianischen Kabbala922 infrage gestellt worden. Maharal schließt sich dieser Diskussion an, geht aber nicht den Weg des gnostischen Dualismus, sondern nimmt die altrabbinische Diskussion auf. Nach ihr ist der Mensch bei seiner Geburt noch nicht vollkommen, sondern muss, um Vollkommenheit zu erlangen erst beschnitten werden.923 Wieder leitet Maharal aus diesem rabbinischen Gedanken und dem weiteren rabbinischen Diktum, dass ein unverheirateter Mensch nur ein halber Mensch sei,924 einen ontologischen Grundsatz ab und begründet ihn mit der aristotelischen Weltentstehungsformel von Ursache und Wirkung: »Das Geschaffene ist, weil es verursacht wurde, unvollkommen und braucht Vollendung. So wurde der Mensch erschaffen und brauchte eine Vollendung (Haschlama), das ist die Frau […] das Geschaffene ist unvollständig und wird durch etwas vollendet, das ihm Hilfe ist.«925 Dieses Prinzip der Unvollkommenheit des Geschaffenen hat die Vielzahl der Geschöpfe hervorgebracht. Das Ersterschaffene erhielt seine Vollendung durch das Nächstgeschaffene, das ihm diente und so fort.926 Diese Unvollkommenheit sieht der Maharal zum Beispiel auch bei der Himmelsfeste, welche die intelligible von der sensiblen Welt trennt. Da auch dieses Geschaffene als Verursachtes unvollkommen und daher defekt sein muss, gibt es dort in der Himmelsfeste eine 920
Zum rabbinischen Optimismus s. K.E. Grözinger, Prediger gottseliger Diesseitszuversicht, Jü-
921
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 89ff., 155ff., 573ff.
dische ‘Optimisten’, FJB 5 (1977), S. 42–64. 922
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 655ff.
923
Berschit Rabba, Par 46, Piska 5; Tanchuma, lech lecha, Perek 16.
924
Nach dem Sohar ist der Mensch erst in der ehelichen Verbindung vollkommen: »Denn ohne Weib ist der Mensch nur ein halber Leib.«, Sohar, III, 109b; s. dazu die Legende vom Ba‘al Schem Tov über die Klage beim Tod seiner Frau, in: K.E. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Schivche Ha-Bescht, hebr. und jidd. Text, hrsg., übs. Und komm., Einleitung, 2 Bde., Wiesbaden 1997, H167, S. 147; und s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 552f.
925
Nezach Jisra’el, S. 16a.
926
Ebd.
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
268
Lücke. Und darum, so der Maharal, sagten die Rabbinen, dass von dort, das ist der Norden, das Böse in die Welt komme. Die Vollendung des Natürlichen muss also durch ein helfendes Pendant geschehen. In diesem Fall ging das so: Der Norden steht zugleich für die linke Seite, welche mangelhaft ist. Diesem Mangel wurde durch die rechte Seite begegnet. Juda Löw selbst sieht in der Unvollkommenheit der Schöpfung zugleich den Beweis dafür, dass es nur eine Ursache in der Welt gibt, nämlich Gott, der Einer ist. 927 Denn gäbe es eine Zweiten, dann könnte dieser die Welt vollenden, so aber ist bewiesen, dass nur der eine Gott dies vermag. Die Unvollkommenheit des Verursachten dient als Beweis für die einzig vollkommene Ursache! Das bisher über die Unvollkommenheit der Schöpfung Gesagte ist aber nur die eine, die geringere Seite der Sache. Das bisher Gesagte gilt nämlich für die natürliche Welt, das heißt für alles, was in den sechs, oder sieben Tagen der Schöpfung hervorgebracht wurde: »Denn in den sechs Tagen der Schöpfung (des Anfangs, Bereschit) wurden nur die natürlichen Dinge erschaffen. Aber die Dinge, die oberhalb der Natur stehen, sie waren in den sechs Tagen nur in potentia (als Möglichkeit) da und wurden erst vom Menschen, welcher ›intellektuell‹ (sichli) ist, in die Wirklichkeit gebracht.«928 Maharal bringt dieses Resümee als Auslegung zu einem Midrasch im Talmud (Pesachim 54a), wo davon die Rede war, dass in Gottes Gedanken zwei Dinge aufgestiegen sind, die er erschaffen wollte, die er aber dann erst am Ausgang des Schabbat realisierte, nämlich das Licht, das man aus den Feuersteinen haut, und den Maulesel, der als Mischung aus Pferd und Esel entsteht. Der Ontologe Maharal macht daraus den Grundsatz, dass alle Dinge in der Welt, die über das rein Natürliche hinausgehen, erst durch den Menschen zu realisieren sind. Und das heißt, dass der Mensch erst die Vollendung der Schöpfung herbeibringt. Diese Schlussfolgerung vom Vollendungshandeln des Menschen trifft nun vor allem für den Menschen selber zu, denn er ist zwar zum einen ein Teil Natur, aber zum anderen eben auch ein vernunftbegabtes Wesen, was oberhalb der Natur steht. Darum muss es die zentrale Aufgabe des Menschen sein, sich selbst zu vollenden und dadurch die Schöpfung zur Vollkommenheit zu führen: »Der Mensch, das Gebilde der Hand Gottes, das Erlesenste der unteren Welt, ist unvollkommen, bis dass er durch sein eigenes Tun vollendet wird.«929 Das Mittel für dieses Vollendungshandeln des Menschen sind die Gebote der Tora. Es sind 927
Be’er ha-Gola, S. 129a-b.
928
Ebd., S. 39a.
929
Tif’eret Jisra’el, S. 10a.
Restaurativ-integrative Orthodoxie
269
diese Gedanken, die Scholems Auffassung rechtfertigen können, dass der Maharal einen zentralen kabbalistischen Gedanken vertrete, nämlich dass das Handeln des Menschen der Vervollkommnung der Welt diene. Was allerdings bei Maharal fehlt, ist die bei den Kabbalisten damit verbundene Theosophie, das heißt die Lehre von den Sefirot, die für die kabbalistische Theorie von der Theurgie zentral sind. Die Vollendung des männlichen Menschen beginnt, wie schon angedeutet, sogleich nach dessen Geburt. Gemäß der Natur wird der Mensch mit einer Vorhaut geboren, da aber des Menschen Vollendung oberhalb der Natur liegt, muss an ihm eine jener von der Tora gebotenen »göttlichen Handlungen« vollbracht werden, welche durch die Natur und den natürlichen Verstand nicht erklärbar sind, nämlich die Beschneidung. Die Beschneidung ist die Vollendung dessen, was der Natur fehlt.930 »Darum wisse, dass die Gebote durch den Menschen vollführte göttliche Handlungen sind, durch welche der Mensch zu einer Stufe gelangt, welche über der Natur steht«.931 Es ist die Lehre aus Jehuda Ha-Levis Sefer Ha-Kusari von den richtigen Handlungen, welche dem Menschen Gottes Wohlgefallen verschaffen und ihn in den Besitz der »göttlichen Sache« bringen,932 die hier ihre Wiederbelebung erfährt. Bei Maharal sind die Koordinaten allerdings etwas verschoben. Ausgehend von der Lehre von der Unvollkommenheit der Schöpfung inklusive des Menschen, dient das richtige Tun hier der Vollendung der Schöpfung, durch die Inkraftsetzung der als Potenz angelegten Übernatur des Menschen. Damit hat der Maharal im Rahmen seiner platonisch-dualistischen Weltsicht wieder eine neue machtvolle Begründung für die Beibehaltung der rabbinischen Halacha gefunden, entgegen deren Aufweichung im Schwange der mittelalterlichen Philosophie.933 An dieser Stelle wird deutlich, dass der Maharal kein Kabbalist im Sinne der spanischen Kabbala ist, welche die Gebotsbegründung durch deren Bezug zur sefirotischen Welt bewerkstelligt. Aber es gibt auch keine Übereinstimmung mit der lurianischen Kabbala, wiewohl der Gedanke des Tikkun (Wiederherstellung), ein Wort das auch Maharal gebraucht, eine solche Nähe suggeriert. Bei Luria wird die Wiederherstellungsnotwendigkeit der Welt anders begründet, durch den Bruch der Gefäße, was immer dessen Grund gewesen sein mag,934 als bei Maharal, der demgegenüber eher aus philosophischen Traditionen schöpft.
930
Ebd., S. 10a-b.
931
Ebd., S. 10b.
932
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 610–613.
933
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 424ff., 480ff.
934
S. dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 448ff., 596ff.
270
Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Das Resümee von Juda Löw zum menschlichen Schicksal in dieser Welt lautet deshalb sehr faustisch: »Der Mensch wurde zur Mühsal um die Tora erschaffen. Denn es ist unmöglich, dass der Mensch je zur Ruhe gelangt, sowenig wie die Himmel, die unablässig ruhelos kreisen, denn dies ist etwas, was dem Materiellen nicht zukommt, denn das Materielle wird niemals Vollendung erlangen. So wird auch der ›abgelöste Intellekt‹ [der Tora-Intellekt] in Israel niemals Vollendung erlangen. Und weil es hienieden keine Vollendung gibt, bedarf es der Mühe ohne jegliche Ruhe.«935 Juda Löw schöpft hier aus der maimonidischen Konzeption, dass der Mensch bei seiner Geburt in Potenz ein intellektuelles Wesen ist, das er im Laufe seines Lebens durch voranschreitende Erkenntnis zur Wirklichkeit bringen muss.936 Diese Aufgabe, so der Maharal, wird aber dem nur »menschlichen Intellekt« niemals gelingen. Es ist alleine die Tora mit ihrem göttlichen Intellekt, der sich gerade auch in den Geboten äußert, welche alleine den Menschen und damit die Welt zur Vollendung führt.
9.3.2 Vollendung und Devekut – das Haften am Göttlichen Die Situation des Menschen in dieser Welt ist dadurch charakterisiert, dass er nicht nur der natürlichen, sondern auch der intelligibel-spirituellen Welt angehört. Seine göttliche Seele ist bei der Geburt nur im Zustand der Potenzialität und die Aufgabe des Menschen ist es, sie zu verwirklichen. Dies kann einzig und alleine dadurch geschehen, dass er seine Seele aus dem natürlich-materiellen Lebensbereich entfernt, sie dem intelligiblen-spirituellen Bereich annähert und an ihm hängt. Dies kann allerdings nicht durch den nur menschlichen Intellekt geschehen, sondern alleine durch den göttlichen Intellekt, und der ist eben die Tora mit ihren Geboten. Durch die Erfüllung der Gebote begibt sich der Mensch in den »sakralen« Raum des Göttlichen und haftet an ihm: »Und siehe, diese guten Taten [der Gebote] zeichnen die aus Gott emanierte Seele aus, um sie aus der Natur, die der Mensch mit den übrigen Lebewesen gemeinsam hat, herauszuziehen, wodurch er die Devekut (das Anhaften) an Gott, er sei gesegnet und erhoben, erlangt. […] Von den Geboten kennen wir indessen nicht den Grund (Ta‘am), wie sie die Glückseligkeit der Seele be-
935
Derech Hajjim, S. 87a.
936
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–468.
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wirken und der Mensch dadurch die höchste Glückseligkeit (Hazlacha) erwirbt. Aber diese Gebote gebühren dem Menschen, weil sie allesamt göttlich und intelligibel (sichlijot) sind. Dies ist die Ordnung Gottes, Er sei gesegnet, nicht das, was der menschliche Intellekt für logisch zwingend erachtet […]. Darum haftet der, welcher an den Geboten haftet, am Intelligiblen (Sichli), und das ist der höchste göttliche Intellekt. Und dadurch hat man Devekut (Anhaftung) an Ihm, Er sei gesegnet. Die Gebote ziehen den Menschen aus der allen gemeinsamen Natur. Und dadurch wird die Seele geläutert, dann haftet sie an Ihm, Er sei gesegnet.«937 Die Gebote der Tora gehören dem göttlich intelligiblen Bereich an und deshalb hat sich derjenige, der an den Geboten haftet, in den göttlich intelligiblen Bereich begeben. Die menschliche Seele wird durch die Gebotserfüllung aus dem Zustand der Potentialität herausgeführt und zu ihrer Verwirklichung gebracht. Und dieses ist die Glückseligkeit des Menschen und der Zustand der Gottesanhaftung. Man mag diesen Vorgang »Mystik« nennen. Aber diese Mystik hat keinerlei ekstatischen Zug, auch nicht die der menschlichen Ausnahmesituation. Hier wird vielmehr der vom Menschen geforderte »Entwicklungsprozess« beschrieben, der Eintritt in den »Sakralraum« der Tora und ihrer Gebote. Das heißt, das normale vom Juden geforderte Leben unter der Tora wird hier mit einer ontologischen Qualität ausgestattet. Das hier Beschriebene ist im Rahmen der moralisch-sakralontologisch »dualistischen« Daseinsformation der Schritt aus dem einen hin zum anderen Pol, der Schritt aus dem Bereich der »Materie« in den der »Form«. Dabei muss man sich allerdings erinnern, dass diese beiden Bereiche allenfalls an die philosophische Differenz von Materie und Form angelehnt, nicht aber mit ihnen identisch sind. Der Mensch in der »Devekut« gehört im selben physischen und natürlich-geschöpflichen Leben durch die Gebotserfüllung zugleich einem übernatürlichen spirituellen Raum an. Dies kann man allenfalls eine Mystik des religiösen Alltags nennen.
9.3.3 Die Gelehrten als Mittler der Devekut Hier muss noch ein weiterer Gedanke des Maharal erwähnt werden, der nachher zu einer der Grundsäulen des osteuropäischen Hasidismus wurde.938 Ausgehend von der talmudischen Verheißung,939 dass es die Schrift jedem, der seine Tochter
937
Tif’eret Jisra’el, S. 31b.
938
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870ff., 904ff.
939
Babylonischer Talmud, Ketubbot 111b.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
mit einem Gelehrten verheiratet, diesem Spenden zukommen lässt und mit ihm Geschäfte macht, anrechnet als würde er an der Schechina (der göttlichen Präsenz) haften, sagt der Maharal: »Wenn der Mensch Verbindung zum Intellekt, das heißt zu einem Gelehrten, hat, gehört er derselben Bestimmung zu, […] das bedeutet, wer an einem Gelehrten haftet ist als hafte er an der Schechina. Dies ist so, weil der Gelehrte Devekut an der Schechina besitzt, weil im Gelehrten der göttliche Intellekt ist. Darum: Wer am Gelehrten haftet, welcher Devekut an der Schechina hat, hat gleichfalls Devekut an der Schechina, auch wenn er selbst kein Gelehrter ist.«940 Der Maharal entwickelt die talmudische Aussage des »als ob« und des »Anrechnens« wiederum zu einer ontologischen Aussage. Das Hängen am Gelehrten ist gleich der Devekut, dem Haften an der Gottheit. Es ist dieser Gedanke einer vermittelten Devekut, durch welche auch der Ungebildete am Privileg der Anhaftung am Göttlichen Intellekt und damit an der Gottheit selbst hat, der vor allem durch die Lehren des Ja’akov Josef aus Polna’a dem Hasidismus zum Durchbruch in den Volksmassen half.941 Es war schon ein von den Rabbinen formulierter Gedanke, dass der Gelehrte den Vorzug vor dem Propheten verdient. Diese Vorstellung wird beim Maharal, wie schon zuvor angedeutet war, wiederum zu einer Aussage des Wesens. Der Gelehrte hat den göttlichen Intellekt, dadurch ist er dem heiligen Bereich des göttlichen Intellekts zugehörig und ist damit per definitionem in der »Anhaftung« in der Devekut, die, ich betone es noch einmal, für Maharal kein ekstatischer Vorgang, sondern ein Zustand im Bereich des heiligen Intellekts ist. Es ist dieser Zusammenhang, welcher Juda Löw dazu führt, den Gelehrten mit dem Herzen und dem Verstand des »corpus« der menschlichen Gesellschaft zu vergleichen, durch den Letztere an den göttlichen Gaben, unter ihnen die Lebenskraft oder die Auferstehung und Glückseligkeit, teilhat: »Die Menschen werden gleich einem individuellen Menschen erachtet. Und wie beim menschlichen Individuum das Bein nicht aus sich selbst Leben besitzt, sondern weil das Leben (Hijjut) sich in es ergießt, welches vom Herzen kommt. So wird auch die menschliche Gesellschaft gleich einem individuellen Menschen erachtet. Und die gewöhnlichen Menschen, die auf der Stufe der gewöhnlichen Glieder stehen, erhalten das Leben eben gerade vom Her940
Be’er ha-Gola, S. 142a.
941
Ja‘akov Josef zitiert diese und ähnliche Gedanken aus dem Werk Toledot ’Ephrajim, dem Schüler und direkten Amtsnachfolger auf dem Prager Rabbinatsstuhl, ’Ephraim aus Linschitz.
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zen. Darum müssen alle Glieder am Herzen haften, das heißt, die Menschen müssen mit jemandem verbunden sein, der auf der Stufe des Herzens steht, dann empfangen sie das Leben [hier im Sinne von: Auferstehung] durch den individuellen Menschen, der dem Herzen entspricht, welches den übrigen Gliedern das Leben bringt. Wenn aber der Intellekt, welcher den Gliedern das Leben schenkt, verstopft ist, sterben jene Glieder und vergehen.«942 Das Resümee aus dieser Auffassung ist jenes, welches hernach auch Ja’akov Josef aus Polna’a für die Hasidim zieht, nämlich dass auch der Nichtgelehrte durch das Haften am Gelehrten der göttlichen Güter teilhaftig werden kann.943 In diesem Sinne ist der Gelehrte die Vollendung der menschlichen Gesellschaft, so wie im Individuum der Intellekt die Vollendung des Menschseins erwirkt.944 Der rabbinische Gelehrte ist beim Maharal zu einem wahrhaften Mittler der Heilsgüter aufgestiegen. Dies zu betonen ist wichtig, da der Maharal nicht einer mystischen Sondergruppe, sondern dem breiten Strom des rabbinischen Judentums zuzuordnen ist, welches in seiner Mitte ein solches Gedankengut offenbar auch zu dulden imstande war.
10.
Israel
Die Erwählung Israels ist einer der zentralen Topoi der jüdischen Religion seit der biblischen Zeit und so muss es nicht verwundern, dass auch der Maharal sich diesem Thema widmet. Aber wiederum zeigt sich hier das Grundsätzliche seines Denkens, der die Dinge im Rahmen der Seinsordnung verstehen will. Viele der Äußerungen Maharals zu diesem Thema scheinen von dem Segensspruch geleitet zu sein, den der in der Synagoge zur Tora Aufgerufene sagt: »Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt, der uns erwählte aus allen Völkern und uns die Tora gegeben hat. Gesegnet seist Du, Herr, der die Tora verleiht.«945 Aus diesem Segen konnte man schließen, dass die Erwählung und damit die herausgehobene Stellung Israels unter den Völkern der Welt mit der Gabe der Tora verbunden ist. Und in der Tat, die vorangehenden Kapitel machten deutlich, dass die Erfüllung des Menschseins, die Erlangung des menschlichen Zieles, und das heißt die intelligible, von der »Materie« befreiten Stufe, an die Erfüllung der To942
Be’er ha-Gola, S. 144b.
943
Vgl. hierzu noch Netivot ‘Olam, I, S. 21b, 39a-b, 42a-b.
944
Derech Hajjim, S. 34a.
945
Siddur Safa Berura, Basel 1956–1964, S. 80; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 347.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
ra gebunden ist, und diese geschieht ja nur in Israel. Und es ist gerade diese Folgerung, welche der Maharal zieht: »Bevor Israel die Tora gegeben worden war, hatten sie nicht jene oberste Stufe, bis sie die Tora empfangen hatten, dann hatten sie diese oberste Stufe.«946 Diese hohe Stufe ist jene, die sich aus dem oben gezeichneten dualistischen Weltbild ergibt. Israel hat durch die Tora die Daseinsstufe der »Form«, während die Völker ohne Tora zwangsläufig auf der Stufe des »Materiellen« verharren. Es ist diese Einschätzung, weshalb der Maharal die Worte des Propheten Ezechiel »Ihr seid meine Schafe, die Schafe meiner Weide, ihr seid Mensch und ich euer Gott« (34, 31) wiederum ontologisch verstehen konnte: »Und Moses wurde ›gut‹ genannt, weil er der Mann Gottes, wie ein Engel war, abgeschieden von der Materie, die böse ist. Darum gebührte ihm, die Tora zu empfangen, die göttlicher Intellekt ist, vollkommen getrennt von allem Materiellen. Darum wird sie ›gut‹ genannt und Israel übergeben, denn Israel wird ›Mensch‹ genannt, wie geschrieben steht, ›Mensch seid ihr‹, weil sie nicht die Massigkeit der Materie an sich haben. Darum werden sie ›Mensch‹ genannt, weil der Mensch […] nicht die Materie des Viehs an sich hat. So sind die Israeliten, die noch mehr von der Materie abgelöst sind, darum gebührt ihnen, ›Mensch‹ genannt zu werden.«947 An anderer Stelle sagt Juda es nochmals kurz und prägnant: »Ihr werdet ›Mensch‹ genannt, nicht aber werden die Götzendiener ›Mensch‹ genannt.«948 Diese höhere Stufe, die Qualität der »Form« bekommt der kleine Israelit mit der Beschneidung übereignet, denn diese ist ja die Annahme der Tora.949 Sie wird auch durch die von der Materie bewirkte Sünde nicht mehr beeinträchtigt. Demgegenüber sind die Völker der Welt dem Materiellen ausgeliefert und entsprechend vom menschlichen Ideal entfernt.950 Ja, sie sind wegen dieses Mangels an »Form« wesenhaft schlecht, wohingegen die Israeliten, die ja auch Böses tun und vom Bösen Trieb besonders stark heimgesucht werden,951 ihrem Wesen nach gut
946
Be’er ha-Gola, S. 36b.
947
Derech Hajjim, S. 78.
948
Nezach Jisra’el, S. 61b.
949
Nezach Jisra’el, S. 100b.
950
Vgl. z. B. Nezach Jisra’el, S. 26a; Gevurot ha-Schem, S. 86a.
951
Nezach Jisra’el, S. 13; 61b.
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sind und das Böse an ihnen, so stark es auch sein mag, gleichsam nur akzidentiell ist und nicht die Substanz betrifft.952 Das ontologisch ausgerichtete Denken Juda Löws ist mit dergleichen Aussagen noch nicht zufrieden. Es drängt ihn zu noch grundsätzlicheren Formulierungen, um die Nähe Israels zu Gott zu begründen. In Anlehnung an den alten rabbinischen Midrasch, dass vor der Schöpfung unter anderen noch zu erschaffenden Dingen Israel in Gottes Gedanken aufgestiegen war,953 sucht Maharal gleichfalls die Vorzugstellung Israels schöpfungstheologisch zu begründen. Dabei folgt er dem Grundduktus seines neoplatonischen Denkens. Die Aussage der Schrift, dass die Israeliten »Söhne des Herrn«954 seien, begründet Maharal wie folgt: »Es besteht ja kein Zweifel, dass alles Existierende von Gott verursacht und emaniert wurde. Aber die Existierenden sind nicht gleich wie eins. Vielmehr gibt es etwas, das aus der Wahrheit Seines Wesens emaniert wurde und anderes nicht. Je nach der Entfernung der Existierenden oder der Nähe zu Ihm, Er sei gesegnet. Und siehe Israel, diese Nation, sie allesamt wurden von Ihm, Er sei gesegnet, emaniert, aus der Wahrheit seines Wesens. Und darum haben sie mehr Beziehung und Verbindung zu Gott, Er sei gesegnet.«955 Es ist die klassische neoplatonische Formel, wonach die Differenzierung und die Qualität der aus der Gottheit emanierten Welt eine Folge der sukzessiven Emanationsschritte ist: Je näher an der Quelle, desto höher die Stufe. Juda Löw sieht in dieser Differenzierung zugleich eine Notwendigkeit für das Bestehen der Welt. In der Welt der Natur gibt es zwar eine Reihe von Unterschieden, die allerdings nicht das Wesentliche betreffen und mithin nicht als wirkliche Differenzierung zu betrachten seien. Anders sieht dies hinsichtlich der göttlichen Substanz in der Welt aus, die – im emanatistischen Denken – , ja die Hauptsache der weltlichen Existenz ist. Hier ist nun eine substanzielle Differenzierung des Göttlichen unabdingbar, denn besäße alles das selbe Maß an göttlicher Substanz, dann wäre diese Welt ja eine von der Materie abgelöste und damit einfache und undifferenzierte Welt, »aber diese Welt ist ja eine Welt der Natur und nicht die von der Materie abgelöste Welt und darum ist es unabdingbar dass die Göttlichkeit nicht allen im gleichen Maße zukommt, sondern nur einem Teil von ihnen.« Die Völker der Welt gehören der Materie zu,
952
Nezach Jisra’el, S. 14b.
953
Bereschit Rabba Par. I, Piska 4.
954
Dtn 14, 1.
955
Nezach Jisra’el, S. 65a; und vgl. S. 67b.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
»aber die einzige Nation ist oberhalb der Natur […], darum gebührte Israel die Tora, die oberhalb der Welt der Natur steht. Und die Tora wurde erschaffen, bevor die Welt der Natur erschaffen wurde. Und auch Israel wurde erschaffen, bevor die natürliche Welt erschaffen wurde, […] welches der Herr, Er sei gesegnet, zu seinem Teil erwählte. Und sie sind mit den göttlichen Taten ausgezeichnet, das heißt mit den Geboten der Tora, gemäß der Stufe ihrer göttlichen Seele […], während den Stern- und Gestirnanbetern gemäß ihrer Stufe die sieben noachidischen Gebote gegeben wurden.«956 Es ist diese höhere, der Materie fernere Stellung Israels, die auch der Grund für das Misslingen Israels in dieser materiellen Welt und den Erfolg der materiegebundenen Völker ist, ein Verhältnis das sich sodann in dem von der Materie vollkommen gelösten ‘Olam ha-ba, also der jenseitigen kommenden Welt umkehren wird.957
11.
Der Messias
Der Messias ist nach rabbinischer Auffassung ein gewöhnlicher Mensch aus dem Königs-Geschlecht Davids. Eine besonders extreme Betonung der Menschlichkeit des Messias, dessen Echtheit man erst an seinen Erfolgen erkennen kann, vertrat Moses Maimonides.958 Allein, schon in rabbinischer Zeit gab es darüber hinaus eine Diskussion, ob die messianische Zeit einfach die Fortführung der normalen irdischen Verhältnisse, allerdings unter besseren politischen Bedingungen für Israel, sei, oder ob es in der messianischen Zeit auch Veränderungen im Naturgeschehen und jenseitige Einbrüche in den Geschichtsverlauf gebe.959 Unter den mittelalterlichen Kabbalisten gab es demgegenüber Stimmen, welche den Messias, oder das Messianische als eine angelische oder transzendente Macht verstanden, die irgendwann in den Lauf der Welt eingreifen würde.960 Unter solchen kabbalistischen Konzeptionen ist an dieser Stelle insbesondere an die des Kabbalisten ‘Asri’el aus Gerona zu erinnern, für den der Messias der Vollender der Welt ist und zwar in Gestalt eines kosmischen wiederbelebten Adam. Dieser ist die Vollendung des Menschseins961 und er vermag die dem Menschen aufgetragene Vollendung der Welt zu vollführen.962 Es sind solche Denkkatego956
Tif’eret Jisr’el, S. 9a.
957
Nezach Jisra’el, S. 87b.
958
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 479ff.
959
Dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 291–298.
960
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 175–178.
961
Nezach Jisra’el, S. 140b.
962
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 283f.
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rien, die auch das messianologische Bild von Juda Löw bestimmen. Wiederum zeichnet er seine Vorstellung vom Messias in sein bislang dargestelltes dualistisches Weltbild ein. Das bedeutet, auch für Maharal ist der Messias keine gewöhnliche menschliche Person, sondern ähnlich wie bei ‘Asri’el die Vollendung des Menschen als Gattung, aber darüber hinaus noch mehr. Wir haben oben schon gesehen, dass es nach Maharal die Aufgabe des Menschen ist, sich selbst und damit die Welt der Vollkommenheit zuzuführen. Diese Vollendung, so der Maharal, wird endgültig aber erst durch den Messias erreicht.963 So wie einst mit dem Menschen als letztem Geschöpf die Schöpfung zu einer ersten Vollkommenheit gebracht worden war, so wird mit dem Kommen des Messias die gesamte Welt964 und die Menschheit965 zur Vollendung und das heißt zur Einheit,966 und auf eine höhere Stufe967 gehoben: »Wenn der Mensch nicht die intelligible Stufe erwirbt, das heißt die Tora, dann geht die Fliege, die keinen Intellekt hat, ihm an Einfachheit [und damit an Qualität] voran. Wenn er diese aber erlangt, dann kann man sagen, er gehe sogar den Engeln voran, denn er ist das Ziel (Tachlit, Zwecksetzung) [causa finalis] unter allen Geschöpfen […] Und das Ziel geht allem voran, denn alles wurde um dieses Zieles willen erschaffen. […] Und darum wurde der Geist des Messias am ersten Tage erschaffen, weil der Mensch das Ziel aller Geschöpfe in der Welt ist, und das Ziel der ganzen Welt ist der Messias […] und der Geist des Messias ist der Geist Gottes.«968 Im Messias kommt demnach die Welt zu ihrem gesetzten Ziel, deren erstes Verwirklichungsziel der Mensch ist. Die gesamte Weltgeschichte und -entwicklung läuft auf den Messias zu und kommt in ihm zu ihrem Abschluss: »Der Messias ist die Vollendung der Welt […]. Er ist das Ziel, die Vollendung (Haschlama) und das Ziel. Er ist über allem, denn alles wird zum Ziel hingezogen.«969
963
Nezach Jisra’el, S. 167b.
964
Ebd.
965
Nezach Jisra’el, S. 165a.
966
Nezach Jisra’el, S. 135b, 173a, 152a, 154a.
967
Nezach Jisra’el, S. 136b (c. 28).
968
Be’er ha-Gola, S. 104b-105a.
969
Nezach Jisra’el, S. 171a; und vgl. S. 135a.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
Die Zweistufigkeit der Weltvollendung, Mensch und Messias ist nach Auffassung von Juda Löw aber zugleich ein Zeichen des Qualitätsunterschiedes der beiden hier genannten Akteure. War der Messias nach rabbinischer Auffassung, wie gesagt, ein natürlicher Mensch, wenn auch aus königlichem Geschlecht, so musste schon die Anthropologie des Maharal, nämlich seine Auffassung von einem übernatürlichen Wesen des Menschen auch einen übernatürlichen Messias erfordern. Nach dieser anthropologischen Lehre des Maharal wird doch der Mensch erst durch das Verlassen seiner Naturhaftigkeit und der Gewinnung der intelligiblen Stufe vollendet. So nun eben auch der Messias, der allerdings als der letztgültige Vollender von Menschsein und Welt eine noch höhere Stufe als die des normalen Menschen und auch eine höhere Stufe als die des normalen Israeliten besitzt. Zu den rabbinischen Spekulationen um den Namen des künftigen Messias, deren einer Menachem Ben Hiskijah (Tröster, Sohn des »Meine Stärke ist Gott«) kommentiert Juda Löw: »Das lehrt, dass der Messias von Israel abgetrennt (nivdal) ist […]. Und so ist der Messias nicht aus der Allgemeinheit Israels, vielmehr ist er auf der höchsten Stufe, abgesondert von Israel, darum wird er Messias Menachem genannt […], denn er ist über alle Maßen weit von Israel entfernt, allein schon wegen der [hohen] Stufe des Messias. […]. Siehe die künftige Stufe des Messias wird weit über die gesamte materielle Welt erhaben sein […] er wird über die Oberen erhöht sein.«970 »die Stufe des Messias ist von dieser natürlichen und materiellen Welt abgelöst (nivdal) […], denn die Stufe des Messias ist nicht von der natürlichen Welt (‘Olam ha-Teva‘).«971 An anderer Stelle nennt Maharal den Messias göttlich, wobei dieses Attribut im Sinne des Intelligiblen zu verstehen ist, von dem oben schon die Rede war, er ist vollkommen »intelligibel« (sichli),972 »die Stufe des Messias ist göttlich und abgesondert [von der Materie].«973 Mit dieser die natürliche Welt transzendierenden Qualität des Messias ist allerdings ein Paradox verbunden. Schon oben war angeklungen, dass der Messias dereinst diese hohe Stufe besitzen werde. Und in der Tat denkt Maharal an eine sehr verwunderliche Entwicklungsgeschichte des Messias. So wie der erste Erlöser Israels, Moses, nicht in einem jüdischen Elternhaus großgezogen wurde, sondern im Hause des Pharao heranwuchs, so wird auch der Messias aus seinem 970
Nezach Jisra’el, S. 132b-133b.
971
Nezach Jisra’el, S. 137b, 170a.
972
Nezach Jisra’el, S. 169b, 172b, 172a (c. 42).
973
Nezach Jisra’el, S. 169b.
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Gegensatz hervorwachsen. Denn, so sagt der Maharal, das Heilige muss aus dem Unheiligen, das Reine aus dem Unreinen, hervorwachsen so wie die Frucht aus der Schale, »darum sitzt der Messias im Staate Edoms«, oder aber bei den »Arabern«, aus deren Untergang das messianische Reich hervorgehen kann.974 Angelehnt an die altrabbinische Vorstellung, dass der Messias unter den Armen und Elenden vor den Toren Roms sitzt,975 findet der Maharal eine ontologische Formel dafür, dass das messianische Reich aus dem Untergang Edoms hervorgehen müsse, nämlich die alte aristotelische Formel von der Steresis (Entwerdung). Nach ihr kann etwas Neues nur entstehen, wenn zuvor das andere, aus dem es hervorgeht, entworden, genichtet, ist, so das Küken aus dem Ei, oder der Getreidehalm aus dem Korn.976 Als Beleg dafür dient auch der alte rabbinische Midrasch, nachdem der Messias am Tage der Tempelzerstörung geboren wurde.977 Die philosophische Formel von der Nichtung des Vorangehenden, bevor aus diesem etwas Neues hervorgehen kann, spinnt der Maharal noch in das weitere Extrem fort, nämlich dass der Messias aus einer völlig anderen Nation, also nicht aus Israel geboren werden muss. So wie ja auch schon die Königsdynastie des David Wurzeln in Moab und Ammon hat, zwei Völker, die im größten Gegensatz zum biblischen Israel standen.978 Der Messias kann gleichsam nicht aus dem – nach rabbinischer Vorstellung – im Himmel vorhandenen Seelenmaterial979 entstehen, denn mit dem Messias muss etwas ganz Neues erschaffen werden: »Und daraus verstehst du den Grund, weshalb der Messias aus einer anderen Nation geboren werden wird, denn David stammt von einer Moabiterin und Salomo von einer Ammoniterin ab. Denn wenn der Herr, Er Sei gesegnet, ein neues Sein / Wesen hervorbringen will, braucht er eine Zusammensetzung aus einer anderen Pflanzung, die nicht von der ersten stammt. Denn wenn es von der vorigen Pflanzung stammt, ist es doch nicht Neues. Darum, wenn der Herr, Er sei gesegnet, den Samen des Messias in die Welt bringen will, muss er eine neue Zusammensetzung und Pflanzung machen.«980 Dieses ontologisch-biologistische Denken bestimmt auch das weitere Bild des Messias. Seine Ära bricht nicht einfach herein, sondern sie wächst heran. Sie ist
974
Gevurot ha-Schem, S. 82a-b; Nezach Jisra’el, S. 133a.
975
Nezach Jisra’el, S. 132b.
976
Nezach Jisra’el, S. 130a-b; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 140.
977
Nezach Jisra’el, S. 132b.
978
Nezach Jisra’el, S. 149a.
979
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 267.
980
Nezach Jisra’el, S. 149a.
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Jehuda Liwaj Ben Bezalel – Maharal von Prag
in der Gegenwart als eine »oberste verborgene Kraft«981 in potentia schon vorhanden und wächst ihrer »Verwirklichung« entgegen. Dieses Wachsen des intelligiblen Messianischen wird natürlich von den Kräften der Materie, das heißt den Sünden der Menschen, behindert, weshalb man von den Leiden des Messias reden kann.982 Ein Teil dieser Widerstände zeigen sich auch noch beim ersten öffentlichen Auftreten des Messias im Kampf der Völker, Gogs und Magogs, wider das messianische Reich.983 Dieser Wachstumsprozess des Messianischen und das Auftreten des von der Materie abgesonderten Messias, darauf wurde schon oben hingewiesen, bringt die Vollendung der Welt, ihren Übergang von der Potenz zur Wirklichkeit.984 Dies ist aber noch nicht die letzte Stufe. Diese kommt erst mit der »Kommenden Welt«, dem ‘Olam ha-ba. Denn noch haftet der messianischen Stufe etwas von dieser Welt, ein Quentlein Materie an: »Und es ist ja einleuchtend, dass in den Tagen des Messias die Welt noch nicht völlig intelligibel ist und die Menschen wie [von der Materie] gelöste Engel sind, denn sie werden ja noch essen und trinken. Denn die Welt des Messias ist nicht wie die ›Kommende Welt‹, so dass man in dieser Zeit noch eine höhere Stufe erwerben kann. Nur ein Wechsel vom bösen zum Guten Tun und umgekehrt wird nicht mehr stattfinden.«985 Es wird vielmehr so sein, dass die Macht des Guten in der messianischen Zeit auch die Übeltäter überzeugt und sie sich zum Guten wenden, was aber nicht als wahrhafte Umkehr (Teschuva) gilt. Diejenigen aber, die schon vor Einbruch der messianischen Zeit gut waren, können sich auch nach deren Ankunft noch steigern. Mit anderen Worten, in der messianischen Zeit werden auch die Frevler von den Wohltaten Gottes beeindruckt und lassen von ihrem Frevel ab und kehren um. Dabei erreichen sie aber gleichsam nur die niedrigste Stufe des Guten, während diejenigen, die schon vor der messianischen Zeit umgekehrt und gut waren, auch in den Tagen des Messias noch höher steigen können. Also Buße vor der messianischen Zeit ist in jedem Fall der bessere Teil.
981
Nezach Jisra’el, S. 107b.
982
Nezach Jisra’el, S. 156b.
983
Nezach Jisra’el, S. 163–164a.
984
Nezach Jisra’el, S. 175a (c. 43).
985
Nezach Jisra’el, S. 182a-b.
Moses Isserles
III. TRANSFORMATION DER THEOLOGISCHPHILOSOPHISCHEN SCHOLASTIK IM RELIGIÖSEN GOTTESDIENST – MOSES ISSERLES (1525/30–1572) 1.
Biographisches und Bedeutung
Der in Krakau geborene Rabbi Moses Isserles (Akronym: Rema oder Remu), seit 1547 Oberrabbiner von Krakau und Umgebung986 und Vorsitzender der von ihm gegründeten Jeschiva ist vor allem als Halachist bekannt. Er war es, der den von dem sefardisch-palästinischen Rabbiner Josef Karo im Jahre 1565 in Venedig zuerst publizierten Schulchan ‘Aruch (Gedeckter Tisch) zu dem spätestens ab dem 17. Jahrhundert von der gesamten Judenheit akzeptierten Rechtskodex fortentwickelte. Er tat das, indem er die von Josef Karo vernachlässigten aschkenasischen Rechtstraditionen unter dem Titel Mappa (Tischdecke) als Ergänzungen in Karos Werk einfügte (zuerst Krakau 1569–71), wobei er vorrangig als Kompilator und erst in zweiter Linie mit eigenen Entscheidungen hervortat. Damit war der Schulchan ‘Aruch sowohl im sefardischen wie im aschkenasischen Raum akzeptabel geworden. Diese für die Rechtseinheit des Judentums zentrale Arbeit verschaffte Isserles im »orthodoxen« Judentum einen fast legendären Ruhm, der bis heute in Krakau-Kazimierz in der Remu-Synagoge und der anliegenden Grabstelle seinen steingewordenen Fixpunkt hat. Neben weiteren halachischen Werken hat Isserles, der sich auch in großer und differenzierender Belesenheit mit den Wissenschaften, mit Philosophie und Kabbala befasste, außerdem homiletische Kommentar- und Midraschwerke mit theologischem Inhalt verfasst. Hierher gehören sein Kommentar zum Esther-Buch (Mechir Jajjin, Der Preis des Weines, Cremona 1559) und vor allem sein Torat ha-‘Ola (Die Opfer-Tora, Prag 1570),987 welches hier im Mittelpunkt stehen soll, denn dies ist das theologische Werk von Isserles schlechthin. Es ist allerdings, wie gesagt, nicht diese philosophisch-theologische Seite von Isserles, die ihm seinen bleibenden Ruhm verschaffte, denn die in dem umfangreichen Torat ha-‘Ola (in polnisch – aschkena-
986
So nach M. Balaban, Geschichte der Juden im Mittelalter – Große Gemeinden im Mittelalter, in: J. Hailperin (Hg.), Bet Jisra’el be-Polin, Jerusalem 1948, Bd. 1, S. 29 (Hebr.). DasWissen über die Biographie von Isserles ist sehr spärlich und widersprüchlich. Nach der Jewish Encyclopedia war Isserles 1550 Mitglied des Krakauer Bet Din (Jüdisches Gericht), M. Balaban, Historia Zydow w Krakowie i Na Kazimierzu 1304–1868, Krakau 1931, Bd. I, S. 147, spricht hingegen von der Ernennung zum Rabbiner im Jahre 1542 und der königlichen Bestätigung von 1547. Analog A. Cala, H. Wegrzynek, G. Zalewska, Hisoria i kultura Zydow polskich, Warschau 2000, S. 125.
987
Ich verwende hier die aus dem Internet herunterladbare Ausgabe Lemberg 1858.
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sischem Hebräisch Toras Huolu) vorgetragenen philosophischen und kabbalistischen Lehren können anerkanntermaßen keine Originalität beanspruchen. Auch in diesem Werk verfährt Isserles wie bei seiner halachischen Großtat in erster Linie als Kompilator und Redaktor, der hier und da seine eigene Meinung hinzufügt. Man wird darum zurecht die Frage stellen, weshalb dieser Isserles dennoch in dieser Darstellung des jüdischen Denkens, aufgenommen wird, die doch ohnehin nur exemplarische Werke besprechen kann. Worin also liegt das Exemplarische dieses theologisch nicht eigentlich originellen Denkers? Man könnte es so formulieren: Gerade so wie Isserles durch die kumulierende Ergänzung des Schulchan ‘Aruch eine Zusammenführung und Harmonisierung widerstreitender Rechtstraditionen gelang, welche zu deren allgemeiner Rezeption führten, so hat er auch im haggadischen, also dem theologischen Bereich gehandelt. Diese seine Zusammenführung von ursprünglich getrennten oder zumindest parallel verlaufenden theologisch-philosophischen Kulturen hat ein analoges Resultat wie beim Schulchan ‘Aruch gezeitigt, wenn dies auch kaum recht ins allgemeine Bewusstsein getreten ist. Mit seiner Harmonisierung ursprünglich widerstreitender Traditionen fügt sich Isserles in den Rahmen ein, unter den er hier gestellt ist, nämlich den der Verteidigung der rabbinischen Tradition wider deren mittelalterlichen Herausforderungen und neuzeitlichen Bestreitungen. War es die mittelalterliche Philosophie, und in analoger Weise auch die Kabbala, welche die antike rabbinische Theologie in Frage gestellt hatten, so beschreitet Isserles ihnen gegenüber den Weg der integrativen Verteidigung der rabbinischen und biblischen Theologie. Das heißt, er will in diesem seinem Werk zeigen, dass die Lehren von Philosophie und Kabbala schon allemale in der rabbinischen Haggada und in der Bibel zu finden gewesen seien. Mit dieser die Gegner inkludierenden Verteidigung der rabbinischen Haggada erreicht Isserles zugleich noch etwas weiteres, das letztlich noch viel bedeutsamer ist. Mit dieser Einzeichnung von Philosophie und Kabbala in die rabbinische Haggada kanonisiert Isserles das mittelalterlich jüdische Erbe für das traditionelle rabbinische Judentum und das heißt für diejenige Richtung des Judentums, die man dann später die orthodoxe nennen wird. Isserles geht damit einen weiteren Schritt über die mittelalterliche Theorie vom vierfachen Schriftsinn hinaus, welche schon ein ähnliches Ziel verfolgt hatte.988 Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn stellt die rivalisierenden Deutungen der Tradition gleichsam nur additiv nebeneinander mit der Maßgabe, dass man diese vier widersprüchlichen Deuteweisen der Tora, Wortsinn, ethischer Sinn, philosophischer und schließlich kabbalistischer Sinn, als Leser und Toraausleger für sich persönlich in ihrer – nur von einem kritischen Leser wahrgenommenen – Widersprüchlichkeit zusammenhalten müsse. Und es ist gerade der Klassiker dieser vierfachen Toraauslegung, den 988
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 200ff.
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Isserles in seiner Torat ha-‘Ola regelmäßig nennt und zitiert, nämlich Bachja Ben Aschers Kommentar zur Tora.989 Isserles vertritt dieser additiven Methode gegenüber die Auffassung, dass die unterschiedlichen Traditionen sich in Wahrheit überhaupt nicht unterscheiden, sondern ein und dasselbe, wenn auch in unterschiedlicher Terminologie aussagen und darum integrativ zu verwenden seien. Diese Reklamierung von Philosophie und Kabbala als alternativen Redeweisen der einen geheiligten Tradition drückt sich in besonderem Maße dadurch aus, dass Isserles’ Torat ha-‘Ola nicht eigentlich ein belehrender Traktat ist, sondern ein eminent religiös liturgischer Text, dessen Lektüre als gottesdienstliche Handlung zu verstehen ist. Philosophie und Kabbala werden somit Teil der gewöhnlichen alltäglichen rabbinischen Tora-Frömmigkeit, bleiben also nicht die Beschäftigung von gebildeten oder esoterisch gestimmten Eliten. Isserles zeichnet damit den die Divergenz umgreifenden und integrierenden »rabbinisch – autoritativen« Weg, der bis heute in traditionellen jüdischen Gebetbüchern anzutreffen ist, in denen die theologisch-philosophisch widersprüchlichsten Texte einmütig nebeneinanderstehen. Es wird die Hauptaufgabe der folgenden Kapitel sein, diesen von Isserles beschrittenen Weg der Transformation von Philosophie in Religion aufzuzeigen.
2.
Die Transformation von Philosophie und Kabbala in Religion
Das sehr umfangreiche und in zahllose Details gehende Werk Torat ha-‘Ola beschreibt in drei Teilen die architektonische Struktur des Jerusalemer Tempels, die dort dargebrachten Opfer im Gesamten, deren Details im dritten Teil des Buches erörtert werden. Die noch genauere Zielsetzung des Werkes ist allerdings weniger die einfache äußerliche Beschreibung dieser drei Gegenstände, in welcher sich Isserles erklärtermaßen ganz auf die entsprechenden Abschnitte von Maimonides’ halachischem Hauptwerk Mischne Tora stützt, sondern es geht ihm darum, deren Grund und Sinn zu eruieren, also weshalb die Dinge sind wie sie sind oder durchzuführen waren. Isserles reiht sich damit in die mittelalterliche Literaturgattung der Ta‘ame ha-Mizwot, welche sich die Aufgabe setzte, für die Gebote rationale oder auch esoterisch-mystische Begründungen zu finden.990 Er fragt also: Warum ist der Tempel so gebaut wie er gebaut ist, weshalb werden bestimmte Opfer in einer bestimmten Weise dargebracht. Diese eher vordergrün989
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 206; zu Bachjas Kommentar s. K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung von Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Berlin 1995 (Dreieck Verlag des Forum Guardini), S. 11–36.
990
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394, 424ff., 611ff., 480ff.; Bd. 2, S. 23, 604.
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dige »intellektuelle« kognitive Aufgabenstellung dient jedoch in Wahrheit einem anderen eigentlichen Ziel, nämlich dem persönlichen Gottesdienst. Die bloßen Beschreibungen der architektonischen und rituellen Gegebenheiten, deren Lektüre schon zuvor als Meditationsmedium gelten konnten, werden hier durch die Suche nach Begründungen auf eine weitere spirituell kognitive Meditationsebene gehoben, um deren gottesdienstlichen Wert zu vertiefen. Der eigentlich gottesdienstliche Wert der Lektüre solcher »Sachtexte« wurde schon in der rabbinischen Literatur formuliert, worauf sich Isserles in der hinführenden Einleitung des gesamten Werkes ausdrücklich beruft, und weshalb auch in der täglichen synagogalen Liturgie bestimmte biblische Opfertexte gelesen werden. Der Sinn dieses Brauches ist es, dass die Lektüre oder Rezitation solcher Texte als Ersatz für die nicht mehr stattfindenden Opfer dienen sollten: »Darum sage ich, weil der Tempel wegen unserer und unserer Väter Sünden in Trümmer sank, und wir nunmehr kein Heiligtum und keinen Priester mehr haben, der ein uns sühnendes Opfer darbrächte, bleibt uns nichts, um für unsere Seelen zu sühnen als diese [Opfer-]Tora. So heißt es ja im letzten Kapitel des Traktates Ta‘anit (Fasten): Abraham sagte beim Bund zwischen den Stücken [Gen 15] zu Gott: ›Was wird mit ihnen [den Israeliten] sein in Zeiten, in welchen der Tempel nicht steht?‹ Da antwortete er: ›Ich habe ihnen ja schon im Voraus die Opferordung gegeben. Und immer, wenn sie sich mit den Opfern befassen, rechne ich es ihnen an, als hätten sie vor mir ein Opfer dargebracht.‹ Und so ordneten ja auch die Weisen, seligen Angedenkens, an, jeden Tag das biblische Kapitel zum ›Täglichen Opfer‹ (Tamid) zu lesen und den zugehörigen Abschnitt der Mischna bezüglich ihrer Durchführung zu lernen, damit diese rezitierte Erinnerung an die Stelle der Darbringung des Opfers tritt.«991 Mit dieser Erklärung von Isserles ist zunächst die religiöse Funktion des Studiums von Tempel- und Opfertexten festgestellt, also auch einer Schrift wie der von ihm hier vorgelegte. Dies ist die antike rabbinische Vorgabe, mit welcher die Rabbinen den biblischen Tempel und das biblische Tempelritual in ihre eigene tempellose Gegenwart transportierten. Ein physisches Sühneritual wurde als ein verbal-meditativen. An diesem Strang hat nun Moses Isserles weiter geflochten und hat die mittelalterliche Philosophie und die kabbalistischen Texte als einen Teil in dieses verbal-meditativen Sühneritualeinbezogen, in dem er deren Texte in den Tempel- und Opfertext integrierte. Diesem ersten Schritt der Integration folgt jedoch noch ein weiterer, noch wichtigerer, nämlich die kosmologischen
991
Torat ha-‘Ola, Hakdama, S. 2a.
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und theologischen Lehren der Kabbala und der mittelalterliche Philosophie zur endgültigen jüdischen Ontologie zu erklären.
3.
Die Entsprechung von Tempel und »Sein« – nach dem Bild der mittelalterlichen Ontologie
Schon der rabbinische Midrasch spricht gelegentlich von einer Entsprechung von biblischem Zeltheiligtum (Mischkan) und der ganzen Welt, dies aber noch nicht in einem wirklich ontologischen Sinn, sondern eher in einer wertemäßigen und schöpfungsprozeduralen Hinsicht. Eine solche Entsprechung im Sinne der Rabbinen ist zum Beispiel, dass die Beschreibung der Weltschöpfung sprachlich mit der Gestaltung des Mischkan zusammentrifft, etwa dass Gott die Himmel ausspannt, wie auch am Wüstenheiligtum die Zelttücher ausgespannt werden.992 Oder dass sowohl die Welt wie auch das Wüstenheiligtum von Gottes Weisheit erfüllt ist. So sagt zum Beispiel der rabbinische Midrasch zu solchen verbalen Entsprechungen, sie würden verwendet, »um dich zu lehren, dass das Zeltheiligtum die ganze Welt wie auch die Erschaffung des Menschen aufwiegt (schakul), der ein Mikrokosmos ist (‘Olam katan). Wie ist das vorzustellen? Als der Heilige, Er sei gesegnet, seine Welt erschuf, hat er sie gleich einem Menschen erschaffen. So wie der Mensch (der Weibgeborene) beim Nabel beginnt und sich von da nach allen Seiten ausdehnt, so begann auch der Heilige, E.s.g., seine Welt vom ›Gründungsstein‹ (’Even Schtija) aus zu erschaffen, und von ihm aus wurde die Welt begründet.«993 Der »Gründungsstein« ist der noch heute im islamischen Jerusalemer Felsendom sichtbare zentrale Fels, der einst im Tempel zu Jerusalem situiert war. Mit dieser Aufwiegung von Tempel, Welt und Mensch wird keine Ontologie vorgetragen, sondern die Wertigkeit des israelitischen Tempels und seine Bedeutung für die gesamte Schöpfung herausgestellt – der Tempel ist das Sühneinstrument, welches die Welt vor dem Untergang bewahrt. Zugleich wird durch diese Gleichwichtung die hohe Bedeutung des Menschen unterstrichen, der auch nach sonstigen Äußerungen der rabbinischen Literatur die gesamte Schöpfung aufwiegt. Die Rabbinen verbinden mit solchen Entsprechungsaussagen demnach eine Axiologie, nicht eine Ontologie, eine Bewertung, nicht eine Seinsaussage. Dies wird im
992
MidraschTanchuma, Pekude, § 2, S. 132a.
993
Midrasch Tanchuma, Pekude, § 3, S. 133a.
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Mittelalter anders, als die ethische Weltbetrachtung der Rabbinen994 durch eine wissenschaftliche kausale Ontologie ersetzt wurde.995 So zum Beispiel auch bei dem spanischen Aristoteliker Jizchak Arama (ca. 1420–1494),996 auf den sich Isserles bei seiner Aufnahme des Motivs ausdrücklich bezieht: »Schon haben ja die Weisen unsere Ohren dafür geöffnet, dass der Mischkan nach dem Bilde der gesamten Welt gemacht wurde, insofern er in drei Wohnungen aufgeteilt ist, so wie die Welt sich in Untere, Zweite und Dritte aufteilt, wie dies der Verfasser der Bindung Jizchaks [Jizchak Arama] und Bachja [Ben Ascher] ausführlich beschrieben.«997 Mischkan und Tempel werden von Isserles in dieser Hinsicht gleich behandelt: »Schon wurde ja in den vorangegangenen Kapiteln erklärt, dass das Gebäude und die Maße des Tempels der Gesamtwelt entsprachen.«998 Die drei hier genannten Weltstufen sind die in der mittelalterlichen Philosophie geläufigen, die Erde, die 9 Gestirnsphären und die zehn Separaten Intellekte, nach der aristotelischen Sicht, oder die intelligiblen Emanationen Intellekt, Weltseele (und Natur), sodann die Sphären und schließlich wieder die materielle Welt gemäß der Auffassung der Platoniker.999 Die rabbinische Literatur, aus der das Paradigma von Tempel und Weltentsprechung stammt, kannte diese Weltstufen noch nicht. Damit ist das mittelalterliche philosophisch-wissenschaftliche Weltbild durch Isserles als die schon alte biblisch-rabbinische Weltanschauung beansprucht und kanonisiert worden. Die Kanonisierung der mittelalterlichen aristotelischen Kosmologie durch Isserles geht noch in viele weitere Details, wofür hier nur eines, das anschaulichste, angeführt werden soll. In seiner Beschreibung der Maße des Tempelhofes gibt Maimonides in seinem Mischne Tora unter anderen folgendes Maß an: »Von der Westmauer des Hofes bis zur Mauer der Tempelhalle (Hechal) sind es elf Ellen.«1000 Dazu kommentiert Isserles: »Das soll zunächst allgemein mitteilen, dass Gott, Er sei gesegnet, auf Separaten Intellekten reitet. Insgesamt sind es elf Separate [Intellekte], denn es ist
994
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 257ff.
995
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407ff., 451ff.
996
Zu Aramas philosophischer Theologie s. Ch. Pearl, The Medieval Jewish Mind. The Religious
997
Torat ha-‘Olah, I, 4, S. 6a; In Aramas ‘Akedat Jizchak, Israel 1974, Schemot, Par. Truma, S.
998
Torat ha ‘Ola, I, S. 12d-13a.
999
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407ff., 451ff., 491ff., 502ff., 512ff., 534ff.
Philosophy of Isaac Arama, London1971. 153a-b.
1000 Mischne Tora, Hilchot Bet ha-Bechira, Kap. 5, 12.
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ja bekannt, dass es zehn Stufen Engel gibt, wie Maimonides im Sefer haMadda‘ (Buch der Erkenntnis)1001 schrieb und dem alle weisen Philosophen zustimmen. Und wenn du ihnen ihre Ursache hinzuzählst, sind es elf. Damit aber die Menschen nicht glauben, die Stufe dieser elf sei gleich, Gott behüte, wird danach die Tempelhalle in drei Teile aufgeteilt, wie Maimonides im ersten Kapitel der Hilchot Bet ha-Bechira (Halachot vom erwählten Tempelhaus) schreibt, nämlich: Das Heiligtum, das Allerheiligste und die Vorhalle, um zu lehren dass die genannten Intellekte in drei Teile separiert sind, (1.) solche die Ursache, aber nicht verursacht sind, (2.) solche, die Ursache und zugleich verursacht sind, und (3.) solche, welche verursacht aber nicht Ursache sind. Der erste ist Gott, Er sei gesegnet und erhoben, ihm entspricht das Allerheiligste […]. Die zweiten sind die Separaten Intellekte, die von Gott, E.s.g., verursacht sind und die doch zugleich Ursache des ihnen folgenden [Intellektes] sind., ihnen entspricht das Heiligtum, das vor dem Allerheiligsten liegt […]. Die dritte Abteilung der Separaten Intellekte, die verursacht, aber doch nicht Ursache eines [weiteren] unter ihr stehenden [Intellektes] ist, ist der Aktive Intellekt, denn es gibt keinen weiteren Separaten Intellekt unter ihm.[…]. Das entspricht dem dritten Teil des Tempels, der Vorhalle.«1002 An anderer Stelle zählt Isserles, wiederum klassisch aristotelisch »15 einfache Stufen« der Welt auf, nämlich die vier Elemente, dann die fünfte Materie der Sphären und schließlich die zehn Separaten Intellekte, wobei die Sphären als mittlere Stufe, die Obere Welt (zehn Intellekte) mit der unteren Welt verbindet. Die Oberen sind unkörperlich und unveränderlich, die Sphären in der Mitte sind körperlich aber unveränderlich, während die untere Welt körperlich und veränderlich ist.1003 Des Weiteren wird die Aufgabe des letzten Intellekts der Separaten Intellekte ganz im Sinne von Maimonides beschrieben, nämlich dass er der unter ihm folgenden Materie die Formen verleiht und Ursache für den menschlichen Intellekt ist.1004 Es ist also eindeutig das von Maimonides beschriebene aristotelisch-mittelalterliche Weltbild, das hier seine Kanonisierung, ja Heiligung empfängt, als das Urbild der Struktur und der Maße des biblischen Tempels. Mit diesen Identifizierungen, welche das gesamte Werk von Isserles durchziehen, wird ein Doppeltes erreicht: Zum einen wird den mittelalterlichen philosophischen Positionen der Ruch des Häretischen genommen und sie werden damit als legitime und gehei1001 Dies ist die philosophische Einführung zum Mischne Tora. 1002 Torat ha-‘Ola, I, 4, S. 6c-d. 1003 Torat ha-‘Ola, I, 10, S. 12b-c. 1004 Torat ha-‘Ola, I, 4, S. 6d.
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ligte Wissenschaft sanktioniert und die rabbinische Haggada wird zugleich vor dem Vorwurf der Irrationalität und menschlicher Willkürhaftigkeit bewahrt. Die rabbinische Theologie hat ein neues, mittelalterliches Gewand übergezogen. Welches der beiden Ziele, die Freigabe der Wissenschaft, oder die Verteidigung der Zeitgemäßheit der rabbinischen Theologie, für Isserles das Vorrangige ist, gleicht wohl eher der Frage nach der Priorität von Henne oder Ei. Auf alle Fälle kann man nunmehr mit einer der höchsten halachischen Autoritäten des rabbinischen Judentums die mittelalterlichen philosophischen Errungenschaften als gute rabbinische Lehre vertreten – dies allerdings in einer Zeit, als die noch progressiveren Geister das mittelalterliche Weltbild bereits hinter sich zu lassen begannen. Um dieser Sicht der Dinge noch einen weiteren Rückhalt zu geben, greift auch Isserles zu der in der frühen Neuzeit verbreiteten These,1005 dass alle Wissenschaften letztlich doch von den alten biblischen Meistern stammen, wenn sie auch wegen der ungünstigen Umstände in Israel in Vergessenheit geraten waren, um nunmehr – mit gutem Gewissen – von den Völkern wieder erlernt zu werden und an sie zu glauben.1006 So hat schon der biblische Moses, meint Isserles, die sieben Argumente des Aristoteles für die Ewigkeit der Welt zurückgewiesen und zugunsten der Erschaffung aus dem Nichts plädiert.1007 Dennoch nimmt Isserles eine gemäßigte Mittelposition zwischen rabbinischer Tradition und der Vernunft der mittelalterlichen Philosophie ein und drückt dies einmal so aus: Wenn eine rabbinische Auffassung, wie zum Beispiel im Falle des Sonnenlaufes, der zeitgenössischen Astronomie widerspricht und dann einer sagt: »die Worte der [rabbinischen] Weisen, seligen Angedenkens, sind Tradition und es kann sehr wohl sein, dass die Dinge sich so verhalten, wollen wir ihm nicht widersprechen, denn die Tradition wollen wir tatsächlich akzeptieren, auch wenn sie der Vernunft ferne steht. Wenn es aber in dieser Angelegenheit eine Antwort gibt und wenn immer man die Worte der Weisen entsprechend deuten kann, dass sie nicht dem allgemein Anerkannten widersprechen und sie der Vernunft angepasst werden können, ist dies gut und schön.«1008 Die anscheinend nahtlose Rezeption des mittelalterlichen Aristotelismus durch Isserles wird von ihm jedoch durchgehend im Lichte rabbinischer Vorstellungen oder Bilder relativiert oder halb zurückgenommen. Dies zeigt zum Beispiel eine bezeichnende »Szene« mit dem Aktiven Intellekt. Ihn, sein Wesen und seine Rol1005 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 570. 1006 Torat ha-‘Ola, I, 11, S. 13. 1007 Torat ha-‘Ola, III, 46, S. 36a-37c. 1008 Torat ha-‘Ola, I, 2, S. 4b.
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le im Rahmen der aristotelischen Ontologie hat Isserles, wie soeben sichtbar geworden war, ganz im Sinne des Maimonides beschrieben und anerkannt. Dem widerspricht allerdings die folgende idyllische Deutung, die Isserles im Wesentlichen von Josef ’Albo in dessen Sefer ha-‘Ikkarim (Buch der Grund- und Glaubenslehren) übernimmt.1009 Im rabbinischen Midrasch gibt es eine bekannte Deutung zu den sieben Wochentagen. Die ungerade Zahl der Wochentage haben die Rabbinen so gedeutet, dass jeder der sechs Wochentage einen Partner in einem anderen Wochentag findet – drei Mal zwei Wochentage – wohingegen der Schabbat leer, ohne Partner ausging. Auf eine entsprechende Klage des Schabbat vor Gott lässt Gott den Schabbat – der im Hebräischen weiblich ist – wissen, dass sein Paargenosse die Gemeinde Israels sei. Israel und der Schabbat gehören zusammen, während die übrigen Wochentage sich selbst genügen. Moses Isserles deutet in der besagten Auslegung die Rolle des Schabbat auf den »Aktiven Intellekt«: »Damit wollen sie sagen, dass der Aktive Intellekt, der letzte unter den Separaten Intellekten vor dem Heiligen, Er sei gesegnet, klagte, dass er nichts habe, auf das er einwirken könne wie die übrigen Separaten Intellekte, die ja alle die Ursache des ihnen nachfolgenden [Intellektes] sind. Da sagte Er zu ihm, dass er auf Israel einwirken solle, um ihren Intellekt zu aktivieren / zu verwirklichen.«1010 Der Aktive Intellekt hat bei den Aristotelikern die Aufgabe, den Intellekt aller Menschen aus der Potenz in die Wirklichkeit zu bringen, hier ist er für Israel reklamiert und damit zu einer Größe der israelitischen Erwählung oder Heilsgeschichte geworden – Philosophie wurde hiermit zur Religion.
4.
Die Kabbala entspricht der Philosophie
Isserles, das ist im Vorangehenden schon deutlich geworden, ist kein eingeschworener Kämpfer für die philosophische Vernunft und Wissenschaft. Sein vorrangiges Anliegen scheint die Harmonie zu sein. Judentum ist für ihn nicht exklusiv rabbinisch oder philosophisch, sondern beides zusammen, und dies nicht im additiven sondern im integrativen Sinn. Philosophie und rabbinische Tradition sind für ihn nicht zwei unterschiedliche Weltanschauungen, sondern nur zwei unterschiedliche Redeweisen für die eine und selbe jüdische Theologie.
1009 Josef ’Albo, Sefer ha-‘Ikkarim, Traktat, II, Kap. 11, Übersetzung W. Schlessinger, W. Schlesinger, S. 127–131. 1010 Torat ha-‘Ola, I, 6, S. 8a.
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Es ist daher nur konsequent, wenn auch die mittelalterliche Kabbala in dieses harmonische Bild eingefügt wird. Eine Identifikation von mittelalterlicher Philosophie und Kabbala konnte auch darum nicht besonders schwerfallen, wenn man die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Denkrichtungen bedenkt. Da ist der für beide Systeme gültige philosophische Gottesbegriff, des körperlosen unendlichen und einheitlichen Gottes, sodann die Methode, in Mittelinstanzen zu denken, welche den Hiatus zwischen unendlicher Einheit Gottes und endlicher Vielheit der Welt überbrückt. Isserles hat diese Gemeinsamkeit sehr scharfsichtig wahrgenommen wie auch die entscheidende Differenz, nämlich dass die Kabbalisten in das philosophische System letztlich nur eine zusätzliche hierarchische Stufe eingefügt haben, nämlich die des offenbaren Gottes, der Welt der Sefirot. Dies erklärt Isserles im Rahmen seiner Entsprechungslehre bei der Beschreibung der fünf Trägerbalken an der Vorhalle des Tempels: »Deren Sinn ist, dass, wie gesagt, die Theologie (Hochmat ha-’Elohut), die im Heiligtum und im Tor zur Vorhalle angezeigt ist, fünf übereinander gelagerte Stufen kennt: Gott, Er sei gesegnet, ist die oberste Stufe, die erste von allen. Die zweite ist das Erstverursachte, das wegen der Größe seiner Ursache als eigene Stufe betrachtet wird. Sodann die übrigen Separaten Intellekte, welche von einem Verursachten verursacht sind, bilden die dritte Stufe. Die vierte Stufe ist das Letztverursachte, welches verursacht ist, selbst aber nicht Ursache [eines weiteren Intellektes] ist [d.h. der Aktive Intellekt]. Die fünfte Stufe sind die Seelen der Gerechten, auch sie gehören zur Definition der Theologie. Sie bilden eine Stufe für sich. […] Wenn wir aber zur Meinung der Weisen der Kabbala vordringen, [ist zu sagen:] sie glauben, dass es noch eine weitere Stufe oberhalb der Separaten Intellekte gibt, so dass wir der Theologie fünf Stufen zuschreiben können, ohne die Seelen der Gerechten einbeziehen zu müssen – und der Weise versteht!«1011 Die Aufteilung in fünf Stufen ist hier natürlich aus der Analogie von Tempelbau und Weltenhierarchie geflossen, wonach Letztere dem Ersteren angepasst wird. Das heißt, die fünf »Trägerbalken« der Vorhalle des Tempels müssen in der mittelalterlichen kosmologischen Hierarchie gefunden werden. Die Kabbala erscheint hier nur als Alternative in der Entsprechung von Tempel und Welt, die so oder so betrachtet werden kann- die grundlegende Unterscheidung von philosophischen Intellekten, die Gottes Geschöpfe sind, und den kabbalistischen Sefirot, die die offenbarte Gottheit selbst vertreten, wird hier geflissentlich beiseite gelassen. 1011 Torat ha-‘Ola, I, 9, S. 11d.
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Allerdings macht sich Isserles an anderer Stelle die Mühe, diese für den Ideengeschichtler deutlich sichtbare Differenz nun doch zu erklären und dadurch die Übereinstimmung von Philosophie und Kabbala nachzuweisen. Auch hierbei zeigt sich Isserles letztlich als scharfsichtiger Analytiker, der eine richtige Erkenntnis seinem Harmoniebestreben dienstbar macht. Wie im ersten Band dieser Darstellung gezeigt, spielten in der mittelalterlichen Philosophie die Lehren von den göttlichen Attributen eine zentrale Rolle.1012 Wie kann man Gott Attribute wie »gerecht«, »erbarmend«, Vater, König und dergleichen zuschreiben, ohne damit eine Vielfalt in seine absolute Einheit hineinzutragen. Eine der Lösungen, und es war eben gerade die bei Isserles am besten bekannte, war die von Maimonides, nämlich dass all diese Attributierungen nicht Gottes Wesen beträfen, sondern ausschließlich in der Welt sichtbare Wirkungen benennen, welche die Menschen Gott zuschreiben. Also die Attribute Gottes sind nur »Wirkattribute« nicht aber Attribute seines Wesens. Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass diese Attribute folglich nur im analytischen und folgernden Denken des Menschen existieren, und keine davon unabhängige Existenz beanspruchen können. Auch die Kabbalisten sprechen von den Wirkungen Gottes in dieser Welt, aber sie sehen in ihnen Wirklichkeiten außerhalb des menschlichen Denkens, für sie sind die Wirkattribute Gottes in den Sefirot zu realen Existenzen der offenbaren Gottheit geworden. Was für die Aristoteliker nur vom Menschen gedachte Zuschreibungen sind, sind für die Kabbalisten göttliche Realitäten der offenbaren Seite der Gottheit. Es ist genau diese ideengeschichtliche Analyse, die sich Isserles zunutze machte, wenn er unter Berufung auf den Krakauer Kabbalisten R. Ascher in dessen ‘Emek ha-Beracha (Tal der Segnungen) schreibt: »Die Auffassung der Kabbalisten in Sachen der Sefirot ist dieselbe wie die der ›Wirkattribute‹, welche die Philosophen beschrieben. Sie sind die Namen, welche bei der Schöpfung neu entstanden, wie Maimonides […] darlegte. […] Es ist ja bekannt, dass die Kabbalisten schrieben, dass die Sefirot den Namen entsprechen, denn jeder Name weise auf eine Sefira hin, durch welche Gott, E.s.g., seine Welt lenkt, und dass alle Namen je einer Sefira zugehören, je nach dem was er aussagt, wie dies der Autor des Buches Scha’are ’Ora und von Ma‘arechet ha-’Elohut und Rekanati1013 ausführlich beschrieben. So sind die Namen dasselbe wie die Wirkattribute, welche zugleich die
1012 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, 410ff., 438ff.; Bd. 2, S. 71f., 137, 215f., 264ff., 309, 313, 405, 608, 634f., 637. 1013 Menachem Recanati, 13./14. Jh., Italien, Verfasser eines kabbalistischen Kommentars zur Tora.
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Sefirot sind. Also sind die Sefirot die Wirkattribute und damit die göttlichen Kräfte und Wirkungen, die bei der Schöpfung offenbar wurden.«1014 Bei dieser Harmonisierung werden die philosophischen, theosophischen und, was die Namen anbelangt, gar »magisch-theurgischen« Differenzen eingeebnet und miteinander gleichgesetzt. Die Namen, welche in der Kabbala theurgischmagische Potenz besitzen,1015 werden hier im Sinne eines »UniversalienNominalismus« zu Wirkattributen herabinterpretiert, welche der denkerischen Analyse des Menschen entspringen. Ebenso werden die Sefirot, die für die meisten Kabbalisten1016 Gott selbst in seiner Offenbartheit repräsentieren, von Isserles im Sinne der Wirkattribute als Teil des göttlichen Wesens negiert. Isserles schraubt also den Offenbarungsrealismus der Kabbala auf die mehr philosophische Nomenklatur herunter. Zugleich hebt er diese Nomenklatur leicht der Kabbala entgegen, wenn er es an anderer Stelle rechtfertigt, dass man im Gebet schon die richtigen Gottesnamen nennen sollte, die zu den vorgelegten Anliegen des Menschen passen. An die Stelle des von Josef Gikatilla vorgetragenen Gleichnisses,1017 nach welchem die Sefirot und Gottesnamen gleich Schatzkammern sind, in welchen je verschiedene Güter liegen, die nur derjenige erreicht, der in die jeweilig richtige »Kammer« geht, schlägt Isserles ein anderes, ihm besser geeignet erscheinendes Gleichnis für die Bedeutung der Gottesnamen vor: Wenn zum Beispiel ein Mensch zugleich Arzt und König ist und ein Hilfesuchender zu ihm kommt, so wird er nur Hilfe erfahren, wenn er die Helferperson richtig anspricht. Der Kranke muss ihn als Arzt ansprechen, der Recht suchende als König etc.1018 Kabbala und Philosophie werden hier in die Nähe der rabbinischen Theologie gerückt, die es ermöglicht, von Gott in personhaften Bildern zu sprechen. Und zugleich ist das mittelalterliche philosophische Denken ein Schirm gegen einen möglichen Vorwurf des Anthropomorphismus. Dasselbe Bild wird sich bei der Besprechung der Gottesvorstellung zeigen.
5.
Gott – ein Kaleidoskop verschiedener Traditionen
In der schon oben angeführten Beschreibung der elf Intellekte war Gott als der erste Intellekt beschrieben worden, der die Ursache des »erstverursachten« Separaten Intellekts ist. Diese klare aristotelische Bezeichnung Gottes wird erwar1014 Torat ha-‘Ola, III, 4, S. 4a-b. 1015 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 303ff., 331ff., 408ff., 451ff., 557ff., 714ff. 1016 Auszunehmen sind jene Kabbalisten, nach denen die Sefirot nur Gottes Werkzeuge, nicht aber Er selbst sind, so z. B. der Ra‘ja Mehemna im Sohar, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 609. 1017 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 407. 1018 Torat ha-‘Ola, III, S. 5c.
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tungsgemäß durch eine ganze Reihe einschränkender und homiletischer Aussagen relativiert. Natürlich betont Isserles im Anschluss an Maimonides1019 das Vorhandensein eines göttlichen Willens im Wesen Gottes. Mit der Annahme eines göttlichen Willens, so Isserles, lassen sich all die vielen Probleme der Philosophen lösen – so das Problem, wie das »Eine« eine Vielheit habe verursachen können, auch dass die Welt aus dem absoluten Nichts geschaffen wurde – eine Aussage, die für Isserles das zentrale Dogma der Tora1020 und die fast ausschließliche Lehre aller Opfer ist1021 – und nicht der Notwendigkeit von Ursache und Wirkung folgen musste, auch die bei den Philosophen umstrittene Zahl der Sphären und zugehörigen Intellekte und deren Verhältnis zur Materie1022 – auf all diese Fragen könne man demnach antworten: So war der Wille Gottes.1023 Auch hinsichtlich der Wahrnehmungsmöglichkeit Gottes durch den Menschen kommt Isserles dem religiösen Bedürfnis entgegen – ungeachtet der philosophischen Maxime, dass man das Wesen Gottes nicht erkennen könne, »denn so werden alle Verkörperlichungen von ihm ferngehalten […] Denn er hat weder Körper, noch Ende oder Anfang. Und er ist die Ursache aller Ursachen und der Grund über jedem Grund«.1024 Diesen philosophischen Grenzziehungen in der theologischen Rede gegenüber verweist Isserles auf die Bibel, denn nach den Berichten der Bibel haben schon viele Menschen Gott wahrgenommen ja gesehen, und dies in ganz unterschiedlicher Gestalt. Isserles bestreitet dies nicht und gibt dafür eine epistemologisch-anthropologische Erklärung. Die Tatsache dass Menschen Gott überhaupt wahrnehmen können, erklärt er mit der kabbalistischen Formel, dass die menschlichen Gliedmaßen im »Oberen Menschen«, das heißt im offenbaren Gott der Sefirot,1025 eine entsprechende spirituelle Entsprechung haben, welches die göttlichen Kräfte sind. Wenn es diese Entsprechungen zwischen Mensch und Gott gibt, ist es nicht verwunderlich, wenn der prophetische Mensch im Zustand der spirituellen Erhebung den Oberen Menschen in Menschengestalt »sieht«.1026 Und wenn diese geschaute Gestalt das eine Mal ein »Kriegsheld« und das andere Mal die Gestalt eines alten weisen Mannes ist, so ist das durch die Disposition oder Erwartung des menschlichen Empfängers bedingt.1027 1019 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 455–461. 1020 Torat ha-‘Ola, II, 3, S. 33d. 1021 Torat ha-‘Ola, III, 16, S. 15d. 1022 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 453. 1023 Torat ha-‘Ola, I, 14, S. 15b; III, 44, S. 34c; III, 45, S. 35d. 1024 Torat ha-‘Ola, II, 14, S. 33a. 1025 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 437–447, 579ff. 1026 Torat ha-‘Ola, I, 14, S. 15d. 1027 Torat ha-‘Ola, I, 14, S. 15d; Isserles spricht hier wie Spinoza, s.o. Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 4.4.
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Das alte rabbinische Gleichnis, dass Gott in der Welt gleich der Seele im menschlichen Körper ist, unsichtbar zwar, aber doch verschiedene Wirkungen hervorbringend, kehrt bei Isserles in einer angepassten mittelalterlichen Version wieder: »So wie die menschliche Seele im Verhältnis zum Körper steht, so steht auch Gott, Er sei gesegnet, im Verhältnis zur Sphäre. Denn so wie die Seele den Körper trägt und den Körper bewegt und von Ort zu Ort führt und der Körper von ihr, von den Zehen der Füße bis zu seinem Kopf, erfüllt ist […], so erfüllt auch die Herrlichkeit Gottes, Er sei erhoben, die gesamte Sphäre (Galgal) von deren niedrigstem bis zum erhabensten Teil […]. Das ist die Beziehung aller Teile der Sphäre, so als seien sie die Teile Gottes, Er sei erhaben.«1028 Das Harmoniebedürfnis von Isserles geht so weit, dass er sich nicht scheut, in diesem Zusammenhang die altjüdische Lehre vom Schi‘ur Koma (Maß der Gestalt), also von der die gesamte Schöpfung überragenden unendlichen Gestalt Gottes anzuführen.1029 In Isserles mittelalterlicher Auslegung lautet dies wie folgt: »Er nannte die Separaten Intellekte Gottes Lippen, weil er durch sie mit seinen Knechten, den Propheten, redete, so wie ein Mensch mit seinen Lippen spricht. […] Die Hände Gottes, Er sei gesegnet, sind ohne Zweifel die Sphären, weil er durch sie bei den Unteren wirkt.«1030 Die alte Rede von der unendlichen Gestalt Gottes deutete Isserles als Metapher für die mittelalterliche Kosmologie. Kurz zuvor schon hatte Isserles die Vermutung ausgesprochen »es ist möglich, dass Seine Augen die sieben Planeten sind, hell und rein, als seien sie in Milch gebadet«. Kurz, die gesamte Welt erscheint als ein einheitlicher Organismus, dessen Seele die Gottheit ist, eine Seele, die sich der körperlichen Organe als ihren Werkzeugen bedient. Isserles beruft sich dafür einmal auf die »wahrhaften Philosophen«, die gerade aus dem Plural der Menscherschaffung der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis 1, 26) »Lasset uns einen Menschen machen«, einen Beweis für die »Einheit Gottes« finden wollen, nämlich dass: »in der Welt eines ans andere gebunden ist, wie bei einem Menschen. Und Gott, Er sei erhoben, ist die Seele der Welt, gleich der Seele im Körper des 1028 Torat ha-‘Ola, II, 2, S. 32c. 1029 Zum Schi’ur Koma s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 335ff. 1030 Torat ha-‘Ola, II, 14, S. 32.
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Menschen, wie Maimonides im »Führer« ausführlich beschrieb. […] Denn der Mensch wird Mikrokosmos genannt, weil er dem Makrokosmos samt dessen Lenker, das heißt Gott, Er sei erhoben, ähnlich ist. Darum heißt es ›Lasset uns einen Menschen machen in unserem Bilde und in unserer Ähnlichkeit‹. Die gesamte Welt ist das Urbild /Stempel des von Gott […] gemachten Menschen. Und die Form des Menschen samt seinen Gliedern ist wie die Gestalt / Ähnlichkeit der Welt und ihrer Glieder. Darum heißt es: ›in unserer Ähnlichkeit‹. Und da die Seele im Menschen in der Ähnlichkeit Gottes ist, heißt es ›in unserem Bilde‹. […] Darum ist es ein Gebot [den Leib, das heißt] die Ikone des Menschen, zu waschen, da er ein Ähnlichkeitsbild des Makrokosmos ist, der das Abbild des Königs, des heiligen Er sei gesegnet ist.«1031 Die Ebenbildlichkeit des Menschen ist hier auf das gesamte Sein bezogen, dessen Leib die Welt und dessen Seele die Gottheit ist. Der Plural der Menschenschaffung ist damit in der Tat ein Beleg für die Einheit Gottes, eine Einheit der kosmisch-göttlichen Welt. Diese Einheit in zwei Aspekten drückt sich in der Ebenbildlichkeit des Menschen als Demut (Ähnlichkeit) und Zelem (Ebenbild) aus, wobei wiederum auch Gott und Kosmos in einem abdruck- oder stempelähnlichen (Dfus) Verhältnis stehen. Mit dieser Sicht folgt Isserles der esoterischen Tradition, wie sie ähnlich im soharischen Midrasch ha-Ne‘elam belegt ist.1032 Natürlich hat demgemäß auch die gesamte Welt ihre Lebenskraft ausschließlich aus der göttlichen Emanation, wie dies allerdings auch die von neoplatonischen Elementen beeinflussten mittelalterlichen Aristoteliker sagen konnten.1033
6.
Der Mensch und sein Ziel in dieser Welt – das Gesetz
Außer der am Ende des vorangegangenen Kapitels angesprochenen Lehre vom Menschen als dem Ebenbild von »Gott und Welt«, gibt es des Weiteren eine klare Verankerung von Isserles Anthropologie im aristotelischen Menschenbild. Dazu ist zunächst zu vermerken, dass Isserles die aristotelische Psychologie von den drei menschlichen Seelenstufen, der vegetativen, der sensiblen und der rationalen oder »sprechenden« Seele übernimmt, die im materiellen Körper wirken.1034 Hinzu kommt der Intellekt, der, wie schon oben vermerkt, in ganz aristo1031 Torat ha-‘Ola, II, 2; Haza’a, 3, S. 32b. 1032 S. dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 490f. 1033 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 453; Torat ha-‘Ola, II, 14, S. 33b; II, 33, S. 50d; III, 17, S. 17a, und öfters. 1034 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 397, 415, 427, 506.
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telischer Manier, vom zehnten der Separaten Intellekte, das heißt vom Aktiven Intellekt aus der Potenz in die Wirklichkeit überführt wird. Mit dieser Lehre vom Menschen als Kompositum aus körperlichen und intelligiblen Elementen übernimmt Isserles auch die maimonidische Lehre hinsichtlich der vom Menschen in dieser Welt zu erlangenden Ziele. Wie im ersten Band1035 im Kapitel zu Maimonides dargelegt, hat der Mensch in dieser Welt zwei Vollkommenheiten zu erreichen, die eine ist die körperliche Vollkommenheit und die zweite ist die intellektuelle. Die letztere Vollkommenheit ist das eigentliche und letzte Ziel, aber die erstere Vollkommenheit, die des Körpers, schafft erst die Voraussetzungen für den Weg zur zweiten Vollkommenheit. Diese Lehren sieht Mosche Isserles in dem biblischen Gebot von dem im Tempel darzubringenden Räucheropfer angezeigt. Nach der von Maimonides übernommenen Beschreibung des Räucherritus, bei dem zuerst die Asche vom Vortag entfernt werden muss und hernach das neue Räucheropfer dargebracht wird, erläutert Isserles, dass auch die beiden vom Menschen zu erreichenden Vollkommenheiten aus einem Prozess des Abräumens und nachfolgendem Rauchaufstieg besteht: »Und für all das gibt es einen klaren Sinn durch das Räucheropfer selbst, welches etwas über die guten Taten und über das gute intellektuelle Forschen lehren will. Denn der Mensch bringt Tag für Tag auf seinem Altar, welcher sein Herz ist, Räucheropfer dar, denn die ganze Welt wurde für nichts anderes erschaffen. Und da dies so ist, dient das Räucheropfer dazu, darauf hinzuweisen und zwar so: Es ist ja bekannt, dass die Vollkommenheit des Menschen von zweierlei abhängt, das eine ist die erste Vollkommenheit und das andere ist die letzte Vollkommenheit. Die erste Vollkommenheit ist die Entfernung aller tadelnswerten Untugenden und das Tun des Guten. Und die letzte Vollkommenheit ist die Erkenntnis und das sinnenende Erforschen des Schöpfers, Er sei erhoben, und des übrigen Existierenden – dies ist der forschende Intellekt. Es ist aber bekannt, dass die Fähigkeit des Menschen dafür nicht genügt, wenn sich ihm nicht die göttliche Hilfe beigesellt, die sich von oben herab auf ihn ergießt und ihm hilft.«1036 Damit hat für Isserles das Gesetz, für das er ja sein ganzes Können und seine Gelehrsamkeit eingesetzt hat, wie für Maimonides nur vorbereitende Funktion. Seine Rolle besteht darin, für die intellektuelle Fähigkeit und deren Aufstieg den nötigen Freiraum zu schaffen. Die Tugend und das ethisch Gute sind der Vorhof für die intellektuelle Erkenntnis Gottes, die, so zeigt der Hinweis auf alles »Exis-
1035 Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 481ff. 1036 Torat ha-‘Ola, III, 7, S. 9b-c.
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tierende«, dadurch zu erlangen ist, dass man das Existierende erforscht, welches ja nichts anderes ist als die Vielzahl der göttlichen Wirkungen in dieser Welt. Diesem Prozess steht, das betont Isserles sogleich im Anschluss an diese Ausführungen, allerdings die Materie entgegen, die »eine Trennwand zwischen dem Menschen und der Erkenntnis des Separaten Intellekts« ist. Damit formuliert Isserles wiederum ganz mittelalterlich platonisch-aristotelisch, die Materie wirkt als Behinderung des Intellekts, während das höchst erreichbare Erkenntnisziel der Separate Intellekt ist. Auch die in dem angeführten Zitat genannte göttliche Hilfe wird nochmals genau benannt, es ist »der Aktive Intellekt, der auf den Menschen aus seinem Gute ausgießt, womit er vom Schöpfer, Er sei erhoben, begnadet wurde. Und damit hilft er ihm, in die Hallen der Weisheit einzutreten und bereitet vor ihm das Feuer, das ist die natürliche Wärme im Menschen, dank dessen der Intellekt und die Seele an den Körper gebunden werden.«1037 Und ein letzter Schwenk macht aus dem Philosophen Isserles wieder den jüdischen Rabbi, wenn auch einen, welcher der Forschung zuneigt, der nun noch erklärt, worin die Unfähigkeit des Menschen zu Erlangung dieses Zieles besteht und worin die Hilfe durch den Aktiven Intellekt: »denn es ist ihm [dem Menschen] unmöglich, die ihm aufgegebenen Intelligibilia alleine durch die wissenschaftliche Forschung zu erlangen, wie dies alle Weisen suchten […], unmöglich die Intelligibilia durch Vernunftbeweise zu erlangen, wie dies die Weisen taten, denn zu gering ist das menschliche Herz für diese Erkenntnis […] [und wenn es in der Beschreibung des Tempelopfers heißt:] ›da geht der [Priester] zu der Wasserleitung im Tempelhof‹, bedeutet dies die Tora, die mit frischem Wasser für die ermüdete Seele verglichen wird […], denn durch sie kann jeder Mensch diese beiden Vollkommenheiten erlangen und ergreifen und dadurch das Leben in der Kommenden Welt ererben und dort alle wahren Erkenntnisse erlangen, die alle Philosophen nicht erreichen konnten wiewohl sie ihre ganzen Tage damit verbrachten, das zu erlangen, was sogar ein Geringer aus Israel durch die Tora erlangt. Aber dennoch ist es noch besser, die Dinge zu erforschen und sie durch Beweisführungen und logische Grundlagen der Forschung zu erkennen, denn dies ist das Ziel des Menschen.«1038 Die Tora gibt dem Menschen alles, was er braucht, aber noch besser ist es, dies auch durch Forschung zu untermauern.
1037 Torat ha-‘Ola, III, 7, S. 9c-d. 1038 Torat ha-‘Ola, III, 7, S. 9d.
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7.
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Die Halacha als Abbild der Schöpfung – halachische Ebenbildlichkeit
Auch wenn im vorangegangenen Abschnitt davon die Rede war, dass Isserles’ Anthropologie und Erlösungsvorstellung im Wesentlichen die intellektualistische Ausrichtung des Maimonides übernommen hat, gibt es auch hier eine Harmonisierungsklammer zur Kabbala. Schon mit der Betonung der für die Erlangung der menschlichen Vollkommenheit unabdingbaren göttlichen Hilfe in Form der Tora, gibt es eine Distanz zu Maimonides. Maimonides hält zwar die Tora als Gesetz zur Regulierung der menschlichen Verhältnisse wegen dessen Fleischlichkeit für ein notwendiges Regulierungsinstrument, nicht aber in dem weitergehenden Sinn einer nicht durch den Verstand einsehbaren Verflechtung des menschlichen Tuns mit dem Theo-Kosmos. Am Beispiel der Tefillin, also der vom betenden Juden anzulegenden Riemen mit ihren Kapseln, einer nichtbiblischen, sondern rabbinischen Halacha, wird diese Einbettung des halachischen Handelns des Juden in das Geflecht des Theo-Kosmos deutlich. Diese Verflechtung hat deutliche Bezüge zum Denken der Kabbala, ist aber nicht mit ihm identisch, insofern Isserles in diesem Zusammenhang nicht von einer theurgischen Wirkung auf die sefirotische Welt spricht, wie dies zum System der Kabbala hinzugehört.1039 Im zweiten Teil deines Torat ha-‘Ola widmet Isserles ein ganzes Kapitel der umfassenden Entsprechungslehre von Mensch und Theo-Kosmos, dessen Ebenbild, Zelem, der Mensch ist. Es ist bezeichnend, dass Isserles in diesem Zusammenhang die maimonidische Deutung des Zelem-Begriffes auf den menschlichen Intellekt, als dem Wesen des Menschen zurückweist.1040 Er besteht vielmehr darauf, dass mit Zelem gerade auch die körperliche Gestalt des Menschen gemeint sei, der damit dem kosmisch-göttlichen Wesen entspricht, wie ja oben schon beschrieben. Es ist gerade dieser Zusammenhang, in welchem Isserles mit zahlreichen Midrasch-Traditionen, inklusive der antiken Schi‘iur Koma1041 Texte, den Gott-weltlichen Kosmos in vollkommen anthropomorpher Gestalt beschreibt, in welchem Isserles auf die Tefillin-Halacha und ihre Bedeutung im Rahmen des beschriebenen Strukturkontextes zu sprechen kommt: »Wisse und verstehe, dass gemäß dieser Dinge das Mysterium der Tefillin erhellt wird, welche und Gott, Er sei erhaben, geboten hat, dass sie stets zum Gedenken zwischen unseren Augen seien und warum die Weisen sagten, dass der Heilige, Er sei gesegnet, selbst Tefillin anlegt. Denn die gesamte Wirk-
1039 Vgl.Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 112f., 147. 1040 Torat ha-‘Ola, II, 2, (Traktat 3), S. 32a. 1041 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 335.
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lichkeit, welche in den Tefillin angezeigt (nirmas) wird, ist auf den Heiligen, Er sei gesegnet, bezogen.«1042 Es ist diese Bezogenheit von Kosmos, Gott und Tefillin, mit deren Hilfe nun die Halacha des Tefillinanlegens begründet wird. Da ist zunächst die Unterteilung der Kapseln von Stirn und Arm, die vom Arm mit nur einer Kammer, die von der Stirn mit vier Kammern, die Arm-Tefilla muss auf der Höhe des Herzens liegen, die an der Stirn auf der zum Hirn. Außerdem ist es wegen dieser Bezogenheit verboten, die Stirn-Tefilla ohne die Arm-Tefilla anzulegen. Aus eben diesem Grund wird auch die Arm-Tefilla zuerst angelegt und als letzte abgenommen. Bei der sogleich zu zitierenden Begründung dieser Regeln wird vorausgesetzt, dass das Herz im Körper des Menschen der Gottheit im Körper des Kosmos entspricht – alles was in dieser Auslegung im Verhältnis von Gott und Welt gesagt wird, gilt analog zu dem von menschlichem Herz, Hirn und Körper: »Und da Gott, Er sei erhoben, der gesamten Welt das Leben spendet, welche der Gestalt des Menschen und seiner Glieder gleicht, darum hat die Tefilla des Armes nur eine einzige Kammer, um zu lehren, dass JHWH einer ist und dass die Geschöpfe, die ihr Leben aus Gott, Er sei erhoben, empfangen, aus vier Stufen bestehen, nämlich aus dem Belebten, dem Sprechenden, den Sphären und den Separaten Intellekten. Und durch diese offenbart Gott, E.s.e., seine Größe und Macht. Und darum hat die Stirn-Tefilla vier Kammern. Und es ist ja bekannt, dass diese Stufen nicht ohne Gott, E.s.e., bestehen können, darum ist die Arm-Tefilla beim Anlegen die erste und beim Abnehmen die letzte, um zu lehren, dass JHWH einer ist, und dass er der Erste und der Letzte ist, und es ohne ihn nichts gibt, das existieren könnte.«1043 Im Folgenden wird die Analogie noch auf die vier von den Aristotelikern aufgezählten Ursachen für alles Seiende erweitert, also die Materie, die Form, den Wirker und das Ziel, die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis. Und nun die erstaunliche Schlussfolgerung: »Darum sind die vier Kammern der [Stirn-]Tefillin eine Halacha des Moses vom Sinai, um über die vier Ursachen zu lehren. Und die vier [Texte in nur einer Kammer] bei der Arm-Tefilla hat etwas anderes zu lehren, nämlich über die Existenz Gottes, Er sei erhoben, und seine Einheit. Darum ist die Quadrat-Zahl der Zahl ›eins‹ ( )אחדin der Gematria (Zahlwertberechnung) gleich
1042 Torat ha-‘Ola, II, 2, (Traktat 3), S. 33a. 1043 Torat ha-‘Ola, II, 2, (Traktat 3), S. 33a-b.
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dem Zahlwert der Worte [( אנכי ]יהוה אלהיךIch [bin der Herr dein Gott], Ex 20,1). Darin ist die Einheit und die Wirklichkeit angezeigt.« 1044 Der Zahlwert von Hebräisch »Eins« ist dreizehn. Das Quadrat davon ergibt 169. Zu diesen 169 wird nach dem üblichen Verfahren noch die Anzahl der Buchstaben des Wortes »Eins« ( )אחדund das Wort selbst als ›eines‹ hinzugerechnet, also zusammen 173. Und dies entspricht numerisch den Worten aus Ex 20, 1. Zur inhaltlichen Deutung ist sodann zu sagen, Eins ist gleich dem ganzen Satz von Ex 20,1 und das bedeutet, dass JHWH die Einheit der Gottheit repräsentiert, während das Wort ’Elohecha (dein Gott) die die Wirklichkeit hervorbringende Gottheit darstellt.1045 Die Tefillin mit ihren vier und einer Kammer zeigen also darauf hin, dass der eine Gott zugleich der Schöpfer und Erhalter einer auf vier Ursachen ruhenden Welt ist. Und gerade auf dieses Mysterium weist der Mensch durch die richtige Herstellung und das richtige Anlegen der Tefillin hin. Das halachische Handeln ist demgemäß ein Handeln, welches der göttlich-kosmischen Wirklichkeit entspricht. Die Halacha ist also nicht wie bei Maimonides nur auf den Menschen und seine Vervollkommnung ausgerichtet und bezogen, sondern sie fügt den handelnden Menschen in einen umfassenden Verweiskontext ein, die Halacha ist im Gott-weltlichen Kosmos verankert, sie entspricht der SeinsStruktur.
8.
Die »Glaubensartikel« – ‘Ikkarim, nach Maimonides, ’Albo und Isserles
8.1
Bedingungen des Heils – Grundsätze (‘Ikkarim) des Glaubens
Das Ziel des Menschen in dieser Welt, darin folgt Isserles seinem stets wichtigsten Lehrer Maimonides, ist das Erlangen der beiden Vollkommenheiten, der physischen und der intellektuellen, wobei die Letztere das Hauptziel, die körperliche nur die Etappe ist. Bei einer solchen Rangordnung muss sich natürlich die Frage stellen, welches Wissen ein Mensch braucht, um dieses Ziel zu erlangen, worin also die Vollkommenheit besteht, die ihm das ewige Heil in der jenseitigen »Kommenden Welt« verschafft. Wie im ersten Band dieser Darstellung schon beschrieben,1046 war Maimonides der erste, der in seinen Dreizehn ‘Ikka1044 Torat ha-‘Ola, II, 2, (Traktat 3), S. 33b. Oder alternativ, ohne die in eckiger Klammer ergänzten Worte, gerechnet: Das Wort
אחדbesteht aus den Buchstabenziffern 1 und 8 sowie
4. Die »Vier« ist Hinweis auf die Quadradtzahl der restlichen beiden Ziffern/Buchstaben, also 8+1=9, im Quadradt =81, welches zugleich der Zahlwert von ’( אנכיanochi) ist. 1045 Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 309–316. 1046 Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431ff.
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rim (Grundsätze / Prinzipien), ein dogmatisch formuliertes jüdisches Glaubensbekenntnis vortrug.1047 Neben den beiden in die jüdischen Gebetbücher eingegangenen Zusammenfassungen der dreizehn Glaubenssätze, kehren solche Glaubensartikel fortan auch in der nachmaimonidischen theologisch-philosophischen Fachliteratur wieder, in der die Neuerung des Maimonides allerdings nicht nur zustimmend, aber nachhaltig diskutiert wurde. Eine sehr konzise Zusammenfassung dieser dreizehn ‘Ikkarim von Maimonides bietet Josef ’Albo in seinem eigenen Sefer ha-‘Ikkarim, die hier, aus sogleich noch sicht-bar werdendem Grund, zum Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen dienen soll. Danach sind die Themen der dreizehn Artikel von Maimonides die folgenden: »1.) Dasein Gottes, 2.) Einheit Gottes, 3.) Unkörperlichkeit Gottes, 4.) Ewigkeit Gottes, 5.) ausschließliche Anbetung Gottes, 6.) Prophetengabe, 7.) Prophetengabe Mosis, 8.) Offenbarung, 9.) Unabänderlichkeit der Lehre, 10.) Allwissenheit Gottes, Belohnung und Bestrafung, 12.) Messias, und 13.) Auferstehung.«1048 Diese Themenzusammenstellung erscheint, gedacht als jüdisches Glaubensbekenntnis, auf den ersten Blick als ein mixtum compositum aus philosophischen Grundsätzen und willkürlich ausgewählten Traditionsstücken. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Maimonides nachfolgenden Autoritäten hier Klarheit zu schaffen suchten. Sie stellten zum einen die Frage, was denn die systematische Bedeutung eines ‘Ikkar sei und zum anderen, welchem Ziele eine derartige Zusammenstellung dienen wollte. Die erste Frage sollte also klären, in welchem denkerischen Kontext hier von »Prinzipien« zu reden ist. Sind damit wissenschaftliche Prinzipien im Sinne von philosophischen Axiomen gemeint, aus denen sich weitere Schlussfolgerungen ableiten lassen, oder sind sie die theologische Arbeit abschließende, resümierende dogmatische Prinzipien. Die zweite Frage will klären, welches Ziel im menschlich-intellektuellen Kontext mit dieser Zusammenstellung von ‘Ikkarim verfolgt werden soll – , sind sie für den theologischen oder philosophischen Denker gedacht, dem sie als Ausgangspunkt und Schlüssel für das weitere Denken dienen sollen, als philosophische Grundlage der theologisch-philosophischen Arbeit, oder als hermeneutischer Schlüssel für die Schriftauslegung? Oder dienen solche Lehrsätze als abschließendes Resümee einer dogmatischen Sichtungsarbeit als vademecum für den gewöhnlichen Frommen, das heißt die religiös kognitive Minimalausstattung und somit als Entreebillet für das ewige Heil.
1047 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431ff. 1048 Buch Ikkarim, I, 3, Schlessinger, Schlesinger, S. 15.
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Eine weitere Frage der nachfolgenden Generationen war es, den systematischen Aufbau der maimonidischen Zusammenstellung zu klären, also zu prüfen, ob die Reihe dieser dreizehn Glaubensartikel eine logische Struktur besitzt, einen Themenfortschritt aufweist, womit die Möglichkeit für eine klarere Systematisierung oder gar der Reduktion auf Haupt- und abgeleitete Grundsätze gegeben wäre. Menachem Kellner ist in seinem grundlegenden Buch Dogma in Medieval Jewish Thought From Maimonides to Abravanel1049 diesen Fragen nachgegangen. Hier sollen daraus nur die wichtigsten Punkte zum Verständnis der Position von Moses Isserles ausgewählt werden. Für eine solche Auswahl gibt es bei Isserles selbst eine klare Direktive, insofern er in seiner Darlegung der ‘Ikkarim nicht wie sonst sein Brauch1050 erst Maimonides folgt, sondern Josef ’Albo, dessen System der ‘Ikkarim darum zuvor kurz zu beleuchten ist. Die auffälligste Veränderung von Maimonides zu ’Albo ist die, dass ’Albo die maimonidischen ‘Ikkarim von dreizehn auf drei reduzierte. ’Albo folgt darin seinem Vorgänger Schim’on Ben Zemach Duran (1361–1444), der gleichfalls von nur drei Prinzipien sprach: 1. Gottes Existenz, 2. dass die Tora vom Himmel kommt, 3. die Vergeltung.1051 Duran wollte damit die maimonidischen Prinzipien nicht ersetzen, sondern systematisch klären. Das bedeutet, die Reduktion auf drei ‘Ikkarim ist der Versuch, in den dreizehn Sätzen des Maimonides drei Grundthemen zu entdecken, aus denen sich alle übrigen ableiten lassen. Ob Maimonides selbst eine solche logische Struktur intendiert hatte, ist nicht gewiss, aber immerhin sieht Kellner in den dreizehn Artikeln des Maimonides eine solche dreiteilige Struktur angelegt: Die Nummern 1–5 handeln demnach von Gott, dem Geber der Tora, Nummern 6–9 von der Tora selbst und 10–13 von der Belohnung für die Befolgung der Tora.1052 Wie immer die Frage nach Maimonides’ eigener Struktur der ‘Ikkarim zu entscheiden ist, sieht auch ’Albo eine solche dreiteilige Grundstruktur der ‘Ikkarim: 1. das Dasein Gottes, 2. Die Offenbarung und 3. Die Belohnung und Bestrafung.1053 Im Gegensatz zu Maimonides gibt ’Albo allerdings eine ausführliche Begründung, warum und wie er gerade zu diesen drei Grundsätzen kommt. Für
1049 Oxford 1986. 1050 Darauf hat Jona Ben-Sasson in seinem umfassenden Buch Mischnato ha-‘Ijjunit schel ha-RMA (The Philosophical System of R. Moses Isserles), Jerusalem 1984, nachdrücklich hingewiesen. 1051 Kellner, Dogma, S. 24. 1052 Kellner, Dogma, S. 26. Er sieht sich bei dieser Teilung durch Jizchak Abravanel in dessen Rosch ’Amana, bestätigt, Kellner Dogma, S. 26; und s. Isaac Abravanel, Principles of Faith (Rosh Amanah), Translated with an Introduction and Notes by M.M. Kellner, London/ Toronto1982, S. 28. 1053 Buch Ikkarim, I, 10, S. 36.
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Maimonides sind die dreizehn ‘Ikkarim – so sieht dies schon Jizchak Abravanel in seiner grundlegenden Auseinandersetzung mit Maimonides, Crescas und ’Albo, in seinem Buch Rosch ’Amana (Hauptsachen des Glaubens) – wohl eher resümierende didaktische Leitsätze, eine Zusammenstellung der wichtigsten theologischen Meinungen, um den gewöhnlichen Juden vor falschen Auffassungen zu schützen und seine Zugehörigkeit zu Israel und zu den Anwärtern des ewigen Lebens zu sichern. Abravanel gibt noch eine weitere, davon abweichende Erklärung für die maimonidischen ‘Ikkarim, nämlich dass Maimonides, Crescas und ’Albo sie, wie in den Wissenschaften der Zeit üblich, als nichtwiderlegbare Axiome als Grundlage für die wissenschaftlichen Argumentationen betrachteten.1054 Auch diese Meinung Abravanels ist ein späterer Deutungsversuch für die maimonidischen Dogmen. Wie immer die Intention von Maimonides selbst war, trifft sich diese zweite Deutung Abravanels auf alle Fälle mit dem Verständnis von Josef ’Albo. Für ’Albo ist nämlich ein ‘Ikkar ein philosophisches Prinzip, das am Anfang, nicht am Ende eines Denkprozesses steht. Ein ‘Ikkar ist die denkerische und tatsächliche Voraussetzung für weitere philosophische oder theologische Aussagen, für weitere Schlussfolgerungen und Konsequenzen: »Das Wort ‘( עקרIkkar) wird von einem Dinge gebraucht, von dem das Daseyn und die Erhaltung eines anderen abhängt, und ohne welches es keinen Bestand hat; so wie die Wurzel eine Sache ist, von der das Daseyn des Baumes abhängt, ohne welche er nicht bestehen kann. […] deshalb wird dieser Ausdruck auf Folgesätze und Grundlehren angewandt, von denen das Daseyn und die Erhaltung irgend eines Gesetzes abhängt wie [zum Beispiel] auf das Daseyn Gottes, das, vermöge seiner Bedeutung, offenbar ein ‘( עקרIkkar) ist, indem der Glaube daran für eine göttliche Lehre (Tora) nothwendig ist, da ihr Daseyn ohne dasselbe nicht denkbar ist. Demzufolge müssen wir untersuchen, welche Dinge für die göttliche Lehre Grundsätze sind.«1055 Nachdem die formale Bestimmung der Bedeutung des Wortes ‘Ikkar festgestellt ist, nämlich als ein voranstehendes notwendiges und nicht weiter beweisbares Prinzip, aus dem sodann weitere Schlussfolgerungen gezogen werden können, muss die weitere Frage beantwortet werden, wofür, das heißt für welche Wissenschaft, ein solcher ‘Ikkar als Prinzip zu dienen hat. Dafür gibt der soeben zitierte Absatz aus ’Albo schon einen ersten Hinweis. Die Wissenschaft, für welche die hier verhandelten ‘Ikkarim die Prinzipien sein sollen, sind die göttlichen Lehren. Mit der Formulierung solcher »wissenschaftlicher Axiome« wird die jüdische Theologie zu einer systematischen Wissenschaft im Kreis der allgemeinen Wis1054 Abravanel, Principles of Faith, S. 194; Kellner, Dogma, S. 35. 1055 Buch Ikkarim, I, 3, Schlessinger, Schlesinger, S. 14f.
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senschaften deklariert – ’Albo vergleicht sie selbst mit der Medizin und der Geometrie1056 – dies ist ein entscheidender Schritt zu einer »jüdischen Scholastik«,1057 die bei Maimonides eher noch in der Pragmatik angekündigt war, hier aber theoretisch vollzogen wird. Der engere wissenschaftliche Umkreis dieser neuen Wissenschaft ist die Rechtswissenschaft, wie ’Albo des Weiteren erläutert. Nachdem er zuvor das hebräische Wort דת, Gesetz, als »jede Anleitung oder Regel, die sich über einen großen Verein von Menschen erstreckt« definiert hatte, führt ’Albo aus, dass es drei unterschiedliche Arten von Gesetzen gebe. Der oben zu da Costa schon einmal zitierte1058 Passus soll hier wegen seiner Bedeutsamkeit für den vorliegenden Zusammenhang noch einmal folgen: »Das Gesetz aber ist entweder ein natürliches (tiv‘it), oder ein bürgerliches [konventionelles] (nimusit), oder ein göttliches (’elohit). Das natürliche ist gleich für jeden Menschen, jede Zeit und jeden Ort. – Das bürgerliche wird von einem oder mehreren Weisen dem Orte, der Zeit, und der Natur der zu Leitenden gemäß, bestimmt, gleich den Gesetzen und Verordnungen, die unter den ehemaligen Heiden oder unter den Dienern Gottes eingeführt wurden, wie der menschliche Verstand sie heischte, ohne göttliche Anregung. – Das göttliche wird von Gott eingeführt, vermittelst eines Propheten, wie Adam oder Noa, und wie die Unterweisung und das Gesetz, worin Abraham die Menschen unterrichtete und übte zum Dienste Gottes, auf dessen Geheiß er sie beschnitt, oder es wird von Gott eingeführt durch einen Abgeordneten, den Er sendet, um durch ihn ein Gesetz zu geben, wie die Lehre Mosis (Torat Mosche).«1059 Josef ’Albo handelt in seinem Buch von den göttlichen Gesetzen und für sie formuliert er seine »Axiome«, das heißt deren unerlässlichen Voraussetzungen. 1056 Kellner, Dogma, S. 149ff. In Kapitel 17 des ersten Teiles führt ’Albo diesen Vergleich noch weiter aus: »Es unterliegt keinem Zweifel, daß jede Wissenschaft (Hochma) Prinzipien und Grundlagen hat, die sich nicht von selbst verstehen, sondern aus einer anderen Wissenschaft genommen werden müssen, in welcher sie gelehrt werden, und auf welchen alle Beweise jener Wissenschaft beruhen. So erhält der Geometer den Begriff von Linie und Punkt von dem Physiker, der Arithmetiker den Begriff der Einheit und der Physiker den von Substanzen und Accidenzen von den Weltweisen, und der Philosoph erhält den Begriff eines ersten Bewegers aus der Physik. So muß man nothwendig bei jeder Wissenschaft die Prinzipien und Grundlagen aus einer anderen, in welcher sie gelehrt werden, nehmen, wie in dem Buche
( מופתMofet,
Beweis, aus dem Organon des Aristoteles) gezeigt worden.« Zum Sefer Mofet s. Maimonides, Millot ha-Higgajon, 10, Ausgabe Lewin-Epstein, Warschau 1928, S. 20. 1057 Der erste Schritt dazu wurde schon von Duran vollzogen, s. Kellner, Dogma, S. 96. 1058 Traditions- und Religionskritik, II, 5. 1059 Buch Ikkarim, I, 7; Schlessinger, Schlesinger, S. 26f.; Sefer ha-‘Ikkarim, ebd., S. 38.
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Er beantwortet also die Frage danach, was denn die unabweisbaren Voraussetzungen und Kriterien für die Annahme und Anerkennung eines Gesetzes als göttliches seien. Nur da, wo die schon genannten Haupt- und die nachfolgend noch zu nennenden Unteraxiome zutreffen, kann man von einem göttlichen Gesetz sprechen. Vor der nachfolgenden weiteren Darlegung der von ’Albo aufgestellten axiomatischen Hierarchie, ist es angezeigt, kurz einen Blick darauf zu werfen, was denn, laut ’Albo, die Ziele und Aufgaben der drei unterschiedlichen Gesetze seien. Das natürliche Gesetz, so ’Albo, verfolgt das Ziel, Gewalt zu unterbinden, das Recht zu fördern, also die Kriminalität der Menschen einzudämmen und so den Bestand der Gesellschaft zu sichern. Das bürgerliche oder konventionelle Recht soll das Unanständige unterdrücken und das Anständige fördern, entsprechend den in der betroffenen Gesellschaft herrschenden Sichtweisen. Das Ziel des göttlichen Rechtes ist es schließlich: »die Menschen anzuleiten zur Erreichung der wahren Glückseligkeit, d.i. des Seelenheils und der Unsterblichkeit; es giebt ihnen die Mittel dazu an, thut ihnen kund das wahrhaft Gute, wonach sie streben, und das wahrhaft Böse, wovor sie sich hüten sollen; gewöhnt sie, eingebildete Glücksgüter aufzugeben, so daß sie gar keine Gelüste nach ihnen tragen, und über deren Mangel sich nicht betrüben. Auch es bestimmt die Bahn des Rechts zum allgemeinen Besten, damit ein mangelhaft eingerichtetes Staatswesen sie nicht an der Erreichung der wahren Glückseligkeit hindere, und sie nicht abhalte nach der Seligkeit und dem letzten Endzwecke des Menschengeschlechts zu streben, wohin das göttliche Gesetz zielt, und worin sein Vorzug vor dem bürgerlichen besteht.«1060 Das göttliche Gesetz hat demnach eine klare Ausrichtung auf die persönliche Glückseligkeit des Menschen, auf sein Seelenheil und die Unsterblichkeit. Auch da, wo ein solches Gesetz auf die Gesellschaft und ihre Ordnung ausgreift, dient dies nur diesem eudämonistischen Ziel, da eben die Gesellschaft die Infrastruktur für die persönliche Entwicklung bildet. Dieses Verständnis vom göttlichen Gesetz ist ein deutlicher Bruch mit der auch noch im Mittelalter gültigen Vorstellung von der Tora als einem Gesetz, welches alle Rechts- und Lebensbereiche der Menschen betrifft, wie dies noch ganz klar aus den philosophischen Begründungen der Gebote seit Sa’adja Ga’on1061 bis zu Maimonides1062 zu erkennen ist. Hier bei ’Albo wird das göttliche Gesetz das Gesetz für das persönliche Heil. Al1060 Buch Ikkarim, I, 7; Schlessinger, Schlesinger, S. 26ff. 1061 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393ff. 1062 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 480ff.
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le übrigen Rechtsbereiche gehören dem natürlichen und dem konventionellbürgerlichen Recht an. Dem modernen Sprachgebrauch folgend würde man sagen, das göttliche Gesetz ist nun nur noch für die persönliche Religion zuständig, alles Übrige fällt in den Bereich von Naturrecht und gesellschaftlich konventionellem Recht.
8.2
Die Prinzipien des göttlichen Rechts nach Josef ’Albo
Nach dem Vorangegangenen ist deutlich, wofür die nun aufzuzählenden Prinzipien (Hatchalot) oder Grundsätze (‘Ikkarim) nach ’Albos Vorstellungen gelten, nämlich für ein Gesetz, das den Anspruch erhebt göttlich zu sein und dem Seelenheil der Menschen zu dienen. Die schon genannten drei ‘Ikkarim ’Albos sind allerdings nicht die einzigen von einem Juden zu glaubenden Glaubenssätze. Es gibt deren, wie im Folgenden darzulegen sein wird, noch eine weitere Reihe. Es sind aber eben jene drei ‘Ikkarim, welche die äußerste Reduktion inhaltlicher und logischer Art darstellen, auf welchen nach Auffassung ’Albos das gesamte weitere scholastische Gebäude des göttlichen Rechtes ruht: »Die Prinzipien des göttlichen Gesetzes im Allgemeinen sind drei: 1, Daseyn Gottes, 2, Offenbarung, 3. Belohnung und Bestrafung. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß diese nothwendige Prinzipien für das göttliche Gesetz sind, insofern es göttlich ist; denken wir uns nehmlich eines derselben hinweg, so wird das ganze Gesetz offenbar dadurch aufgehoben. Denn glauben wir nicht an das Daseyn Gottes, Der das Gesetz gegeben, so kann es kein göttliches Gesetz geben, und glauben wir auch an das Daseyn Gottes, aber an keine Offenbarung, so ist ebenfalls ein göttliches Gesetz nicht möglich, wird aber Belohnung und Bestrafung für den Körper diesseits und die Seele jenseits in Abrede gestellt, wozu wurde das göttliche Gesetz angeordnet? Denn um die Angelegenheiten der Menschen zu ordnen und ihnen Einrichtungen zu geben, um den Zweck des Staates zu erfüllen, dazu wäre das bürgerliche Gesetz genügend. Ohne Zweifel sollen also die Menschen durch das göttliche Gesetz zu einer Vollkommenheit gelangen, die ihnen das bürgerliche nicht zu geben vermag, zu einer solchen nehmlich, die wie gezeigt wird, von der Vollkommenheit der Seele abhängt.«1063 Der oben angesprochene Paradigmenwechsel vom didaktischen Glaubensminimum bei Maimonides zur scholastischen Grundlegung des göttlichen Gesetzes wird aus diesen Ausführungen überaus deutlich. Es ist nicht das, was für das
1063 Buch Ikkarim, I, 10; Schlessinger, Schlesinger, S. 36f.
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Seelenheil zu glauben nottut, was hier als Grundsatz aufgeführt wird, sondern zunächst eine denkerische Notwendigkeit. Die maimonidischen Glaubenssätze wurden bei ’Albo zu scholastisch logischen Prinzipien, ohne welche die Existenz eines göttlichen Gesetzes nicht denkbar ist. Hier spricht nicht der »Seelsorger«, sondern der philosophisch denkende Scholastiker. Nachdem nun diese logischen Grundvoraussetzungen des göttlichen Gesetzes benannt sind, können die daraus zu ziehenden Konsequenzen vorgetragen werden, die nach der Logik der Sache natürlich auch von jedermann akzeptiert werden müssen, wenn immer man die Voraussetzungen anerkennt. Denn, so ’Albo, die Leugnung einer der drei Grundsätze führt zwar zum Ausschluss aus dem Verband der Bekenner des göttlichen Gesetzes und zum Ausschluss aus der »Kommenden Welt«, aber deren alleinige Anerkennung reicht dennoch nicht aus, das jenseitige Heil wirklich zu erlangen. Dafür ist es erforderlich, dass man auch die aus den drei ‘Ikkarim sich ergebenden Folgesätze (Schoraschim, Wurzeln) anerkennt.1064 Diese »Wurzeln« oder Folgesätze sind nun acht an der Zahl und zwar wie folgt: »Der aus den drei Grundsätzen (‘Ikkarim) sich ziehenden Folgesätze (Schoraschim) sind acht. Aus dem ersten Grundsatz, dem vom Daseyn Gottes, ziehen sich vier Folgesätze, die Alles in sich begreifen, was zum Daseyn Gottes, als eines nothwendigen Wesens, gehört. Sie sind folgende: 1) Einheit (’Achdut) Gottes […]; 2) Unkörperlichkeit Gottes und daß er keine Kraft in einem Körper ist; 3) Unabhängigkeit Gottes von der Zeit und 4) Seine Freiheit von allen Mängeln. […] Aus dem zweiten Grundsatz, dem von der Offenbarung, ziehen sich drei Folgesätze, nehmlich 1) Allwissenheit Gottes, 2) Prophetengabe, und 3) Beruf des Gesandten. […]. Dem dritten Grundsatz von der Belohnung und Bestrafung geht als Wurzel voraus und ist nothwendig damit verbunden, die göttliche Sorgfalt [Haschgacha, Vorsehung].«1065 Die Grund- und Folgesätze gelten nach Meinung von ’Albo für das eine wahrhafte sowie für jegliches vermeintliche göttliche Gesetz, auch wenn bezüglich der Folgesätze schon erhebliche Differenzen etwa zum Christentum und Islam auftreten.1066 Darum fügt er diesen Grund- und Folgesätzen nun noch eine Reihe 1064 Buch Ikkarim, I, 13; Schlessinger, Schlesinger, S. 49; Sefer ha-‘Ikkarim ebd., S. 60. 1065 Buch Ikkarim, I, 15; Schlessinger, Schlesinger, S. 54ff (Absatzgliederung KEG); Sefer ha‘Ikkarim, ebd., S. 64f. 1066 Vgl. Buch Ikkarim, I, 26; Schlessinger, Schlesinger, S. 92f; Sefer ha-‘Ikkarim, S. 92.
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von Glaubenswahrheiten hinzu, welche spezifische Merkmale der »Mosaischen Tora« (Torat Mosche) sind und welche jeder Bekenner dieser Religion glauben sollte. Auch sie lassen sich aus den Grund- oder Folgesätzen ableiten. ’Albo zählt insgesamt sechs solcher glaubenswürdigen Wahrheiten auf, »weil sie von der Nation angenommen sind und besonders zur steten Beobachtung des Gesetzes und seiner Wurzeln dienen, auch die allzeitige Beobachtung des Gesetzes von ihnen abhängt, obschon sie keine Wurzeln desselben sind. Wer aber dieselben läugnet, wird Ketzer (Min) genannt, obschon er nicht zu jenen gehört, die das Gesetz läugnen und keinen Antheil an dem Jenseits haben.«1067 Diese spezifisch jüdischen Glaubenswahrheiten sind: 1. »Die Schöpfung der Welt aus dem Nichts.« 2. »Daß die Prophetengabe Mosis eine höhere Stufe, als die aller übrigen Propheten […] einnimmt.« 3. »Daß das Mosaische Gesetz weder dem Buchstaben, noch dem Geiste nach verändert, und durch keinen Propheten, mit irgend einem anderen Gesetze vertauscht werden kann.« 4. »daß die menschliche Vollkommenheit durch Beobachtung irgend eines Gebotes des Mosaischen Gesetzes erlangt wird.« 5. »Erweckung der Todten.« 6. »der Messiasglaube.«1068 Nur um einen Eindruck zu vermitteln, wie aus den Haupt- oder Folgesätzen die hier genannten glaubenswürdigen Wahrheiten abgeleitet werden können, soll ’Albos Argumentation zum Glauben an den Messias kurz nachgezeichnet werden. Sie bietet er im vierten Teil seines Buches, in welchem der dritte ‘Ikkar, von der Belohnung und Bestrafung und die daraus abzuleitenden Folgesätzen und Glaubenswahrheiten, verhandelt werden. Die Pflicht, an den Messias als einer Form der diesseitigen Vergeltung zu glauben ergibt sich demnach daraus, dass in der Tora (Deuteronomium 18, 15) ausdrücklich geboten wird, man müsse an die Worte der Propheten glauben, und die Propheten ja mehrfach das Kommen des Messias verheißen. »So ist es klar, daß wer nicht an den Messias glaubt, die Worte der Propheten läugnet und somit ein Gebot übertritt.«1069 Wer nun an die Ankunft des Messias nicht glaubt, ist damit noch kein Leugner eines Grundsatzes, hier den an die Belohnung, denn er leugnet eben nur eine bestimmte Form der göttlichen Vergeltung oder Belohnung, nicht aber den Grundsatz der göttlichen Vergeltung überhaupt. Ein solcher Mensch ist ein Ketzer, aber er ist nicht von der jenseitigen Welt ausgeschlossen.
1067 Buch Ikkarim, I, 23; Schlessinger, Schlesinger, S. 35; Sefer ha-’Ikkarim, S. 86. 1068 Buch Ikkarim, I, 23, S. 82–85; Sefer ha-‘Ikkarim, S. 84ff. 1069 Buch Ikkarim, IV, 42; Schlessinger, Schlesinger, S. 586; Sefer ha-‘Ikkarim, S. 367.
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8.3
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Die Transformation der theologisch-philosophischen Scholastik in religiösen Gottesdienst bei Moses Isserles
Der eigentliche Ansatzpunkt für Isserles Rezeption gerade von ’Albos Prinzipien-Lehre sind die dort vorkommenden Zahlen. Diese sind: 3 ‘Ikkarim, 8 Folgesätze (Schoraschim) – zusammen elf Einheiten – und schließlich die neun glaubenswerten Wahrheiten. Es sind diese Zahlen, welche dem Zweck von Isserles Darstellung entgegenkommen und für ihn deshalb im Vordergrund stehen, wenn damit auch nicht eine grundsätzliche Stellungnahme zur Debatte um die Gültigkeit von »Glaubensgrundsätzen« ausgeschlossen wird. Es sind jedoch nicht nur diese Zahlen ’Albos, welche Isserles für sein eigentliches Ziel einsetzt, wie sogleich deutlich werden soll. Wie oben schon gezeigt, liegt der gesamten hier verhandelten Schrift Isserles’ der Gedanke von der Entsprechung von Kosmos und Tempelheiligtum zugrunde, wobei als hierfür herangezogener »Kosmos« die mittelalterlich-philosophische Kosmologie zu dienen hat. Zum Gesamt dieser Entsprechungslehre gehören nun auch die drei »innersten Tempelgeräte«, nämlich die Menora, der Schaubrottisch und die Bundeslade. Dies drei innersten und für den gesamten Tempel wichtigsten Requisiten werden angemessener Weise mit den für den Kosmos zentralen göttlichen Gaben ins Verhältnis gesetzt: Die Menora, das heißt der Licht spendende Leuchter, entspricht der »Schriftlichen Tora«, der Schaubrottisch entspricht der »Mündlichen Tora« und die Bundeslade schließlich entspricht den »Zehn Worten« (Zehn Geboten). Das von Isserles verwendete Verfahren zur Identifizierung der Menora als Symbol für die Schriftliche Tora zeigt ein weiteres Mal die Absicht von Isserles das mittelalterlich-philosophische Denken in den rabbinischen Kontext zu integrieren. Das erste ist, dass er die mittelalterliche Philosophie mit den Mitteln der antiken rabbinischen Hermeneutik in seine Homiletik integriert und zum Zweiten, dass dafür antik-rabbinische neben mittelalterlich philosophischen Topoi zu Symbolen der Tora umgemünzt werden, wodurch das philosophische Mittelalter zu einem Teil des rabbinischen Denkens, des rabbinischen Diskurses wurde, und zugleich aus seinem professionell philosophischen Kontext entfernt wird. Die folgenden Topoi macht Isserles zu Symbolen für die angestrebte symbolische Gleichung von Menora und Schriftlicher Tora: Topoi aus der Midraschtradition:1070 1. Die sieben Lampen der Menora entsprechen den sieben Worten des ersten Verses der Genesis. 2. Die elf Knaufe des Leuchters entsprechen den elf Worten des ersten Verses des Buches Exodus.
1070 Torat ha-‘Ola, I, 16, S. 18a.
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3. Die neun Blüten am Leuchter entsprechen den neun Worten des ersten Verses von Levitikus. 4. Die Höhe der Menora beträgt 17 Handbreiten. Sie entsprechen den 17 Wörtern des ersten Verses von Numeri. 5. Die 22 Blütenkelche an der Menora entsprechen den 22 Wörtern des ersten Verses des Buches Devarim (5. Buch Mose). 6. Die sieben Lampen der Menora entsprechen den sieben Teilen der Tora.1071 8. Die 22 Blütenkelche der Menora entsprechen den 22 Buchstaben, aus welchen die Tora zusammengesetzt ist. 9. Die Höhe der Menora beträgt 18 Handbreiten. Achtzehn hebräisch geschrieben, חי, HaJ, bedeutet »lebendig«, und die Tora ist ja der Baum des »Lebens«.1072 Topoi aus der mittelalterlich-wissenschaftlichen Tradition: 1. Die sieben Lampen der Menora entsprechen den »sieben Weisheiten«, das heißt den sieben artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie), welche in der Tora enthalten seien. 2. Die 11 Knaufe der Menora entsprechen den 11 ‘Ikkarim und Schoraschim nach Josef ’Albos Zählung. 3. Die neun Blüten der Menora entsprechen den neun »wahren Glaubenssätzen«. Auf »neun« Glaubessätze kommt Isserles allerdings nur, indem er ’Albos sechs Sätzen kurzerhand drei weitere anfügt, nämlich a. die Wahlfreiheit, b. den Glauben an die Tradition, c. nur Gott und keinem anderen zu dienen.1073 4. Die drei Standbeine der Menora entsprechen den drei ‘Ikkarim von ’Albo. Mit dieser ausführlichen Operation sind die Daten der mittelalterlich jüdischen Scholastik und Philosophie in den rabbinischen Diskurs eingefügt und sind in den rabbinischen Kanon aufgenommen. Dies ist für Isserles allerdings nicht nur eine spielerische Global-Rezeption, sondern zugleich eine dezidierte Parteiname innerhalb der Diskussion um die Frage, ob das Judentum Dogmen kenne, zulasse, oder brauche. Dies wird dadurch deutlich, dass sich Isserles im Rahmen dieser Darstellung entschieden in diese Debatte einmischt und ’Albo gegen Jizchak 1071 Im Gegensatz zu der sonst üblichen Aufteilung der Fünf Bücher der Tora beruft sich Isserles hierzu auf einen alten Midrasch, nach welchem der Vers Numeri 10,35, wajjehi bi-nesoa ha’Aron, ein eigenes Buch darstelle, und somit der Teil davor und danach gleichfalls als eigene Bücher zu betrachten sind. Numeri zerfällt demnach in drei Bücher, kommen die restlichen vier hinzu, ergibt es sieben, Torat ha-‘Ola, I, 16, S. 18c. 1072 Torat ha-‘Ola, I, 16, S. 19a. 1073 Torat ha-‘Ola, I, 16, S. 18d.
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Abravanel verteidigt. Abravanel hatte in seinem argumentativ ausladenden und tief greifenden Buch zur Frage der ‘Ikkarim, dem Buch Rosch ’Amana, – welchem Isserles vom philosophischen Niveau her in keiner Weise entspricht –, die Gültigkeit von dogmatischen ‘Ikkarim im Judentum kategorisch abgewiesen.1074 Isserles zitiert diesen Einwand von Abravanel und argumentiert dagegen mit einem alten Midrasch, nach welchem die 613 Gebote der Tora von späteren Propheten sukzessive in wenigen Hauptgeboten zusammengefasst worden seien, als letztem schließlich von Habakuk, der sie auf ein einziges Gebot reduziert habe, nämlich auf den Glauben, denn »der Gerechte wird durch seinen Glauben leben (Habakuk 2).«1075 Des weiteren verweist Isserles auf die alte Geschichte von Hillel, welcher für einen Proselyten die Tora in der so genannten goldenen Regel zusammenfasste.1076 Daraus folgert Isserles: »Und so machten es auch die Neueren. Sie erklärten uns die Sache des Glaubens, und das ist der Glaube an die Wahrheit der ‘Ikkarim. Und dadurch wird man ein ›Glaubender‹ genannt. Und wenn man einen davon leugnet wird man Leugner der Hauptsache (‘Ikkar) genannt, wie ja auch Maimonides im Kapitel Helek schrieb. Darum darf man nicht auf die Worte Abravanels achten!«1077 Die Begründungen zu den drei von Isserles hinzugefügten wahren Glaubenssätzen, decken noch einige weitere Spuren der Bewertung des Glaubens durch Isserles auf. Zur Begründung der »Willensfreiheit«, oder »Wahlfreiheit« sagt Isserles unter anderem: »Die Wahlfreiheit ist ein Grundsatz (‘Ikkar) für alle Gesetze, sogar für das bürgerliche / konventionelle. Denn wenn es keine Wahlfreiheit gibt, sind alle Gesetze obsolet.«1078 Und zum Glauben an die Vätertraditionen erläutert er: »Es ist wohlbekannt dass dieser Glaube für die Tora nötig ist, denn ohne ihn ist die gesamte Tora aufgehoben.«1079 Der große Halachist Isserles reiht sich mit solchen Auffassungen in die Reihe derer ein, für die der Glaube das wichtigste Element der Zugehörigkeit zu Israel und des Anrechtes auf das ewige Leben ist. Von Isserles darf man demnach mit vollem Recht sagen, er sei ein Vertreter der jüdischen »Orthodoxie« (Rechtgläubigkeit), wiewohl der Begriff, wie eingangs dargelegt, im Judentum erst ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aufkam und im 19. gebräuchlich wurde. In dieser Or-
1074 Principles of Faith (Rosh Amana), hrsg. von Kellner, S. 19, 195. 1075 Midrasch Tanchuma, Schoftim, 9. 1076 Talmud Bavli, Schabbat, 31a: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht.« 1077 Torat ha-‘Ola, I, 18c. 1078 Torat ha-‘Ola, I, S. 18d. 1079 Ebd.
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thodoxie hat der Glaube grundlegende Bedeutung für die Zugehörigkeit zu Israel und den Anwärtern für das ewige Heil, die Halacha andererseits fügt den Menschen in die Gott-weltlichen Bezüge ein, denen er sich nicht entziehen kann, denn dies gebietet ihm sein Glaube an die Offenbarung der Tora – hier in ihrer doppelten Form, der Schriftlichen wie der Mündlichen, zu welcher eben auch die rabbinische Halacha gehört.
Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
IV. TORAFRÖMMIGKEIT – HAJJIM AUS WOLOSCHYN (VOLOZHIN; 1749–1821) 1.
Biographisches – die neue Jeschiva
Rabbi Hajjim Ben Jizchak aus der ehemals litauischen, südöstlich von Wilna gelegenen, Stadt Woloschyn gilt als der herausragendste Schüler des Anführers der antihasidischen Kampagnen des 18. Jahrhunderts,1080 des Ga’on R. ’Elijahu von Wilna (1720–1797/8). Nach dem Tod des Wilnaer Ga’on war Hajjim der anerkannte Führer und Sprecher der antihasidischen Mitnaggedim (Gegner). Allerdings führte R. Hajjim den Kampf gegen den Hasidismus mittels der Lehre und nicht wie sein Meister durch Bannsprüche. In seinen zwanziger Jahren war Hajjim zunächst Rabbiner in seiner Vaterstadt Woloschyn, folgte 1790 einem Ruf nach Wilkomir, um allerdings nach nur einem Jahr wieder nach Woloschyn zurückzukehren. Dort schritt er im Jahre 1802 zu jener Tat, die im rabbinischtoratreuen Judentum seinen bleibenden Ruf begründen sollte, nämlich der Gründung der berühmten Jeschiva von Woloschyn, die später ihm zu Ehren den Namen Jeschivat ‘Ez Hajjim (Baum des Lebens) tragen sollte. Diese Jeschiva, also höheres Studieninstitut für talmudische Studien, sollte für eine Reihe von Nachgründungen und bis in die Gegenwart das bleibende und prägende Vorbild für die Jeschiva werden. Im jüdischen Mittelalter war die Jeschiva eine lokale Gemeindeeinrichtung, deren Gründung Teil der Anstellungsverträge von Gemeinderabbinern waren. Die Gemeinden verpflichteten sich darin, dem neu zu berufenden rabbinischen Gelehrten ein solches Lehrhaus zu finanzieren, insbesondere durch die reihum in Privathäusern organisierte Verköstigung der Studenten. Diese lokalen und an das Geschick des jeweiligen Rabbiners gebundenen Einrichtungen waren im Gefolge des rechtlichen und wirtschaftlichen Verfalls der überregionalen und lokalen jüdischen Selbstverwaltung im Königreich Polen – eine Spätfolge auch der kosakischen Judenpogrome unter dem Ukrainer Bogdan Chmielnicki (1595–1657) – im Niedergang begriffen, wodurch das traditionelle höhere Bildungswesen des Tora-Judentums aufs höchste gefährdet wurde.1081 1080 Vgl. s. Dubnow, Geschichte des Chassidismus, Jerusalem 1969, Bd. 1, S. 177–272; Bd. 2, S. 226–139. 1081 Dazu s. I. Etkes, Schitato u-Fo’alo schel R. Hajjim mi-Woloschyn ka-Teguvat ha-Hevra hamitnaggedit la-Hasidut, in: PAAJR XXXVIII–XXXIX 1970–1971, New York 1972, S. 1–45 (Hebrew Section); ders., R. Jisra’el Salanter we-Reschitah schel Tenuat ha-Musar, Jerusalem 1982 (hier das zweite Kapitel); S. Stampfer, Ha-Jeschiva ha-lita’it be-Hithawwutah, Jerusalem 20052; Rabbi Hayyim de Volozhyn. L’Âme de la vie. Nefesh Hahayyim, Présentation, traduction et commentaire par B. Gross, Paris 1986, Introduction; B. Gross, ‘Al Tefisat ‘Olamo schel R. Hajjim mi-Woloschyn, in: Bar ’Ilan, 22–23 (1988), S. 121–160; M. Hildesheimer, Haschkafat R. Hajjim mi-Woloschyn ‘al ha-Hasidut, in: Ma‘ajan 12,4 (Tammus
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
Hinzu kam ein innerjüdisches Momentum, nämlich das Aufkommen der hasidischen Bewegung mit ihren neuen religiösen Wertesetzungen,1082 wozu unten noch Weiteres zu sagen sein wird. In dieser Situation konzipierte und gründete Hajjim einen neuen Typus von Jeschiva. Das wichtigste Element dieser Neuerung war zunächst, dass die Woloschyner Jeschiva keine lokale Lehr- und Lernstätte war, sondern sich als eine überregionale Einrichtung verstand, die sich aus Spendengeldern größerer Regionen finanzierte. Dies führte zu einer vollkommenen Unabhängigkeit dieser neuen Jeschiva von den Gremien der Ortsgemeinde, in welcher die Jeschiva angesiedelt war. Auch die Verpflegung und Unterbringung der Studenten stützte sich nicht länger auf die Privathaushalte der Ortsgemeinde, sondern wurde aus dem Budget der Jeschiva selbst finanziert. Diese Unabhängigkeit führte zu einem eigenen neuen Selbstbewusstsein der Studierenden samt ihrer Lehrer und deren Wirtschaftspersonal, das nunmehr neben dem Rosch Jeschiva (Jeschiva-Direktor) zum Personenbestand dieser neuen Institution gehörte. Die Jeschiva des neuen Typs wurde nunmehr zu einer Art Gemeinde in der Gemeinde, in deren Mitte der Rosch Jeschiva stand, um den sich seine ratsuchenden Schüler scharten – eine Konzeption die in manchem ihre Parallele in dem von Rabbi Hajjim bekämpften Hasidismus mit seinen hasidischen Höfen hatte. Hajjim Woloschyner verfolgte an seiner Jeschiva, in welcher ein bis ins Persönliche hinein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis gepflegt wurde, ein konsequentes Erziehungsprogramm, in dessen Mitte, wie unten noch deutlich werden wird, das möglichst ununterbrochene Torastudium in der Studiengruppe stand, begleitet von einer hasidisch-pietistischen Frömmigkeit des älteren Typs, das heißt der Demut, der moralischen und rituellen Reinheit und einer konsequenten detailgetreuen Ausführung der Gebote – Vorbild dafür war das paradigmatische Studienleben des Wilnaer Ga’on ’Elijahu.1083 Das Torastudium dieser frommen Jeschiva-Lebensweise soll sich dabei nicht auf die »modernen« Kodizes wie den Schulchan ‘Aruch stützen, sondern auf die talmudischen Quellen, erstere sollten allenfalls als Denkstütze dienen. Im Zentrum dieses Ideals der Toragelehrsamkeit steht auch die fatalistische (Etkes) Hintanstellung des Broterwerbes, dem allenfalls als lästiger Notwendigkeit in möglichst geringem Umfang nachzugehen ist,
1972), S. 42–57; N. Lam, Tora li-Schemah be-Mischnat Rabbi Hajjim mi-Woloschyn u-vaMachschevet ha-Dor, Jerusalem 1972; T. Ross, Schne Peruschim le-Torat ha-Zimzum (zu: R. Hajjim mi-Woloschyn und Schne’ur Salman aus Liadi), in: Mehkere Jeruschalajim beMachschevet Jisra’el, II, Jerusalem 1982, S. 153–169. 1082 Zum Hasidismus s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–910. 1083 Zu ihm s. I. Etkes, Jachid be-Doro. Ha-Ga’on mi-Wilna – Demut we-Dimuj, Jerusalem 1998.
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wohingegen man im Vertrauen auf Gott (Bittachon) gewiss sein könne, das zum Leben Nötige aus Seiner Hand zu erhalten.
2.
Die Lehren des Rabbi Hajjim
2.1
Die Grundlagen
Die für die in der vorliegenden Darstellung verfolgte Zielsetzung einer Geschichte des Denkens ist vor allem das von Hajjims Sohn, Jizchak, im Auftrag seines Vaters nach dessen Tod veröffentlichte Werk Nefesch ha-Hajjim (Seele des Lebens) und die in der israelischen Neuausgabe hinzugekommenen Texte grundlegend.1084 Eine Lektüre der ersten drei Teile oder Tore (Sche‘arim) von Nefesch ha-Hajjim vermittelt den Eindruck, Hajjim aus Woloschyn sei einfach ein Vertreter der Kabbala, deren Werke, voran die Schriften des Sohar,1085 er ausführlich zitiert. Die grundsätzlichen Lehr-Positionen der Kabbalisten, die Hajjim übernimmt, der Aufbau der Welt in vier Stufen, an deren Spitze das göttliche ’En Sof (Unendliches) steht, die Verflechtungen des menschlichen Tuns mit den intelligiblen Weltstufen, und sein Einfluss auf sie, die drei oder fünf Seelenschichten des Menschen, die gleichfalls mit den intelligiblen Weltstufen verbunden sind, dies alles vermittelt den Eindruck vom Werk eines Kabbalisten. Erst die Lektüre des vierten »Tores«, in dessen Mitte die Bedeutung der Tora und des Torastudiums steht, offenbart jedoch die wirkliche Mitte des Hajjimschen Denkens. Und betrachtet man von hier aus die einführenden vorangehenden drei Tore, so wird plötzlich deutlich, wie selektiv Hajjim mit den kabbalistischen – wie auch einigen philosophischen Texten – umgeht. Die gesamte Auswahl kabbalistischer Topoi steht nämlich einzig im Dienste des abschließenden vierten Abschnitts des Buches. Und bald wird deutlich, dass für Hajjim, wie für die zuvor beschriebenen Autoren, die Kabbala nicht eigentlich das Ziel, nicht der wirkliche Denkhorizont ist. Wie bei den beiden hier vorangehenden Denkern ist die Kabbala für 1084 Hajjim mi-Woloschyn, Nefesch ha-Hajjim, Wilna 1824; hier zitiert nach der Ausgabe Bne Brak 1989, in welcher weitere Texte des Autors angefügt sind: Millu’im zu Nefesch haHajjim, Likkute Ma’amarim, Deraschat Mohara“h, ‘Ez Hajjim; und außerdem nach der im Internet unter www.hebrew books.org verfügbaren Ausgabe Brooklyn/New York (Nachdruck einer älteren Ausgabe, 1824?); französische Übersetzung: Rabbi Hayyim de Volozhyn, L’Ame de la vie. Nefesh Hahayyim, par B. Gross, Paris 1986. Weitere Werke sind Ruach Hajjim (Geist des Lebens), (Ein Kommentar zu den Sprüchen der Väter), vom Sohn nach den Vorlesungsprotokollen des Vaters niedergeschrieben, Jerusalem 1945; ein Vorwort Hajjims zum Kommentar des Elijahu Ga’on zum kabbalistischen Sifra di- Zeni’uta, Wilna 1820; Responsen, in: Hut ha-Meshulasch, hrsg. von H.H. Fried, Wilna 1883. 1085 Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 469–478.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
Hajjim ein Stück jüdischer Tradition geworden, das es nun für das eigentliche Anliegen heranzuziehen gilt – und dieses Anliegen sind die altrabbinischen Ideale der Tora, ihrer Stellung im Kosmos, im gesellschaftlichen und individuellen Leben, die nunmehr mithilfe neuer, eben kabbalistischer, Denkkategorien expliziert werden. Das Resultat ist dann nicht mehr im wirklichen Sinne die Kabbala, sowenig wie eine bruchlose Rückkehr zur rabbinisch-talmudischen Theologie. Die Kabbala wird herangezogen sofern sich mit ihrer Hilfe altrabbinische Topoi mit neuer Macht und in neuem Gewand darstellen lassen, wo aber die Kabbala altrabbinische Grundsätze sprengt oder gefährdet, wird sie nicht nur mit Schweigen übergangen, sondern vehement zurückgewiesen. Da ist zum einen das sehr nachdrückliche Gebot von Seiten Hajjims, dass die Gebete des Menschen nur an das ’En Sof und keinesfalls an die Sefirot1086 zu richten seien, denn »der Grundund Eckstein unseres heiligen Glaubens ist es, dass jegliche Ausrichtung unseres Herzens bei allen Segenssprüchen und Gebeten, nur auf den Einzigen der Welt, den einzigen Herrn, das ’En Sof, Er sei gesegnet, ausgerichtet sein darf.«.1087 Damit ist ein Herzstück der Kabbala, die Ausrichtung des menschlichen Gebetes auf die Sefirot, die ja nach kabbalistischer Lehre die offenbarte Gottheit sind, verboten – man vergleiche das diesbezügliche Gleichnis vom Schatzhaus, deren Kammern und Inhalte man genau kennen müsse, um etwas erreichen zu können, das Josef Gikatilla einmal für die Sefirot verwendet.1088 An ihre Stelle tritt wieder der eine und einzige Gott, allerdings wird er nun nicht mehr rabbinisch als Vater im Himmel beschrieben, sondern kabbalistisch-philosophisch als das Unendliche, als das ’En Sof. Eine weitere Abweichung von der Kabbala ist Hajjims Auffassung, dass es beim Gebet und bei der Gebotserfüllung keiner Kenntnisse der kabbalistischen Meditationen (Kawwanot) bedürfe, sondern die menschliche Tat auch ohne diese nach oben wirkt. Hajjim verwirft diese Kenntnisse zwar nicht, verleiht ihnen aber nur den Rang eines zusätzlichen Wissens, welches dem Menschen zeigt, wie weit sein Tun wirkt und ihn so beflügeln kann, das aber für die Wirkung der tat selbst nicht notwendig ist. Dieses »zusätzliche« kabbalistische Wissen treibt den Menschen dazu an, die Gebote zu erfüllen mit »vollkommener Pünktlichkeit bei mächtiger Furcht und Liebe, Heiligkeit und Reinheit des Herzens, denn durch sie bewirkt er viel größere Zurechtstellungen (Tikkunim) in den Welten als wenn er das Gebot ohne die heiligen und reinen Kawwanot (Meditationen) durchführt.« Aber nach diesem halben Zugeständnis an die Kabbala folgt die grundsätzliche Bemerkung, welche die Bedeutsamkeit der kabbalistischen Kawwanot vom 1086 Nefesch ha-Hajjim, III, 14, Jerusalem, S. 187, Brooklyn S. 83b, Gross, S. 154. 1087 Nefesch ha-Hajjim, II, 4, Jerusalem, S. 101, Brooklyn S. 50a, Gross, S. 78; Nefesch ha-Hajjim, I, 16, Jerusalem, S. 55, Brooklyn S. 38b, Gross, S. 51. 1088 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–910.
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Tisch fegt: »Die unabdingbare Hauptsache aller Gebote sind jedoch die einzelnen [gebotenen] Handlungen«. 1089 Eine Breitseite gegen die Kabbala ist auch der Hinweis, dass es seit Abschluss des Talmud nicht mehr erlaubt ist, neue Gebote zu schaffen, man sich vielmehr ausschließlich und strengstens an die talmudische Halacha zu halten habe.1090 Es waren ja gerade die Kabbalisten, die im Schaffen neuer Gebote und Bräuche besonders kreativ waren.1091 Kurz, Rabbi Hajjim Woloschyner ist kein Kabbalist, aber er bedient sich gerne und sehr ausführlich der kabbalistischen Tradition, wo sie ihm hilft, altrabbinisches Gedankengut in neue gängige Denkformen zu gießen. Ein Letztes muss hier noch genannt werden, was das Denken von Hajjim tiefgreifend prägte, nämlich seine Auseinandersetzung mit dem die Altfrommen Osteuropas mächtig bedrängenden Hasidismus des Bescht, seiner Genossen und Nachfolger.1092 Diese Prägung zeigt sich am nachdrücklichsten bei der Verwendung des Begriffes der Devekut, also dem Haften des Menschen an der Gottheit, durch Hajjim, das im Hasidismus zum Zentrum der Frömmigkeit geworden war1093 und offenbar eine große Anziehungskraft auf die Juden auch des rabbinischen Lehrhauses ausübte. Hajjim nimmt diesen Begriff an den zentralsten Stellen seiner Erörterungen auf, fügt ihn aber in seinen eigenen, vom Hasidismus völlig verschiedenen, Kontext ein, um zu sagen, dass das so attraktive religiöse Ideal nur in der Jeschiva eines Hajjim Woloschyner richtig erlangt wird, nicht am Hofe der hasidischen Rebbes. Allerdings sagt Hajjim dies stets ohne direkte Nennung seiner Gegner, was seiner Auseinandersetzung mit ihnen die polemische Spitze abbricht und friedvoller als beim Ga’on einhergeht.
2.2
Gott
Bezeichnend für die Zielsetzung von Nefesch ha-Hajjim ist sogleich die Eröffnungs-Parole und damit das Thema des Anfangskapitels des ersten Teiles des Buches. Diese ist nämlich nichts anderes als ein Zitat aus Genesis 1, 27, also der biblischen Grundstelle für die Lehre, dass der Mensch im Ebenbild Gottes erschaffen sei, wobei der Akzent für Hajjim darin liegt, dass in diesem biblischen Satz gesagt wird, der Mensch sei das Zelem ’Elohim, also das Ebenbild von ’Elohim, nicht etwa von JHWH oder einer sonstigen Gottesbezeichnung der Bibel. Was dies im Einzelnen zu bedeuten hat, soll weiter unten deutlich werden. 1089 Nefesch ha-Hajjim, I, 22, Jerusalem, S. 75, Brooklyn S. 46b, Gross, S. 69. 1090 Nefesch ha-Hajjim, I, 22, Jerusalem, S. 74f., Brooklyn S. 46a, Gross, S. 68. 1091 Vgl. G. Scholem, Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten, in: ders. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, S. 159–208. 1092 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683ff. 1093 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 791ff.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
Hier soll damit zunächst nur angezeigt sein, dass das zentrale Thema des gesamten Buches letztlich der Mensch ist, auch da, wo von Gott oder der Tora gesprochen wird. Diese Akzentsetzung für alle zu verhandelnden Themen zeigt sich sogleich beim ersten Durchgang durch die Lehren von Gott. Hajjim wählt als Ausgangspunkt für seine Lehre von Gott aus dem antiken Midrasch das altrabbinische Gleichnis von Gott als der Seele der Welt: »Der Heilige, E.s.g., erfüllt seine Welt und die Seele erfüllt den [menschlichen] Körper, der Heilige, E.s.g. trägt seine Welt und die Seele trägt den Körper, der Heilige, E.s.g., ist einzig in seiner Welt und die Seele ist einzig im Körper, beim Heiligen, E.s.g., gibt es keinen Schlaf und auch die Seele schläft nicht, der Heilige, E.s.g., ist rein in seiner Welt und die Seele ist rein im Körper, der Heilige, E.s.g, sieht und wird doch nicht gesehen und die Seele sieht und wird nicht gesehen, so komme die Seele, die sieht und nicht gesehen wird, und preise den Heiligen E.s.g.«1094 Im Midrasch dient dieses Gleichnis als Erläuterung des letzten Verses der Psalmen, 150, 6, »Jegliche Seele (Neschama) preise JaH, Hallelujah.« Das Gleichnis im rabbinischen Midrasch soll also erklären, warum – nach der rabbinischen Deutung – gerade die Seele zum Preis Gottes aufgefordert wird – wobei zu bemerken ist, dass im biblischen Text hier zu übersetzen wäre: »Alles, was Odem hat lobe […]«, also alle Menschen und auch andere Lebewesen sollen Gott preisen, während eben der rabbinische Midrasch die Seele als Lobpreiserin Gottes apostrophiert. Für Rabbi Hajjim ist diese Parallelisierung von Gott und menschlicher Seele allerdings nicht nur ein Gleichnis, sondern eine ontologische Aussage, Gott ist die Seele der Welt. Dies wird nun mit Hilfe kabbalistischen Topoi von Hajjim expliziert: »Es ist ja aus dem Sohar und aus den Schriften des ’Ari [Jizchak Lurja], seligen Angedenkens, hinsichtlich der Hervorkettung und Verbindung der Welten bekannt, dass sich jegliche Weltstufe in ihrer Ordnung, ihrem Zustand und allen Details, gemäß dem Zustand der Kraft der über ihr stehenden Welt verhält, die sie lenkt wie die Seele den Körper. Und in dieser Weise geht es immer höher, so dass schließlich Er, gepriesen sei sein Name, die Seele von allen ist.«1095 Das altrabbinische Gleichnis wird hier zur ontologischen Aussage. Gott ist nicht nur der menschlichen Seele im Körper vergleichbar, sondern Er ist tatsächlich 1094 Midrasch Rabba, Devarim, Par 2 Piska 36. 1095 Nefesch ha-Hajjim, I, 5, Jerusalem, S. 11, Brooklyn, S. 19f., Gross, S. 13.
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die Seele aller Welten. Diese den menschlichen Verhältnissen analoge Beziehung zwischen der Gottheit und den Welten wird nun von Hajjim weiter ausgemalt. Nämlich, dass so wie die menschliche Seele ihre Existenz durch die Aktionen des Körpers sichtbar macht, so auch die Seele der Welt, die unsichtbare Gottheit, die, wie schon erwähnt, Hajjim mit den Kabbalisten auch ’En Sof nennen kann. Hinsichtlich dieses ’En Sof stellt nun auch Hajjim mit der kabbalistischphilosophischen Tradition fest, dass »das Wesen des ’En Sof, Er sei gesegnet, das Verborgenste von allem Verborgenen« ist,1096 so dass ihn auch die Segenssprüche des menschlichen Gebetes nicht erreichen können und er deshalb mit keinerlei Namen benannt werden könne, nicht einmal mit dem Tetragrammaton JHWH noch auch mit der Spitze seines ersten Buchstabens Jod – wie dies immerhin die Kabbalisten glauben.1097 Die Transzendenz der Gottheit ist Hajjim so wichtig, dass er sich sogar noch weitergehend vom Sohar distanziert, der ja Gott ’En Sof nennt. Wenn dies nun auch Hajjim selbst tut, so doch in einem anderen Sinn. ’En Sof, so sagt er, ist nicht eigentlich eine Benennung des verborgenen Gottes selbst, sondern ist eine Benennung, die mit dem beschränkten Fassungsvermögen der Menschen zu tun hat. Wenn man überhaupt von Gott etwas sagen kann, so nicht von seinem absoluten Wesen, sondern ausschließlich hinsichtlich seiner Zuwendung zur Welt, oder seiner Verbindung (Hithabberut) zu ihr. Diese Zuwendung zur Welt, dies war oben schon gesagt worden, geschah in einer Verkettung oder Ergießung, Emanation, von göttlichen Kräften. Und selbst diese Kräfte sind so endlos, dass die menschliche Erkenntnis dieser Kräfte Gottes ’En Sof, endlos ist. Denn, so betont Hajjim ein weiteres Mal, hinsichtlich seines Wesens hat dieser Gott weder Ende noch Anfang, will wohl sagen, dass man ihn dann auch nicht wirklich ’En Sof nennen kann. Die Verwendung dieser Begriffe gilt nur für das menschliche Erkennen, für die Erkenntnis seiner Kräfte, nichts aber für das Wesen Gottes selbst. Und von dieser Erkenntnis kann man sagen, dass sie allenfalls ein Anfang ist, aber niemals ein Ende erreichen wird.1098 An dieser Stelle fügt sich sogleich ein Hinweis auf die Attribute an, welche Gott in den Schriften und Gebeten beigelegt werden – auch sie gelten nur hinsichtlich von Gottes Zuwendung zur Welt. Wo die mittelalterlichen Philosophen von »Wirkattributen« reden,1099 spricht Hajjim mithin von »Relationsattributen«, also Attributen der Hinwendung Gottes zu seiner Welt. Zu ihnen gehören folglich auch die beiden zentralen Gottesnamen oder Bezeichnungen der Bibel, JHWH und ’Elohim, die aber doch beide je spezifisch Verschiedenes bezeichnen.
1096 Nefesch ha-Hajjim, II, 2, Jerusalem, S. 96, Brooklyn, S. 48, Gross, S. 74. 1097 Nefesch ha-Hajjim, I, 2, Jerusalem, S. 96, Brooklyn, S. 48, Gross, S. 74; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 412, 414, 309f., 410; vgl dagegen Maimonides, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 445. 1098 Nefesch ha-Hajjim, I, 2, Jerusalem, S. 96f., Brooklyn, S. 48, Gross, S. 74. 1099 Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 381, 411, 442ff.
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Zunächst zum Tetragrammaton. Dieser Name, den Hajjim in Anlehnung an den Kabbalisten Gikatilla in dessen Frühwerk, immerhin noch »Wesens-Namen« nennt, ist aber nach dem zuvor Gesagten auch nur ein Name der zur Hinwendung Gottes an die Welt gehört: »Sogar den besonderen Wesens-Namen JHWH, Er sei gesegnet, eignen wir ihm nur hinsichtlich seiner Verbindung zu den Welten zu, was auch seine Bedeutung ist: haja, howe, jihje und mehawe ha kol , er war, er ist, er wird sein und er bringt alles ins Sein, das heißt, Er, gesegnet sei Er, verbindet sich mittels seines Willens mit den Welten, um sie in jedem Augenblick werden zu lassen und zu sie zu erhalten.«1100 Die relationale Bedeutung des Gottesnamens JHWH kann Hajjim auch in Anlehnung an die kabbalistische Onomatologie1101 darstellen. In diese Darstellung mischt er zugleich die philosophisch-physikalische Auffassung von den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Staub / Erde, ein, aus welchen nach den physikalischen Theorien des Mittelalters sämtliche irdischen Substanzen gemischt waren.1102 Nur sind die vier Elemente, aus welchen Gott täglich die Welt in einer dauernden creatio continua1103 neu erschafft für Hajjim die vier Buchstaben des Tetragrammaton, sie sind die Ur-Wurzeln von Allem, vom gesamten Schöpfungswerk. Diese Mischung der vier Elemente kann sodann in einem weiteren Schritt auch mit der kabbalistischen Buchstabenkombinatorik gleichgesetzt werden, das heißt, dass das Enststehen und Vergehen in der Welt mittels der steten Neukombination dieser Buchstaben geschieht.1104 Es ist indessen nicht zufällig, dass Hajjim auf diese kabbalistische Tradition der Buchstaben Bezug nimmt, sind doch die Buchstaben auch die Grundbausteine der Tora und gerade dieser Gedanke ist ihm, wie später noch deutlich werden wird, besonders wichtig, denn die Tora und die Befassung mit ihr sind für ihn das Zentrum aller jüdischen Frömmigkeit. Demgegenüber behandelt Hajjim die andere, für die meisten Kabbalisten fundamentale Lehre von den Sefirot immer nur am Rande oder in Zitaten aus der
1100 Nefesch ha-Hajjim, I, 2, Jerusalem, S. 9, Brooklyn, S. 48, Gross, S. 74, der hier abweichend übersetzt: »Même le Tétragramm ne se rapporte pas exclusivement à son essence, mais aussi à l’association divine aux mondes.« Diese Übersetzung bietet sich zunächst an, widerspricht aber dem zuvor Gesagten. 1101 Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 341ff.; Bd. 2, S. 70ff., 150ff., 303ff., 408ff., und öfters. 1102 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 397, 403, 408, 558, und öfters. 1103 In diesem Zusammenhang zitiert Hajjim natürlich auch die rabbinische Formel des täglichen Morgengebetes (Jozer). »Der in seiner Güte jeden Tag stets das Schöpfungswerk erneuert.« 1104 Nefesch ha-Hajjim, I, 2, Jerusalem, S. 2f., Brooklyn, S. 14b, Gross, S. 8.
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kabbalistischen Literatur, sie ist ihm nicht elementar. An ihrer Stelle spricht Hajjim, wenn er selbst formuliert, lieber von den göttlichen Kräften (Koach), die sich in die Welt hinein ergießen und an denen alleine wir Menschen Gott erkennen können. Und es sind gerade diese Schöpfungs- und Welterhaltungskräfte, die mit der zweitwichtigsten biblischen Gottesbezeichnung benannt werden, nämlich mit der Gottesbezeichnung ’Elohim. Diese Benennung Gottes bedeutet, dass Er »der Herr aller Kräfte« ist: »Und darum wird Er, E.s.g., ’Elohim genannt, das heißt Herr aller Kräfte. Denn Er, E.s.g., ist der Herr jeder einzelnen Kraft in allen Welten, in die er in jedem Augenblick Kraft und Macht gießt, so dass sie unablässig von seiner Hand, sei es zur Veränderung oder zu ihrer Ordnung, abhängen, gemäß Seinem Willen.«1105 Das Verhältnis der beiden Gottesnamen beschreibt Hajjim einmal dahingehend, dass JHWH die »Quelle aller Kräfte bezeichnet, die aus Ihm emanieren«, während die Bezeichnung ’Elohim auch einzelne aus der Quelle emanierte Kräfte bezeichnet, weshalb ja im Schöpfungsbericht Genesis 1 stets nur die Gottesbezeichnung ’Elohim verwendet werde.1106 Es ist diese Omnipräsenz der göttlichen Kraftergießung in allem, was existiert, welche zum einen die Aussage expliziert, dass Gott die Seele aller Dinge ist, er ist also, wie der Titel des Buches ausdrückt, die »Seele des Lebens«, eine Aussage, die allerdings hernach noch eine weitere anthropologische Ergänzung erfährt.1107 Für die Beschreibung dieser Omnipräsenz der Gottheit in allem übernimmt Hajjim ohne Zögern aus dem Sohar, die auch im Hasidismus überaus geläufige,1108 panentheistische Formel let ’Atar panuj mineh, »kein Ort ist leer von Ihm«.1109 Ich sage hier bewusst panentheistisch und nicht pantheistisch, weil sich Hajjim Woloschyner expressis verbis gegen einen – wie er sagt – in seinen Tagen verbreiteten Pantheismus wendet, so dass es »sogar im Munde von Toren zu einem Sprichwort wurde zu sagen: ›ist denn nicht jeder Ort und jede Sache ganz
1105 Nefesch ha-Hajjim, I, 2, Jerusalem, S. 3, Brooklyn, S. 14b, Gross, S. 9. 1106 Nefesch ha-Hajjim, III, 9, Jerusalem, S. 168, Brooklyn, S. 75b, Gross, S. 137. 1107 Nefesch ha-Hajjim, II, 5, Jerusalem, S. 107, Brooklyn, S. 52a, Gross, S. 83. 1108 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 769. 1109 Nefesch ha-Hajjim, III, 2, Jerusalem, S. 152, Brooklyn, S. 69a, Gross, S. 122; III, 14, Jerusalem, S. 185, Brooklyn (Seite fehlt in dieser Ausgabe), Gross, S. 152. Zu deren neoplatonischem Ursprung s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 532.
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Gottheit;«1110 ein paar Zeilen später wird diese »Irrmeinung« von Hajjim deutlicher formuliert, nämlich dass jene Toren der entschiedenen Meinung seien: »dass alles die absolute Gottheit sei«.1111 Gegenüber einem solchen Pantheismus zeichnet Hajjim eine dialektische Situation, die er auf die lurianische Formel von der doppelten Präsenz der Gottheit stützt. Nach Jizchak Luria ist die Gottheit im Verhältnis zur Welt sowohl als »umgebendes Licht« wie auch als die Welt »erfüllendes Licht« vorhanden.1112 Hajjim nimt diese ontologische Dualität Lurjas auf und verwandelt sie gleichsam in eine erkenntnistheoretische, epistemologische, Dualität. Das heißt die beiden von Lurja beschriebenen Lichtformen sind nach Auffassung Hajjims nicht ontologisch wirklich vorhandene Gegebenheiten, sondern sie sind erkenntnisbedingte unterschiedliche Wahrnehmungsweisen von ein und demselben Sachverhalt. Nach diesen unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen stellt sich die Seinsrealität aus der Sicht der Gottheit völlig anders dar als aus der Sicht des Menschen. Aus der Sicht der Gottheit gilt: »›Dir wurde gezeigt, dass du wissest, dass JHWH Gott ist und keiner außer ihm‹ (Dtn 4, 39). Und es ist tatsächlich ganz wörtlich so zu verstehen, dass es außer Ihm, E.s.g., überhaupt nichts mehr gibt, in keinerlei Hinsicht und in keinerlei Punkt in allen Welten, den unteren wie den oberen und allen Geschöpfen, alleine das Wesen seiner einfachen Einheit.«1113 Da heißt, aus der Sicht Gottes gibt es nichts außer Ihm selbst, die Welt existiert nicht als etwas Separates außer oder neben Ihm. Dies ist – aus der Sicht Gottes – ein totaler Akosmismus,1114 »denn von Seiner Seite, E.s.g., gelten sie alle als nicht existent, jetzt wie schon vor der Schöpfung.«1115 Hajjim kann sich hier sogar auf die Worte eines von den Rabbinen formulierten Gebetes berufen: »›Du warst, bevor die Welt erschaffen wurde, du bist, nachdem die Welt erschaffen wurde,‹ das heißt, obwohl die Welten schon dank Seines einfachen Willens erschaffen wurden, gab es ihretwegen doch keinerlei Veränderung, Gott behüte, keinerlei Neuentstehung, und keinerlei Trennung im einfachen Wesen seiner Einheit. Er ist auch jetzt wie vor der Schöpfung, als das Wesen
1110 Nefesch ha-Hajjim, III, 3, Jerusalem, S. 154, Brooklyn, S. 69b, Gross, S. 124; Gross übersetzt die schwierige hebräische Formulierung ebenso: »tout lieu et toute chose sont totalement divins.« 1111 Zur entsprechenden Auffassung Spinozas s. oben Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 5.3. 1112 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 631ff. 1113 Nefesch ha-Hajjim, III, 3, Jerusalem, S. 153, Brooklyn, S. 69a, Gross, S. 122. 1114 Entsprechend im HaBaD-Hasidismus , s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 891. 1115 Ebd.
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des Unendlichen (’En Sof), E.s.g., alles erfüllte, auch den Raum, in welchem heute die Welten stehen.«1116 Betrachtet man die Dinge jedoch aus der Sicht des Menschen, stellt sich der Sachverhalt wesentlich anders dar. Um dies zu erklären greift Hajjim noch einmal zur lurianischen Terminologie in einer analogen Weise wie dies sein Pendant auf der gegnerischen hasidischen Seite, R. Schne’ur Salman aus Liadi, tat,1117 nämlich zur Lehre vom Zimzum. Jizchak Lurja wollte mit der Lehre vom Zimzum, also der Selbstkontraktion Gottes, die Entstehung eines von Gott geräumten Raumes erklären, also eines leeren Raumes, in dem die Schöpfung Platz greifen konnte. Im Gegensatz dazu deutet Rabbi Hajjim den Zimzum im epistemologischen Sinne. Nach ihm ist der Zimzum ein Akt der Selbstverbergung der Gottheit vor den fleischlichen Augen der Menschen. Dadurch wurde keinerlei ontologische Veränderung herbeigeführt, sondern nur dem Menschen gleichsam ein Schleier der Maya vorgehalten, der ihn die wahre Wirklichkeit, das heißt die Einzigkeit Gottes, nicht erkennen lässt. Diese Unfähigkeit des Menschen, das wirklich einzig Existierende zu sehen, ist allerdings nicht eine bedauerliche menschliche Schwäche, sondern war so von Gott gewollt – er hat den Zimzum vollzogen. Weil dies so ist, stellt sich dem Menschen diese Welt eben doch als eine Erscheinung der Machttaten Gottes dar: »Dennoch sind dies all seine Machttaten und furchterregenden Erscheinungen, gesegnet sei sein Name. Denn er hat eben dennoch gleichsam seine Herrlichkeit kontrahiert (zimzem), damit so etwas wie die neu entstandene Existenz der Welten, erschaffene Mächte und Geschöpfe ins Dasein treten konnten, in unterschiedlichen Aspekten, verschiedene Dinge und Orte, heilige und reine und ihr Gegensatz, unreine und schmutzige Orte. Dies ist aber die Hinsicht nur von unserer Seite, denn unsere sinnliche Erkenntnis erfasst ihr Dasein nur hinsichtlich ihrer Sichtbarkeit, durch welche alle verpflichtenden Ordnungen für unser Verhalten gebaut wurden, die uns vom Munde Gottes als unverbrüchliches Gesetz geboten wurden.«1118 Der Akt der Schöpfung war demnach ein Akt der Selbstverbergung Gottes, so dass scheinbar separate Wesenheiten sichtbar wurden. Der Zimzum war kein wirklicher Rückzug Gottes, um einen leeren Raum zu schaffen, in den hinein dann die Schöpfung emanieren könnte:
1116 Nefesch ha-Hajjim, III, 4, Jerusalem, S. 156, Brooklyn, S. 70b, Gross, S. 126. 1117 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 887–896. 1118 Nefesch ha-Hajjim, III, 5, Jerusalem, S. 158, Brooklyn, S. 71a-b, Gross, S. 127.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
»Denn die Bedeutung des Wortes Zimzum ist hier nicht Entfernung oder Rückzug aus einem Ort an einen anderen […], um einen leeren Raum zu schaffen, Gott behüte, sondern […] es bedeutet, ›Verbergen‹ und ›Bedecken‹ […] und das heißt, dass wir seine Einheit, gesegnet sei sein Name, hinsichtlich ihres Wesens, das alle Welten mit vollkommener Gleichheit erfüllt, Zimzum nennen. Weil seine Einheit alle Welten erfüllt, ist er vor unserer Erkenntnis mezumzam (kontrahiert) und verborgen.«1119 Es ist auch alleine diese behinderte menschliche Sicht, der es verwehrt ist, die göttliche Einheit in allem wahrnehmen zu können. Und nur eine solche verkürzte Sichtweise war darauf verfallen, Gott als die Seele der Welt zu bezeichnen und ihn mit weiteren, in der Tradition belegten, Namen und Attributen zu versehen.
2.3
Der Mensch
Alle Erörterungen jüdischer Anthropologie kommen früher oder später auf die biblische Grundstelle zum biblisch-jüdischen Menschenbild zu sprechen: »Und ’Elohim (Gott) erschuf den Menschen in seinem Bilde (Zelem), im Bilde ’Elohims erschuf er ihn« (Gen 1, 27). Hajjim eröffnet sein gesamtes Buch, wie schon erwähnt, sogleich mit diesem biblischen Text, wobei für ihn alles darauf ankommt, dass in diesem biblischen Grundtext der imago-Lehre die Gottesbezeichnung ’Elohim gebraucht wird. Diese Formulierung des biblischen Textes ist für Hajjim ein Hinweis darauf, in welcher Hinsicht der Mensch Ebenbild Gottes sein könne, eine Frage die ja innerhalb der jüdischen Tradition immer wieder neu gestellt wurde, wie die beiden vorangegangenen Bände dieser Darstellung ausgiebig zeigten. Der Mensch ist demnach nicht einfach Ebenbild der Gottheit schlechthin, sondern präzise in deren Eigenschaft als ’Elohim. Und diese Benennung weist Gott, so wurde oben schon deutlich, im Sinne Hajjims, als den Herrn aller in der Welt wirkenden Kräfte aus, darum gilt für das menschliche Abbild: »So wie Er, sein Name sei gesegnet, der ’Elohim ist, das heißt der Herr der Kräfte, die in allen Welten wirken, die er jeden Augenblick ordnet und leitet, so hat sein Wille, Er sei gesegnet, den Menschen zum Herrscher eingesetzt, so dass er der Eröffner und Verschließer von aber Tausenden und Myriaden Kräften und Welten sei und zwar durch alle Details und Ordnungen seines Handelns, in all seinen Angelegenheiten und in jedem Augenblick, gemäß
1119 Nefesch ha-Hajjim, III, 7, Jerusalem, S. 162f., Brooklyn, S. 73a-b, Gross, S. 131.
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der höchsten Wurzel seines Tuns und Redens und Denkens, als ob auch er der Herr ihrer Kräfte sei.«1120 Diese Auslegung des Verses von der Gottebenbildlichkeit ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Zum Ersten kehrt Hajjim mit seiner Auslegung, der Mensch sei als Ebenbild Gottes der Herrscher über die Weltlenkungsmächte, zu der biblischen Auslegung zurück, nach welcher der Mensch dank seiner Ebenbildlichkeit zur Herrschaft über die Schöpfung eingesetzt sei.1121 Zum Weiteren wird aber sogleich deutlich, dass Hajjim die alte biblische Formel mit Hilfe des kabbalistischen Grundgedankens von der Theurgie,1122 also der Befähigung des Menschen, durch sein Handeln Einfluss auf die oberen Welten zu nehmen, interpretiert. Mit der Rezeption dieses kabbalistischen Topos grenzt sich Hajjim allerdings zugleich deutlich von der Kabbala ab. Nach kabbalistischer Vorstellung beruht die menschliche Fähigkeit zur Theurgie darin, dass die Struktur des menschlichen Körpers und seiner psychischen Ausstattung der Struktur der Sefirotwelt entspricht.1123 Die Theurgie funktioniert sodann über eine Resonanzwirkung zwischen der menschlichen und sefirotischen Struktur. Hajjim hat demgegenüber eine etwas andere Auffassung. Er begründet die Fähigkeit des Menschen über die Welt zu herrschen damit, dass in der Bibel ausdrücklich eine Ebenbildlichkeit mit ’Elohim ausgesagt sei und dass demgemäß der Mensch eben das Abbild des »Herrn der Mächte« ist. Neben diese exegetische Begründung tritt, wie unten noch deutlich werden wird, gleichfalls eine Seinsanalogie zwischen dem Menschen und seinem Urbild. Das göttliche Urbild ist für Hajjim aber nicht der sefirotische ’Adam kadmon, das heißt die zehn Sefirot der Kabbala, sondern die Machtsphäre des ’Elohim, sprich die emanierte Welt, wozu sogleich noch Weiteres zu sagen sein wird. Die nächste Abgrenzung zur Kabbala besteht darin, dass für Hajjim die hochtechnischen Kawwanot, das heißt die das sakramentaltheurgische Tun begleitenden Meditationen, keinerlei substanzielle Rolle spielen, sondern, wie schon vermerkt, allenfalls als »intellektuelle Bereicherung«. Darum betont Hajjim hier auch, dass jegliches Tun, Denken und Reden des Menschen – auch ohne Kawwanot – auf die Welt wirkt. Und gerade dies ist für seinen von der Kabbala unterschiedlichen Ansatz bedeutungsvoll. Danach soll der Mensch wissen, dass all sein Tun Folgen hat, nicht nur der kabbalistisch-sakramentaltheurgische Ritus. Ein Letztes muss schließlich vermerkt werden. Wenn Hajjim hier neben das Tun des Menschen dessen Reden und Denken stellt, so ist das nicht von unge1120 Nefesch ha-Hajjim, I, 3, Jerusalem, S. 4, Brooklyn, S. 15a, Gross, S. 10. 1121 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129ff. 1122 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 147ff., 451ff., 596ff. 1123 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 579ff.
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fähr, sondern steht in einem direkten Zusammenhang mit der sogleich zu erörternden Psychologie und dem hier noch etwas unklaren Hinweis auf die »höchsten Wurzeln« dieser menschlichen Aktivitäten. Zusammenfassend kann man sagen, das Zentrum der Anthropologie Hajjims ist erwartungsgemäß die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die aber bedeutet, dass das menschliche Handeln steten Einfluss auf den Bereich des ’Elohim, das heißt den Bereich der Schöpfung hat – und nicht auf den der Sefirot wie bei den Kabbalisten.1124 Das menschliche Handeln, Reden und Denken, kann nun aber gut oder schlecht sein, also konstruktive oder destruktive Wirkung auf die Welt haben, und damit steuert die gesamte Konzeption auf das eigentliche Anliegen Hajjims zu. Dieses Anliegen ist, zu erklären, dass das gute oder schlechte Handeln, Reden und Denken, an das Studium oder die Vernachlässigung der Tora, genauer des Tora-Studiums, gebunden ist. Der kabbalistische Apparat dient also nur dazu, die Bedeutsamkeit des Tora-Studiums zu begründen, wie später noch deutlicher werden soll.
2.3.1 Die Seins-Analogie zwischen Mensch und Kosmos Schon oben war bemerkt worden, dass es neben der exegetischen Begründung für die Auffassung, dass das menschliche Tun im Weltganzen Auswirkungen hat, auch eine strukturelle Begründung Hajjims gibt. Diese strukturelle Begründung lehnt sich weniger an die Kabbala an, nach welcher es zwischen SefirotStruktur und dem menschlichen Körper eine Analogie gibt, als an die schon neoplatonisch-philosophische vom Menschen als Mikrokosmos. Hajjim gibt dieser Mikro- Makrokosmos-Analogie den Vorzug, da sein Anliegen nicht ist, die Wirkung des theurgischen Kabbalisten auf die Sefirot zu lehren, sondern die Wirkung jeglichen menschlichen Tuns auf den Zustand der Welt. Darum also sieht Hajjim die Entstehung der für sein Denken benötigten Strukturanalogie als einen Teil des in der Genesis beschriebenen Schöpfungswerkes. Nachdem Gott alle Welten geschaffen hatte, schuf er den Menschen als die »zweite Seite« (’achor) der Schöpfung, indem er in ihm alle Bereiche einsammelte, alle wunderbaren Funken und Lichter, die Welten und ihre oberen Hallen und das Bild der Merkava, des göttlichen Thronbereiches,1125 1124 Man kann hier allenfalls auf die die onomatologische Lehre des frühen Gikatilla verweisen, für den ja gerade auch ’Elohim der in der Schöpfung wirkende Gottesname ist. Allerdings ist ’Elohim für Hajjim nicht wie bei Gikatilla selbst der Wirkfaktor, sondern eben nur Relationsattribut, das heißt eine Benennung der Gottheit sofern sie Herrin aller Weltwirkungskräfte ist. Zu Gikatilla s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 303–334. 1125 Zu ihm vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 306ff.
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»so gaben auch alle einzelnen Kräfte aus allen Welten, den oberen wie den unteren, Kraft und Anteil von ihrem Wesen in des Menschen Bau, so dass sie in der Zahl seiner ihm innewohnenden Kräfte enthalten waren.«1126 Ist der Mensch laut dem oben Dargelegten das Ebenbild der der Welt innewohnenden Gotteskräfte, so liegt es nicht ferne zu sagen, der Mensch sei damit zugleich das Ebenbild der Welt, wie Hajjim an anderer Stelle sagt.1127 Einmal sagt Hajjim, unter Aufnahme der alten Schi‘ur Koma-Vorstellung,1128 dass alle Welten zusammen der Schi‘ur Koma, das heißt das Makro-Korpus des Menschen sind.1129 Ja, diese Konzentration der Weltkräfte im Menschen erlaubt sogar den Schluss, der Mensch sei – in Analogie zur Gottheit – die Seele der Welt. Hajjim begründet das mit dem biblischen Text des so genannten zweiten Menschschöpfungsberichtes, wo es heißt: »Und Gott der Herr bildete den Menschen, Staub von der Erde und er blies in seine Nase die Nischmat Hajjim, die Seele des Lebens, und so wurde der Mensch zu einer Nefesch hajja, einem lebenden Wesen / einer lebenden Seele« (Gen 2, 7). Diese Formulierung, nach welcher das Eingehauchte nicht zu einer Seele im Menschen wurde, sondern der Mensch selbst zu einer lebenden Seele, leitet Hajjim das Folgende ab: »dass der Mensch, durch die Seele des Lebens in ihm, selbst zu einer Nefesch hajja,einer lebenden Seele, für eine unzählige Menge von Welten wurde. Und so wie alles Verhalten und alle Bewegungen des Körpers durch die Kraft der Seele in ihm geschehen, so ist auch der Mensch die Kraft der lebenden Seele der zahllosen oberen und der unteren Welten, die sich durch ihn bewegen und verhalten.«1130 Der Titel des Buches hat damit seine zweite Erklärung erhalten. Es sind Gott und Mensch, sie beide, die als die »Seele des Lebens« für die Welt gelten können. Damit ist auch die Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes zweifach erklärt. In ihm sind die Weltkräfte Gottes, ’Elohim genannt, die ihn zum weltbeherrschenden Ebenbild machen wie auch seine damit gegebene Funktion als Seele der Welten. Es ist diese Analogie, welche den exegetischen Befund zu ’Elohim
1126 Nefesch ha-Hajjim, I, 6, Jerusalem, S. 15, Brooklyn, S. 22b, Gross, S. 19f.; und vgl. II, 5, Jerusalem, S. 107, Brooklyn, S. 52b, Gross, S. 83. 1127 Nefesch ha-Hajjim, II, 5, Jerusalem, S. 107, Brooklyn, S. 52b, Gross, S. 83; vgl. I, 6, Jerusalem, S. 17, Brooklyn, S. 23a, Gross, S. 21. 1128 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 335ff. 1129 Nefesch ha-Hajjim, I, 21, Jerusalem, S. 70, Brooklyn, S. 44b, Gross, S. 64. 1130 Nefesch ha-Hajjim, I, 4, Jerusalem, S. 10f., Brooklyn, S. 19a, Gross, S. 16.
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ergänzt, dass nämlich der Mensch Ebenbild des ‘Elohim sei, und er deshalb über die Weltmächte herrschen könne. Nun ist es auch plausibel dass Hajjim an anderer Stelle einmal sagt, dass Gott »seit der Schöpfung alle Ordnungen des Laufes der Welten so festgesetzt hat, dass sie vom Tun der Menschen abhängen, vom guten wie vom bösen.«1131
2.3.2 Die Seelen des Menschen Die drei Grundseelen des Menschen sind die aus der mittelalterlichen Philosophie und auch in der Kabbala bekannten,1132 die mit den drei biblischen Bezeichnungen in aufsteigender Hierarchie Nefesch, Ruach und Neschama bezeichnet werden. Allerdings geht Hajjim hier andere Wege als die Genannten Denkschulen. Für ihn sind die drei Seelen nicht die vegetative, die animalische und rationale Seele wie bei den Philosophen, oder auch nicht Seelenstufen, die bestimmten Sefirot entsprungen sind, wie bei den sefirotisch-kabbalistischen Systemen. Zwar fügt sich Hajjim auch hier in kabbalistische Grundgedanken ein, setzt aber ganz eigene Akzente. Dies zeigt sich zunächst darin, dass er in den drei Seelenstufen die drei spezifisch menschlichen Äußerungsweisen verankert sieht. Das Handeln entspringt der Nefesch, das Sprechen der Ruach-Seele und das Denken der Neschama.1133 Diese drei Ausdrucksweisen des Menschen interessieren Hajjim allerdings nicht generell, sondern ganz speziell hinsichtlich ihrer Rolle beim Gottesdienst, sprich beim Erfüllen der Gebote, beim Beten und vor allem beim Torastudium wie später noch deutlich werden wird. Das Verhältnis dieser drei Seelenstufen untereinander wird nun eher dem philosophischen Paradigma, nicht dem kabbalistischen entnommen,1134 denn sie sind auseinander in absteigender Stufenfolge emaniert1135 – entstammen also nicht unterschiedlichen Sefirot wie im Sohar.1136 Somit sind diese drei Seelenstufen miteinander verkettet und zwar in einer an das Sefirot-System der Kabbala angelehnten Weise. Jede der drei Seelenstufen besteht aus »zehn einzelnen Aspekten, welches ihre zehn Sefirot sind«1137 – diese Formulierung zeigt die Anlehnung an die Kabbala nicht aber eine Identifizierung mit ihr. Die Verkettung der drei Seelendekaden erfolg nun derart, dass der zehnte Aspekt von Neschama 1131 Nefesch ha-Hajjim, I, 12, Jerusalem, S. 42, Brooklyn, S. 34a, Gross, S. 41. 1132 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 521ff., 564ff.; Bd. 2, S. 161, 444ff., 455. 1133 Nefesch ha-Hajjim, I, 14, Jerusalem, S. 49f., Brooklyn (Seite fehlt in dieser Ausgabe), Gross, S. 47. 1134 Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 502ff., 514, 559ff. 1135 Nefesch ha-Hajjim, I, 19, Jerusalem, S. 64, Brooklyn, S. 42a, Gross, S. 58. 1136 Vgl. zum Sohar Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 586. 1137 Nefesch ha-Hajjim, I, 17, Jerusalem, S. 58, Brooklyn, S. 39b, Gross, S. 41.
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mit dem ersten von Ruach und der letzte von Ruach mit dem ersten von Nefesch verbunden ist. An dieser Stelle kommt nun ein weiteres Glied hinzu, und zwar nach oben. Die oberste der drei Seelen, die Neschama hängt nun ihrerseits an einer weiteren höheren Stufe, und diese ist die Wurzel der Neschama. Die Wurzel der Neschama (Schoresch ha-Neschama) identifiziert Hajjim mit der kabbalistischen1138 Hajja-Seele, in welcher zugleich die gleichfalls dort genannte Jechida-Seele enthalten sei, ohne dass dies weiterhin eine wichtige Rolle spielte.1139 Wichtiger ist ihm zunächst, dass die Wurzel der Neschama mit dem »Mysterium der Gemeinde Israels (Kneset Jisra’el) identifiziert wird, welche »die Wurzel der Versammlung aller Seelen von ganz Israel ist.«1140 Doch damit ist die Verkettung der Seelenlinie, oder des Seelenfadens, wie Hajjim gelegentlich sagt, noch nicht zu Ende, denn: »auf diese Weise verknüpft sich auch der Aspekt der Neschama-Wurzel immer weiter nach oben, Stufe um Stufe, bis in das Wesen des ’En Sof , Er sei gesegnet.«1141 Mit dieser Konzeption der Emanation der Seelen oder deren Verknüpfung mit dem ‘En Sof selbst sprengt Hajjim streng genommen die kabbalistische Konzeption, welche die menschlichen Seelen allenfalls aus dem Sefirot-Bereich entspringen ließ, und auch hier höchstens ab der dritten Sefira Bina. Hajjim benützt also das emanatistische Denken der Kabbala, um letztlich wieder zu dem biblischen Gedanken zurückzukehren, dass Gott selbst dem Lehmklumpen die Seele des Lebens eingehaucht hat. Um dies zu unterstreichen, führt Hajjim gar das Beispiel des Glasbläsers an, der durch den Atem aus seinem Mund den Glasklumpen in drei Stufen zu einem Gefäß aufbläht. Erst ist der Atem im Mund, dann im Blasrohr und schließlich im Gefäß. So auch die drei Seelenstufen: Die Neschama aus dem Mund Gottes, die Ruach, im Blasrohr, und die Nefesch im Gefäß, sprich im menschlichen Körper: »So ist es auch bei den drei Aspekten Neschama, Ruach, Nefesch, die gleichsam aus dem Hauch des Mundes Gottes, Er sei gesegnet, strömen, wobei die
1138 Zu den insgesamt fünf Seelenstufen bei manchen Kabbalisten s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 279, 281, 353, 492. 1139 Nefesch ha-Hajjim, II, 17, Jerusalem, S. 140, Brooklyn, S. 65a, Gross, S. 111. 1140 Nefesch ha-Hajjim, I, 17, Jerusalem, S. 58, Brooklyn, S. 40a, Gross, S. 54. 1141 Ebd.
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Nefesch der unterste Aspekt ist, die vollkommen in den Körper des Menschen eingeht.«1142 Das Wesen des Menschen, das heißt seine höchste Stufe, ist demnach ganz oben, in der Wurzel der Neschama eingepflanzt, während der Körper gleichsam nur der Schuh dieser wesentlichen Seelenstufe des Menschen ist, in den sie nur mit ihrem untersten Ende hereinragt:1143 »Die Sache ist die, dass beim vollkommenen Menschen, wie er sein sollte, die Hauptsache oben in der höchsten Wurzel seiner Neschama eingepflanzt ist und von da abertausende Welten durchschreitet bis an ihr anderes Ende, das unten in den Körper eintritt. Das ist es was die Schrift sagt: ›Der Teil JHWHs ist sein Volk, Jakob sein Erb-Faden (Hevel, das umschnürte Gebiet).‹ (Dtn 32,6), denn des Menschen Hauptsache ist oben angebunden und eingepflanzt, als gleichsam wahrhafter Teil JHWH, und er kettet sich herab wie ein Faden (Seil) bis zum Körper des Menschen, und all sein Tun reicht nach oben und erregt seine höchste Wurzel, wie ein Faden sein oberes Ende in Bewegung setzt, wenn man sein unteres Ende bewegt.«1144 Noch deutlicher sagt dies Hajjim an anderer Stelle, nach welcher er Gott sagen lässt: »Siehe ich verbinde meinen großen Namen mit ihnen, denn die Quelle der Wurzel der drei Stufen Neschama, Ruach, Nefesch und der Wurzel der Neschama liegt in den vier Buchstaben des großen Namens, Er sei gesegnet.«1145 Vier Buchstaben als Quelle der vier Seelenaspekte des Menschen! Der Mensch ist demnach nicht nur, wie oben schon ausgeführt, Ebenbild des ‘Elohim, sondern hat Anteil auch am anderen Gottesnamen, an JHWH, der die erste Zuwendung der Gottheit zu Welt ist und alles ins Dasein bringt. So wie Gott als JHWH und als ’Elohim in zweierlei hierarchisch einander folgenden Aspekten sich der Welt zuwendet und sie hervorbringt, so ist auch der Mensch durch seine »Neschama« und durch die ihm innewohnenden Kräfte in doppelter Weise das Pendant der sich der Welt zuwendenden Gottheit, worin, wie noch deutlich werden wird, seine welterhaltende Macht beruht, seine Funktion als Seele der Welten. Seine eigentliche Würde als »Lebens-Seele« (Nischmat Hajjim) der Welten gewinnt er, wie oben schon vermerkt, eben durch seine eigene Neschama und deren Verbindung zu ihrer Wurzel im Tetragrammaton, welches
1142 Nefesch ha-Hajjim, I, 15, Jerusalem, S. 51, Brooklyn, S. 37a, Gross, S. 48. 1143 Nefesch ha-Hajjim, I, 5, Jerusalem, S. 12, Brooklyn, S. 20b, Gross, S. 16; und vgl. Likkute Ma’amarim, in: Nefesch ha-Hajjim, Jerusalem, S. 373. 1144 Nefesch ha-Hajjim, I, 5, Jerusalem, S. 13, Brooklyn, S. 21a, Gross, S. 17. 1145 Nefesch ha-Hajjim, I, 19, Jerusalem, S. 66, Brooklyn, S. 42b, Gross, S. 60.
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ja als oberste Zuwendung Gottes zur Welt das alles Belebende und damit per definitionem dessen Seele ist. Wenn der Mensch unten auf der Erde wirkt, und dies – vergleichbar einem Glasbläser – unter Beteiligung seiner drei Seelenaspekte mit ihren spezifischen Handlungsweisen, Tun, Reden und Denken, tut, dann übt er die kreative imitatio dei unter Beteiligung beider göttlicher Aspekte, ’Elohim und JHWH. Das Medium, in welchem diese Aktivitäten zu ihrer vollen Entfaltung kommen ist der Gottesdienst und – so selbstverständlich für den Jeschiva-Vorsteher – das Studium der Tora. Dies wird uns im Folgenden noch beschäftigen. In dem zuletzt angeführten Zitat aus Hajjims Buch steht die Bemerkung vom Menschen »wie er sein sollte«. Damit spielt Hajjim gewiss auf eine Erörterung an, auf die er in seinem Werk mehrfach zu sprechen kommt, deren Thema die Ursünde des ersten Menschen ist. Nach der Auffassung Hajjims ist die »Neschama« des Menschen, von der schon einmal gesagt war, dass sie gleichsam nur mit ihrem untersten Ende in den Körper eingeht, vergleichbar dem menschlichen Leib, der nur mit seinem untersten Ende im Schuh steckt. Aber selbst diese geringe Teilinkorporation der Neschama ist offenbar nur vor dem Sündenfall gelungen, danach hat sich die Neschama ganz aus dem Körper entfernt und strahlt nur noch wie eine Lampe von außen einige Lichtfunken, in Form von Einsicht oder Erkenntnis,1146 auf ihn: »Die Neschama ist der [göttliche] Odem selbst, deren innerstes Wesen sich in Verborgenheit verhüllt, ihr Quell ist gesegnet gleichsam im Hauch des Mundes Gottes, Sein Name sei gesegnet. Deren wahrhaftes Wesen tritt keinesfalls in den Körper des Menschen ein – nur der erste Mensch (Adam) war vor der Sünde ihrer gewürdigt. Aber wegen der Sünde wich sie aus ihm und schwebte nur noch über ihm.«1147
2.4
Die Tora
Nach einem alten rabbinischen Midrasch hat Gott, als er die Welt erbaute, in die Tora geschaut und nach diesem Bauplan die Welt errichtet.1148 Auch der Sohar hat diesen Midrasch aufgenommen,1149 den Hajjim eigens zitiert: 1146 Nefesch ha-Hajjim, I, 15, Jerusalem, S. 52f., Brooklyn, S. 37b, 38a, Gross, S. 49. Hajjim nimmt hier ein Element einer platonische Seelenvorstellung auf, wie sie zum Beispiel auch Jizchak Jisraeli vertrat, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 514ff. 1147 Nefesch ha-Hajjim, I, 15, Jerusalem, S. 51, Brooklyn, S. 37b, Gross, S. 49; vgl. II, 17, Jerusalem, S. 140; Brooklyn, S. 65a, Gross, S. 111. 1148 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 259f.; und s. noch Jalkut Schim‘oni Bereschit, Perek 1, § 2, Jerusalem 1967, Bd. 1, S. 3a.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
»Als der Heilige, Er sei gesegnet, die Welt erschaffen wollte, blickte er in die Tora und erschuf die Welt, denn mit der Tora wurde die Welt erschaffen.«1150 Aber auch hier geht Hajjim letztlich seinen eigenen Weg. Unter Aufnahme der alten Tradition aus dem Sefer Jezira, nach welcher Gott mittels der hebräischen Buchstaben die Welt erschaffen hat,1151 steuert Hajjim auf eine Aussage zu, die er analog schon zum Ursprung der menschlichen Seelen formuliert hatte, nämlich dass die Tora das Wort, die Rede Gottes ist, die aus dem »Mund« Gottes hervorgeht. Mit dieser Verortung des Gotteswortes und damit der Tora weicht Hajjim von dem eigens zitierten Sohar ab. Denn nach der Sefirot-Lehre des Sohar wird die Schriftliche Tora durch die zentrale Sefira Tif’eret, die sechste von oben, und die Mündliche Tora durch die zehnte Sefira, Malchut, repräsentiert. Haijjim ist diese Verortung der Tora nicht hoch genug. Er will sie viel höher hinaufheben, direkt in den »Mund Gottes« und damit über die Sefirot hinaus: »Darum ist die höchste verborgene Wurzel der heiligen Tora unendlich weit oben, auch über der ’Azilut-Emanation seiner Heiligkeit, Er sei gesegnet, denn der Heilige, gesegnet sei Er, und die Tora sind Eines, sie ist die Seele und die Lebenskraft, das Licht und die Wurzel aller Welten.«1152 »Die oberste Wurzel der heiligen Tora ist über allen Welten.«1153 Die Wurzel der Tora, so sagt Hajjim noch an anderer Stelle, ist im ’En Sof.1154 Damit ist die Sefirot-Lehre der Kabbala, die Identifikation der ’Azilut-Sefirot – der höchsten der vier Sefirot-Welten1155 – mit der offenbarten Gottheit selbst, außer Kraft gesetzt, wie ja schon oben durch den Hinweis deutlich wurde, dass Hajjim das Gebet zu den Sefirot verbot und nur dessen Ausrichtung auf das ’En Sof erlaubte. Auch hier kehrt Hajjim gleichsam zur alten rabbinisch-biblischen Schöpfungsvorstellung zurück, nach der die Schöpfung durch das aus Gottes Mund hervorgehende Wort erschaffen wurde, wenn er dafür auch kabbalistische Interpretamente einsetzt.
1149 Sohar II, Teruma, S. 161a. 1150 Nefesch ha-Hajjim, IV, 10, Jerusalem, S. 223, Brooklyn, S. 99b, Gross, S. 188. 1151 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 47ff. 1152 Nefesch ha-Hajjim, IV, 10, Jerusalem, S. 224f., Brooklyn, S. 100a, Gross, S. 189. 1153 Nefesch ha-Hajjim, IV, 32, Jerusalem, S. 287, Brooklyn, S. 122b, Gross, S. 243. 1154 Nefesch ha-Hajjim, IV, 10, Jerusalem, S. 222, Brooklyn, S. 99a, Gross, S. 187. 1155 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 111, 609ff.
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Die Tora ist demnach für Hajjim gleich Gott die Seele der Welten, ja die Tora ist Gott selbst,1156 eine Apotheose der Tora, die weit über jene der Kabbalisten hinausgeht, denn, so betont Hajjim noch an anderer Stelle ausdrücklich, die Tora ist auch die Wurzel der Sefirot, nicht nur ein Teil von ihnen.1157 Nach dieser Vorgabe kann Hajjim auch die altrabbinische Auffassung, nach welcher von der Annahme und Befassung mit der Tora durch Israel der Bestand der Welt abhängt,1158 in neuem Gewand darbieten: »Leben und Bestand aller Welten besteht alleine in der heiligen Tora, sofern Israel sich mit ihr befasst, denn sie ist das Licht aller Welten, ihre Seele und Lebenskraft. Und wäre die die Welt von ihrem einen bis zu ihrem anderen Ende auch nur einen Augenblick ohne die Beschäftigung mit und ohne Studium der heiligen Tora, würden alle Welten in’s Tohu wa-Bohu zurücksinken.«1159 Hajjim Woloschyner hat darum in der von ihm gegründeten Jeschiva dafür gesorgt, dass in Schichten rund um die Uhr Tora gelernt wird.
2.5
Der wahre Gottesdienst – das Studium der Halacha
Die Auffassung Hajjims, dass von der Befassung mit der Tora der Bestand der Welt abhängt, ist seit dem genannten rabbinischen Diktum jüdisches Allgemeingut. Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, was denn die richtige »Befassung« mit der Tora sei, ob das Studium, ob die Gebotserfüllung, ob die Haggada oder die Halacha, oder die philosophische oder gar kabbalistische Auslegung, oder die ethische Literatur als Teil der Mündlichen Tora. In den Tagen Hajjims ist noch eine weitere Variante dieses Themas hinzugekommen, nämlich in Form der hasidischen Auffassung, dass die Devekut, also das mystische Haften an Gott, das Zentrum der jüdischen Frömmigkeit und damit auch der Beschäftigung mit der Tora sein müsse.1160 Gerade das letztere Thema hat Hajjim angesichts der hasidischen Erfolge gegenüber dem mitnaggdischen Lager mehrfach aufgegriffen. Dieses Thema brannte ihm, dem führenden Vertreter der Mitnaggedim, so sehr auf den Nägeln, dass er sich sogar gezwungen sah, den Terminus Devekut in sein eigenes Denken zu integrieren, ihm aber eine völlig andere, 1156 Nefesch ha-Hajjim, IV, 3, Jerusalem, S. 211, Brooklyn, S. 95a, Gross, S. 177. 1157 Nefesch ha-Hajjim, IV, 10, Jerusalem, S. 222, Brooklyn, S. 99a, Gross, S. 187. 1158 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 261. 1159 Nefesch ha-Hajjim, I, 16, Jerusalem, S. 56, Brooklyn, S. 59a, Gross, S. 51f; und vgl. IV, 26, Jerusalem, S. 171, Brooklyn, S. 116a, Gross, S. 229. 1160 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 791ff., 835ff., 876ff.
334
Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
gegenüber den Hasidim polemische, Bedeutung zu geben. Aber nicht nur hier, gegenüber der mystischen Devekut, verliefen die Frontlinien, sondern gegenüber allen Formen der Frömmigkeit, welche die elitäre Position des Toragelehrten in Frage zu stellen drohte. Gleich zu Beginn des vierten Teiles von Nefesch ha-Hajjim, der sich mit der richtigen Weise der Tora-Beschäftigung befasst, klagt Hajjim über solche seiner jüdischen Zeitgenossen, welche zwar die Nähe Gottes suchen, aber den falschen Weg beschritten, indem sie sich vornehmlich mit der ethischen Moralliteratur befassen, deren Thema die Gottesfurcht ist. Aber nicht die Moralliteratur ist die Hauptsache der Tora nach der Auffassung Hajjims, sondern die Bibel und dann vor allem die Halacha.1161 Die Halacha rangiert sogar noch vor manchen Büchern der Bibel, denn »Siehe das Studium der Halachot des Talmud mit mühevoller scharfsinniger Prüfung steht höher und ist vor Gott wohlgefälliger als Psalmen-Beten.«1162 Auch wenn die Gottesfurcht eine unverzichtbare Voraussetzung für den wahren Gottesdienst und das Torastudium ist, so darf man darüber doch nicht »die Beschäftigung mit der Hauptsache der Tora vernachlässigen«, vielmehr müsse »die Hauptsache des Lernens im heiligen Volk die heilige Schriftliche und Mündliche Tora sein, das heißt viel Halacha, denn diese ist die Hauptsache der Tora.«1163 Leider, so beklagt Hajjim, ist es in seinen Tagen gerade umgekehrt, alle rennen der Erbauung und der Moralunterweisung nach, so dass es in vielen Lehrhäusern oft nicht einmal einen vollständigen Talmud gibt.1164 Mit der Betonung der Vorrangstellung des Halacha-Lernens vor dem Studium der Moralliteratur gibt sich Hajjim jedoch noch nicht zufrieden. Es gibt ja noch weitere Formen jüdischer Religiosität, oder andere Gebote neben dem des Toralernens. Auch solchen anderen Frömmigkeitsübungen und Gebotserfüllungen gegenüber stellt Hajjim das Lernen der Tora im genannten Sinn rigoros in den Vordergrund. Für ihn ist das Vernachlässigen des Torastudiums die denkbar größte Sünde,1165 denn alleine es gefährdet den Bestand der Welt im Gesamten. Jegliches Nachlassen des Torastudiums gefährdet demnach den Gesamtbestand der Welt, »was so für alle anderen Gebote nicht zutrifft, nicht einmal für das Gebot zu beten. Denn selbst wenn ganz Israel, Gott behüte, vom Beten abließe und nicht mehr zu Ihm, Er sei gesegnet, betete, würden die Welten deswegen
1161 Nefesch ha-Hajjim, IV, 1, Jerusalem, S. 207, Brooklyn, S. 93a, Gross, S. 173. 1162 Nefesch ha-Hajjim, IV, 2, Jerusalem, S. 209, Brooklyn, S. 94a, Gross, S. 176. 1163 Nefesch ha-Hajjim, IV, 1, Jerusalem, S. 208, Brooklyn, S. 93b, Gross, S. 174. 1164 Ebd. 1165 Nefesch ha-Hajjim, IV, 25, Jerusalem, S. 115b, Brooklyn, S. 93b, Gross, S. 228.
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nicht ins Tohuwabohu zurückstürzen. Darum wird ja auch das Gebet von den Weisen als ›Leben der Stunde‹, die Tora hingegen ›Leben der Welt‹ genannt1166 […], denn das Gebet bringt nur eine zusätzliche Verbesserung der Welten […], jedoch die Beschäftigung mit der heiligen Tora betrifft den Grund der Lebenskraft und das Bestehen der Welten, damit sie nicht vollständig zerstört werden, darum ist der Mensch verpflichtet sich mit ihr zu befassen, und über ihr zu sinnen, unablässig zu jeder Zeit, um die Welten in jedem Augenblick am Stehen und Bestehen zu erhalten.«1167 Diese dauernde und ununterbrochene schützende, bewahrende und heilende Wirkung des Torastudiums gilt auch für den individuellen Lebensbereich. Während eine andere Gebotserfüllung allenfalls vorübergehend schützt.1168 Und umgekehrt betrifft die Vernachlässigung eines Gebotes nur das jeweils ihm entsprechende Glied des menschlichen Körpers, aber »die Vernachlässigung der Tora betrifft alle zusammen. […] Mit der Vernachlässigung der Tora, Gott behüte, schädigt der Mensch all seine Glieder, Sehnen und Kräfte, so dass die heilige Lebenskraft aus ihnen weicht und er umgehend einem Toten gleicht, ohne jede Lebenskraft.«1169 Das Gesagte gilt auch gegenüber der Gesamtheit der 613 Gebote. Selbst wenn ein Mensch sie alle erfüllte und so gleichsam zu einem Thron Gottes wird, hat doch das Studium der Tora ihnen gegenüber eine über sie hinausgehende Leuchtkraft und Heiligkeit, die über dem Menschen leuchtet, der stets in der richtigen Weise über der Tora sinnt,1170 wie dies ja in der Bibel geboten wird: »nicht weiche das Tora-Buch aus deinem Munde, und du sollst über ihm sinnen Tag und Nacht.«1171
2.6
Studium der Tora um ihrer selbst willen – ist das die Devekut?
Eine zentrale und heftig umstrittene Frage für die richtige Weise, Tora zu studieren, war in den Tagen von Hajjim Woloschyner, wie schon vermerkt, die von 1166 Babylonischer Talmud, Schabbat, Kap. 1, Fol.10a. 1167 Nefesch ha-Hajjim, IV, 26, Jerusalem, S. 271f., Brooklyn, S. 116a-b, Gross, S. 229. 1168 Nefesch ha-Hajjim, IV, 29, Jerusalem, S. 278, Brooklyn, S. 118b, Gross, S. 235. 1169 Nefesch ha-Hajjim, IV, 29, Jerusalem, S. 279, Brooklyn, S. 119a, Gross, S. 236; und vgl. IV, S. 29f., Jerusalem S. 280f., Brooklyn, S. 119b: Gross, S. 237. 1170 Nefesch ha-Hajjim, IV, 30, Jerusalem, S. 281, Brooklyn, S. 119b-120a, Gross, S. 237. 1171 Nefesch ha-Hajjim, IV, 33, Jerusalem, S. 292, Brooklyn, S. 124a, Gross, S. 248.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
vielen hasidischen Meistern vertretene Auffassung, dass das Torastudium wie auch die übrigen Gebotserfüllungen nur unter der Devekut, das heißt dem mystischen Haften an Gott, ihre religiöse Zielsetzung erreichten. Nach der hasidischen Auffassung ist die Devekut das Ziel und die Voraussetzung der von Gott geforderten Erfüllung der Gebote und des Torastudiums gleichermaßen.1172 Diese hasidische Auffassung hatte in den Tagen von Hajjim Woloschyner offenbar in weiten Kreisen auch der rabbinischen Gelehrtenschaft eine solche Anziehungskraft entfaltet, dass Hajjim nicht nur nachdrücklich gegen sie glaubte polemisieren zu müssen, sondern sich genötigt sah, die Devekut zu einem orthodoxmitnagdischen Thema zu machen, wenn auch in einer neuen Definition. Die Debatte um das richtige Tora-Studium wurde von Hajjim, wie von seinen hasidischen Gegnern, im Rahmen des schon antik-rabbinischen Topos von der Tora li-Schemah, also dem »Tora-Studium um seiner selbst willen«, geführt. Schon im talmudisch-rabbinischen Diskurs galt das Torastudium um seiner selbst willen (li-Schemah) als die höchste Form des Studiums und der religiösen Betätigung überhaupt. So sagt zum Beispiel R. Me’ir in dem berühmten Anhang zu den Sprüchen der Väter, der den Titel Kinjan Tora, »der Erwerb oder Besitz der Tora« trägt: »Wer sich mit der Tora um ihrer selbst willen beschäftigt, erringt viele Dinge, und nicht nur dies, sondern die ganze Welt erlangt Wert durch ihn. Er wird Freund genannt, er liebt Gott und liebt die Menschen, er erfreut Gott und erfreut die Menschen. Sie stattet ihn aus mit Demut und Ehrfurcht, und sie befähigt ihn, gerecht, liebestätig, redlich und zuverlässig zu sein; hält ihn fern von der Sünde, nähert ihn dem Verdienst, und man genießt durch ihn Rat und Tat, Einsicht und Stärke. […] Und sie verleiht ihm Herrlichkeit und Herrschaft und Ergründung des Rechts. Man offenbart ihm die Geheimnisse der Tora, und er wird wie ein Quell, der nie versiegt, und wie ein Strom, der in seinem Lauf stärker wird. Er bleibt immer bescheiden, langmütig und Kränkung verzeihend. Sie macht ihn groß und erhebt ihn über alle Geschöpfe.«1173 So vieles R. Me’ir hier über den Segen eines solchen Studiums um seiner selbst willen sagt, so wenig erfährt man darüber, was ein Studium »um seiner selbst willen« denn konkret sei. Dieses Defizit in R. Me’irs Eloge hat in der Folgezeit natürlich zu einer reichen Auslegung geführt, wovon hier nur einige Beispiele gegeben werden können. Der Philosoph und Rabbiner Josef ’Albo zitiert den klassischen Talmudkommentator Raschi mit den Worten: das Gegenteil von li1172 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 791ff., 839ff., 876ff. 1173 Pirke Avot, VI, 1, Übs. Nach S. Bamberger, Neudruck, Kriens (Basel) 1981.
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Schemah ist, wenn man die Tora studiert aus Liebe zum Lohn und aus Furcht vor der Strafe.1174 Li-Schemah bedeutet danach, dass man es ohne diese beiden eigennützigen Absichten tut. Eine positive Formulierung des li-Schemah ist demgegenüber nach ’Albo, wenn man Tora aus Liebe zu Gott und aus Ehrfurcht vor Ihm lernt.1175 Dieselbe Definition, allerdings bewusst auf die intellektuelle Gottesliebe verkürzt, hat schon Maimonides in seinem Mischne Tora gegeben.1176 Im Sohar hat das Torastudium um seiner selbst willen das Ziel, durch meditative Theurgie anhand des biblischen Textes, in der sefirotischen Welt den Jichud herbeizuführen, das heißt vor allem die männlichen und weiblichen Gotteskräfte zu vereinen.1177 Dagegen kann man bei hasidischen Autoren lesen: »Tora liSchemah heißt, […] mit Devekut, mit dem Haften am Schöpfer, Er sei gesegnet,« zu lernen.1178 Es ist diese letztere, in seinen Tagen weit verbreitete, individualmystische Deutung, gegen die Hajjim mit allem Nachdruck kämpft: »Die klare Wahrheit der Sache des Studiums der Tora li-Schemah ist nicht die Devekut, wie dies derzeit die meisten glauben. So sagten ja schon unsere Weisen, seligen Angedenkens, im Midrasch (Schocher Tov, zu den Psalmen), dass der König David, Friede auf ihn, vor Gott, Er sei gesegnet, gebeten hat, dass es demjenigen, der sich mit den Psalmen befasst, angerechnet wird, als würde er sich mit den Gesetzen über Verletzungen und Sterbefälle befassen. Daraus folgt, dass das mühevolle Studium der Halachot (Gesetze) des Talmud, höher steht und vor Gott, E.s.g., mehr Liebe findet als das PsalmenSingen (Beten). Und wollten wir sagen, dass die Bedeutung von li-Schemah gerade die Devekut, das mystische Haften an Gott, sei und daran das Wesentliche des Tora-Studiums hinge, so kann man fragen, ob es denn eine wunderbarere Devekut gibt, als den ganzen Tag schön Psalmen zu singen (beten)?«1179
1174 Sefer ha-‘Ikkarim, III, 32, Jerusalem, S. 267f.; Schlessinger, Schlesinger, S. 378–381. 1175 Ebd. 1176 Mischne Tora, Teschuva, c. 10, 5, Jerusalem 1972, S. 120; zur mittelalterlichen Diskussion um den Vorzug von Liebe oder Furcht als den Motiven des Gottesdienstes siehe, I. Tishby, The Wisdom of the Zohar, Oxford 1991, II, S. 974–998. 1177 Sohar hadasch, Tikkunim, 97c-97d, bei Tishby, Wisdom, III, S. 1139–1142; zu dieser Art Jichud, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 451–457. 1178 Sefer Joscher, Divre ’Emet, § 19, 10; und vgl. bei dem Bescht Enkel Ephraim aus Siedlykov, Degel Mahane ’Efrajim, Jitro s.v. wajischma‘, S. 67b; ebd., S.vor allem Wajesch, S. 70a und öfters; die Ausgabe liegt als Neudruck ohne Ort und Datum vor; Dubnow, Geschichte des Chassidismus, Bd. I, S. 290 nennt zwei Ausgaben, Korez 1811 und Jesefow 1883. 1179 Nefesch ha-Hajjim, IV, 2, Jerusalem, S. 210, Brooklyn, S. 94a, Gross, S. 176.
Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
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Wenn also das Psalmensingen als die schönste Ausdrucksform der Devekut gelten kann, wird nach den Worten des Midrasch deutlich, dass das Psalmensingen und die in sich mit ihr äußernde Devekut nach den Worten des Königs David eben im Wert dennoch unter dem Studium der Halacha steht. Und gerade dies ist es, was Hajjim mit seinem gesamten Buch propagieren will. Das Studium der Halacha, das heißt das Studium des Talmud ist für ihn die höchste Form jüdischer Frömmigkeit. Dies unterstreicht Hajjim des weiteren noch dadurch, dass er die Meinung vertritt, dass das Talmud-Studium im Rang höher steht als das Erfüllen der Gebote oder sogar das Beten, was schon am Ende des vorigen Abschnitts angeklungen war. Das Tora-Studium steht für Hajjim in seinem religiösen Wert so hoch, dass selbst ein Studium, das »nicht um seiner selbst willen« im vollen Sinne betrieben wird, höher steht als eine Gebotserfüllung, die um ihrer selbst willen und in höchster Reinheit und Heiligkeit geschieht.1180 Was ist nun Tora li-Schemah, Tora um ihrer selbst willen, nach Meinung von Hajjim Woloschyner? Diese Frage beantwortet Hajjim sogleich im dritten Kapitel dieses vierten Teiles seines Buches so: »All dein Reden und Verhandeln über die Worte der Tora geschehe um der Tora selbst willen, wie zum Beispiel um zu wissen, zu verstehen, seine Erkenntnisse und seinen Scharfsinn (Pilpul) zu erweitern, aber nicht um zu zanken und sich zu brüsten.«1181 Tora um ihrer selbst willen, und damit führt Hajjim eine bis dato nicht da gewesene neue Deutung des Begriffes Tora li-Schemah ein, ist der reine halachische Bildungsdrang, der Wunsch, die Texte zu verstehen, die Intention des Toragelehrten, der immer tiefer in die Tora eindringen will. Man könnte sagen, Tora li-Schemah ist für Hajjim ein rein intellektuelles Bestreben, allerdings eine Intellektualität, die auf den Textsinn der Tora und des Talmud in ihrem »orthodoxen« Kontext beschränkt ist, und nicht auf die philosophische und naturwissenschaftliche Forschung ausgreift. Das hier geforderte tiefere Eindringen in den Sinn der talmudischen und biblischen Texte ist aber auch nicht im Sinne der Kabbalisten zu verstehen, als ein Aufdecken der tieferen Mysterien der Tora. Hajjim geht es alleine um den Wortsinn der Texte und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Dies ist für ihn das »Studium der Tora um ihrer selbst willen«. An dieser Stelle muss noch vermerkt werden, dass Hajjim, obwohl er in dem vorangehenden Zitat das entsprechende Schlagwort verwendete, kein Verfechter des übermäßigen Pilpul ist, der seine ganze Kraft darein setzt, den menschlichen Scharfsinn zur Schau zu stellen und intellektuell über andere zu triumphieren. Nach der Abwehr der hasidischen Deutung eines Torastudiums um seiner selbst willen, sieht sich Hajjim wohl angesichts der Wirkmächtigkeit der des De1180 Nefesch ha-Hajjim, Perakim (Kapitel) Perek, 2, Jerusalem, S. 190, Brooklyn, S. 86a, Gross, S. 157. 1181 Nefesch ha-Hajjim, IV, 3, Jerusalem, S. 211, Brooklyn, S. 95a, Gross, S. 177.
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vekut-Konzeptes nun dennoch auch gezwungen, dieses Konzept in sein eigenes Halacha-Tora-Konzept einzufügen. Er tut das derart, dass er die These aufstellt, dass eben gerade sein Konzept des forschenden Halacha-Studiums die Devekut sei oder zur Folge habe. Das heißt, Devekut an Gott und Torastudium sind für ihn nicht zwei unterschiedliche miteinander zu verbindende Aktivitäten, sondern für ihn ist das Torastudium in seinem beschriebenen Sinn die Devekut selbst. Er begründet dies wiederum mit einem kabbalistischen Satz, den er allerdings nicht wie die Kabbalisten als einen Teil der Sefirot-Lehre versteht. Für den Kabbalisten war nämlich Gott und die Tora eins, insofern die Sefirot die offenbarte Gottheit selbst sind und zum anderen die Sefirot sechs und zehn für die Schriftliche und die Mündliche Tora stehen.1182 Hajjim geht nicht diesen Umweg, für ihn ist die vom Sinai aus dem Mund Gottes gekommene und den Israeliten in die Hand gegebene Tora mit ihrer halachischen Hauptseite mit Gott selbst identisch. Daher kann er sagen: »Auch wenn der Mensch sich mit Gemara, Dezisoren und Tanach beschäftigt, und er sie mit allem Scharfsinn (Pilpul) studiert, haftet all dies am Heiligen, Er sei gesegnet, denn alles kommt vom Sinai. Sogar das, was ein erfahrener Schüler einst neu herausfinden wird, wurde dem Moses am Sinai übergeben, und er hat sie [die Tora] auf die Erde herabgebracht. Und der Heilige, E.s.g., und die Tora sind eins, und wer an Seiner Tora haftet, haftet an Ihm, E.s.g.«1183 Wieder verbindet Hajjim hier die altrabbinische Auffassung der dualen Tora und ihrer weiten Bedeutung bis hinein in die Forschungsergebnisse der jeweiligen Gegenwart mit dem kabbalistischen Konzept der Identität von Gott und Tora. Damit verteidigt er das alte rabbinische Konzept von der Mündlichen Tora, die als vom Sinai kommende Auslegung zur Schriftlichen Tora gilt, wobei die ganze Geschichte dieser Auslegung, mit all ihren Neuerungen als sinaitische Tora reklamiert wird. Durch die Verbindung mit dem kabbalistischen Konzept von der Identität von Gott und Tora gelingt ihm nun die für ihn zentrale Folgerung, nämlich, dass das normale rabbinische Talmud- und Halachastudium, das mühevolle Studieren, als Haften an der Tora und damit als Haften an Gott beschrieben werden kann. Das professionelle Torastudium wird nun kurzerhand als Devekut an Gott verstanden und somit der hasidischen Konzeption entgegengesetzt. Um die spirituelle Bedeutung dieser Art Tora-Studium herauszuheben, empfiehlt Hajjim jedoch eine Vorbereitung für das Torastudium analog jener der 1182 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 534; K.E. Grözinger, Kafka und die Kabbala, Berlin/Wien 2003, S. 64f. 1183 Nefesch ha-Hajjim, Likkute Ma’amarim, 19, Jerusalem, S. 355f.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
»Frühen Frommen« (Hasidim) für die Gebetsvorbereitung, wovon die Mischna berichtet.1184 Zur Vorbereitung auf ein solchermaßen als mystischen Akt dargestelltes Tora-Studium empfiehlt Hajjim: »Wenn immer man sich auf das Lernen vorbereitet, ist es gut, sich zuvor wenigstens eine kurze Zeit mit reinem Herzen in reiner Gottesfurcht hinzusetzen, aus tiefstem Herzen seine Sünden zu bekennen, damit das Tora-Studium heilig und rein ist. Und man richte sich darauf aus, sich beim Lernen an die Tora und an den Heiligen, E.s.g., zu heften, das heißt, mit aller seiner Macht am Wort Gottes, das ist die Halacha, zu haften, und dadurch haftet man gleichsam tatsächlich an Ihm, E.s.g., denn Er und sein Wille sind eins, wie es im Sohar steht, jeglicher Rechtssatz und jegliche Halacha aus der heiligen Tora ist Sein Wille, E.s.g. Denn so entschied sein Wille, dass eben so das Recht sei, koscher und unkoscher, unrein und rein, verboten und erlaubt, schuldig und unschuldig.«1185 Die Klärung der Halacha, also ein rationaler und philologischer denkerischer Prozess, wird hiermit als ein Akt der Devekut, der mystischen Gottesanhaftung, beschrieben. Die vorangehende innere Einkehr – »wenigstens eine kurze Zeit« – erscheint hier eher als ein »Requisit«, welches der mystischen Ausstattung des ansonsten rein halachischen Raumes dienen muss. An diesem Bild ändert sich kaum etwas, wenn Hajjim sogleich im Anschluss an den soeben angeführten Passus auch das Studium der Haggada, »in der keinerlei rechtliche Konsequenz involviert ist« als legitimes Tora-Studium einbezieht, »denn die ganze Tora, im Ganzen, in ihren Details und ihren Spitzfindigkeiten, sogar das, was ein junger Schüler seinen Lehrer fragt, alles ging aus dem Mund Gottes, E.s.g., an Moses am Sinai hervor.« Wieder und wieder bricht aus Hajjim der traditionelle rabbinische Gelehrte mit den altehrwürdigen rabbinischen Formeln hervor, der aber bemüht ist, all dem einen noch näheren und direkteren Bezug zur Gottheit zu geben, um den spirituellen Deutungen der Hasidim etwas Entsprechendes entgegensetzen zu können. Dennoch, größer kann die Kluft zur hasidischen Devekut kaum sein. Denn bei ihr geht es niemals, auch nicht beim Torastudium, um kognitive Inhalte, sondern um das meditative sich Versenken in den göttlichen Geist, der sogar in einzelnen Buchstaben zu finden ist. Eine Konzentration auf den Inhalt der Worte, Sätze oder gar ganzer talmudischer oder biblischer Abschnitte, steht der hasidisch verstandenen Devekut eher im Wege.1186 1184 Mischna, Berachot 5, 1. 1185 Nefesch ha-Hajjim, IV, 6, Jerusalem, S. 216, Brooklyn, S. 96b-97a, Gross, S. 182. 1186 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 793ff.
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Abschließend kann noch eine letzte Interpretationsfigur Hajjims für das von ihm mit spiritueller Würde ausgestattete Halacha-Studium angeführt werden. Hier nimmt er wiederum ein altrabbinisches Element auf, dieses Mal eines, das ich hier im ersten Band1187 visitationsmystische Toramystik genannt habe. In dieser antiken Toramystik, die durch die langen nachfolgenden Jahrhunderte immer wieder mit neuen Deutungen ausgestattet wurde,1188 wird beschrieben, dass beim Torastudium des Menschen gleichsam die Gegenwart der Sinaioffenbarung wieder belebt wird und die Worte des menschlichen Studiums »sich freuen wie bei ihrer Offenbarung am Sinai«. So sagt auch Hajjim über das Torastudium des frommen Juden seiner Gegenwart: »So wie bei jener heiligen Gelegenheit [am Sinai] sie alle gleichsam an Gottes Wort, E.s.g., hafteten, so auch jetzt, wirklich immer dann, wenn ein Mensch sich mit ihr [der Tora] beschäftigt und über ihr sinnt. Dann haftet (davuk) er durch sie wirklich am Wort Gottes, E.s.g., weil alles das Wort Seines Mundes, E.s.g., an Moses auf dem Sinai ist, selbst das, was ein junger Schüler seinen Lehrer fragt […], auch jetzt, wenn der Mensch sich mit der Tora beschäftigt, mit jedwedem Wort. Dann ist dieses Wort gleichsam tatsächlich, in diesem Augenblick, als Feuersflamme aus dem Mund Gottes, E.s.g., ausgemeißelt. […] und es wird angesehen als empfange er es gleichsam jetzt vom Sinai aus dem Mund Gottes, E.s.g. Darum sagten die Weisen, seligen Angedenkens, mehrfach, dass sich die Worte freuten wie bei ihrer Offenbarung/Übergabe am Sinai.« 1189 Es ist offensichtlich, dass diese Torafrömmigkeit eine Frömmigkeit ist, die sich vor allem im Lehrhaus, in einer Jeschiva wie der von Hajjim Woloschyner gegründeten, leben lässt, kaum aber draußen im täglichen Leben, wo man von der Besorgung des Lebensunterhaltes gefangen ist. Natürlich empfiehlt Hajjim, die Arbeit um den Lebensunterhalt auf ein Minimum einzuschränken, um dem Ideal der Jeschiva nahe zukommen. Aber auch für den, dem dies nicht gelingen will hält Hajjim eine Alternative bereit, die ebenso der große Lehrer des Hasidismus, Ja’akov Josef aus Polna’a – im Gefolge der talmudischen Gelehrten1190 und dem
1187 Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 303ff. 1188 S. dazu K.E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai. Erzählungen und kabbalistische Traktate zur Vergegenwärtigung des Sinai, in: Frankfurter Judaistische Beiträge 16 (1988), S. 143–183 und im Internet unter: http://opus.kobv.de/ubp/suche/; http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/ 2008/1884/pdf/groezinger1988.pdf. 1189 Nefesch ha-Hajjim, IV, 14, Jerusalem, S. 236, Brooklyn, S. 103b, Gross, S. 198f. 1190 Babylonischer Talmud, Ketubbot, 111b (Goldschmidt, S. 362); s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870–886.
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Torafrömmigkeit – Hajjim aus Woloschyn
oben besprochenen Maharal aus Prag1191 – den einfachen Hasidim anbietet, nämlich sich stattdessen an die Gelehrten zu halten, sie finanziell zu unterstützen oder seine Töchter mit ihnen zu verheiraten, denn auch dies werde ihnen angerechnet als hafteten sie an der göttlichen Gegenwart, der Schechina.1192
1191 Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, II, 9.3.3. 1192 Nefesch ha-Hajjim, IV, 24, Jerusalem, S. 268, Brooklyn, S. 114b-115a, Gross, S. 226.
HASKALA – DIE JÜDISCHE AUFKLÄRUNG I.
EINFÜHRUNG
»Die Bedeutung von ›Aufklärung‹ läßt sich nicht leicht bestimmen. Betrachtet man ›Aufklärung‹ als Epochenbezeichnung, dann pflegt an das Denken des 18. Jahrhunderts gedacht zu werden. Gegen diese Ansicht spricht aber, daß z.B. John Locke, der als Vater der Aufklärung gilt, bereits 1704 starb und sich daher diesem Jahrhundert nicht mehr zuordnen läßt und daß sich gegen Ende des Jahrhunderts schon die Überwindung des typischen Aufklärungsdenkens abzeichnet, während aufklärerische Impulse nicht nur damals im Bereich der Ethnologie, der Pädagogik, des Rechts Einfluß erlangten, sondern auch noch das Denken während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beeinflußten. Wie schwierig es ist, das Zeitalter der Aufklärung (l’époque des lumières) zeitlich befriedigend abzugrenzen, zeigt sich darin, daß in jüngerer Zeit durch die Einführung der Begriffe ›Frühaufklärung‹1193 und ›Spätaufklärung‹1194 die Übergänge zu den benachbarten Epochen fließend wurden. Nicht weniger problematisch ist der Versuch, ›Aufklärung‹ als eine bestimmte Doktrin aufzufassen: Ein Bestand von Lehren, die allen Aufklärern gemeinsam gewesen wären, läßt sich nicht aufzeigen. Manche Aufklärungsphilosophen waren Rationalisten, andere Empiristen, manche bekannten sich zum (vernünftigen) Glauben an Gott, andere waren Atheisten, manche vertraten spiritualistische, andere materialistische Ansichten. Daher liegt es nahe, das Aufklärungsdenken durch gewisse Tendenzen zu charakterisieren, die es leiteten und die sich so gut wie bei allen seinen Vertretern finden.«1195 Das von Wolfgang Röd zur allgemeinen europäischen Aufklärung Gesagte trifft ebenso auf die Haskala, also die jüdische Aufklärung zu, wenn man auch mit einem gewissen Recht von einer verspäteten Aufklärung bei den Juden spricht.1196 Letzteres gilt allerdings recht besehen nur für die organisierte Form der jüdischen Aufklärung in Deutschland und in Osteuropa, wie unten noch deutlich werden wird. Was hingegen die Frühformen jüdischer Aufklärung betrifft, so hat das oben Beschriebene, in den Teilen Geschichte und Kultur des neuzeitlichen Judentums, zum Ringen um die Vielfalt widersprüchlicher Wahrheiten im Italien der frühen Neuzeit und schließlich in dem Abschnitt Traditions- und Re-
1193 Die Zeit vom Ende des dreißigjährigen Krieges bis Christian Wolff, 1679–1754. 1194 Beginnend ungefähr mit der französischen Revolution, 1789–1799. 1195 W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 80. 1196 Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung, Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, S. 18ff.
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Einführung
ligionskritik, gezeigt, dass man auch im europäischen Judentum von einer breiten Strömung einer Frühaufklärung sprechen kann. Bezüglich der Thematik, der Intentionen und dem Verhältnis zur Religion gibt es auch in der jüdischen Aufklärung nicht die von der Epochenbezeichnung Haskala suggerierte Einheitlichkeit. Immanuel Kant hatte in einem im Jahre 1784 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Essay die von dem Pfarrer Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) gestellte Frage »Was ist Aufklärung« mit folgenden Worten beantwortet: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«1197 Die jüdische Aufklärung ist mehr als ein solches intellektuelles und emanzipatorisches Programm. In ihr kommt eine ganze Reihe von Faktoren zusammen, welche die jüdische Gesellschaft gerade als kulturell und rechtlich abgesonderte Gruppe betreffen. Das Gesagte gilt vor allem für den aschkenasischen Raum, die deutschen und französischen Länder und Osteuropa, wohingegen die Juden in Italien, wie oben deutlich wurde, ihre »Aufklärung«, trotz der Abriegelung in Ghettos, schon gute zweihundert Jahre früher begonnen hatten. Da die jüdische Aufklärung in der Mitte Europas, mit dem in der hebräischen Literatur schon viel älteren Begriff Haskala (Denken, Philosophie) benannt, nicht einfach auf ein philosophisches Programm beschränkt war, ist auch ihr eigentlicher Beginn in der neueren Forschung umstritten. Die vereinfachende Fokussierung auf Moses Mendelssohn als dem Vater der jüdischen Aufklärung wird heute kaum mehr so geteilt, sie ist eher ein identifikatorischer Mythos,1198 aber immerhin sahen sich 1197 Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, digitalisierte Ausgabe unter: http://www.ub.unibielefeld.de/diglib/aufkl/berlmon/berlmon.htm; dort S. 481–494. Moses Mendelssohn, der in der selben Zeitschrift einen Artikel unter dem Titel »Über die Frage: was heißt aufklären?«, ebd., S. 193–200, beitrug, geht mit keinem Wort auf eine spezifisch jüdische Variante ein. 1198 S. Feiner, The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2002, hier S. 10, 221; ders., Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim/Zürich/New York 2007; ders., Towards a Historical Definition of the Haskalah, in: New Perspectives on the Haskalah, hrsg. von S. Feiner und D. Sorkin, London/Portland/Oregon 2001, S. 184–219, S. 202, 207; ders. Isaak Euchel – Der Gründer der jüdischen Aufklärungsbewegung, in: Isaak Euchel. Reb Henoch, oder: Woß tut me damit. Eine jüdische Komödie der Aufkärungszeit, hrsg. von M. Aptroot und R. Gruschka, S. 1–17, S. 1; ders., Haskalah and History, The Emer-
Haskala – die jüdische Aufklärung
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die jüdisch-preußischen Aufklärer, Lazarus Bendavid (1762–1832), Isaak Euchel (1756–1804), David Friedländer (1750–1834) und Salomon Maimon (1753– 1800), allesamt um Moses Mendeslssohn (1729–1786) als ihrer Mitte versammelt.1199 Und natürlich war Mendelssohn, der am traditionellen jüdischen Leben wie an der deutschen Hochkultur teilnahm, ein Aufklärungsvorbild für viele Juden, dessen Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, wie im Folgenden noch mehrfach deutlich werden wird, die Debatten im 19. Jahrhundert grundlegend beeinflusste. Insgesamt betrachtet war auch die Haskala eine innerjüdische Entwicklung mit vielen Gesichtern. Shmuel Feiner schreibt in seinem grundlegenden Aufsatz zur Definition der Haskala gleich zum Eingang: »Im Gegensatz zu anderen Veränderungskräften der modernen jüdischen Geschichte hatte die Haskala keine ideologische und institutionelle Kohärenz, keine umfassende Organisation, Konstitution oder allgemein akzeptiertes Programm, Prinzipien oder eine klar definierte Ideologie.«1200 Hinzu kommt, dass die Haskala in Deutschland, nach ihrer frühen Phase von individuellen Aufklärern und einer Phase der gesellschaftlichen Organisation, um 1900 schon wieder zu Ende ging und anderen ideologischen Strömungen wich, während sie in Osteuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts erst begonnen hatte und gegen 1890 unter dem Druck der Pogrome ihr jähes Ende fand.1201 Immanuel Etkes stellt in seinem hebräischen Essay »Zur Frage der Künder der Haskala in Osteuropa«1202 vier zentrale Bereiche heraus, in welchen die Haskala neue Wege ging:1203 1. In der Theologie gibt es die Tendenz, dem Judentum als ganzem eine rationalistische Deutung zu geben. Das bedeutet zum einen, dass umfassende Darstellungen der jüdischen Theologie im Sinne der zeitgenössischen Philosophie erarbeitet werden und zum anderen, dass die Quellen der Religion einer rationalen Kritik unterzogen wurden. Letzterem verfällt insbesondere die Kabbala, deren Alter und Gültigkeit in Frage gestellt werden.
gence of a Modern Jewish Historical Consciousness, Oxford/Portland/Oregon 2002; und s. Hebr. Wikipedia, s. vor allem. Schmu’el Feiner und s.vor allem Mosche Mendelssohn. 1199 Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 22, 224. 1200 Feiner, Towards a Historical definition, S. 184. 1201 Zu Russland s. J.S. Raisin, The Haskala Movement in Russia, Philadelphia 1913; S. Dubnow, History of the Jews in Russia and Poland, Philadelphia 1946, Bd. II, S. 46–87. 1202 I. Etkes, Li-Sche’elat Mevassre ha-Haskala be-Misrach ’Eropa, in: ders. (Hg.), ha-Dat we-haHajjim, Tenu‘at ha-Haskala ha-jehudit be-Misrach ’Eropa, Jerusalem 1993, S. 25–44. 1203 Etkes, Li-Sche’elat, S. 27ff.; und vgl. M. Graetz, Jüdische Aufklärung, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, hrsg. von M.A. Meyer und M. Brenner, Bd. I, M. Breuer und M. Graetz, München 1996, S. 251–355.
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Einführung
2. Das alte rabbinische Ideal des »Tora-Lernens« um seiner selbst willen und das Ideal des »Toragelehrten« werden zugunsten einer funktionalen Sichtweise verdrängt, nämlich nur als Ausbildung für entsprechende Gemeindeämter verstanden. An die Stelle des für die traditionelle jüdische Gesellschaft zentralen Studiums der Halacha tritt eine Hinwendung zu den biblischen Texten, die als Träger einer universal-menschlichen Botschaft verstanden werden, als Wegweiser zur menschlichen Glückseligkeit auch in dieser Welt und als Boten von ästhetischen Werten. Mit dem Halacha-Studium wird auch die Methode des Pilpul gebrandmarkt und stattdessen die wörtliche Auslegung gefordert, wie für das BibelStudium der Wortsinn vor der Midrasch-Auslegung bevorzugt wird, nicht zuletzt mit historischen geographischen und linguistischen Interessen. 3. Die hebräische Sprache wird aus ihrer reinen Funktionalität als Gebets- und Studiensprache befreit und mit einer romantischen Aura umgeben, als Erbe aus einer herrlicheren Vergangenheit, der deshalb eine besondere Zuwendung gelten müsse. Dies führt zu einer neuen hebräischen Poesie wie auch dazu, dass gerade die hebräische Sprache aus ihrer religiösen Gefangenschaft befreit und Trägerin der Säkularisierung wird. 4. Das Verlassen des partikularistischen Selbstverständnisses und das Streben nach humanistischen Auffassungen, welche die Gemeinsamkeit des Juden mit den übrigen Menschen in den Vordergrund rückte, führte zu einer neuen Hinwendung zur europäischen Gesellschaft und ihrer Kultur. Die europäischen Kulturen werden nun nicht mehr als fremd betrachtet, sondern als Erbe allgemeinmenschlicher Kreativität, an der alle teilhaben, weshalb die Teilnahme an der europäischen Kultur nunmehr nicht nur als erlaubt, sondern als erwünscht erscheint. Die Öffnung der europäischen Gesellschaften gegenüber den Juden, die optimistische, ja utopische Weltsicht führte zu der Hoffnung, neue Beziehungen zwischen Juden und den sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften errichten zu können. Die Integration der Juden in ihrer Umgebung, in kultureller, staatlicher und gesellschaftlicher Hinsicht, wurde jetzt als erstrebenswertes Ziel gesehen. Darum wurden, begleitet von heftiger Kritik am Zustand der jüdischen Gesellschaft, neue jüdische Erziehungseinrichtungen und Reformen des Judentums in gesellschaftlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht erstrebt wie auch in der Gemeindeorganisation selbst. Angesichts einer solchen Komplexität der Bestrebungen der jüdischen Aufklärer musste es, wie gesagt, naturgemäß schwerfallen, einen genauen Beginn der jüdischen Aufklärung festzulegen – die Datierungen schwanken zwischen 1700 und 1770 –, da es, wie auch hier schon mehrfach deutlich wurde, immer wieder »aufgeklärte« Individuen oder einzelne Bestrebungen gab, welche solche aufklärerische Ziele verfolgten, die, wie auch die italienisch-jüdische Aufklärung der frühen Neuzeit bei solchen Datierungsfragen kaum berücksichtigt wur-
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den.1204 Einen gewissen Fixpunkt für Mittel- und Osteuropa bietet immerhin die Publikation der kleinen Flugschrift Nachal ha-Besor (Wasserlauf der guten Nachricht), herausgegeben von Isaak Euchel und seinen Gesinnungsgenossen Mendel Breslau, Schimon Friedlender (1764–1812) und Sanwil Samuel Friedlender (1764–1828), Königsberg 1783, in welcher sich die Herausgebergruppe mit der Selbstbezeichnung Maskilim benannte, sich also programmatisch als »Aufklärer« betrachtete und sich das Ziel einer »nachgeholten, späten Aufklärung« (Schulte)1205 der Juden setzte, wo die allgemeine Aufklärung in Deutschland bereits ihren Zenith überschritten hatte. Vorausgegangen war die Begründung der Gesellschaft der Freunde der hebräischen Sprache1206 im Dezember 1872 durch die Genannten. Immerhin war damit die Aufklärung als gesellschaftliches Ziel soziologisch präsent und nicht mehr nur Sache persönlicher Bildung. S. Feiner überschreibt darum sein Kapitel zu Euchel mit dem diesbezüglich eindeutigen Titel: »Euchel Establishes the Haskalah Movement.«1207 Ziel dieser Schrift Nachal ha-Besor war die Ankündigung einer hebräischen – nichtreligiö1204 Zur Datierungsfrage dieses Beginns s. M. Pelli, When Did Haskalah Begin? Establishing the Beginning of Haskalah Literature and the Definition of »Modernism«, in: Leo Baeck Year Book XLIV (1999), London/Jerusalem/New York, S. 55–96; und s. Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 225: »Um die Datierung des Anfangs der Haskala besteht in der historischen Forschung Uneinigkeit. Während Jakob Katz, Mordechai Eliav, Michael Meyer, Moshe Pelli, Steven Lowenstein, Michael Graetz und zuletzt, sehr differenziert, David Sorkin und Shmuel Feiner eine Datierung auf die Jahre nach 1770 vorschlagen, haben Asriel Schochat und Jonathan Israel in sozialgeschichtlicher Perspektive eine Frühdatierung des Ursprungs der Haskala um das Jahr 1700 vorgeschlagen.« Eine weitere in der Forschung diskutierte Frage ist die, ob die einzelnen Aufklärer im frühen 18. Jahrhundert, insbesondere zwischen 1740–1780, Vorläufer der Aufklärung waren, oder nur als einzelne Aufklärer zu betrachten sind. S. Feiner, The Jewish Enlightenment, S. 27–35 (hier S. 32), spricht statt von »Vorläufern der Haskala« von »early maskilim« und erklärt: »Rather it [the replacing the definition ›precursors‹ by that of ›early maskilim‹] lies in a definition of this historical Phenomenon as an autonomous trend, which is not dependent on the mature Haskalah movement. The early Haskalah was an important trend in the history of the development of the Jewish intellectual elite in the eighteenth century, although not the dominant one. Probably only after this trend is thoroughly examined in its own right will it be possible to clarify whether it was one of the roots of the Haskalah movement.« Zu solchen einzelnen Maskilim sind zum Beispiel die hier in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen einzelnen »kritischen« Denker zu zählen, die es außer in Italien noch in weiteren europäischen Ländern gab, s. Feiner, S. 32. 1205 Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 18. 1206 Hevrat Dorsche Leschon ‘Ever, auch Gesellschaft hebräischer Literaturfreunde genannt. Zu Euchel und den hier genannten Texten s. die deutsch-hebräische Ausgabe samt Einführung von A. Kenneke, Isaak Euchel. Vom Nutzen der Aufklärung. Schriften zur Haskala, Düsseldorf 2001. 1207 The Jewish Enlightenment, S. 221.
Einführung
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sen – Zeitschrift unter dem Namen Ha-Me’assef (Der Sammler), die in den Jahren von 1783–1797, in Königsberg, Berlin und schließlich in Breslau, mit Unterbrechungen, erschien war, welche die literarische Aufklärungskultur nachhaltig prägen sollte.1208 Trotz der der genannten ideologischen und organisatorischen Verschiedenheit der jüdischen Aufklärung und ihrer unterschiedlichen Phasen in West- und Osteuropa gibt es doch einige weitere sie einigende Grundzüge. Die jüdischen Aufklärer wollten die Juden nicht aus dem Judentum herausführen, sondern strebten ein aufgeklärtes Judentum an. Darum wählten sie, wie schon in der genannten ersten hebräischen Zeitschrift überhaupt, dem Me’assef , das Hebräische als ihre Kultur, Kunst- und Wissenschaftssprache. Das Hebräische sollte die Sprache für alle Bereiche des aufgeklärten jüdischen Lebens werden. Insgesamt hatte die Haskala, trotz der heftigen Reaktionen der Traditionalisten, aus heutiger Sicht, eine sehr moderate Programmatik der Veränderung, wie dies Feiner einmal bündig zusammenfasst: »Die Programmatik der Haskala war nicht auf eine völlige Abschaffung der Tradition aus. Sie wollte nicht auf den Trümmern der alten eine neue Welt bauen. Die Haskala war zwar die erste Ideologie, die eine Modernisierung des Judentums propagierte,1209 allerdings führte ihre Revolution einen Dualismus in die jüdische Gesellschaft ein, wobei sie sich selbst als Arzt für die Krankheiten des Judentums anbot. Die persönliche Hinwendung zur Haskala erforderte nicht das Abreißen aller Brücken, sie forderte nicht Assimilation oder gar die Taufe. Die Bekehrung zur Haskala war tatsächlich der Wechsel aus einer eindimensionalen in eine komplexere Welt, aber keinesfalls ein Völliges Verlassen der Gemeinde, der jüdischen Gesellschaft oder gar des Judentums. […] Die Haskala redete und verkündete mit einer zwiefältigen Zunge und forderte eine Balance in allen Lebensbereichen: Studium der göttlichen wie der menschlichen Lehren, sei Jude, aber auch Bürger, erfülle die Gebote, lerne aber auch die europäischen Sprachen und lies deren Literatur, pflege das Hebräische (und verwirf das Jiddische, es sei denn zu taktischen und propagandistischen Zwecken) […] pflege eine tiefe Beziehung zum neuen Europa, aber verlasse nicht dein asiatisches Erbe.«1210
1208 Zwischen 1809–1811 wurde nochmals ein Neuanfang versucht. 1209 Diese Einschätzung muss angesichts der hier dargestellten italienischen Renaissance-Aufklärer relativiert werden. 1210 Feiner, Towards a Historical Definition, S. 210f.; zu den soziologischen Voraussetzungen der Haskala s. A. Schochat, Der Ursprung der jüdischen Aufkärung in Deutschland, Frankfurt/ New York 2000.
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Zweifelsohne ist dies eine Beurteilung aus der Sicht der Aufklärung selbst. Dass auch eine solch moderate Programmatik die Altfrommen als Verrat am Judentum sehen mussten, wird deutlich, wenn man die hier nachgezeichneten Positionen des Maharal von Prag, Mosche Isserles und Hajjim Woloschyn, aber auch die noch folgende neoorthodoxe Position von Samson Raphael Hirsch,1211 daneben hält. Die im Folgenden ausführlicher behandelten vier Aufklärer, der »Kosmopolit« Gumpel Schnaber-Levison, die Preußen Mendelssohn und Saul Ascher für die frühe westliche Haskala und der galizische Nachman Krochmal für die spätere osteuropäische, fügen sich genau in das von Feiner gezeichnete Bild. Sie sind Männer, die am traditionellen Judentum festhalten, ihm aber eine neue Deutung geben und dessen Rolle neue verstehen wollen. Alle vier verfolgen unterschiedliche Ziele mit unterschiedlichen Methoden. Schnaber-Levison wählte einen naturwissenschaftlich-empiristischen Zugang, Mendelssohn einen religionspolitischen Ansatz, Ascher einen religionswissenschaftlichen und Nachman Krochmal einen historischen. Letzterer unterscheidet sich von den drei ersteren als osteuropäischer »Nachkömmling« noch dadurch, dass er schon von der neuen Philosophie des deutschen Idealismus und des einsetzenden Historismus geprägt war.
1211 Zu ihm s. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, III.
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Der naturwissenschaftliche Ansatz – Schnaber-Levison
II.
DER NATURWISSENSCHAFTLICH-EMPIRISTISCHE ANSATZ MORDECHAI GUMPEL SCHNABER-LEVISON (1741–1797)
1.
Biographisches
Mordechai Gumpel Schnaber-Levison, alias Professor Dr. Georg Levison, ist der wahre Erbe der italienisch-jüdischen »Aufklärer« vom Schlage eines Josef Schlomo Delmedigo,1212 Tuvja Ha-Kohen1213 und anderer. Er war selbst ein berühmter Arzt, leidenschaftlicher Naturwissenschaftler, gebildeter Philosoph und rabbinisch Gelehrter, der sich durch medizinische, philosophische und rabbinische Schriften in Hebräisch und auch Englisch und Deutsch hervortat. SchnaberLevison war bemüht, seine jüdischen, Hebräisch lesenden Zeitgenossen mit den neuesten Wissenschaften bekannt zu machen, deren Ergebnisse an der mittelalterlichen und neueren Philosophie wie auch an der Bibel, am rabbinischen Midrasch, Talmud und der Kabbala zu messen. Dabei verfolgte er das Ziel, die alten Wahrheiten der antiken rabbinischen Literatur, vor allem gegenüber der mittelalterlichen »Scholastik« zu bestätigen und ihnen eine Deutung zu geben, die mit dem Bild der modernen Wissenschaften übereinstimmte. Letzteres brachte ihm in London alsbald ein Synagogenverbot ein, was ihn aber nicht daran hinderte, stets ein treues Mitglied und Förderer der jüdischen Gemeinschaft an seinen anderen Wohnorten, Berlin, Breslau, Stockholm und Hamburg zu bleiben. Heinz Mosche Graupe fasst Levisons Biographie prägnant zusammen: »Schnaber Levison war ein nicht unbedeutender Arzt, der mehrere medizinische Schriften in englischer und deutscher Sprache verfaßt hat. Seine Lebensgeschichte ist voll abenteuerlicher Züge. Als junger Mann geriet er in Breslau in Mordverdacht und saß einige Monate in Untersuchungshaft. Im Jahre 1770 ging er nach London, wo er 10 Jahre lang blieb. Dort wurde er Schüler der Brüder Hunter, berühmter Ärzte der Zeit. Er wurde Arzt am General Medical Asylum des Herzogs von Portland. Die Gemeinde der Londoner Hauptsynagoge erteilte ihm 1775 Hausverbot – anscheinend aufgrund von Gerüchten über das Breslauer Vorkommnis. Im Jahre 1779 lernte er den schwedischen Alchemisten Nordenskjöld kennen und reiste mit ihm 1780 nach Stockholm. Nach wenigen Wochen erhielt er von dem schwedischen König Gustav III. den Professorentitel für ein Projekt zur Gründung eines Armen-Ambulatoriums nach dem Muster seines Londoner Instituts. Kurz darauf wieder in London, soll er einen Grafen von Schaumburg zum Duell gefordert haben. Im Herbst kam er nochmals nach Stockholm, mußte aber das Land sehr bald fluchtartig verlassen – vielleicht in 1212 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B. 1213 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, C.
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Zusammenhang mit dieser Duellforderung. Nach kurzem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt Berlin lebte er von 1782 bis zu seinem Tode als Arzt in Hamburg, wo er schwedischer Gesandtschaftsarzt wurde. Hier gab er neben seiner Praxis populär-medizinische Zeitschriften heraus und fabrizierte Schokolade. – Einerseits ein wissenschaftlich angesehener und auf dem Gebiet der Sozialmedizin vielleicht bahnbrechender Arzt, andererseits ein Weltmann mit abenteuerlichen Zügen, fällt er aus dem Rahmen seiner jüdischen Zeitgenossen heraus. Sein bewegtes Leben ist aber dem allgemeinen Zeitgeist nicht ganz fremd.«1214 H.J. Schoeps, in seinem grundlegenden biographischen Artikel zu Levison meint indessen, das Verbot der Londoner Synagoge sei die Folge von Levisons Schrift Ma’amar ha-Tora we-ha-Hochma von 1771 gewesen, in welcher er zum ersten Mal seine wissenschaftlichen Einsichten veröffentlichte.1215
2.
Die Beziehungen zur zeitgenössischen Philosophie, insbesondere zu John Locke
Gumpel Schnaber-Levison war ein naturwissenschaftlich und philosophisch sehr gebildeter Mann, der eine Vielfalt von Gedanken aus der zeitgenössischen und ihr vorangehenden naturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur aufgenommen hat. Im Folgenden werden Namen von Naturwissenschaftlern wie Isaac Newton (1642/3–1726), Carl von Linné (1707–1778) und Robert Boyle (1626/6– 1691–92) begegnen, die neben fast allen einschlägigen jüdischen Philosophen des Mittelalters als Anregungen und Gegenstand der Auseinandersetzung für das Denken von Schnaber-Levison dienen. Dominierend allerdings, ohne dass Schnaber-Levison, so weit ich sehe, ihn namentlich nennt, ist der englische Empirist John Locke (1632–1704). Die Nähe des Denkens von Schnaber zu Locke, insbesondere in dessen Buch An Essay Concerning Human Understanding von 1690 ist auf jeder Seite, vor allem seines zentralen philosophisch-theologischen 1214 H.M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums, Hamburg 1977, S. 89f. 1215 H.-J. Schoeps, Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte, Berlin/Frankfurt/Zürich 1963, S. 216–227 (zuvor in: ZRG 4 (1952), S. 150–161); und s. H.M. Graupe, Mordechai Gumpel (Levison), in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 5 (1962), S. 1–12; D.B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 332–368; bei Schoeps und Ruderman jeweils eine volle Bibliographie der Schriften Levisons, von denen ein großer Teil im Internet steht; die hier verwendeten Schriften sind: Ma’amar ha-Tora we ha-Hochma (Teil I, nur dieser erschienen) London 1771 (Internet: jnul.huji.ac.il/books/dju/1300880); Schelosch ‘Esre Jesode ha-Tora le-Ga’on […] ha-Rambam we-‘alehem ha-Be’ur Jesod ha Tora, Altona 1792 (der Be’ur, d.h. Kommentar ist die eigentliche Schrift Levisons, Rambams ‘Ikkarim sind nur der Aufhänger), (Internet: hebrewbooks.org); Mivhar Kitve Mo“H Mordechai Gumpel Schnaber Ha-Levi, mit Einführung von S.M. Sprecher, Brooklyn 1995 (Internet: hebrewbooks.org).
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Werkes Jesod ha-Tora, zu spüren, bis hinein in die gewählten Beispiele und die verwendeten Formulierungen. Eine gründliche Aufarbeitung dieser Beziehung zwischen Schnaber und Locke ist erst noch zu leisten und kann hier nicht erbracht werden. Hier kann allenfalls die Tatsache, auf die D.B. Rudermann schon nachdrücklich hingewiesen hatte,1216 bewusst gemacht und auf einige für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Berührungspunkte hingewiesen werden.1217 Zentral für diese Philosophie des Empirismus ist die Kritik am – auch in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie gebräuchlichen – Rationalismus zugunsten eines Empirismus, der jegliche menschliche Erkenntnis auf die Erfahrung begründet sieht. Dazu gehört auch die Ablehnung der Annahme von so genannten eingeborenen Ideen im menschlichen Intellekt, die seine Erkenntnis als Wiedererinnerung und anschließende Messung des Äußeren an diesen inneren Ideen versteht. Demgegenüber meint Locke: »Vor aller Erfahrung gleicht der Geist einer unbeschriebenen Tafel (tabula rasa). Einfache Ideen entspringen entweder der äußeren Wahrnehmung (sensation) oder der Selbstbeobachtung (reflection) oder beiden Quellen. So kennen wir den Raum durch Sensation, was Lust ist, wissen wir durch Reflexion, und die Zeit wird sowohl in der äußeren als auch in der inneren Wahrnehmung erfahren.«1218 Große Nähe hat Schnaber-Levison zu Locke in der Definition von Wahrheit, wie unten deutlicher werden wird, und in dem ihr gegenüberstehenden Glauben, die zunächst in Opposition zueinander stehen, aber dann doch dialektisch miteinander verbunden werden. Wie Locke gibt es bei Schnaber neben dem betonten Empirismus noch Relikte des Rationalismus, etwa in der Frage der Gottesbeweise, die für ihn als religiösen Denker natürlich besonders wichtig waren.1219 Andererseits befasst sich Schnaber mit der Frage der Sinnestäuschung, eine Problematik, die er gewiss ebenso von Locke übernommen hat. Zu ihr sagt R.W. Puster: »Eine Theorie des Wissens hat immer auch eine Theorie des Irrtums zu sein; sie muß nämlich erklären können, wie es dazu kommt, daß manche unserer Überzeugungen wahr zu sein scheinen, ohne doch wahr zu sein. Dementsprechend muß sich – etwa angesichts der bekannten Sinnestäuschungen – ein Empirist wie Locke die Frage vorlegen, ob und unter welchen Umständen die
1216 Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 332–368. 1217 Zu Lockes Philosophie s. W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 60–68; R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, S. 140–163; R.W. Puster, John Locke, in: Philosophen des 17. Jahrhunderts, hrsg. von L. Kreimendahl, Darmstadt 1999, S. 91–112 (hier weitere neuere Literatur). 1218 Röd, Der Weg der Philosophie, S. 63. 1219 S. Falckenberg, Geschichte, S. 153.
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Erfahrung überhaupt eine zuverlässige Basis für den Erwerb von wahren Überzeugungen abgibt.«1220 Der von Locke gewählte Ausweg aus dieser Krise ist, wie bei Schnaber, der Übergang vom Empirismus zu einem metaphysischen Realismus, das heißt der Annahme einer von der menschlichen Erkenntnis unabhängigen Realität, die ihrerseits durch die ihr innewohnenden Kräfte die Sensationen im Menschen erst hervorruft. Hinzu tritt bei Locke ein Dualismus des Erkenntnisvorganges, der auch bei Schnaber wiederkehrt, nämlich dass er neben die »sensation« die »reflection« treten lässt. Die Wahrnehmungen gehen beim Erkennen stets voran, ihnen folgt sodann die denkerische Innenseite, welche das »Empfundene« prüft, auch an den dort in der Erinnerung aufbewahrten Ideen.1221 Ein letztes Motiv aus Locke soll hier noch erwähnt werden, nämlich die Vorstellung von einem »intutiven Wissen«. Dieses intuitive Wissen ist neben dem durch Wahrnehmung gewonnenen Wissen und dem durch Demonstration und Beweis erlangten Wissen, zu welch Letzterem das Wissen um das Dasein Gottes gehört, die höchste Form des Wissens: »Von den drei Graden der Erkenntnis ist das intuitive Wissen das höchste. Es findet dort statt, wo die Seele den Einklang oder Widerstreit zweier Vorstellungen auf den ersten Blick, ohne Zaudern und ohne Dazwischenkunft einer dritten vermittelnden Vorstellung gewahrt. Das unmittelbare Erkennen ist durch sich selbst evident, unwiderstehlich und keinem Zweifel ausgesetzt.«1222 Diese dritte Form der Erkenntnis wird Schnaber zur Erklärung des Phänomens der Prophetie einsetzen, was unten noch zu erörtern sein wird. Damit mögen die Hinweise für den vorliegenden Zusammenhang genügen, vielleicht werden sie ja dazu dienen der Frage einmal grundsätzlicher nachzugehen.
3.
Die neuen Wissenschaften und die Tora
Die im Jahre 1771 von Levison veröffentlichte Schrift Ma’amar ha-Tora we-haHochma, »Die Tora und die Wissenschaft« trägt einen programmatischen Titel. In dieser Schrift will Levison zeigen, dass die Wissenschaften und die Tora sich
1220 Puster, John Locke, S. 92. 1221 Vgl. Falckenberg, Geschichte, S. 144, 146. 1222 Falckenberg, Geschichte, S. 153; zu analogen Vorstellungen Spinozas s.oben Kap. Traditionsund Religionskritik, III, 5.2.
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nicht widersprechen,1223 da ja auch schon die Gelehrten des Talmud in ihnen bewandert gewesen seien.1224 Auch hätten die Gelehrten des Talmud nie die Befassung mit der Naturwissenschaft verboten, sondern nur die Beschäftigung mit der »Gotteswissenschaft«, sprich der Theologie, die tatsächlich schädlich sei.1225 Die Einsicht in die Vereinbarkeit von Tora und Wissenschaft will Levison zunächst dadurch vermitteln, dass er seinen Lesern das Wesen und »Was?« der Wissenschaft, oder wie man bei ihm richtiger sagen muss, der Wissenschaften, im Plural, vor Augen führen will. Erst wenn man das Wesen und auch die Grenzen der Wissenschaften richtig versteht, kann man deren Verhältnis zur Tora und zur Religion richtig erkennen, und zwar dahingehend, dass keine Wissenschaft außer der »Theologie« irgendeinen Bezug zu den Grundlagen des Glaubens hat.1226 Zu Letzterem wird Schnaber in seiner theologischen Hauptschrift, Jesod ha-Tora, »Das Fundament der Tora«, die sich als Auslegung zu den dreizehn Glaubensartikeln des Maimonides1227 gibt, noch ausführlicher Stellung nehmen und zwar in einer Gegenüberstellung der Begriffe von Wahrheit und Glauben, worauf unten noch einzugehen sein wird. Hier im Ma’amar ‘al ha-Tora we-ha-Hochma geht es zunächst um die neue Verortung der Wissenschaften im Kosmos des menschlichen Wissens. Es ist nach Schnaber-Levisons Auffassung gerade die unrichtige Wissenschaftsstruktur, deren unzulängliche Differenzierung zwischen den Wissensgebieten, welche zu der falschen Antithese von Wissenschaft und Tora oder Glauben geführt hat. Es ist demnach die Sünde der mittelalterlichen Wissenschaftsstruktur, die nach Auffassung von Levison diesen Gegensatz erst geschaffen hat, der zuvor in der jüdischen Antike so nicht gegeben war. Der erste Schritt auf dem Weg in die Moderne, in welcher Glaube und Vernunft ihren je eigenen Ort zugewiesen bekommen, ist demnach die Verwerfung der mittelalterlichen Wissenschaftsstruktur und deren Ersetzung durch die moderne neuzeitliche Struktur der Wissenschaften. Mit den Worten von Schnaber-Levison:
1223 Ma’amar ha-Tora, S. 9. 1224 Ma’amar ha-Tora, S. 8. 1225 Ma’amar ha-Tora, S. 9; und vgl. Die Schrift Ma’amar ha-Madda‘, S. 15, in: Sefer Megalleh Sod, von Ahron Salomon Gumpertz, alias Ahron ben Salman Emrich (1723–1769), Hamburg 1765; er war ebenfalls ein Berliner Arzt und Lehrer Mendelssohns; diese Schrift kannte auch Schnaber Levison. Zu Ahron Gumpertz s. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 334. 1226 Ma’amar ha-Tora, S. 9. 1227 Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437; und oben Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, III, 8. Die Schrift erschien darum unter dem zuvor schon genannten Titel Schelosch ‘Esre Jesode ha-Tora le-Ga’on […] ha-Rambam we-‘alehem ha-Be’ur Jesod ha-Tora.
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»Wisse, die Früheren teilten die Wissenschaften (Hochmot) in drei Hauptteile ein, nämlich in die Mathematik1228 (Hochmot Limmudiot), Naturwissenschaften, Physica, und Gotteswissenschaften, Metaphysica. Und tatsächlich haben alle abgezweigten Wissenschaften in ihnen ihre Wurzel. Aber sie machten bei den meisten ihrer Zuordnungen Fehler aus Gründen, die ich in der Abteilung Naturwissenschaften erklären will. Darum wählten die neueren Gelehrten ein anderes System und teilten die Wissenschaften in viele Unterteile, denen sie allesamt eigene Namen gaben.«1229 Nach dieser grundlegenden Feststellung zählt Levison fünf Hauptwissenschaftsgebiete auf, deren Details und Untergruppen sodann den Hauptteil des gesamten Buches bilden. Die fünf Hauptteile des neuen Wissenschaftssystems sind folgende: I. Die Logik oder Dialektik. Sie befasst sich mit jener Kraft im Menschen, die ihm das Denken und Vorstellen ermöglicht, nämlich mit dem Intellekt oder der Seele. Diese Disziplin muss die Weise und Grenzen des menschlichen Denkens untersuchen. – Es sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es nicht zufällig ist, dass der Intellekt hier als »Kraft« im Menschen bezeichnet wird, wie später noch deutlich werden wird. Auch ist es bedeutsam, dass Levison hier auf die »Grenzen« und »Arbeitsweisen« der Vernunft hinweist. Die Logik beschreibt demnach, analog zur Physik, die Kraft und Wirkungsweise eines irdischen rein anthropologischen nicht transzendenten Wesens. II. Scientia Divina, Hochmat ha-’Elokijut. Dies ist die Wissenschaft, die wir heute als Theologie bezeichnen würden. Ihr Inhalt ist die Schlussfolgerung von den nur möglich existierenden Dingen in dieser Welt auf ein notwendig Existierendes als der prima causa, das ist der Schöpfer. III. Die Wissenschaft von den Geschöpfen, die ihre Existenz und die Kraft ihres Wirkens durch ihre Bewegungen oder durch ihr Denken mit der Vernunft bezeugen, ist in zwei Unterwissenschaften geteilt, denn es gibt Körper und Intelligible Wesenheiten in der Welt. Die Wissenschaft, die sich mit der Natur, das heißt mit den Körpern, befasst, ist die Physica, während die Wissenschaft, welche sich mit den geistigen Entitäten beschäftigt, also mit den Dingen »hinter der Natur«, wie Engel und Dämonen, ist die Metaphysica oder Pneumatologija. Zur Physik gehört auch das Wissen um die Himmelskörper, deren Bewegung und deren Schwere etc. Das heißt hierzu gehört die Astronomie wie auch die Mathematik, welche das Maß der körperlichen Dinge bestimmt, mitsamt ihren Unterwissenschaften wie die Geometrie und die Trigonometrie. 1228 Levison gibt neben den hebräischen Bezeichnungen stets die lateinische Terminologie – hier kursiv gesetzt. 1229 Ma’amar ha-Tora, S. 10.
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Der naturwissenschaftliche Ansatz – Schnaber-Levison
IV. Der Gegenstand der vierten Wissenschaft ist »die denkende und forschende Substanz (‘Ezem) in uns«, genannt »sprechende Seele«, oder »Intellekt«. Da die Seele auch »Willen« hat, gehören hierher folgende Wissenschaften, die Ethik (Handeln des Einzel-Menschen und seiner Seele), Politik (Handeln der Nation), Ökonomie (Führung des Hauses), Polizei (Leitung des Staates) und dergleichen mehr. V. Die Ontologie. Sie sucht das Gemeinsame und das Trennende aller existierenden Entitäten, körperlicher wie intelligibler zu verstehen. Hierher gehört auch das, was über den Schöpfer und die separaten Intellekte (Engel) zu sagen ist – letzteres ist eben die Scientia Divina und die Metaphysik. Auffällig an dieser neuen Einteilung der Wissenschaften ist zunächst, dass die Frage nach Gott einer eigenen Wissenschaft vorbehalten ist, der Theologie, die sich im übrigen nur mit der Frage nach der Existenz einer ersten notwendig seienden ersten Ursache für alles Daseiende zu befassen hat. Diese Wissenschaft, die einzige, die mit den Glaubensfragen kollidieren kann, ist klar von allen übrigen neutralen Wissenschaften abgegrenzt und ist ohnehin durch ihre hier genannte Beschränkung auf eine einzige Grundfrage leicht zu meiden. Daraus folgt, dass die mittelalterliche Behandlung der so genannten Separaten Intellekte von der Wissenschaft vom Transzendenten, Göttlichen, das heißt von der Theologie abgekoppelt und zu einer Paralleldisziplin der Physik geworden ist, zur Lehre von den nichtkörperlichen irdischen Geschöpfen. Diese hatten in der mittelalterlichen Philosophie zur oberen intelligiblen Weltstufe gehört, die oberhalb der physischen Welt als semi-göttlicher Bereich betrachtet wurde. Die neue »Metaphysik« ist also nicht mehr wie im Mittelalter ein Thema der Theologie, nicht mehr die Erforschung »göttlicher Wesen«, sondern eine »Erdwissenschaft«, die von den nicht körperlichen irdischen Wesenheiten handelt. Des Weiteren gehört auch die Lehre von der menschlichen Seele nicht mehr zur »göttlichen Metaphysik«, nach welcher die menschlichen Seelen aus dem göttlichen Bereich stammten. Sie gehört auch nicht der neuen »irdischen Metaphysik« an, sondern sie wird zu einem rein anthropologischen Thema. Die in den weiteren Kapiteln des Buches beschriebenen und definierten Unterwissenschaften sind die Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie, Mechanik, Hydrostatik, Aerometrie, Hydraulik, Optik, Astronomie, Geographie, Algebra, Naturwissenschaft (sie ist die Wissenschaft von den Körpern, zu denen auch Feuer, Luft und Wasser, also Flüssigkeiten und Gase gehören). Wer die Wissenschaften in dieser Weise richtig zuordnet, wird nicht Gefahr laufen, durch sie von seinem Glauben an Gott den Schöpfer abgebracht zu werden, wie dies vielen Zeitgenossen Levisons geschieht und denen er gegen diese irregeführte Verwerfung des Glaubens helfen will. Bei aller »Revolution« ist Levisons Anliegen darum ein konservatives. Er will den Glauben des Judentums bewahren und zeigen wie er bewahrt werden kann, trotz des berechtigten
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menschlichen Interesses an den Wissenschaften, das unverrückbar zur Natur des Menschen gehört.
4.
Physiko-Theologie statt Metaphysik
Wie soeben vermerkt, verfolgt Schnaber-Levison ein konservatives Interesse, nämlich den Glauben an Gott als dem Schöpfer der Welt zu bewahren. Dies kann nach seiner Auffassung nur gelingen, wenn man mit den Wissenschaften richtig umzugehen versteht. Und dieser richtige Umgang zeigt sich vor allem an der zentralen Stelle der Wissenschaften, nämlich an der Physik, sprich der Wissenschaft von den Körpern. Und es ist gerade das richtige Verstehen der Körper in dieser Welt, welches das entscheidende Element für die philosophische Revolution gegenüber dem Mittelalter in sich birgt. Das neue Verständnis der Körper verursachte den Einsturz der Metaphysik der Separaten Intellekte als den die Welt belebenden Kräften. An der Eröffnung des jüdischen Mittelalters war es der Aristoteliker Abraham Ibn Da’ud, der seinen Religionsgenossen die Basis des mittelalterlichen philosophischen Denkens darlegte.1230 Danach geht alle Bewegung und damit alles Leben in dieser Welt auf ein nicht-materielles Prinzip zurück. Die Materie selbst bewegt sich nicht von selbst, lebt nicht. Was ihr Bewegung und Leben gibt, ist das geistige Prinzip der Form, zu der auch die »Seelen« genannten Formen gehören, so die Seelen der Himmelskörper samt deren Intellekten. Es ist diese Auffassung, welche die Grundlage der mittelalterlichen Teilung in die physische und die intelligible Welt bildete, wobei die intelligible Welt die Ursachen der Bewegung der sensiblen Körperwelt bereitstellte. Es ist diese mittelalterliche Weltteilung, die schon Josef Schlomo Delmedigo infrage stellte1231 und die nun von Schnaber-Levison vollends mit Hilfe der neuesten Newtonschen Physik umgestoßen wurde. Denn mit Isaac Newton wurde das mittelalterliche Gesetz von der zur eigenen Bewegung unfähigen Materie oder den Körpern, die keine eigene Bewegungsursache in sich tragen, umgestoßen und den Körpern selbst die Kraft zur Bewegung zugeschrieben. Die mittelalterliche Lehre von den vier natürlichen Bewegungsrichtungen der »Elemente« Feuer, Luft, Wasser und Staub, von denen die beiden ersteren gemäß ihrer »Natur« nach oben, die der anderen beiden nach unten gehe, und zwar dank der sie prägenden »Form«, wurde, wie Schnaber-Levison ausführlich darlegt, aufgrund der wissenschaftlichen Beobachtung und neuartiger Experimente umgestoßen. Solche Experimente, darauf weist Schnaber-Levison eigens hin, wurden mit Hilfe neuartiger Geräte, wie Linse und Fernrohr durchgeführt, insbesondere aber
1230 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407–410. 1231 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B, 7.
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mittels der Luftpumpe (Kli ha-merakken ha-’Awir), mit deren Hilfe man ein Vakuum erzeugen konnte, in welchem alle materiellen Gegenstände die selbe lineare Bewegungsrichtung haben, nämlich zur Erde hin. Es konnte also nicht länger aufrecht erhalten werden, dass Luft und Feuer von Natur aus, beziehungsweise dank ihrer spezifischen Form, sich nach oben bewegen. Somit war es erwiesen, dass es die Schwerkraft ist, welche die Körper bewegt, und zwar unabhängig von der Größe der Körper, und nicht eine intelligible Form. Diese Erkenntnis hat auch die mittelalterliche Lehre von den Gestirnsphären, dank welcher sich die Sterne bewegen, hinfällig gemacht. Nun war auch klar, dass die Gestirne frei im Raum schweben und ihre Kreisbewegung nicht einer fünften Materie (Quintessenz) zu verdanken haben, sondern eben jener den Körpern innewohnender Anziehungs-Kräfte. So bedauert Schnaber-Levison, dass selbst der von ihm verehrte Maimonides nicht gegen diese der Tora widersprechenden Lehren aufgestanden ist, sondern alle Aristoteles nachplapperten. In diesem Sinne resümiert SchnaberLevison seine Darstellung: »Auch was Aristoteles dekretierte, nämlich dass die himmlischen Körper aus einer fünften Materie zusammengesetzt seien, haben die Neueren nicht anerkannt, sondern sie sagen, dass die Ursache für die Kreisbewegung der Himmelskörper und der Planeten daher rührt, dass sie zwei Kräfte besitzen, nämlich die Fliehkraft und die Zentralkraft oder Schwerkraft, vis centripeta (Zentripetalkraft) et centrifuga (Zentrifugalkraft). Sie [die Zentripetalkraft] wird auch vis centralis genannt. Und so wie alle schweren Dinge zur Mitte der Erde hinstreben, so meint der Wissenschaftler Newton, haben auch die Planeten untereinander und sie allesamt zum Mittelpunkt der Sonne hin Schwerkraft. Und es ist diese Schwerkraft (Kevedut) die sie zur Kreisbewegung zwingt um ihr Zentrum, die Sonne.«1232 Mit diesen körpereigenen Kräften ist die mittelalterliche Theorie von der bewegungsgebenden »Form«, also dem geistigen Prinzip, welches die Körper bewegt hinfällig. Was die Körper bewegt sind körpereigene Kräfte, Kräfte, welche den Körpern innewohnen. Weiter unten in seinem Text formuliert Levison dies, wieder mit Newton, noch einmal grundsätzlicher, wo er den Begriff der Physik als Hochmat ha-Teva‘, das heißt »Naturwissenschaft« definiert:
1232 Ma’amar ha Tora, S. 28; und s. dort die Seiten 26ff. Schnaber-Levison bezieht sich gewiss auf J. Newton, Philosophia naturalis principia mathematica, London 1687. Zu den sich stark verändernden Ansichten Newtons s. M. Carrier, Isaak Newton. Prinzipien der naturphilosophie: Raum, Kraft, Bewegung und Gott, in: Philosophen des 17. Jahrhunderts, hrsg. von L. Kreimendahl, Darmstadt 1999, S. 176–197.
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»In der Naturwissenschaft, physica, finden zweierlei Forschungen statt, nämlich die allgemeine und die spezielle. Die allgemeine ist die Untersuchung der allen Körpern gemeinsamen Natur (Teva‘), also deren Bewegungen und Schwere und deren Gesetzmäßigkeiten. Und der Wissenschaftler Newton stellte fest, dass jeder Körper vier Kräfte hat. 1. Die Trägheitskraft (Koach menuchi), vis inerta, dies ist die Kraft, dank derer ein Körper stets an seinem Ort ruhend bleibt, sofern ihn nicht ein anderer Körper durch seine Einwirkung bewegt. […] 2. Die Gegenkraft, vis reactionis, das ist die Kraft, mit welcher ein Körper einen anderen beherrscht und mit ihm kämpft, um ihn von seinem Ort zu verdrängen. 3. Die Anziehungskraft, vis attractionis, damit zieht ein Körper einen anderen an, bis sie sich zuweilen verbinden und gar eins werden. […] 4. Die Bewegungskraft, vis motorix, das ist die Kraft, mit welcher der Körper sich von seinem Ort fortbewegt, sofern ein anderer Körper ihn zwingt, seine Lage zu verändern. Und gemäß den Gesetzen der Bewegung bleibt dies eine stete gerade Bewegung […]«1233 Schnaber-Levison verweist noch auf die unterschiedlichen Gesetze der flüssigen und gasförmigen Körper und weiterer Kräfte im Verhältnis der Körper untereinander. All dieseEinsichten, die durch »Observation« oder »Experimente« gewonnen werden, führen Schnaber zu weitergehenden Schlussfolgerungen theologischer Natur. Zunächst, dies sei nochmals betont, kann Schnaber-Levison dank der Newtonschen Gesetze der Körper-Mechanik die mittelalterliche These von den intelligiblen Kräften und Mittelinstanzen, welche nach mittelalterlicher Auffassung die leblose Materie bewegen, für obsolet und falsch erklären. Doch dies genügt dem frommen Juden, der unser Autor dennoch ist, nicht. Schnaber-Levison zieht, wie auch Locke, aus den Newtonschen Beobachtungen die Folgerung einer insgesamt durch Kräfte belebten Welt, in welcher alle sichtbaren und unsichtbaren Wesenheiten dieser Welt gemäß dem Ratschluss Gottes belebt sind. Es ist dies die Auffassung, die mit dem von dem englischen Geistlichen und Naturforscher William Derham (1657–1735) geprägten Begriff »Physiko-Theologie« benannt wird, und die Schnaber-Levison aller Wahrscheinlichkeit nach von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné übernommen hat, den Schnaber-Levison kannte und in seinen Schriften nennt.1234 D.B. Ruderman sagt zu dieser »Aufklärungstheologie«: »Die physiko-theologische Tradition wurde im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert durch die Schriften so bekannter Gestalten wie Pieter van Muschenboeck und J. Albert Fabricius in Holland, sowie John Ray und William Derham in England verbreitet. Die PhysikoTheologie beruhte auf der Annahme eines wunderbaren Systems von Balance 1233 Ma’amar ha Tora, S. 30. 1234 Jesod ha-Tora, S. 74.
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und Kompensation, das im ganzen Universum wirksam ist. Gott hat demnach für alles auf Erden die richtige Anzahl bereitgestellt, ›genug, um die Arten zu erhalten, aber zugleich mit der Vorsorge, die Welt nicht zu überfordern‹, wie Derham meinte. Auf diese Weise, so fügt er hinzu, ›ist die Balance in der Tierwelt weltweit und durch alle Zeiten ausgeglichen und durch eine wunderbare Harmonie und ausgewogene Proportion der Zahlen an Tieren sowie deren Lebenslänge wohl geordnet und nicht überfüllt.«1235 Es war wohl Linnés in diesem Geiste geschriebene Oeconomia naturae von 1749, aus der Schnaber-Levison schließlich die physiko-theologischen Gedanken geschöpft hat, wie die von Ruderman aufgezeigten Parallelen zeigen. Hier sollen nun die physiko-theologischen Folgerungen Schnabers skizziert werden, wie er sie vor allem in seiner als Kommentar zu den Glaubensartikeln des Maimonides angelegten Schrift Jesod ha-Tora von 1792 darlegt. In seinem Kapitel über die Neuschöpfung der Welt, das heißt, in dem Teil, in welchem es gegen die von Aristoteles vertretene Auffassung von der Ewigkeit der Welt geht, skizziert Schnaber-Levison für seine Leser zunächst die aristotelische Lehre von der ewigen, Hyle genannten, Materie, von deren ersten Überformung mit den Formen der vier Urelemente Feuer, Luft, Wasser und Staub, welche für die beiden Grundbewegungen in der Welt – nach oben und nach unten – verantwortlich sind, und aus deren unterschiedlicher Überlagerung schließlich die übrigen Bewegungen der Körper in dieser Welt resultieren sollten.1236 Und weil aus diesen geradlinigen Bewegungen der vier Elemente die Kreisbewegungen der Gestirne nicht erklärlich waren, habe Aristoteles eben die fünfte Materie erfunden und die separaten Intellekte zu deren Antrieb über sie gesetzt. Es ist diese Lehre, der, so Schnaber-Levison, leider auch Maimonides nichts entgegenzusetzen wusste, die durch die neuen Wissenschaften aber als falsch erwiesen wurde. All diesen mittelalterlichen Theorien gegenüber meint nun Schnaber:
1235 D.B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 357f., nach W. Derham, Physico-Theology: Or a demonstration of the Being and Attributes of God from his Works on Creation, London 17143, S. 171; und s. W. Derhams Physico theologie, oder Natur-Leitung zu Gott durch aufmercksame Betrachtung der Erd-Kugel, und der darauf befindenden Creaturen, zum augen-scheinlichen Beweiss das ein Gott, und deselbige allergütigstes, allwetes, allmächtiges Wesen sey; hrsg. von S.L.W. Rollins, C. Fabricius, J. Albert, Neuausgabe Hamburg 1973; zur Physico-Theologie s. noch W. Philipp, Physicotheology in the Age of Enlightenment, Appearance in History, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 57 (1967); und W. Lepenis, Eine Moral aus irdischer Ordnungsliebe: Linnés Nemesis Divina, in: Carl von Linné Nemesis Divina, hrsg. von W. Lepenis und L. Gustafsson, aus dem lat. R. Volz, München/Wien 1981, S. 321–358. 1236 Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 409.
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»Wahrhaftig, was sollen wir mit der ersten Materie? Ist es nicht besser und naheliegender zu sagen, Gott, Er sei gesegnet, habe alles aus dem Nichts erschaffen. Und diese gesamte Wirklichkeit besteht aus nichts anderem als aus unendlich vielen kleinen Teilchen, und einem jeden einzelnen von ihnen hat Gott die Natur der bekannten Kräfte eingeprägt, wie die Trägheitskraft, dank welcher ein Körper an seiner Stelle verharrt und einen anderen hindert, diese einzunehmen, sodann die Bewegungskraft dank derer er sich bewegt, wenn ein anderer Körper ihn angestoßen hat, auch die Kreisbewegung der Gestirne und unserer Erde, wie dies die Gelehrten unserer Zeit meinen, die dem Gelehrten Kopernikus folgen. […] So hat Gott einem jeden einzelnen Teilchen andere Kräfte eingepflanzt, wie [auch] die Gegenkraft […] Die Kreisbewegung schließlich kommt von den unterschiedlichen kleinen Teilchen, die in den Sternen und allen übrigen Körpern versammelt sind, die mit ihren unterschiedlichen Kräften aufeinander wirken und voneinander beeinflusst werden, woraus die stete Kreisbewegung entsteht, wie du in meiner Schrift Die Tora und die Wissenschaft am Beispiel der Pendelbewegung sehen kannst. Darum besteht keinerlei Zweifel, dass Gott die ganze Wirklichkeit mit der Weisheit der Bewegung ausgestattet hat, ohne dass die Notwendigkeit besteht dass die Separaten Intellekte sie in Bewegung setzen müssten. […] Und durch die Vermischung der stetigen Wirkungen und Beeinflussungen, die im einzelnen wahrzunehmen die menschlichen Sinne nicht vermögen, wurden sie vereint und bildeten jene drei, nämlich die Kraft des Wachsens und dergleichen, des Entstehens und des Vergehens.«1237 Damit hat Schnaber-Levison das komplette Gegenmodell zur mittelalterlichen Kosmologie gezeichnet. Die Bewegung, das Leben, das Entstehen und Vergehen, wird nicht von außerirdischen intelligiblen Kräften in Gang gebracht, sondern durch die körpereigenen Kräfte. Damit ist die intelligible Welt des Mittelalters als der causa efficiens (Wirkursache) des irdischen Geschehens abgeschafft. Ebenso ist das Modell von der unwirklichen Urmaterie, welche erst durch die Überformung in die Wirklichkeit tritt und »belebt« wird, außer Kraft gesetzt. Es gibt keine ungeformte Materie, sondern nur unendlich viele kleine Materieteilchen, von denen jedes mit den ihm eigenen Kräften ausgestattet ist, und deren gegenseitige Wirkung aufeinander zum Ensemble des Weltgeschehens führt. Es ist eine solche Konzeption die sich nun wieder leichter mit der – allerdings recht eigentlich auch erst seit dem Mittelalter verbindlichen1238 – Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts verbinden lässt und mit einem Gott, der die kraftgeladenen Materieteilchen erschaffen hat und dann ihrer natürlichen Wirkung und ihrem 1237 Jesod ha-Tora, S. 30b-31a. 1238 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 375–378.
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natürlichen Kräftespiel überlässt. Dieses Kräftespiel ist das der Natur. Dieses Kräftespiel war auch bei der Entstehung der Welt schon wirksam. Denn Gott hat nicht alle in der Gegenwart bestehenden Details erschaffen, vielmehr sind diese erst nach und nach durch die natürliche Entwicklung, durch Entstehen und Vergehen in der Natur entstanden. Was Gott erschaffen hat, war alleine die Natur und die Ordnung und auf ihrer Grundlage hat sich dann alles entwickelt wie dies auch noch in der Gegenwart geschieht. Ja selbst die Frage, warum denn Gott die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen habe und nicht früher, muss nach diesem Modell beantwortet werden: »Die Frage, weshalb Gott, Er sei gesegnet, die Wirklichkeit nicht früher erschaffen hat, ist eine Frage von Menschen, welche die Wirklichkeit nicht verstehen. Solche Leute fragen auch, weshalb das Kind aus dem Mutterschoß nicht schon einen Augenblick, nachdem dort der Same eingedrungen war, hervorgeht, sondern dort neun Monate säumt. Und so werden sie zu allen Vorgängen in der Natur fragen […] Die Antwort auf alle diese Fragen ist jedem verständigen Menschen klar: Gott hat die Natur und die Ordnung erschaffen, aber das Erschaffene braucht Zeit, um zu seiner Gestalt und Form zu gelangen. So entstehen alle Dinge Schritt für Schritt und nicht auf ein Mal. Und das ist die Antwort auf das Werden der gesamten Schöpfung. Nachdem sie erschaffen war, brauchte sie Zeit, bevor sie sich offenbaren konnte.«1239 Bei einer solchen naturwissenschaftlichen Sicht liegt natürlich sogleich der Vorwurf des Deismus nahe, also die Auffassung, Gott habe einem Uhrmacher gleich sein Werk einmal geschaffen, es angestoßen und dann sich selbst überlassen. Gegen eine solche Deutung seines Modells argumentiert Schnaber-Levison dahingehend, dass die Ursache des Wirkens all dieser Kräfte in der Natur der Wille Gottes sei, der stets in diesen Kräften wirke und sie niemals sich selber überlässt. Dieses stete Wirken des göttlichen Willen in den von ihm geordneten Naturkräften ist es auch, was Schnaber sodann unter der »Vorsehung« Gottes versteht. »Gott überwacht sie ohne Unterlass, wodurch ihr Wirken verstetigt ist.«1240 Und dieses stete Wirken der von Gott in die Natur gegebenen Kräfte bewirkt auch die stete Veränderung in der Welt, in der nichts bleibt wie es ist, alles ist der dauernden Veränderung unterworfen, nur eben nicht die von Gott gegebenen Kräfte und deren Ordnung. Darum auch geschieht in der Natur keine plötzliche Veränderung, die Kräfte wirken stetig. Selbst der Tod des Menschen ist kein solcher plötzlicher Umschwung, denn »vom Tag der Geburt an wirken in ihm alle Kräf-
1239 Jesod ha-Tora, S. 33a. 1240 Ebd., S. 46b.
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te, die dann seinen Tod verursachen.«1241 Für die von Gott in die Natur gesenkten Kräfte gilt demnach der Satz von der Erhaltung der Energie oder der Masse, es wirken stets dieselben Kräfte, die aber eine stets sichtbare Verwandlung der Dinge verursachen.1242 Dieser Gedanke von der stetigen Wirkung Gottes in den Natur-Kräften dient Schnaber schließlich auch dazu, die jüdische Lehre von Sünde und Strafe beziehungsweise von Guttat und Lohn zu erklären: »Die Sünde und die Strafe, die gute Tat und der Lohn treten zugleich ein. Wir können daher im Sinne der Wahrheit nicht sagen, der Mensch sündige, bevor er bestraft wird, und dass das Wissen Gottes um die Sünde der Bestrafung des Sünders durch Ihn vorausgeht, denn die Sünde und die Strafe kommen zugleich wie auch umgekehrt. Das heißt, dass die Strafe zugleich mit der Sünde beginnt, ebenso die Belohnung mit der guten Tat. Sie sind beide identisch, die Strafe ist nichts anderes als die Sünde, so dass sie nicht als Rache bezeichnet werden kann. So wie die Weisen schon sagten: Der Lohn der Gebotserfüllung ist die Gebotserfüllung und der Lohn der Übertretung die Übertretung. Dies ist ein natürlicher Vorgang. Wenn sich die Seele von Gott entfernt, muss sie sich ihm wieder annähern, davor aber ist sie ferne von Ihm, Er sei gesegnet. Und das ist die Strafe, welche mit der Sünde zusammen eintritt.«1243 Diese Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung ist eine Gleichzeitigkeit die laut Schnaber für die gesamte Natur gilt. Gott hat sie beide bei der Schöpfung zusammen geschaffen und so ist alles Wirkende zugleich schon immer auch Bewirktes. Das alte personalistisch-forensische Vergeltungsmodell, die Lehre von Lohn und Strafe durch das göttliche Gericht, ist hier zu einem Naturvorgang geworden, der dem göttlichen Handeln in dieser Welt im Ganzen entspricht.
5.
Proto-Darwinismus – die Hierarchie der Geschöpfe
Die Auffassung von der kontinuierlichen Entwicklung der Dinge dank dem im Naturverlauf wirkenden Kräftespiel führt Schnaber-Levison schließlich zu einer proto-darwinistischen Weltsicht. Ausgerechnet in seinem Kapitel zum Nachweis 1241 Jesod ha-Tora, S. 81a; mit diesen und ähnlichen Argumenten ist Schnaber-Levison gewiss von Moses Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele abhängig, s. z. B. die Ausgabe M. Thom, Moses Mendelssohn, Schriften über Religion und Aufklärung, Darmstadt 1989, S. 229ff. 1242 Jesod ha-Tora, S. 81a, 31b. 1243 Jesod ha-Tora, S. 81a.
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Der naturwissenschaftliche Ansatz – Schnaber-Levison
der Existenz von übermenschlichen geschaffenen Wesen, sprich Engeln und Dämonen, argumentiert Levison mit einer Evolutionstheorie angefangen vom Mineralischen bis hinauf zum Menschen, die sich über die »Leiter der Natur« erstreckt: »Siehe, wenn wir die existierenden Dinge untersuchen, begonnen vom Mineralischen (Domem) bis zum Menschen (ha-Medabber), sehen wir, wie sie sich von Stufe zu Stufe entwickelten (ne‘eteku). Der Mensch selbst entwickelte sich aus dem Mineralischen über das Vegetabilische (Zomeach) und vom Vegetabilischen zum Belebten (ha-Haj) bis zur Eigenschaft des Sprechenden, und darum wird der Mensch Mikrokosmos genannt, weil er aus allem Existierenden zusammengesetzt ist und er zugleich etwas aus der geistigen Welt hat, nämlich die Seele.«1244 Der Hinweis auf die Seele, die zur geistigen Welt gehört, sollte uns nicht irreführen, als würde Levison hier noch mittelalterlich denken und die Seele aus der Transzendenz ableiten, wozu weiter unten noch Näheres zu sagen sein wird. In dieser Physiko-Theologie erscheint es nicht als schändlich, wenn die Seele des Menschen ebenfalls zu den von Gott geschaffenen »Naturdingen« gehört, was ja durchaus wieder der rabbinischen und noch der Sa‘adjanischen Psychologie entspricht.1245 Dies wird nochmals gegen Ende von Schnabers Darstellung der Hierarchie des Existierenden deutlich. Ein wesentliches Moment in dieser Hierarchie ist es, dass es fließende Übergänge gibt, so vom Mineralischen zum Pflanzlichen und von dort zum Animalischen. So werden im Tierbereich die Hunde hervorgehoben, die im Gegensatz zu anderen Tieren, sogar mit dem Menschen kommunizieren können, und schließlich: »Bis wir zum Affen gelangen, dessen Gestalt wahrhaftig die Gestalt des Menschen ist, er kann sich sehr flink bewegen und seine Vorstellungskraft ist so stark, so dass er alles tun kann, was er die Menschen tun sieht. Und von ihm aus entwickelt (ne‘etak) es sich zur Definition (Gattung) des Menschen, welche wie folgt ist: Das Lebende (Animalische), das spricht und Verstand besitzt. Und so gibt es ja auch bei den Menschen selbst viele Stufen, so dass man nur wenige wirklich Weise und Vollkommene findet. Und gemäß dieser Ordnung und Leiter der Natur siehst du, wie die Entwicklung (ha-Ha‘ataka) vom Mineralischen bis zum Menschen in einer wunderbaren Entwicklung verlief, derart dass, mit der Abnahme der Substanz das Intellektuelle sich vermehrte. 1244 Jesod ha-Tora, S. 93a. 1245 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263–273. 387–391.
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Und wie kann man da sagen, dass nach der Definition (Gattung) Mensch die Definition Gottes folge, der doch tatsächlich nur die vollkommene Einheit ist, was nicht über die Verkettung (Entfaltung) über Stufen erreicht wird (wie wir dies vom Mineralischen bis zum Menschen hin sahen), sondern dies ist eine plötzliche (übergangslose, grundsätzliche) Veränderung. Denn auch wenn der Mensch spricht und Verstand hat, ist er im Vergleich zur Weisheit und Einheit des verborgenen Gottes doch wie ein Vieh.«1246 Während es also vom Menschen zu Gott, wegen des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen ihnen, keine Ableitung, keine Entwicklung (nischtalschel) geben kann, ist dies im Verhältnis von Mineral und Mensch eben doch anders. Denkbar ist in dieser Leiter der Entwicklungen allenfalls noch, dass es über dem Menschen Wesen wie Engel und Dämonen gibt, die – und das klingt dann doch wieder etwas verwirrend – zwischen der Gottheit und den Menschen stehen. Alles in allem aber vertritt Schnaber-Levison hier ein Evolutionsmodell vom Mineral bis hinauf zum Menschen, was man ohne Zweifel als eine proto-darwinistische Form der Evolutionslehre bezeichnen darf. Doch wie steht es nun um die Seele des Menschen, wo ist ihr Ort im Rahmen dieser Vorstellung?
6.
Der Mensch
6.1
Der Mensch und seine Seele
Im voranstehenden Abschnitt wurde der Mensch als die Spitze der Evolutionshierarchie gezeichnet. Es stellt sich nunmehr die Frage, wie die menschliche Seele in diese Hierarchie einzuordnen ist. In seiner Schrift über die Tora und die Wissenschaft gibt Schnaber-Levison eine kurze und prägnante Definition des Menschen: »Er ist zusammengesetzt aus Natur und Vernunft«.1247 In welchem Verhältnis stehen nun diese beiden Teile des Menschen zueinander? Am Ende eines Kapitels über die Unsterblichkeit der Seele, in welchem sich SchnaberLevison auf Sokrates und Moses Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele beruft, resümiert Schnaber: »Darum ist die Kraft, mit welcher der Mensch denkt, die seine Seele ist, sein Teil von oben, mit welcher er in seinen Gedanken über alle intelligiblen Dinge und Begriffe schreitet. […] Diese Kraft ist nur eine und nicht aus vielen Kräften zusammengesetzt, sie ist eine einzige intellektuelle Kraft. […], in
1246 Jesod ha-Tora, S. 93a-b. 1247 Ma’amar ha-Tora, S. 2.
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welche Gott seit dem Tage, an welchem er sie erschaffen hat, all diese Dinge hineinlegte. Sie ist einzig und nicht aus vielen verschiedenen Teilen zusammengesetzt. […] Also stimmen wir zu, dass die Seele eine einzige Kraft ist. Und schon ist ja im dritten [der oben genannten] Sätze erklärt, dass keine einzige Kraft und kein Ding, das Gott erschaffen hat, wirklich vernichtet würde. Es ist vielmehr nur so, dass die einzelnen Teile der Dinge ihre Lage verändern, während deren Wesen beständig ist, so lange wie die Welt bestehen bleibt. Demnach bleibt auch die Seele, die ja eine einzige Kraft ist auf ewig in ihrem Sein erhalten.«1248 Die menschliche Seele ist demnach eine der von Gott geschaffenen Kräfte, von denen oben schon die Rede war. Sie sind es, die Kräfte, welche Gott geschaffen hat und aus denen sich dann die wirklichen Dinge entwickeln. Diese Kräfte bewirken das Entstehen und Vergehen in der Welt, während sie selbst stets erhalten bleiben. Dies entspricht dem Satz von der Erhaltung der Energie. Die Unsterblichkeit der Seele ist darum keine Besonderheit im Rahmen der Schöpfung, sondern sie ist ein Teil des von Gott selbst geschaffenen Kräfteensembles und dessen Ordnung und bleibt auf ewig bestehen, oder zumindest so lange es dem Willen des Schöpfers entspricht.1249 So lange die Seele allerdings mit dem Körper verbunden ist und ihre Wahrnehmungen durch die fünf Sinne empfängt, hat sie auch an den Widerfahrnissen und Kräften des Körpers teil, was aber nicht zu der Irrmeinung verführen darf, als entspräche die Seele in ihrem Wesen dem Körper. So lange sie im Körper verharrt, ist sie es auch, die den Menschen zum dauernden Streben nach mehr, in allen Lebensbereichen, antreibt. Aber ihr eigenes Ziel, möglichst viel von der Weisheit Gottes zu erfahren, erreicht sie erst nach ihrer Trennung von der Materie beim Tod des Menschen.1250 Die Frage, ob die Seele ihr Wissen schon mitbringt, wenn sie sich mit dem Körper verbindet, wie dies von Plato vertreten wird, oder dies erst mittels der Sinneswahrnehmung erlernt, entscheidet Schnaber-Levison mit Plato, auch mit dem richtigen Verweis auf die entsprechende Meinung der antiken Rabbinen.1251 Allerdings ist der Prozess der Wiedererinnerung des Wissens an die Sinneswahrnehmung gebunden, solange die Seele mit der Materie verbunden ist. Schnaber verweist für die Richtigkeit dieser platonischen Annahme auf die dank der mo-
1248 Jesod ha-Tora, S. 80a-b; zum Phädon Mendelssohns s. Thom, S. 251, 258f.; und unten Kap. III, 3. 1249 Jesod ha-Tora, S. 86ª, 82b. 1250 Jesod ha-Tora, S. 75b, 76b-77a. 1251 Zur Platonischen Anamnesis (Wiedererinnerungs)-Lehre der Rabbinen s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 266.
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dernen Mikroskope gewonnene Einsicht, dass sowohl die Samen der Pflanzen und ebenso wohl auch die fischähnlichen menschlichen Samen die spätere Pflanze oder den Menschen in Mikroform schon in sich tragen. Die menschliche Seele wäre demnach den Samen von Pflanzen und Menschen oder Tieren zu vergleichen, die das später zu Entfaltende schon von vorneherein in sich trägt.1252 Die Position Schnabers ist demnach eine Verbindung von Platonismus und Empirismus.
6.2
Die Auferstehung der Toten
Nachdem Schnaber-Levison sich schon für die Unsterblichkeit der Seele ausgesprochen hat, brauchte er sich eigentlich nicht mehr um die Frage der Totenauferstehung kümmern. Und es geht ihm hier wie Maimonides, der das menschliche Glück in der Unsterblichkeit der Seele sieht und sich dennoch genötigt fühlt, die traditionelle Lehre von der Auferstehung weiterzutragen und sich dafür auf eine große Fülle von Zitaten aus der Tradition beruft.1253 Die Auferstehung, so meint Schnaber, müsse erfolgen, damit die Seelen dereinst wieder gute Taten vollbringen können, was ja ohne Körper nicht möglich ist. Dafür wird es allerdings eines Führers bedürfen, der die wieder beleibten Seelen dann auf den richtigen Weg lenkt. Dies wird der Messias sein. Dieses so traditionelle Bild von Messias und Auferstehung wird dann aber in einer für Schnabers Denken typischen Weise erläutert und plausibel gemacht, die zugleich Zweifel am wörtlichen Verständnis der traditionellen Topoi aufkommen lässt. Schnaber vergleicht da den Vorgang der Auferstehung wieder mit einem Vorgang aus der Naturkunde, nämlich mit der Entwicklung Seidenraupe. Dieses so hässliche, verachtete und allen Vögeln zum Raub ausgelieferte, auf dem Bauch kriechende, Wesen puppt sich eines Tages in einen Seiden-Kokon ein, um nach ungefähr einem Monat als gänzlich neues Wesen hervorzukommen: Als wunderbarer Schmetterling, der nun Flügel hat wie alle Vögel und am Himmel fliegen kann und sich vom Honig der Pflanzen ernährt. »Und das Geschehen mit dieser Raupe ist gleich dem der Auferstehung, was wir nicht glauben würden, hätten wir es nicht gesehen«:1254 »Aber unsere Augen haben es gesehen, dass ihr Tod der Anfang ihrer Veränderung ist, an deren Ende sie zu etwas Besserem geworden ist als zuvor. Und daraus kannst du auf den Tod des Menschen folgern, dass er sehr gut ist,
1252 Jesod ha-Tora, S. 95b-98a. 1253 Zu Maimonides s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471ff.; Jesod ha-Tora, S. 98–99b. 1254 Jesod ha-Tora, S. 100a.
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nämlich als der Anfang seiner Auferstehung, wie der Glaube das überliefert.«1255 Tod und Auferstehung sind die Wirkungen der ewigen von Gott in die Natur gesenkten Kräfte. Damit ist die Auferstehung, im Gegensatz zur Auffassung von Maimonides, nicht ein mit dem Verstand unbegreifliches Wunder, sondern hier wird sie als ein natürlicher Prozess gesehen, der in der Natur auch anderwärts zu beobachten ist.
7.
Gott
Wie nicht anders zu erwarten, ist das Wissen – nicht der Glaube – um die Existenz Gottes für Schnaber-Levison die Grundlage für alles weitere Wissen.1256 Er führt seine Leser darum auch in die ihm aus der Literatur bekannten Gottesbeweise ein, zwei kosmologische, den ersten von der Existenz und der ständigen Veränderung der Welt durch Bewegung, und den zweiten, von der Existenz und Veränderung des Menschen. Der dritte Beweis, der ontologische, den Schnaber auf Descartes zurückführt, argumentiert vom Denken aus, das sich alle möglichen Vollkommenheiten vorstellen kann, und die, sofern sie nicht widerlegbar sind, auch existieren müssen, dafür aber einen Träger brauchen, welcher Gott ist. Allerdings bezweifelt Schnaber, dass dieser dritte Beweis ohne die Sinneswahrnehmung, rein intellektuell, zu führen sei, denn nach seiner Auffassung gibt es keine menschliche Erkenntnis, die nicht auf der Sinneswahrnehmung aufbaut.1257 Wie immer dem auch sei, entscheidend ist, dass für Schnaber Gott natürlich die erste Ursache, die Ursache aller Ursachen ist, allerdings nicht im Zuge einer notwendigen Ursachenkette, sondern dank eines willentlichen Schöpfungsaktes. Bei diesem Schöpfungsakt hat Gott alle in der Welt wirkenden Kräfte und deren Ordnung erschaffen, alle Ursachen und Wirkungen zugleich, »im ersten Samen pflanzte Gott sogleich alle Samen ein, die unsere Augen in Ewigkeit sehen.«1258 Die Ursachen, die in der Welt wirken sind demnach die körpereigenen Kräfte wie auch die nichtkörperlichen intellektuellen Kräfte wie zum Beispiel die Seele. Gott als die erste Ursache ist für Schnaber »der absolut vollkommene Intellekt«, den er aber nicht wie die Rabbinen mit der menschlichen Seele im Körper verglichen haben will:
1255 Ebd. 1256 Jesod ha-Tora, S. 17a. 1257 Jesod ha-Tora, S. 17a-20a; und vgl., S. 20ª. 1258 Jesod ha-Tora, S. 87a.
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»Schon wurde [oben] der zwingende Nachweis für die Existenz eines vollkommenen Intellekts erbracht, aus dem sich die nicht vollkommenen Intellekte ableiten (nischtalschelu, herabketten). Wir können auch nicht sagen, dass Gott, Er sei gesegnet, zur Welt sich verhält wie die Seele zum Körper. Denn die Seele befindet sich nicht immer im Körper und ist auch nicht dessen Ursache, sondern ist nur mit ihm verbunden. Jedoch Gott, E.s.g, ist die Ursache der Welt und der intelligiblen Wesen und seine Existenz, E.s.g., muss mit ihnen sein solange sie existieren. Daraus folgt, dass Gott, E.s.g., schon vor der Existenz der Welt existierte und dass er keinerlei Verbindung mit der Wirklichkeit hat.«1259 Die Terminologie Schnabers schwankt offenbar. Er will zum einen sagen, dass Gott die dauernde erste Ursache der Welt ist, und dass zwischen ihm und dieser Welt keine notwendige, sondern nur eine willentliche Verbindung besteht. Man sieht hier den Nachhall der mittelalterlichen Problematik, die gleichfalls diese Quadratur des Kreises versuchte, zwischen ursächlichem Konnex und doch nicht notwendigem oder gar substantiellem Zusammenhang zwischen Gott und Welt. Für die hinter all diesem stehende mittelalterliche Problematik, wie der Eine die Vielen und der Geist die Körper verursachen könne,1260 gibt Schnaber eine ihm plausibel erscheinende Erklärung vom menschlichen Denken her, das sich ja ebenfalls viele Körper vorstellen könne, um dann unterschiedlich geformte Körper herstellen zu können. »So war es auch dem vollkommenen einfachen Intellekt, das ist Gott, E.s.g., möglich, die gesamte Wirklichkeit vorzustellen, um dann zu befehlen, dass sie alle erschaffen wurden.«1261 Im übrigen will sich Schnaber-Levison nicht weiter auf solche Fragen einlassen, mit dem Hinweis: »Es soll uns genügen, dass uns durch Beweise und durch die Tora bekannt ist, dass die Welt erschaffen wurde und nicht ewig ist. […] Das ganze gleicht in meinen Augen der Wirklichkeit der Anziehungskraft des Magneten, welcher das Eisen anzieht, und dergleichen mehr in der Wirklichkeit. Keiner wird deren Wirklichkeit und Wirksamkeit bestreiten, wenn ihm auch die Ursache und die Weise ihrer Wirkung unbekannt ist.1262 Die konservative Seite von Schnaber zeigt sich noch daran, dass er wider Maimonides und alle mittelalterlichen Philosophen keinen Anstand daran nimmt, Gott mit Attributen zu belegen, allerdings meint er damit Attribute von Tugen1259 Jesod ha-Tora, S. 31b. 1260 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 410–414. 1261 Jesod ha-Tora, S. 32a. 1262 Ebd.
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den, wie Barmherzigkeit und dergleichen. Nur muss man ihm diese Attribute in der höchsten Vollkommenheit zuschreiben, womit sie per definitionem von entsprechenden menschlichen Tugenden abgehoben und mit ihnen unvergleichbar sind.1263 Ja auch vor körperlichen Attributen wie Auge, Hand und ähnlichen schreckt er nicht zurück, da sie, wie er meint, nur metaphorisch zu verstehen sind.1264
8.
Wahrheit und Glaube
8.1
Die Wahrheit
Es sind diese beiden hier in der ersten Überschrift genannten Begriffe, ’Emet (Wahrheit) und ’Emuna (Glaube), die Schnaber-Levison in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln behandelt und als Opposition einander gegenüberstellt.1265 Dabei hat der Begriff »Glaube« in dieser Gegenüberstellung zur »Wahrheit« eher die Bedeutung von »Glaubensinhalt«, also das, was geglaubt wird, und bezeichnet weniger den actus des Glaubens. Schnaber-Levisons Ziel ist es zunächst, den grundsätzlichen Unterschied von Wahrheit und Glauben darzustellen, um sie dann in einem zweiten Anlauf dialektisch miteinander zu verbinden. Das Verhältnis von Glaubenswahrheit und Vernunftwahrheit ist im Judentum seit dem Mittelalter ein stetes Thema und wurde in der Neuzeit als Lehre von der »doppelten« Wahrheit1266 neu und alternativ diskutiert. Der neuerliche Anlauf von Schnaber-Levison ist vor allem darin begründet, dass er als Arzt und Naturwissenschaftler die Frage nach der Empirie und dem nachweisenden Experiment der neuen Naturwissenschaften mit besonderem Nachdruck behandelt und mit ihnen die Frage nach der »Wahrheit« verbindet. Für das jüdische Mittelalter wurde die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben mit der damals revolutionären Grundsatzerklärung von Sa‘aja Ga’on eröffnet: »Die Quelle jeglichen Wissens und der Brunn aller Erkenntnis [...] sind drei: Das erste ist die Sinneswahrnehmung, das zweite ist die Erkenntnis mittels der Vernunft und das dritte ist die Erkenntnis aufgrund einer notwendigen Schlussfolgerung […].
1263 Jesod ha-Tora, S. 35b. 1264 Jesod ha-Tora, S. 40a. 1265 Jesod ha-Tora, S. 11a-17a. 1266 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, III, B, 5; zum Mittelalter s. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362ff.
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Wir aber, die Monotheisten, bestätigen diese drei Wege zur Erkenntnis, fügen ihnen aber noch eine vierte hinzu, die wir mittels jener drei lernten, und sie wurde uns zum Fundament, nämlich die wohlbegründete wahre Tradition, denn sie ist errichtet auf der Sinneswahrnehmung und auf der Vernunfterkenntnis [und der notwendigen Schlussfolgerung].«1267 Für Sa‘adja, wie für die nachfolgenden Denker des Mittelalters wurde die Erkenntnis der Religion, das ist hier die Tradition, auf die drei »wissenschaftlichen« Erkenntniswege gegründet. Das bedeutet, die Erkenntnis der Tradition ruht laut ihm auf denselben Erkenntniswegen wie die wissenschaftliche Erkenntnis auf. Die Wahrheit der Tradition und der Wissenschaft sind demnach letztlich gleich. Diese Identifikation von Sinnes- und Vernunfterkenntnis mit der religiösen Erkenntnis war, wie oben schon deutlich geworden war, bei vielen jüdischen Denkern der Neuzeit in Frage gestellt worden, weshalb sie von einer doppelten Wahrheit oder zwei beziehungsweise drei Wahrheiten sprechen konnten. Schnaber schaltet sich in diese Diskussion ein und stellt dabei die erstaunliche Opposition auf von »Wahrheit«, welche er der Sinnes- und Vernunfterkenntnis zuordnet und »Glaubenswissen«, das dem Zeugnis und der Erzählung von vertrauenswürdigen Tradenten und Zeugen zugehört, und methodisch streng von der »Wahrheit« zu unterscheiden sei. Die Wahrheit definiert Schnaber im Sinne von John Locke zunächst so: »Wir sagen über etwas, dass es die Wahrheit sei, wenn es etwas ist, das sich so außerhalb unserer selbst findet, eben gerade so wie wir uns die Sache in unserem Denken vorstellen, und dass alle Wirkungen die wir von der Sache kennen, tatsächlich so außerhalb unseres Denkens sind.«1268 Mit anderen Worten, die Wahrheit besteht dann, wenn unsere Vorstellung und die externe Wirklichkeit miteinander übereinstimmen. Entscheidend für Schnaber ist hierbei allerdings, dass die in unserem Denken befindlichen Dinge stets durch die Sinneswahrnehmung verursacht und gebildet sein müssen und zwar am besten durch alle Sinne zusammengenommen. Wenn man etwa das Wiehern eines Pferdes hört, soll man aus dem Hören alleine noch nicht schließen, dass da wirklich ein Pferd ist, es könnte ja ein ähnlich schreiendes Wesen sein. Erst
1267 Sa’adja Ga’on, Sefer ’Emunot we-De‘ot, Kafih, S. 14f.; Fürst, S. 21ff.; vgl. Neumark, Sa‘adyas Philosophy, S. 168. 1268 Jesod ha-Tora, S. 11a; zu Locke sagt Röd: »Die zentrale Frage der Lockeschen Erkenntnistheorie betrifft die ›Realität‹ von Vorstellungen. Eine Vorstellung heißt ›real‹, wenn ihr ein denkunabhängiger Gegenstand entspricht und sie mit diesem übereinstimmt.«, Röd, Der Weg der Philosophie, S. 64.
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wenn weitere Sinne, wie das Auge oder der Tastsinn, das Gehörte bestätigen, kann der Verstand sein Urteil fällen: Hier ist ein Pferd. Die Sinne sind allezeit verlässliche Zeugen. Wenn es bei der Sinneswahrnehmung zu Fehlschlüssen kommt, so ist daran allerdings nicht das Sinnesorgan, sondern der schlussfolgernde Verstand schuld. Etwa wenn man aus der Anschauung der Sonne am Himmel schließt, diese sei kleiner als die Erde. Das Auge hat schon richtig gesehen, nur muss eben der Verstand wissen, dass die fernen Gegenstände kleiner erscheinen als sie in Wirklichkeit sind, und dass eine kleine Sonne nicht der Erde und dem Mond etc. Licht spenden könnte. Erst diese Schlussfolgerungen beurteilen die Sinneseindrücke richtig und führen dann zur Wahrheit. Dabei ist noch anzumerken, dass der Verstand seine Maßstäbe, die Ideen von den Dingen, wiederum nur aus der Erfahrung mit den Sinneseindrücken kennt. Also ist es die Erfahrung, gegebenenfalls auch das wissenschaftliche Experiment, welche das Urteil über wahr oder falsch fällt. Alles was denkbar ist und ohne Widerspruch denkbar ist, ist noch kein Garant für die Wahrheit, beziehungsweise für die Wahrheit der wirklichen Existenz einer Sache. Das Gedachte muss erst durch die Sinne, durch ein Experiment, bestätigt werden. Die Wahrheit kann und muss bewiesen werden. »Denn wir haben nichts anderes, um die Wahrheit zu erkennen, außer der Prüfung durch alle Sinne zusammengenommen. Denn das Urteil des Verstandes, solange er noch im Fleische weilt, hat seinen Grund in der Erkenntnis der Sinne.«1269 Man nehme zum Beispiel Sätze wie »ein Mensch, der spricht ist lebendig«. Dies ist darum ein wahrer Satz, weil ihm nicht widersprochen werden kann und weil er durch die Sinneswahrnehmung bestätigt ist: »denn es gibt keinen, der dem widerspräche, was die Zusammengehörigkeit von Leben und Sprechen betrifft. Denn seit man Sinne hat, hat man stets diese beiden Dinge zusammengehörig gesehen.«1270 Auf diese Weise gewonnene »wahre Sätze« sind für immer wahr, denn die Wahrheit ist von der Zeit unabhängig. Die Wahrheit »fällt nicht unter die Zeit, die Zeit verändert sie in Ewigkeit nicht. Denn was für die Vernunft Wahrheit ist, war so seit Ewigkeit und wird in Ewigkeit so bleiben. […] Und alle Urteile der Vernunft, in denen es heute keinen Widerspruch gibt, können auch morgen nicht widersprüchlich sein.«1271 Allerdings gilt es hier einen wichtigen Grundsatz zu beachten, welcher im Zentrum des Wahrheitsbegriffes von Schnaber steht, und ihn grundsätzlich vom Mittelalter unterscheidet, nämlich dass man mit Hilfe der Vernunft alleine noch nicht in jedem Falle zur sicheren Wahrheit gelangt. Denn man kann zum Beispiel sagen, ›der Mensch lebt‹ und ›der Mensch ist tot‹, worin logisch ein Widerspruch besteht, was mithin nicht wahr sein könnte. Aber in Wirklichkeit sind 1269 Jesod ha-Tora, S. 11b. 1270 Ebd. 1271 Jesod ha-Tora, S. 12a.
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solche Sätze auch wahr, sofern man den Zeitfaktor einbezieht. Zu einem gewissen Zeitpunkt kann der Mensch tot sein, zu einem anderen jedoch leben. Dies beweist ein weiteres Mal, dass die Vernunft ohne die Basis der Sinneswahrnehmung zur Wahrheitsfindung noch nicht ausreicht. Um bei solchen reinen »Vernunftsätzen« zur Wahrheit zu gelangen, muss unbedingt mit Hilfe der Sinneswahrnehmung ein Experiment gemacht, oder verlässliche Zeugen befragt werden, welche die Existenz des toten oder lebenden Menschen, sprich die Wahrheit der Aussage, erweisen oder falsifizieren müssen. Das Resümee der ganzen Überlegungen ist darum: »Demnach ist die Quelle für das Urteil des Verstandes über Wahrheit oder Lüge die Erkenntnis der Sinne. Und von dem, was durch sie bestätigt wird, beurteilt er die anderen Dinge, die er nicht sehen kann, ob sie wahr sind oder nicht. Also gibt es überhaupt nichts, das der Verstand in diesem Leben beurteilen und erkennen kann, was ihm nicht durch die Sinne zugekommen ist (außer im Falle der Prophetie).«1272 Die Feststellung der Wahrheit in dieser Welt ist demnach immer auf die Sinneswahrnehmung angewiesen, dies gilt folglich auch für die Sätze, deren Inhalt nicht dem Zeitfaktor unterliegt. Damit hat für den Wahrheitsbegriff die Falsifizierbarkeit und die Nachweisbarkeit grundlegende Bedeutung, und sie ist immer auf das Zeugnis und die Erfahrung der Sinneswahrnehmung gestützt und angewiesen. Und wo immer etwas mit den genannten Mitteln beweisbar ist, muss und kann man von Wahrheit sprechen. Unter diesen Begriff von Wahrheit fällt aus dem Bereich der »Religion« nur die Aussage von der Existenz Gottes, die auf den Gottesbeweisen aufruht. Alles übrige aus dem Bereich der Religion, mithin auch die biblischen und rabbinischen Gebote, gehört dem »Glauben« zu.
8.2
Der Glaube
Um seine Unterscheidung zwischen »Wahrheit« und »Glauben« begründen zu können, greift Schnaber zu einer originellen Beobachtung und Schlussfolgerung anhand des biblischen Hebräisch: »Meines Erachtens gibt es einen Unterschied zwischen dem Wort ’Emet (Wahrheit) und dem Wort ’Emuna (Glaube). Das Wort ’Emet ist ein Nomen, aus dem in der heiligen Sprache kein Verbum (Zeitwort) gebildet werden kann, weil eben die Wahrheit (’Emet) nicht der Zeit unterliegt und sich nicht
1272 Jesod ha-Tora, S. 12b; zur Prophetie s. weiter unten.
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Der naturwissenschaftliche Ansatz – Schnaber-Levison
verändert. Was jetzt wahr ist, war seit Ewigkeit wahr und wird dies in Ewigkeit sein. […] Das Wort ’Emuna hingegen bildet in der heiligen Sprache ein Verbum (Zeitwort), wovon es viele in der Bibel gibt. Wie ne’eman, (vertrauenswürdig), he’emin (er glaubte, vertraute), ta’amin (du wirst glauben, vertrauen), ta’aminu (ihr werdet glauben vertrauen) und so weiter, denn es kann geschehen, dass der Glaube sich auf Dinge richtet, die sich verändern, so dass der Glaube unter die Zeit fällt. Zuweilen glauben wir heute etwas, das wir gestern nicht glaubten und morgen nicht mehr glauben werden.«1273 Der Glaube ist demnach hinsichtlich des Glaubensaktes und dessen Subjekt Änderungen unterworfen wie auch hinsichtlich der Glaubensgegenstände. Damit stehen die Glaubensgegenstände im diametralen Gegensatz zur »Wahrheit«, die unveränderlich ist. Hinzu kommt, dass die Gegenstände des Glaubens nicht auf Beweise gestützt werden – denn dann wären sie Wahrheit. Vielmehr stützt sich der Glaube auf das vertrauenswürdige Zeugnis glaubenswürdiger Personen, so zum Beispiel der Glaubenssatz, dass Gott Israel aus allen Völkern erwählt hat und ihnen Wunder tat. Was demgegenüber logisch ist und empirisch erwiesene Wahrheit, ist nicht Glaube.1274 »Und alle Dinge denen die Behauptung ihrer Existenz oder Nichtexistenz keinen Widerspruch bedeutet, wie etwa die von den Geschichtsbüchern erzählten Begebenheiten, die vergangen sind, von denen weder die Existenz noch die Nichtexistenz bewiesen wird, sie nennt man Glauben[swissen] und nicht Wahrheit.«1275 Mit diesen Feststellungen ist die mittelalterliche Identität von Vernunfterkenntnis und Glaubenswissen zurückgewiesen. Beide gehören verschiedenen Kategorien an. Das eine sind ewige, nachweisbare Wahrheiten, das andere veränderliche Geschehnisse, die man glauben kann oder auch nicht. Mit diesen Feststellungen hat Schnaber-Levison für die Befassung mit den Naturwissenschaften eine Lanze gebrochen und ihre Unbedenklichkeit gegenüber dem Glauben attestiert. Denn der Gegenstand der Wissenschaften unterliegt der prüfenden und beweisenden Forschung, während der Glaube keine Beweise braucht, sondern verlässliche Zeugen. Der Glaube ist eine »Tugend« des Menschen, welche sich auf die die verändernden Umstände des Lebens einstellen kann. Der Glaube glaubt Dinge, die jenseits der Vernunft und des Beweisverfahrens liegen.1276 Glaube und wissenschaftliche Wahrheit betreffen unterschiedliche Gegenstände und stützen sich auf unterschiedliche Erwerbsweisen. Die entscheidende Schlussfolgerung Schnabers aus dieser Gegenüberstellung von Wahrheit und 1273 Jesod ha-Tora, S. 13a. 1274 Ebd. 1275 Ebd. 1276 Jesod ha-Tora, S. 13b.
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Glaube ist nun jedoch, dass der Glaube das Fundament der Religion ist, nicht das Wissen einer beweisbaren Wahrheit – außer jener einzigen von der Existenz Gottes.1277 Nach alledem, nach dem Bemühen, Wissenschaft und Glauben nicht als Feinde erscheinen zu lassen und eine klare Trennlinie zwischen ihnen einzuziehen, fügt Schnaber einige dialektische Verbindungsglieder zwischen beiden ein: Das erste ist, dass man als frommer Mensch nicht alles glauben muss wie ein Tor, sondern durchaus aufgefordert ist, das, was man hört, zu prüfen, soweit eben die Vernunft reicht, damit man weiß, was man wissen kann und wo der Glaube beginnt.1278 Dadurch erkennt der Mensch zugleich die Grenzen seiner Vernunft. Und dies ist wichtig und eine von jedem Menschen zu fordernde Tugend. Das bedeutet, der Glaube ist zugleich ein Bekenntnis zu der Einsicht in die Grenzen der menschlichen Vernunft. Das zweite ist, dass auch die Erziehung und Entwicklung der menschlichen Vernunft und die Bildung wissenschaftlicher Erkenntnis und Forschung auf den Glauben angewiesen ist, weil der Mensch, bevor er selbst kritisch prüfen kann, das von seinem Lehrer Gelehrte zunächst im Vertrauen annehmen, und ihm glauben muss. Ohne Glauben gibt es keine Erziehung und keine Wissenschaft, weil man doch nicht alles und schon zu jedem Zeitpunkt selber prüfen kann. Dies ist eine Tatsache, welche die Vernunft selbst bestätigt.1279 Glaube und Wahrheitserkenntnis sind darum, so kategorial verschieden sie auch sein mögen, pragmatisch miteinander verbunden. Auch diese Verbindung der beiden unterschiedlichen Kategorien ist eine Entlehnung aus der Philosophie von Locke.1280
9.
Die Prophetie
Der Paradigmenwechsel zwischen dem jüdisch-philosophischen Zeitalter des Mittelalters und der Neuzeit eines Schnaber-Levison wird noch ein weiteres Mal in der Beurteilung der Prophetie deutlich. Moses Maimonides (1135–1205) und Levi ben Gerschon (1288–1344),1281 die Schnaber in diesem Zusammenhang eigens nennt, wollten die »Prophetie der Vernunft annähern«.1282 Demgegenüber weist Schnaber eine solche Deutung der Prophetie, dass sie nur die höchste Form
1277 Jesod ha-Tora, S. 14b. 1278 Jesod ha-Tora, S. 13b. 1279 Jesod ha-Tora, S. 15a; und vgl. S. 55a-b. 1280 S. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery, S. 354. 1281 In seinem Buch Milchamot ha-Schem, z. B. Ausgabe Berlin 1923. 1282 Jesod ha-Tora, S. 49a.
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der intellektuellen Erkenntnis sei, zurück, und widerspricht damit den beiden mittelalterlichen Philosophen.1283 Darum sagt er: »Nach meiner Meinung haben wir nicht die Macht das Wesen der Prophetie zu erkennen […] denn die Prophetie ist etwas, das über der menschlichen Vernunft steht. Und es gibt keinerlei Vorbereitung, sie auszulösen, wie Maimonides glaubt. […] Die Prophetie ist in meinen Augen etwas wie die Sinneswahrnehmung, das heißt, so wie sich uns die sinnlich wahrnehmbaren Dinge dank der Sinnesorgane zeigen, und diese sie wahrnehmen. So zeigen sich in der Prophetie der Seele oder der Vernunft die intelligiblen, hohen und feinen, Dinge, wie auch die Form der Dinge, die durch die natürliche Veränderung entstehen, ohne dass sie einen Beweis dafür brauchen.«1284 Die Prophetie ist demnach, entsprechend dem erwähnten Vorgang bei Locke, eine intuitive und spontane Erkenntnis, die nicht der Sinneswahrnehmung und der Schlussfolgerung durch die Vernunft bedarf – wie bei der Erkenntnis der Wahrheit, noch auch des Zeugnisses verlässlicher Menschen – wie im Falle der Glaubenserkenntnis. Allerdings will sich Schnaber-Levison nicht eigentlich auf eine derartige Definition der Prophetie einlassen, entscheidend für ihn ist vielmehr die Tatsache der Existenz der Prophetie, die man ansonsten mit der Vernunft nicht erklären kann, sie ist alleine Glaubenssache. Und dafür bringt er sogar eine Art empirischen Beweis und sagt: »Wenn es die Prophetie nicht tatsächlich gegeben hätte, wäre es bestimmt nie einem Menschen eingefallen zu sagen, er sei ein Prophet.«1285 Die Prophetie kommt plötzlich und zeitlos, aber in der Zeit, und mit bildlosen Bildern, was sich der Prophet selbst nicht erklären kann, wofür er keine Ursache benennen kann.1286 Damit nähert sich Schnaber deutlich der altbiblischen Auffassung von der Prophetie als einem Ereignis, das den Menschen wider Erwarten überfällt. Allerdings, so glaubt Schnaber, wird die Wahrheit der Prophetie nicht aus ihr selbst evident, vielmehr ist diese alleine von der Anerkennung der Wahrheit der Tora her zu beglaubigen. Wo die Wahrheit der Tora beglaubigt wird, ist die Wahrheit der Prophetie ebenfalls gegeben. Für die Beglaubigung der Tora greift nun Schnaber-Levison zu dem von ihm mehrfach betonten Grundsatz, dass die Erkenntnis jeglicher Wahrheit alleine auf die Sinneswahrnehmung gestützt werden kann. Hinzu kommt die zweite, oben schon genannte Beobachtung, dass auch die Wissenschaft auf dem Wege ihrer Ausbildung und Vervollkommnung 1283 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 268–471. 1284 Jesod ha-Tora, S. 49a. 1285 Ebd. 1286 Jesod ha-Tora, S. 49b.
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des Glaubens bedarf, da nicht jedermann und allezeit und zur nötigen Zeit alles durch die Sinne wahrnehmen kann. Dies sind nun zwei Grundsätze die sich, so Schnaber, zum Erweis der Toraoffenbarung tatsächlich heranziehen lassen. Zurückgreifend auf die Argumentation des mittelalterlichen Philosophen und Philosophie-Kritikers Jehuda Ha-Levi1287 verweist Schnaber auf die »Tatsache«, dass die Toraoffenbarung vor den Augen und Ohren einer großen Volksmenge geschehen sei, welche allesamt zuverlässige Zeugen des Geschehens waren. Sie nun erzählten, was sie wahrgenommen hatten in verlässlicher Weise ihren Nachkommen und diese den ihren und so fort. Damit ist die Wahrheit der Toraoffenbarung, wie es sich für den Wissenschaftsbetrieb gehört, tatsächlich auf die Sinneswahrnehmung gegründet und von zuverlässigen Zeugen überliefert, deren Zeugnis man in einem Maße glauben kann, wie dies auch sonst in der Wissenschaft gebräuchlich ist. Und ein solcher Beweis liegt weit über einem möglichen rein argumentativen Beweisverfahren, welches ja doch wieder auf der Sinneswahrnehmung aufruhen muss.1288
10.
Die Notwendigkeit der Tora und ihrer Gebote
Seinen Darlegungen über die Bedeutung, Aufgabe und Stellung der Tora und ihrer Gebote legt Schnaber-Levison das diesbezügliche Kapitel des Maimonides in seinem More Nevuchim (Führer der Irrenden) zugrunde.1289 Dort erörtert Maimonides zunächst die Notwendigkeit des Vorhandenseins eines Gesetzes für die Menschen, um sodann verschiedene mögliche menschliche Gesetzgeber, Könige und Regierungen, ins Auge zu fassen, bevor er auf das göttliche Gesetz und seine Merkmale zu sprechen kommt. Zur Begründung der Notwendigkeit eines Gesetzes führt Maimonides die individuelle und soziale Natur des Menschen ins Feld. Er sagt: »Es ist erschöpfend bewiesen, daß der Mensch seiner Natur nach politisch und gesellig ist, und nicht wie die übrigen Lebewesen, für welche keine Notwendigkeit besteht, sich zu gesellen. Infolge der Mannigfaltigkeit der Zusammensetzung dieser Art [d.h. des Menschen] – sie ist wie du weißt, die letzte unter den zusammengesetzten Dingen – ist auch der Unterschied zwischen ihren Individuen ein großer, so daß du möglicherweise nicht zwei Personen finden wirst, die in irgendeiner Charaktereigenschaft übereinstimmen
1287 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 595. 1288 Jesod ha-Tora, S. 54b-56b. 1289 Maimonides, More II, Kapitel 40, Weiss II, S. 261–267.
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[…] Die Ursache dieser Erscheinung liegt in der Verschiedenheit ihrer Mischung.«1290 Es ist demnach zum einen die Angewiesenheit des Menschen auf die menschliche Gesellschaft und zum anderen der Faktor, der dieses Zusammenleben fördern aber noch mehr auch stören kann, nämlich die menschlichen Unterschiede, die zwangsläufig zu Differenzen führen und folglich durch gesetzliche Regelungen ausgeglichen werden müssen. Das Ziel der gesetzlichen Regelungen, die von menschlichen Autoritäten erlassen werden, ist darum, so Maimonides weiter, »die Ordnung des Staates und seiner Verhältnisse […] nämlich Unrecht und Gewalttätigkeit von ihm fernzuhalten.«1291 Zu weltanschaulichen Fragen pflegt ein solches menschliches Gesetz nichts zu sagen. Dies ist allerdings anders bei einem göttlichen Gesetz, denn: »Findest du aber ein Gesetz, dessen sämtliche Vorschriften philosophisch durchdacht sind und alles enthalten, was jemals an vortrefflichen leiblichen Zuständen und auch an Vortrefflichkeit des Glaubens bestanden hat, und welches dahin zielt, wahre Ansichten über Gott und die Engel zu verschaffen, und welches die Menschen weise und verständig zu machen strebt, und sie anregen will, das ganze Seiende nach seiner wahren Beschaffenheit zu erkennen, dann wirst du wissen, daß ein solches Gesetz von Gott herrührt und eine solche Lehre göttlich ist.«1292 Das göttliche Gesetz bietet laut Maimonides neben gesellschaftlichen Regulatorien demnach auch philosophische Leitsätze. Und was dem Menschen angesichts eines solchen Gesetzes nur noch zu tun bleibt, ist zu prüfen, ob das Gesetz aus der Hand eines wirklichen Propheten überkommen ist, der den Anspruch des prophetischen Amtes wirklich verdient. Da nun die Menschen immer solcher Gesetze bedürftig sind, hat Gott schon dem Adam, dem Noah und Abraham Gesetze gegeben, wie dies Maimonides in seinem Werk Mischne Tora sagt,1293 was Schnaber eigens zitiert. Das Ganze der maimonidischen Darlegungen fasst nun Schnaber dahingehend zusammen, dass das menschliche Verhalten gemäß seiner Natur nicht dazu geeignet ist, für einen ordentlichen Bestand der menschlichen Gesellschaft zu sorgen. So vergessen die Menschen, wenn sie es gelüstet, etwas Böses zu tun, in aller Regel die Konsequenzen, die sich aus ihrem Übeltun ergeben werden. Wor1290 Maimonides, More II, 40, Weiss II, S. 261f. 1291 Ebd., S. 265. 1292 Ebd., S. 265f. 1293 Hilchot Melachim, 9,1.
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aus zu folgern ist, dass Gott die menschliche Natur eben nicht so geprägt hat, dass sie tauglich wäre, eine geordnete Gesellschaft zu errichten. Vielmehr sieht man ja, dass die Natur der menschlichen Individuen, deren Neid, allerorten zu Spaltungen führt, wovon auch alle Moralbücher und Philosophen berichten, weshalb die Notwendigkeit für ein Gesetz erwiesen ist. Und da der Mensch zugleich aus »Natur« und aus »Seele« besteht, bedurfte es eines Gesetzes, das für beide Bereiche die nötigen Regeln bereithält. Dies alles wurde von der dem Moses am Sinai überlieferten Tora gegeben, der als ein dafür geeigneter und würdiger Mann ausgewiesen war. Nachdem Schnaber soweit den Grundlinien des Maimonides gefolgt ist, fügt er noch eine weitere für ihn bezeichnende Bemerkung an. Zunächst zählt er beispielhaft einige der von der Tora nach seiner Ansicht gebotenen »philosophischen« Lehren an, nämlich die Existenz Gottes und seiner Engel, die Neuschaffung der Welt, Gottes Vorsehung und Macht, die Unsterblichkeit der Seele, Lohn und Strafe. Dann aber folgt eine überraschende Aufforderung: »Und die Tora hat danach deren Erforschung befohlen und das Erbringen von Beweisen für sie.«1294 Die Botschaft der Tora ist demnach nicht eine blind zu übernehmende Tradition, sondern ein Gegenstand, den der Mensch erforschen soll. Wie eine solche Erforschung aussehen kann, zeigt Schnaber zum Beispiel an der Sintflutgeschichte. Sie ist durch die neueste Naturforschung nach seiner Auffassung nachdrücklich als wahr erwiesen worden und zwar durch die in der Erde und in Steinen sich findenden Fossilien, die Zeugnis von in einer Flut untergegangenen Lebewesen ablegen.1295 Hierher gehört aber auch zu erkennen, dass nicht alles in Schrift und Tradition wörtlich zu verstehen ist, sondern zuweilen als Gleichnis und Metapher, das heißt dass es angezeigt ist, die Schrift nach dem Verständnis der Wissenschaft auszulegen.1296 Wenn man die Schrift nach dem Verständnis der Wissenschaft auslegt, kann man nicht irren, denn die Regeln der allgemeinen – nicht der oben genannten individuell-menschlichen – Natur, sind die von Gott in sie gegebenen Regeln, nach denen zu handeln niemals Sünde sein kann.1297
1294 Jesod ha-Tora, S. 52a. 1295 Jesod ha-Tora, S. 53a. 1296 Ma’amar ha-Tora, S. 4, 6. 1297 Ma’amar ha-Tora, S. 7.
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Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
III. DER RELIGIONSPOLITISCHE ANSATZ – MOSES MENDELSSOHN (1729–1786) 1.
Biographisches – Konversionsdruck von außen
Moses Mendelssohn (1729–1787) ist im Bewusstsein von Juden wie Nichtjuden, die herausragende Gestalt der jüdischen Aufklärung oder gilt als der Begründer des modernen Judentums, 1298 trotz der durch die neuere Forschung vorgenommenen Einschränkungen. Mendelssohn bleibt, wie dies Dominique Bourel in seiner Mendelssohn-Biographie als Titel seines ersten Kapitels voranstellt Die Mendelssohn-Legende. In diesem ersten Kapitel schildert Bourel die weit gestreute, schon zu Lebenszeiten Mendelssohns einsetzende Legendenbildung, um den »Platon der Deutschen«, den »Berliner Sokrates«, der für viele zur Identifikationsfigur und zum oft missbrauchten Aushängeschild wurde: »Vielfach instrumentalisiert wurde dieser Held, der sich seinen Namen selbst gegeben hatte, Sohn des Mendel, sein Eponym: Als ›deutscher Platon‹ galt er, hieß ›der Freund Lessings‹, ›Herr Moses in Berlin‹, bei Hamann sogar ›Herr Moses, der große jüdische Gelehrte zu Berlin‹ und wurde nicht weniger verehrt als Maimonides. Dennoch blieb sein persönliches Schicksal im Schatten; er ließ sich, wie wir sehen werden, von allen Seiten vereinnahmen, von den streng Orthodoxen bis zu den völlig Assimilierten und, was nicht einfach gewesen sein dürfte, sogar von den Zionisten. Jede Periode der deutschjüdischen Geschichte hat sich ihr eigenes Bild von Mendelssohn geschaffen.«1299 So taugt das Bild Mendelssohns in der jüdischen und christlichen Öffentlichkeit des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts für eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte dieser Zeit. Diese Bilder waren es auch, die einen weiteren Blick trübte und die Einfügung Mendelssohns in den Rahmen der jüdischen Geistesgeschichte hemmte. Moses Mendelssohn, durch seinen Vater und vor allem den Dessauer Oberrabbiner David Fränkel mit einer gediegenen jüdischen und rabbinischen Bildung ausgestattet, folgte nur vierzehnjährig seinem Dessauer Mentor und Lehrer
1298 D. Bourel, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, Zürich 2007; Bourel bietet eine ausführliche Bibliographie der Schriften Mendelssohns und von Sekundärliteratur; zur Biographie s. noch A. Altmann, Moses Mendelssohn, A Biographical Study, Alabama/ London 1973; S. Feiner, Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung, Göttingen 2009. 1299 Bourel, Mendelssohn, S. 23f.
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David Fränkel 1743 nach Berlin, als dieser die dortige Rabbinatsstelle antrat. In Berlin ergriff der junge Mendelssohn die Gelegenheit, mit Hilfe von Lehrern wie dem Arzt Dr. Ahron Gumpertz (1723–1768) die Naturwissenschaften,1300 dem Mathematiker und Philosophen Israel Zamosc (1700–1772), dem Arzt Dr. Abraham Kisch (1725–1803) und vor allem durch unermüdliches Selbststudium sich die klassische europäische Philosophie von der Antike bis in seine Gegenwart zu erarbeiten und die klassischen wie moderne europäische Sprachen zu erlernen. Er tat dies mit so viel Erfolg, dass er im Jahre 1763 vor seinem Mitbewerber Immanuel Kant den ersten Preis der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften für seine Preisschrift mit dem Titel, Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften errang. Die Institution wie auch die als Preisfrage gestellte Aufgabe sind die untrüglichen Zeichen für den außerjüdischen Kontext der ersten bedeutenden eigenständigen schriftstellerischen Arbeit des Vierunddreißigjährigen. Die Frage der Akademie hatte gelautet, »ob die metaphysischen Wahrheiten im Allgemeinen, und im besonderen die ersten Prinzipien der natürlichen Theologie und der Moral, derselben Evidenz fähig sind wie die mathematischen Wahrheiten, und, falls sie deren nicht fähig sind, welches die Natur ihrer Gewißheit ist, bis zu welchem Grad sie gelangen kann, und ob dieser Grad zur Überzeugung genügt.«1301 Auch die zweite Schrift, mit welcher Mendelssohn europaweite Anerkennung gewann, markiert diesen Kontext. Es ist die 1767 erschienene Schrift Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen, in welcher er seine mehrjährige Arbeit an Platos Dialogen, vor allem eben des Phaidon krönte und die ihm die oben schon genannten Ehrentitel eines deutschen Plato oder Sokrates eintrug. Dies hinderte indessen den preußischen König, Friedrich II. (der Große), nicht daran, der 1771 erfolgten Wahl Mendelssohns zum Mitglied der preußischen Akademie die Bestätigung zu versagen.1302 In den genannten beiden Schriften, die in keinerlei Beziehung zu dem von Mendelssohn streng befolgten Judentum standen, ist in Grundzügen schon das formuliert, was man als seine »religiöse Lehre« bezeichnen kann und auch später seiner wichtigsten deutschen Schrift zum Judentum zugrunde lag. Mendelssohns schriftstellerische Hinwendung zum Judentum in deutscher Sprache war, anders
1300 S. oben Kap. II, 3. 1301 Vgl. bei M. Thom (Hg.), Moses Mendelssohn, Schriften über Religion und Aufklärung, Darmstadt 1989, S. 511. Werke zit. als Titel und (Thom). Eine neuere Studienausgabe: Moses Mendelssohn, Ausgewählte Werke, hrsg. von Ch. Schulte, A. Kenneke, G.G. Jurewicz, 2 Bde., Darmstadt 2008. 1302 S. dazu E.J. Engel, Lessing, Mendelssohn, Friedrich II. Das Jahr 1771, in: B. Strauß, Moses Mendelssohn in Potsdam am 30. September 1771, Berlin 1994, S. 53–57.
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als seine hebräischen Publikationen,1303 nicht eigentlich selbst gewählt, sondern ist ihm maßgeblich von einem fanatischen christlichen Theologen aufgezwungen worden. Johann Kaspar Lavater (1741–1801), ein Schweizer Theologe, Dichter und philosophischer Schriftsteller, der Mendelssohn seit einem Treffen in Berlin im Jahre 1763 verehrte, gab im Jahre 1769 eine deutsche Teilübersetzung von Charles Bonnets Schrift Palingénésie, ou Idées sur l’État passé et sur l’État futur des êtres vivants heraus. Der Text erhielt im Deutschen den eindeutigen Titel Herrn Carl Bonnets, verschiedener Akademien Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen. Lavater schickte dieser Ausgabe eine Zueignung an Moses Mendelssohn voraus, in welcher er Bonnets Text »als hervorragende Begründung der Lehre des Christentums« rühmte und Mendelssohn aufforderte »diese Beweise entweder zu widerlegen oder sich zugunsten des Christentums zu entscheiden«.1304 In seinem seine bezeugte Verärgerung weitgehend unterdrückenden diplomatischen Schreiben vom Dezember 1769 wies Mendelssohn diese Aufforderung entschieden von sich und beteuerte seine feste und auch philosophisch wohlbegründete Verankerung in seinem Judentum. Dies tat er nicht ohne den Hinweis auf seine delikate Situation des geduldeten Juden, für den eine offene religiöse Auseinandersetzung nicht ohne Gefahren wäre: »Dies sind die Beweggründe, die mir meine Religion und meine Philosophie an die Hand geben, Religionsstreitigkeiten sorgfältig zu vermeiden. Setzen Sie die häusliche Verfassung hinzu, in welcher ich unter meinen Nebenmenschen lebe, so werden sie mich vollkommen rechtfertigen. Ich bin ein Mitglied eines unterdrückten Volks, das von dem Wohlwollen der herrschenden Nation Schutz und Schirm erflehen muß und solchen nicht allenthalben und nirgend ohne gewisse Einschränkungen erhält. Freiheiten, die jedem anderen Menschenkinde nachgelassen werden, versagen sich meine Glaubensgenossen gerne und sind zufrieden, wenn sie geduldet und geschützt werden. Sie müssen es der Nation, die sie unter erträglichen Bedingungen aufnimmt, für keine geringe Wohltat anrechnen, da ihnen in manchen Staaten sogar der
1303 Er arbeitete an den nur zwei Ausgaben der in den 1750iger Jahren herausgegebenen hebräischen Zeitschrift Kohelet Musar mit; 1761–1762 (Frankfurt/O.) publizierte er einen hebräischen Kommentar (Bi’ur) zu den Millot ha-Higgajon, (Worte zur Logik) von Maimonides, 1770 einen hebräischen Kommentar zu Kohelet (Prediger), die deutsche Übersetzung des Pentateuch (in hebräischen Lettern) mit dem hebräischen Be’ur (Bi’ur, Kommentar) erschien 1780–1783, Die Psalmen, Berlin 1783. 1304 Thom, Moses Mendelssohn, Schriften, S. 514; Bourel, Mendelssohn, S. 288ff.
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Aufenthalt versagt wird. Ist es doch nach den Gesetzen Ihrer Vaterstadt Ihrem beschnittenen Freunde nicht einmal vergönnt, Sie in Zürich zu besuchen!«1305 Nachdem im Jahre 1781 in Österreich Kaiser Joseph II. sein Toleranzedikt zugunsten der Juden erlassen hatte und im selben Jahr das Buch Über die bürgeriche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm erschienen war, fasste Mendelssohn den Mut, sich auch öffentlich für die Sache der Juden einzusetzen und publizierte im April 1782 (Berlin-Stettin) die deutsche Übersetzung des Buches von Manasseh Ben Israel Rettung der Juden1306 mit einer eigenen Vorrede, in welcher er sich nicht nur vor die von einigen Autoren angefochtene Schrift Dohms stellte, sondern mit eigenen Auffassungen die Interessen der unterdrückten Juden verfocht. Zugleich aber kritisierte er Dohm hinsichtlich der Rechte und Aufgaben, welche dieser einer jüdischen »Kirche« in Analogie zu den christlichen zubilligen wollte, nämlich eine disziplinierende Rechtsgewalt, womit Mendelssohn erstmals Gedanken anspricht, die nachher in seinem deutschen Hauptwerk zum Judentum ausführlich aufgegriffen werden sollten. Das für die jüdische Geistesgeschichte wichtigste Werk Mendelssohns, sein Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (Berlin 1783), war eine herausfordernde Reaktion von Seiten eines »wohlmeinenden« christlichen Autors, des Feldpredigers Daniel Mörschel, der als Reaktion auf den Manasseh-Band die Schrift Das Forschen nach Licht und Recht von August Friedrich Cranz (1737– 1801) mit einem eigenen Nachwort als offenem Brief veröffentlichte, allerdings ohne Cranz im Titel zu nennen. Ziel der Cranzschen Schrift war der Aufruf zur Vereinigung von Juden und Christen im Sinne eines aufgeklärten Religionsverständnisses und Mörschel glaubte aufgrund von Mendelssohns ManassehVorwort, dieser sei schon halbwegs auf dem Pfad zum Christentum. Mendelssohns Jerusalem ist als Reaktion auf diesen sich auftürmenden Konversionsdruck und Dohms Vorschläge zur jüdischen »Kirche« zu verstehen. Alleine schon der Titel von Mendelssohns Schrift stemmt sich diesen Anbrandungen trotzig entgegen, wie aus einem längeren Zitat aus Cranzens Text im Jerusalem deutlich wird. Dort sagt Cranz, Mendelssohn anredend: »Vielleicht sind Sie jetzt dem Glauben der Christen näher getreten, indem Sie der Knechtschaft eiserner Kirchenbande sich entreißen und das Freiheitssystem des vernünftigen Gottesdienstes nunmehr selbst lehren, welches das eigentliche Gepräge der christlichen Gottesverehrung ausmacht, nach welchem wir dem Zwange und läs-
1305 Schreiben an Herrn Diakonus Lavater zu Zürich (Thom), S. 319. 1306 Das Original dieser Schrift von Manasseh Ben Israel (1604–1657) war 1656 unter dem Titel Vindiciae Judaeorum in London erschienen; zu ihm s. noch s. H. Méchoulan & G. Nahon, Menasseh Ben Israel. The Hope of Israel, The English Translation by Moses Wall, 1652, Oxford 1987.
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tigen Zeremonien entronnen sind, und den wahren Gottesdienst weder an Samaria noch an Jerusalem binden, sondern das Wesen der Religion darin setzen, daß nach den Worten unseres Lehrers die wahrhaftigen Anbeter Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten.«1307 Mendelssohn nimmt dies auf, um sein Judentum an das vom Christen verworfene Jerusalem zu binden.1308 Der bis hier gezeichnete Gang der Dinge zeigt, dass die deutschen Texte Mendelssohns zum Judentum demnach nicht eigentlich als innerjüdische Diskussion zur Deutung des Judentums zu verstehen sind, sondern als eine Apologetik nach draußen. Dies gilt es im Rahmen dieser Darstellung zu bedenken, die ja das Judentum in seiner inneren Entwicklung vorstellen will. Das Phänomen als solches, dass das Judentum in der Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen der Umwelt sich neu verorten und justieren muss, ist, wie die bisherige Darstellung zeigte, nichts Neues. Dass bei solcher Neubesinnung auf die eigene jüdische Religion die zeitgenössische Philosophie zunächst im Vordergrund steht und gar den Ausgangspunkt der Erörterungen bildet, ist gleichermaßen nicht ganz ungewöhnlich, wenn man etwa ’Avraham Ibn Da’uds ’Emuna rama,1309 oder Leone Ebreos Dialoghi d’amore,1310 Salomo Ibn Gevirols Fons vitae1311 oder die verschiedenen Traktate Jizchak Jisra’elis1312 in Erinnerung ruft. Auch bei Maimonides und Jehuda Ha-Levi ist die zeitgenössische Philosophie stets präsent, so dass es nicht diese Auseinandersetzung ist, welche als eigentliches Novum bei Mendelssohn zu betrachten ist. Der erste klare Unterschied ist jedoch das angesprochene Publikum, das im Mittelalter eindeutig die Juden oder, wie im Falle von Jisra’eli und Ibn Gevirol, wenigstens das philosophisch gebildete Publikum ist, ohne mit dieser Ausrichtung eine kontroverstheologische Intention nach außen zu verfolgen.1313 Nicht so bei Mendelssohns aufgezwungener interreligiöser Polemik und Apologetik, welche hier ihren vordergründigen Ort hat.
1307 Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (Thom), S.404. 1308 Mendelssohn hatte allerdings begonnen, eine Antwort auf Bonnets Palingénésie vorzubereiten, ließ sie dann aber liegen und unpubliziert, s. A. Altmann, Moses Mendelssohn, S. 213; veröffentlicht als »Betrachtungen über Bonnets Palingenesie«, in: Moses Mendelssohnn’s Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik, hrsg. von M. Brasch, Breslau 1892, Bd. 2, S. 561– 602. 1309 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407–430. 1310 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 566–584. 1311 Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 525–552. 1312 Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 502–524. 1313 Hier sind allenfalls die Historia de gli Riti Hebraici Leone Modenas von 1637/8 zu nennen, die sich gleichfalls an ein gebildetes nichtjüdisches Publikum richtete, s. oben Kap. Religionsund Traditionskritik, I, 1.
Haskala – die jüdische Aufklärung
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Erst später, im Jahre 1780, wandte sich Mendelssohn mit der deutschen, in hebräischen Lettern gesetzten, Übersetzung der fünf Bücher der Tora samt einem hebräischen Kommentar, dem viel genannten Bi’ur, nachdrücklich seinen jüdischen Religionsgenossen zu. In dieser Bibelausgabe, die auch äußerlich der traditionellen Form der Rabbinerbibel angepasst ist, wird sein philosophisches Denken in die innerreligiöse Darstellung jüdischer Religion übertragen – ebenso in der unten noch zu nennenden postum erschienenen hebräischen Schrift zur Seele. Wichtig für die Geschichte des jüdischen Denkens ist bei Mendelssohn jedoch der Ausgangspunkt, der in seinem Jerusalem den ersten Teil ausmacht, nämlich das Nachdenken über die Religion selbst. Den älteren jüdischen Denkern der Antike und des Mittelalters war die Religion stets selbstverständliche Voraussetzung als Erbe und Wesensmerkmal des Volkes Israel, allenfalls wurde das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft erörtert, gewöhnlich mit der Behauptung der Übereinstimmung der beiden, wovon allerdings Jehuda Ha-Levi eine dezidierte Ausnahme machte.1314 Spätestens seit Josef ’Albo1315 und dann in der Neuzeit, etwa bei Leone Modena und im Zuge der religionskritischen Debatte bis hin zu Spinoza,1316 wurde die Religion qua menschlicher Erkenntnis- und Kulturform zunehmend Gegenstand der Erörterung. Mendelssohn nimmt diesen Faden auf und schlägt in seinen Erörterungen über das Wesen der Religion eine neue Seite im Rahmen des jüdischen Denkens auf. Die von Mendelssohn gezeichnete Doppelköpfigkeit von Religion, als universalistischer natürlicher Religion der Vernunft auf der einen und offenbartem Gesetz auf der anderen Seite, hat die nachfolgende innerjüdische Diskussion in zwei gegensätzliche Lager gespalten.1317
2.
Religion und Staat – Definitionen und Aufgaben – die Stellung des Judentums
Ein bedeutsamer Unterschied zur Rede von Religion bei Mendelssohn gegenüber der fast noch »unschuldigen« Auffassung der Vergangenheit ist der, dass er von legitimer und wahrer Religion unter Absehung der bis dato gültigen Voraussetzung, damit sei recht eigentlich nur die jüdische Religion gemeint, reden konnte. Die älteren Autoren vor der Neuzeit haben zwar auch eine Mehrzahl von Religi1314 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 585–613. 1315 Zu ihm und dem Folgenden s. oben Kap. Traditions- und Religionskritik, I,7.3; II, 6. 1316 S. oben Kap. Traditions- und Religionskritik. 1317 Dazu s. H.-J. Schoeps, Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie in der Neuzeit, Bd. I, Berlin 1935, Neudruck in: H.-J. Schoeps, Gesammelte Schriften, Abt. I, Bd.1, hrsg. vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut, Red. J.H. Schoeps, Hildesheim etc. 1990.
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onen wahrgenommen, diese aber nur unter der Kategorie »richtig« oder »falsch« gesehen. Demgegenüber ist für Mendelssohn Religion im wahren und vollen Sinne nicht an das Judentum gebunden, sondern ist per definitionem ein allgemeinmenschliches Phänomen. Der nächste Schritt Mendelssohns ist der, dass er die rein erkenntnistheoretische Frage nach Religion mit einer soziologischen Fragestellung verknüpft. Religion ist danach sowohl erkenntnistheoretisch wie auch soziologisch eine universal-menschliche Erscheinung. Die christliche Kirche, die Moschee und die Synagoge sind nur historische Phänomene dieser umfassenden allgemeinmenschlichen Erkenntnisweise und Gesellschaftsform, wie dies später auch Immanuel Kant in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Königsberg 1793) sagen wird: »Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben. – Man kann hinzusetzen, daß in den mancherlei sich, der Verschiedenheit ihrer Glaubensarten wegen, voneinander absondernden Kirchen dennoch eine und dieselbe wahre Religion anzutreffen sein kann.«1318 Schon Mendelssohn nennt diese gesellschaftliche Einrichtung, die der staatlichen Organisationsform gegenübersteht und mit dieser allenfalls kooperieren soll, mit dem im Deutschen geläufigen Terminus »Kirche«. Kirche ist für ihn eine Gesellschaftsform, unabhängig von der spezifischen Konfession, die sich aber in unterschiedlichen Konfessionen realisieren kann. Gekennzeichnet sind solche Kirchen durch ihre Aufgabenstellung im Rahmen der menschlichen Gesellschaft. Daher definiert Mendelssohn: »Öffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf die Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche, – zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnung und Handlung, so einzurichten, daß sie zur Glückseligkeit übereinstimmen, die Menschen erziehen und regieren.«1319 Das Erziehen ist, wie im Folgenden noch deutlicher werden soll, Aufgabe der Religion, wohingegen das Regieren die ausschließliche Domäne des Staates sein soll, trotz gegenteiliger Auffassung der christlichen Kirchen. Unter diese Definition von Kirche fallen, wie gesagt, die christliche Kirche, die Synagoge und Mosche gleichermaßen. Damit ist deutlich, dass für Mendelssohn die überkommene selbstverständliche Identität von »Religion« und Judentum aufgehoben ist. Das Judentum ist eine »Kirche« neben andern, oder eben nur eine von unterschiedlichen Konfessionen, wie man später definieren wird. Mit dieser Definition ist die 1318 In Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1981, Bd. 7, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Zweiter Teil, S. 768. 1319 Jerusalem (Thom), S. 361.
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bisher aus jüdischer Sicht unverbrüchliche Identität von jüdischem Volk und jüdischer Religion aufgekündigt, wenn diese Aussage im Folgenden auch noch gewisse Relativierungen erfahren muss, wozu unten noch Weiteres zu sagen sein wird. Mit dieser Neudefinition jüdischer Religion ist das Tor aufgestoßen für die in breiter Front in das Judentum einströmende christliche Terminologie zur Bezeichnung der Institutionen des Judentums wie sie von den jüdischen Autoren, meist aufgrund der Anforderung staatlicher Behörden, in so genannten »Synagogen-ordnungen« zu Beginn des 19. Jahrhunderts gleichermaßen verwendet wurde, wozu weiter unten noch einiges zu sagen sein wird.1320 Die Mendelssohnsche Universalisierung des Religionsbegriffes und damit seine Entgrenzung aus der jüdischen Tradition ist natürlich keine Willkür, sondern im Rahmen der zeitgenössischen aufklärerischen Auffassung von Religion zu verstehen, deren Schlagwort der Begriff der »Religion der Vernunft« oder »natürliche Religion« war.1321 Mendelssohn vertrat diesen Begriff von Religion, nach welchem diese Religion niemals von einer partikularen Offenbarung noch überhaupt von einem derartigen übernatürlichen Eingriff in die Menschenwelt abhängt. Die ewigen Wahrheiten der Religion werden allen Menschen gleichermaßen durch die dem Menschen von Gott eingepflanzte Vernunft mitgeteilt. Ein Misstrauen den Fähigkeiten der Vernunft gegenüber, will Mendelssohn nicht akzeptieren. Demgegenüber betont er: »Ich glaube also nicht, daß die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlich sind, und daß Gott ihnen solche auf eine übernatürliche Weise habe offenbaren müssen.«1322 In seinen unpublizierten Gegenbetrachtungen über Bonnet’s Palingénésie drückt er dies noch klarer aus. Er sagt dort über das Judentum, welches in dieser Hinsicht der Religion der Vernunft vollkommen entspricht:
1320 S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, II. 1321 Mendelssohn übernimmt hier Begriffe seiner Zeit, z. B. von John Locke und G.W. Leibniz. Von ihnen übernimmt er die Unterscheidung in Vernunftwahrheiten (verités de raison) und Tatsachenwahrheiten (verités de fait), die er »Vernunftwahrheiten« und »Geschichtswahrheiten« nennen wird, s.unten; und s. Immanuel Kant: »Der reine Religionsglaube ist zwar der, welcher allein eine allgemeine Kirche gründen kann; weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt; indessen daß ein bloß auf Facta gegründeter historischer Glaube seinen Einfluß nicht weiter ausbreiten kann […].«, J.W. Hecker, Die Religion, S. 762; und vgl. S. 764, 820; im Jahre 1752 erschien von J.W. Hecker, Die Religion der Vernunft; 1754, von H.S. Reimarus, Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion; und s. Röd, der Weg der Philosophie, II, S. 67f.; Falckenberg, Geschichte, S. 158f., 260f; M. Albrecht, Moses Mendelssohn, in: Philosophen des 18. Jahrhunderts, hrsg. von L. Kreimendahl, Darmstadt 2000, S. 209–225. 1322 Jerusalem (Thom), S. 412.
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Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
»Unsere Vernunft kann ganz gemächlich von den ersten sichern Grundbegriffen der menschlichen Erkenntnis ausgehen, und versichert sein, am Ende die Religion auf eben dem Wege anzutreffen. Hier ist kein Kampf zwischen Religion und Vernunft, kein Aufruhr unserer natürlichen Erkenntnis wider die unterdrückende Gewalt des Glaubens. ›Ihre Wege sind liebliche Wege und all ihre Stege sind Frieden.‹«1323 Was also das Wesen der Religion anbelangt, so ist Mendelssohn nicht der Auffassung, dass sie einer zusätzlichen Bestätigung durch die Offenbarung bedürfe, um etwa den schwachen im Geiste beizustehen, wie dies die mittelalterlichen Rationalisten konzedierten. Vernunft ist nicht ein zweiter Weg neben der Offenbarung, sondern ausschließlicher Weg. Die Offenbarung wird daneben zu einer partikularen historischen Besonderheit. Welche Rolle die dennoch »historisch« verbürgte Offenbarung des Judentums nach der Auffasung Mendelssohns hatte, muss später noch erörtert werden.
3.
Die Religion der Vernunft – oder die natürliche Religion
3.1
Die Grundzüge aller vernünftigen Religion
Die natürliche Religion, oder die universale Religion der Vernunft, hat nach Auffassung Mendelssohns recht eigentlich nur drei »Grundartikel«. Diese sind so unausweichlich und so unabdingbar für das menschliche Leben, dass deren Anerkennung sogar der Staat, der ansonsten keinerlei Befugnis hat, auf das menschliche Denken mittels der Staatsgewalt Einfluss zu nehmen, sie begünstigen darf.1324 Sie sind drei Lehren, die Mendelssohn sachgemäßerweise schon in seinen »philosophischen« Schriften, der Preisschrift für die Akademie,1325 und seinem Phädon behandelte, nämlich erstens der Glaube, oder besser das Wissen, dass es einen Gott gibt, zweitens die Vorsehung durch diesen Gott und schließlich drittens ein künftiges Leben der menschlichen Seele.1326 Diese Grundartikel sind, wie gesagt, Erkenntnisse der menschlichen Vernunft, weshalb sie mittels der rationalen Syllogistik zu erreichen sind. Mendelssohn anerkennt darum noch die Gültigkeit der mittelalterlichen Gottesbeweise, den ontologischen, der von 1323 Gesammelte Schriften (Brasch), II, S. 590. 1324 Jerusalem (Thom), S. 383. 1325 Preisschrift (Thom), S. 162. 1326 Jerusalem (Thom), S. 383; vgl. auch die Betrachtungen (Brasch) II, S. 591, allerdings mit einer für die jüdische Religion spezifischen Abweichung, nämlich das Gesetz, das im Folgenden noch zu besprechen ist. A. Altmann, M. Mendelssohn, S. 544: »The Jewish Religion, he held, contained essentially only three principles: God, Providence, and the giving of the Law«.
Haskala – die jüdische Aufklärung
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der Denkmöglichkeit eines höchsten Wesens auf dessen Wirklichkeit schließt, und den kosmologischen, der von der kosmischen Realität auf eine erste Ursache schließt sowie dessen Nebenform, den teleologischen, der von der wunderbaren Ordnung im Kosmos (design) auf einen Ordner folgert.1327 Beim kosmologischen Beweis folgt Mendelssohn Descartes, nach dem dieser Beweis nicht bei den sichtbaren Weltphänomenen, sondern beim denkenden Individuum seinen unbezweifelbaren Ausgangspunkt nimmt: cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.1328 Entsprechend wird im Phädon die Unsterblichkeit der Seele von der denkenden und Begriffe bildenden Seele her bewiesen. Ein weiterer wesentlicher Grundzug der Religion der Vernunft ist es, dass sie das dem Menschen obliegende Tun selbst erkennt und also auch in dieser Hinsicht autonom und unabhängig von einer Offenbarung ist, also autonom die Forderungen der Ethik erkennen kann. Die so erkannten Gesetze bezeichnet Mendelssohn als »Naturrecht«.1329 Dieses Naturrecht regelt die Beziehungen der Menschen untereinander, deren Rechte und Pflichten gegeneinander1330 in einer Weise, die den Menschen seiner Glückseligkeit zuführen soll.1331 In der Preisschrift formuliert Mendelssohn dieses Naturgesetz in dem Satz: »Mache deinen und deines Nächsten inneren und äußeren Zustand, in gehöriger Proportion, so vollkommen du kannst.«1332 Signum der Religion ist es nun, den Menschen ausschließlich durch Überzeugung zur Erfüllung der Gesetze zu bewegen, wohingegen der Staat das Recht hat, sie mit Gewalt durchzusetzen. Dieser Unterschied in den Vollmachten von Staat und Kirche ist darin begründet, dass der Staat auf die Handlung um der Handlung willen dringen muss. Demgegenüber muss sich die Religion auf die Überzeugungskraft beschränken, weil eine Tat nur dadurch ihre religiöse Valenz erwirbt, dass sie aus Überzeugung und mit der richtigen Gesinnung vollbracht wird: »Der Staat also begnügt sich allenfalls mit toten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Übereinstimmung im Tun, ohne Übereinstimmung in Gedanken. Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muß nach dem Gesetze tun [...] Nicht
1327 Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften (zit. als Preisschrift), Preisschrift (Thom), S. 138–151. 1328 Preisschrift (Thom), S. 132, 138; zu den Beweisen vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 376ff., 449ff. 1329 Jerusalem (Thom), S. 365. 1330 Jerusalem (Thom), S. 365ff. 1331 Jerusalem (Thom), S. 365. 1332 Preisschrift (Thom), S. 158, und s. S. 163: »Verehre den Schöpfer! Liebe die Tugend, fliehe das Laster! Beherrsche deine Leidenschaften, unterwirf deine Begierden der Vernunft.«
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Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
also die Religion! Diese kennt keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Übereinstimmung im Tun ohne Übereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlung ohne religiöse Gedanken ist leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese müssen also an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft noch durch Strafen erzwungen werden. [...] Allen Beistand, den die Religion dem Staate leisten kann, ist Belehren und Trösten, durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen beibringen, und durch ihre überirdischen Trostgründe den Elenden aufrichten, der als ein Opfer für das gemeinsame Beste zum Tode verurteilt worden. Hier zeigt sich also schon ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Religion. Der Staat gebietet und zwinget, die Religion belehrt und überredet; der Staat erteilt Gesetze, die Religion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt und bedient sich derselben, wo es nötig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohltun.«1333 Die Religion steht ausschließlich auf der Vernunft und den ihr zu Gebote stehenden Mitteln der Überzeugung, von denen die Gewalt ausdrücklich ausgeschlossen ist. Religiöses Handeln ist Handeln aus Gesinnung, nicht aufgrund eines blinden Gehorsams. Das menschliche Handeln gewinnt erst die Qualität des Religiösen, wenn es aus dem bewussten Wollen des Menschen geschieht, wenn er der Tat innerlich zustimmt. Dies ist eine Definition des religiösen Handelns, die in diametralem Gegensatz zur altrabbinischen Auffassung steht. Für die Rabbinen war eine Handlung gerade dann und nur dann religiös, wenn sie ein Akt des Gehorsams gegenüber Gottes Willen ist. Eine weitere letzte Grundaussage zur Religion ist die, dass ihr genuiner Interessenbereich jener ist, der die »Verhältnisse der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter« betreffen, wohingegen die Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Natur dem Obliegenheitsbereich des Staates zugeordnet sind.1334 Diese klare Aufgabentrennung gilt indessen nur hinsichtlich der Sanktions- und Durchsetzungsgewalt des vom Menschen geforderten Tuns. Aus der höheren religiösen Warte betrachtet, gehört auch das zwischenmenschliche Handeln letztlich der Verpflichtung der Gottheit gegenüber an, die aber – notabene – alleine durch Überzeugungskraft zu erstreben ist. In diesem Sinne fasst Mendelssohn die gesamte Ethik und den gesamten naturrechtlich geforderten Gesetzesgehorsam unter die Verpflichtung dem Schöpfer gegenüber zusammen:
1333 Jerusalem (Thom), S. 364f. 1334 Jerusalem (Thom), S. 360f., 376.
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»Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten die gegen Gott keine besondere Abteilung, sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernünftig lieben, seine Geschöpfe lieben, so, wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben. Das System unserer Pflichten hat ein doppeltes Prinzipium, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und das Verhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer. Jenes ist Moralphilosophie, dieses Religion, und demjenigen, der von der Wahrheit überführt ist, daß die Naturverhältnisse nichts anderes sind als Äußerungen des göttlichen Willens, dem fallen auch diese beiden Prinzipien ineinander, dem ist Sittenlehre der Vernunft heilig wie Religion. Auch heischt die Religion, oder das Verhältnis zwischen Gott und Menschen, keine anderen Pflichten, sondern gibt jenen Pflichten und Obliegenheiten nur erhabnere Sanktion. Gott bedarf unseres Beistandes nicht, verlanget keinen Dienst von uns, keine Aufopferung unserer Rechte zu seinem Besten, keine [sic!] Verzicht auf unsere Unabhängigkeit zu seinem Vorteil.«1335 Aus dem Prinzip, dass jegliches sittliche Handeln, wenn es von der eigenen Gesinnung getragen wird, zum religiösen Handeln wird, kann alles menschliche Handeln als Pflicht gegenüber Gott und damit als Religion bezeichnet werden. Und so wie im religiösen Handeln die Pflicht gegenüber Gott aus freiwilliger Zustimmung und eigener Gesinnung erfüllt wird, kann auch das Handeln gegenüber der Natur und damit auch gegenüber den Menschen religiöses Handeln werden, sofern es aus einer sittlichen Gesinnung erfolgt und das Gegenüber »Natur« – in durchaus spinozanischer Wendung – als Ausdruck von Gottes Willen und damit als Gott gesehen wird.
3.2
Grundlehren der natürlichen Religion
3.2.1 Die hebräische Schrift Die Seele und der Phädon Es darf als ein Glücksfall gelten, dass Mendelssohns Auffassung von der Welt, vom Menschen und insbesondere von der Seele und ihrer Beziehung zum Körper auch in einer hebräischen Schrift aus der Hand Mendelssohns vorliegt, ist damit doch abgesichert, dass Mendelssohn seine diesbezüglichen Auffassungen nicht nur einem deutschen gebildeten Publikum mitteilen wollte, sondern sie auch seinen jüdischen Religionsgenossen als die richtige Tora-getreue jüdische Auffassung mitzuteilen wünschte. Er nimmt dabei keinen Anstand, mehrfach zu beto1335 Jerusalem (Thom), S. 378f.
392
Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
nen, dass diese Sicht jener der Leibnizschen Schule entspricht. Auch stimmt diese Schrift in ihrer anthropologischen Lehre mit dem schöneren Text, dem Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, überein, allerdings wird sie hier nicht in der literarischen Gestalt eines platonischen Dialogs entwickelt, sondern in schulmäßig philosophischer Weise. Beide Texte werden für die folgende Darstellung zusammen herangezogen. Die hebräische Schrift, die nach Mendelssohns Ableben von seinem Schüler David Friedländer unter dem Titel HaNefesch le-ha-Hacham ha-’elohi Rabbenu Mosche mi-Dessau 1787 in Berlin herausgegeben, und für die Jubiläumsausgabe von den Herausgebern auch ins Deutsche übertragen wurde, besteht aus zwei ursprünglich voneinander unabhängigen Schriften, die aber thematisch zusammengehören.1336 Die erste Abhandlung trägt den Titel Die Seele, die zweite Untersuchung über die Verbindung der Seele mit dem Körper.
3.2.2 Die Gottheit der natürlichen Theologie und der von ihr hervorgebrachte Kosmos Zur Gottheit der natürlichen Theologie Mendelssohns muss als erstes auf die beiden schon erwähnten Gottesbeweise, den kosmologischen und den ontologischen, hingewiesen werden. Sie lassen die Gottheit zum einen im mittelalterlichen Sinne als die Ursache aller Ursachen der Welt erscheinen und zum anderen als das denkbar vollkommenste Wesen, das im Gegensatz zu allem übrigen Existierenden eine notwendige Existenz besitzt: »da er alle diese Vollkommenheiten ohne Grenzen besitzt, so ist er unendlich und folglich einig. Da er den Grund seines Daseins in keinem endlichen Dinge haben kann, so hat er den Grund seines Daseins in sich selber, ist also selbständig und notwendig. Ferner, wenn endliche Dinge vorhanden sein sollen, so müssen sie den Grund in ihm haben ...«1337 Unter dieser einen Gottheit erstreckt sich, ähnlich wie man das von den mittelalterlichen Darstellungen kennt, die Kette des geschöpflichen Seins. Dieses besteht hier allerdings nicht aus drei Weltstufen wie im mittelalterlichen Denken, wo man von dem mundus intelligibilis (den aristotelischen Separaten Intellekten / 1336 In der Jubiläumsausgabe, Hebräischer Teil: Kol Kitve Mosche Mendelssohn, Hoza’at haJovel, herausgegeben von I. Elbogen, J. Guttmann und A. Mittwoch, Breslau 1939 (Neudruck in: Moses Mendelssohn, Hebräische Schriften, bearb. von H. Borodianski, Bar Dayan 1972); die deutsche Übersetzung in: Moses Mendelssohn, Schriften zur Philosophie und Ästhetik, III, S. 203–233. 1337 Preisschrift (Thom), S. 137. vgl. S. 150; Phädon (Thom), S. 216.
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oder dem neoplatonischen Weltintellekt und der Weltseele) sprach, unter dem sich der zweigeteilte mundus sensibilis, erstreckte, der aus der unveränderlichen Welt der Gestirnsphären, und schließlich der irdischen Welt der Veränderung bestand. Demgegenüber zählt Mendelssohns Version nur die Zweiteilung in eine intelligible und eine sensible Welt auf. Allerdings erfährt die Wesensart dieser beiden nachgöttlichen Welten nun eine völlig andere Definition: »Wir können die ganze Kette von Wesen, fuhr Sokrates fort, vom Unendlichen an bis auf das kleinste Stäublein in drei Glieder einteilen. Das erste Glied begreift, kann aber von andern nicht begriffen werden: Dies ist der Einzige, dessen Vollkommenheit alle endlichen Begriffe übersteigt. Die erschaffenen Geister und Seelen machen das zweite Glied: Diese begreifen und können von andern begriffen werden. Die Körperwelt ist das letzte Glied, die nur von andern begriffen werden, aber nicht begreifen kann. Die Gegenstände dieses letzten Gliedes sind, sowohl in der Reihe unserer Erkenntnis als im Dasein selbst, außer uns, allezeit die hintersten in der Ordnung, indem sie allezeit die Wirklichkeit eines begreifenden Wesens voraussetzen.«1338 Während die mittelalterliche Teilung des gesamten Seins allein aus der Sicht des Menschen vorgenommen wurde, nämlich erstens als eine Welt, die er mit seinen Sinnen erfassen kann, danach eine darüber liegende, die nur seinem Intellekt zugänglich ist, und schließlich Gott, den er überhaupt nicht erkennen kann, erfolgt hier die Dreiteilung zusätzlich nach den je eigenen intellektuellen Fähigkeiten der drei Stufen des Seins. Gott begreift und wird nicht begriffen, die Geister und Seelen begreifen und können begriffen werden, die Körper begreifen nichts, werden aber selbst begriffen. Der erste Eindruck von einer zweigeteilten Schöpfung, bestehend aus einer Welt der Geister und einer Welt der Körper, wird allerdings von den letzten Sätzen dieser Mendelssohnschen Sokrates-Worte wieder in Frage gestellt. Denn dort wird die Körperwelt von einem begreifenden Wesen abhängig gemacht, ohne das sie offenbar nicht existiert. Es scheint, dass wirkliche und unabhängige Existenz nur jenen Substanzen eignet, die selber begreifen können. Dieser etwas rätselhafte Befund wird in Mendelssohns hebräischer Schrift über die Seele, verständlicher. Er bespricht dort das Wesen dessen, was wir als Körper und Bewegung wahrnehmen, also jenen Substanzen und Eigenschaften, welche nach mittelalterlicher Auffassung die realen und wirklichen Dinge der sensiblen Welt
1338 Phädon (Thom), S. 262.
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sind. – Mendelssohn folgt bei dieser Erörterung erklärtermaßen der WolffLeibnizschen Philosophie:1339 »Über den Körper und die Bewegung selbst jedoch ist unter den neueren Weltweisen Streit entstanden, nämlich darüber, ob sie ihrem Wesen nach Realität oder Erscheinung sind. Und zwar behaupten Leibniz und seine Anhänger: die Ausdehnung (Extensio) ist eine Erscheinung vieler vereinigter, wirkender und leidender Substanzen; es ist nichts wirklich als einfache Substanzen (Monades), die unausgedehnt sind; das Wesen und alle Modi des Körpers sind nur eine Erscheinung der Seele, und sie haben ihr Fundament in den Modis der vereinigten Monaden und der Ordnung ihrer Vereinigung und ihren Veränderungen; ebenso ist die Wirkung eines Körpers auf einen anderen Körper nur eine Erscheinung der Wirkung von Monaden aufeinander, denn die Monaden, aus denen die Körper zusammengesetzt sind, existieren gleichzeitig [...]«1340 Körper und Bewegung sind demnach nicht wirklich existierend, sondern sind nur Erscheinungen der Monaden und ihrer Zustände. Zur Erläuterung dessen, was ein Phänomen, eine Erscheinung, ist, erklärt Mendelssohn dreierlei: 1. von »wirklichem Dasein« (Realitas) spricht man, wenn die Vorstellung in der Seele mit dem von den Sinnen wahrgenommenen Gegenstand übereinstimmt. 2. Widerspricht die Vorstellung der Wirklichkeit, ist dies eine »Einbildung« (Phantasma). Und 3. Unterscheidet sich die Vorstellung von der Wirklichkeit, so wird dies »Erscheinung« (Phaenomenon) genannt. Ein Phänomen ist also etwas, das in der Realität zwar einen Anhaltspunkt hat, aber in der Vorstellung des Menschen nicht realitätsgetreu abgebildet oder gezeichnet wird. Als Beispiel für ein solches Phänomen nennt Mendelssohn das Strahlen des Mondes, der doch in Wirklichkeit kein Strahlen hat, sondern »sein Stand zur Sonne und zum Auge seines Betrachters« sind es, welche die Erscheinung des Strahlens bedingen. »Ebenso der Regenbogen, der eine Folge des Standes der Wolke zur Sonne ist.«1341 Aus diesen Erläuterungen folgt, dass die menschliche Vorstellung von der Welt der Körper zwar in der Wirklichkeit einen Anhaltspunkt hat, dass aber die Vorstellung im Denken des Menschen nicht der Realität entspricht. Denn ein Körper ist kein einheitliches Wesen, sondern ein Konglome-
1339 Die lebenslange Verpflichtung Mendedelssohns auf Leibniz und dessen Promulgator Christian Wolff (1679–1754) reicht offenbar schon in Mendelssohns frühe Jahre zurück, s. A. Altmann, Moses Mendelssohn, S. 27f. 1340 Übersetzung A. Altmann, JubA III,1, S. 220; hebr. in JubA XIV, S. 135. 1341 Ebd., S. 218; hebr. in JubA XIV, S. 134.
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rat von Monaden (»Aggregat von Monaden«),1342 die dem Menschen nur als Körper erscheinen. Demnach ist die die Körperwelt, wie auch die Bewegung nur eine Erscheinung, ein Phänomenon, der geistigen Welt der Monaden. In der Wirklichkeit (Realitas) gibt es folglich nur eine einzige geschaffene Welt von Monaden, die ihrerseits als körperliche Wesen und als Bewegung erscheinen: »Bekanntlich ist nach Ansicht dieser Schule [von Leibniz] das Weltganze ein einheitliches Wesen von höchster Vollkommenheit. Daher hängen alle seine Teile aufs engste miteinander zusammen, sie wirken aufeinander und sie leiden voneinander. Es gibt keinen unter ihnen, der nicht auf alle wirkte und nicht von jedem einzelnen von ihnen litte. In Ansehung dessen, dass er [der einzelne Teil] auf sie alle wirkt, enthält er etwas, was sie alle begründet; und in Ansehung dessen, dass er von ihnen allen leidet, enthält er etwas, was in ihnen begründet ist. Darum enthält jede Monade etwas, woraus das Wesen aller mit ihr zusammen existierenden Dinge erkannt werden kann. Da die Modi der Monade, die mit den Modis der vielen mit ihr zusammen existierenden Monaden harmonieren, Perzeptionen heissen, so gehören die Monaden zur Gattung der perzipierenden Wesen, und die ihnen eingeprägte Kraft ist eine Denk- oder Vorstellungskraft, d.i. eine Begehrung und Bemühung zu perzipieren; sie ist eingeschränkt durch die in der Zeit vorangehenden und gleichzeitigen Perzeptionen. Die Kraft der Monaden ist also eine Denk- oder Vorstellungskraft. Wir haben bereits erklärt, dass diese Kraft ohne allen Zweifel wirkliches Dasein hat.«1343 Die wirkliche Welt besteht also aus kleinsten intelligiblen Substanzen, deren Kraft eine Vorstellungs- oder Denkkraft ist. Diese Monaden haben alle etwas wesenhaft Gemeinsames und stehen in einem Netz von gegenseitiger Wirkung und Beeinflussung oder »Zustandsänderungen« (Perzeption).1344 Diese Zustandsänderungen erscheinen dem Menschen als Körper und als Bewegung, als Farben, Schall oder Geruch und dergleichen Phänomene.1345 Kurz, die Welt die der Mensch wahrnimmt ist nur Erscheinung, wie sie dem Menschen erscheint, in Wirklichkeit stellen sich die Dinge jedoch anders dar, nämlich als Monadenkonglomerate und als Zustandsänderungen der Monaden. Vergleichbar mit die-
1342 Ebd., S. 221; hebr. in JubA XIV, S. 136, der von Mendelssohn gebrauchte hebräische Terminus lautet: Kibbuz ha-’Achadim. 1343 Die Seele, M.M. Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 221f.; vgl. die entsprechende Darstellung bei Röd, Der Weg der Philosophie, II, S. 71–75. 1344 S. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 73. 1345 Übersetzung A. Altmann, JubA III,1, S. 219; hebr. in JubA XIV, S. 134.
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Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
ser Auffassung ist die moderne physikalische Darstellung der Körper, die gleichfalls nicht eine wirkliche Einheit bilden, sondern aus zahllosen Atomen aufgebaut sind. Danach sind die Atome mit ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Verflechtung die Realität, das Phänomen ist der von uns gesehene Körper.1346 Auch in diesem, dennoch idealistischen, Weltbild sieht man, dass die mittelalterliche Vorstellung von der über der irdischen Welt liegenden intelligiblen Welt, welche die materielle Welt bewegt, aufgegeben ist zugunsten einer Weltwirklichkeit, welche ihre Kräfte in sich trägt. Allerdings liegt hier, im Gegensatz zu der von Gumpel Schnaber-Levison rezipierten Sicht Newtons die Energie oder Kraft nicht in den Körpern selbst, sondern in intelligiblen, aber irdischen Wirklichkeiten, den Monaden.
3.3
Der Mensch
3.3.1 Die Seele Der ersten Abhandlung in Mendelssohns Schrift Die Seele ist eine Zusammenfassung vorangestellt, welche die Anliegen der Psychologie Mendelssohns anschaulich zusammenfasst. Diese sind drei: »Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, so wie sie ein Fundament der Thora und des Glaubens ist, zerfällt in drei Hauptstücke. Wir müssen, um Dich der Wahrheit dieser Lehre zu versichern, über alle drei sprechen. Das erste Hauptstück, betitelt, ›die Spiritualität der Seele‹, zeigt, dass die Seele kein Körper, sondern eine einfache Substanz ist; das zweite Hauptstück, betitelt ›die Unvergänglichkeit der Seele‹, zeigt, dass die Seele nicht vergeht bei dem Tode des Körpers, und dass sie in aller Ewigkeit nicht stirbt; das dritte Hauptstück, betitelt ›das wahrhafte Leben der Seele‹, zeigt, dass die Seele nach dem Tode ihres Körpers weiterlebt und die Vernunft, sowie die Erinnerung an alles, was während ihrer Vereinigung mit dem Körper geschah, behält.«1347 Mendelssohn apostrophiert seine Lehre von der Seele hier mit aller Deutlichkeit als der Tora und dem Glauben Israels entsprechend. Die Frage nach dem Wesen der Seele wird im Phädon anhand der Frage des Verhältnisses eines »Gesamtkunstwerkes« zu seinen Einzelteilen gestellt – der 1346 Anstatt von Monaden spricht darum sachgemäß Christian Wolff von Atomen, atomi naturae, s. Deussen, Allgemeine Geschichte, II, 3, S. 155. 1347 Mendelsohn JubA, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 203; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 123.
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Mensch mit seinem sichtbaren Körper ist ein solches Gesamtkunstwerk, das aus vielen einzelnen Teilen besteht. Diese einzelnen Teile des Menschen lösen sich nach seinem Tod wieder vom gesamten Ensemble und werden in neue Zusammenhänge gestellt und integriert. Es ist dabei deutlich, dass jedes der einzelnen Teile eine eigene Kraft und Wirksamkeit besitzt, die in das Gesamtkunstwerk eingebracht und dadurch in eine neue Zusammensetzung eingefügt wird, die eine neue Kraft und neue Wirksamkeit gewinnt. Die Frage stellt sich nun, ob die Wirkung der im Gesamtwerk dargestellten »Harmonie« einfach eine Addition der Einzelkräfte, oder doch etwas Neues, Zusätzliches, ist, das eine andere weitere Ursache hat. Auf alle Fälle wird im Dialog der Schüler mit ihrem Lehrer Sokrates zunächst sichergestellt, dass in einem solchen Kunstensemble die einzelnen Bausteine nicht tote Elemente, sondern Teile mit eigener Kraft sind, deshalb muss der Gesprächspartner Simmias zugeben: »aus unwirksamen Teilen kann wohl kein wirksames Ganzes zusammengesetzt werden.«1348 Die nun weitergehende Frage, ob die neue Zusammensetzung ihre Wirksamkeit alleine aus dem Faktum der »Zusammensetzung«, gleichsam als Addition der Wirksamkeiten gewinnt, wird nun wie folgt entwickelt: »Allein, wir bemerken gleichwohl, daß in dem Ganzen Übereinstimmung und Ebenmaß angetroffen werden kann, obgleich jeder Bestandteil für sich weder Harmonie noch Ebenmaß hat. Wie gehet dieses zu? Kein einzelner Laut ist harmonisch: und gleichwohl machen viele zusammen eine Harmonie aus. Ein wohlgeordnetes Gebäude kann aus Steinen bestehen, die weder Ebenmaß noch Regelmäßigkeit haben. Warum kann ich hier aus unharmonischen Teilen ein harmonisches Ganzes, aus regellosen Teilen ein höchst regelmäßiges Ganzes zusammensetzen?«1349 Damit ist gesagt, dass die Harmonie und die Ordnung des Zusammengesetzten nicht einfach eine Addition seiner Einzelkräfte sein kann, wiewohl jedes der einzelnen Teile seine eigene Wirkung und Kraft hat und auch haben muss. Die hier verwendeten Begriffe für das Gesamtensemble, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit und Ordnung, brauchen auf der einen Seite die Vielfältigkeit, denn ohne sie kann keine Ordnung gebildet werden. Ordnung und Harmonie können nur aus nicht Geordnetem und aus Einzellauten gebildet werden. Aber wie kann dies vonstatten gehen? Die Antwort lautet, diese Eindrücke von Ordnung, Harmonie und dergleichen
1348 Phädon (Thom), S. 252. 1349 Ebd.
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»bedeuten das Verhältnis verschiedener Eindrücke, wie sie sich uns, zusammengenommen und in Vergleichung gegeneinander darstellen. Es gehört also zu diesen Begriffen ein Zusammennehmen, eine Vergleichung mannigfaltiger Eindrücke, die zusammen ein Ganzes ausmachen, und sie können daher den einzelnen Teilen unmöglich zukommen. – […] Wenn jeder einzelne Laut nicht einen Eindruck in das Gehör machen sollte, würde aus vielen wohl eine Harmonie entstehen können? – Unmöglich!«1350 Die Harmonie und Ordnung entsteht demnach nicht aus der Anhäufung von Einzelteilen, auch ein Haus wäre nur ein Steinhaufen, wenn nicht der Mensch die Aktivität des Vergleichens und Verbindens durchführen würde, wodurch sich ihm Harmonie und Ordnung ergeben. Und es ist eben diese Aktivität, die den Mehrwert der Zusammensetzung gegenüber den gehäuften Einzelteilen ausmacht. Und wer führt diese Aktivität durch? Es ist das menschliche Denkvermögen: »Aber diese Vergleichung und Gegeneinanderhaltung, ist sie wohl etwas anders als die Wirkung des Denkvermögens? Und wird sie außer dem denkenden Wesen irgendwo in der Natur anzutreffen sein?« Die Antwort lautet: »Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, überhaupt alle Verhältnisse, die ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten des Mannigfaltigen erfordern, sind Wirkungen des Denkvermögens. Ohne Hinzutun des denkenden Wesens, ohne Vergleichung und Gegeneinanderhaltung der mannigfaltigen Teile ist das regelmäßigste Gebäude ein bloßer Sandhaufen und die Stimme der Nachtigall ist nicht harmonischer als das Ächzen der Nachteule […]«1351 Es ist diese Vorstellungskraft, das Empfinden und Denken, welches dieses Mehr über den Teilen erzeugt. Und wenn diese Kraft im Menschen liegt, dann muss es im Menschen einen Träger, ein Substrat, für diese Denkkraft geben und dies ist die Seele.1352 In der scholastischen hebräischen Schrift kommt Mendelssohn dem geübten philosophisch gebildeten hebräischen Leser entgegen und nimmt die mittelalterlich-aristotelische Terminologie für die verschiedenen Seelenkräfte aus Maimo1350 Phädon (Thom), S. 252f. 1351 Phädon (Thom), S. 254. 1352 Phädon (Thom), S. 25 und 259f.
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nides auf, um sich unter dem Schirm der Tradition zu bergen.1353 Dabei verschwimmt natürlich der neue Leibniz-Wolffische Akzent, nachdem die Seele eine unter anderen Monaden in der Gesamtheit des Menschwesens ist. Denn die Einzelteile, die das ganze Ensemble Mensch bilden sind nach diesem System ja auch geistige Monaden, die ihre je eigene Kraft zum Ganzen beitragen und im Ensemble wirken und beeinflusst werden, wie es schon im voranstehenden kosmologischen Kapitel ausgesprochen wurde. Im Phädon hingegen verzichtet Mendelssohn auf diese Dreiteilung der hebräischen Tradition und lässt Simmias sagen: »Also wird eine unter den denkenden Substanzen, die wir in den menschlichen Körper gesetzt, die vollkommenste unter ihnen sein und folglich die deutlichsten und aufgeklärtesten Begriffe haben […] Diese einfache Substanz, die unausgedehnt [körperlos] ist, Vorstellungsvermögen besitzt, die vollkommenste unter den denkenden Substanzen ist, die in mir wohnen, und alle Begriffe, deren ich mir bewußt bin, in eben der Deutlichkeit, Wahrheit, Gewißheit usw. in sich fasset, ist dies nicht meine Seele?«1354 Die Seele ist danach nicht wie in der mittelalterlichen Philosophie im Unterschied oder als Gegensatz zur Materie eine kategorial andere Wesenheit als die übrigen Bestandteile des menschlichen Körpers, sondern die Seele gehört zu den »erschaffenen Geistern und Seelen« die das »zweite Glied« in der Welthierarchie ausmachen. »Diese begreifen und können von andern begriffen werden.« Dies sind die Monaden, die geistig-intelligible Wesen sind, und ihrerseits als Materie erscheinen können, sofern sie sich entsprechend zusammentun. Denn »Ausdehnung und Bewegung sind Vorstellungen des denkenden Wesens von dem was wirklich ist […] weil der Körper […] ohne Verrichtung des denkenden Wesens kein ganzes ausmachen und die Bewegung selbst, ohne Zusammenhalten des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen, keine Bewegung sein würde.«1355 Kurz, die Seele gehört zu dem intelligiblen Bereich der Welt, der alleine real existierend ist, den Monaden, der Rest, sprich die Körperwelt, ist nur Erscheinung der Monaden dank der Denktätigkeit der Seele.
1353 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 12; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 125. 1354 Phädon (Thom), S. 260. 1355 Phädon (Thom), S. 262.
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3.3.2 Die Unsterblichkeit der Seele und das ewige Heil Für das mögliche Ende der Seele, deren Tod, gibt es, so lässt Mendelssohn seine Gesprächsgenossen im Phädon feststellen, nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Seele stirbt einen Tod wie er in der Natur üblich ist, oder sie verschwindet plötzlich durch die Tat ihres Schöpfers. Betrachtet man indessen den natürlichen Tod, so ist dieser kein wirklicher Tod der beteiligten Teile, denn diese gehen nicht zugrunde, sondern werden nur verwandelt, um in eine neue Konstellation eingesetzt zu werden, denn die Natur kann weder »ein Dasein noch eine Zernichtung hervorbringen«: »Daher gehet bei der Auflösung des tierischen Leibes nichts verloren. Die zerfallenden Teile fahren fort zu sein, zu wirken, zu leiden, zusammengesetzt und getrennt zu werden, bis sie sich durch unendliche Übergänge in Teile eines andern Zusammengesetzten verwandeln. Manches wird Staub, manches wird zur Feuchtigkeit, dieses steigt in die Luft, jenes geht in eine Pflanze über, wandelt von der Pflanze in ein lebendiges Tier und verläßt das Tier, um einem Wurme zur Nahrung zu dienen.«1356 Sollte die Seele einen solchen Tod sterben, würde dies bedeuten, dass sie nicht stirbt sondern sich nur verwandelt. Das heißt, wer an einen naturhaften Tod der Seele denkt, spricht nur von Verwandlung in etwas, das nicht mehr Menschenseele ist, aber nicht von einer vollkommenen Austilgung. Und eine solche angenommene Verwandlung der Seele würde ja auch bedeuten, dass sie all das, was sie in ihrem Leben erreicht hatte, verlieren müsste, und dies, so meinen die Gesprächsfreunde, käme ja doch wieder einer Vernichtung gleich, die für das aturgeschehen schon ausgeschlossen wurde.1357 Damit nicht genug, ein Wesenszug der Seele ist es ja, stets voran zu streben und so muss man wohl annehmen, dass sie dies auch tun wird, wenn sie vom Körper nicht mehr behindert wird. Darum: »Wer also auf Erden für seine Seele Sorge getragen hat, wer sie sich in Weisheit, Tugend und Empfindungen der wahren Schönheit hat üben lassen, der hat die größten Hoffnungen in diesen Übungen fortzufahren und von Stufe zu Stufe sich dem erhabensten Urwesen zu nähern, welches die Quelle aller Weisheit, der Inbegriff aller Vollkommenheiten und vorzugsweise die Schönheit selbst ist. Erinnert euch, meine Freunde, jener entzückten Augenblicke, die ihr genossen, sooft eure Seele, von einer geistigen Schönheit hingerissen, den Leib samt seinen Bedürfnissen vergaß und sich ganz der himm1356 Phädon (Thom), S. 229f. 1357 Phädon (Thom), S. 234f.
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lischen Empfindung überließ. Welcher Schauer! welche Begeisterung! Nichts als die nähere Gegenwart einer Gottheit kann diese erhabenen Entzückungen in uns erregen.«1358 Dieses ewige Glück der Seele ist nun in der Tat eine Reprise der mittelalterlichen neoplatonischen Heilserwartungen, wie sie ähnlich Salomo Ibn Gabirol oder Leone Ebreo formulierten.1359 Die andere von den Genossen erwogene Alternative für das Schicksal der Seele nach dem Tod des Körpers, nämlich dass die Gottheit selbst die Seele austilgt, weist Sokrates-Mendelssohn mit Hinweis auf die die Allgüte des Schöpfers und Erhalters zurück, von dem eine solche »grundböse« Tat ja nimmermehr zu befürchten sei.1360 Der Weg zum ewigen Glück der Seele führt, wie im mittelalterlichen Denken zum Beispiel eines Maimonides, gleichfalls über das forschende Aufsteigen des menschlichen Geistes zur Ursache aller Ursachen, zu Gott: »Vernunft und Nachdenken führen unseren Geist von den sinnlichen Eindrücken der Körperwelt zurück in seine Heimat, in das Reich der denkenden Wesen, vorerst zu seinesgleichen, zu erschaffenen Wesen, die, ihrer Endlichkeit halber, auch von anderen gedacht und deutlich begriffen werden können. Von diesen erheben sie ihn zu jener Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen, von dem wir, zu unserem Troste, so viel wissen, daß alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat und durch seine Allmacht erhalten wird.«1361
3.3.3 Der menschliche Körper Der menschliche Körper ist nur ein Spezialfall dessen, was schon im Abschnitt zur Kosmologie über die Körper insgesamt gesagt wurde, nämlich, dass sie die Erscheinungsformen von Monaden-Konglomeraten sind. Die Rolle der Seele innerhalb des menschlichen Körpers, der als »Gesamtkunstwerk« zu betrachten ist, wurde schon im vorangehenden Abschnitt zum Wesen der Seele beschrieben. Mendelssohn resümiert diese Befunde für den Menschen im zweiten Teil seiner hebräischen Schrift über die Seele nochmals wie folgt:
1358 Phädon (Thom), S. 238. 1359 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 542–546, 581–584. 1360 Phädon (Thom), S. 232. 1361 Phädon (Thom), S. 263.
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»Über den Körper des Menschen insbesondere sagt er [Leibniz], dass die in ihm vereinigten Monaden sich verändern vermöge der ihnen eingeprägten Kraft gemäss ihrer Vorstellung von der Lage der übrigen Monaden in der Welt und von den Modis der Seele, die unter ihnen wohnt wie ein König unter seinem Gefolge. Auch die Seele verändert sich vermöge der ihr eingeprägten Kraft gemäss der Vorstellung von ihrer Lage in der Welt und von den Modis der sie umgebenden Monaden (das heisst, wie wir gesagt haben, der auf sie unmittelbar wirkenden Monaden; denn auch das Umgeben ist Erscheinung). Aber die Seele übertrifft alle im Körper vereinigten Monaden durch den Grad ihrer Perzeptionskraft; denn sie perzipiert sich selbst und alle im Körper vereinigten Monaden klarer als diese alle. Vermittels der im Körper vereinigten Monaden erkennt sie auch die übrigen Teile der Schöpfung. Denn diese sind aufs engste miteinander verknüpft, derart, dass wer einen Teil von ihnen perzipiert, zugleich alle perzipiert; allerdings mit Unterschieden des Grades: bekanntlich die einen mit klarer und deutlicher, die anderen mit dunkler und verworrener Perzeption.«1362 Seele und Leib sind also nur ein Teil des gesamten weltumspannenden Monaden-Netzes. Die Seele ist in einem einzelnen Körper das Organisationsprinzip, weil sie die am höchsten stehende Monade in diesem menschlichen Konglomerat, das Mendelssohn im Phädon mit Leibniz mehrfach als »Maschine« bezeichnet, ist.1363 Nach dem schon oben genannten Prinzip, einer bestimmten Gemeinsamkeit in allen Monaden, kann hier auch der platonische Topos vom Menschen als Mikrokosmos wiederholt werden, mit dessen Erkenntnis man die gesamte Welt erkennt.
3.3.4 Der freie Wille und das Vorherwissen Gottes Die Lehre von der »prästabilierten Harmonie«, in welcher alle Monaden aufeinander wirken und voneinander beeinflusst werden, kann, so meint Mendelssohn, die Auffassung zur Folge haben, das menschliche Handeln sei im Rahmen dieser allseitigen Abhängigkeiten prädeterminiert, weshalb man von einer Freiheit des menschlichen Willens im Rahmen dieser Lehre nicht mehr sprechen könne. Dazu gibt Mendelssohn eine kurze und klare Erklärung:
1362 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 227f. (Übersetung der Herausgeber); Hebr. Text, Kol Kitve, S. 140. 1363 S. Thom, S. 233.
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»Ein Wesen, das mit Willensfreiheit begabt ist, muss sich selbst den Gegenstand der Wahl und den Zweck, dessen Verwirklichung es von diesem Gegenstand erwartet, kennen. Dann neigt es von selbst seine Begehrungskraft jenem Ding zu, weil ihm dieser Zweck gut scheint. Dadurch wird die Willensfreiheit nicht beeinträchtigt; […] Wäre es nun möglich, dass einer etwas wählt, was ihm nicht gut scheint, so gäbe es in seinen Gedanken nichts, woraus man begreifen könnte, wie und warum die Wahl gerade nach dieser Seite hin ausgefallen ist. […] Es gibt also keine Wahl ausser durch den Willen, und dieser ist die Zuneigung der Vernunft zu einer Sache auf Grund der Erkenntnis, dass der Zweck dieser Sache gut ist. Wille und Begehrung sind von einer Gattung; allerdings ist bei dem Willen die Erkenntnis des Guten vernünftige Erkenntnis, hingegen bei der Begehrung nur sinnliche, der vernünftigen unterlegene Erkenntnis.«1364 Der freie Wille gründet demnach auf der Erkenntnis des Menschen – intellektuell oder sensitiv –, was das Gute für ihn ist. Und danach entscheidet er. Wenn also ein Kind sich erwartungsgemäß lieber für eine Süßspeise als für bitteren Spinat entscheidet, so ist damit dessen freier Wille nicht aufgehoben. Denn es entscheidet sich selbst für das, was es für sich als gut erkannt hat. Wenn es zu Konflikten zwischen der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis des »Guten« kommt, soll natürlich die intellektuelle Erkenntnis, als höher stehende, den Ausschlag geben. Mit den Aussagen über die Vorherbestimmtheit des menschlichen Handelns und Wollens im Rahmen der Monaden-Harmonie ist auch die Frage des göttlichen Vorherwissens in seinem möglichen Konflikt mit dem freien Willen beantwortet. Sowenig die Vorher-Bestimmung in der gezeichneten Weise die Willensfreiheit des Menschen beeinträchtigt, so wenig tut das dann natürlich auch das Vorherwissen, was man sich wiederum am Beispiel der Kindes-Entscheidung veranschaulichen kann.1365
3.3.5 Theodizee und Vergeltung Als Leibnizianer wie als frommer Jude muss Mendelssohn in seiner hebräischen Schrift natürlich auch noch die göttliche Vergeltung und das mit ihm verbundene Thema des Bösen in der Welt ansprechen. In diesem Punkt wendet er sich zunächst gegen die Auffassung, dass die göttliche Strafe für den Menschen aus 1364 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 229f.; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 141f.; s. entsprechend oben Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 5.4.2, zu Spinoza. 1365 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 231; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 143.
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»Rache« geschähe. Damit, so meint er, würde dem Übel der Freveltat nur noch weiteres Übel zugefügt, was eines gerechten Gottes unwürdig wäre. Die göttliche Vergeltung kann daher nach Mendelssohns Auffassung nur erzieherische und heilende Funktion für den Menschen haben. Da die Sünde nur aus Unkenntnis des Guten entstehe, so wird der Mensch durch das Nachdenken über die Strafe zur Erkenntnis des Guten geführt. Mendelssohn anerkennt auch noch den weiteren Gedanken, dass die Strafe eines Individuums auch der Belehrung der Vielen dienen kann, aber doch niemals so, dass dieses Individuum dabei unschuldig bestraft würde, »er bestraft niemals einen Sünder ausser zum Nutzen dieses Sünders und zum Nutzen der Gesamtheit.«1366 Diese erzieherische Deutung der Strafe gipfelt in der Auffassung Mendelssohns: »Würde dieser Sünder die Folgen der Strafe und die wahre Glückseligkeit, die er durch diese Strafe gewinnt, erkennen, wahrlich – er würde von Gott, dem allgerechten Richter, seine Bestrafung erflehen; denn die Strafe heilt die Krankheit der Seele und verbindet die Wunde. Ohne sie kann die Seele nicht genesen, es sei denn auf wunderbare, übernatürliche Weise. So betrachtet, sind die Folgen des Rechts kein Übel, sondern nur Gutes für die Welt, für den Einzelnen in ihr und für das Ganze. Darum muss das Murren des Sünders, der von Gott Züchtigungen zu erleiden hat, gänzlich verstummen; denn wie wir sagten, die Strafe ist Arznei und Heilung für den Sünder; nicht Rache an ihm.«1367
4.
Das Judentum
4.1
Judentum als offenbartes Gesetz
Es ist nun höchste Zeit, die Frage zu stellen, was denn nun das traditionelle Judentum sei, dessen System von Gesetzen, dem Mendelssohn ja mit unverdrossener Beharrlichkeit verpflichtet blieb. Diese Frage zu beantworten war für Mendelssohn um so dringlicher, als man ihm zu Recht vorgehalten hatte, dass er mit seiner Auffassung von Religion das allseits bekannte Erscheinungsbild des Judentums zerstöre, nämlich als einer Religion der Gesetze, als eines »System[s] von religiöser Regierung«.1368 Mendelssohn nimmt diesen Einwand gegen seine Auffassung von Religion, die er ja auch mit der jüdischen Religion identifizierte, 1366 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 232; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 143. 1367 Moses Mendelssohn, Schriften, Philosophie und Ästhetik, III, 1, S. 232; Hebr. Text, Kol Kitve, S. 143f. 1368 Jerusalem (Thom), S. 402.
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überaus ernst, zumal, wie er zugibt, viele seiner Religionsbrüder eine solche gesetzliche Auffassung vom Judentum teilten.1369 Und betrachtet man die weit ausladende halachische Literatur des Judentums und die tatsächliche Regulierung des jüdischen Alltags bis in seine Details, so kann man diesen Einwand gegen Mendelssohns Religionsauffassung hinsichtlich des Judentums nur für gerechtfertigt erachten. Als Antwort auf diese brennende Frage gibt nun Mendelssohn in seiner programmatischen Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum seine allseits bekannte Definition des Judentums als geoffenbarte Gesetzgebung, die ferne davon sei, geoffenbarte Religion sein zu wollen: »Es ist wahr: Ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn [den ungenannten Gegner] ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könnte dies nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung, Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbart worden, aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. [...] man hat übernatürliche Gesetzgebung für übernatürliche Religionsoffenbarung genommen und vom Judentume so gesprochen, als sei es bloß eine frühere Offenbarung religiöser Sätze und Lehren, die zum Heile des Menschen notwendig sind.«1370 Es ist diese Definition des Judentums, die zu dem geflügelten Wort geführt hat, das Judentum sei nicht Orthodoxie, sondern Orthopraxie. Diese Trennung von offenbarter Religion und Judentum wird natürlich nur vor dem oben gezeichneten Religionsverständnis Mendelssohns verständlich. Wo Religion als Erkenntnis ausschließlich durch die menschliche Vernunft definiert wird, die ein allgemeinmenschliches Phänomen ist, kann die partikulare Offenbarung am Sinai 1369 Jerusalem (Thom), S. 403. 1370 Jerusalem (Thom), S. 407f.
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schlechterdings nicht mit Religion identifiziert werden. Im Blick auf die gesamte, auch in dieser Darstellung nachgezeichnete Geschichte des jüdischen Denkens, muss diese Beschreibung des Judentums durch Mendelssohn natürlich als höchst eigenwillig erscheinen. Denn schon die Bibel und noch mehr das nachbiblische Judentum bis auf Mendelssohns Zeiten kennt keine Beschränkung der Tora und jüdischer Lehre auf das Gesetz. Die gesamte jüdische Tradition trägt so genannte ewige Wahrheiten vor, sei es die Lehre von der Erschaffung der Welt, die Lehre von der himmlischen Tora, die Lehren von Gottes Liebe und Strenge, die theologischen und kosmologischen Lehren der mittelalterlichen Philosophen, ganz zu schweigen von den barocken Lehren der Kabbala. Allenfalls kann man Mendelssohn beipflichten, dass die Lehren des Judentums nicht im kirchlich dogmatischen Sinne als Heilswahrheiten verstanden wurden, deren Anerkennung Voraussetzung für das ewige Heil ist. Immerhin aber gibt es jene Lehrmeinung der Mischna und des Talmud, welche diejenigen von der künftigen Welt ausschließt, die gewisse rabbinische Glaubenssätze bestreiten, etwa die Auferstehung von den Toten oder dass die Tora vom Himmel gekommen sei.1371 Zu nennen ist außerdem die im Mittelalter einsetzende Dogmatisierung des Judentums, die in den dreizehn Glaubenssätzen des Maimonides ihren Höhepunkt fand und die in Gestalt der dreizehn ‘Ikkarim (Glaubensgrundsätze) bis heute in jedem jüdischen Gebetbuch zu finden sind und die einen weitgehend dogmatischen Ausgrenzungscharakter der Ungläubigen formulieren.1372 Mendelssohn weiß um diese Tendenzen im mittelalterlichen Judentum und schickt sich darum eigens an, deren Bedeutung zu relativieren: »Daher hat auch das alte Judentum keine symbolische Bücher, keine Glaubensartikel. Niemand durfte Symbola beschwören, niemand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennet, gar keinen Begriff und müssen sie, nach dem Geiste des echten Judentums, für unstatthaft halten. Majemonides kam zuerst auf den Gedanken, die Religion seiner Väter auf eine gewisse Anzahl von Grundsätzen einzuschränken, damit die Religion, wie er zu verstehen gibt, so wie alle Wissenschaften ihre Grundbegriffe habe, aus welchen alles übrige hergeleitet wird.1373 Aus diesen bloß zufälligen Gedanken sind die dreizehn Artikel des jüdischen Katechismus entstanden, denen wir das Morgenlied Jigdal und einige gute Schriften von Chisdai, Albo und Abarbanell zu verdanken haben. Dieses sind auch alle
1371 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 433, 368. 1372 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437; und oben Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, III, 8. 1373 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437; und oben Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, III, 8.
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Folgen, die sie bisher gehabt haben. Zu Glaubensfesseln sind sie, gottlob! noch nicht geschmiedet worden ...«1374 Wie immer man den Stellenwert dieser hier von Mendelssohn berufenen dogmatischen Tradition einschätzt, so ist doch niemand vor Mendelssohn auf den Gedanken verfallen, neben der Halacha gebe es keine religiösen Lehren in der jüdischen Tradition, so dass das Judentum nur Gesetz sei. So eindeutig Mendelssohns Definition des Judentums als geoffenbarte Gesetzgebung hier erscheint, so einfach liegen die Dinge indessen nicht. Mendelssohn greift in weitläufigen Erörterungen aus, um diese zunächst sehr hart klingende Aussage zu relativieren und sie auch für den aufmerksamen Leser unter seinen Zeitgenossen doch wieder akzeptabel erscheinen zu lassen. Er tut dies in mehreren unterschiedlichen Argumentationsgängen, die im Folgenden zu betrachten sind. Insgesamt sind es im Wesentlichen drei Argumentationslinien, die Mendelssohn zur Absicherung und Relativierung seiner Auffassung vorträgt. Dass dabei logische Härten in Kauf genommen werden, soll nicht verschwiegen werden, sie sind ohne Zweifel der jüdischen Tradition und Realität selbst zu verdanken. Die erste der genannten Argumentationslinien widmet sich dem Wahrheitsbegriff, den Mendelssohn in drei Untergruppen aufteilt und dann seinen Religionsthesen zuordnet. Eine nächste Argumentationsreihe greift zu religionspsychologischen Erörterungen, nach welchen die Bedeutung und Rolle von Schrift, Buch und Ritus gegeneinander abgewogen werden, um so zu einer neuen Deutung des »Zeremonialgesetzes«, das heißt der Halacha, zu gelangen. Ein dritter Argumentationsgang schließlich kann als historiosophische Argumentation bezeichnet werden. In ihr greift Mendelssohn zur Geschichtsdarstellung als einer hermeneutischen Methode um die Bedeutung des Gesetzes definieren zu können. Diese historiosophische Hermeneutik soll späterhin in den Modernisierungsdebatten des Judentums im 19. und bis herein ins 20. Jahrhundert eine nicht unbedeutende Rolle spielen, wie im Einführungskapitel des nächsten Teiles erörtert werden wird.
4.2
Wahrheit und Offenbarung
4.2.1 Was ist Wahrheit? In dem im vorigen Abschnitt angeführten Text zur Gesetzes-Offenbarung unterscheidet Mendelssohn zwischen offenbarter Religion und offenbarter Gesetzge1374 Jerusalem (Thom), S. 418f.
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bung und beharrt auf der Meinung, Judentum sei nur letzteres, nämlich offenbarte Gesetzgebung und nicht offenbarte Religion. Die Wahrheiten der Religion, so glaubt er, werden ausschließlich durch die Vernunft erkannt und können daher von allen Menschen in dieser Welt gleichermaßen erkannt werden, einer übernatürlichen Offenbarung bedarf es hierfür nicht. Moses Mendelssohn, der die jüdische Literatur und Tradition sehr wohl kennt, sieht sich angesichts dieser unerwarteten und der Tradition offenbar ins Gesicht schlagenden Aussage allem Anschein nach genötigt, all jenen Aussagen innerhalb der jüdischen Tradition, die nicht Gesetz sind, und doch als überkommene Wahrheit gelten, ihren Ort zuzuweisen oder deren Verständnis zu erklären. Dafür unternimmt er es, den Begriff der Wahrheit zu differenzieren und das Gewonnene verschiedenen Bereichen von Wahrheit zuzuordnen. Um dies zu erreichen, differenziert er zwischen zwei unterschiedlichen Modi der Wahrheit, die sich in einem weiteren Schritt in drei untergliedern lassen. Die erste Form der Wahrheit nennt er »ewige Wahrheiten«, dies sind solche Sätze, »welche der Zeit nicht unterworfen sind und in Ewigkeit die selben bleiben«.1375 Den ewigen Wahrheiten, die in »notwendige« Wahrheiten und in »zufällige« Wahrheiten zerfallen – was sogleich noch zu klären sein wird – stehen die »zeitlichen« Wahrheiten gegenüber, die man auch »Geschichtswahrheiten« nennen kann. Die ewigen Wahrheiten zerfallen, wie gesagt, in notwendige und zufällige ewige Wahrheiten. Die »notwendigen« ewigen Wahrheiten sind solche, welche aufgrund der internen Logik der Vernunft so sind. Zu ihnen gehören zum Beispiel die Sätze der reinen Mathematik und die Sätze der »Vernunftkunst«, das heißt der internen logischen Schlussfolgerungen. Allerdings gibt Mendelssohn den internen logischen Gesetzen eine theologische Begründung. Diese logischen Regeln sind nicht eine von Gott ontologisch unabhängige Strukturmatrix. Vielmehr gelten diese Regeln der Vernunft so, weil Gott sie so gedacht hat. Er sagt: »Die Sätze der notwendigen Wahrheit sind wahr, weil sie Gott so und nicht anders sich vorstellet «.1376 Es ist demnach das göttliche Denken, welches die Quelle der Regeln der Vernunft ist. Diese sind nicht von Gott unabhängige Gesetze, durch die Gott selbst wider seinen Willen gebunden ist. Allerdings wird diese Aussage durch eine weitere eingeschränkt, nämlich: Diese notwendigen Wahrheiten »sind auch der Allmacht unveränderlich, weil Gott selbst seinen unendlichen Verstand nicht veränderlich machen kann.«1377 Es gibt demnach auch durch die Vernunft gezogene Grenzen, welche die Gottheit nicht überschreiten kann. Dennoch will Mendelssohn betonen, dass Gott selbst die Quelle der Vernunft und ihrer Struktur ist. Eine notwendige Wahrheit ist darum eine vernünftige 1375 Jerusalem (Thom), S. 408. 1376 Ebd. 1377 Ebd.
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Wahrheit, weil sie dem göttlichen Denken entspricht. Gott ist die Quelle der Vernunft. Die mittelalterlichen Denker banden die menschliche Vernunft an ein nachgöttliches Wesen, den aristotelischen Aktiven Intellekt,1378 oder den erstemanierten Intellekt der Neoplatoniker.1379 Der Aufklärer Mendelssohn rückte die Vernunft um eine Stufe höher, in die Gottheit selbst, womit die Apotheose der menschlichen Vernunft ihre höchste Stufe erreicht hat. Vernunft und Gottheit sind nun eins, die Vernunft ist nicht mehr nur ein göttlicher Ausfluss oder ein göttliches Geschöpf, auch wenn Gott die Regeln der Vernunft nicht verändern kann, weil, so könnte man folgern, er sich selbst nicht verändert. Der zweite Modus der ewigen Wahrheiten sind die »zufälligen Wahrheiten«. Zu ihnen gehören die »Sätze der Physik und der Geisterlehre, die Gesetze der Natur, nach welchen dieses Weltall, Körper und Geisterwelt regiert wird.«1380 Diese Regeln entspringen nicht dem unveränderlichen göttlichen Denken, sondern sind »dem Willen Gottes unterworfen und nur insoweit unveränderlich, als es seinem heiligen Willen gefällt, das heißt, insoweit sie seinen Absichten entsprechen. Seine Allmacht konnte andere Gesetze an ihrer Stelle einführen und kann, sooft es nützlich ist, Ausnahmen stattfinden lassen.«1381 Die Allmacht Gottes erstreckt sich demnach nur über die zufälligen ewigen Wahrheiten, nicht aber über die notwendigen. Letztere sind auch für die Gottheit selbst unveränderlich. Um eine mittelalterliche Denkfigur aufzugreifen, könnte man sagen: Die notwendige ewige Wahrheit ist das unveränderliche Wesen Gottes, während die zufällige ewige Wahrheit seinem in der Schöpfung wirksamen Willen entspricht, der einmal will und einmal nicht will. Aus diesem Vergleich wird die Hinaushebung der Vernunft über das Geschöpfliche deutlich. Die Vernunft ist nach Mendelssohn nicht nur in der Schöpfung präsent, sondern jenseits ihrer in der unveränderlichen Gottheit selbst. Die Vernunft war für die mittelalterlichen Denker ein Resultat des göttlichen Willens, der aus seiner Unveränderbarkeit heraustrat und die Vernunft, oder den Intellekt, ins Dasein treten ließ. Nicht so für den Aufklärer Mendelssohn. Bei ihm ist die vom Willen Gottes hervorgebrachte Vernunft des Mittelalters nunmehr zu einer nur zufälligen Vernunft herabgerückt, eben einer willentlichen, vor der es noch eine notwendige gibt. Der dritte Modus der Wahrheit ist der zeitliche, das heißt die Geschichtswahrheit, welche im Rahmen der Schöpfung nicht ewig und vorzeitlich ist wie die Gesetze der Physik, sondern
1378 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 419ff., 452f., 591f. 1379 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 493, 504, 508, 534. 1380 Jerusalem (Thom), S. 408. 1381 Ebd., S. 408f.
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»Dinge, die sich zu einer Zeit zugetragen und vielleicht niemals wiederkommen; Sätze, die durch einen Zusammenfluß von Ursachen und Wirkungen in einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr geworden und also von diesem Punkte der Zeit und des Raumes nur als wahr gedacht werden können. Von dieser Wahrheit sind alle Wahrheiten der Geschichte in ihrem weitesten Umfang; Dinge der Vorwelt, die sich einst zugetragen und uns erzählt werden, die wir aber selbst nie wahrnehmen können.«1382 Mit dieser Form der Wahrheit nimmt Mendelssohn einen Wahrheitsbegriff auf, der bei den Metaphysikern des Mittelalters keine Rolle gespielt hatte, wohl aber von Jehuda Ha-Levi als die genuine religiöse Wahrheit des Judentums ins Zentrum seines Denkens gerückt wurde.1383 Diese drei Arten von Wahrheit sind nun außer ihrer jeweiligen Quelle durch ihren Erkenntnismodus verschieden. Die notwendigen ewigen Wahrheiten werden ausschließlich mittels der Vernunft gewonnen, die zufälligen ewigen Wahrheiten, das heißt vor allem die physikalischen Gesetze, werden auf die »Beobachtung« gestützt, das heißt auf die sinnliche Wahrnehmung, während die geschichtlichen Wahrheiten sich zum Zeitpunkt ihres Eintritts gleichermaßen auf die sinnliche Wahrnehmung, hernach aber ausschließlich auf »Autorität und Zeugnis« glaubwürdiger Erzähler stützen können.1384 Entscheidend für die Religion im wirklichen Sinne ist nun, dass nur die ewigen Wahrheiten für die Glückseligkeit des Menschen unentbehrlich sind. Darum werden sie von der Gottheit allen Menschen gleichermaßen auf natürliche Weise mitgeteilt und sind nicht an eine übernatürliche Offenbarung gebunden.1385 Dies ist die Offenbarungsweise der »allgemeinen Menschenreligion, nicht [des] Judentum[s]«.1386
4.3
Die Offenbarung des Judentums
4.3.1 Eine Kompromisslinie – Gesetz, Geschichtswahrheit und vorausgesetzte ewige Wahrheit Die den Israeliten am Berge Sinai zuteil gewordene Offenbarung ist nach alledem keine der ewigen Vernunftwahrheiten, sondern eine durchaus partikulare »Geschichtswahrheit«. Diese Wahrheit beinhaltet nun eben doch auch Wahrhei1382 Jerusalem (Thom), S. 409. 1383 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 539–597. 1384 Jerusalem (Thom), S. 409ff. 1385 Jerusalem (Thom), S. 412. 1386 Jerusalem (Thom), S. 415.
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ten und nicht nur Gesetze. Natürlich beruft sich Mendelssohn zur Begründung dieser seiner Auffassung auf den Text, der schon immer die Geschichtsgebundenheit der israelitisch-jüdischen Religion zu belegen hatte, nämlich das Erste Gebot »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Lande Mizraim geführt, aus der Sklaverei befreiet hat«.1387 Dies ist laut Mendelssohn »Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volks gründen sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbaret werden; Gebote, Verordnungen, keine ewigen Religionswahrheiten.«1388 Dies und alle weiteren in der Heiligen Schrift erzählten Begebenheiten sind nichts als »Geschichtswahrheiten, die ihrer Natur nach auf historischer Evidenz beruhen, durch Autorität bewährt werden müssen und durch Wunder bekräftiget werden können.«1389 Mit dieser Präzisierung hinsichtlich der sinaitischen Offenbarung, ist der Begrenzung der Offenbarung auf das Gesetz ihr erster Stachel genommen. Auch Wahrheiten sind dem Volk Israel offenbart worden, aber eben geschichtliche Wahrheiten, dies sind solche, die für die Glückseligkeit des Menschen schlechthin nicht unabdingbar sind. Aber dabei lässt es Mendelssohn nicht bewenden. Er geht noch einen Schritt weiter. Er nimmt den schon von den mittelalterlichen Philosophen1390 gesponnenen Faden auf, dass die diversen Gebote der Tora auch Vernunftwahrheiten enthalten oder doch auf solche hinweisen und noch mehr, solche Wahrheiten voraussetzen: »Ob nun gleich dieses göttliche Buch, das wir durch Mosen empfangen haben, eigentlich ein Gesetzbuch sein und Verordnungen, Lebensregeln und Vorschriften enthalten soll, so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen unergründlichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Religionslehren mit ein, die mit den Gesetzen so innigst verbunden sind, daß sie nur eins ausmachen. Alle Gesetze beziehen oder gründen sich auf ewige Vernunftwahrheiten oder erinnern und erwecken zum Nachdenken über dieselben, so daß unsere Rabbinen mit Recht sagen: Die Gesetze und Lehren verhalten sich gegeneinander wie Körper und Seele.«1391 Damit ist der tiefe Graben zwischen Mendelssohn und der älteren jüdischen Tradition wieder erheblich eingeebnet. Die wesentliche Differenz besteht nun nicht mehr zwischen ihm und der jüdischen Tradition, sondern zwischen ihm und der
1387 Mendelssohns Übersetzung, Jerusalem (Thom), S. 416. 1388 Jerusalem (Thom), S. 416. 1389 Ebd. 1390 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394ff., 480–487. 1391 Thom, S. 417. Diese Auffassung ist indessen die der Sohar-Literatur und nicht schon der älteren Rabbinen, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 593f.
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Der religionspolitische Ansatz – Moses Mendelssohn
ihm vor Augen stehenden christlichen Religion. Während die christliche Religion den Menschen auf Glaubenswahrheiten verpflichtet, gilt eine solche Verpflichtung nicht für das Judentum. Und dies können mutatis mutandis auch die älteren jüdischen Lehrer sagen. Die zentralen religiösen Aussagen sind auch ihnen die Voraussetzung für die Gültigkeit der rechtlichen Verpflichtung und nicht deren Inhalt. Dass sich Mendelssohn an dieser Stelle mit Maimonides und der sich im Mittelalter abzeichnenden Dogmatisierung des Judentums auseinandersetzen und solche Dogmen als nicht wirklich verpflichtend darstellen muss, wurde schon oben erwähnt.
4.3.2 Sinn und Aufgabe des Zeremonialgesetzes Nachdem Mendelssohn die Offenbarung des Judentums als Gesetzesoffenbarung mit impliziter religiöser Vernunftwahrheit erwiesen hat, muss er in einem weiteren Argumentationsgang, der zweiten der oben genannten Argumentationsreihen, der religionspsychologischen,1392 die Überlegenheit und den Sinn eines solchen Offenbarungsmodus begründen. Er meint, die Offenbarung als Gesetz habe einen epistemologischen Vorteil gegenüber einer Offenbarung von religiösen Glaubenssätzen. Die Gesetzespraxis und deren implizite Wahrheit, so meint Mendelssohn, ist nicht an sprachliche Formeln gebunden, »nicht an Worte und Schriftzeichen [...], die für alle Menschen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Sprachen, Sitten, Lebensart und Verhältnisse immer die selben bleiben, uns immer dieselbe steife Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwängen können, ohne sie zu zerstümmeln. Sie wurden dem lebendigen, geistigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umständen gleichen Schritt halten und nach dem Bedürfnisse, nach Fähigkeit und Fassungskraft des Lehrlings abgeändert und gemodelt werden kann.«1393 Um diesen Vorteil der Belehrung des Menschen durch die Befolgung des Gesetzes einsichtig zu machen, fügt Mendelssohn einen weitschweifigen Exkurs in seine Überlegungen ein. In diesem Exkurs wird, im Gegensatz zu einer langen jüdischen Tradition, die Schrift und das Buch als eigentlich untaugliches Mittel zur Vermittlung religiöser Wahrheit dargestellt. Nicht ungeschickt greift Mendelssohn dabei auf die antike rabbinische antithetisch-komplementäre Formel
1392 Jerusalem (Thom), S. 423. 1393 Jerusalem (Thom), S. 420.
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von der Schriftlichen und Mündlichen Tora zurück,1394 und betont dabei, dass die Mündliche Tora ursprünglich nicht aufgeschrieben, sondern nur mündlich weitergegeben werden durfte.1395 Demgegenüber ist, so Mendelssohn, das Buch und die Schrift toter Buchstabe, das in der langen Kulturgeschichte der Menschheit und insbesondere seit der Erfindung des Buchdrucks eigentlich nur Irrwege eröffnet hatte. Zu solchen Irrwegen gehört die Konzentration auf das Buch anstatt auf die mündliche Unterweisung. Bei allem Nutzen, welchen die Schrift gebracht hat, erscheint die Schrift als festes Zeichen für Mendelssohn doch eine negative Wirkung auf die Menschen ausgeübt zu haben, nämlich, »daß das Bedürfnis der Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgötterei gewesen.«1396 Dies, so Mendelssohn, ist darin begründet, dass die Menschen die Neigung haben, die Zeichen zu verabsolutieren und ihren ursprünglich nur hinweisenden Sinn zu vergessen. Als schlagendes Beispiel dienen ihm dafür die Pythagoräer, die dieser Gefahr entgehen wollten und die Zahlen als möglichst abstraktes Zeichen zur Beschreibung der Welt einführten, um den Menschen nicht wieder zu mythologischen Missdeutungen dieser Zeichen zu verführen.1397 »Allein gar bald ging auch in dieser Schule selbst der Unverstand seinen alten Gang. Unzufrieden mit dem, was man so verständlich, so begreiflich fand, suchte man in den Zahlen selbst eine geheime Kraft, in den Zeichen abermals eine unerklärbare Realität, wodurch abermals ihr Wert als Zeichen verlorenging. Man glaubte oder machte wenigstens andere glauben, daß in diesen Zahlen alle Geheimnisse der Natur und der Gottheit verborgen lägen, schrieb ihnen wundertätige Kraft zu und wollte durch und vermittelst derselben nicht nur die Neu- und Wißbegierde der Menschen, sondern ihre ganze Eitelkeit, ihr Streben nach hohen unerreichbaren Dingen ... befriedigen...«1398 All diesen Fallstricken des geschriebenen Zeichens und Wortes, so sagt Mendelssohn, wollten die Stammväter der jüdischen Nation entgehen und banden die Religionswahrheiten des Judentums nicht an feste unverrückbare Zeichen, sondern an die Dynamik des stets neu zu vollziehenden Gesetzes: »Wir haben gesehen, was für Schwierigkeiten es hat, die abgesonderten Begriffe der Religion unter den Menschen durch fortdauernde Zeichen zu erhalten. Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und
1394 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234. 1395 Jerusalem (Thom), S. 420. 1396 Jerusalem (Thom), S. 432. 1397 Jerusalem (Thom), S. 435. 1398 Ebd., S. 435f.
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unsere alphabetische Schreiberei macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Erkenntnis der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens und macht zwischen Lehre und Leben eine gar zu weite Trennung. Diesen Mängeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonialgesetz. Mit all dem täglichen Tun und Lassen der Menschen sollten religiose [sic!] und sittliche Erkenntnisse verbunden sein. Das Gesetz trieb sie zwar nicht zum Nachdenken an, schrieb ihnen bloß Handlungen, bloß Tun und Lassen vor. Die große Maxime scheinet gewesen zu sein: Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlasset werden. Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Gebrauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Erkenntnis der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung stand und dem Wahrheitsforscher eine Veranlassung war, über jene geheiligten Dinge selbst nachzudenken oder von weisen Männern Unterricht einzuholen. Die zur Glückseligkeit der Nation sowohl als der einzelnen Glieder derselben nützlichen Wahrheiten sollten von allem Bildlichen äußerst entfernt sein; denn dieses war der Hauptzweck und Grundgesetz der Verfassung. An Handlungen und Verrichtungen sollten sie gebunden sein und diese ihnen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen.«1399 Nach Mendelssohns Auffassung war es demnach die menschliche Veranlagung, feste Zeichen und Formeln zu vergöttern und zu Götzen zu machen und deren bloßen Hinweischarakter auf die eigentliche Wahrheit zu vergessen, was die jüdischen Lehrer veranlasste nur Handlungs-Zeichen zu geben, an denen sich der dynamische Geist zeit- und situationsgemäß frei bilden konnte. Auch wenn Mendelssohn hier keinen Seitenhieb auf die Kabbalisten einfügt, die hinsichtlich ihres Verständnisses von Schrift und Buchstaben aufs Genaueste Mendelssohns negativer Analyse entsprechen, so mag er sicher an sie gedacht haben – nur kam ihm ein solches innerjüdisches Beispiel gerade hier nicht zupass, wo es darum ging die Überlegenheit des jüdischen Gesetzessystems herauszustellen. Abschließend muss betont werden, dass Mendelssohn die fortdauernde Verbindlichkeit des jüdischen Gesetzes hier mit Hilfe von epistemologischpsychologischen Argumenten verteidigt, ganz unabhängig davon, dass er wie schon die mittelalterlichen Philosophen mehrfach betont, dass ein von der Gottheit selbst offenbartes Gesetz erst durch diese selbst wieder außer Kraft gesetzt werden kann, wofür es bislang keine Hinweise gäbe.
1399 Jerusalem (Thom), S. 436f.
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4.3.3 Die staatsrechtliche Seite des jüdischen Gesetzes – historiosophische Hermeneutik Die letzte Hürde in der Darstellung der positiven Rolle der jüdischen Gesetze im Vergleich zu den Glaubenssymbolen etwa des Christentums, ist deren System von Strafen, das dem Mendelssohnschen Religionsbegriff ja widerspricht. Mendelssohn weist in seinem Jerusalem selbst auf die Einwände seiner christlichen Kontrahenten hin, die zu recht betonten, dass die biblisch-mosaischen Gesetze das enthalten, was Mendelssohn von jeder Religion ausgeschlossen wissen wollte, nämlich herrschaftliche Gewaltbefugnisse. »Was sind die Gesetze Moses anders als ein System von religiöser Regierung, von Macht und Recht der Religion?« – fragt Mendelssohn im Sinne seiner christlichen Gesprächspartner.1400 Mendelssohn weist diesen Vorwurf gegen seine Deutung des Judentums als gewalt- und staatsmachtfreie Gesetzesoffenbarung mittels einer historiosophischen Hermeneutik ab. Zum einen greift er mehrfach zu dem später, bis herab zu Martin Buber,1401 Schule machenden Gedanken des periodischen Auf- und Niedergangs auch innerhalb der jüdischen Geschichte, und zum anderen zu der Feststellung, dass es innerhalb der jüdischen Geschichte einen unhintergehbaren Einschnitt gegeben hat, der die Bedeutung des Gesetzes auf eine neue Grundlage stellte. In der ursprünglichen Zeit des Zeremonialgesetzes gab es demnach keine unzulässige Verbindung von Staat und Religion, sondern in dieser ursprünglichen Zeit waren Staat und Religion wahrhaft eines, so dass das »Verhältnis« des Menschen gegen die Gesellschaft und das Verhältnis des Menschen gegen Gott tatsächlich das selbe war, so dass gesellschaftliche und religiöse Interessen niemals in Konflikt geraten konnten. »Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, war zugleich König und Verweser dieser Nation, und er ist ein einiges Wesen, das sowenig im Politischen als im Metaphysischen die mindeste Trennung oder Vielheit zuläßt.«1402 In dieser Zeit war Bürgerdienst zugleich Gottesdienst, die Angelegenheiten der Gemeinschaft waren die Gottes. Und entsprechend waren die Vergehen der Menschen wider Gott zugleich ein Staatsverbrechen, das entsprechend geahndet werden konnte und musste. Diese Identität zwischen bürgerlicher und religiöser Verfassung kam aber mit der Zerstörung des Ersten Tempels zu einem definitiven Ende, wofür sich Mendelssohn auf die Rabbinen beruft:
1400 Jerusalem (Thom), S. 402. 1401 S. K.E. Grözinger, Martin Buber und die jüdische Tradition, in: R. Sesterhenn (Hg.), Das Freie Jüdische Lehrhaus – eine andere Frankfurter Schule, München/Zürich 1987, (Katholische Akademie Freiburg), S. 33–42. 1402 Jerusalem (Thom), S. 447.
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»Auch haben, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, mit der Zerstörung des Tempels alle Leib- und Lebensstrafen, ja auch Geldbußen, insoweit sie bloß national sind, aufgehöret, Rechtens zu sein. Vollkommen nach meinen Grundsätzen und ohne dieselben unerklärbar! Die bürgerlichen Bande der Nation waren aufgelöset, religiöse Vergehungen waren keine Staatsverbrechen mehr, und die Religion kennet keine Strafen, keine andere Buße, als die der reuevolle Sünder sich freiwillig auferlegt. [...] Diese Verfassung ist ein einziges Mal dagewesen: nennet sie die mosaische Verfassung [...] Sie ist verschwunden [...]«1403 Damit hat Mendelssohn der Textinterpretation seiner Gegner recht gegeben, die in den biblischen Gesetzen eine Staatsverfassung sehen wollten,1404 hat sie aber zugleich durch seine historiosophische Hermeneutik wieder zurückgewiesen. Das Judentum ist seit der Tempelzerstörung wahrhafte Religion ohne staatliche Machtansprüche, auch wenn seine Gesetzesoffenbarung diesen Eindruck entstehen lassen könnte. Die gängige Verkürzung des Mendelssohnschen Verständnisses vom Judentum als ausschließliche Orthopraxie, der nicht auch eine Orthodoxie zugehört, kann nach alledem nicht in dieser Schärfe aufrecht erhalten werden. Zwar hat das Gesetz Priorität, aber letztlich nur, um der Schwäche des Menschen zu dienen, der eine unausrottbare Neigung zur Vergötzung von festen Glaubenssymbolen und geschriebenen Formeln hat. Der Unterschied zum Christentum ist mithin recht eigentlich nur ein modaler. Das Judentum bewahrt seine ewigen Vernunftwahrheiten im Befolgen der Gesetze, während das Christentum dies durch Glaubenssymbole und fest formulierte und verpflichtende Wahrheitssätze tut. Im Verhältnis zur jüdischen Tradition kann man wohl sagen, dass Mendelssohns Deutung der religiösen Praxis vielen Juden seiner Zeit und bis heute sehr nahe steht, die tatsächlich in der Erfüllung der Gebote und in deren immanenter Bekenntnisfunktion das Zentrum ihres Judentums sehen. Der Anstoß der Mendelssohnschen Deutung liegt dann eher darin, dass Mendelssohn den Religionsbegriff als Religion der Vernunft auch ohne die jüdische Gebotserfüllung konzipiert und als solchen für universell erklärt. Der universelle Religionsbegriff und die sinaitische Offenbarung sind damit nicht mehr identisch. Die Sinaioffenbarung und die von ihr geforderte Gebotserfüllung sind nach dieser Deutung Mendelssohns allenfalls eine mögliche Unterart von Religion, wenn auch nicht deren reinste Verwirklichung. Diese ist alleine an die Vernunft gebunden.
1403 Jerusalem (Thom), S. 449. 1404 S. oben zu Spinoza, Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 4.6.1.
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IV. DER RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHE ANSATZ – SAUL ASCHER (1767–1822) 1.
Das Wesen des Judentums: Gesetz oder Glaube? – Die Zielsetzung des Leviathan
Saul Ascher (1767–1822), der in Berlin geborene und lebende überaus produktive Schriftsteller,1405 Philosoph und Reformer,1406 veröffentlichte 1792, nicht mehr als neun Jahre nach Mendelssohns Jerusalem, eine scharfe Gegenposition zu dessen Auffassung vom Judentum als geoffenbartem Gesetz. Damit wird er zu einem ersten Leuchtfeuer in der alsbald nach Mendelssohns Jerusalem einsetzenden Polarisierung der Debatte um das Wesen des Judentums. Die eine Seite sah dieses im Gesetz, so die spätere Orthodoxie und die von S. R. Hirsch inaugurierte Neoorthodoxie, andere hingegen im »Glauben«, was immer damit des Näheren gemeint war. Die hier gewählte Formulierung der Überschrift hinsichtlich der Wesensbestimmung des Judentums als Religion ist nicht nachlässig, sondern entspricht der Lage der Dinge in vielen Texten des deutsch-jüdischen 19. Jahrhunderts. Mit dieser Gegenüberstellung von Gesetz und Glaube fokussiert Saul Ascher die alles bestimmende Frage der Debatte im deutschen Judentum des genannten Jahrhunderts. Die Fokussierung der Grundsatzdebatte auf diese beiden Begriffe hatte zur Folge, dass hier weniger nach dem Inhalt von Gesetz und
1405 Seine Schriften: Leviathan oder ueber Religion in Rücksicht des Judenthums, 1792; Eisenmenger der Zweite: Nebst einer vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Prof. Fichte in Jena, 1794; Philosophische Skizzen zur natürlichen Geschichte des Ursprungs, Fortschritts und Verfalls der gesellschaftlichen Verfassungen, 1801; Orientalische Gemälde, 1802; Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen, 1802; Kabinett Berlinischer Karaktere, 1808; Napoleon oder über den Fortschritt der Regierung, 1808; Rousseau und sein Sohn: Oder der Selbstmörder zu Ermenonville, 1809; Historisch-romantische Gruppen, 1809; Romane, Erzählungen und Märchen, 2 Bde., 1810; Bagatellen aus dem Gebiete der Poesie, Kritik und Laune, 2 Bde, 1810–1811; Die Entthronung Alfonso’s, Königs von Portugal: Ein dramatisches Gedicht, 1811; Die Germanomanie: Skizze zu einem Zeitgemälde, 1815; Idee einer Preßfreiheit und Censurordnung: Den hohen Mitgliedern des Bundestages vorgelegt, 1818; Die Wartburgs-Feier: mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und politische Stimmung, 1818; Ansicht von dem künftigen Schicksal des Christenthums, 1819. 1406 Über seine Persönlichkeit s., wie immer ironisch, H. Heine, Die Harzreise, Heine, Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Briegleb, München 1976, Bd. 3, S. 126; Fritz Pinkuss, Saul Ascher, ein Theoretiker der Judenemanzipation aus der Generation nach Moses Mendelssohn, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland VI (1936), S. 28–32; Walter Grab, Saul Ascher. Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration, in: ders., Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt 1984, S. 461–494.
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Glauben gefragt wurde, sondern sie beide als alternative Grundkategorien für das Judentum herausgestellt wurden, also, ob das Judentum eine Gesetzesreligion, oder eine Glaubensreligion sei. Die Struktur und das Ziel dieser Debatte wurden schon von Saul Ascher vorgegeben. Der Grund für das Zurücktreten des Interesses am Glaubens-Inhalt vor dem »Glauben« als Form menschlicher Erkenntnisgewinnung liegt bei Ascher darin, dass das Hauptanliegen seines Buches zunächst eben weniger ein konkreter Inhalt des jüdischen Glaubens ist als vielmehr eine grundlegende Verhältnisbestimmung von Vernunft, Glaube und Religion als konstitutiven menschlichen Gegebenheiten. Ist einmal dieses Verhältnis geklärt, versteht man erst, worin das jeweilige Wesen dieser drei geistigen beziehungsweise sozialen Aktivitäten des Menschen besteht. Und ist dieses erkannt, kann man, so betont Ascher, erst darüber nachdenken, worauf man sich zu konzentrieren hat, wenn man eine Reform des Judentums anstrebt. Die hier geforderte Vorklärung der drei Begriffe, Vernunft, Glaube und Religion, betrifft alle Religionen gleichermaßen und ist mithin keine spezifische, nur das Judentum betreffende Fragestellung. Daher kann Ascher in den zwei ersten Teilen seines Buches auf eine Spezifizierung des Jüdischen weitgehend verzichten. Erst im dritten Teil des Buches, der die gewonnenen grundsätzlichen Einsichten über das Wesen der Religion auf die konkrete Frage einer Reform des Judentums anwenden will, treten die spezifischen jüdischen Fragen in den Vordergrund. Bedeutsam an Aschers Buch ist auf jeden Fall, dass es die Reform des Judentums gerade als Religion, nicht nur in bürgerlicher oder gesellschaflicher Hinsicht, auf die Agenda setzt. Die für Aschers gesamte Argumentation grundlegende Unterscheidung, dies sei hier zum besseren Verständnis schon vorweggenommen, ist die, dass der »Glaube« eine individual-anthropologische, die »Religion« hingegen eine soziale Kategorie ist. Das im Jahre 1792 in Berlin erschienene Hauptwerk Aschers trägt den eigenartigen Titel Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judenthums. Herausgegeben von S. Ascher. Wiewohl der mythologische Urdrache dieses Namens in der Bibel einige wenige Male auftaucht1407 ist nicht die Bibel der spiritus rector dieser Titelgebung, sondern das Buch Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiastical and Civill, London 1651, aus der Feder des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679).1408 Am Kopf des Titelblattes von Hobbes opus magnum wird der auf Leviathan (Hiob 40, 20) be-
1407 Jes 27,1; Ps 74, 14; Ps 104, 23 (26); Hiob 3, 8; 40, 20 (25). 1408 Zu Hobbes s. z. B. R. Falckenburg, Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, Leipzig 1908, S. 66–73; W. Röd, Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jarhundert, München 2000, II, S. 34–44; W. Kersting, Thomas Hobbes, in: Philosophen des 17. Jahrhunderts, hrsg. von L. Kremendahl, Darmstadt 1999, S. 46– 68.
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zogene Vers Hiob 41, 24 zitiert: »Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei« (es gibt auf Erden keine ihm vergleichbare Macht). Was Hobbes damit meint, sagt er in Teil II, cap. 17 seines Buches. Dieser Leviathan ist nicht ein Urdrache, sondern die Übereinkunft der Menschen, ihre je eigenen egoistischen Rechte zurückzustellen, um sie einer anderen Macht unterzuordnen, weil nur so Friede auf der Welt bestehen kann: »as if every man should say to every man, I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorise all his Actions in like manner. This done, the Multitude so united in one Person is called a COMMON-WEALTH, in latine CIVITAS. This is the Generation of that great LEVIATHAN, OR RATHER (to speak more reverently) of that Mortall God, to which we owe under the Immortall God, our peace and defence.«1409 Mit seiner Titelwahl zeigt Saul Ascher an, unter welcher Hinsicht er über Religion im Allgemeinen und Judentum im Besonderen zu reden gedenkt. Und in der Tat kehrt in Aschers Darstellung des Judentums dieser Gedanke mehrfach wieder. Der Zweck des Judentums ist nach Ascher, den Israeliten die richtigen Begriffe und Verhaltensweisen für das gesellschaftliche Leben beizubringen, zum Beispiel: »In der Geschichte des Patriarchen Abraham entwickelt sich schon der Zweck etwas mehr, den der Schöpfer mit den Juden hatte. In einer Gegend, wo die Menschen an eine herumziehende und unstäte Lebensart gewohnt waren, hob er einen Menschen heraus, dem er die Begriffe von einer Gesellschaft und von der Glückseligkeit einer festen und ruhigen Lebensart beizubringen suchte.«1410 Das heißt, das Judentum soll aus den Israeliten eine glückseligmachende Gesellschaft bilden, hier liegt seine Funktion und sein Zweck, »Der primitive Zweck
1409 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. mit einer Einführung von C.B. Macpherson, Harmonsworth 1968, S. 227. Übersetzt: »als würde jeder zu jedem sagen, ich autorisiere und übergebe mein Recht, mich selbst zu regieren an diesen Mann oder diese Versammlung von Männern, unter der Bedingung, dass du dasselbe tust und all sein oder ihr Tun gleicherweise autorisierst. Ist das geschehen, so bildet die so vereinte Menge einen Staat, lateinisch Civitas. Dies ist die Geburt des großen Leviathan, oder vielmehr (um ehrfurchtsvoller zu sprechen) dieses sterblichen Gottes, dem wir, unter dem unsterblichen Gott, unseren Frieden und unseren Schutz verdanken.«. 1410 Leviathan, S. 96, und vgl. S. 99, 121f.
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des Judenthums war, [...] bloß, die Menschen durch das Band der Gesellschaft glücklich zu machen.«1411 Wie unten noch deutlich werden soll, denkt Ascher dabei an zwei Phasen der Gesellschaftsbildung der Juden, die erste nannte er Theokratie, in welcher Gott selbst die Hinweise zum Handeln gab, die zweite hingegen Hierarchie. Für die Zeit vor der von Moses kodifizierten Religion gilt: »Bis dahin war es auch nur eine Theokratie. Als die Linien gezogen waren, als nun alles in gehörigem Umlauf gebracht war, da hörte die Verfassung allmählig auf Theokratie zu seyn. Die Gottheit orientirte sich nach und nach, sie überließ die Verwaltung treuen Dienern, und so ging die göttliche Regierung in eine menschliche über. Die Autorität Gottes ward Menschen übergeben, und so entstand Hierarchie oder eine Gesellschaft, die durch den bildlichen Zweck der Gottheit und die Autorität der Gesetze nach menschlicher Einsicht verwaltet, fest erhalten ward. Diesen Zeitpunkt kann man eigentlich als die erste Constitution des Judenthums betrachten. In diesem Zeitpunkte entwickelte sich im Judenthume die Kirchenmacht.«1412 Mit Hobbes kann man sagen, nun war der jüdische »Leviathan« geboren. Die beiden unterschiedlichen Phasen der »Religion«, das heißt dieser so genannten gesellschaftlichen Religionsform, wird Ascher, wie unten noch ausführlicher darzustellen sein wird, auch regulative Religion, das ist die Theokratie, und constituirte Religion, das ist die Hierarchie, nennen.
2.
Religion als Gegenstand der Religionsphilosophie
Außer der von Spinoza und Mendelssohn vorgenommenen Zuordnung der Religion unter die Kategorie der Gesellschaft führt Ascher eine weitere Neuerung in die Behandlung des Judentums ein. Ascher greift zur Methode der in seiner Zeit aufgekommenen Wissenschaft der »Religionsphilosophie«.1413 Sie versucht nicht
1411 Leviathan, S. 121f. 1412 Leviathan, S. 179f; vgl. noch S. 119. 1413 Zu ihr s. H. Zinser, Religionsphilosophie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von H. Cancik, B. Gladigow, M. Laubscher, Stuttgart/Berlin/Mainz 1988, I, S. 303ff.; N. Hoerster (Hg.) Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie, München 1974; O. Pfleiderer, Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza bis zur Gegenwart, Berlin 18932; Hermann Samuel Reimarus, Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Hamburg 1781; Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen
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wie die mittelalterliche, zuweilen ebenfalls »Religionsphilosophie« genannte theologische Philosophie, das theologische Denken mit Hilfe philosophischer Kategorien darzustellen und zu erklären. Die neue Religionsphilosophie hat nicht die Theologie zu ihrem Gegenstand, sondern das Phänomen der Religion als einer universalen anthropologischen Erscheinung. Die aufklärerische Religionsphilosophie unterstellt bei ihren Untersuchungen von Religion »eine prinzipielle Gleichheit aller Religionen, und sie interpretiert ihre tatsächlichen Unterschiede als ein Ergebnis historischer Entwicklungen.«1414 Auch Saul Ascher beschreitet diesen Weg, so dass ihm die jüdische Religion nur als eine historisch und regional (Orient)1415 bedingte Sonderform des allgemeinen Phänomens »Religion« erscheint. Sein letztlich anvisiertes Ziel einer Reformation des Judentums als eines gesellschaftlichen Phänomens zum Zwecke der bürgerlichen Verbesserung der Juden, kann darum erst sachgerecht definiert werden, wenn man die Spezifika des Judentums im Rahmen des Gesamtphänomens der Religion richtig verstanden hat. Trotz dieses neuen religionsgeschichtlich und religionsvergleichend operierenden religionsphilosophischen Zuganges bleibt allerdings – dem damaligen Selbstverständnis der Disziplin entsprechend – die Gottesfrage, das heißt die Existenz eines »höheren Wesens«, unbestritten. Dies ist wichtig zu betonen, da die im Folgenden zu besprechenden weiteren Definitionen Aschers von der Religion ein überaus starkes anthropologisches Fundament besitzen, und so zuweilen den Eindruck einer nur anthropologischen, das heißt nicht transzendenten, Begründung der Religion erwecken.
3.
Das Wesen der Religion
Das erste Kapitel des ersten »Buches« des Leviathan ist mit dem Titel »Von der Religion«, dem neuen »zünftigen« Verständnis der Religionsphilosophie entsprechend, angemessen überschrieben. Ein traditioneller Jude und auch ein entsprechender Christ würde eine solche Überschrift ohne weiteres so verstehen, als wäre hiermit eben sein eigener Glaube, die eigene Religion als Religion schlechthin, gemeint. Dies ist bei Ascher jedoch nicht intendiert. Gehandelt wird in diesem Eröffnungskapitel von dem Wesen und Grundprinzip »der Religion« als kulturellem Phänomen, unabhängig von ihren historischen Realisierungen bei verschiedenen Völkern. Die erste wichtige Feststellung zum Verständnis der Religion ist deren »Funktionalität«. Religion hat eine Funktion für das menschliche Leben, sie hat über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Braunschweig 1774; kurz: G. Lanczowski, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 1980, S. 70f. 1414 Lanczowski, Einführung, S. 72. 1415 Leviathan, S. 28.
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einen klar definierbaren Zweck dafür, ist also nicht durch die Willkür der Transzendenz dem Menschen vorgegeben und durch sie bestimmt. Religion hat ihre Daseinsberechtigung nicht im fraglos zu akzeptierenden Willen der Gottheit, sondern in ihrer Funktionalität für das menschliche Leben. Die erste diesbezügliche Feststellung Aschers stellt die Religion zunächst als Ausgleich eines Defizits dar, von dem die menschliche philosophische Spekulation behaftet ist: »Das Judentum ist eine Religion, und daher ebenfalls ein Mittel, in uns diejenige Lücke auszufüllen, die wir nur mit Mühe durch Spekulation oder Dialektik ersetzen können. Suchen wir es nun als ein solches Mittel zu gebrauchen, so machen wir von ihm die richtigste Anwendung.«1416 Was in dieser Definition als Lückenbüßer-Funktion für eine defizitäre Vernunftbegabung philosophisch Minderbemittelter erscheinen mag, darf indessen nicht so verstanden werden. Das hier genannte Defizit ist nicht das des philosophisch Unterbegabten, sondern ist eine unentrinnbare anthropologische Konstante, der auch der bestgebildete Philosoph letztlich nicht entgehen kann, wie Ascher von dem schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) gelernt hat.1417 Da Ascher dieses Thema des Glaubens als anthropologischer Grundkonstante, insbesondere unter dem gleichfalls Hume’schen Stichwort des »Glaubens«,1418 im Zusammenhang der »Offenbarungsreligion« erörtert, soll es hier zunächst zurückgestellt werden. Zum Verstehen der Funktionalität und der Zweckdienlichkeit des Religiösen gehört nun nach Ascher, dass man das betrachtet, wofür die Religion ihre Aufgabe erfüllen soll, nämlich die menschliche Natur. Will man die Religion richtig verstehen gilt es demnach »der menschlichen Natur nachzuspüren.«1419 Dies ist nötig, weil die Religion nur im Hinblick auf den Menschen Sinn hat, denn »Religion ist Bedürfniß des Menschen, in so fern er vernünftiges Wesen ist. In dieser Rücksicht war kein Mensch jemals ohne Religion.«1420 Diese Bezogenheit oder gar Ursache der Religion, das menschliche Bedürfnis, ist auch der Grund dafür, dass es im Laufe der Geschichte und bei unterschiedlichen Gesellschaften unter1416 Leviathan, Einleitung, S. 14f. 1417 Leviathan, S. 173. Zu Hume s. J. Kulenkampf, David Hume. Eine neue Wissenschaft von der menschlichen Natur, in: Philosophen des 18. Jahrhunderts, hrsg. von L. Kreimendahl, Darmstadt 2000, S. 122–140; W. Röd, Der Weg der Philosophie, II, S. 89–98; R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, S. 199–214; F. Copleston, A History of Philosophy, Garden City/New York 1964, V, S. 63–156. 1418 Siehe A. Flew, Hume’s Philosophy of Belief. A Study of his first Inquiry, London 1961; Copleston, History, V, S. 92–96. 1419 Leviathan, S. 18. 1420 Leviathan, S. 21.
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schiedliche Formen der Religion gab und noch gibt. Die Realisierung der Religion folgt per definitionem den unterschiedlichen Bedürfnissen unterschiedlicher Kulturen: »Eine jede Religion, sie mag vernunftmäßig, natürlich oder geoffenbart seyn, hat bloß ihr Daseyn dem Bedürfnisse derjenigen Gesellschaft zu verdanken, die für sie einen gewissen Grad der Bildung erreicht hat.«1421 Mit anderen Worten, jede Gesellschaft hat die Religionsform, die ihren Bedürfnissen und ihrem Bildungsstand am besten entspricht. Nicht allein der Bildungsgrad einer Nation muss und wird genau der Form ihrer Religion entsprechen, sondern auch dem Naturell dieses Volkes wie auch dem Klima, in welchem es wohnt. Die Abhängigkeit der Religionsform von den menschlichen Gegebenheiten ist so grundlegend, dass sogar der Gott der Juden, deren Religion dem Typus der Offenbarungsreligion angehört, genötigt war, bei der Offenbarung all diese Volks- und Regionalverschiedenheiten zu beachten: »Da aber die Menschen für ein gewisses Grundprincip der Glückseligkeit allgemein geschaffen sind, und nur in der Form, die sich nach dem Klima modificirt, voneinander abweichen, so mußte der Schöpfer selbst für die Juden eine Form wählen, die auch ihrem durch das Klima modificirten Naturell gemäß war, und sie dadurch auf einen Weg leiten, wo sie einen Grad von Glückseligkeit finden, den er andern Menschen durch seine unerforschlichen Rathschlüsse auf andern Wegen zeigte.«1422 Bei all diesen Unterschieden in der Form ist aber die Religion ihrem Wesen nach stets gleich, wie Ascher mehrfach betont: »Erwägt man nun genau die ganze Verschiedenheit, die in der Religion Statt finden kann: so beruht sie nur auf der Form, im Wesen sind sie sich völlig gleich.«1423 Die Konstante der Religion ist laut Ascher hingegen: »Will man dieser [soeben beschriebenen] anthropologischen Regel einige Gültigkeit zugestehen, so muß man unfehlbar darauf zurückkommen: daß eine jede Religion, in so fern sie der Mensch gebildet und polirt hat, ein Prinzip oder die Idee von einem höhern und vorzüglichern Wesen als das unsrige, zum Grunde hat. Das Verhältniß zwischen uns und diesem Wesen, und die
1421 Leviathan, S. 18f. 1422 Leviathan, S. 93; und vgl. S. 205. 1423 Leviathan, S. 30.
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Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
Mittel, wie wir dieses Verhältniß erreichen und erhalten können, zeigt uns alsdann die Religion.«1424 Das Prinzip jeder Religion ist demnach, Ascher wiederholt dies viele Male: »Sie setzt die Idee von einem erhabenen Wesen voraus, lehrt das Verhältniß, worin wir gegen dieses Wesen stehen, und befiehlt, wie wir es erreichen und erhalten können.«1425 Diese drei Grundkategorien der Religion, die Idee des höheren Wesens, das Verhältnis, in dem der Mensch zu ihm steht, und das daraus folgende Verhalten, sind als Funktion im Rahmen von Religion konstant, ihre Realisierung unterscheidet sich hingegen zunächst in den von Ascher vorausgesetzten drei grundsätzlichen Religionstypen, Vernunftreligion, Naturreligion1426 und Offenbarungsreligion, samt deren weiteren Untergruppierungen. Der Unterschied dieser drei Haupt-Religionsformen besteht zunächst darin, dass sie sich auf unterschiedliche Quellen zur Erkenntnis des höchsten Wesens stützen: »Nehmen wir nun die Religion als einen Gegenstand, der unter den Menschen allgemeines Interesse erregt; so finden wir: daß hier eine Gesellschaft sie aus den Begebenheiten der Natur abstrahirt, dort eine sie auf die Autorität verschiedener Geschichtsvorfälle constituirt, und da eine sie aus sich selbst, aus den Prinzipien der Vernunft analysirt.«1427 Für die Naturreligion ist mithin die Natur,1428 für die Offenbarungsreligion die Geschichte und für die Vernunftreligion die menschliche Vernunft die grundlegende Erkenntnisquelle, um zur Erkenntnis des »höheren Wesens« zu gelangen. Die Abstraktion aus den drei Erkenntnisbereichen oder Erkenntnismedien führt zu entsprechenden Bildern von diesem »höheren Wesen« und hat auch Einfluss auf die beiden anderen Elemente der Religion, das ist die Lehre (sie beschreibt das Verhältnis des Menschen zu dem höheren Wesen) und das daraus resultierende Verhalten. Letzteres wird in der Vernunftreligion die autonome Ethik sein, in der jüdischen Offenbarungsreligion das heteronome Gesetz, in der Naturreligion ein naturgemäßes Verhalten im Gesetz oder auch in der Kunst.
1424 Leviathan, S. 19f. 1425 Leviathan, S. 31. 1426 Zu ihr, K.H. Kohl, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV, S. 230–233. 1427 Leviathan, I, 2, S. 23f. 1428 So auch D. Hume, The Natural History of Religion 1755 (hrsg. von. A.W. Colver) und Dialogues concerning natural Religion (hrsg. von J.V.Price), beide Oxford 1976; und s. K.H. Kohl, Naturreligion, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, IV, S. 231; J.E. Bauer, Religionsphilosophische Autoren von der Aufklärung bis zur Gegenwart, I, S. 319–332.
Haskala – die jüdische Aufklärung
4.
Offenbarungsreligion und der Glaube
4.1
Die transzendente Grundlage der Offenbarung
425
Das Judentum gehört zum Typus der Offenbarungsreligion, deshalb muss Ascher nun zunächst deren Besonderheit näher betrachten. Die hier zu machenden Feststellungen weisen in besonderem Maße das schon erwähnte Schwanken Aschers bezüglich der Beurteilung des Phänomens Religion auf und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen schwanken seine Aussagen zwischen der Annahme einer anthropologischen Grundlage der Offenbarung auf der einen Seite und einer transzendenten auf der anderen. Das andere Schwanken Aschers ist das zwischen einer Hierarchisierung von spekulativer Wissenschaft und Offenbarung, das heißt auf der einen Seite die Höherwertigkeit der Wissenschaft vor der Offenbarung und auf der anderen die Gleichrangigkeit von Wissenschaft und Offenbarung. Offenbarung wird zunächst als die Wahrnehmung von Dingen definiert, die dem Menschen aus »dem allgemeinen Lauf der Natur wahrzunehmen vorenthalten ist.«1429 Damit soll die Offenbarung als ein geschichtliches Phänomen definiert werden. Derartige geschichtliche Ereignisse geschehen durch Selbstoffenbarungen der Gottheit, wie sie im Judentum mehrfach zu finden sind,1430 oder aber durch eine vermittelte Offenbarung der Gottheit über einen der »unsterblichen Mittler«, so durch die biblischen Patriarchen, im Christentum Jesus und im Islam Mohammed.1431 Mit diesen und ähnlichen Aussagen wird die Offenbarung auf eine transzendente, ontologische, Grundlage gestellt. Diesen Feststellungen Aschers scheint nun aber eine ganze Reihe von Aussagen zu widersprechen, welche die Offenbarung unentrinnbar und einzig auf den menschlichen Glauben gründet.
4.2
Der menschliche Glaube als Grundlage der Offenbarung
Eine erste Definition des »Glaubens« durch Ascher scheint diesen als Gegensatz zur vernünftigen Erkenntnis zu begreifen und lässt ihn demnach, samt der Offenbarung, als etwas Minderwertigeres erscheinen:
1429 Leviathan, S. 40. 1430 Leviathan, S. 44. 1431 Leviathan, S. 40.
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Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
»Der Glaube findet nur bei einem Dinge Statt, dessen Nothwendigkeit wir nicht einsehen und von dessen Wirklichkeit wir nicht überzeugt sind. Ein solches Ding ist die Offenbarung.«1432 Noch deutlicher in die anscheinend den Glauben herabwürdigende Richtung deutet eine weitere Äußerung Aschers, wenn er sagt, dass die Offenbarung »für die mehrsten Menschen nothwendig [ist]; sie muß ihnen das ersetzen, was ihnen an höheren Geistesgaben abgeht«.1433 Die Verzahnung dieser beiden nicht evidenzfähigen Größen, Glaube und Offenbarung, wird bei Ascher aber noch sehr viel grundsätzlicher gesehen. Er sagt, dass der menschliche Glaube die unumgängliche Bedingung für die Offenbarung ist. Damit steht und fällt die Möglichkeit einer Offenbarung mit dem Vorhandensein des menschlichen Glaubens, ohne ihn kann es keine Offenbarung geben. Ascher erörtert dies einmal am Beispiel des Urvaters Noah: »Er muß daher von Natur eine größere Anlage zum Glauben gehabt haben, als es sonst bei den Menschen gewöhnlich ist, und diese ward die unumgängliche Bedingung derjenigen Offenbarungen, die ihm zu Theil wurden.«1434 Diese Bedingung gilt für jeden Anhänger einer Offenbarungsreligion: »Die nothwendige Bedingung für einen Anhänger der geoffenbarten Religion muß seyn, die subjective Bedingung, Glaube.«1435 Der »Glaube [ist] die Bedingung aller geoffenbarten Religion.«1436 Damit scheint die objektive nicht-anthropologische Grundlage der Offenbarung gegen Null zu tendieren, denn alles ist vom Glauben des Menschen abhängig. Diese Abhängigkeit der Offenbarung vom Menschen und seinem Glauben kann Ascher auch einmal als eine Abhängigkeit der Offenbarung vom menschlichen Bedürfnis erklären: »Die Offenbarung kann, so wie wir sie jetzt kennen, nur da Statt finden, wo die Menschen ein Bedürfniß fühlen, eine Lücke in ihrer subjectiven Erkenntnis auszufüllen. Um die Befriedigung dieses Bedürfnisses zu erhalten, muß Glaube stattfinden.«1437
1432 Leviathan, I, 5, S. 49. 1433 Leviathan, S. 57. 1434 Leviathan, II, 2, S. 105. 1435 Leviathan, S. 58. 1436 Leviathan, S. 105. 1437 Leviathan, S. 73.
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Diese widersprüchlich erscheinende Aussage von der Abhängigkeit der Offenbarung vom menschlichen Glauben angesichts der zuvor behaupteten transzendenten Realität der Offenbarung wird indessen aufgehoben, wenn man näher betrachtet, was Ascher unter »Glauben« versteht und in welchem Verhältnis er zur Vernunft steht. Zunächst gibt es eindeutige Aussagen Aschers, dass – zumindest in bestimmten Phasen der Offenbarungsreligion (s.u.) – Vernunft und Glaube sich absolut widersprechen: »Vernunft und Glaube kann man daher hier als ganz heterogene Dinge betrachten, so daß es im strengsten Verstande keinen vernünftigen Glauben giebt. Es ist wohl ein Glaube vorhanden, der die Vernunft in eigenmächtiger Thätigkeit, wie wir in der Folge sehen werden, nicht stört; allein an und für sich ist der Glaube immer der Vernunft zuwider.«1438 Dies ist auch der Grund, so Ascher, weshalb die Vernunftreligion nie etwas mit dem Glauben zu schaffen hat.1439 Damit ist für Ascher aber der Glaube samt der auf dem Glauben aufruhenden Offenbarungsreligion nicht auf ein verzichtbares, minderwertiges Präliminarium herabgewürdigt, wenn auch die Offenbarungsreligionen eine Tendenz haben, sich der Vernunftreligion entgegenzuentwickeln. Dies gilt es im Folgenden zu begründen.
5.
Der Glaube und die Vernunft – zwei eigenständige Erkenntnisweisen
Der Glaube, das sagt Ascher in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza, ist etwas, das wegen der nicht heilbaren Schwachheit der Menschen unausrottbar ist. Damit erscheint der Glaube gegenüber der Vernunft zunächst wieder als etwas Geringeres, das es eigentlich zu überwinden gilt, wenn dies auch nie gelingen wird, denn es heißt »ganz ohne Menschenkenntniß verfahren [...], der Menschheit eine Schwachheit vorzuwerfen, die sie leider ewig haben wird, und der sie immer wird unterliegen müssen. Die Menschen sind keine Engel, und wer sie auf diese Stufe erheben will, der verliert selbst zu viel von seiner Menschlichkeit. Man su-
1438 Leviathan, S. 78f. 1439 Leviathan, S. 80.
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che die Menschen so viel als möglich zu bilden, aber vergesse nie, daß es Menschen sind.«1440 Ascher bleibt indessen nicht bei diesem Beklagen einer defizitären menschlichen Begabung stehen. Schon die soeben angeführten Bemerkungen deuten an, dass das Streben nach dem Zustand der Engel zugleich einen Verlust der »Menschlichkeit« mit sich bringen würde. Das heißt, das Vernunftdefizit des Menschen hat geradezu seinen menschlichen Charme, der ein wesentlicher Teil der Menschlichkeit ist. Diese positive Wendung bei der Beurteilung des »Defizites« an Vernunft wird sogleich durch eine grundsätzliche epistemologische Aussage weiter untermauert, derzufolge der Glaube eine Erkenntnisweise sui generis ist, der Erkenntnisse offenstehen, die der Vernunft verschlossen bleiben müssen: »Die Vernunft kann eine Wahrheit nicht fassen, die sich der Glaube faßlich zu machen vermögend ist. Die Menschheit kann sich trösten, daß sie am Glauben da eine Stütze gefunden hat, wo ihre edelste Gabe, die Vernunft, sie verlassen hätte.«1441 Somit ist das Verhältnis von Vernunft und Glaube durchaus ein dialektisches, die Vernunft ist des Menschen höchste Gabe, aber sie hat Grenzen, die zu überschreiten alleine der Glaube vermag. Mithin ist menschliches Leben ohne Glauben unmöglich. Daraus folgt zugleich, dass es Bereiche gibt, die nur für den Glauben bestimmt und darum legitimer Weise nicht von der Vernunft zu kritisieren sind.1442 Zu einem solchen Bereich gehören nach Auffassung Aschers die religiösen Dogmen, die nach seiner Auffassung auch gerade im Judentum dessen Wesen ausmachen und die es darum gilt sichtbar zu machen.1443 Gegen mögliche Einwände von Seiten einer Vernunftreligion, nämlich dass Dogmen negativ als Fesseln der menschlichen Vernunft zu beurteilen seien, argumentiert Ascher: »Doch Dogmen, wird man sagen, sind Fesseln für die Vernunft, anstatt daß Gesetze bloß Fesseln für den Willen sind. – Nur der Heuchler kann diese Instanz machen, der der Welt inbrünstigen Betrug für Frömmigkeit zollen will, nicht der Vernünftige. Wer wagt sich mit der Vernunft an den Glauben? Und wer wagt es seinen Glauben für Erkenntnis auszugeben? Daß doch die Menschen immer gerne Kollisionen aufsuchen, da, wo die Natur die größte Harmonie schuf. In Ewigkeit wird die Vernunft dem Glauben einen Bezirk ein1440 Leviathan, S. 154. 1441 Ebd. 1442 Leviathan, S. 156. 1443 Leviathan, S. 172.
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räumen müssen, und wenn sich dieser nicht erhebt und in den Spielraum der Vernunft eindringt; so wird jene ihn ewig dulden, ihn sogar oft zu sich einladen und mit ihm harmoniren können. Hume, der so oft verrufene Hume, äußert schon diesen Gedanken.«1444 Ascher führt in diesem Zusammenhang die Humesche Erkenntnistheorie an, nach welcher die objektive Realität nicht hinreicht, dem Menschen die Wunder in der Welt begreiflich zu machen und der darum mit allem Nachdruck betont, dass die christliche Religion eben nicht auf Vernunft, sondern auf dem Glauben gründet.1445 Ascher dehnt, wiederum sich auf Hume berufend, diesen Grundsatz auf alle Religionen aus. Mit alledem will jedoch Ascher das Recht der Vernunft zur Kritik und zum Zweifel nicht absprechen. Doch, so meint er, ist dies eine Sache der Vernunft, eine berechtigte Sache, die sie allerdings nicht auf den Glauben ausdehnen darf. Vernunft und Glaube sind zwei kategorial zu unterscheidende Weisen der Weltwahrnehmung, auch wenn sie sich gegenseitig überlappen, aber doch niemals gegenseitig vernichten können.1446 Für beide, Glaube und Vernunft, gilt darum, dass sie ihr Terrain klar erkennen müssen, um es nicht zu überschreiten. Weder darf der Glaube vor das Forum der Vernunft gezogen werden,1447 noch darf der Glaube sich anmaßen, seinen ihm bestimmten Bezirk zu verlassen und die menschliche Vernunft sowie den menschlichen Willen einschränken zu wollen.1448 Der Glaube ist somit »eine allgemeine Bedingung für die Menschen«.1449 Und darum ist er nicht nur für die Ungebildeten vonnöten, sondern auch für die gebildete Gesellschaft.1450 Dies ist so, weil es ›die Natur weislich geordnet hat‹, dass auch der religiöse Glaube zu den Bedingungen des menschlichen Daseins gehört.1451 Daraus folgt natürlich, dass nicht nur der Glaube, sondern gleichermaßen die Religion Bedingung und Bedürfnis auch und gerade der gebildeten Gesellschaft ist: »In dieser Rücksicht wird der Leser uns zugestehen, daß, so wie Glauben eine nothwendige Bedingung, Religion Bedürfniß einer jeden gebilde-
1444 Ebd., S. 172f. 1445 Leviathan, S. 173. 1446 Leviathan, S. 174. 1447 Leviathan, S. 197. 1448 Leviathan, S. 196. 1449 Leviathan, S. 194. 1450 Leviathan, S. 196. 1451 Leviathan, S. 189; vgl. noch S. 190, 194, 198. »Mag immer der Denker an dem Dinge seine Kräfte üben, er wird zeigen, daß die Menschen nicht bloß für Vernunft geschaffen sind, und daß die Objekte des Glaubens nicht denen der Vernunft entsprechen.«, Leviathan, S. 217.
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ten Gesellschaft ist.«1452 Der Glaube an die Offenbarung beruht – dies ist wichtig zu betonen – nicht auf einer Autorität, sondern darauf, dass die Menschen mit diesem Glaubensakt ein besonderes »Interesse« verbinden, eben ein Interesse, das den jeweiligen menschlichen Grundbedürfnissen entspricht.1453 Der menschliche Glaube ist ein konstitutives Element des Menschseins, eine eigene Erkenntnisform des Menschen, der die Offenbarung systematisch zugeordnet ist.
6.
Die Phasen und Typen des Glaubens
Für die im letzten Teil seines Buches vorgetragenen Reformziele ist es wichtig zu wissen, dass Ascher beim religiösen Glauben eine Entwicklung über zwei Stufen sieht, der zwei analoge Phasen der offenbarten Religion entsprechen. Die frühere Phase des Glaubens ist der so genannte »regulative Glaube«, ihm folgt hernach der »constituirte Glaube«. Regulativer Glaube ist ein Glaube, der noch ohne festes Glaubensinventar, ohne feste Lehren und Dogmen so etwas wie eine Art Grundgesinnung darstellt, welche die Menschen zu gemeinsamem Denken anleitet. Erst wenn aus dieser Phase des Glaubens feste Glaubensinhalte deduziert, feste Inhalte und Regeln formuliert werden, ist er »constituirter« Glaube. Am Beispiel des Judentums stellt sich dies so dar: »Der primitive Zweck des Judenthums war [...] bloß, die Menschen durch das Band der Gesellschaft glücklich zu machen. Der Ewige suchte sie daher zu gewöhnen, nach einer Form zu denken, damit sie über seine erhabene Zwecke gleich zu denken gestimmt wären, da war der Glaube regulativ. Als er aber mit ihnen ein Bündniß schloß und ihnen zur Erhaltung des Glaubens gewisse Anordnungen verlieh, die die Symbole von den Zwecken seyn sollten, die er mit ihnen hatte, da ward der Glaube constituirt, d.h. ein jeder mußte sich einer gewissen Verbindung unterwerfen, um bei dem beabsichtigten Zwecke mit einbegriffen zu werden.«1454 Der regulative Glaube entspricht darum etwa einem frühkindlichen Erziehungsprogramm, bei dem der Erzieher nicht mit fest formulierten Glaubens- und Ver1452 Leviathan, S. 198. Hier ist noch anzumerken, dass Ascher vom allgemeinen Glauben spricht, der etwa einem Reisebericht glaubt, weil der Erzähler eine vertrauenswürdige Person ist. Demgegenüber ist der »religiöse Glaube« – von dem alleine hier ausführlicher gehandelt wird – ein solcher, der seine Gewissheit nicht aus der Vertrauensperson des Erzählers bezieht, sondern aus der menschlichen Interessenlage, welche das Geglaubte darum annimmt, weil es dem menschlichen Bedürfnis entspricht; Leviathan, S. 50f. 1453 Leviathan, S. 50f. 1454 Leviathan, S. 121f.
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haltensregeln operiert, sondern durch Ereignisse und tägliches Geschehen das Kind zu lenken sucht, in einer bestimmten Weise zu denken und zu handeln. Es ist dieser regulative Glaube, der alleine die schon genannte Voraussetzung der Offenbarung ist: »Die subjective Bedingung aller geoffenbarten Religion ist Glaube. Diesen haben wir bisher bloß regulativ betrachtet, d.h. in so fern er Veranlassung der Offenbarung ist, oder in so fern er die geoffenbarte Religion möglich macht.«1455 Für diese Phase des Glaubens gilt, dass die Religion eine Folge des Glaubens ist. Der Glaube erscheint demnach als eine menschliche Fähigkeit, aus den geschichtlichen Erfahrungen richtige Folgerungen zu ziehen, um dadurch eine entsprechende Gesinnung und entsprechendes Handeln zu gewinnen, dann »herrscht unter den Menschen ein allgemeiner Geist, den man Religion nennt.«1456 Dieser Prozess der Wahrnehmung ist die eigentliche Offenbarung. Sie kann nicht durch die Vernunft verifiziert werden, sondern wird durch die Bedürfnisse des Menschen hervorgebracht und gestützt.1457 Im Falle des »constituirten« Glaubens jedoch verhalten sich die Dinge gerade umgekehrt. Bei ihm ist der Glaube eine Folge der Religion,1458 das heißt der Glaube ist nun »angenommener Glaube«.1459 Der »constituirte« Glaube ist einer, der zum einen feste Grenzen und Regeln bestimmt und sich sodann auf diese stützt und an andere weitergibt, die sich glaubend darauf einlassen. Nun werden Regeln erlassen, es entstehen »Symbole« die die Treue dieser Glaubensform gegenüber dokumentieren. Somit entsteht das Gesetz. »Wird dies Gesetz unter Aufsicht gebracht, so entwickelt sich daraus eine Kirche.«1460 Der regulative Zustand des Glaubens ist demnach die Phase der Offenbarung, hernach tritt an seine Stelle das überlieferte Regelwerk. Während der anfänglichen Offenbarungsphase der Religion werden »die Materialien der Religion [...] so aufbehalten werden wie sie offenbart sind, oder so, wie sie zu einer regulativen Religion, worunter ich bloß eine Übereinstimmung im Glauben verstehe, gesammelt sind, ist eigentlich die Religion noch nicht constituirt, sondern bloß regulativ.
1455 Leviathan, S. 72. 1456 Leviathan, S. 73. 1457 Vgl. noch Leviathan, S. 72f. 1458 Leviathan, S. 72. 1459 Ebd., S. 73. 1460 Leviathan, S. 82f.
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Ferner ist eine regulative Religion noch immer Veränderungen unterworfen. Man ändert dies, man hebt jenes auf; man verbessert, man setzt manchen Theil auf eine andere Art auseinander und dies alles durch Hülfe der Offenbarung.«1461 Wichtig für das Denken Aschers in Sachen Judentum als Offenbarungsreligion ist es, den Unterschied von Glauben und Religion und deren dialektisches Verhältnis zueinander zu bedenken. Der Glaube ist, so wurde bislang deutlich, eine Kategorie des Individuums, wohingegen die Religion eine solche der Gesellschaft ist. Beide können zwei unterschiedliche Stufen durchlaufen, nämlich eine »regulative« und eine »constituirte«. Ein regulativer Glaube ist eine die Offenbarung ermöglichende Offenheit des Individuums, aus der Geschichte je und dann Offenbarungswissen zu erfahren. Der konstituierte Glaube hingegen ist ein solcher, der die dem regulativen Glauben eigenen fließenden Offenbarungselemente systematisiert und zu einem Lehrsystem zusammenfasst, in dem eine Mehrzahl von Menschen übereinstimmen und wodurch sich diese Menschen miteinander verbunden fühlen. Diesen gemeinsamen Glauben bringen sie durch öffentliche Symbolhandlungen zum Ausdruck wie auch durch sonstige gleichartige Handlungsweisen. Damit ist der Glaube »constituirt«. In beiden Glaubensphasen, der regulativen wie der konstituierten, kann die Religion als gesellschaftliches Phänomen durchaus auch noch regulativ sein. Das heißt, sie ist dann eine Gemeinschaft von Menschen, die durch gemeinsame Glaubensvorstellungen, durch ein gemeinsam formuliertes Glaubensbekenntnis, oder gar ein dogmatisch-systematisches Lehrgebilde zusammengehalten wird. Das bedeutet, der Glaube bindet das gemeinsame Denken, nicht aber ein gemeinsames Gesetz, das den Willen der Menschen verpflichten würde.1462 In einem solchen Stadium ist »die Religion bloß regulativ, d.h. man war Jude, ob man gleich nicht nach einer constituirten, damals noch nicht vorhandenen Norm handelte; sondern ganz nach eigener Willkühr verfuhr. Die Vernunft hatte einen Zaum, allein der Wille war noch eigenmächtiger Herrscher.«1463 Dann, wenn die Religion auch feste Handlungsnormen einführt, ist sie eine »constituirte« Religion. Das bedeutet, dass die Religion sich dann nicht mit Lehrformulierungen im Sinne von Glaubenslehren begnügt, sondern Gesetze 1461 Leviathan, II, 9, S. 75. 1462 Leviathan, S. 120. 1463 Leviathan, S. 122.
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formuliert, welche das Handeln des Menschen regulieren. Dieser Zustand wurde im Judentum erreicht als »Moses den ganzen Umfang der Religion niederschrieb, und ihn als Kodex des Glaubens in die Hände der Priester gab, da änderte sich die ganze Constitution der Gesellschaft, und die Theokratie ging in die Hierarchie über. Die Geistlichkeit verwaltete die Religion, theils nach mündlichen, theils nach schriftlichen Normen, und da diese die Symbole des Glaubens enthielten: so ward dadurch die Religion nach und nach constituirt.«1464 Mit diesem Übergang der Regelungsgewalt in die Hände eines Klerus war der jüdische »Leviathan« geschaffen. Die regulative Religion, so verdeutlicht Ascher an anderer Stelle, ist eine »religiöse Gesellschaft«, während die konstituierte eine »gesellschaftliche Religion« ist.1465 Die Phase der nur regulativen Religion nennt Ascher, wie oben schon vermerkt, die »Theokratie«, während er die konstituierte als »Hierarchie« bezeichnet: »In der Theokratie stimmen daher die Menschen bloß im Glauben überein [...] in einer Hierarchie verbinden sich aber die Menschen zu einem Glauben; man will keinen andern Glauben als denjenigen, der constituirt ist.«1466 In der »Theokratie« ist jeder unter der direkten Herrschaft Gottes frei, wohingegen in der »constituirten« Religion, das heißt in der »Hierarchie«, mit ihren festen Gesetzen und ihrer nun auch entwickelten »dogmatischen Theologie«, menschliche Funktionäre über das akzeptierte Glaubens- und Gesetzesrepositum wachen. Die Offenbarungsreligionen haben, wie schon vermerkt, stets die Tendenz von der Theokratie in die Hierarchie, das heißt von der regulativen in die konstituierte Religion überzugehen wie auch der Glaube vom regulativen Glauben zum konstituierten sich entwickelt. So natürlich dieser Vorgang ist, so natürlich ist der ihn begleitende Prozess, nämlich dass die Menschen über den Formen, in welchen ihnen sich die Dinge nun darbieten, das »Allgemeine, oder eigentlich Transzendente« vergessen, so dass allmählich das zunächst nur »Zweckvolle«, das heißt die festen Regeln, mit dem eigentlichen »Zweck« der Religion verwechselt wird. Das heißt, gesetzliche Regelungen, die einen bestimmten Zweck verfolgen, mutieren nun zum Zweck selbst. Über diesen Zustand der Religion ergießt nun Ascher seinen ganzen beißenden Unwillen. Diese Form der Religion 1464 Leviathan, S. 121; und vgl. S. 86. 1465 Leviathan, S. 37. 1466 Leviathan, S. 76.
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haftet an allem fest und unerschüttert, die Vernunft wird von allem abgehalten, was sie eigenmächtig unternehmen will. »Vernunft und Glaube kann man daher hier als ganz heterogene Dinge betrachten [...]«.1467 Es ist mithin erst diese Phase der Religion, in welcher sich Vernunft und Glaube ins Gehege kommen, weil die oben schon genannte Grenzüberschreitung von der Glaubensseite gegenüber der autonomen Vernunft um sich greift. Abschließend muss hier bemerkt werden, dass Ascher in seinem gesamten Buch, außer im siebten Kapitel des dritten Teiles, vom Glauben stets nur als einem anthropologischen Erkenntnismittel neben der Vernunft spricht, das heißt als einer allgemein-menschlichen Veranlagung, ohne auf den Inhalt oder Gegenstand dieses Glaubens einzugehen, worin sich deutlich das Humesche Erbe auswirkt. Erst im besagten siebenten Kapitel, in dem es, wie im gesamten dritten Teil, um die Reform des Judentums geht, fühlt sich Ascher dazu veranlasst das »Organon des Judenthums« in vierzehn Artikeln vorzutragen. Dies lautet: »1. Ich glaube an einen Gott. 2. An einen einzigen Gott, der sich unseren Vorvätern Abraham Isaak und Jacob offenbarte, und ihnen unser Heil verheißen. 3. Der sich Moses und andere ihm gefällige Männer erwählt und ihnen die Gabe der Prophezeiung verliehen. 4. Der auf dem Berge Sinai unsern Vorältern Gesetze gab. 5. Wir glauben, daß die Beobachtung der Gesetze unsern Vorältern heilig waren [sic!], und sie dadurch auf dem Wege erhalten worden, wo wir jetzt im bloßen Glauben an Gott und seine Propheten wandeln. 6. Wir glauben, daß dieser Gott ein Gott der Liebe ist. 7. Er wird das Gute belohnen und das Böse bestrafen. 8. Er regiert die Welt durch seine Vorsicht und Allmacht. 9. Er wird auch unsere Unfälle alle zum Guten lenken. 10. Wir hoffen Erlösung durch seinen Messias in diesem Leben oder in unserm Grabe mit denen, die er in der Auferstehung würdig achten wird. 11. Wir verpflichten uns den Bund, den der Ewige mit unsern Vätern schloß, durch die Beschneidung zu erhalten. 12. Den Sabbat als einen der Gottheit geheiligten Tag zu feiern. 13. Das Andenken seiner Wohltaten durch Feste zu erneuern. 14. Und durch Buße, Gnade und Reinigung von ihm zu erflehen.«1468 Diese Glaubenssätze, welche sich, wie gesagt, vor der Vernunft nicht zu rechtfertigen brauchen, ist das Band des Glaubens, welches die Juden als konstituierten Glauben zusammenhalten kann – eines besonderen Gesetzes bedarf es, wie der fünfte Artikel betont, darüber hinaus nicht. Bleibt demnach die Frage, weshalb die »Vorälteren« diese Gesetze brauchten und warum Ascher für seine Zeit glaubte, diese ablegen zu können. Dies soll im nächsten Kapitel erörtert werden. 1467 Leviathan, S. 78. 1468 Leviathan, S. 237f.
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7.
435
Gesetz und Glaube – ihr Verhältnis zueinander
Der Glaube ist in der Offenbarungsreligion, wie oben dargestellt, die Grundlage der Offenbarung und steht somit am Anfang jeglicher Offenbarungsreligion. Als regulativer wie auch noch als »constituirter« Glaube ist sich der Glaube selbst genug und bedarf weiter keiner Regulierungen. Er ist das Band der »religiösen Gesellschaft«. Demgegenüber ist die konstituierte Religion der Zustand einer »gesellschaftlichen Religion«, die durch ein festes gesetzliches Regelwerk gelenkt wird. Das heißt, das Gesetz, die Halacha, ist in der jüdischen Religionsgeschichte erst ein sekundäres Phänomen. Das Gesetz gehört erst der konstituierten Religion an, nicht aber der regulativen, welche die Zeit der Offenbarung war. Die Religion des Gesetzes ist die Religion der »Hierarchie«, in welcher Menschen über Menschen herrschen und die Selbstbestimmung der regulativen Phase durch die Fremdbestimmung der »constituirten« Phase abgelöst ist. Bei der Definition der konstituierten Phase der Religion ist in Aschers Darstellung eine gewisse Unklarheit zu vermerken. Zum einen kann schon der »constituirte Glaube«, der nur das Denken der Menschen leitet, die Religion zu einer »constituirten« machen und zum anderen scheint sich die »constituirte« Religion gerade durch ein Gesetz auszuzeichnen, welches auch den Willen des Menschen lenkt. Desungeachtet zeigt die Funktionsbeschreibung des Gesetzes durch Ascher eine klare Nachordnung des Gesetzes hinter den regulativen und den konstituierten Glauben. Im Gesetz sieht Ascher nur eine Art Notbremse von Seiten der Gottheit, die sah, dass die Israeliten nicht fähig waren, den Glauben festzuhalten: »Die Absicht Gottes konnte bloß gewesen seyn, durch die Juden eine Gesellschaft zu constituiren, und da sich bei diesem Vorhaben sonderbare Begebenheiten entwickelten, die es oft verhinderten und oft beförderten, so gab er ihnen in dieser Rücksicht zugleich Verordnungen, die zum Theil Symbole sein sollten, um diese merkwürdigen Vorfälle im festen Andenken zu erhalten, und seinen eigentlichen Zweck ihnen stets lebhaft vorzustellen. Doch ihnen Rechte vorzuschreiben, daran dachte er ganz und gar nicht. [...] Doch da er endlich sahe, daß sie sich noch nicht ganz nach seinem Zwecke bequemten und überhaupt noch nicht im Glauben fest waren, indem jeder Vorfall sie bedauern ließ, daß sie Aegypten verlassen, da entschloß sich der Ewige ihnen Gesetze und Rechte zu geben.«1469 Damit ist deutlich, dass die Gesetze nicht das Wesen des Judentums ausmachen, sondern dass sie – ganz paulinisch gesprochen – nur zwischeneingekommene
1469 vgl. auch Leviathan, S. 116; und S. 103, 110, 164, 229.
436
Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
Zuchtmaßnahmen waren, um das Judenthum »als constituirte Religion zu erhalten.«1470 Diesen klaren Festlegungen und Definitionen des Judentums lässt Ascher sogleich eine deutliche Spitze gegen Moses Mendelssohns Definition des jüdischen Spezifikums als offenbartem Gesetz1471 folgen: »Wir werden in der Folge daher leicht ausmachen können: ob das Judenthum ein offenbartes Gesetz war. Hingegen ist die Lehre das eigentliche Object des Glaubens, und die ganze Form der Offenbarung […].«1472 Allerdings, so fährt Ascher fort, ist auch die gesetzgeberische Maßnahme Gottes nicht an ihr wirkliches Ziel gelangt, weil die Menschen nun das Zweckdienliche mit dem Zweck verwechselten: »Die Menschen gewöhnten sich bloß an die Handlung. Gewohnheit ging in maschinenartiges Wesen über, und man wähnte endlich, durch Handlungen dem ganzen Glauben Genüge zu leisten.«1473 Das Resultat dieser Verwechslung von Zweckvollem mit dem Zweck war die voranschreitende Gesetzesproduktion im Judentum. Dies ist eine bedauerliche Fehlentwicklung, bei der die bloße Funktionalität des Gesetzes im Dienste des Glaubens außer Sicht geriet.1474 Die Juden hätten, so meint Ascher, sich besser dem Wesentlichen des Judentums zuwenden sollen, dann wäre die nutzlose Gesetzesflut nicht nötig gewesen: »Wäre das Judenthum zu Glaubensartikeln geschritten, oder wäre ihr Stifter darauf bedacht gewesen: so hätten die Menschen nicht der geoffenbarten Gesetze nöthig gehabt. Ihr Glaube hätte sie vor jedem Abfalle sicher gestellt, und der Ewige hätte es ihnen gänzlich überlassen können, sich Regeln ihres Verhaltens vorzuschreiben.«1475 Nur wer diese Entwicklung und Wertehierarchie verkennt, konnte die irrige Auffassung vertreten, das Judentum habe keine »Dogmen und Glaubensartikel«,1476 die doch in Wahrheit das »Wesentliche des Judenthums« ausmachen.1477 Die
1470 Leviathan, S. 123. 1471 S.oben Kap. Haskala, III, 4. 1472 Leviathan, S. 123f. 1473 Leviathan, S. 164. 1474 Leviathan, S. 170. 1475 Leviathan, S. 165. 1476 Leviathan, S. 65. 1477 Leviathan, S. 172; vgl. S. 184.
Haskala – die jüdische Aufklärung
437
Entwicklung von Dogmen und Glaubenslehren hätte das Judentum in dem Zustand erhalten können, in welchem es einst in der Phase der Offenbarung sich formierte. In diesem Zusammenhang lässt Ascher auch nicht die »rabbinische Theologie«, also die Lehren der rabbinischen Haggada, wie sie hier im ersten Band beschrieben wurde, gelten. In ihnen sieht er nur »überspannte Meinungen«, die sich nicht um die eigentliche Zielsetzung des Gesetzes kümmerten, sondern sich ausschließlich der Entwicklung des Wesens der Gesetze widmete.1478 Nunmehr dürfte auch deutlich sein, warum Ascher in seinem »Organon des Judenthums« so selbstbewusst seine Unabhängigkeit vom Gesetz reklamieren konnte, wo er doch zu wissen vermeinte, das Wesentliche erkannt zu haben und dieses folglich mit den richtigen Mitteln zu bewahren imstand sein würde. Die Bewahrung dieses Wesentlichen des Judentums ist der zentrale Gegenstand des dritten Teiles des Buches, in dem Ascher aus dem bis dahin Vorgetragenen die Grundzüge für eine Reform des Judentums erschließt.
8.
Die Reform des Judentums – Möglichkeiten und Grenzen
Die in seinen Tagen dank der Aufklärung erfolgten Veränderungen sieht Ascher zwar mit Wohlwollen doch zugleich auch mit Kritik. Begrüßenswert ist, dass die Menschen, Juden wie Christen, begannen freier zu denken, dass dies allerdings einem Wildwuchs gleicht, der am Ende mehr Schaden anrichten wird, als Nutzen bringt. Schaden tritt dann ein, wenn die Religion in den Augen der Menschen vernachlässigt und verachtet und letztlich verlassen wird, denn, dies war bislang deutlich geworden, der Glaube, und damit die Religion, gehört zu den Grundkategorien des Menschseins. Beide können daher nicht ohne Schaden für den Menschen in seinem Menschsein aufgegeben oder beschädigt werden. Eine solche nicht wünschenswerte Entwicklung tritt nach der Einschätzung Aschers, wie in seinem zeitgenössischen Judentum sichtbar, ein, wenn die Veränderungen an den falschen Stellen des Gesamtphänomens Judentum und in der falschen Reihenfolge vorgenommen werden. Die richtige Reihenfolge des Reformhandelns kann man nach Ascher nur dann erreichen, wenn man zum einen klar zwischen den oben erörterten Begriffen und Phänomenen unterscheidet: Nämlich vor allem die individual-anthropologischen Kategorie des Glaubens und die davon zu unterscheidende gesellschaftliche Kategorie der Religion. Der Glaube ist, wie schon deutlich wurde, neben der Vernunft die zweite menschliche Erkenntnisfähigkeit, die eine grundsätzliche Offenheit für Offenbarung bedeutet. Demgegenüber ist die Religion eine Organisationsform von Menschen, die gemeinsame Glaubensauffassungen teilen. Glaube ist ohne Religion denkbar, richtige Religion
1478 Leviathan, S. 170.
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Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
nicht aber ohne Glauben. Allerdings kann es falsche Religion ohne Glauben geben – dies ist laut Ascher in mancher Hinsicht der Zustand seines zeitgenössischen Judentums. Neben diese grundlegende Unterscheidung zwischen Glaube und Religion tritt außerdem deren zusätzliche zeitliche und systematische Untergliederung. Beide, Glaube und Religion, kennen die beiden beschriebenen Phasen, die je mit demselben Adjektiv benannt werden. Da gibt es den regulativen Glauben und den constituirten Glauben. Und ebenso gibt es die regulative Religion und die constituirte Religion. Der regulative Glaube ist, wie gesagt, die normale menschliche Offenheit für Offenbarung, der constituirte Glaube ist hingegen die lehrhafte Zusammenstellung solcher einzelner Glaubensaussagen. Die regulative Religion ist der Zusammenschluss von glaubenden Menschen, eine religiöse Gemeinschaft, in der es keine Hierarchien gibt, sondern die erkannte Gottheit alleine Herr ist. Eine solche religiöse Gemeinschaft kann sich zum Zwecke der besseren Identifikation eine Glaubenslehre zusammenstellen, das heißt sich einen constituirten Glauben erstellen. Die constituirte Religion schließlich, ist sodann die menschliche Gesellschaft, die sich feste Gesetze gibt, mit deren Hilfe die Ziele des Glaubens befördert und gesichert werden sollen. Wichtig ist dabei zu wissen, daran mag nochmals erinnert werden, dass solche Gesetze nicht der Zweck der Religion sind, sondern alleine »zweckmäßig«, im Dienste der Bewahrung von Glauben und damit zur Erreichung des eigentlichen religiösen Zieles, das heißt die menschliche Glückseligkeit. Wenn der Glaube und die ihn begleitenden Umstände sich verändern, muss auch die constituirte Religion verändert werden, denn sie kann nur dienende Funktion für den Glauben und das religiöse Ziel, die Glückseligkeit, haben, nicht aber einen davon unabhängigen Selbstwert. Die natürlichen zeitlichen Folgen der vier Formen von Glauben und Religion sind meist so: Am Anfang steht der regulative Glaube des Individuums. Dann folgt der Zusammenschluss zur religiösen Gemeinschaft, das ist die regulative Religion. Diese religiöse Gemeinschaft kann sich sodann zur besseren Darstellung, Selbstbeschreibung und Identifikation, eine »Dogmatik«, will sagen eine systematische Zusammenfassung ihrer einzelnen Lehren geben, das ist einen »constituirten« Glauben. Und schließlich kann dann die »constituirte« Religion folgen, sie ist eine gesellschaftliche Organisation mit einer gesellschaftlichreligiösen Hierarchie von religiösen Spezialisten, die sich ein festes Gesetz gibt, um die gemeinsamen Ziele des Glaubens zu schützen und zu verfolgen. Dieses Gesetz hat also nur eine »Zweckmäßigkeit« für die besagten Ziele nicht aber einen Selbstzweck. Um nochmals Ascher selbst zu Wort kommen zu lassen: »Der Leser wird unser ganzes System nicht fassen können, wenn er nicht genau den Unterschied befolgt, den ich in regulativen und constituirten Glauben, und regulativer und constituirter Religion festgesetzt. Der constituirte
Haskala – die jüdische Aufklärung
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Glaube folgt unmittelbar auf die bloß regulative Religion, worauf dann unmittelbar die constituirte Religion folgt. Nun haben wir gezeigt, daß die letztere nie den unmittelbaren Zweck der Religion, sondern bloß etwas Zweckmäßiges begreift, wie auch, daß der regulative Glaube das Wesen der Religion enthält, und der constituirte ihn nach seinem ganzen Umfange nach darstellt.«1479 Diese systematische und chronologische Grundstruktur von Religion gilt es nun genau zu kennen und zu beachten, wenn man zu Reformen schreiten will. Man kann das Haus nicht vom Keller her umbauen, sondern muss mit dem Dach beginnen, muss die chronologische Entstehungsweise Schritt um Schritt zurückverfolgen. Was zuletzt als Instrument der Bewahrung kam und nicht das Fundament ist, muss zuerst verändert werden. Folglich: »Da wir nichts an der Form des Glaubens ändern können, so bleibt auch die regulative Religion im Judenthume feststehen. Einen constituirten Glauben, den man bisher im Judenthume vernachlässigt hat, müssen wir daraus entwickeln, und dadurch das Wesen unserer Religion constituiren, ihr eigenthümliches darstellen und die Constitution festsetzen. Der regulative Glaube brachte uns auf ein Object des Glaubens, d.i. das Princip, so wie uns die regulative Religion auf Glaubenswahrheiten brachte, d.i. die Lehre. Princip und Lehre machen also das Wesen des Judenthums aus, sie gründen unmittelbar auf die Bedingung, Glaube, und bestimmt geben sie den constitutiven Glauben.«1480 Damit sind die Grundlagen des Judentums für Ascher klar formuliert und die einzig mögliche Vorgehensweise für eine Reform des Judentums festgelegt. Grundlage des Judentums ist, dies ist mit seinem generellen Wesen als Offenbarungsreligion festgelegt, der Glaube, das heißt der regulative Glaube. Die spezielle Welterfahrung des Juden prägt seinen spezifischen regulativen Glauben. Diese Rangordnung innerhalb des Judentums, nach welcher der Glaube zugrunde liegt, das Gesetz aber nur »zweckdienlich« ist, also Hilfsfunktion hat, um das eigentliche Religionsziel zu erreichen, ist Ascher so wichtig, dass er dies, sich selbst wiederholend, eigens nochmals in einem Sieben-Punkte-Katalog zusammenfasst:
1479 Leviathan, S. 233. 1480 Leviathan, S. 233f.
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Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
»Erstens zeige ich: daß der einzig mögliche Zweck des Judenthums war, die Menschen so glücklich zu machen als möglich, und mit ihnen in dieser Rücksicht eine Gesellschaft zu constituiren. Zweitens: daß die einzige Bedingung der Offenbarung im Judenthume der Glauben war. Drittens: daß es daher nicht auf Gehorsam beruhe, sondern daß dieser nur als Mittel, um jenen höchsten Zweck des Judenthums zu erreichen, in gewissen Umständen vom Höchsten gefodert ward. Viertens: daß es auf einer wahren Autonomie des Willens gegründet ist. Fünftens: daß es die Absicht des Höchsten nicht gewesen, den Juden Gesetze zu offenbaren, um ihre Autonomie ewig zu stöhren. Sechstens: daß das Gesetz bloß die Religion constituirt, aber nicht ihr Wesen ausmacht. Siebtens: daß sie bloß zur Erhaltung der Gesellschaft als Rechte und zum Andenken verschiedener Handlungen und Vorfälle als Verordnungen eingesetzt waren.«1481 Mit diesem Katalog ist die schärfste Abgrenzung gegen Moses Mendelssohn markiert, der gerade in der Offenbarung des Gesetzes das Proprium des Judentums sah.1482 Zugleich ist damit eine Zielsetzung und Bedeutung für die Religion gesetzt, gegen die hernach der neoorthodoxe Rabbiner Samson Raphael Hirsch mit allem Nachdruck zu Felde zog.1483 Der Glaube ist also das Zentrum des Judentums und sein Wesen. Und dies gilt es bei einer Reform des Judentums zu bedenken. Die Sicherung dieses Fundamentes muss ein zentraler Teil jeder Reform des Judentums sein. Will man diesen Glauben sichern, so meint Ascher, ist es zweckmäßig, die Lehren des Judentums in einer »Dogmatik«, einem Lehrgebäude zusammenzufassen. Hat man dies getan, kann man als letztes schließlich eine neue Constitution der jüdischen Religion erarbeiten, das heißt neue Gesetze und Symbole aufstellen, welche das Glaubensfundament sichern. Um dieses Ziel zu erreichen muss gleichsam professionell vorgegangen werden: »das Judenthum gibt uns also den ganzen Umfang einer jeden geoffenbarten Religion als Princip, Lehre und Gesetz. Um Ordnung hierin zu erhalten, muß es gewisse Wissenschaften formiren.
1481 Leviathan, S. 229f. 1482 S. oben Kap. Haskala, III, 4. 1483 S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, III.
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Es muß daher erstens Berufsgeschäft werden, die Quellen, die Geschichte der Bildung und die Principien des Judenthums nach unserm Systeme zu entwickeln. Daraus entstände eine theoretische Dogmatik, oder die Wissenschaft der Quellen unseres Glaubens. Zweitens, muß die Gabe erlernt werden, die Religionswahrheiten im Zusammenhange faßlich, feststehend zu lehren und daraus entstände eine practische Dogmatik oder die Wissenschaft des constitutiven Glaubens unserer Religion. Drittens muß die Macht festgesetzt werden, durch welche die Symbole des Glaubens erhalten, die Gesetze geübt und aufgeklärt werden, und dies gäbe eine Symbolik oder eine Wissenschaft von der Constitution der Religion.«1484 Eine Reform des Judentums kann sich theoretisch demnach auf unterschiedliche Teile dieses gesamten Kompositums beziehen. In der Praxis ist es allerdings schädlich, wenn man dabei nicht die richtige Reihenfolge beachtet. Nach Ascher war es gerade dieser Fehler, der das Judentum in seiner Gegenwart bedroht. Weil nämlich die Menschen durch die Aufklärung ihr Denken und ihren Glauben veränderten hingegen die rechtliche Konstitution des Judentums unangetastet ließen, hat dies zu unablässigen Konflikten geführt. Die Menschen, die ihrem veränderten Glauben folgten, handelten wider die noch bestehende Konstitution des Judentums, das heißt wider seine Gesetze, was zu Auseinandersetzungen, Ausschlüssen oder freiwilligem Vernachlässigen der Gesetze führte, wodurch die Kohärenz des Judentums als Religion gefährdet wurde.1485 Der Grund für diese Fehlentwicklung ist bei vielen Juden das Missverständnis, die Konstituition, sprich das Gesetz, als das Wesen des Judentums und nicht als ein Mittel zum Zweck zu betrachten, das sie darum unnachgiebig verteidigen.1486 Nach dem oben Gesagten muss demnach die Reform da ansetzen, wo das Wesen des Judentums behindert wird, und dieses Hindernis ist seine nicht mehr zweckgemäße Konstitution, die darum erst abgeschafft werden muss, damit der Glaubensbereich freigesetzt wird und sodann die natürliche, oben skizzierte, Reihenfolge der Rekonstituierung der Religion neu in Angriff genommen werden kann. Eine »Reformation« – Ascher benutzt diesen Begriff unter bewusster Bezugnahme auf Martin Luther1487 – kann demnach eine Reformation sowohl des Glaubenssektors wie auch des Sektors der »constituirten Religion« sein. Ascher 1484 Leviathan, S. 235f. 1485 Leviathan, S. 224f. 1486 Leviathan, S. 222. 1487 Leviathan, S. 213, 217.
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Der religionswissenschaftliche Ansatz – Saul Ascher
unterscheidet diese beiden Möglichkeiten auch terminologisch. Die Reformation im Sektor des Glaubens nennt er eine negative Reformation und eine Reformation im Bereich der gesellschaftlichen Konstitution der Religion nennt er positive Reformation. Um die hier nicht ganz konsistente Terminologie Aschers zu verdeutlichen, soll zunächst sein Resümee der diesbezüglichen Erörterungen zitiert werden: »Die positive Reformation ist daher ein Problem für die Politik; die negative ein Problem für die Philosophie. Über jene muß die Gesellschaft, über diese müssen die Denker entscheiden.«1488 Die positive Reformation ist also gesellschaftlicher Natur, »Sie will einer Gesellschaft eine neue religiöse Constitution geben, die sich auf Glaubenswahrheiten gründet. Sie sucht daher am ganzen Umfange der Religion oder ihrer Form nichts zu ändern, sie will bloß ein neues Verhältniß der Gesellschaft gegen sie festsetzen.«1489 Demgegenüber kümmert sich die negative Reformation nicht um die gesellschaftlichen Fragen, sondern leistet gleichsam nur theologisch – dogmatische Arbeit: »Ein anderes ist es mit der negativen Reformation. Sie zerstört die ganze Form des Glaubens, und bildet aus ihren Theilen eine neue. Da diese Theile unmittelbar die Religion ausmachen, so sind sie homogen. Eine negative Reformation beschäftigt sich daher bloß den Bestandtheilen der Religion ein anderes Verhältnis zu geben, diesen Theil dort und jenen hier schicklicher anzubringen; kurz: dem Objecte des Glaubens eine andere Richtung zu geben, mehr Licht hineinzubringen, ihn faßlicher zu machen und aufzuklären.«1490 Für Ascher steht es nach all dem fest, dass für eine Reformation des Judentums zuerst eine positive Reformation durchzuführen sei.1491 Konkret bedeutet dies, dass zuerst das Gesetz von all seinen Elementen befreit werden muss, welche die Autonomie des Menschen hindert, seiner Glückseligkeit und damit der Bestrebung des Glaubens im Wege steht. Eine solche Sichtung und Lichtung des Gesetzes wird das Denken des Juden befreien, wird ihn nicht ständig zum Gesetzesübertreter machen und so seine Glaubensfreiheit und -kreativität beflügeln. Letzteres, befördert durch ein intensives Quellenstudium, wird dann auch zu ei1488 Leviathan, S. 214. 1489 Leviathan, S. 213. 1490 Leviathan, S. 214. 1491 Ebd., S. 214f.
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ner Zusammenfassung des jüdischen Glaubens in einer Lehre führen und hernach kann eine neue Konstitution errichtet, ein neues Gesetz formuliert und die geeigneten Symbole gewählt werden, die das Glaubensfundament sichern und befördern. Das Judentum soll also, nachdem es zuerst von dem nicht mehr zweckdienlichen Gesetz befreit ist, in eine neue kreative Glaubensphase treten, die sich dann erneut in einer passenden Verfassung konstituiert, wohl wissend, dass auch diese dann stets neu an ihrer Zweckdienlichkeit zu messen und gegebenenfalls zu verändern ist.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
V.
DER HISTORISCHE ANSATZ – WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS – NACHMAN KROCHMAL (1785–1840)
1.
Vorbemerkung
Die Zuordnung Nachman Krochmals entweder zur Aufklärung oder zu der ihr nachfolgenden Phase des jüdischen Historismus wie ihn die Wissenschaft des Judentums vertrat, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Zum einen gilt er, wenn auch mit der in der Einführung schon angesprochenen osteuropäischen Phasenverzögerung, als der ostjüdische Aufklärer par excellence, zum anderen gehört er, der in seinem geschichtsphilosophischen Denken stark von Hegel beeinflusst ist, schon dem jüdischen Historismus des 19. Jahrhunderts und der Wissenschaft des Judentums an, zu deren Pionieren er zu zählen ist und als solcher durch sein posthum von Leopold Zunz herausgegebenes Lebenswerk More Nevuche haSeman »Führer der Verirrten dieser Zeit« auch im Westen einen nicht unbedeutenden Einfluss ausüben konnte. Dass er im Folgenden dem Kapitel der Aufklärung zugeordnet wird, geschieht aufgrund seiner Wahrnehmung als Aufklärer durch seine jüdischen Zeitgenossen in Galizien.
2.
Biographisches
Nachman Krochmal wurde 1785 in der überwiegend jüdischen Stadt Brody in Galizien geboren. Nach seiner Verheiratung im Jahr 1798 zog er in das Haus seiner Schwiegereltern in Zolkiev. Aus medizinischen Gründen ging er 1808 vorübergehend nach Lemberg, kehrte bald wieder nach Zolkiev zurück, wurde 1826 mit vier Kindern verwitwet, um schließlich in 1836 wieder nach Brody zurückzukehren. Danach zog er noch nach Tarnopol, wo er schließlich im Jahre 1840 verstarb und sein Lebenswerk More Nevuche ha-Seman, »Führer der Verirrten dieser Zeit« unvollendet hinterließ. Der junge Krochmal setzte sich schon in Brody, im Zentrum der galizischen Haskala, und hernach in Zolkiev mit den Aufklärern in Verbindung. Er lernte Deutsch (1803), Latein, Französisch, Arabisch und Syrisch. Er las Mendelssohn, Salomon Maimon, Kant, Fichte, Schelling und Hegel und natürlich auch die hebräischen philosophischen Texte des Mittelalters, voran Moses Maimonides und Abraham Ibn Esra. Er las aber auch den Sohar, den Kabbalisten Moses Ben Nachman und andere. Außerdem studierte er das bahnbrechende historische Werk von ‘Asarja dei Rossi,1492 Me’or ‘Enajim, das einen großen Einfluss auf Krochmals eigene historische Arbeiten haben sollte, ebenso Markus Josts Geschichte der Israeliten, aber auch Texte von Karä-
1492 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II.
Haskala – die jüdische Aufklärung
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ern. Trotz des gegen ihn geäußerten Vorwurfes, er sei ein aufklärerischer Häretiker, und seinen Auseinandersetzungen mit den Hasidim, wurde Krochmal 1821 Leiter der jüdischen Ortsgemeinde Zolkiev. Zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes betrieb Krochmal unter anderem auch eine Alkoholpacht. Bei all dem verfolgte er seine historischen und philosophischen Studien, die schließlich in sein hier zu besprechendes Werk, den More Nevuche ha-Seman mündeten. Dessen Ergebnisse und Nachwirkungen machten ihn zu einem der Begründer der neuen jüdischen »Wissenschaft des Judentum«. Krochmal sammelte einen Kreis von Schülern und gleichgesonnenen Freunden um sich, mit denen er, zuweilen bei Spaziergängen in den Hügeln der Umgebung, über Philosophie, Geschichte und Judentum diskutierte.1493
1493 Zu Biographie und Denken s. M. Letteris, Toledot ha-Rav ha-Hacham ha-Hoker ha-mehullal Morenu ha-Rav Nachman ha-Kohen Krochmal, als Einleitung zu: More Nevuche ha-Seman, More ’Emuna zerufa u-Melammed Hochmat Jisra’el, hibbero […] Nachman Ha-Kohen Krochmal, hechino […] Doktor Jom Tov Lipman Zunz, Lemberg 1851(MNS); hier zitiert nach der Ausgabe Warschau 1894; Schim‘on Ravidowicz, Kitve Rabbi Nachman Krochmal, ‘aruchim ‘al Jede Schim‘on Ravidowicz, Berlin 1924, 2. Aufl., London 1961 (Rawidowicz), zu Leben und Werk ebd. den Mavo (Einleitung): I. Hajje RaNaK, II. Historia, Bikkoret uMasoret, III. Hegeljanijut, IV. Laschon we-Targum; J.M. Harris, Nachman Krochmal. Guiding the Perplexed of the Modern Age, New York/London 1991; J. Guttmann, Jesodot haMachschava schel Rabbi Nachman Krochmal, in: Knesset 6 (1941), S. 259–286); ders. Philosophies of Judaism. The History of Jewish Philosophy from Biblical Times to Franz Rosenzweig, New York/Chicago/San Francisco 1964, S. 321–344; M. Schlüter, Jüdische Geschichtskonzeptionen der Neuzeit. Die Entwürfe von Nachman Krochmal und Heinrich Graetz, in: FJB 18 (1990), S. 175–205; dies., »Jewish Spirituality in Poland« – Zur Rezeption früherer Konstruktionen der rabbinischen Tradition in Nachman Krochmals Darstellung der Entwicklung der Mündlichen Tora, in: FJB 28 (2001), S. 103–119; S. Feiner, Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Historical Consciousness, Oxford et. al. 2002; s. Schechter, Nachman Krochmal and the »Perplexities of the Time«, in: ders., Studies in Judaism. First Series, Philadelphia 1945, S. 46–72 (Neudruck in: ders. Studies in Judaism. A Selection, New York 1958, S. 321–344); M. Waxman, A History of Jewish Literature, New York/London 1936/1960, Bd. III, S. 451–470; S. Schwarzschild, Two Modern Jewish Philosophies of History, Nachman Krochmal and Hermann Cohen, Diss. Hebrew Union College, Cincinnati 1951.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
3.
Der More Nevuche ha-Seman – »Führer der Irrenden dieser Zeit«
3.1
Charakter und Ziel des Werkes
Nachman Krochmal hat sein Werk, dessen Titel sich bewusst an das philosophische Hauptwerk von Moses Maimonides anlehnt,1494 unvollendet hinterlassen. Seine Nachkommen sandten die, auch hinsichtlich ihrer Anordnung, noch nicht abgeschlossenen Texte auf Krochmals Wunsch an den Nestor der deutschen »Wissenschaft des Judentums« in Berlin, Leopold Zunz (1794–1886), der sie redigierte und 1851 in Lemberg veröffentlichte.1495 Das Werk gehört unterschiedlichen Textgattungen an. Sein Einleitungsteil ist eine Philosophie der Religion, (Kapitel 1–7; hinzu kommen die Kapitel 16–17, letzterer Textblock ist eine kommentierte Anthologie aus dem philosophischen Werk von Abraham Ibn Esra), die nächsten Teile sind eine Darstellung der jüdischen Geschichte (Kapitel 8–10/11), der jüdischen Literatur, der Halacha und der Haggada (Kapitel 12–15); und schließlich sind noch einige Briefe Krochmals angefügt. Krochmal erscheint in seinem Buch als ein hochgebildeter, aufgeklärter Intellektueller, der zugleich ein konservativer Jude ist, der der jüdischen Tradition in allen ihren Teilen treu bleiben will. Diesen dezidierten Mittelweg weist sogleich das Motto am Eingang des Buches: »Die Tore des geläuterten Glaubens werden geöffnet für alle, die den Verstand lieben und die Tora bewahren.«1496 Im Gegensatz etwa zum Verfasser von Kol Sachal 1497 führt Krochmals historischer Zugang zu den Texten der Tradition ihn nicht zu deren Ablehnung, sondern zu einer neuen Bewertung, welche die Treue zu dieser Tradition neu begründen konnte. Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, sind Krochmals Begründungen für die ahistorisch denkende Mehrheit der »Orthodoxen« zwar unannehmbar, weil er mit ihnen nicht an der einmaligen Offenbarung auch der »Mündlichen Tora« am Sinai festhält, sondern mit historischen Entwicklungen rechnet, er dadurch aber andererseits eine neue Treue zu dieser Tradition gewinnt. Für Letzteres formt er sich eine an den Idealismus der deutschen Philosophen seiner Zeit angelehnte Geschichtsphilosophie, ebenso wie dies später auch deutsche Autoren, etwa Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch und die anderen im folgenden Teil vorgestellten Autoren, taten.1498 Es ist diese Verbindung einer – schon von ‘Asarja de 1494 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431ff.; Y. Amir, The Perplexity of Our Time: Rabbi Nachman Krochmal and Modern Jewish Existence, in: Modern Judaism 23, 3 (2003), S. 264–301. 1495 More Nevuche ha-Seman, Lemberg 1851 (MNS); zu den Ausgaben siehe die ausführliche Bibliographie in der vorletzten Fußnote. 1496 MNS S. XXXV, Rawidowicz, Titelblatt der Textedition. 1497 S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, I, 2. 1498 S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung.
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Rossi1499 angebahnten – historisch kritischen Lektüre der Traditionstexte mit einer Philosophie der »Offenbarung«, welche diese Texte aus einer traditionell angenommenen Einmaligkeit befreit und zum Ergebnis eines historischen Kontinuums werden lässt. Dadurch wird zugleich jeder Generation, die an diesen Texten arbeitete, ein eigener und für die Nachfolger bedeutsamer Stellenwert geschenkt.
3.2
Die »Irrenden dieser Zeit«
Nachman Krochmal hat sein Buch durch seine Titelwahl an die Säule des mittelalterlichen Judentums, Moses Maimonides, angelehnt, weil er wie dieser den in ihrer Religion verunsicherten Juden Wegweisung aus ihren Nöten geben wollte. Waren es zu Maimonides’ Zeiten die Anfechtungen durch die griechischarabische Philosophie, welche Maimonides durch eine aristotelisierende Deutung des Judentums aufzufangen suchte, so sind die »Irrenden« des beginnenden 19. Jahrhunderts für Nachman Krochmal aber gerade nicht jene vom Rationalismus und der Moderne angefochtenen Juden, sondern ganz im Gegenteil diejenigen, welche sich einem modernen Denken vom Schlage der aufklärerischen Positionen Krochmals nicht öffnen wollten. Um diese »Irrenden« näher zu charakterisieren und damit die eigene Position genauer zu verorten, eröffnet Krochmal sein Buch mit einer Beschreibung der Irrtümer seiner Zeit. Daraus ergibt sich, dass Krochmal diese Irrtümer letztlich auf vielerlei Seiten sieht und den eigenen ruhenden Punkt in der Mitte als eine Position der aufgeklärten und gebildeten Traditionsbewahrung betrachtet. Traditionell gebildet wie er ist, schmückt Krochmal sein Werk mit zahllosen Zitaten und Reminiszensen aus der reichen biblischen und rabbinischen Literatur. So eröffnet er das erste Kapitel unter dem Titel die »Arzneien« mit dem talmudischen Zitat »Ist man verdienstvoll, wird es zur Arznei des Lebens, wenn aber nicht, dann zur Arznei des Todes.«1500 Damit will Krochmal anzeigen, dass es nicht die Tradition als solche ist, die tödlich sein kann, sondern dass alles vom menschlichen Zugang abhängt, ob sie sich heilsam oder schädlich auswirkt. Auch die nachfolgende Aufzählung der drei falschen Zugänge zur religiösen Tradition und deren negativen Folgen der Totalopposition eröffnet Krochmal mit einer Anspielung, dieses Mal auf die biblischen Proverbien.1501 Und hier zählt Krochmal die drei Gefahren auf, die seiner Meinung nach einem vernünftigen Glauben drohen:
1499 S. oben Kap. Das Ringen um die Vielfalt, II. 1500 Babylonischer Talmud, Joma, Fol. 72b; MNS, S. 1, Rawidowicz, S. 7. 1501 Proverbien 30, 21.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
»Unter dreien erbebt der Glaube (’Emuna) und wanken die Säulen des richtigen Gottesdienstes. Ihr Anfang ist der richtige Weg, ihr Ende aber der Weg des Todes, der Grund von allen dreien sind die Verwirrungen des Triebes und die Irrsale eines trügerischen Herzens.«1502 Die drei einen vernünftigen Glauben bedrohenden Irrtümer, welche Krochmal der Präzision halber auch mit deutschen Begriffen benennt, sind nach seiner Meinung: die Schwärmerei, der Aberglaube und die Werkheiligkeit. Die Schwärmerei beschreibt Krochmal unter anderem so: »Wenn der Gläubige sich für den Gottesdienst begeistert (entflammt) und sein Denken von den Dingen dieser Welt und ihren Genüssen abzieht und alles, was den Sinnen unterliegt, verachtet und ihm hernach auch das verstandesmäßige Erkennen gering erscheint.«1503 Das so Beschriebene ist nur die erste Stufe dieser »Krankheit«. Als nächstes folgt, dass der Begeisterte vermeint, mit seinem inneren Auge Engel und Geistwesen zu sehen, danach strebt, sich mit ihnen zu vereinen, damit sie ihm die Zukunft vorhersagen, dass er die Buchstaben und die anderen Schriftzeichen der heiligen Texte deutet, um deren Sinn zu erschließen. Schließlich folgt die letzte Stufe des Schiga‘on, des Irrsinns, nämlich dass man glaubt, des Schöpfers Partner zu sein und Wunder tun zu können, über Gebot und Verbot zu stehen und sich selbst als übermenschlich, ja göttlich, zu sehen. Dass es all das gibt, so Krochmal »kann der Verstand nur schwer ertragen«.1504 Dies ist ein deutlicher Angriff auf die Kabbala und auch den Hasidismus seiner Zeit. Der Aberglaube zeigt sich nach Krochmal bei Menschen mit schwachem Verstand aber starker Phantasie, die angesichts der Erkenntnis ihrer eigenen Schwäche, den bösen Trieb in sich zu bekämpfen, ihre Zuflucht zu Fürsprechern vor dem Thron Gottes suchen, nämlich zu Engeln und Heiligen Männern vergangener Zeiten, die sie um Hilfe anflehen. Dies führt schließlich auch zum Glauben an Dämonen, die über allerlei Naturkräfte und Ereignisse dieser Welt herrschen, deren Gunst diese Menschen sodann durch allerlei »Götzendienste« oder Magie zu gewinnen suchen. Dieser Vorwurf trifft sowohl die Kabbalisten, die Hasidim wie auch die Anhänger der rabbinisch-orthodoxen Frömmigkeit. Die Werkheiligkeit endlich resultiert laut Krochmal gerade aus der Erkenntnis der beiden vorangegangenen Fehler und der Weigerung nach Höherem zu streben, außer nach der äußerlichen und pünktlichen Erfüllung der Gebote. Diese Haltung, so Krochmal, vergisst über der praktischen Gebotshandlung und ihren Details die eigentliche Intention des Gebotes. Auch nimmt eine solche Haltung über dem physischen Handeln die doch noch wichtigeren »Herzenspflichten« des 1502 MNS, S. 1, Rawidowicz, S. 7. 1503 MNS, S. 1, Rawidowicz, S. 7. 1504 MNS, S. 1, Rawidowicz S. 7.
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Menschen nicht wahr und hat eine Vorliebe für die so genannten »Gehorsamsgebote«,1505 deren Sinn nicht zu erkennen ist, statt gerade den »Vernunftgeboten«, die von allen Völkern anerkannt werden, einen Vorrang einzuräumen. Dies ist natürlich gegen eine rein gesetzlich-halachische Ausrichtung des Judentums gemünzt. Abschließend vermerkt Krochmal, worin nach seiner Auffassung das Ziel eines wahrhaften Gottesdienstes liegt, womit er seinen eigenen Maßstab gegenüber all dem zuvor Gesagten zu erkennen gibt: »Das wichtigste Ziel des Gottesdienstes ist es nämlich, die Seele des Menschen in jene Welt zu erheben, die ganz Weisheit (Tuschija) ist, damit er geistig wird, allerdings achtsam vor der Schwärmerei.«1506 Der Begriff des »Geistigen« beschreibt, wie hernach noch deutlich werden soll, das zentrale Wesen des Menschlichen. Mit diesen drei Fallstricken der Religion sind die Gefahren des »Irrtums«, dem Krochmal aufhelfen will, allerdings noch nicht vollständig umschrieben. Mit diesen drei Stolpersteinen der Religion sind nur deren Übertreibungen, die Extreme von ansonsten durchaus richtigen Ansätzen des Religiösen, umschrieben. Mit den Extremen will Krochmal nicht auch deren richtiges Mittelmaß verdammen, dies wäre die Austreibung des Teufels mit dem Belzebub. Und genau Letzteres ist die andere Seite, welche Krochmal tadelt. Jede dieser drei Übertreibungen des Gottesdienstes führt in der Praxis bei vielen Menschen zur Leugnung und Ablehnung auch des guten Kerns. Dies ist ein anderes Extrem, das gleichermaßen verhängnisvoll und darum zu bekämpfen ist. So führe die Verachtung der »Schwärmerei« bei vielen Menschen zur Leugnung der Existenz des »Geistigen« (ha-Ruchani) überhaupt, so dass das eigentliche menschliche Wesen, die »Gottebenbildlichkeit« (Zelem) des Menschen, verächtlich gemacht und somit der Geist als reiner Ausfluss des Physischen betrachtet wird. Die Gegnerschaft gegen den »Aberglauben« hingegen, führe die Menschen zur völligen Glaubenslosigkeit, zum Zweifel an jeglicher Aussage des inneren Gemütes (Hergesch haPnimi), zum Zweifel an den Ansichten des geraden Verstandes und des Zeugnisses der Väter hinsichtlich der Bedeutung des Moses und der Offenbarung der Tora, die solche Verächter nur noch als Betrug von irgendwelchen Rabbinern betrachten. Die Verachtung der »Werkheiligkeit« schließlich führe zur völligen Ablehnung der praktischen Gebotserfüllung, mit dem Verweis, dass man ja deren Intention kenne und sich damit begnügen dürfe. Beide Seiten, so beschließt Krochmal dieses Kapitel, die drei Fallstricke der Religion, Schwärmerei, Aberglaube und Werkheiligkeit, wie die von vielen daraus gezogenen Konsequenzen, die Verwerfung des Glaubens an die Existenz des »Geistigen«, die Glaubenslosigkeit und Ablehnung der praktischen Gebotserfül1505 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393ff. 1506 MNS, S. 1f., Rawidowicz, S. 7f.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
lung, sind gleichermaßen vom Übel und müssen vermieden werden. Damit ist die Position Krochmals klar und eng umrissen. Er will eine von der Vernunft geleitete Religion, in der es den – auch vom Gefühl bezeugten – Glauben an die Existenz des »Geistigen« in der Welt gibt, den Glauben an die Tradition der Väter, an die Existenz der Prophetie und den Empfang der Tora durch Moses und schließlich die Verpflichtung gegenüber den Geboten, im Wissen, dass diese eine von Gott gewollte Wirkung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft besitzen und dass deren Übertretung ein Vergehen ist. Mit anderen Worten, Krochmal will keine Revolution, keine Ablehnung der traditionellen und »gesunden« Frömmigkeit, keine Entscheidung zwischen Glauben und Gesetz, die in Deutschland im Zentrum der Debatte stand, aber auch keine Extreme und Religionsformen, welche mit der Vernunft nicht vereinbar sind. Was er jedoch will, ist ein neues Verständnis von all dem, und dies ist eine »Revolution« für sich.
4.
Die Wege zum neuen Verstehen
4.1
Das Wissen um die menschlichen Erkenntnisstufen und um die Geschichte – die Grundwissenschaften
Der richtige Weg, um zwischen den beiden Gefahren, der Extreme von Schwärmerei, Aberglaube und Werkheiligkeit auf der einen und Leugnung des Geistigen, Glaubenslosigkeit und Verwerfung der Gebotserfüllung auf der anderen Seite, hindurchzukommen, ist nach Krochmal das Wissen um die Erkenntnisstufen des Menschen. Es ist dieses richtige Erkennen, das den Menschen lehrt, dass in allem Materiellen oder Körperlichen sich etwas Geistiges verbirgt, was allerdings nur für den sichtbar ist, der die richtige Erkenntnis besitzt. Ziel Krochmals ist es darum zu zeigen, dass die Wirklichkeit zwei Seiten hat, die aufs engste miteinander verwoben sind, das Materielle und das Geistige, und noch mehr, dass gerade das Geistige sich im Materiellen Ausdruck verschafft. Es sind diese Gedankengänge, welche in Krochmal, angefangen mit seinem Herausgeber Zunz,1507 einen Hegelianer sehen wollen, eine Affinität, die tatsächlich nicht zu bestreiten ist.1508 Doch zuerst soll Krochmal selbst zu Wort kommen. 1507 Einleitung zur Ausgabe, S. II. Hier sagt Zunz, Krochmal habe die neueste Philosophie studiert; H.M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums, Hamburg 1977, vermerkt S. 267, Krochmal sei einer der beiden einzigen galizischen Subskribenten der gesammelten Werke Hegels gewesen. 1508 Zur Diskussion, in welchem Maße Krochmal von Hegel, oder von anderen deutschen Idealisten abhängig ist, s. D. Westerkamp, Die philosophische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie, München 2009; S. Rawidowicz, War Nachman Krochmal Hegelianer?, in: Hebrew Union College Annual 5 (1928), S. 535–582; J. Landau,
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Um seine Leser behutsam Schritt für Schritt an seine Sicht der Dinge heranzuführen, beschreibt Krochmal zunächst die Bereiche und Stufen des menschlichen Wissens, um zu zeigen, wie sich die zuvor genannten Fallstricke der Religion, nach ihren beiden Seiten, in das Wissbare der menschlichen Erkenntnis einfügen. Die Bereiche des menschlichen Wissens teilt er mit Hegel1509 in drei: 1. Die Erkenntnis des Wesens des Geistigen und Intellektuellen, wie dieses sich in den Seelen von allem Existierenden erweist, speziell bei den einzelnen Menschen und gesamten Völkern, in deren Fähigkeiten, bis hin zur Erkenntnis der Separaten Intellekte, also jener von der Materie losgelösten rein geistigen Wesen, von denen schon die mittelalterlichen Philosophen sprachen,1510 bis hin zum höchsten Geistigen Wesen, der Quelle von allem. Letzteres wird Krochmal dann häufig ha-Ruchani ha-muchlat, das absolute Geistige, oder mit Hegel, den Absoluten Geist, nennen. Dies ist also jener Wissensbereich, den die Früheren Ma‘ase Merkava (Das Werk des göttlichen Thronwagens), sprich die Metaphysik nannten.1511 Es ist diejenige Wissenschaft, die Krochmal auch ha-Madda ha-’Elohi, die Gottes-Wissenschaft, also Theologie, nennt. 2. Die richtige Vorstellung von der gesamten Welt und die Beziehung ihrer Einzelteile untereinander, deren materieller und geistiger Wesenheiten, deren Kräfte und so fort. Es sind jene Wissenschaften, welche man, so Krochmal, neuerdings die Natur-Philosophie nennt, im Unterschied zu den Wissenschaften, welche sich nur mit den spezifischen Naturgesetzen befassen. Letztere würden wir heute Physik, Chemie, Biologie etc. nennen. Die Natur-Philosophie hingegen sei das, was die Alten Ma‘ase Bereschit (Das Schöpfungswerk) nannten und nur den Eingeweihten mitteilten.1512 3. Das Studium der Intention der Tora insgesamt wie auch ihrer einzelnen Gebote, der menschlichen Seele und ihrer Wahlfreiheit, deren Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Gut und Böse, das Ziel des menschlichen Lebens in der Welt, sein Kontakt zur Gottheit. Die Alten nannten dies laut Krochmal »Das Nachman Krochmal. Ein Hegelianer, Berlin 1908; A.I. Katsh, Nachman Krochmal and the German Idealists, in: Jewish Social Studies 8 (1946), S. 87–102. 1509 Vgl. G.F.W. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hrsg. von W. Bonsiepen und K. Grotsch, Hamburg 2000; ders., Das System der Philosophie, Jubiläumsausgabe, Bde. 8–10, Stuttgart 1955–1958; nach Röd, Der Weg, II, S. 257, bestehen die drei Teile des Systems bei Hegel aus Folgendem: »In der Logik geht es um die Ideen, wie sie gleichsam vor der Schöpfung der Welt im Geiste Gottes waren, die Naturphilosophie behandelt die objektiv gewordenen Ideen als bewußtlose Formen der Dinge, und die Philosophie des Geistes zeigt, wie in den Lebewesen und insbesondere im Menschen die Idee sich aus der Bindung an die Materie löst und zum Bewußtsein ihrer selbst erhebt.« 1510 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 451ff. 1511 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 306ff. 1512 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 306ff.
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Mysterium der Gründe der Tora« (Sod Ta’ame Tora). Mit anderen Worten, dies ist das Wissen um die Ethik und die Frömmigkeit bis hin zur Mystik.1513 In einem späteren Kapitel (16) kommt Krochmal nochmals auf diese Dreiteilung zu sprechen. Es ist das Kapitel, welches die Überschrift trägt: »Definitionen und Darlegungen zur Wissenschaft vom Glauben, Hochmat ha-’Emuna, die aus der spekulativen (logischen) Philosophie genommen sind«. Diese »Wissenschaft vom Glauben« ist nach Krochmal jene Wissenschaft, die bei den Juden mit Sa‘adja Ga’on angehoben habe, also das, was man zu Krochmals Zeit Religionsphilosophie nannte1514 und heute jüdische Philosophie zu nennen pflegt.1515 Hier in diesem Kapitel greift er nun zu den gängigen philosophischen Termini, die er gewiss so bei Hegel1516 gefunden hat, nämlich »Philosophie der Logik«, »Philosophie der Natur« und »Philosophie des Geistes (ha-Ruchani)«.1517 Die drei zuvor genannten Fallstricke der Religion nach ihren beiden Seiten sind nun diesen drei Erkenntnisbereichen zugeordnet, und zwar wie folgt: Die Leugnung des Geistigen (als negatives Pendant zur Schwärmerei) betrifft den Bereich der Theologie (1.), der Aberglaube, welcher an Mittelinstanzen zwischen Mensch und Gott glaubt, bezieht sich auf den Bereich der Natur-Philosophie (2.), während sich der dritte Fehler, hinsichtlich der Gebotserfüllung, auf den Bereich der Ta’ame Tora (3.) bezieht. Mit diesen Zuordnungen will Krochmal Ordnung in das Nachdenken über die Religion bringen, will gleichsam eine präzisere Diagnose der drei religiösen Krankheiten stellen, damit man ihrer besser Herr werden kann. Die drei Gegenstände des Wissens gehören unabdingbar und unverzichtbar zum menschlichen Erkenntniskanon hinzu, falsch aufgenommen führen sie aber zu den beschriebenen krankhaften Extremen. Es zeigt sich hier ganz klar die oben schon beschriebene Strategie Krochmals, nämlich das Überkommene als unverzichtbar zu bewahren, allerdings unter der Maßgabe, einen neuen, gesunden, sprich rationaleren, Zugang zu ihm schaffen. Dieser neue Zugang, der richtige Zugang zu den drei unverzichtbaren Erkenntnisbereichen, wird nun in einem weiteren epistemologischen, wohl wiederum an Hegel angelehnten, Erörterungsgang geklärt.
1513 MNS, Kapitel (Tor) 2, S. 4; Rawidowicz, S. 10f. 1514 So z. B. in D.H. Joels »Religionsphilosophie des Sohar, Leipzig 1849. 1515 Zu Sa‘adja s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362ff.; bei Krochmal MNS, 16, S. 256; Rawidowicz S. 272. 1516 S. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hrsg. von W. Bonsiepen und K. Grotsch, Hamburg 2000; ders., Das System der Philosophie, Jubiläumsausgabe, Bde. 8–10, Stuttgart 1955–1958. 1517 MNS, 16, S. 257f., Rawidowicz 273f.
Haskala – die jüdische Aufklärung
4.2
453
Die Entfaltung und Entstehung des menschlichen Wissens
Der richtige Zugang zu diesen drei Erkenntnisbereichen geschieht über die allen Menschen eigenen Stufen des Erkennens. Diese gilt es zu begreifen, damit die auf der jeweiligen Stufe ausgesagten Erkenntnisse richtig eingeschätzt und bewertet werden können. Die menschliche Erkenntnis beginnt nach Krochmal so: »Wisse, dass es gerade der Verstand ist, welcher den Menschen über das Tier hinaushebt. Seine Tätigkeit ist es, die durch die Sinne gewonnenen Vorstellungen (ha-Zijjurim ha-huschijim), die er von außen oder von der Seele selbst empfängt, in Begriffe zu verwandeln, das heißt umfassende, einheitliche Vorstellungen, die das eine mit dem anderen in eins sehen.«1518 Diese Tätigkeit, aus verstreuten Sinneswahrnehmungen einheitliche VerstandesBegriffe zu abstrahieren, ist etwas, so Krochmal, was jeder Mensch bewusst oder unbewusst tut, indem er denkt und Worte bildet. Sagt man zum Bespiel »Haus«, so wurde aus einer sinnlichen Vorstellung ein umfassender Verstandes-Begriff, der besagt, ein Haus ist »jeglicher Ort, der zum Wohnen bestimmt ist.« Alle Fragen des Menschen wie zum Beispiel was?, warum?, wozu?, was ist der Unterschied? etc. sind solche Operationen, die aus Sinneseindrücken Erkenntnisse machen und zwar in Form von »Anfangsvorstellungen des Denkens« (Zijjure Techilat ha-Machschava). Solche Anfangs- oder Grundvorstellungen des Denkens sind allerdings noch ohne größeren Zusammenhang. Von besonderer Bedeutung für das Weitere von Krochmals Auffassungen ist die in diese Erörterung eingefügte und unten nochmals zu erörternde Bemerkung, dass solche AnfangsVorstellungen bei der Menge des Volkes gleich den Vorstellungen der Tora (haZijjurim ha-Torijim) sind. Mit anderen Worten, die Redeweise der Tora ist noch auf einer Anfangsstufe der menschlichen Erkenntnis, der noch höhere folgen können und tatsächlich folgen. Denn, so fährt Krochmal fort, bei den meisten Menschen strebt das Denken weiter und bildet aus solchen AnfangsVorstellungen des Denkens umfassende und geordnete Begriffe. Während nun dieser Erkenntnisprozess bei den meisten Menschen unbewusst verläuft, verstehen die Weisen sehr wohl, was sich hierbei ereignet, wie Vorstellungen, Begriffe und Gedanken entstehen, wie man vom vereinzelten Detail zu übergeordneten Einheiten gelangt, nämlich: »grundsätzlich gilt also, dass es in der Natur des Geistes (Ruach) liegt, seine Bauwerke in einer Welt zu bauen, die vollkommen intelligibel (muskal) ist. Er nimmt die Baumaterialien aus der Welt der Sinne, und verleiht ihnen seine
1518 MNS, 2, S. 5, Rawidowicz, S. 11f.
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eigene Form, das heißt er verwandelt sie und erhebt sie von Sinneseindrücken zu Vorstellungen1519 (Zijjure Techilat ha-Machschava, Anfangs – Vorstellungen, – Bilder des Denkens) und aus ihnen Begriffe1520 (Mussage haSechel, Verstandes-Begriffe) und aus ihnen vollkommene reine und heilige Vernunftbegriffe (Muskalot), dies sind die Gedanken der Vernunft (Bina), nämlich1521 Ideen.«1522 Damit ist gesagt, dass die Redeweise der Tora, und dies hinsichtlich aller drei Wissensbereiche des Menschen, die der Anfangsvorstellungen ist. Sie sind nicht falsch, denn sie sind ein Teil und unverzichtbarer Zwischenschritt des normalen Erkenntnisprozesses, wenn auch noch nicht dessen höchste Stufe. Das Ziel muss es darum sein, auch über die Erkenntnisstufe der Tora hinaus zu schreiten, ohne diese allerdings zu diskreditieren. Die Stufe der Toraerkenntnis ist nicht falsch, aber man kann und soll über sie hinausschreiten. Allerdings, und das ist das Elegante und zugleich Konservative an Krochmals Lösung, kann man auch nicht auf sie verzichten. Die Toratradition ist der unverzichtbare Zwischenschritt, den man nicht aufgeben darf, auch wenn man von dieser Tradition ausgehend noch zu allgemeineren Begriffen und Ideen voranschreiten kann. Damit sind das Volk und die Elite zusammengebunden, beide besitzen dieselbe Wahrheit, wenn auch auf verschiedenen Erkenntnisstufen.
4.3
Das Ziel der Erkenntnis des Menschen – das Geistige
In einem späteren Kapitel greift Krochmal die zuvor beschriebene Erörterung der menschlichen Erkenntnisstufen nochmals auf. In ihm wird die ontologische Grundlage für die epistemologischen Schritte dargestellt, und diese Grundlage ist das Geistige schlechthin. Das Kapitel trägt die Überschrift Ha-Siman ha-ruchani we-ha-’Ot, was aufgrund der nachfolgenden Erörterung als »Das sensibelemotionale Symbol und das intellektuelle Zeichen (oder: Buchstabe)« zu übersetzen ist.1523 Beide Termini bezeichnen wiederum zwei aufeinanderfolgende Erkenntnisstufen, eine niedrigere und eine höhere. Ziel des Kapitels ist es, wie gesagt, aufzuzeigen, dass hinter jeder Form des Erkennens, und damit auch hinter jedem »religiösen Glauben« als Ziel das »Geistige« steht. Dies erkennt man, so Krochmal, selbst bei den primitivsten Natur-Verehrern, die zum Beispiel einen Berg verehren. Denn eine solche Verehrung eines Berges gilt nicht dessen physi1519 Der deutsche Begriff steht so in Krochmals Text. 1520 Wiederum auf Deutsch. 1521 Auf Deutsch. 1522 MNS, 2, S. 5, Rawidowicz, S. 12. 1523 MNS, 6, S. 21, Rawidowicz, S. 29.
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schen Gegebenheiten, sondern dem Geistigen das sie repräsentieren, oder das in ihnen präsent ist, traditionell gesprochen, dem »Engel, der diesen Berg lenkt«. Mit anderen Worten, alle Religionen verehren etwas »Geistiges«. Die jüdische Religion hat im Rahmen der Religionen, die etwas Höheres verehren, allenfalls die höchste Stufe erreicht, ist aber qualitativ nicht eigentlich von ihnen unterschieden: »Wir, die die Einheit [Gottes] (Jichud) in ihrer wahren Reinheit erfassten, glauben und wissen, dass alles Körperlich-Materielle sich verändert und zugrunde geht und nichts ist, weil es nicht von wahrhafter Existenz ist und [wir glauben und wissen], dass auch das Geistige, das uns aus seiner Verbindung mit dem Materiellen erfassbar wird – und dies am meisten am menschlichen Geschlecht, in dessen Fähigkeiten es aufleuchtet –, dass auch dessen Bestehen und wahre Existenz alleine in Gott, Er sei erhoben, liegt, der der einzige vollkommene Bildner ist.«1524 Der idealistische und damit hegelianische Hintergrund dieser Worte ist deutlich. Das eigentlich Existierende ist das Geistige. Dieses verbindet sich mit dem Materiellen und wird dadurch erkennbar, am deutlichsten natürlich am Menschen. In diesem Zusammenhang benennt Krochmal die Gottheit auch mit dem mittelalterlichen Begriff der Ursache aller Ursachen (‘Ilat ha-‘Ilot), um anzuzeigen dass das Geistige als solches die Ursache allen Seins ist, was ja auch mit der traditionellen Formel vom »Bildner« aller Welten ausgesagt wird. Mit alledem will Krochmal nochmals feststellen, dass die »Erkenntnis des Glaubens« also der religiöse Glaube eben nichts anderes ist als eine Form der »Gotteserkenntnis«. Und von da ausgehend kann er die Stellung des Glaubens nochmals grundsätzlich in die Erkenntnishierarchie einfügen: »Aus all dem Gesagten ergibt sich uns die Definition des Glaubens der Tora (ha-’Emuna ha-torijit). Sie ist: Die wahre Erkenntnis des Absoluten (haMuchlat) – Gottes, Er sei gesegnet, – sowie die Erkenntnis dessen, das in Ihm existiert und besteht, nämlich das Geistige (ha-Ruchani) gemäß dem, wie es in der Erkenntnis und im Herzen eines jeden eingepflanzt ist, im Großen wie im Kleinen, sobald seine Seelenkräfte dazu erwachen. Und das ist es, was wir oben schon sagten: Die Vorstellungen der Tora (ha-Zijjurim ha-torijim) bestehen bei den meisten Religionsbekennern als Zijjure Techilat haMachschava, als Anfangs-Vorstellungen des Denkens, die weit über den Sinnes-Vorstellungen stehen, bis hin zu den Verstandes-Vorstellungen. Zu den Begriffen und Gedanken der Vernunft (Mussage u-Machschavot ha-Bina) sind sie allerdings noch nicht gelangt.«1525
1524 Ebd. 1525 MNS, 6, S. 22, Rawidowicz, S. 30.
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Wiederum: Es gibt drei Erkenntnisstufen, die sinnliche Erkenntnis, die Anfangsvorstellungen des Denkens, zu denen auch noch die Vorstellungen des (Sach-) Verstandes gehören, und schließlich die Begriffe der Vernunft, die noch über den Vorstellungen des die physische Welt erkennenden Verstandes ist. Das Verständnis dieser Hierarchie der Erkenntnisstufen und die ihr zugrundeliegende Ontologie, nach welcher sich das absolute Geistige sukzessive im Materiellen offenbart, ist Krochmal so wichtig, dass er es eigens nochmals am Beispiel der Sprache illustriert. Danach besteht der Aufbau der Sprache aus vier übereinander gelagerten, aber unverzichtbar aufeinander aufbauenden Stufen. An unterster Stelle stehen die von den Sprechorganen erzeugten rein physikalischen Luftstöße, die alleine den physikalischen Gesetzen folgen. An zweiter, nächst höherer Stelle, steht die Wahrnehmung dieser Luftstöße als »Stimme«. Sie wird aber nur von den Besitzern einer »animalischen Seele«, welche ja die Sinne steuert, als Stimme wahrgenommen wird. »Dadurch wurde aus einer mechanischen Aktion ein [sensibles-emotionales] Zeichen oder Symbol, das die Empfindungen der Seele mitteilt, die Freude, Trauer, Langeweile und die weiteren seelischen Empfindungen.«1526 Die nächste Wahrnehmungsstufe erlangen hingegen nur die sprechenden Lebewesen, die Menschen. Für sie formen sich die als Stimme wahrgenommenen Luftstöße zu einzelnen Silben und ganzen Wörtern, und mit ihnen ist ein Denken verbunden. Die geschriebenen Buchstaben sind für diese sprachlichlautlichen Zeichen allenfalls wieder materielle, und damit im Rang niedriger stehende Zeichen – eine klare Zurückweisung der kabbalistischen Buchstabenlehren.1527 Der Mund und das Ohr, so erkennt der Verständige, sind in diesem Verstehensprozess von Wörtern nicht mehr die Hauptsache, sondern nur Instrumente. Der Verstand vermochte dadurch nämlich die »Zeichen« und Symbole von den materiellen Instrumenten zu lösen und danach weitere, höhere »Zeichen« für die materiellen Zeichen zu sehen, wodurch schließlich eine Übertragung von »Geistigem« zu »Geistigem«, das heißt Gedanken von Mensch zu Mensch stattfindet – dies ist die Stufe der Verstandes-Vorstellung. Schließlich folgt die letzte, die höchste Stufe, des Sprachlichen: »Wer jedoch zur Stufe der Vernunft (Bina) gelangt ist, wird nicht an dieser Grenze stehen bleiben, sondern er wird verstehen, dass diese Fähigkeit, Zeichen zu bilden, eine Besonderheit des Geistigen Wesens (‘Ezem) ist und zwar nur zugunsten eines zweiten Geistigen [Wesens]. Und er wird weiter verstehen, dass die ganze geistige Aktivität nur gleichsam ein Schlüssel für Versiegeltes ist, um dessen Wesen zu öffnen […] Und von da schreitet er weiter zu 1526 Ebd. 1527 Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 341ff.; Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 150ff., 308ff., 346ff., 378ff., 766ff.
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einer wertvollen Erkenntnis, dass auch ihm selbst das Geistige nur durch sein eigenes Tun bekannt wird. Durch das Klären schreitet er vom Schlaf zum Schlummer bis zur reinen Aufklärung (Haskala), denn nur durch tatsächliches Denken wird ihm sein eigenes Wesen offenbart. Darum verstehe man, dass das Denken die Vervollkommnung der inneren Rede ist, das heißt die Selbsterkenntnis des Geistigen, gerade so wie die vollkommenen Zeichen die Vervollkommnung der äußeren Rede sind, das heißt dass sich ein Geistiges dem anderen kund tut. Zugleich versteht man, dass die Zeichen ohne das Geistige nichts sind. Nur beim Geistigen werden sie von ihrer ursprünglichen Materialität – Luftstöße, Bewegungen, Buchstaben – zu den geistigen Dingen hin übertragen – Offenbarung der Stimme, Rede und Wort – bis man durch sie alle zusammen zum Verstehen gelangt. Denn beim Geistigen ist dessen eigenes Wesen nicht die eine Sache und deren Erkenntnis eine andere und dessen Bekanntwerden ein drittes, sondern sein Wesen und sein Erstrahlen ist einzig, sich selbst bekannt zu werden, und anderem Geistigen sich zu offenbaren durch eine einzige Aktivität, so wie das materielle Licht sich selbst wie auch zugleich seine Umgebung in einer einzigen Aktion offenbart und erleuchtet. Und dies nennen wir die Vernunft-Vorstellung (Zijjur ha-Tevuniji), die aus dem Wort und der Rede entspringen.«1528 Mit diesem Beispiel der Sprache illustriert Krochmal seine Auffassung von der Selbstentfaltung des Geistes durch das Medium des Materiellen, wie eines mit dem anderen aufs engste verbunden ist, und eines vom andern abhängt und zugleich, dass es dabei eben unterschiedliche Stufen des Verstehens gibt, die jeweils aufeinander aufbauen.1529 Die biblische Redeweise repräsentiert, laut diesem Beispiel, eben nur eine Vorstufe und noch nicht die höchste Stufe der Erkenntnis. Biblische Begriffe wie Licht und Finsternis, Geist und Fleisch, gerecht und sündig sind, so fährt Krochmal fort, nur als Redeweise einer noch nicht endgültigen höchsten Erkenntnis zu verstehen, die allerdings ihre Berechtigung hat und nicht falsch ist. Man nehme zum Beispiel eine solche Vorstellung der Tora wie »heilig« und »profan«. Deren konkrete Bedeutung sei ja allgemein bekannt. Aber die wirkliche Bedeutung etwa von »heilig« ist etwas »Geistiges«: »denn alles Heilige und alle heiligen Dinge, wie das Allerheiligste, welche die Tora nennt und einrichtete, sind allesamt Hinweise auf das Geistige, sind Ratschläge und Mittel, uns auf das Geistige und auf die in der Welt befindlichen geistigen Ordnungen hinzuweisen. Darum wird auch Gott, Er sei geseg1528 MNS, 6, S. 23, Rawidowicz, S. 31. 1529 Hierzu vgl. B. ’Ish Schalom, Ha-Mizwot u-Ma‘amadan be-Filosofja ha-datit schel R. Nachman Krochmal, in: Tarbiz, 56, 3 (1987), S. 373–383.
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net, drei Mal heilig genannt, um dadurch das Absolute Geistige (ha-Ruchani ha-muchlat), [mit Hegel: den absoluten Geist] zu bezeichnen.«1530 Der einzelne Mensch, das folgt aus dem hier Beschriebenen, hat als Ziel seines Lebens, den Fortschritt in der Erkenntnis zu sehen. Damit steht Krochmal gleichsam in den Fußstapfen seines »Lehrers« Moses Maimonides. Nach ihm besteht das Wesen des Menschen in dessen intellektueller Fähigkeit. Je höher sich der Mensch intellektuell entwickelt, desto näher kommt er seinem Ziel, desto mehr wird er zum »Ebenbild Gottes« zum Zelem ’Elohim.1531 Erwartungsgemäß kommt Nachman Krochmal zu einer ähnlichen Definition des menschlichen Wesens, aber eben doch mit einer kleinen und bezeichnenden Verschiebung. Nach Krochmal ist es nicht der Intellekt, der das Wesen des Menschen ausmacht sondern, dass sein Sein »geistig« ist (sche-Hawajato ruchani). Es ist dies die hier beschriebene Fähigkeit des Menschen, die Mitteilung des Geistes durch das Medium der Materie aufzunehmen, weil er selbst »geistig« ist und dies auch anderen Geistes-Wesen mitteilen kann.1532 Mit all diesen differenzierenden Feststellungen zu den Bereichen der Erkenntnis und den Stufen menschlichen Erkennens wollte Krochmal den Weg durch das Dickicht der »Irrtümer der Zeit« bahnen. Es ist die richtige Einschätzung der verschiedenen Erkenntnisstufen, das Wissen um deren Ausdrucksweisen, aber auch die Einsicht, dass die Zwischenstufen unverzichtbar sind und bleiben, welche das Richtige und Nötige in ihnen allen von den Extremen und ihren Irrtümern zu unterscheiden weiß.
5.
Der Geist eines Volkes als sein »Gott« – und Israels Gott, der »absolute Geist«
Nachdem die Entwicklung des Individuums, dessen Voranschreiten in den Stufen der Erkenntnis, beschrieben ist, wendet sich Krochmal den kollektiven »Individuen«, den Völkern zu. Zunächst spricht er von der »göttlichen Fügung« oder Leitung, welche die Menschen nicht wie die Tiere als Einzelgänger, sondern als Gesellschaftswesen organisierte. Die menschlichen Gemeinschaften, begonnen von der Familie bis hin zum ausgewachsenen Volk, leben von einem Geist der Einheit, der sie durch Arbeitsteilung, durch Begabungsstreuung zur Heranbildung von arbeitsteiligen Versorgungsnetzen, zur Ausbildung von Rechtswesen, Moralstandards, zu den Künsten, der Poesie und Philosophien, und
1530 MNS, 6, S. 24. 1531 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462ff. 1532 MNS, 7, S. 28, Rawidowicz, S. 36.
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schließlich Religionen und Begriffssystemen befähigt. Alle diese gemeinschaftlichen Errungenschaften werden zum Besitz und Erbe der einzelnen Völker, zum geistigen Schatz, zur Geistigkeit eines Volkes. Schon die Bibel, meint Krochmal, habe solche besonderen Begabungen und Fähigkeiten mit dem Begriff des Geistes (Ruach) benannt: Geist der Anmut, Geist der Schönheit, Geist der Gerechtigkeit und der Heldenhaftigkeit und dergleichen. Oft wird eine solche Eigenschaft mit dem Prädikat »göttlich« versehen, um, so Krochmal, dessen »Geistigkeit« zu bezeichnen, denn das Wort ’Elohim wird ja meist nicht als Name, sondern als Attribut verwendet. Dieser Hinweis auf den biblischen und modernen Sprachgebrauch ist Krochmal wichtig, um auf das für seine Erkenntnislehre bezeichnende Ergebnis zuzusteuern, nämlich dass der Volksgeist in biblischer Sprache »Gott des Volkes« genannt wurde: »Wisse und verstehe, dass das, was wir den allgemeinen Geist eines Volkes genannt haben, das ist, was die Tora und die frühen Propheten in ihrer Sprache der Anfangs[vorstellungen] des Denkens (welche, wie du ja weißt die Sprache sämtlicher Vorstellungen der Tora ist, ohne dass dadurch, Gott bewahre, wie zuvor beschrieben, deren Stufe gering erachtet wäre) Gott des Volkes (’Elohe ha-’Umma) nannten, oder in der Sprache der Visionäre und Weisen, die nach ihnen kamen, Fürst des Volkes (Sar ha-’Umma). Das heißt, sie nahmen die Gesamtheit der Geistigkeit, die in einem Volk verbreitet und stark ist, und erklärten sie zum Wesen und einer Besonderheit mit Hilfe von Namen und Attributen, die man diesem Volk zuschrieb. Und sie [die Tora und die Propheten etc.] meinten, dass so wie der König eines Volkes dieses äußerlich zusammenbindet und eint, so auch ihre Gottheit, die es innerlich eint und verbindet, an Ort und Zeit, von Generation zu Generation. Und diese [letztere Formulierung des Sachverhaltes] ist die Vernunft-Vorstellung dieser gedanklichen Sache.«1533 Die Rede der Tora und die der modernen Philosophie – das heißt etwa Johann Gottfried Herder (1744–1803)1534 und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831)1535 – drücken demnach denselben Gedanken aus, nur eben auf unterschiedlichem Reflexionsniveau. Die Götter der Völker, von denen die Tradition und der einfache Mann sprechen, sind nichts anderes als der Geist dieser Völker, sprich deren Schatz an Kultur und Wissenschaft, zu denen auch die Religion zu zählen ist. 1533 Ebd., S. 37. 1534 Zu Krochmals Kenntnis von Herder s. A. Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Breslau 1935, S. 334–337. 1535 S. die oben verzeichnte Literatur zu Krochmals Hegelianismus.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, ob es zwischen Israel und den übrigen Völkern in dieser Hinsicht noch einen Unterschied gibt. Natürlich wird diese Frage von Krochmal nachdrücklich bejaht. Israel ist auch für ihn das »erwählte« Volk, nur, so werden wir sogleich verstehen, ist auch dies eher die Ausdrucksweise der Anfangs-Vorstellungen des Denkens, die es gleichfalls in die Sprache der Vernunft-Vorstellung zu übersetzen gilt. Der Unterschied zwischen Israel und den Völkern ist schon an einem äußerlichen Merkmal zu erkennen, das später noch näher zu besprechen sein wird, nämlich an seiner historischen Beständigkeit und Dauer im Gegensatz zu den übrigen Völkern der Welt, die eine bestimmte Zeit bestanden, um dann von der Weltbühne wieder zu verschwinden. Das Geheimnis dieses Unterschiedes liegt natürlich in dem, was schon als das Wesen des Menschen, sei es als Individuum sei es als Volk, ausgemacht wurde, nämlich im Geistigen, oder genauer im Maß der Annäherung an das reine Geistige. Um diesen Unterschied zu bezeichnen, greift Krochmal zunächst wieder zu den emphatischen Worten eines Propheten – das heißt zur Sprache der Anfangs-Vorstellungen – um sie sogleich in die Sprache der Vernunft-Vorstellung zu übertragen: »Siehe, der Prophet verkündet und sagt: ›Nicht wie von diesen ist der Teil Jakobs, sondern der Bildner von allem ist es, und Israel ist der Stamm seines Erbes, JHWH Zeva’ot ist sein Name‹ (Jeremia 10, 16), das will sagen das Absolute Geistige ist es, es gibt keinen außer ihm, der die Quelle allen geistigen Seins und der ihrer aller Gesamtheit ist. Sie selbst [die geistigen Wesenheiten] in all ihren Einzelheiten wie sie so am Heer des Himmels und an der Erde haften, sind allesamt endlich, haben Ende und Veränderung. Sie haben keine wahrhafte und absolute Wirklichkeit und Dauer, außer dadurch, dass sie in der Gottheit, Sie sei gesegnet, sind, im Absoluten Geistigen und Unendlichen (’En Sof). Dies ist die Vernunft-Vorstellung der Worte ’El ’Elohim JHWH (Gott der Götter ist JHWH, Ps 50,1). Das ist die Wirklichkeit der Gesamtheit aller Geister in ihrer absoluten Wahrheit.«1536 Der Unterschied zwischen Israel und den Völkern ist also der, dass Israel den Absoluten Geist erfasst, während die Völker der Welt sich nur zu Partikulargeistern emporschwangen. Der Aufschwung Israels geschah dank der Gnade der göttlichen Führung schon in biblischer Zeit und wurde damals eben noch in der Ausdrucksweise der Vorstellungen der Tora, das heißt den Vorstellungen des Anfangs des Denkens ausgedrückt. Erst die Formulierung vom »Absoluten Geist«, den Israel erkennt oder an dem es festhält, ist die Formulierung gemäß der Vernunftvorstellung dessen, was die Bibel und die Tradition etwa mit den 1536 MNS, 7, S. 29, Rawidowicz, S. 37f.
Haskala – die jüdische Aufklärung
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Worten »Gott der Götter ist JHWH« ausdrückte. Dies sind wie gesagt die Formulierungen der Anfangsvorstellungen des Denkens, was aber, wie schon mehrfach betont, sachlich keinen Unterschied macht, nur eben unterschiedliche Abstraktionsebenen des Denkens repräsentiert. Der Absolute Geist, die Absolute Geistigkeit, ist in der Sprache der Bibel eben Gott. Und wenn die Bibel diesen Gott JHWH, Elohim Zeva’ot, »JHWH Gott der Heerscharen«, nennt, so bedeutet dies in der Sprache der Vernunft: »Die wahrhafte Wirklichkeit der Gesamtheit aller der erhabenen Geschöpfe, welche das je Allgemeine der individuellen existierenden Dinge sind, sie lassen das Geistige am stärksten erstrahlen und sie entfalten Sein Wesen [des Absolut Geistigen.]«1537 Es ist wert, an dieser Stelle wiederzugeben, wie Wolfgang Röd die entsprechenden Auffassungen von G.W.F. Hegel darstellt: »Recht, Moralität und Sittlichkeit sind Geist, werden aber gewöhnlich nicht als Geist gewußt. Mit der Einsicht, daß die Formen des objektiven Geistes ebenso wie die Formen des subjektiven vernünftigen Denkens Äußerungen des Absoluten sind, wird jene Stufe erreicht, die Hegel mit dem Ausdruck ›absoluter Geist‹ bezeichnete. Der absolute Geist ist ›das Wissen der absoluten Idee‹, wobei […] der Genetiv sowohl als subjektiver als auch objektiver Genetiv zu verstehen ist: Die absolute Idee ist das, was gewußt wird, und zugleich das, was weiß. Im absoluten Geist weiß die absolute Idee sich als das ganze, das sich im subjektiven Denken wie in der Realität manifestiert. Dieses Wissen wird erreicht in der Kunst, in der Religion und in der (wahren) Philosophie, aber jeweils in einem anderen Medium: In der Kunst ist dies Anschauung, in der Religion die Vorstellung und in der Philosophie der Begriff.«1538 In dieser epistemologischen und ontologischen Hinsicht ist Krochmal zweifellos ein treuer Hegelianer, wie es schon mehrfach festgestellt wurde.1539 1537 Ebd., S. 38. 1538 Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. II, S. 261. 1539 S. z. B. Harris, Krochmal, S. 74, er nennt neben Hegel noch Schelling als Vorbild; und Vgl. Rawidowicz, er sieht Hegels Einfluss vor allem in der Logik, S. 192, hinsichtlich der Geschichtsphilosophie weist er allerdings Hegels Einfluss auf Krochmal zugunsten von Herder und Vico zurück, da Krochmal einen organischen (naturhaften) und nicht wie Hegel einen dialektischen Geschichtsbegriff habe. Zu den Einflüssen auf Krochmal sagt D. Krochmalnik, Nachman Krochmal, in: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, hrsg. von A.B. Kilcher und O. Fraisse, S. 213b: »Die modernen, philosophischen Quellen Krochmals sind in der Forschung umstritten. Gegen die naheliegebnde Annahme eines hegelianischen Einflusses (L. Zunz, J.L. Landau) hat vor allem der Herausgeber der kritischen Ausgabe seiner Schriften,
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
Ein Beweis für Israels Vorrangstellung ist für Krochmal, wie wir es später bei Samson Raphael Hirsch unter dem Einfluss von Gotthold Ephraim Lessing sehen werden,1540 dass Israel, das am absoluten Geist festhält, dadurch zum Lehrmeister der Völker wurde, oder wie er selbst sagt »mit dem absoluten Glauben der Tora zum Lehrmeister des menschlichen Geschlechts wurde.«1541
6.
Gott als neoplatonischer Allgeist in neo-idealistischer Version
Nachman Krochmal entwickelt in seinem More über das bislang Dargestellte hinaus keine eigene zusammenhängende Theologie und Kosmologie. Allerdings bietet er in seinem Kapitel siebzehn eine Rekonstruktion der Philosophie des Neoplatonikers Abraham Ibn Esra (1089–1164) aus dessen Kommentaren zur Bibel und einigen kleineren Schriften. Das ganze dient dem erklärten Ziel, aufzuzeigen, dass die idealistischen Philosophien der Gegenwart in ihrem Kern schon seit alter Zeit im Judentum heimisch waren, wenn auch noch nicht in genügend klarer terminologischer Schärfe.1542 Das Anliegen, die idealistische Philosophie sogar schon im antiken Judentum wiederzufinden, ist gewiss auch der Grund, weshalb Krochmal die Wurzeln der Kabbala, deren Anfänge, wie Krochmal wohl weiß, im 12. Jahrhundert gesehen werden, tiefer hinab reichen lässt, nämlich in jüdische Gruppierungen, welche der christlichen Gnosis verwandt waren, die Krochmal darum ausführlich darstellt.1543 Die nur in den Bruchstücken seiner Bibelkommentare überlieferte Philosophie Ibn Esras bietet sich darum auch als besonders geeignet dafür an, ihr ein Gesicht zu geben, die dem genannten Ziel Krochmals mehr entgegenkommt als andere mittelalterliche
Simon Rawidowicz, wegen der bei ihm im Vergleich zu Hegel zwanglosen Verbindung von Historiographie und Historiosophie Einspruch erhoben und sich für den Einfluß G. Vicos, J.G. Herders und G. Fichtes stark gemacht. J. Guttmann hat in Krochmals Geistmetaphysik im XVII. Kapitel seines Werkes vor allem den Einfluß Schellings wiedererkannt, während J. Taubes (Nachman Krochmal and Modern Historicism, in: Judaism 12,2 (1963), S. 150–164) in bezug auf Kapitel VI des Werkes wieder auf die gemeinsame Problematik Hegels und Krochmals aufmerksam gemacht hat. Für Krochmal war Hegel fraglos ein ›Riese‹ und er war einer der zwei einzigen Subskribenten von dessen gesammelten Schriften in Galizien. Grundsätzlich hat Krochmal aber im Gegensatz zur Zurücksetzung des Judentums bei Hegel (wie auch bei Lessing, Herder und Fichte) dieses als ›absolute Religion‹ dargestellt, die unüberholbar und synchron zur Weltgeschichte ihre eigene innere Entwicklung durchmacht.« 1540 S. unten Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, III, 2.3. 1541 MNS, 7, S. 29, Rawidowicz, S. 38. 1542 MNS, 16, S. 257, Rawidowicz, S. 273. 1543 In seinem Kapitel 15.
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jüdische Philosophen. Aus alledem folgt, dass man aus dieser Darstellung der Lehren Ibn Esras durch Krochmal auch Krochmals eigene Auffassungen erschließen kann, dies umso mehr, wenn sich darin Elemente finden, die dem deutschen Idealismus angenähert sind. Das neoplatonische System Ibn Esras ist, wie das der anderen in diesem Buch dargestellten neoplatonisch-jüdischen Philosophen des Mittelalters,1544 ein pantheistisches oder enpantheistisches System, wenn auch mit einer Reihe logischer Inkonsequenzen.1545 Laut diesen neoplatonischen Systemen hat die Gottheit, das neoplatonische »Eine«, die Welt auf dem Wege der Emanation aus sich selbst oder aus einer nachgeordneten Hypostase hervorgebracht. Krochmal nimmt entsprechende Passagen aus Ibn Esra auf und gibt ihnen die von ihm gewünschte Deutung. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn in solchen emanatistischen Schöpfungspassagen statt der seit dem Mittelalter etablierten hebräischen Emanations-Terminologie Begriffe auftauchen, die eher an Hegel erinnern als an die mittelalterliche philosophische Sprachtradition. Für den Prozess der Emanation der göttlichen Substanz hinaus in die Schöpfung wurden im Mittelalter Derivate der hebräischen Wurzeln ’azal ()אצל, schafa‘ ( )שפעoder maschach ()משך gebraucht. Demgegenüber verwendet Krochmal an einer der entscheidenden Stellen eine Terminologie, die »Begrenzung« aber auch »Definition« bedeutet, nämlich Derivate der Wurzel gaval ()גבל. Ibn Esra bringt eine solche neoplatonisch-emanatistische Darstellung als Kommentar zum biblischen Buch der Sprüche 8, 22.30.31. Im biblischen Text rühmt sich die göttliche Weisheit (Hochma) mit den Worten: »JHWH erschuf mich als Erstling seines Weges. Vorlängst, als erstes seiner Werke. …Und ich war bei ihm geborgen, war sein Vergnügen Tag um Tag, spielte vor Ihm alle Zeit. Spielte auf seinem Erdkreis und mein Vergnügen war mit den Menschen.« Ibn Esra sagt dazu: »Das heißt, sie [die Menschen] waren die Empfangenden und sie [die Weisheit] die Emanierende (ha-Ma’azelet) und das Vergnügen war für beide gleich.« Ibn Esra verwendet in seiner Schriftdeutung die für einen Neoplatoniker zu erwartende Terminologie. Die Weisheit als erstes Emanat aus dem Einen, der Gottheit, emaniert nun ihrerseits die Fülle weiter, ma’azelet, auf die unter ihr liegende Welt, während die Menschen als Bewohner der niederen Welt diese Emanation empfangen.1546 In seinem Kommentar zu dieser Stelle bei Ibn Esra dehnt Krochmal die Deutung nicht von ungefähr von zwei Aktivitäten, Emanieren und Empfangen, auf die drei hier kursiv gesetzten Tätigkeiten, des Bergens, Spielens und Vergnügens, aus, um zu einem Dreischritt zu gelangen, 1544 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 488ff. 1545 Vgl EJ, s. von Ibn Esra Abraham, Bd. 8, 1168f.; M. Eisler, Vorlesungen über die jüdischen Philosophen des Mittelalters, Wien 1876 (Neudruck New York), Bd. I, S. 113–120. 1546 Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 494, 504, 512, 534.
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der sich deutlich an den Dreischritt der Selbstverwirklichung des Geistes bei Hegel anlehnt.1547 Beachtenswert ist des Weiteren, dass Krochmal, wie gesagt, Ibn Esras Begriff der Emanation durch den der »Begrenzung« ersetzt – auch dies eine Resonanz des Hegelschen Denkens.1548 Zunächst Krochmal: »Die Intention des Weisen [Ibn Esra] mit diesen Worten ist: Indem sich Gott, Er sei gesegnet, in seiner Weisheit selbst dachte, entstand die erste vorzeitige unbegrenzte Begrenzung (Hagbala), die noch in Seiner Geborgenheit stand – dies ist nicht zeitlich gemeint, denn dort hat die Zeit keinen Raum. Vielmehr will gesagt sein, dass man die Wahrheit der drei Weltstufen1549 nicht erfassen kann, außer wenn man die in ihrer Geistigkeit unbegrenzte Substanz (Wesen, ‘Ezem) erkennt. Allerdings kann man bei dieser Erkenntnis des absolut Unbegrenzten nichts [wirklich] erkennen und über es irgend etwas denken und sagen – es ist ohne alles (beli-mah). Jedoch durch die erste Aktion seiner Geistigkeit (damit sind wir schon aus dem Bereich / Definition, Geder, des absolut Grenzenlosen, aus dem völlig ohne Begrenzung, Hagbala, und Attribut Seienden, hinausgegangen), nämlich durch das Denken seines unbegrenzten Wesens (‘Ezem), entstand das erste Begrenzte (Mugbal), eine daseiende (jesch) Kraft ohne alles. Und darüber sagte der Weise, dass sie bei Ihm im [Modus] der Geborgenheit war und nicht in dem des Vergnügens, denn diese Bezeichnung bezieht sich auf alle übrigen geistigen Wesenheiten (Hawajot), sobald sie als offenbare Wesenheiten hervorgehen. Das heißt, dass die intelligible Substanz (das Wesen) mehr und mehr begrenzt wird. Und ihrer aller Wesen (Essenz,‘Azmut) ist die Weisheit, die die unbegrenzte Substanz (Wesen) ist. Aber alle Begrenzungen gehen durch sie und kehren durch sie in ihre Wurzel zurück. Und diese ewige Aktion der Weisheit nennt er deren Vergnügen und ihr Spiel. Und das wollte er sagen, dass sie zunächst geborgen war und hernach in die mittlere unveränderliche Weltstufe [der Gestirnsphären] zum Spielen hinausging und [schließlich] in der niedrigen Welt ihr Vergnügen hat, nämlich am Menschen, der dessen Fundament und Mysterium ist. Und weil sich das Wesen (Essenz,‘Azmut) nur an ihm [dem Menschen] of-
1547 Vgl. z. B. G.W.F. Hegel, System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1958, Bd. 10, S. 39, 44f. 1548 Vgl. z. B. Hegel, System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, Jubiläumsausgabe Bd. 8, S. 220: »Die Gränze macht nämlich einerseits die Realität des Daseyns aus, und andererseits ist sie dessen Negation.« und öfters; vgl. das zur Jubiläumsausgabe gehörige: H. Glockner, Hegel Lexikon, Stuttgart 1957, Bd. I, S. 885–888. 1549 Gemeint sind die in der mittelalterlichen Philosophie üblichen, die Intelligible Welt der Intellekte oder Engel, die Welt der Gestirnsphären und schließlich die irdische Welt; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 452, 494f., 504f., 558.
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fenbart und in seine Quelle, die Weisheit, zurückkehrt, sagte er, dass das Vergnügen nur durch ihn [den Menschen] stattfindet, während alles außer ihm vergängliche Begrenzungen und Erscheinungen der Substanz (Wesen) sind. Und um die Sicht des Weisen über die obere Welt abzuschließen: Er machte es zum festgegründeten Grundsatz, dass das Geheimnis aller Existenz eine intelligible und geistige Substanz (Wesen, ‘Ezem) ist und dass diese völlig neu hervorgebracht ist aus der unendlichen geistigen intelligiblen Substanz (Wesen, ‘Ezem), die ihr vorangeht, und dies ist nicht zeitlich zu verstehen.«1550 Die noch völlig unerkennbare Gottheit, auch »die Substanz«, oder das »Wesen« (‘Ezem) schlechthin genannt, welche die Geistigkeit (der Geist) ist, tut, was das Wesen des Geistes ist, nämlich denken, und in Ermangelung von etwas anderem, denkt sie sich eben selbst. Durch diese Aktion des Denkens entsteht eine erste Begrenzung, dies ist die göttliche Weisheit. Sie ist das erste was Dasein, im Gegensatz zum göttlichen Sein, besitzt. Dieses erste eigentlich grenzenlos Begrenzte ist aber noch in der Gottheit selbst geborgen. Diese Weisheit Gottes ist nun die nach außen gewandte Seite der Gottheit, sie geht hinaus, um zu »spielen«, nämlich in der unveränderlichen Welt der Gestirne und in einem dritten Schritt geht sie hinaus in die Menschenwelt, um sich zu »vergnügen«. Dieses Vergnügen ist nun zugleich die Offenbarung des durch die Weisheit vermittelten göttlichen Geistes im Menschen, der alleine ein intellektuelles Wesen ist. Diese Offenbarung im Menschen ist nun zur gleichen Zeit die Rückkehr des Geistes in seine Wurzel. Bei dieser Deutung des kurzen Kommentars von Ibn Esra hat zweifellos Hegel die Hand geführt. Natürlich kannte schon das mittelalterliche neoplatonische Denken die Vorstellung der Emanation aus Gott, den progressus, und die nachherige Rückflutung in die Gottheit, den regressus, bei dem der Mensch zwar die herausragende, aber nicht ausschließliche, Rolle spielte.1551 Nirgends war da aber von einem Dreischritt die Rede und auch nicht von einer Beschränkung des regressus auf den Menschen. Krochmal hat Ibn Esra hier auf Hegel »hingebürstet«, eben um zu zeigen, dass die Weisheit der deutschen Philosophen bei den Juden schon längst bekannt war. Man darf nun, nach all dem was Krochmal zuvor über den »Absoluten Geist« schon gesagt hat, getrost annehmen, dass er hier zugleich selber spricht, wenn auch durch das vorgebliche Sprachrohr des Ibn Esra.
1550 MNS, 17, S. 299, Rawidowicz, S. 318. 1551 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498f., 578f.
Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
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7.
Die Geschichte
7.1
Die Geschichte als Lehrstück, das in die Herzen dringt
Die zweite Säule im Denken Nachman Krochmals ist, neben der ontologisch begründeten idealistischen Epistemologie, die Geschichte.1552 Aber auch die Geschichte steht für ihn unter der in den vorangegangenen Abschnitten dargestellten Hierarchie des Erkennens, das heißt, Geschichte kann in der Sprache der Anfänge der Vorstellungen des Denkens wie auch mit Hilfe der Vorstellungen der Vernunft, dargestellt werden.1553 Mit anderen Worten, man kann zum Beispiel die Geschichte Israels in der Sprache der Bibel nacherzählen, oder aber von der höheren Erkenntnisstufe der Vernunft aus. Letzteres bedeutet dann wohl, wie noch deutlich werden wird, im Sinne einer »geschichtsphilosophischen« Deutung. Doch beginnen wir mit der Vorrede des ganzen Buches. Dort beruft sich Krochmal auf den talmudischen Midrasch, nach welchem Gott dem Adam »Generation um Generation und ihre Ausleger (Dorschaw), Generation um Generation und ihre Gelehrten« gezeigt habe.1554 Aus dieser Formulierung schließt Krochmal, dass es nicht eine einzige Deutung der Tora und eine einzige Weisheit in all den verschiedenen Generationen gegeben habe – dafür hätte dem Adam die Kenntnis einer einzigen Generation und ihrer Gelehrten genügt. Also schließt Krochmal: »in seiner Güte wechselt und verändert Gott für Israel auch die Auslegungen, wie die Weisen (Methoden) des Lernens und die Lehre der richtigen Wege.«1555 Denn, so folgert Krochmal weiter, es ist wohl so, dass die Lehr- und Deutungsmethoden, welche zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort richtig und nützlich waren, dies unter anderen Bedingungen so nicht bleiben müssen. Kriterium für die Bewertung, ob eine Methode für bestimmte Zeiten und Orte taugt, ist, ob sie »in den Herzen der Leser etwas bewirkt.«1556 Als Beispiel für die unterschiedliche Behandlung und Wirkung biblischer Texte bringt Krochmal den berühmten Psalm 137 »An den Strömen Babels – dort saßen wir und weinten, da wir Zions gedachten.« Die Gelehrten der Midraschim schrieben alle Psalmen (geschichtswidrig) dem König David zu, weil dies für ihre Generation gut war, denn dies bedeutete für sie, dass David im Heiligen Geist das babylonische Exil vorausgesehen und darüber geklagt habe. Anders hingegen zur Zeit der sefardischen Ausleger des Mittelalters und umso mehr in Krochmals eigener 1552 S. S. Rawidowicz, Nachman Krochmal als Historiker, in: Festschrift zu Simon Dubnows siebzigstem Geburtstag, hrsg. von I. Elbogen, J. Meisl, M. Wischnitzer, Berlin 1930, S. 57–75. 1553 MNS, 8, S. 31, Rawidowicz, S. 41. 1554 Babylon, Talmud, Sanhedrin, 38b. 1555 MNS, Vorwort, S. XXXV; Rawidowicz, S. 5. 1556 Ebd.
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Gegenwart, in der es ein anderes Wissen um jene Generation in Babel gab. Für dieses neue historische Verstehen ist die Botschaft des Psalms, die in den Herzen wirken kann, die von Hoffnung, Gottvertrauen und Glauben, denn im Psalm 137 heißt es ja: »Sollt ich deiner vergessen, Jerusalem, so versage meine Rechte«. Und darum ist es für die gegenwärtige Generation richtig, diesen Psalm spät, also in die exilische Zeit selbst zu datieren und nicht als Prophetie des Jahrhunderte früher lebenden Königs David. Geschichte, so darf man schließen, soll ein Lehrstück für die Gegenwart sein, das in die Herzen dringt. Und, so ist die logische Schlussfolgerung, wenn es heute auch eine Nacherzählung der Geschichte gemäß den Vorstellungen der Vernunft gibt, so muss man sich ihrer bedienen, damit die Lehre der Geschichte in die Herzen zu dringen vermag.
7.2
Die Geschichte der Völker und die Geschichte Israels – ein Lehrstück
Das Wesen eines Volkes drückt sich in dem von ihm erarbeiteten geistigen Schatz aus, von dem oben schon die Rede war. Für das Entstehen dieses Schatzes, aber auch für dessen Verlust greift Krochmal zu einer »geschichtsphilosophischen« Konstruktion wie man sie etwa von Johann Gottfried Herder oder von dem in jenen Tagen auch auf Deutsch erschienenen Giambattista Vico (1668– 1744)1557 kennt. Dieses Geschichtsbild vertritt die Auffassung, dass nachdem ein Volk seinen Geistesschatz in seiner Blütezeit gefüllt hat, es wie alle Gewächse in der Natur eine Zeit des Welkens und des Untergangs ereilt. Drei Phasen sind es, die nach Krochmals Meinung die Geschichte aller Völker bestimmen: »Drei Epochen sind es, die gemäß der natürlichen Ordnung über jegliche alte Nation (’Umma) vom Zeitpunkt, zu dem sie sich zum Volk (Goj) konstituierte, bis zu ihrer Veränderung und Untergang hinweg gehen:
1557 Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. und hrsg. von Vittorio Hösle und Christoph Hermann, Hamburg/Meiner 1992; Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Übers. Von Erich Auerbach. Berlin/New York/de Gruyter 2000; (die erste deutsche Ausgabe erschien 1822); J. Taubes, Nachman Krochmal and Modern Historicism, in: Judaism 12, 2 (New York 1963), S. 150–164, er plädiert für einen starken Einfluss Hegels; S. Rawidowicz, War Nachman Krochmal Hegelianer?, in: HUCA V (1928), S. 535–582, er bezweifelt Krochmals Hegelianismus; J.Landau, Nachman Krochmal ein Hegelianer, Berlin 1904; E. Lus, R. Nachman Krochmal u-Be‘ajat haHistorisazija schel ha-Jahadut, in: Mincha le-Sara. Mechkarim be-Filosofija jehudit u-veKabbala muggaschim le-Professor Sara O. Heller Wilensky, hrsg. von M. Idel, D. Dimant, S. Rosenberg, Jerusalem 1994, S. 238–257.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
1. Der Beginn ihrer Blüte, in welcher in ihr das Geistige geboren wurde […] 2. Danach hat sie sich vollkommen verwirklicht, es vervollkommnen sich und erheben sich all jene guten Ordnungen und geistigen Gaben […] die Zeit der Stärke und Verwirklichung. 3. Jedoch, wie bei jeglichen natürlichen Lebewesen, sind in ihr schon in der zweiten Epoche die Ursachen des Welkens und Todes vorgegeben […]«1558 Als Gründe für den Niedergang eines Volkes zählt Krochmal unter anderem die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen auf, den Niedergang der Moral, der Ehre, die Genusssucht, Streit, oder dass die schöpferische Kraft sich an das Sinnliche verliere.1559 Dieses Schicksal ereilt alle Völker, die nur an der »partikularen Geistigkeit« teilhaben, einer Geistigkeit die begrenzt und darum vergänglich ist. Allerdings geht der Geist solcher Völker dennoch nicht vollkommen verloren, er trennt sich gleichsam nur vom Ort und der Zeit dieses konkreten Volkes und ist in dieser Hinsicht begrenzt. Aber dennoch bleibt dieses Geistige unabhängig von räumlichen und zeitlichen Begrenzungen bestehen, »denn alles Geistige besitzt eine beständige unendliche Existenzkraft«, »sofern es seinem Wesen nach Geistiges ist, bleibt es ohne Zweifel erhalten und zwar als Gabe an ein anderes benachbartes Volk, das jenem in Raum und Zeit nahe steht.« Nur, so fügt Krochmal hinzu, ist dies beim geistigen Erbe kleiner Völker nicht so gut wahrnehmbar wie bei großen und mächtigen Völkern, deren geistiges Erbe noch lange deutlich erkennbar bleibt, dank seiner Lieder, Bücher und Gesetze, welche zum Erbe der ganzen Menschheit und ihrer »gesamten Geistigkeit« werden.1560 Das ist das Schicksal aller Völker außer Israels, wenn auch Israel als natürliches irdisches Volk von den drei naturhaften Entwicklungsphasen aller übrigen Völker nicht verschont bleibt, allerdings mit dem Unterschied, dass für Israel am Ende eines solchen Niederganges immer wieder ein Neuanfang stattfinden konnte und zwar dank der Präsenz des Absoluten Geistes oder der Absoluten Geistigkeit in Israel. Zum Grund für die unterschiedliche Erkenntnis des Geistigen bei den Völkern und Israel sagt Krochmal einmal,1561 dass die Völker zur Erkenntnis des Geistigen nicht durch genügend geklärte Wissenschaft (Madda‘ mevorar) gelangt seien. Mit einer wirklich geklärten Wissenschaft wäre ihnen bewusst geworden, dass Wahrheit und Bestehen des Geistes nicht in den Einzeldingen,
1558 MNS, 8, S. 30, Rawidowicz, S. 40. 1559 Vgl. MNS, 7, S. 27, Rawidowicz, S. 35f. 1560 MNS, 7, S. 28, Rawidowicz, S. 37; der Hinweis auf die Lieder ist hier, wie unten bei Hirsch, sicher Herder zu verdanken, s. unten Neuorientierung nach der Aufklärung, I, 1.2; und III, 2. 1561 MNS, 7, S. 30, Rawidowicz, S. 38.
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die an Zeit und Raum haften, ihren Grund haben, sondern darin, was allgemein ist. Das heißt, das Geistige hat seine wirkliche Existenz im absoluten Geistigen, und darin, dass es zu einem Begriff (Mussag) geworden ist, zur reinen Vernunft (ha-Bina ha-tehora) alleine. Dieser Mangel in der Erkenntnis der Völker hatte zur Folge, dass deren Erkenntnis alsbald in Götzen- und Dämonenverehrung abglitt. In Israel ist es jedoch dank der gnädigen Lenkung des Geistes, oder wie die Tora dies ausdrückt, dank des Verdienstes der Väter anders gekommen, denn »Durch diese höchste Huld kam uns dieser höchste aller Gedanken der Vernunft.« Aber, und hier meldet sich wieder der Religions-Historiker und Geschichtsphilosoph in Krochmal, auch in Israel brauchte es gute tausend Jahre von der Toraoffenbarung am Sinai bis in die Zeit nach dem babylonischen Exil, bis die vollkommene Erkenntnis in ihrer Reinheit sich bei allen Israeliten durchgesetzt hatte.1562 Aber von da an war sie wohl gegründet und so konnte das Judentum zum Lehrer der Völker werden. Hier wie im Folgenden bekundet Krochmal außerdem, dass er an eine aufsteigende Linie der Erkenntnis und Durchsetzung des Geistes in der Geschichte der Völker wie auch gerade innerhalb der jüdischen Geschichte glaubte. Mithin tritt mit dem nächsten Geschichtszyklus nach dem babylonischen Exil in Israel ein qualitativer Sprung nach oben ein, nämlich mit dem Auftreten Esras. – Die Toraoffenbarung am Sinai wird in Krochmals historischer Darstellung darum eher im Vorbeigehen erwähnt,1563 während die geistigen Errungenschaften Esras als Erklärer und Ausleger der Tora nachdrücklich herausgestellt werden.1564 – Das Auftreten Esras, der die Tora in abgeschlossener oder renovierter Form mit sich brachte, ein Datum das schon Leone Modena, dem Autor von Kol Sachal für seine Kritik wichtig war,1565 taucht darum auch hier mit der besagten Betonung wieder auf. Nach diesen grundlegenden geschichtsphilosophischen Darlegungen kann nun Krochmal im nächsten größeren Teil seines Buches (Kapitel 8–10) die Geschichte Israels seit der biblischen Zeit bis zum Ende des Bar-KochbaAufstandes im Jahre 135 nacherzählen. Diese Geschichte verlief in zwei Zyklen, nämlich der erste vom Beginn der Erzväterzeit bis zum babylonischen Exil, und der zweite von Esra bis zu den hadrianischen Verfolgungen und dem glücklosen Bar-Kochba Aufstand im Jahre 135 d.Z. Jeder dieser beiden Zyklen verlief entsprechend dem oben gezeichneten Dreischritt von Blüte, Vollkommenheit und Welken. Der erste Zyklus hatte seine Blüte bis zum Tode Mosis, die Vollkommenheit begann mit der Landnahme, während mit dem Tod Salomos der Niedergang einsetzte, der mit dem babylonischen Exil sein Ende fand. Der zweite Zyk1562 MNS, 7, S. 30, Rawidowicz, S. 39. 1563 MNS, 7, S. 33, Rawidowicz S. 43f. 1564 MNS, 9, S. 45, Rawidowicz, S. 56. 1565 S. oben Kap. Traditions- und Religionskritik, I, 5.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
lus hatte mit dem Auftritt des Schriftgelehrten Esra sein neuerliches Aufblühen, denn seit der von Esra eingeführten Toragelehrsamkeit begründete sich die Einheit des jüdischen Volkes nicht mehr auf ein umgrenztes Territorium, sondern auf die Tora, die alle Juden in der weit verstreuten Diaspora nun einte. Der neuerliche Niedergang trat dann in der Zeit der hadrianischen Verfolgungen und des Bar-Kochba-Aufstandes ein. Die Darstellung dieser beiden großen Geschichtszyklen mit ihren drei Stufen beendet Krochmal mit den Worten: »Und damit schließen diese […] Kapitel, in denen wir die beiden großen Zeitzyklen darstellten, jeden mit seinen drei Epochen, Blüte, Frucht und Vervollkommnung, Niedergang und Verlust.«1566 Der nächste, dritte, Zyklus, den Krochmal nur in einigen wenigen Zeilen skizziert, beginnt nach der Niederlage Bar-Kochbas in Palästina mit der beginnenden Sammlung der Traditionen, welche zur Mischna und zu den BaraitaSammlungen sowie zum Erstarken des palästinischen Patriarchats führte. Die Zeit der Vollendung dieses dritten israelitisch-jüdischen Geschichtszyklus war demnach die des Talmud und die Zeit der arabischen Herrschaft. Der Niedergang begann mit dem Ende der großen spanisch-jüdischen Gelehrten im 13. Jahrhunddert und erreichte seinen Tiefpunkt in den zunehmenden Verfolgungen bis zur Vertreibung aus Spanien 1492 und den Kosakenpogromen in der Ukraine um 1648.1567 Die eigene Zeit betrachtet Krochmal als die »Endzeit« (’Acharit haJamim), sie ist die Zeit der »aufgeklärten Gläubigen« (ha-Ma’amin ha-maskil) und damit wohl die Epoche der Blüte oder vielmehr des Höhepunktes des vierten Zyklus. Hier scheint Krochmal den Abschluss der historischen Entwicklung des Geistes zu sehen, wie aus dem eschatologischen Terminus »Endzeit« zu schließen ist.1568 Abschließend muss bemerkt werden, dass Krochmal in dem umfangreichen Kapitel elf zahlreiche historische Exkurse zu einzelnen Themen seiner historischen Darstellung bietet, die in der Weise von ‘Asarja dei Rossi kritische Untersuchungen zu solchen Frage durchführten, wie etwa die Spätdatierung der Teile ab Kapitel 40 des Jesajabuches, die man heutzutage einem Deuterojesaja und außerdem einem Tritojesaja zuschreibt, um nur ein Beispiel zu nennen. Gerade hier erweist sich Krochmal in bester Weise als einer der Väter der kritischen »Wissenschaft des Judentums.«
1566 MNS, 10, S. 98, Rawidowicz, S. 112. 1567 Ebd. 1568 MNS, 14, S. 239, Rawidowicz, S. 255.
Haskala – die jüdische Aufklärung
8.
Die Mündliche Tora
8.1
Die Halacha
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Entscheidend für jede Diskussion um die Gültigkeit der jüdischen Tradition war, wenigstens seit den Tagen von Uriel Da-Costa1569 oder Leone Modenas Kol Sachal,1570 das Verhältnis zur so genannten Mündlichen Tora, die nicht zu Unrecht als die Säule des rabbinischen Judentums gilt.1571 Ist dieser Teil des jüdischen Erbes tatsächlich eine Tradition, die Moses selbst vom Sinai mitbrachte, und hat sie somit die selbe Autorität und Gültigkeit wie die Schriftliche Tora, sogar dahingehend, dass die Schriftliche Tora ohne die Mündliche nicht verstanden werden könne oder gar dürfe, und damit, recht besehen, die Autorität der Mündlichen Tora als Interpretin der Schriftlichen das Zünglein an der Wage für jegliches Verständnis des Judentums wurde. Leone Modena, der Autor des Kol Sachal, hat die Mündliche Tora als Menschenwerk betrachtet und darum deren Autorität bestritten und sie rundweg abgelehnt. Nachman Krochmal, auch er, wie Modena oder ‘Asarja dei Rossi, Historiker, zieht jedoch gerade die umgekehrte Schlussfolgerung. Für ihn ist die geschichtliche Betrachtungsweise der so genannten mündlichen Tradition nicht ein Grund, sie als Menschenwerk abzulehnen, sondern im Gegenteil hoch zu schätzen.1572 Grundlage für diese gegensätzliche Einschätzung ist die oben gezeichnete Geschichtsphilosophie Krochmals, nach der gerade das menschgemachte Erbe, die von Menschen hervorgebrachte Tradition, ein Werk des »Geistigen« ist, in dem sich der »Absolute Geist« in der Welt realisiert. Je größer in den einander folgenden Generationen der Anteil der menschlichen Kreativität an der Erzeugung der Kultur und Tradition ist, desto höher ist er einzuschätzen, als qualitativ höherer Anteil am Selbstverwirklichungsprozess des Geistigen. Es war also die idealistische Geschichtsphilosophie mit ihrer Lehre von den »Volks-Geistern«, welche der historischen Betrachtungsweise der jüdischen Tradition ihren Schrecken nehmen konnte. Natürlich war ein jeglicher historischer Zugang zu dieserÜberlieferung, die bei den »orthodoxen« Juden als unveränderlich und als ein für allemale offenbart galt, ein Bruch mit der Tradition, welche die Mündliche Tora als Sinaioffenbarung gleicher Dignität wie die Schriftliche betrachtete. Aber der neue idealistische Zugang Krochmals war in seinen Konsequenzen doch weniger bedrohlich als Modenas Leugnung dieser 1569 S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, II. 1570 S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, I. 1571 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff. 1572 Zur historischen Einschätzung der Halacha durch Krochmal s. A. Lenhardt, Die Entwicklung von Halakha in der Geschichtsphilosophie Nachman Krochmals, in: FJB 29 (2002), S. 106– 126.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
mündlichen Autorität. Mit den Augen der neuen Geschichtsbetrachtung ist das Volk der Juden um so höher einzuschätzen je mehr an Kreativität es gerade auch in nachbiblischer Zeit entfaltet hatte und so seine Beständigkeit und sein Verhaftetsein mit dem »Geist« erweisen konnte. Dennoch ist Krochmal bemüht, für den traditionellen Leser auch die hier noch verbleibende Härte dieser Auffassung etwas abzumildern, wenn er ohne Schaden für sein eigentliches Anliegen konzedieren kann, dass ein großer Teil der Mündlichen Tora tatsächlich bis auf Moses zurückgehe. Nach dieser Beruhigung der Gemüter kann er sein volles Programm der historischen Forschung entfalten, das tatsächlich die Grundlagen der modernen Erforschung der Mündlichen Tora, das heißt der Entwicklung des jüdischen Rechts, der Halacha gelegt hat. Auch bezüglich dieser Erforschung der Geschichte der Halacha betont Krochmal zum wiederholten Male sein Anliegen, die Tradition mit Hilfe der kritischen Forschung bewahren zu wollen: »Wisse mein Freund […], dass unsere Absicht in diesem Kapitel wie im gesamten Buch darin liegt, die Sache unseres Glaubens in rationaler Hinsicht mittels klar umgrenzter Forschung zu prüfen und zu klären, durch die Untersuchung der beglaubigten Zeugnisse, und mittels ihrer zu entschiedenen Urteilen zu gelangen, gegen die Zweifler, Mäkler und Leugner, gegen alle, die vom richtigen Weg der Wahrheit durch Übertreibung nach der einen oder der anderen Seite abweichen. Und gerade dies ist es, was unsere Generation braucht.«1573 Für die Notwendigkeit einer mündlichen Rechts-Lehre neben einem schriftlichen Kodex, greift Krochmal zu den für alle Gesetze zutreffenden Tatsachen, dass ein geschriebenes Gesetz niemals alle Details kodifizieren kann, sondern sich auf das Allgemeine zu beschränken hat, das dann durch die mündliche Auslegung und Belehrung für die Realität appliziert werden muss.1574 Dies gilt umso mehr, wenn sich Zeit und Orte der Anwendung solcher Gesetze ändern und mit ihnen die Lebensumstände. Gerade in der unabdingbaren Notwendigkeit einer steten Auslegung der schriftlichen Texte für die konkrete Rechtsanwendung sieht Krochmal einen Grund für die Annahme der Existenz einer Mündlichen Tora von Anfang an wie für deren notwendige Weiterentwicklung. Denn sie ist nichts anderes als eine solche stete erforderliche Applizierung und Auslegung der Ursprungsbelehrung durch Moses, der schriftlichen wie der mündlichen. Krochmal versäumt in diesem Zusammenhang nicht darauf hinzuweisen, dass schon die Bibel selbst nach der Toraoffenbarung am Sinai von solchen noch ungeklärten Fällen spricht, die dann eigens Moses zur Entscheidung vorgelegt werden mussten – eine Argumentation, die sich bis heute in der einschlägigen Forschungsliteratur findet – zum Beispiel die Fälle des Holzsammlers am Schabbat (Numeri 15, 1573 MNS, 13, S. 193, Rawidowicz, S. 209. 1574 MNS, 13, S. 172f., Rawidowicz S. 189.
Haskala – die jüdische Aufklärung
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32), des die Gottheit verfluchenden Sohnes (Levitikus 24, 11–12), die Frage des zweiten Pesach (Num 9, 6–13) etc. Bezüglich der beiden erstgenannten Präzedenzfälle macht Krochmal eine zusätzliche wichtige Beobachtung, die für die Weiterentwicklung des jüdischen Rechts zentral ist. Bei diesen beiden Fällen wird schon in der Bibel die hebräische Wurzel parasch ( )פרשim Sinne von »Erklärung« und »Erweiterung des Gesetzes« verwendet. In Zeit vor dem Babylonischen Exil bleibt es bei diesen beiden Fällen, der Vorgang der Auslegung der Bibel mit novellatorischer Absicht wird, so Krochmal, ab der Zeit Esras und dann vor allem in der rabbinischen Literatur zentral. Diese philologische Beobachtung am biblischen Text ist Krochmal ein wichtiger Hinweis für die Entwicklung der Rechtsgeschichte, die, wie gesagt, mit Esra eine entscheidende Wendung nahm und dann zum Herz der rabbinischen Rechtsentwicklung wurde. Denn bei Esra heißt es zum ersten Mal: »Und sie lasen im Buch der Tora Gottes auslegend (meforasch) und mit aufmerksamem Verstand« (Nehemia 8,8). Auch wird aus Esras Tagen berichtet, dass die Leviten und die Priester dem Volk die Tora auslegten und sie ihm erklärten (Nehemia 8).1575 Ein weiterer philologischer Hinweis für die geschichtliche Entwicklung des rabbinischen Rechts ist für Krochmal zum Beispiel das späte Entstehen des Begriffes »Halacha«: »das jedoch geben wir zu, dass es uns überhaupt nicht glaubhaft ist, dass einzelne Rechtssätze seit den Tagen des Ersten Tempels unter dem Namen und in Form und Sprache der Halacha gelehrt wurden, […], denn der Begriff Halacha kommt aus dem Aramäischen […] und seine Form, mit dieser Bedeutung, ist später als die öffentliche Toravorlesung, die sich im Volk, wie gesagt, [seit den Tagen Esras] unter Anfügung von präzisen Auslegungen verbreitete, an welche die Halacha stets angeschlossen war. Und dies war nicht der Fall vor den Tagen Esras. Wie auch die Sprache, in denen die Halachot gelehrt werden, nicht das frühe reine Hebräisch ist, sondern eine der Mischna eigene Sprache […]«1576 Mit dieser Argumentation vertritt Krochmal die auch noch im 20. Jahrhundert in der Wissenschaft kontrovers diskutierte Auffassung, dass die Halacha ursprünglich stets ein Teil der Schriftauslegung war und sich erst hernach in Form von unabhängigen Mischna-Sätzen, Halacha-Sätzen, von der Schriftauslegung trennte. Für ihn ist dies ein Argument der späteren Entwicklung der klassisch gewordenen Sprachform der Halacha. Allgemein akzeptierte Meinung ist es auch bis
1575 MNS, 13, S. 177, Rawidowicz, S. 194. 1576 MNS, 13, S. 194, Rawidowicz, S. 210.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
heute, dass die Sprache der Mischna, mit ihren klassischen Halacha-Sätzen, eine vom biblischen Hebräischen verschiedene neo-Hebräische Sprache ist. Mit diesen wenigen Beispielen der Argumentation Krochmals für eine historische Entwicklung des jüdischen Rechts samt ihren Sprachformen will ich es bewenden lassen. Sie können nur wenige Hinweise auf das wissenschaftliche Vorgehen Krochmals geben, in dessen Rahmen er natürlich auch den Fragen der Entstehung der großen Traditionswerke, der Talmudim und Midraschim, nachgeht. Hinsichtlich der in der rabbinischen Literatur mitgeteilten Rechtssätze kommt Krochmal schließlich zu dem Resultat, dass es für die Halachot, was deren Quellen und Wurzeln anbelangt, vier Stufen gibt: »1. Jene, welche man mittels der Midraschauslegung durch die dreizehn hermeneutischen Regeln1577 aus der Tora erschlossen hat […]. 2. Alte Halachot, für die es keine Schriftauslegung gibt […], sie werden ›Halacha des Moses vom Sinai‹ genannt. 3. [… von den Gelehrten] verordnete Rechtssätze, sowie festgelegte Rechtssätze, die auf vernünftige Erwägungen, Billigkeit und allgemeine Übereinstimmung mit dem biblischen Recht begründet sind […]. 4. Staatsgesetze, die von den unterschiedlichen Staaten [den Juden] auferlegt wurden. Diese sind zwar nicht gegen die Schrift und das allgemeine vernünftige Recht, aber doch außerbiblisch […].«1578 Die historische Forschung und Methode Krochmals, von der hier nur das Allerwenigste angezeigt werden konnte, ist im Sinne Krochmals nicht ein Weg der Destruktion, sondern geradezu der Königsweg der »Geistesgeschichte«, aus der man für die eigene Gegenwart Wichtiges lernen soll und kann. Diese Forschungen zeigen auf, wie das Volk der Juden seit biblischer Zeit, trotz der »naturbedingten« Niedergänge in immer neuen Zyklen eine geistige Kreativität zu entfalten vermochte, auf die man stolz sein muss, und deren Ergebnisse es zu bewahren gilt, die auch ein Zeichen der Erwählung Israels sind. Der neue Hintergrund der idealistischen Geschichtsbetrachtung verleiht der kritischen Historiographie die Kraft des Bewahrens und Erhaltens, aber auch, wiewohl das hier nicht eigens gesagt wird, die Lizenz zur Weiterentwicklung.
1577 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 171f., 226; Bd. 2, S. 317. 1578 MNS, 13, S. 201, Rawidowicz, S. 217.
Haskala – die jüdische Aufklärung
8.2
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Die Haggada
Mit der Bewertung der Haggada hatten einzelne jüdische Gelehrte seit dem Talmud ihre Schwierigkeiten, worauf Krochmal natürlich eigens hinweist. Die Haggada, in ihrer aramäischen Form Aggada, bietet, so betont Krochmal gleich zu Eingang des vierzehnten Kapitels, »Raum für große Verlegenheit.« Dies betrifft in besonderem Maße eine Reihe im Babylonischen Talmud befindlicher Aggadot, »weil viele von diesen Aggadot voller Aberglauben sind, voller befremdlicher Beschwörungsformeln, Dämonengeschichten und Erzählungen, die jegliche Schönheit eines geläuterten Glaubens verdunkeln, die Tadelnswertes von Propheten und Königen berichten, von übertriebenen Geschehnissen und verwerflichen Dingen und sogar solchen, die nicht einmal vor der Ehre ihres Schöpfers zurückschrecken und sie zum Trampelplatz ihrer Worte machen, die den Leser und Hörer erschrecken lassen.«1579 Um aus all diesen Verlegenheiten zu helfen versucht sich Krochmal an einer Lehre von der Rhetorik der Haggada, mit deren Hilfe er vieles erklären und rechtfertigen kann; immerhin ist die Haggada ja ein Teil der jüdischen Tradition und erheischt eine Erklärung, die einen vernünftig denkenden Menschen beruhigen kann. Zunächst stellt Krochmal unterschiedliche Methoden der haggadischen und der halachischen Schriftauslegung fest. Während in Letzterer eine strengere Bindung an den biblischen Text vorherrscht »erlaubten sich die Weisen beim Midrasch-Haggada mehr Freiheiten als beim Midrasch-Halacha, den biblischen Text entgegen seinem natürlichen Sinn zu deuten.«1580 In diesem Zusammenhang beschreibt Krochmal die bekannten metaphilologischen Methoden des Midrasch, die nicht einer philologisch strengen Textexegese entsprechen. Sein Resultat ist: »der Midrasch Haggada ist eine Tätigkeit, die Texte der Schrift entgegen ihrem Wortsinn zu deuten und ihnen etwas ihnen Fremdes und weit von ihnen Entferntes zuzuschreiben, und dies mit dem ausschließlichen Ziel, etwas in Ohr und Herz des Hörers einzuführen, was für sich genommen wahr, gut und nützlich ist.«1581 In der Haggada sieht Krochmal demnach eine Predigtform zur Unterweisung des einfachen Volkes, um ihm auf diese Weise ansonsten gute Lehrstücke zu vermit-
1579 MNS, 14, S. 231, Rawidowicz, S. 246. 1580 MNS, 14, S. 223, Rawidowicz, S. 239. 1581 MNS, 14, S. 226, Rawidowicz, S. 242.
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Der historische Ansatz – Nachman Krochmal
teln. Um dieses rhetorische Ziel zu erreichen, greifen die Prediger zu verschiedenen Arten von Gleichnissen, zu Übertreibungen und zum Übermaß. All dies erscheint Krochmal im Rahmen der Volksunterweisung akzeptabel und legitim und erklärt so die Redeweisen dieser Midrasch-Prediger, die einer aufgeklärten Religion ansonsten nicht entsprechen mögen. Schwieriger steht es mit den eingangs schon erwähnten intolerablen Aggadot des Babylonischen Talmud, von denen sich auch schon andere vor Krochmal distanzierten. Hier greift Krochmal zu einer literaturgeschichtlichen Lösung. Man erkennt nämlich, so meint er, schon an der aramäischen, nicht hebräischen, Sprache solcher Aggadot, dass in ihnen vom Hörensagen berichtet wird, dass sie vom einfachen Volk oder unbedeutenden Gelehrten gesammelt wurden und in deren Sammlungen dann geschlossen ihren Weg in den Talmud fanden.1582 Ihre Aufnahme in die Gemara (den Talmud) hatten diese verderblichen Haggadot gewiss nicht den Gelehrten zu verdanken, sondern den ungebildeten Abschreibern der Texte, die alles, was sie an Geschriebenem vor sich fanden, ohne Unterscheidungsvermögen aufnahmen.1583 Wie immer man zu dieser Auffassung Krochmals stehen mag, entscheidend ist, dass er hier zu traditions-, literatur- und redaktionsgeschichtlichen Argumenten griff, um das Ansehen der talmudischen Tradition und damit deren Akzeptanz auch bei einem gebildeten Publikum zu gewinnen. Mit solchen historisch-kritischen Sichtweisen ist er wahrhaft einer der Väter der Wissenschaft des Judentums und es fügt sich in das Bild, dass gerade Leopold Zunz das Werk Krochmals zum Druck vorbereitete und publizierte.
1582 MNS, 14, S. 235, Rawidowicz, S. 251. 1583 MNS, 14, S. 238f., Rawidowicz S. 254.
NEUORIENTIERUNG NACH DER AUFKLÄRUNG UND KONFESSIONALISIERUNG DES JUDENTUMS I.
SUCHE NACH WEGEN AUS DEM VON DER AUFKLÄRUNG HERBEIGEFÜHRTEN DILEMMA JÜDISCHER IDENTITÄT
1.
Idealistische Philosophie und Historiosophie – Wege der Neudefinition des Judentums
1.1
Judentum ein Volk oder eine Religion?
Das für das Judentum schwierigste Erbe der Aufklärung war die Auflösung der bis dahin gültigen Identität von Judentum, jüdischem Volk und jüdischer Religion. Nachdem Moses Mendelssohn in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum die Religion als ein überkulturelles gemeinanthropologisches Phänomen definiert hatte, das in der allgemeinen menschlichen Vernunft begründet ist und in der Trägerschaft unterschiedlicher Kirchen realisiert wird, von denen das Judentum eben nur eine ist, war die Identität der Begriffe Judentum und jüdische Religion als Religion schlechthin, zerbrochen. Ebenso stellt es sich, trotz der unterschiedlichen Herangehensweise, in Saul Aschers Leviathan dar, nach dem Religion ein verschiedenen Menschen entsprechendes, auf deren individuellen Offenbarungserfahrungen aufruhendes, Glaubensgut ist, das je den unterschiedlichen Bedürfnissen und dem Bildungsstand seiner Träger angepasst ist. So wie die menschliche Vernunft universal ist, meint Ascher, ist auch menschlicher Glauben und damit Religion universal, wenn sie auch durch partikulare Ausprägungen, den menschlichen Bedürfnissen entsprechend, aufgefächert ist. Wiederum ist das Judentum nur eine Facette dieses faltenreichen Fächers von Religion. Damit war den Denkern des 19. Jahrhunderts die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Religion gestellt, der sich keiner entziehen konnte. Außer dieser Frage nach dem Verhältnis von Religion und Judentum haben die Alternativpositionen von Mendelssohn und Ascher den nachfolgenden Diskussionen im deutschen Judentum eine weitere grundsätzliche Problematik beschert, die man auf die Formel Gesetz oder Glaube bringen kann. Das heißt, neben die Klärung des Verhältnisses von Religion und Judentum trat die Frage, ob die jüdische Religion eine Gesetzesreligion oder eine Glaubensreligion sei. Hat Mendelssohn recht, der die Grundlage des Judentums im offenbarten Gesetz sehen wollte, oder aber Ascher, der den Glauben als die Grundlage jeder Religion, mithin auch des Judentums betrachtete. Es sind diese beiden Fragen, welche die Debatten der deutsch-jüdischen Denker im 19. Jahrhundert bestimmten und de-
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Suche nach Wegen aus dem Dilemma der Aufklärung
nen sich niemand entziehen konnte, sei er auf der Seite der Reformer oder der Traditionalisten. So beginnt zum Beispiel die für die deutsche Neoorthodoxie zentral gewordene Schrift von Samson Raphael Hirsch, die Neunzehn Briefe über Judentum von 1836, mit einer Diskussion um das Wesen von Religion und dessen Verhältnis zum Judentum. Und auch Abraham Geiger, Hirschs ehemaliger Freund und späterer erbitterter Gegner, eröffnete seine 1864 erschienenen Vorlesungen zum Thema Das Judenthum und seine Geschichte mit einem Kapitel zum »Wesen der Religion«. Ebenso waren die beiden weiteren hier behandelten Autoren, Salomon Formstecher und Hermann Cohen, bemüht, diese Frage zu beantworten. Die Publikationen dieser Autoren zeigen das eine, nämlich dass das Verhältnis des Juden zu seinem Judentum fraglich geworden war: Ist das Judentum ein Volk oder eine Religion? Und wenn man sich dafür entschieden hatte, das Judentum sei eine Religion, musste geklärt werden, was dies denn sei, die Religion, und worauf sie gründet. In diesem Zusammenhang hatte Saul Ascher noch eine weitere Provokation in die Debatte geworfen, wenn er die Religion vor allem als ein Erzeugnis der menschlichen Kulturtätigkeit und nicht als ein Ergebnis außerweltlicher Intervention darstellte. Er sagte dazu in seinem Leviathan: »daß eine jede Religion, in so fern sie der Mensch gebildet und polirt hat, ein Prinzip oder die Idee von einem höhern und vorzüglichern Wesen als das unsrige, zum Grunde hat. Das Verhältniß zwischen uns und diesem Wesen, und die Mittel, wie wir dieses Verhältniß erreichen und erhalten können, zeigt uns alsdann die Religion.«1584 Das Gesagte gilt nach ihm auch dann, wenn eine Religion, wie das Judentum, als Offenbarungsreligion definiert wird. Die Offenbarungsreligion steht ja, laut Ascher, keineswegs qualitativ über den anderen von ihm genannten Religionsformen, der Naturreligion und der Vernunftreligion, sondern unterscheidet sich nur durch die involvierten menschlichen Vorlieben: »Nehmen wir nun die Religion als einen Gegenstand, der unter den Menschen allgemeines Interesse erregt; so finden wir: daß hier eine Gesellschaft sie aus den Begebenheiten der Natur abstrahirt [die Naturreligion], dort eine sie auf die Autorität verschiedener Geschichtsvorfälle constituirt [die Offen-
1584 Leviathan, S. 19f.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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barungsreligion], und daß eine sie aus sich selbst, aus den Prinzipien der Vernunft analysirt [die Vernunftreligion].«1585 Dass das Judentum eine Offenbarungsreligion sei, bestreitet im Folgenden keiner der Teilnehmer an der Auseinandersetzung. Allerdings sieht sich dann jeder genötigt, den menschlichen Anteil oder die Rolle des Menschen im Vorgang der Offenbarung näher zu beschreiben, ob und inwiefern die Prophetie ausschließlich ein anthropologisches Phänomen ist, oder ob sie auch eine transzendente Ursache hat. Entscheidend ist, dass sich auch diese grundlegende Problematik auf die Darstellung des Judentums bei allen vier hier behandelten Autoren auswirken wird. Sie alle werden sich demnach mit der Religionsfrage, mit der Grundlage der Religion, Gesetz oder Glaube, beziehungsweise Vernunft oder Gefühl, mit dem Wesen der Prophetie und schließlich mit der Geschichte des Judentums auseinanderzusetzen zu haben. Eine entscheidende Rolle kommt dabei der Historiographie zu, die hier allerdings eine für das 19. Jahrhundert typische Gestalt annahm, die man füglich »dogmatische Historiosophie« nennen kann. Das bedeutet, für alle genannten Autoren wurde ihre je eigene Definition von Religion zum hermeneutischen Schlüssel für ihre Darstellung der jüdischen Geschichte beziehungsweise Religionsgeschichte. Dies führte bei den ideologisch sonst so unterschiedlichen Autoren zu wenigstens drei zentralen historiographischen Gemeinsamkeiten, die ich im Folgenden kurz skizzieren will. Die hier zu nennenden Themen dienen den Autoren als hermeneutische Schlüssel für ihre Geschichtsschreibung, das heißt für ihre Darstellung des Laufs der jüdischen Geschichte. Die drei Gemeinsamkeiten sind: 1. Durch die Ablösung des Judentums vom Volksbegriff und seinem neuen Verständnis als Religion musste sich diese jüdische Religion nunmehr vor einem universalistischen Religionsverständnis verantworten und verorten. Die Geschichte Israels und der Juden musste nun als Geschichte der jüdischen Religion, nicht eines Volkes, beschrieben werden. Und diese Geschichte sollte zugleich eine Entwicklung zum Höheren hin darstellen. 2. Die Einheit Gottes – Formstecher und Cohen werden vom Monotheismus sprechen – wird nunmehr zu dem fast ausschließlichen und zentralen Entscheidungsmerkmal für das Wesen von Religion, und damit auch für das Judentum. Das bedeutet, die Entstehung und Reinigung des Monotheismus ist zentrales Beurteilungskriterium für die Entwicklungsstufen der Religion. Neben dem Einheitsdogma treten die anderen Topoi der der Religion deutlich zurück oder sie mussten sich an ihm in ganz neuer Weise ausrichten. Um es pointiert auszudrücken: Bisher war die Frage der Einheit Gottes in allererster Li1585 Leviathan, I, 2, S. 23f.
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Suche nach Wegen aus dem Dilemma der Aufklärung
nie eine Frage der Gotteslehre im engeren Sinne, jetzt wurde die Frage nach der Einheit Gottes zum Maßstab für sämtliche Aussagen der Religion, im Bereich der Kosmologie ebenso wie im Bereich der Anthropologie, der Soziologie wie auch der Religiosität und der Ethik.1586 3. Die Einheitsfrage bestimmt nunmehr auch in bisher nicht dagewesener Weise die Auslegung der Tora. Das heißt, auch die Hermeneutik der Schriftauslegung und Geschichtsschreibung bekommt von hier eine bis dato nicht gekannte Konzentration auf die Einheitsfrage. 4. Über diesen Gemeinsamkeiten hat jeder der vier Autoren seine spezifisch eigene Vorstellung von dem, was die Basis und damit Triebkraft der jüdischen Religion sei. Diesen Eckstein ihres Religionsverständnisses nehmen die Autoren teils programmatisch in die Titel ihrer religions-philosophischen Werke auf, oder sie sind in der Darstellung als solche erklärt. Diese von den einzelnen Autoren gewählten Grundlagen ihres Religionsverständnisses wurden entsprechend in die Überschriften der vier folgenden Autorenkapitel aufgenommen: Judentum als Religion der Tora für Samson Raphael Hirsch, Judentum als Religion des Geistes für Salomon Formstecher, Judentum des Gefühls und der theologischen Wissenschaft für Abraham Geiger und schließlich Judentum als Religion der Vernunft für Hermann Cohen. Mit diesen Begriffen ist zugleich angezeigt, dass die Suche nach einem neuen Verständnis des Judentums im 19. Jahrhund tastend ist und sich in unterschiedliche Richtungen entfaltet, wofür hier nur exemplarische Beispiele gegeben werden können. Sie sind allerdings insofern auch repräsentativ, als die drei erst Genannten allesamt Rabbiner waren und aktiv sich im Kampf für die Neuorientierung des Judentums betätigten, Hirsch als »neoorthodoxer«, Geiger und Formstecher als »Reformer«, während der Marburger Philosophie-Professor Cohen die letzten fünf Jahre seines Lebens an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lehrte, die zahlreiche reformerische Rabbiner, nicht nur für Deutschland, hervorgebracht hatte.
1.2
Zum Begriff der Religion
Zu den Debatten über das Wesen der Religion seien hier nur exemplarische Beispiele gegeben, die je in ihren nachfolgenden eigenen Kapiteln ausführlicher dargestellt werden. So sieht zum Beispiel Samson Raphael Hirsch im Judentum, gemäß der Klassifikation Aschers, ausschließlich die Offenbarungsreligion, die 1586 S. Hermann Cohen, Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religionsphilosophie an den jüdisch-theologischen Lehranstalten, Jüdische Schriften, hrsg. von B. Strauß, Berlin 1924, II, S. 108–125. Th. Meyer, Salomon Formstechers »Religion des Geistes« – Versuch einer Neulektüre, in: Aschkenas 13,2 (2003), S.441–460.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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an der Geschichte orientiert ist. Auch wenn Hirsch vorgibt, sich nicht auf allgemeine Religionsdefinitionen stützen zu wollen, tut er dies doch implizit. In seiner Auffassung von Religion ist er deutlich von Johann Gottfried Herder (1744– 1803) und von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) abhängig. Hirsch meint nämlich, das Judentum sei in allererster Linie ein geschichtliches Faktum, also müsse man die Erkenntnis darüber aus den schriftlichen Quellen, das heißt aus der Tora gewinnen. Dies bedeutet für Hirsch, dass es gelte, zunächst nicht die universale, sondern die partikulare Form von Religion zu betrachten. Und hier müsse eben das Judentum im Zentrum stehen. Denn es sei gerade diese partikulare Form der jüdischen Religion, die zugleich eine Weltmission zu erfüllen habe. Hirsch schöpft hier unausgesprochenermaßen, aus Johann Gottfried Herders 1778 erschienenen Schrift Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und Neuen Zeiten.1587 Herder vertrat dort die Auffassung, dass Gott zum Volk der Israeliten in der Natur, der Geschichte und Poesie gesprochen habe und zwar in einer Weise, die diesem Volk gemäß sei. Und diese partikulare Offenbarung habe nun des weiteren eine Wirkung auf die anderen Völker besessen. Und genau dies ist auch die Position von Samson Raphael Hirsch. Auch er sieht in der Offenbarung Gottes in der Natur, in der Völkergeschichte und dann vor allem am Sinai vor dem Volk Israel und durch das jüdische Volk eine Offenbarung letztlich für alle Völker.1588 Nur glaubt Hirsch natürlich im Unterschied zu Herder, dass diese Rolle Israels nicht später auf andere Völker übergegangen sei, sondern bis in die Gegenwart fortbestehe. Mit dieser Konzeption hat Hirsch die Partikularität des Judentums samt seiner Absonderung, seiner Leiden, seiner Gebot und zeremoniellen Riten im Dienste einer universellen religiösen Mission gesehen. Auch Salomon Formstecher und Samuel Hirsch1589 erörtern das Wesen des Judentums erst nach einer grundsätzlichen Vorklärung des Wesens der Religion allgemein. Sie beide sind darin von G.W.F. Hegel beeinflusst, indem sie die Frage der Religion, wie schon Nachman Krochmal, als Frage der Wirksamkeit des »Geistes« angehen. Für Formstecher ist folglich das Judentum die »Religion des 1587 S. Herders sämtliche Werke, Berlin 1877ff.; hier verwendet: Johann Gottfried Herder, Über Literatur und Gesellschaft. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1988. 1588 S. Samson, Raphael Hirsch, Iggerot Zafon, Neunzehn Briefe über Judentum, Jubiläumsausgabe, Frankfurt/Main 1987, III, S. 22. 1589 Sein opus magnum: Die Religionsphilosophie der Juden oder das Prinzip der jüdischen Religionsanschauung und sein Verhältnis zum Heidenthum Christenthum und zur absoluten Philosophie, Leipzig 1842 (Neudruck Hildesheim 1986), zu ihm, s. M. Waxman, A History of Jewish Literature, London/New York 1960, Bd. III, S. 658–666; J. Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933, S. 328–337; N. Rothensstreich, Jewish Philosophy in Modern Times: From Mendelssohn to Rosenzweig, New York/Chicago/San Francisco 1968, S. 106– 148.
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Suche nach Wegen aus dem Dilemma der Aufklärung
Geistes« schlechthin, während Samuel Hirsch ein Wesensattribut des »Geistes«, nämlich die menschliche »Freiheit« in die Mitte seiner Religionsdefinition stellt. Salomon Formstecher spricht in Anlehnung an Saul Aschers Religionsdefinition von nur zwei Religionstypen, nämlich der Naturreligion und der Religion des Geistes. Diese beiden stehen in einer fast dualistischen Opposition zueinander. Danach ist dann natürlich nur die Religion des Geistes die wahre Religion, die mit dem Judentum, und nur mit ihm, identisch ist, während die Naturreligion, zu der alle übrigen Religionen ganz oder teilweise gehören, de facto einem Polytheismus der Naturverehrung frönen. Demnach ist das Judentum Ideal und Ziel aller Religion, in ihr ist der Absolute Geist bei sich selbst angekommen. Abraham Geiger sieht hingegen die Wurzel der Religion zunächst im menschlichen Gefühl. Er ist dabei deutlich von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) beeinflusst, der die Religion in dem doppelten Gefühl der menschlichen Freiheit einerseits und Abhängigkeit andrerseits begründet sieht. Es ist dieses doppelte Bewusstsein oder Gefühl von Freiheit und Abhängigkeit, welches auch die Äußerungen Geigers zur Religion bestimmt.1590 Allerdings macht sich bei Geiger auch der Einfluss von Hegel geltend, wenn er diesem Schleiermacher’schen Doppelgefühl noch den Topos vom menschlichen Geist und Allgeist hinzufügt. Dadurch erhält Geigers Religionskonzept das dynamische Element der Selbstverwirklichung des universalen Geistes. Neben diese emotionale Komponente des Religionsbegriffs tritt bei Geiger noch ein zweites Element, welches dann für Hermann Cohen letztlich einer der zentralen Punkte seines Religionsbegriffes wird, nämlich die Erkenntnis der Sittlichkeit. In diesem Sinne sagt Geiger zu seinem Verständnis der jüdischen Religion: »Das Wesentlichste ist aber wiederum in ihm das Bewusstsein der sittlichen Kraft, die dem Menschen eingeflößt ist […] seiner sittlichen Kraft, die grade, weil sie das Streben nach voller Reinheit weckt …«1591 Religion hat für Geiger also eine emotional-kognitive wie auch eine sittlich-ethische Seite. 1590 So sagt Geiger, Das Judentum und seine Geschichte (JuG), Breslau 1864, S. 11: »Ist nun nicht das wahrhaft Religion? Das Bewusstseins von der Höhe und Niedrigkeit der Menschen, dieses Streben nach Vervollkommnung mit dem Bewusstsein, dass man zur höchsten Stufe sich nicht emporringen könne, dieses Ahnen des Höchsten, das als freiwaltender Wille vorhanden sein muß, dieser Weisheit, aus der auch unser Stücklein Weisheit hervorgeht, einer unendlichen Freiheit, aus der auch unsere bedingte Freiheit erzeugt ist. […] Religion ist nicht ein System von Wahrheiten, sie ist der Jubel der Seele […], Religion ist der Schwung des Geistes nach dem Idealen hin, das Emporstreben zu den höchsten Gedanken […] Religion ist der Schwung nach dem Höchsten hin, den man als die einzige, volle Wahrheit begreift, der Aufschwung nach der alles umfassenden Einheit, welche einmal der Mensch als ein Ganzes nach der ganzen Natur seines Geistes in sich ahnt, als die Grundlage alles Seins und Werdens, als die Quelle alles irdischen und geistigen Lebens […]« 1591 JuG, S. 23.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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Wesentlich für das Geigersche Religionsverständnis ist schließlich Geigers Deutung der Offenbarung. Mit Hilfe des in seiner Zeit verbreiteten Genie-Kultes, deutet Geiger die Gabe der Prophetie, das heißt des Empfanges von besonderen Einsichten mit der Begabung des Genies.1592 Demnach ist die Prophetie und damit das Grundphänomen der Offenbarungsreligion ein ausschließlich anthropologisches Phänomen, die schöpferische Urkraft des Genies. Sie ist andererseits aber zugleich »eine Berührung mit der in der Natur zerstreuten Kraft, die gesammelt sich auf ihn niederläßt, mit dem Allgeiste, der in höherer Erleuchtung sich ihm kundgibt.«1593 Auch Hermann Cohen, der zünftige Philosoph, nimmt die Fragestellung nach dem Wesen der Religion auf, zwischen deren Klippen er durchzukommen sucht. Es ist die Frage der rein anthropologischen Begründung der Religion oder einer transzendenten Verankerung, die nun für die Selbstdefinition des Judentums zentral geworden ist. Und Hermann Cohen, der Philosoph, scheint zunächst eindeutig auf der Seite der anthropologischen Begründung der Religion zu stehen. Aber es ist nicht nur das oft beobachtete Schwanken in der Diktion über Gott, wo Cohen häufig zu anthropomorphen und personalistischen Formulierungen greift. Es ist auch seine idealistische Auffassung, nach welcher die Ideen wie die Gottesidee, oder die Messiasidee zwar von Menschen konzipierte Ideen sind, welche die Geschichte vorantreiben, aber diese Ideen haben nach Cohens Auffassung zugleich ein ebenso wirkliches Sein wie sie die mathematischen Axiome beanspruchen können, also sind sie Seiendes, welches den Menschen letztlich wiederum transzendiert. In dieser seiner Auseinandersetzung mit den Auffassungen seiner Vorgänger musste Cohen als Philosoph sich natürlich um klare Grenzziehungen zwischen der Philosophie und der Ethik zur Religion bemühen. In diesem Punkte kamen ihm die Auffassungen von S.R. Hirsch und Geiger insofern entgegen als auch sie – insbesondere Geiger – als ein zentrales Element der Religion die Sittlichkeit herausstellten. Nachdem schon Hirsch und Geiger die Sittlichkeit, oder das verstehende menschliche Handeln, zur der, oder einer der wesentlichen Säulen der Religion erklärt hatten, musste es Cohen nicht mehr schwer fallen, auch seinerseits die Sittlichkeit zu einer der Säulen der Religion zu erklären. Dabei haben die rabbinischen Gebote für Cohen, wie für Hirsch und Geiger, nur nach einer
1592 JuG, S. 30: Ein Genie ist, laut Geiger, eine Persönlichkeit, die unter ihren Zeitgenossen durch eine besondere Begabung herausragt. Über diesen Erkenntnisprozess des Genies – sprich des Propheten – sagt Geiger einerseits: »Woher nun diese Kraft, die als Urplötzliches auftritt? Wir gelangen hier an den tiefen Grund der menschlichen Seele, über den hinaus wir nicht können, an eine Urkraft, die schöpferisch aus sich selbst wirkt, ohne daß sie von einem äußeren Antriebe getragen würde.« 1593 JuG, S. 31.
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unbedingt erforderlichen kognitiv-theologischen Deutung die Fähigkeit, Träger dieser Sittlichkeit zu sein. Dennoch können für Cohen die Gebote allenfalls unvollkommene Instrumente auf dem Wege zur Erlangung der »sittlichen Idee« sein, die ihrerseits mit Gott identifiziert werden kann.1594 Demnach sind in allen vier Systemen, bei Hirsch, Formstecher, Geiger und Cohen, die biblisch rabbinischen-Gebote nur insofern als Etappen zur Sittlichkeit zu verstehen, als sie nicht im rabbinischen Sinne einfach befolgt, sondern historischer, teleologischer, oder symbolischer Deutungen bedürfen, um dadurch mit Sinn erfüllt zu werden.
2.
Die Einheit Gottes
Sogleich im ersten Kapitel der »Religion der Vernunft«, das die Überschrift »Die Einzigkeit Gottes« trägt, ist Hermann Cohen bemüht, den israelitischen »Monotheismus« als die Vernunft-Basis des jüdischen Glaubens zu erweisen. Nachdem er ausführlich die Offenbarung des Gottesnamens »Ich bin, der ich bin«1595 am Dornbusch erörtert hatte, resümiert Cohen: »Die Einzigkeit bedeutet demgemäß auch die Unterscheidung zwischen Sein und Dasein. Und in dieser Unterscheidung bewährt sich vorzüglich der Anteil der Vernunft am Monotheismus. Denn das Dasein wird von den Sinnen bezeugt, von der Wahrnehmung. Dahingegen ist es die Vernunft, welche gegen den Sinnenschein, der dem Dasein Wirklichkeit verleiht, das unsinnliche Sein entdeckt, das Unsinnliche zum Sein erhebt, als das Sein auszeichnet.«1596 Die alte Frage der Einheit Gottes, als Abgrenzung gegen den Polytheismus (in der Bibel), oder den Dualismus (in der antiken rabbinischen Literatur), oder die Körperlichkeit Gottes (in der mittelalterlichen Philosophie), wird im 19. Jahrhundert zu einer umfassenden ontologischen Frage von Sein und Dasein. Wir stehen damit, was unten noch ausführlicher zu erörtern sein wird, vor einer neuen Deutung der »Einheit« oder »Einzigkeit« Gottes, in der gewiss die spinozanische Auffassung1597 von der göttlichen Einheit ihren Nachklang hat. Sie war zum Beispiel auch schon von Abraham Geiger so gestellt worden. Auch für ihn ist die Selbstoffenbarung Gottes am Dornbusch eine umfassende Seinsaussage, an die sich Cohen anschließen konnte. Auch bei Geiger hatte diese göttliche Seinsaus1594 S.H. Cohen, Ethik des reinen Willens (EW), Berlin 1904, S. 409, 416, 421f., 426, 428. 1595 S.H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums hrsg. von B. Strauß, Berlin 1919 (2. Aufl. 1928), Neudruck Wiesbaden 1978 (RV), S. 49. 1596 RV, S. 51. 1597 S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 5.3.
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sage, wie nachher bei Cohen, zwei Seiten, nämlich als eine Aussage vom Sein für die Natur wie für das Sein des Menschen. So sagt Geiger zur Bedeutung des Gottesnamens JHWH: »Seine Bedeutung […] ist sicher! ›Er ist‹, so lautet er; wie Gott von sich selbst in der heiligen Schrift sagt: ich bin, der ich bin, so sagt der Mensch von ihm: er ist! Das einzige Sein, das Allumfassende für Natur wie für Menschenleben. ›Er ist‹ und als solches allumfassendes Sein natürlich auch absolute Einheit. […] ›er ist‹ ist einzig‹. Dieses Sein, das Alles umfaßt, ist die einzige, volle lebendige Persönlichkeit, zugleich aber als das Allgemeinste nicht zu erschauen.«1598 Ähnlich hebt Formstecher darauf ab, dass die menschliche Erkenntnis die erkannte Dualität von Natur und Geist in eine höhere Einheit erhebt. Gerade in diesem Akt einer kognitiven Vereinung der Gegensätze besteht für ihn das Zentrum der Religion. Auch Samson Raphael Hirsch stellt als höchstes Ziel dar, über der Vielzahl der in der Welt wirkenden Kräfte die Gottheit als den einen Herrscher über all diesen vielfältigen Kräfte zu erkennen und ihm zu dienen.
3.
Die geschichtliche Hermeneutik oder die »dogmatische Historiosophie«
Das letzte hier zu nennende Motiv, das von der dogmatischen Historiosophie, ist vielleicht die eindrücklichste gemeinsame Neuerung des deutsch-jüdischen Denkens. In einem Kommentar zu den historischen Rückblicken im biblischen Deuteronomium sagt Hermann Cohen einmal: »Zu dieser weltgeschichtlichen Aufgabe für die Errichtung und Befestigung des Monotheismus wird das Nationalbewußtsein erweckt. Zu diesem einzigen Zwecke wird die Urgeschichte des Volkes rekapituliert. […] Mit diesem Leitfaden des Nationalbewußtseins muß sich der Monotheismus vertragen, und alle Gegenmotive müssen illusorisch gemacht werden.«1599 Mit der hier angezeigten Antinomie von weltgeschichtlichem Universalismus und nationalem Partikularismus in der jüdischen Geschichte ist das gesamte Programm der Historiosophie von Cohen angezeigt. Sie muss zeigen, wie sich die universalistisch ausgerichtete Sendung des Judentums als des Trägers der Idee
1598 JuG, S. 20f. 1599 RV, S. 86.
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des Monotheismus mit der nationalen Begrenzung auf das Judentum verträgt. Die über das gesamte Buch Religion der Vernunft verstreuten historischen Darstellungen der Begriffsbildung und des Ideenfortschritts innerhalb des Judentums wie auch hinsichtlich der übrigen Völker der Welt sind nach dem soeben zitierten Leitfaden der Historiographie gestaltet. Es wird von Cohen gezeigt, wie sich die Idee des Monotheismus innerhalb des Volkes Israel Bahn bricht und von Stufe zu Stufe voranschreitet, während er etwa bei den Griechen im Keime stecken bleibt. Daraus ergeben sich eine Reihe von Schlussfolgerungen und Auffassung Cohens, welche wiederum Gemeingut der unterschiedlichen Schulen der deutschjüdischen Denker waren: 1. Die Sichtweise, weshalb gerade in dem kleinen Israel der universalistische Gedanke des Monotheismus wirksam war, haben die deutsch-jüdischen Denker – wie unten noch deutlich werden wird – von Herder, Lessing und Hegel übernommen.1600 Sie haben mittels der Völkerpsychologie und der Vorstellung vom Geist der verschiedenen Nationen das historische Voranschreiten der Völkergeschichte begründet. Danach traten im Laufe der Geschichte unterschiedliche Völker mit einem spezifischen »Nationalgeist«, oder »Volksgeist« auf, der sich im Judentum als die Idee des Monotheismus äußerte. Dieses Konzept haben alle vier Denker in der je eigenen Weise übernommen. 2. Aus seinem Besitz des monotheistischen Geistes ergab sich für Israel im Rahmen der Völkergeschichte eine spezifische Mission, ein besonderer bis in die Gegenwart andauernder Beruf. Denn die Mission Israels unter den Völkern der Welt ist noch nicht zu ihrem Ziel gelangt. Dies wird erst dann erreicht sein, wenn die Idee des Monotheismus ihre Erfüllung findet.1601 3. Der von den vier Autoren gezeichnete geschichtliche Entwicklungsprozess wird als ein weltumspannender Erziehungsprozess verstanden.1602 Dieser Prozess 1600 Hierzu vgl. die wichtigen Arbeiten von D. Westerkamp, The Philonic Distinction: German Enlightenment Historiography of Jewish Thought, in: History and Theory 47 (2008) (Wesleyan University), S. 533–559; ders., Das Bild der Vernunft. Feuerbach und die jüdischen Hegelianer, in: Feuerbach und der Judaismus, hrsg. von U. Reitemeyer et. al., Münster 2009, S. 159– 167; N. Rotenstreich, Jews and German Philosophy. The Polemics of Emancipation, New York 1984.Rotenstreich befasst sich mit dem erstaunlichen Phänomen, dass sich die jüdischen Denker nachhaltig von den Systemen der deutschen Philosophen, voran Kant und Hegel, beeinflussen ließen, trotz deren klaren antijüdischen Positionen, und wie die jüdischen Denker es vermochten, die antijüdischen Spitzen in projüdische Positionen umzuwerten. 1601 RV, S. 183, 273: »Israel dagegen hat seine eigentliche Laufbahn erst da begonnen, als es mit allen nationalen Schätzen dieser Welt gebrochen und ein neues Dasein, eine ganz neue Art von Dasein in der Weltmission angetreten hat. […]. Seine Märtyrerlaufbahn beginnt mit seiner Weltmission.« Und s. S. 274f., 330. 1602 RV, S. 89, 312f., 330.
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ist zum Beispiel laut Hirsch ein göttliches Erziehungsprogramm für die Menschheit. Und auch Cohen kann formulieren: »Das geschichtliche Leiden Israels gibt ihm seine geschichtliche Menschenwürde, seine tragische Mission, welche seinen Anteil an der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts darstellt.«1603 4. Die Erwählung Israels erscheint nunmehr als eine didaktisch erforderliche Maßnahme innerhalb dieses allgemeinen Erziehungsprozesses, woraus dann zwangsläufig auch das schmerzliche Widereinander der Völker und Israels entstand.1604 5. Die anscheinend beklagenswerte Situation der Juden, die Staatenlosigkeit, das soziale Elend, die Isoliertheit und der prototypische Leidenszustand, werden als notwendige Durchgangsstufen zur Erreichung des Erziehungszieles verstanden. In diesem Erziehungsprozess ist Israel das Symbol der Menschheit, so auch laut Cohen: »denn nur der Monotheismus vermag die Menschheit zu konstituieren. […] Israel ist das heilige Priestervolk des Monotheismus. Israel ist nicht ein Volk wie andere Völker.«1605 Es sind diese und ähnliche Motive der Geschichtsauffassung, die bei allen genannten Autoren in der einen oder anderen Weise wiederkehren. Sie dienen offenbar der Selbstvergewisserung der deutschen Juden in ihrer Krise zwischen Volkstum und Religion. Hier wird die Absonderung der Juden als ein Teil der gesamtmenschheitlichen Entwicklung oder Erziehung gedeutet, die eine Verortung der Juden in der Separierung und Vermischung mit ihrer nichtjüdischen Umwelt sucht. Es ist, wie schon vermerkt, kein Zufall, dass die deutsch-jüdischen Autoren der Geschichte eine solche bis dahin nicht da gewesene Aufmerksamkeit widmeten. Sie folgen darin einem Trend in der europäischen und insbesondere der deutschen Philosophie, welche der Geschichte in eigens geschichtsphilosophischen Werken ein neues Augenmerk schenkten. Da ist François M. A. Voltaire mit seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1754–1758), Giambattisto Vicos grundlegendes Werk Principi di scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni (Neapel 1744) (dt. Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1822)1606, Gotthold Ephraims
1603 RV, S. 330; und »Sittlichkeit bildet theoretisch den Inhalt der Ethik und praktisch den Inhalt der Selbsterziehung des Menschen. Diese Selbsterziehung tritt als Religion in das Licht der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts.«, RV, S. 127, 395; und: »Das göttliche Erziehungswerk trifft ausgedehnte Anstalten und Vorkehrungen. […] zum sittlichen Erziehungswerk des Menschen […]«, RV, S. 395, 399, 413. 1604 RV, S. 134. 1605 RV, S. 173. 1606 Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. und hrsg. von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1992; Die neue Wissenschaft über die
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Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1777), Johann Gottfried Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1774), Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (erschienen 1837/1840), alles Autoren und Werke, welche in der einen oder anderen Weise die hier darzustellenden deutsch-jüdischen Autoren wie auch den oben schon besprochenen Galizier Nachman Krochmal beeinflussten.1607
gemeinschaftliche Natur der Völker. Übers. von Erich Auerbach. Berlin/New York 2000; zu ihm s. M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1970. 1607 Zur Hinwendung der deutsch-jüdischen Gelehrten zur Geschichte s. I. Schorsch, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, Hanover (Brandeis Univ. Press) 1994; zur Geschichte der Reform: D. Philipson, The Reform Movement in Judaism, New York 1907; M.A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, Detroit 1995 (New York 1988).
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
II.
UNBEWUSSTER WANDEL IM SELBSTVERSTÄNDNIS DES JUDENTUMS
1.
Synagogenordnungen
1.1
Gründe für das Entstehen von Synagogenordnungen
489
Mit seinem Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum hat Moses Mendelssohn, wie schon oben erwähnt, eine Phase des Ringens um ein neues Selbstverständnis im deutschen Judentum eröffnet. Seine Trennung von Religion und Gesetzesoffenbarung und deren dialektische Verbindung hat zusammen mit der fideistischen Gegenposition Saul Aschers die Debatte des 19. Jahrhunderts bestimmt. Im Wesentlichen kann man diese Debatte als den Versuch der Ortsbestimmung für die beiden Pole, Gesetz und Glaube sowie deren Bedeutung für das Religionsverständnis im Allgemeinen und des Judentums im Besonderen bestimmen. Dabei gab es die Möglichkeit, sich grundsätzlich nur auf das Eine oder das Andere als dem Wesentlichen des Judentums zu beschränken, oder eine Mischposition zu ergreifen, in der das Gesetz, um eine Formulierung Mendelssohns aufgreifend,1608 dann »nur« als für die Religion nicht konstitutives »Zeremonialgesetz« verstanden wird. Noch gravierender war die andere Auffassung Mendelssohns, vom Judentum als einer »Kirche«, das heißt einer organisierten Religionsgemeinschaft neben anderen, eine Position, die Analog Ascher vertrat. Allerdings hat Mendelssohn das ethnische Verständnis des Judentums als einer ehemals staatlich verfassten Volkgemeinschaft, der das Gesetz offenbart wurde, nicht gänzlich aufgegeben. Immerhin hat Mendelssohns und Aschers Sicht vom Judentum als einer Konfession und damit einer »Kirche« neben anderen »Kirchen« oder einer »constituirten Religion« neben anderen, den deutschen Staaten die Möglichkeit eröffnet, die Juden nicht länger als Volk im Volke, sondern als Kirche neben Kirchen zu verstehen und rechtlich entsprechend zu behandeln. Diese möglichen und tatsächlichen Veränderungen des jüdischen Selbstverständnisses muss man für alle nachfolgenden Denker voraussetzen, um ihre grundsätzlich neue Position im Vergleich zu den vorausgegangenen Phasen zu verstehen. Indizien für das Ausmaß dieser Veränderungen des religiös-denkerischen Selbstverständnisses, sowohl in der gesellschaftlichen Breite wie in ihrer religionsgeschichtlichen Grundsätzlichkeit, gibt es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und zwar in Gestalt einer neu entstandenen Textgattung, welche die besagten Veränderungen in beiderlei Hinsicht bezeugt. Gemeint sind die ausdrücklich so genannten Synagogenordnungen, welche auf Geheiß der deutschen Staaten 1608 Jerusalem, Thom, S. 420f., 436f.
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Unbewusster Wandel – Synagogenordnungen
oder auch im vorauseilenden Eifer mancher jüdischer Reformer entstanden sind. Sie beschreiben meist in Präambeln Selbstverständnis und Daseinszweck jüdischer Körperschaften, um dann in einer Reihe von Einzelbestimmungen die daraus sich ergebenden rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Zuvor hatte zwar die ältere Halacha ebenfalls schon die Gebetsordnung und Rechte und Pflichten des Juden beschrieben, aber hier bei den Synagogenordnungen ist vor allem eine wesentliche Neuerung eingetreten, nämlich, der staatlich gedeckte Anspruch, für größere Regionen oder gesamte Gemeinden, unabhängig vom lokalen Brauchtum einheitlich Ordnungen durchzusetzen und entscheiden zu wollen. Damit verbunden war dementsprechend eine staatlich verliehene Sanktionsgewalt, welche wider Althergebrachtes eingesetzt werden konnte. Gerade dies haben sich nicht wenige Neuerer und Reformer zu Nutze gemacht und ihre staatlich gedeckten Neuerungen oft nur mit dem Hinweis auf entsprechende ältere jüdische Tradition zu rechtfertigen und den Eindruck des Traditionsbruchs abzumildern gesucht. Neben dem bewussten Neuerungswillen gemäß bestimmten, meist am zeitgenössischen Protestantismus gewonnenen, Kriterien, wirkt oft unbewusst ein Faktor herein, der die Konfessionalisierung des Judentums schleichend vorantrieb, nämlich die Übersetzung alter hebräischer Fachtermini und des überkommenen Brauchtums in sprachlich deutsche und kulturell christliche Kategorien. Den ersten staatlich verordneten Anfang solcher »innovativer« Ordnungen machte die am 24. September 1810 im napoleonischen Königreich Westfalen von dem »Königlichen Konsistorium der Israeliten« in »Westphalen« erlassenen Verfügungen, die unter anderem in der Zeitschrift Sulamith1609 veröffentlicht wurden. Als nächst bedeutsame Verordnung tritt die »Gottsdienst-Ordnung« der »Kön. israelitischen Ober-Kirchen-Behörde« Württembergs von 1838 an ihre Seite, die für zahlreiche weitere Ordnungen vor allem im hessischen Raum vorbildlich wurde. Eine für diesen Zusammenhang bedeutsame Publikation zahlreicher gedruckter und handschriftlicher Synagogenordnungen hat W.S. Zink in seiner Potsdamer Dissertation vorgelegt.1610 Alle diese Urkunden dokumentieren ein grundsätzlich verändertes Selbstverständnis der Juden, ihrer Gemeinschaft,
1609 Sulamith, 3.1 (1810), S. 366–380. 1610 W.S. Zink, Synagogenordnungen in Hessen 1815–1848. Formen, Probleme und Ergebnisse des Wandels synagogaler G’ttesdienstgestaltung und ihrer Institutionen im frühen 19. Jahrhundert, Diss. Potsdam 1998, gedr. Verlag Mainz, Wissenschaftsverlag, Aachen 1998. Die Arbeit beschränkt sich bewußt auf diesen Zeitrahmen. Für spätere Phasen s. z. B. die Synagogen-Ordnung für die israelitischen Religions-Gemeinden des Kreises Alsfeld, die am 11.Nov. 1859 vom Großherzoglichen Kreisamt Alsfeld erlassen wurde, bei Th. Altaras, Synagogen in Hessen – was geschah seit 1945?, Königstein 1988, S. 21. Zink bietet insgesamt 51 Ordnungen aus dem hessischen Raum.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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Religion und ihrer religiösen Funktionäre, das im Folgenden kurz skizziert werden muss.
1.2
Die Selbstbezeichnungen
Bis in das beginnende 19. Jahrhundert hatten sich die Juden als »Juden« (Jehudim) oder mit dem biblischen Ausdruck »Volk Israel« bezeichnet und darunter stets einen ethnisch-nationalen Verband verstanden, der zugleich durch den Bund mit Gott ein religiöser Verbund war. Die neuen Synagogenordnungen sprechen demgegenüber von »israelitischen Religionsgemeinden«,1611 »israelitischen Glaubensgemeinden«,1612 von »israelitischer Cultusgemeinde«,1613 »israelitischer Gemeinde«,1614 »mosaischer Gemeinde«,1615 oder gar »isr.[aelitische] Kirchengemeinde«,1616 »israelitische Kirche«.1617 Die ehemaligen Volksgenossen werden nun »israelitische Glaubensgenossen«,1618 oder »Kirchenglieder«.1619 Die Juden sind hier nurmehr als religiöse Gemeinschaft definiert, die ein gemeinsamer »Glaube« – nicht ein Gesetz wie bei Mendelssohn – verbindet, die einen gemeinsamen »Cultus« pflegen, mithin Kirche im Mendelssohnschen Sinn sind. Diese den jüdischen Gemeinden beigegebenen Prädikate greifen bewusst vor die ethnisch-jüdische Terminologie zurück, nämlich auf das religiöse Israel und auf Moses, den Offenbarungs-Mittler. Konsequenterweise gibt es nun, wie in Württemberg eine zentrale staatliche »Oberkirchenbehörde«1620 oder wie in Westfalen und im Rheinland »Consistorien«.1621
1.3
Der Rabbiner
Der Rabbi, in der Antike nur »akademischer« Qualifikationstitel, hatte sich im aschkenasischen Mittelalter zu einem besoldeten Amtsträger entwickelt,1622 des1611 Alfeld, Alteras, S. 21. 1612 Zink, S. 274f., 369. 1613 Zink, S. 233, 567. 1614 Zink, S. 75. 1615 Ebd. 1616 Zink, S. 500, 170, 267. 1617 Zink, S. 328. 1618 Zink, S. 54, 355. 1619 Zink, S. 500f. 1620 Zink, S. 161. 1621 Zink, S. 54 f , 67; Westfalen, Sulamith 3.1, S. 366. 1622 S. die in dem von J. Carlebach herausgegebenen Sammelband: Das aschkenasische Rabbinat, Berlin 1995, versammelten Aufsätze.
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Unbewusster Wandel – Synagogenordnungen
sen offizielle Funktionen nichts mit dem Gottesdienst, sondern fast ausschließlich mit dem Rechtswesen zu tun hatten. Er war gemäß seiner talmudischen Ausbildung an einer Jeschiva, oft neben weiteren Rabbis, Richter, Entscheider und Schlichter in Zivil- Straf- und Ritualangelegenheiten und konnte seine Entscheidungen mit Hilfe des Herem, also des wirtschaftlich und sozial sich auswirkenden Bannes durchsetzen. Nach der voranschreitenden Einschränkung der jüdischen Rechtsautonomie durch die absolutistischen Staaten, dem Entzug der Gerichtsbarkeit und des Rechtes zum Synagogenbann, wofür ja auch Mendelssohn gemäß seiner Religionsauffassung nachhaltig plädierte, war das bisherige Qualifikations- und Amtsverständnis des Rabbiners untergraben. Gemäß dieser Erosion des Rabbineramtes verzeichnen die Synagogenordnungen ein völlig neues Bild vom Rabbiner, das sich organisch in das neue religiöse Selbstverständnis fügt. Die Texte sprechen nun von israelitischen Geistlichen oder Religionslehrern, Seelsorgern,1623 von israelitischen Theologen.1624 Diese Personen müssen nicht, können aber mit dem nach alter Tradition gebildeten und ernannten Rabbiner identisch sein, diese Funktionen können aber auch von ganz anderen Personen ohne die zünftige rabbinische Ausbildung wahrgenommen werden, die nun in den Genuss des Titels Rabbi oder Rav kommen. Die Funktionen dieses neuartigen Theologen-Rabbiners haben sich entsprechend der neuen Definition der jüdischen Gemeinschaft als Religions- oder Cultus-Gemeinde auf den Gottesdienst zu konzentrieren, mit dem der Rabbi zuvor kaum etwas zu tun hatte. Er ist nun der Amtsträger, der für den Gottesdienst verantwortlich ist,1625 in dessen Zentrum jetzt ein Kanzelvortrag steht.1626 Der neue Rabbiner oder Theologe ist auch für den Religionsunterricht verantwortlich und muss die neu eingeführte Confirmation für Jungen und Mädchen bei der Schulentlassung mit 14 Jahren durchführen,1627 so auch die übrigen Casualien wie Beschneidung (Präsenzpflicht),1628 Copulation (Hochzeit)1629 und Beerdigung.1630 Für all das muss der Rabbiner analog zum christlichen Geistlichen die »Kirchenbücher« führen.1631 Und er muss, auch dies eine Neuerung gemäß dem christlichen Vorbild, eine »Amtstracht« tragen.1632 Schließlich hat dieser neue Rabbiner
1623 Zink, S. 216, 218, 326, 338, 267, 271. 1624 Zink, S. 619, 775f. 1625 Zink, S. 338, 367, 375. 1626 Zink, S. 237, 376, 380. 1627 Zink, S. 176, 235, 376, 380. 1628 Zink, S. 274, 381. 1629 Zink, S. 87. 1630 Zink, S. 275, 239. 1631 Zink, S. 240, 274f. 1632 Zink, S. 163. 275.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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die religiöse Aufsicht über einen ganzen Sprengel,1633 und ist, wo es eine solche gibt, der »Oberkirchen – Behörde« oder dem Consistorium verantwortlich, von dem er, wieder nach dem christlich-kirchlichen Vorgang, sein Salär erhält. Auch wird vom Rabbiner nun Seelsorge, Krankenbesuch und Trost erwartet.1634
1.4
Die Synagoge
Die Synagoge war bisher im Grunde ein nicht an bestimmte architektonische Voraussetzungen gebundener Versammlungsort für die gleichberechtigten Beter und konnte an jedem beliebigen und frei gewählten Ort eingerichtet werden. In ihrer Eigenschaft als Versammlungshaus konnte die Synagoge auch andere Funktionen als im engeren Sinne gottesdienstliche übernehmen. Auch dies hat sich nun grundlegend geändert. Eine Synagoge war nun ein staatlich lizenziertes Gebäude1635 und nur in solchen durfte ein »öffentlicher Gottesdienst« stattfinden, wie man das bisherige Gebet im Quorum, dem Minjan, nun nannte. Darum durften keine Privatsynagogen mehr gehalten und in ihnen partikulare Gottesdienste veranstaltet werden, die man nun »Winkelandachten« zu nennen pflegte.1636 Dieser neue staatlich-amtliche Status wurde auch mit spiritueller Würde ausgestattet. Die Synagoge, heißt nun das »kirchliche Gebäude« oder »Gotteshaus«1637 und dies in dem Sinne von »Wohnung Gottes«,1638 eine Vorstellung, welche 1818 in Hamburg und später an anderen Orten zur Bezeichnung »Tempel« für die Synagoge führte. Dem entspricht auch, dass der Gottesdienst selbst »Cultus« genannt wird.1639 Und analog einer katholischen Kirche wird auch gefordert, dass man sich vor der »Lade« beim Eintreten verbeugen soll.1640 Nach alledem ist es kaum mehr verwunderlich, dass der Almemor oder die Bima, das heißt das Vorleserpult, gelegentlich auch »Altartisch« genannt wird.1641 Zu dieser neuen sakralen Weihe des Gotteshauses gehört natürlich auch die angemessene Kleidung, Rock und Hut, wie dies das Titelbild dieses Bandes zeigt.1642 1633 Zink, S. 338, 367, 87. 1634 Zink, S. 87. 1635 Zink, S. 162, 133. 431. 1636 Zink, S. 162, 327, 237, 431, 312. 1637 Zink, S. 354, 418, 431, 461, 530, 638. 1638 Zink, S. 312; Alsfeld, Altaras, S. 21. 1639 Zink, S. 371, 490, 499, 67, 54ff. 1640 Zink, S. 312; Alsfeld, Altaras, S. 21. 1641 Zink, S. 111, 115. 1642 Zink, S. 76, 275, 328, 368, 112, Mützen und andere Kopfbedeckungen sind verboten, ausgenommen die spezifische Kopfbedeckung der Amtstracht des Rabbiners, s. die Umschlagabbildung.
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1.5
Der Gottesdienst
Der bisherige traditionelle Gottesdienst der Synagoge war Tefilla, das heißt Gebet der Laiengemeinde, war ‘Avoda, im Sinne von ‘Avoda sche-ba-Lev, das heißt spiritueller gebeteter Ersatz des ehemaligen Tempeldienstes und galt als von Gott gebotener Dienst an Gott, so sahen es auch die Kabbalisten, welche dem Gebet theurgische Wirkung auf die göttliche Welt zuschrieben.1643 Das bedeutet Sinn und Ziel war der Dienst an Gott, dies auch ausdrücklich bezüglich der Schma‘-Rezitation, welche den täglichen Königsjubel, die Anerkennung des göttlichen Königs bedeutete.1644 Der neue Gottesdienst war demgegenüber nicht mehr eigentlich GottesDienst, sondern Dienst am Menschen, denn sein Ziel war es das »Gemüth« der Beter zu erregen,1645 Herz und Geist sollen befriedigt werden,1646 die Predigt soll ihn erbauen,1647 die Religiosität, Gottesfurcht und reine Sittlichkeit sollen befördert,1648 der Glaube erhalten und religiöser Sinn durch ihn geweckt werden.1649 Diese Sinngebung des Gottesdienstes hatte zur Folge, dass all das geräuschvolle Gebaren, Hin- und Her, das Mitbringen von Kindern unter vier oder sechs Jahren,1650 laute Beteiligung am Gebet, das in den Synagogen üblich war, untersagt wurde. Stattdessen beschränkte sich die Teilnahme der Gemeinde auf den gemeinsamen »Choralgesang«,1651 für den eigens Liederbücher verfasst wurden.1652 – Im Zuge dieser Veränderungen wurde, zuerst in Seesen von Israel Jacobson (1768–1828), die bis dahin verbotene Orgel in die Reformsynagogen eingeführt. – Ansonsten waren die bevorzugt offiziell angestellten und geprüften Vorbeter gehalten, in dezenter Weise, ohne viele Schnörkel und ohne weltliche Melodien, die Gebete vorzutragen,1653 oder auch nur zu sprechen. All das wurde mit polizeilicher Strafbewehrung verboten und gesichert.1654 Zur religiösen Erziehung durch den Rabbiner gehört nun auch die systematische sonntägliche und
1643 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 147ff., 451ff., 596ff. 1644 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 245–253. 1645 Zink, S. 109. 1646 Zink, S. 108. 1647 Zink, S. 10. 1648 Zink, S. 108, 95, 131, 219, 260, 272, 87. 1649 Zink, S. 161. 1650 Zink, S. 432. 1651 Zink, S. 109, 169. 1652 Zink, S. 169. 1653 Zink, S. S. 109, 169. 1654 Zink, S. 312.
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sabbatliche Catechetisation,1655 insbesondere zur Confirmations-Vorbereitung.1656 Dieser massive auf breiter Basis voranschreitende und staatlich forcierte Paradigmenwechsel auf allen die Synagogengemeinden betreffenden Gebieten, der allenfalls im Italien der Renaissance gewisse Vorläufer hatte,1657 und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht eindeutig nur auf die so genannten »Neologen«1658 beschränkt war, wurde zunehmend zum Feld des Kampfes und der positiven oder negativen Auseinandersetzung. Die im Folgenden zu beschreibenden Denker tragen ihre Auffassungen vor diesem Hintergrund vor, wehren ihn ab, oder identifizieren sich mit ihm.
1655 Zink, S. 174. 1656 Zink, S. 176, 268, 272f., 376, 380, 542, 567, 569, 656–745. 1657 S.oben Einführung – Geschichte und Kultur des neuzeitlichen Judentums, S. 4, 10. 1658 Ein Begriff, der auch in den christlichen Kirchen für die Neuerer verwendet wurde, s. M.A. Meyer, Response to Modernity, S. 17.
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Judentum der Tora – Samson Raphael Hirsch
III. JUDENTUM ALS RELIGION DER TORA – DIE NEOORTHODOXIE – SAMSON RAPHAEL HIRSCH (1808–1888) 1.
Samson Raphael Hirsch, seine Neunzehn Briefe über Judentum und seine Gemeinde
1.1
Biographisches
Samson Raphael Hirsch, 1808 in Hamburg geboren, empfing seine traditionelle Erziehung unter dem Einfluss der beiden aufgeklärten aber orthodoxen Rabbinern Jacob Ettlinger (1798–1871) und Isaak Bernays (1792–1849), sie umfasste deshalb auch säkulare Fächer. Nach nur einem Jahr an der Universität Bonn (1829) wurde er Landrabbiner von Oldenburg, 1841 in Emden und von 1846– 1851 im mährischen Nikolsburg. Die entscheidende Wende brachte seine Berufung zum Rabbiner der orthodoxen »Israelitischen Religionsgesellschaft« in Frankfurt am Main im Jahre 1851, der er bis zu seinem Tode diente. Hier wurde er zum unbestrittenen Führer der als Neo-Orthodoxie bekannten Richtung des Judentums, die eine Mitte zwischen traditioneller Orthodoxie und aufklärerischem Gedankengut einnahm, und nach Verabschiedung des so genannten »Austrittsgesetzes« im Jahre 1876 sich von der Einheitsgemeinde trennte, wobei Hirsch allerdings nur wenige Nachfolger der formalen Trennung von der etablierten Gemeinde fand.
1.2
Die Neunzehn Briefe über Judentum und Hirschs Gemeinde
Das von den Aufklärern vorgetragene Verständnis von Religion als einem universalen Phänomen, von dem das Judentum allenfalls eine Unterspielart ist, wie auch die verbreiteten Assimilationsbestrebungen deutscher Juden, haben das Judentum in Deutschland in eine Vielfalt von Spielarten zergliedert. Zum einen griff die Konfessionalisierung des Judentums durch die Aktivitäten der Lokalregierungen und der in den verschiedenen deutschen Ländern ansässigen Judenschaften gleich einem Wildwuchs mächtig um sich, neben der sich dennoch aber auch die »schweigende Mehrheit« dem traditionellen Selbstverständnis verpflichtet sah. Zum anderen hatte die Mendelssohnsche Trennung von »Religion« im eigentlichen Sinn und der geoffenbarten Gesetzeslehre des Judentums und Saul Aschers Plädoyer für ein Glaubens-Judentum zu einer Polarisierung zwischen solchen geführt, die meinten, das Wesentliche am Judentum sei das Gesetz und solchen, die das Judentum vor allem durch den »Glauben« definiert sahen. Kennzeichen dieser Auseinandersetzungen war demnach die Zerreißung des Ju-
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dentums in seine in der Tradition stets verbundenen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten versehenen Teile von Gesetz und Glaube, von Halacha und Haggada oder Philosophie und »Ethik«. In dieser verworrenen Situation erschien im Jahr 1836 die unter dem Pseudonym »Ben Usiel« herausgegebene Schrift Iggerot Zafon (Briefe aus dem Norden) Neunzehn Briefe über Judentum aus der Feder des damals noch sehr jungen Oldenburger Rabbiners Samson Raphael Hirsch. Das Buch hat die Form eines (bis auf eine Ausnahme) nur einseitig wiedergegebenen Briefwechsels zwischen einem jungen Zweifler namens Benjamin und einem mit ihm befreundeten Rabbiner namens Naphtali. Dieser fiktive Briefwechsel ist der Versuch, der Zersplitterung zu wehren und ein für die Zeit nötiges neues Gesamtkonzept des Judentums zu entwerfen. Der Verfasser der in der Schrift mitgeteilten Antwortbriefe, Naphtali, kämpft dabei auf allen Fronten: Gegen die dem Zeitgeist verfallenen »Reformer«, die glauben, durch formale, ästhetische und gesetzlichen Ballast abwerfende Maßnahmen ein neues zeitgemäßes Judentum schaffen zu können, aber auch gegen die Traditionalisten, die Naphtali in einer geistlosen Kasuistik und Gesetzesgefangenschaft verhaftet sieht, außerdem gegen die Philosophen vom Schlage eines Moses Maimonides und Moses Mendelssohn, denen er trotz aller Hochachtung für sie vorwirft, fremdes Denken in das Judentum hineinzutragen und so zu verfälschen, und schließlich auch gegen die Kabbalisten, die gute und wahre Ansätze besitzen mögen, aber doch mit ihrem Amulettenwesen in Missverständnisssen verfangen und in Mechanismus wie Stagnation verfallen waren. Diese Beschreibung des verirrten Judentums bis auf die eigene Zeit, das Hirsch im achtzehnten Brief bietet, hat den deutlichen Charakter einer Geschichte der Verirrung und des Abfalls, aus der am Ende nur noch ein geringer Rest, eben der durch die Briefe repräsentierte, übrigbleibt: »Begreifen wir unsere Zeit, mein Benjamin; – und jeder mit der Kraft des Geistes, soviel ihm verliehen, fördere den Weg zum Ziele, in kleinerem und größerem Kreise. – Und wenn auch Tausende sie aufgeben, die Sache des Lebens und des Lichtes, wenn auch Tausende sich lossagen vom Geschicke und vom Namen Jissroél, dessen Leben sie längst schon abgeworfen, die – Sache der Wahrheit zählt nicht die Zahl ihrer Träger. – Und wenn auch nur Einer bleibt, – ein Jude mit dem Buche der Lehre in der Hand, Jissroéls Lehre im Herzen, Jissroéls Licht im Geiste, – auch der Eine genügt; – Jissroéls Sache bleibt unverloren.«1659
1659 Iggerot Zafon, Neunzehn Briefe über Judentum. Als Voranfrage wegen Herausgabe von »Versuchen« deselben Verfassers über »Israel und seine Pflichten, hrsg. von Ben Usiel; hier zitiert nach der »Jubiläumsausgabe 1987, Frankfurt/Main, S. 117f.
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Schon dieses erste Werk Hirschs zeigt gerade mit diesen das schmale Büchlein zu Ende führenden Worten an, wohin die Reise des Autors mit seinen späteren Frankfurter Getreuen führen würde, nämlich zum Austritt aus der offiziellen jüdischen Gemeinde, die mit dem preußischen Austrittsgesetz von 1876 rechtlich möglich wurde, nachdem Hirschs Anhänger seit 1851 als »Israelitische Religionsgesellschaft Frankfurt am Main«, zunächst als Verein, eine Untergliederung der Ortsgemeinde bildeten. Desungeachtet hat das Büchlein bei seinem Erscheinen wegen seines Versuches, eine neuerliche geschlossene Konzeption des Judentums vorzuführen, eine große Resonanz hervorgerufen. Es war dies eine Konzeption, die auf der einen Seite das alte rabbinische Gesetz in seiner Gänze zu bewahren suchte und diesem zugleich eine neue ideologische Grundlage, eine Glaubensbasis verlieh, in der die Wesensbestimmung Israels und die Bedeutung des Gesetzes in einer neuen Synthese zusammengeführt wurden. Diese neue Synthese, dies wird sich im Folgenden zeigen, ist nicht einfach die Fortschreibung der älteren Konzeptionen, sondern ein neuer Ansatz, der tief in der Philosophie des deutschen Idealismus und der Romantik verwurzelt und so die Geister der Zeit anzusprechen imstande war.1660 Symptomatisch für diese romantische Verpflichtung der eigenen Tradition gegenüber ist auch, dass Hirsch alle hebräischen Begriffe in ihrer aschkenasischen Aussprache wiedergibt.
2.
Die Geschichte als Grundlage des Glaubens
Die Abwendung Hirschs von den universellen und zeitlosen Konzeptionen von Religion, wie sie mit den Religionsdefinitionen von Moses Mendelssohn und Saul Ascher gegeben waren, zeigt sich sogleich im ersten Brief von »Naphtali«, dem Sprachrohr Hirschs, in welchem dieser die aufklärerischen Religionsvorstellungen des jungen Benjamin kritisiert. Benjamin hatte seine universalistischen Vorstellungen von Religion in seinem einzigen in dem Bändlein aufgenommenen »Brief« gleich zu Beginn der Neunzehn Briefe vorgetragen und das, was er von einer solchen Religion erwartet:
1660 Zu Reaktionen, auch neueren, auf Hirschs Konzeption vom Judentum s. F. Nauen, Diverging Conceptions of a Jewish Renaissance in the Early Thought of Abraham Geiger and Samson Raphael Hirsch, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Tel Aviv, hrsg. von W. Grab, X (1981), S. 191–218.
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»Jede Religion, so glaube ich, soll den Menschen seiner Bestimmung näher bringen. Diese Bestimmung, was könnte sie anders sein, als Glückseligkeit und Vollkommenheit?«1661 Gemessen an einer solchen Definition, so fährt Naphtalis Briefpartner Benjamin fort, biete das Judentum nur Negatives, es habe seine Bekenner nur in Not und zur Verachtung durch die Völker geführt, zur Askese und, gemessen an den nichtjüdischen Völkern, in Unkultur. Das Judentum habe nicht an der allgemeinen Kultur teil, nicht an den Wissenschaften, habe zu einem mönchischen Leben, getrennt von den Mitmenschen, geführt, zu einem Leben in Beten und Fasten. In seiner Antwort auf diese Vorwürfe gegen das Judentum durch Benjamin stellt Naphtali zunächst das von Benjamin erhobene »Prinzip der Menschenbestimmung« mit dem Verweis in Frage, dass eine solche vom Menschen selbst gewählte Bestimmung des menschlichen Lebenszieles doch nur zur absoluten Willkürlichkeit des Individuums führe, wo Rausch- und Reizbefriedigung sehr leicht als Glückseligkeit erscheinen könnten. Auch könne das Ziel der »Vervollkommnung« nur von einigen wenigen wirklich erreicht werden, wie überhaupt auch dies nur zum Vorwand für die Durchsetzung eigensüchtigen Strebens missbraucht werden könne.1662 Hirsch will an dieser Stelle den Blick von den »zeitlosen« Prinzipien von menschgemachten Religionsdefinitionen weglenken, denn nicht um »Religion« schlechthin geht es ihm, sondern um das Judentum. Am Judentum als etwas Partikularem ist er interessiert, nicht an einem universalen Religionsverständnis. Und das bedeutet, dass nicht eine von außen an das Judentum herangetragene Definition das Maß seiner Beurteilung sein könne, sondern es müsse ein vom Judentum selbst gegebener Maßstab gesucht werden, nämlich aus den Quellen des Judentums, das heißt aus der Tora. Und gerade sie verweist, so Hirsch, auf die Geschichte, und sie ist ein partikulares Geschehen: »Denn geschichtliche Erscheinung ist ja das Judentum, und für seinen Ursprung, seinen ersten Eintritt in die Geschichte, wie für eine geraume Folgezeit ist uns ja Thauróh einziges Denkmal. Und wie? wenn nun bei dieses Volkes Wiege, wie sonst bei keines, uns Stimmen entgegentönten, die des Volkes Bestimmung, für die und zu der es eintrat in die Geschichte, und mit ihr sein Geschick, uns aufschlössen; wollten wir nicht lauschen diesen Stimmen und sie aufnehmen zur Würdigung seines Geschickes.«1663
1661 Iggerot, S. 14. 1662 Iggerot, S. 18f. 1663 Iggerot, S. 19.
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Hirsch ist also, wie schon gesagt, nicht an Religion als einem allgemeinmenschlichen Phänomen interessiert, sondern am Judentum als einer geschichtlichen Erscheinung, als eines umgrenzten Phänomens. Und damit sieht er sich für dessen Kenntnis auf die historischen Quellen verwiesen, auf die Tora, in der aschkenasischen Aussprache Thauróh, und auf die an sie angeschlossenen Quellen der Mündlichen Tora.1664 Dieses Beharren auf der partikularen Erscheinung Judentum bedeutet für Hirsch jedoch nun keinesfalls, dass er im Judentum ein nur auf sich selbst bezogenes Phänomen sehen will, das mit dem Verlauf der restlichen Weltgeschichte nichts zu tun hätte. Im Gegenteil, er sieht, wie im Folgenden deutlich werden soll, im Judentum das Herz des gesamten Weltgeschehens. Der Hinweis auf die »nationalen« Quellen des Judentums zur Erkenntnis des Wesentlichen und des Wesens des Judentums und dies unter der ausdrücklichen Betonung, dass sie in ihrer hebräischen Sprachgestalt zu lesen seien, »Auch hebräisch müssen wir sie lesen, d. h. dem Geiste dieser Sprache gemäß«,1665 kommt indessen in Hirschs Zeiten nicht von ungefähr. Mit ihm greift Hirsch einen Gedanken auf, den zum Beispiel Johann Gottfried Herder in seiner 1778 verfassten »Preisschrift« Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten1666 formuliert hatte, nämlich dass in der »Poesie« der Völker deren »Geist« und Sitten zum Ausdruck kommen. Hirsch konnte sich umso mehr auf Herder stützen, als dieser seine eigene Darstellung mit den »Ebräern« begann, um sodann über Griechen und Römer schließlich zu den nordischen Völkern voranzuschreiten. Zur hebräischen Poesie sagt Herder da unter anderem: »vom Geiste Gottes sind ihre Gedichte voll: auf Gott fließen sie zurücke.«1667 Es ist also der Geist Gottes, der Geist Israels, der durch die hebräische Literatur getragen wurde. Und schon Herder stellte die nachher auch Hirsch interessierende Frage, weshalb dieser göttliche Geist sich in so engen Grenzen einer einzigen Volkskultur manifestiert hatte, wo er doch tatsächlich dann auf so zahlreiche andere Völker wirkte und wirken sollte: »Groß ist die Würkung, die die Dichtkunst der Ebräer auf dies Volk und durch sie auf so viele andere Völker gemacht hat. «1668
1664 Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff. 1665 Iggerot, II, S. 20. 1666 In: J.G. Herder, Über die Literatur und Gesellschaft, Ausgewählte Schriften, Leipzig 1988. 1667 Herder, Über die Literatur, S. 12; und vgl. S. 17. 1668 Herder, Über die Literatur, S. 19.
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Weshalb, so fragt Herder, also die anfängliche Einschränkung des göttlichen Geistes auf dieses Volk: »Aber warum mußten so erhabne Lehren und Triebfedern zur Sittlichkeit der Menschen in eine so enge, übertriebene dunkle Nationaldichtkunst eines Volkes verhüllet werden? Ich glaube nicht, daß jemand so fragen könne, der den Geist dieser Gedichte an Ort und Stelle gefühlt hat. Für dies Volk waren sie ja eigentlich, und so mußten sie in der Sprache, den Sitten, der Denkart des Volkes und keines andern in keiner andern Zeit sein. Nun lebte dieses Volk noch unter Bäumen, wohnte in Hütten, in einem Lande, wo Milch und Honig floß; philosophische Grübeleien und sogenannte reine Abstraktionen […] waren ihm und seiner Sprache fremd. Wie Gott also in der Natur zu ihm sprach und durch alle Begebenheiten seiner Geschichte: so wollte auch der Geist ihrer Dichtkunst zu ihnen sprechen, ans Herz, für Sinne und den ganzen Menschen.«1669 Wenn ein christlicher Gelehrter solches sagte, konnte Samson Raphael Hirsch als junger Rabbiner umso berechtigter auf die hebräische Tradition als der Trägerin des göttlichen und jüdischen Geistes verweisen. Im Unterschied zu Herder1670 glaubte Hirsch allerdings, wie schon gesagt, nicht, dass dieser Geist vom Judentum gewichen sei und er auch nicht weichen werde, solange es sich an diese seine Quellen halte. Wo also Herder, wie auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der, wie oben schon vermerkt, eine ähnliche Geschichtskonzeption vertrat,1671 dem Judentum nur eine vergangene zeitlich begrenzte Mission für die Völkerwelt zuerkannte, betont Hirsch die anhaltende Bedeutung Israels und ihrer Tora in der Geschichte. Darum auch, so meint Hirsch, müsse man den Sinn der Geschichte und Israels Rolle in ihr aus seiner authentischen Quelle, aus der Tora erfahren: »Aber Geschichte, wie immer auch begriffen, ist jedenfalls Weg von oder zur Verwirklichung der Menschenbestimmung in Gesamtmenschheit; – also die Frage: was ist, was soll der Mensch? – Aber der Mensch selber ist nicht isoliert, ist Geschöpf unter übrigen Geschöpfen, von ihnen leidend, auf sie und durch sie wirkend; also: was ist Welt? – Aber Jissroél, Geschichte, Menschheit, Welt nur aus Gott – wie das Werk aus Absicht des Meisters – zu begreifen, und für unser Auge, Gott nur in ihnen offenbart. So führt uns denn auch die Thauróh. – Zum Selbstbegriff Jissroéls und seiner Pflichten leitet sie über 1669 Herder, Über die Literatur, S. 19f; vgl. noch S. 62, 12ff., 14, 17f., 21f. 1670 Herder, Über die Literatur, S. 21. 1671 Vgl .W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. II, S. 269f; R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, S.444ff., 447.
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die Erkenntnis Gottes, – der Welt, – des Menschenberufs – und der Geschichte. Folgen wir dem Weg dieser Lehre.«1672 Die Wendung zur Tora als eines Buches zur Erkenntnis der Geschichte ist zunächst eine überaus moderne Einstellung und entspricht dem Geist, wie ihn etwa die Historiker der Wissenschaft des Judentums vertraten. Aber, und hier liegt die tiefe Kluft zur modernen Historiographie, Hirsch glaubt nicht, dass der wirkliche Sinn der Geschichte mit den hermeneutischen Methoden der modernen Historiographie, mit deren philologischen und archäologischen Interessen aus den Schriften erhoben werden kann. Er setzt dagegen seine eigene Hermeneutik, die reichlich aus Midrasch und Kabbala schöpft, aber vor allem existentiale Hermeneutik, Betroffenheitshermeneutik sein will: »als Juden wollen wir sie lesen, d. h. als ein Buch, uns von Gott gereicht, daraus uns selber zu erkennen, was wir in unserem irdischen Hiersein sind und sollen. Als Thauróh, als Unterweisung und Zurechtweisung für uns in Gottes Welt und Menschheit, als eine Erzeugerin des Lebens in unserem Innern.«1673 Das Hebräische der Tora ist für Hirsch eine »Symbolschrift«, die man ›selbsttätig nacherschaffend‹1674 lesen muss. Mit einer solchen Hermeneutik liest Hirsch die Bibel, voran die Genesis, als ein geschichtliches Lehrbuch für die Bestimmung Israels und der Menschheit. Seine Lektüre ist nicht historiographisch, sondern historiosophisch, auf Sinnstiftung bedacht.1675
3.
Die Lehren der Geschichte laut der Bibel
3.1
Der Schöpfer und die Schöpfung
Es entspricht dem »geschichtlichen« Zugang Hirschs, dass er nicht wie die mittelalterlichen Philosophen und auch noch Mendelssohn von der Betrachtung der Welt und der in ihr vorwaltenden Kausalitäten auf das Dasein einer »Ersten Ursache«, sprich Gott, schließt. Hirsch begründet seine Theologie im Blick auf die 1672 Iggerot, III, S. 21f. 1673 Iggerot, II, S. 19. 1674 Iggerot, II, S. 20. 1675 Zu solcher Geschichtsschau s. A.U. Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte. Zur Entstehung spekulativ – universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006; und N.H. Rosenblum, Tradition in an Age of Reform. The Religious Philosophy of Samson Raphael Hirsch, Philadelphia 1976.
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Geschichte. Für ihn beschreibt die Schöpfungsgeschichte der Bibel den Beginn der Geschichte, aus der es die entsprechenden Lehren über Gott und seinem Verhältnis zum Kosmos zu ziehen gilt. Und dieses Verhältnis sieht Hirsch durch die biblische Wortschöpfungstheologie bestimmt: »›Ein Gott ist’s, Ein allmächtiger Schöpfer,‹ ruft dir die Thauróh zu, durch dessen Wort ward alles, was ist. […] Er sprach – […] und es ward!«1676 Aus dieser durchaus noch biblisch klingenden Formulierung zieht Hirsch nun allerdings Folgerungen, die weit über die Bibel hinausgehen und ihre nächste innerjüdische Parallele in der Alphabet-Wortschöpfungs-Theologie der Kabbala und des Bescht’schen Hasidismus hat.1677 Das heißt, das göttliche Schöpfungswort wird Hirsch im neoplatonischen Sinn zum Kraftfluss, der die Schöpfung durchströmt und sie erhält. Die göttliche Weisheit im Schöpferwort »bestimmte und wog für die Bestimmung jeglichem zu Stoff und Form und Kraft und Maß; sie sprach, ! ויהי כןund es ward, wie es ist – Kleinstes und Größtes durch Gottes Wort im Dasein, durch Gottes Wort bestimmt, durch Gottes Finger gebildet. – Alle die Kräfte, die du in jedem wirken siehest, und alle die Gesetze, nach denen sie wirken und die du erspähest und bewunderst; von Kraft und Gesetz, nach denen der Stein fällt, nach denen ein Saatkorn sich entwickelt, bis hinan zur Kraft und zum Gesetz, nach denen die Sternbahnen sich regeln – und dein Geist sich entfaltet; – Gottes, der Allkraft, sind alle Kräfte, Sein Wort herrscht in jedem Gesetz.«1678 Alle in der Welt wirkenden Kräfte sind demnach Gottes Kräfte, er ist die »Allkraft« die im Kosmos, in den Menschen und in ihrer Geschichte wirkt, wie später noch gezeigt werden wird. In seiner in den Jahren 1867–1878 erschienenen Pentateuch-Ausgabe und Übersetzung1679 fügt Hirsch in Anlehnung an einen alten Midraschtopos, nach welchem die Schöpfung zunächst im Gedanken Gottes aufgestiegen sei, noch eine andere Deutung der Schöpfung hinzu, die sich zum einen auf die Kabbala berufen kann,1680 sich zum andern aber an die Schöp-
1676 Iggerot, III, S. 23. 1677 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 58, 70, 150, 303ff., 346ff., 557, 766ff.; und Bd. 1, S. 341ff. 1678 Iggerot, III, S. 23f. 1679 Hamischa Humsche Tora, meturgam u-mevo’ar me’et [...] Schimschon Rafa’el Hirsch, Frankfurt/M. – Der Pentateuch, übersetzt und erläutert von Samson Raphael Hirsch (Neudruck TelAviv 1986). 1680 Mit der Weisheit Gottes, der zweiten Sefira, beginnt das Sein, aus dem alles weitere in der Welt emaniert, s. Bd. 2, S. 120, 157f., 195f., 432f., 485, 494.
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fungsvorstellung von Herder und Hegel anschmiegt. Die hier von Hirsch vorgelegte Deutung der Schöpfungsvokabel ברא, bara, ist zugleich ein Beispiel der metaphilologischen Hermeneutik von Hirsch. Dieses hebräische Verb bringt er nämlich mit dem gleich geschriebenen aramäischen Nomen für »Draußenseiendes« in Verbindung und deutet den Schöpfungsprozess nun wie folgt: »[ בראbara] ist somit das Äußerlichmachen eines bis dahin nur im Innern, im Geiste Vorhandengewesenen. Es ist jenes Schaffen, dem nichts anderes als der Gedanke und der Wille vorangegangen. Es ist das eigentliche יש מאין [jesch me-’ajin, Sein aus Nichtsein] und wird daher nur vom Schaffen Gottes gebraucht. Ehe die Welt ward, war sie nur als Gedanke in dem Geiste des Schöpfers – menschlich zu sprechen – vorhanden. Der Schöpfungsakt machte diesen Gedanken äußerlich, gab diesem Gedanken ein äußeres, konkretes Dasein. Die ganze Welt im ganzen und einzelnen ist somit nichts anderes als verwirklichte Gottesgedanken. Eine Anschauung, der wir auch in der Betrachtung der Wurzel [ היהhaja], dem jüdischen Begriffe des Seins […] wieder begegnen.«1681 Mit einer solchen Schöpfungslehre, nach welcher sich das göttliche Denken in der Weltwirklichkeit manifestierte, in sie hinaustrat, konnte sich Hirsch im Schatten Hegels auf der Höhe der Philosophie seiner Zeit wähnen. Wolfgang Röd sagt zu Hegels entsprechenden Lehren: »Die ›Wissenschaft der Logik‹ hat es nach Hegel mit den Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt zu tun. Dies darf allerdings nicht wörtlich verstanden werden, da Hegel die Lehre von der Weltschöpfung im herkömmlichen Sinne ablehnt. Das Absolute manifestiert sich notwendig in der Welt der endlichen Wesen.«1682 Röd verdeutlicht dies mit einem Zitat aus der Enzyklopädie Hegels: »›Die absolute Freiheit der Idee […] ist, daß sie … selbst sich entschließt das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die
1681 Hirsch, Pentateuch, I, Gen 1, 1, S. 4. In einer Auslegung zu Ps 104, 1 nimmt Hirsch den kabbalistisch-hasidischen Topos auf, nach welchem die Welt nichts als ein Gewand Gottes ist: »die ganze Schöpfung ist dein Gewand, in welchem deine Wesensherrlichkeit und Machtherrlichkeit in die Erscheinung tritt.«, S.R. Hirsch, Die Psalmen, übersetzt und erläutert, Frankfurt/M. 1882 (Neudruck Frankfurt/M. 1988), S. 146. 1682 Röd, Der Weg der Philosophie, II, S. 260; vgl. dazu N. Krochmals Darstellung des Schöpfungsprozesses, oben Kap. Haskala, V, 4.3.
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unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen.‹«1683 Auch hier ist es also der göttliche Gedanke, der sich in die Welt entäußert und die Wirklichkeit bildet. Hirschs jüdische Orthodoxie ist durch und durch eine deutsch-jüdische Neoorthodoxie, Judentum nach deutschem Geist. Gott ist für Hirsch die »Allkraft«, die sich in der Welt in einer Vielzahl von Einzelkräften manifestiert, und zwar in allen Lebensbereichen. Es ist der Geist Gottes, oder auch sein Wort, der die Vielfalt dieser Welt als Einheit zusammenfasst, der die Gegensätze vermittelnd zusammenhält, Licht und Finsternis. »Ein Geist! In allen! Von dem Bau der Sprache bis zum Tatenbau des Lebens – Ein Geist, – angeweht vom Geiste des Alleinen!«1684 Dieser Geist eint alles zum All, so ruft Hirsch aus, »Vermittler aller Gegensätze ist sein Name!«1685 Er ist wie die Seele im menschlichen Körper in der Weltwirklichkeit verborgen und wirkt doch alles.1686
3.2
Der Sinn der Schöpfung
Hirsch leitet aus der biblischen Wortschöpfungstheologie noch einen weiteren ihm zentralen Gedanken ab, nämlich dass nicht nur alle in der Schöpfung wirkenden Kräfte Gottes Kräfte seien, sondern dass alle diese Kräfte in dieser Welt eine bestimmte klar definierte Aufgabe zu erfüllen hätten, wie aus dem oben schon zitierten Text deutlich wird, nämlich dass die Weisheit Gottes »bestimmte und wog für die Bestimmung jeglichem zu Stoff und Form und Kraft und Maß«. Darum sind alle Geschöpfe in dieser Welt ausnahmslos Diener Gottes: »Und diese Welt – was wäre sie nun? – Auf heiligen Boden treten wir, mein Benjamin, in einer Gotteswelt leben wir, – Gottes Geschöpf – und Diener ein jegliches rings um uns! – Jede Kraft: Gottes Bote; jeder Stoff: ihr von Gott zuerteiltes Maß, auf ihn und in ihm und durch ihn zu wirken, nach Gottes allmächtigem Gesetz; – Gottesdiener alles! Jedes an seiner Stelle, in seiner Zeit, mit dem ihm zugeteilten Maß von Kräften und Mitteln, Gottes Wort erfüllend, Beitrag liefernd in seine Hand, den Er dann fügt zum Bau des ganzen, – Gottesdiener alles!«1687
1683 Röd, Der Weg der Philosophie, S. 260. 1684 Iggerot, XVIII, S. 113. 1685 Iggerot, III, S. 24. 1686 Iggerot, III, S. 25; und vgl. Hirsch, Psalmen, S. 138f. 1687 Iggerot, III, S. 27.
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Diese von Gott beauftragten Geschöpfe sind jedoch nicht nur die Diener Gottes, sie sind auch Diener untereinander. Das gesamte kosmische Kräfteensemble ist ein Geflecht von gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Um dies zu erklären, greift Hirsch wiederum einen neoplatonisch-kabbalistischen Gedanken auf, nach welchem die Welt nicht in einem einmaligen Akt erschaffen wurde, sondern über eine Kette von sukzessiven Emanationen entstanden ist. Mit den Kabbalisten greift Hirsch das alte rabbinische Diktum von den zehn Schöpferworten auf,1688 mit denen Gott die Welt erschaffen habe. Und mit den Kabbalisten versteht Hirsch diesen Midrasch im Sinne von zehn Entwicklungen, welche die Kabbalisten Sefirot, Worte, oder dergleichen nennen. Hirsch formt diesen Gedanken zu einer weltumspannenden sozio-kosmischen Solidaritäts- und Verpflichtungslehre um: »Alles Diener um Gottes Thron! – Denn, ›siehest du nicht?‹ – sprechen die Weisen – ›nicht mit einem Schöpfungsruf rief der Allmächtige alles, das ganze und das einzelne, ins Dasein, dass1689 jedes, das ganze und einzelne, nur unmittelbar an Gottes Mund hange mit Dasein und Leben und Wirken, alles nur unmittelbar von Gott getragen würde und nicht eines das andere trüge und getragen werde von ihm – sondern in zehn Entwicklungen rief er seine Welt ins Dasein, schuf die Fülle von Kräften, ließ sie einander durchdringen und innig wirken seinem Worte gemäß, – und sonderte sie dann los, also daß eins das andere trage, keines die Bedingungen seines Daseins und Wirkens fortan in sich fasse, sondern vom Brudergeschöpf zu empfangen habe, um hinwieder Brudergeschöpfen zu spenden die Bedingungen des Lebens und Wirkens, – auf daß jedes einzelne mit seiner Kräfte Maß, wie viel oder wenig auch immer, Beitrag werden könne zur Erhaltung des ganzen – und was ein Brudergeschöpf vernichte, sich selber raube eine Bedingung des eigenen Lebens.‹«1690 Mit dieser Auslegung des rabbinisch-kabbalistischen Topos begründet Hirsch die doppelte Verflechtung eines jeglichen Geschöpfes in dieser Welt, jedes ist zugleich Empfänger und Geber, zum Dank und zur Pflicht aufgerufen. Dieses System der gegenseitigen Abhängigkeiten wird hernach, wie sich leicht erahnen lässt, der Schlüssel für Hirschs Anthropologie und damit zur Deutung der Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes. Es ist demnach so,
1688 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 47, 115. 1689 Die zitierte Ausgabe liest fälschlich nur »das«. 1690 Iggerot, III, S. 28.
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»daß auch die Erde fortan erst empfangen müsse, um zu geben – und so ein großes Liebesband von Empfangen und Geben die Wesen vereine, keines durch sich, für sich da sei, alles Ineinander- Durcheinander- und Füreinanderwirken des einzelnen fürs ganze, des ganzen fürs einzelne; keines Kraft und Mittel nur für sich erhalte, sondern empfange, um zu geben; gebe, und empfange im Geben Vollendung seiner Daseinsbestimmung. […] tragende und getragen werdende Liebe, ist Typus der Erdschöpfung, – ›Liebe!‹ haucht dir jegliches zu.«1691
3.3
Der Mensch
Der Mensch ist zunächst Geschöpf unter Geschöpfen und damit wie all jene Diener Gottes. Im Menschen wirkt wie in allen übrigen Geschöpfen gleichfalls der Geist Gottes, er ist der göttliche Funke im Menschen. Dieser wirkt im Mikrokosmos Mensch wie im gesamten Makrokosmos.1692 Damit steht der Mensch im selben bipolaren Verhältnis wie alle anderen Geschöpfe, als Empfänger wie als Geber. Und wie Hirsch das für die kosmischen Geschöpfe schon ausführte, gilt auch für den Menschen, dass er empfängt, nur um zu geben. Die von Naphtalis Briefpartner Benjamin im Eingang des Buches von der Religion geforderten Leistungen zur Selbstvervollkommnung und Glückseligkeit erscheinen dieser schöpfungsbegründeten Anthropologie gegenüber als Verkürzung. Es ist alleine das Weitergeben des Empfangenen, in welchem sich die Dienerschaft auch des Geschöpfes Mensch erfüllen kann. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen dem Menschen und den übrigen Geschöpfen und dieser ist in seiner Gottebenbildlichkeit begründet. Wie nämlich Gott ausschließlich Geber ist, so soll auch beim Menschen das Geben im Vordergrund stehen: »Wenn alles, kleinstes und größtes, Gottgesandte Kraft ist, mit gegebenen Mitteln, an angewiesener Stelle, in angewiesenem Kreise, nach Gottes Gesetzen wirksam zu sein, – zu nehmen, nur um zu geben; – da wäre der Mensch allein ausgeschlossen aus diesem Lebenskreis? Nur zu nehmen geboren? – zu schwelgen oder zu darben? – nicht zu wirken? Keine Stelle auszufüllen? Vielmehr alles in sich enden zu lassen? Alles – Welt- und darin GottesDiener – und nur der Mensch sich dienend, sich? Nein! Ihr Bewußtsein spricht’s und es spricht’s die Thauróh: ![ צלם אלהיםZelem ’Elohim] soll er sein, Ebenbild Gottes! Mehr als alle, für alle seiend. Nur wirkend kennst du
1691 Ebd. 1692 Iggerot, IV, S. 29.
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Gott in Liebe und Gerechtigkeit; nur zur Wirksamkeit in Gerechtigkeit und Liebe bist du berufen […].«1693 Die alte Lehre von der Gottebenbildlichkeit, welche schon die Rabbinen1694 im Sinne einer ethischen imitatio dei gedeutet hatten, hat nun eine weiterführende Deutung erhalten. Nicht einfach das ethische Handeln macht den Menschen zum Ebenbild Gottes, sondern ein umfassendes Dienen mit allem, was einem zur Verfügung steht. Mit allem, was einem geschenkt worden ist, ist man in den Dienst am anderen Menschen berufen. Der wesentliche Unterschied zur rabbinischen ethischen Deutung der imago-Lehre ist bei Hirsch jedoch der, dass hier die menschliche Aufgabe und damit sein Menschwerdungs-Ziel nicht als Gehorsam gegenüber Gott, sondern mit Hilfe der Struktur alles Geschöpflichen, sei es im Kosmos oder in der Menschenwelt, begründet wird. Der Mensch wird Ebenbild Gottes, sofern er sich diesem Strukturgesetz der Welt von Empfangen und Geben einfügt und dabei – gleich dem einzigen göttlichen »Nur-Geber« – den Hauptakzent auf die Verpflichtung zum Geben verlegt. In Anlehnung an den mittelalterlichen Kritiker der jüdischen Philosophie, Jehuda Ha-Levi,1695 betont auch Hirsch, dass im Judentum alles nur auf das Tun ankomme und nicht, wie dies die Philosophen wollten, auf die intellektuelle Gotteserkenntnis.1696 Hirsch betont dies auch gegenüber der in seiner Zeit verbreiteten Kant-Verehrung unter den Juden,1697 die mit Kant glauben mochten, dass es vor allem die menschlichen Gesinnung ist, die der Tat ihren Wert verleiht und nicht schon das Tun als solches. Demgegenüber meint Hirsch »Also mit bester Gesinnung ein verfehltes Leben, wenn die Tat nicht die rechte ist.«1698 Auch ein Gehorsam im kantischen Sinn, welcher die Einsicht in das Gebotene voraussetzt, kann laut Hirsch nicht als wahrer Gehorsam anerkannt werden, denn da würde ja der Mensch zum Richter über sein Tun werden.1699 Im Handeln gemäß der von Gott gesetzten Dienststruktur mit der Priorität des Gebens vor dem Nehmen erfüllt sich also die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die neue Sicht Hirschs gegenüber der rabbinischen Gehorsamspflicht wird bei seiner unten noch zu besprechender Behandlung der einzelnen Gebote noch deutlicher werden: Das Tun allein ist zwar wichtig, es bedarf jedoch außerdem eines Verstehens dieses Tuns,
1693 Iggerot, IV, S. 30. 1694 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280ff. 1695 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 585ff. 1696 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462ff., 500f. 1697 H.M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums, S. 142–152; Ch. Schulte, Haskala, S. 157–171; und unten Kap. VI, zu Hermann Cohen. 1698 Iggerot, IV, S. 32. 1699 Iggerot, V, S. 38.
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nicht im Sinne einer Einsicht in dessen Notwendigkeit und Richtigkeit, sondern eines Verstehens von deren Gott-gewollten erzieherischen Zwecken. Ein weiterer wichtiger Unterschied zum alten rabbinischen Gehorsamsverständnis wie auch gegenüber Ha-Levi, zeigt sich darin, dass nach Hirsch nicht jeder Mensch vor der göttlichen Forderung gleich ist wie dies ja auch vor den Geboten der Halacha gilt. Schon in den oben angeführten Texten klang mehrfach das Motiv an, dass jedes Geschöpf an seinem Ort und zu seiner Zeit Gott mit den ihm gegebenen Gaben zu dienen habe. Es ist wie ein ferner Anklang an die paulinische Charismenlehre,1700 nach welcher jeder eben gemäß seiner Gaben in den Dienst Gottes gerufen ist: »Die Menschenbestimmung, so begriffen, ist dann auch von jedem in jeder Zeit, mit jedem Maß von Kräften und Mitteln, in jeder Lage erreichbar. Wer in seiner Zeit mit seinem Maße von Kräften und Mitteln, in seiner Lage an den Geschöpfen, die in seinen Kreis geführt, Gottes Willen erfüllt, keines beeinträchtigt in seinem Kreise und jedes, nach seinen Kräften, gefördert, wozu Gott es gefördert haben will; – der war Mensch!«1701 Mit diesen Worten ist es zugleich deutlich, dass der von Hirsch ins Auge gefasste Pflichtenkanon nicht unbedingt derselbe wie jener des Schulchan ‘Aruch und seiner konservativ-orthodoxen Vertreter ist. Hirsch beschreibt hier die Handlungspflichten aller Menschen nicht nur des Juden. Sie sind nicht die formalen Gebote der Tora, sondern das im menschlichen Lebenskreis Erforderliche. Wenn die Juden demgegenüber dennoch eine Reihe spezifischer Pflichten zu erfüllen haben, so hat dies, wie unten noch deutlich werden soll, mit den großen »heilsgeschichtlichen« Ereignissen zu tun. Natürlich vergisst Hirsch nicht, auf einen weiteren grundlegenden Unterschied in der Dienerschaft zwischen den Menschen und den übrigen Geschöpfen hinzuweisen. Nämlich dass all jene Geschöpfe dem schöpfungsinhärenten Gottesgesetz willenlos folgen, der Mensch dagegen mit seinem freiem Willen zum Handeln aufgerufen ist.1702 Hirsch spricht in diesem Zusammenhang noch von etwas Weiterem, das die rabbinische Literatur nicht kannte, nämlich vom menschlichen »Bewusstsein«. Der Mensch handelt »Mit Bewußtsein und Freiheit!«1703 Dies bedeutet für Hirsch, dass der Mensch nicht nur für oder gegen eine Tat entscheidet, sondern dass er »den Begriff« seiner »Sendung« erahnen
1700 Vgl. 1. Korinther 12–14. 1701 Iggerot, IV, S. 32. 1702 Iggerot, IV, S. 30f. 1703 Iggerot, IV, S. 30.
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kann.1704 Die Freiheit der Entscheidung ist demnach vom Begreifen der menschlichen Sendung umhüllt. Nicht ein präzis formuliertes Gebot ist das entscheidende, sondern das Begreifen der Sendung, und zu diesem gehört, dass der Mensch den göttlichen Willen gemäß dem Maß des ihm Verliehenen erfüllt.1705
3.4
Die Menschheitsgeschichte und der göttliche Erziehungsplan
Samson Raphael Hirsch erkennt im Ablauf der biblischen Geschichte einen göttlichen »Weltenplan«.1706 Dieser göttliche Plan erstrebte die Verwirklichung der göttlichen Kraft in der Schöpfung unter der einheitlichen Lenkung aller in dieser Schöpfung wirkende »Kraftwesen«. Der konsequenten Durchführung dieses Planes steht allerdings ein von Gott gewolltes Hemmnis im Wege, nämlich die Freiheit des menschlichen Willens. Dieser menschliche Strang der göttlichen Kraftwirkung wirkt nicht wie bei den anderen Geschöpfen intuitiv dank der ihnen eingesenkten Kräfte, sondern muss in anderer Weise durch die Gottheit gelenkt werden. Dazu gehört ein Doppeltes. Das eine, welches ihn nicht aus den übrigen Geschöpfen heraushebt, ist die Verleihung der ihm gemäßen Kräfte – das ist die physisch-naturhafte Seite des Menschen. Das andere ist die Wirkung des göttlichen »Kraftflusses« auf die geistig-willenhafte Seite des Menschen. Die hierzu erforderliche göttliche Wirkweise konzipiert Hirsch mit Hilfe eines schon von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) gut ein halbes Jahrhundert zuvor in seiner Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« (1780) vorgetragenen Gedankens, nämlich in der Vorstellung eines göttlichen Erziehungsplanes für das gesamte menschliche Geschlecht. Es ist wert, einen näheren Blick auf Lessings Thesen zu werfen, bevor die analoge Lehre Hirschs vorgestellt wird.
3.4.1
Lessings und Hirschs Lehren von der göttlichen »Erziehung des Menschengeschlechts«
3.4.1.1 Lessings Version vom göttlichen Erziehungsplan In seiner Schrift vom göttlichen Erziehungsplan der Menschheit,1707 die Lessing wie nachher Hirsch seine Neunzehn Briefe, nur als »Herausgeber« zu publizieren vorgibt, behauptet Lessing, dass das gesamte Menschengeschlecht, analog zu einem individuellen Menschen, die für ihn nötigen Erkenntnisse gewiss aus eige1704 Iggerot, IV, S. 31. 1705 Iggerot, IV, S. 32. 1706 Iggerot, V, S.40. 1707 G.E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Lessings Werke, hrsg. von K. Wölfel Frankfurt/M. 1967, II, S. 544–563.
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ner Kraft wird einmal erlangen können, also durch seine Vernunft, dass aber zur Beschleunigung in beiden Fällen eine systematische Erziehung dienlich ist, die bei der gesamten Menschheit durch Gott ins Werk gesetzt wurde und zwar durch sukzessive didaktisch dosierte göttliche Offenbarungen.1708 Als christlicher Autor beginnt Lessing, wie nachher auch der Jude Hirsch, mit der biblischen Geschichte zum Beleg seiner These. Die Geschichte der intellektuellen Entwicklung beginnt nach Lessing so: »Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen. §7. So entstand natürlicher Weise Vielgötterei und Abgötterei.«1709 Die adamitische Menschheit hatte die ihrem Urvater einst eingegebene Erkenntnis von dem einzigen Gott alsbald verlassen und hat somit die göttliche Urmitteilung verworfen und gewiss wäre sie diesem Irrtum noch viele Millionen Jahre verfallen geblieben – trotz einzelner Weiser, welche die Irrwege erkannten –, hätte die Gottheit nicht von neuem mit einer Offenbarung interveniert.1710 Allerdings konnte oder wollte sich Gott nun nicht mehr jedem der vielen einzelnen Menschen zuwenden, darum: »wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besonderen Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können. § 9. Dies war das israelitische Volk […].«1711 Dieses Volk Israel belehrte Gott nun Schritt für Schritt, um sie schließlich zur Erkenntnis seiner Einzigkeit zu führen. Und dies geschah mit den bei der »Kindererziehung« üblichen Rückschlägen und den probaten erzieherischen Gegenmitteln und auf einem dem Zögling angemessenen geistigen Niveau, das – bei den Israeliten – eben noch erhebliche Mängel aufwies.1712 Die naheliegende Frage, weshalb Gott sich mit diesem durchaus ungehobelten Volk solche Mühe gab, beantwortet Lessing so:
1708 Lessing, Erziehung, § 5, S. 545. 1709 Lessing, Erziehung, § 6–7; S. 545. 1710 Lessing, Erziehung, § 7, S. 545. 1711 Lessing, Erziehung, § 8–9, S. 545f. 1712 Lessing, Erziehung, § 9–17, S. 546f.
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»um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sicherer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog in ihm die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts. Das waren Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer von einem so erzogenen Volke.«1713 So weit konnte, wie unten deutlich werden wird, Samson Raphael Hirsch Lessing folgen. Die weitere Erziehungsgeschichte der Juden in Lessings Darstellung, die schließlich zum Monotheismus,1714 zum Glauben an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele,1715 und endlich auf den »besseren« Jüdischen Lehrer »Christus« führte,1716 konnte Hirsch natürlich nicht mehr teilen, weil eben nach seiner Auffassung das erwählte jüdische Volk die höchste Stufe der Offenbarung schon am Sinai empfangen hat, die nicht mehr überbietbar war. Nunmehr sind wir vorbereitet Hirschs »Erziehung des Menschengeschlechts« zu betrachten, die bis zum besagten Punkt dem Grundgedanken Lessings folgt und nur durch für Hirsch wichtige und spezifische Gedanken erweitert wird.
3.4.1.2 Hirschs Version vom göttlichen Erziehungsplan Nach der Auffassung von Hirsch war es die Freiheit des Menschen, welche ihn seine wirkliche Situation in der Welt falsch verstehen ließ. Was er begreifen sollte, ist, dass, wie oben schon dargestellt, alle in der Welt wirkenden Kräfte nur Gottes Diener sind, wie er selbst, wenn er auch durch seinen freien Willen vor ihnen herausgehoben ist. Vergisst nun der Mensch sein Eingegliedert-sein in diese göttlich-kosmische Kraftstruktur, dann beginnt er selbst sich entweder als Herr oder als Sklave dieser Weltenkräfte zu wähnen und vergisst darüber den eigentlichen Herrn von ihnen allen, Gott.1717 Diese Lehre, dass Gott und nicht der Mensch Herr der Dinge ist, wollte Gott dem Adam durch ein einziges Erziehungsgebot, das Verbot der Frucht, vermitteln.1718 Dieses Gebot hat darum keine Begründung, damit es als reiner Akt der Unterwerfung erfüllt werden konnte, was dem Menschen die Schranken seiner eigenen Macht ins Bewusstsein heben sollte. Dies ist das bleibende göttliche Erziehungsziel bis in die Gegenwart.1719 Die von Gott damit angestrebte Anerkenntnis seiner alleinigen und einzigen Herrschaft hat sich nach Hirsch, wie bei Lessing, alsbald eingetrübt, was zu der 1713 Lessing, Erziehung, § 18, S. 547. 1714 Lessing Erziehung, § 39, S. 552. 1715 Lessing Erziehung, § 44ff., S. 554f. 1716 Lessing Erziehung, § 53, S. 555. 1717 Iggerot, V, S. 36. 1718 Iggerot, V, S. 37. 1719 Iggerot, V, S. 38.
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von Lessing genannten Vielgötterei führte. Bei Hirsch lautet der entsprechende Passus: »so erblickt er [der Mensch] bald auch in jedem ihn umgebenden Kraftwesen nicht den Gottesdiener mehr, sondern sich gehorchende, Besitz und Genuß und Kraftäußerung erstrebende Kraft, – er hat kein Auge mehr für das Gesetz des Alleinen, dem sie alle dienen, – und es zersplittert ihm sich die Welt in so viele Götter, als er Kräfte wirkend sieht.«1720 Die Verderbnis und Erziehungslinie folgt nun bei Hirsch den weiteren biblischen Stufen, der allgemeinen Menschheitsverderbnis, sodann die Sintflut und der Neuanfang mit Noah.1721 Dieser Neuanfang ist grundlegend, jetzt »beginnt Geschichte! – Nicht mehr vernichten will Gott sein Menschengeschlecht; sondern erziehen, das ganze Menschengeschlecht zum Gottes- und Selbstbewußtsein will Er erziehen durch Erfahrung.«1722 Diese Erziehung der Menschheit geschieht nach Hirsch ab der biblischen Turmbauerzählung und der ihr folgenden Zerstreuung der Völker – nach dem Vorgang bei Herder und Hegel1723 – nunmehr über unterschiedliche Volksstämme hin, die in der Geschichte auftraten und nach erfüllter Mission wieder verschwanden, um einem neuen Menschenstamm zu weichen.1724 Der Menschengeist muss sich nun in unterschiedlichen Strömungen erproben. Die verschiedenen Landschaften und Klimate sollen nun helfen, den göttlichen Erziehungsplan voranzutreiben, »Seitdem tritt Volk nach Volk ein in die Reihen der Geschichte, jedes bringt neue Kraft und neue Seiten des Menschengeistes mit […].«1725 Das bedeutet, die Erziehung des Menschengeschlechtes soll seit der Turmbauepisode durch den Verlauf der Geschichte, durch die in ihr gesammelten Erfahrungen, erfolgen, hin zur Erkenntnis der Einheit Gottes, als der einen Allkraft der Welt. Dies gilt für alle Völker bis in die Gegenwart. 3.4.1.3 Die Erwählung Israels Wie schon Lessing meint nun auch Hirsch, dass dieser Prozess der menschlichen Selbstentwicklung ohne Gottes Hilfe nicht effektiv genug verlaufen konnte, 1720 Iggerot, V, S. 39f. 1721 Iggerot, V, S. 40. 1722 Iggerot, VI, S. 41. 1723 S.oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, I, 3. 1724 Iggerot, VI, S. 41. 1725 Iggerot, VI, S. 42.
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weshalb es auch nach Hirsch eines neuerlichen Anstoßes durch die Gottheit bedurfte, die die erzieherische Hand Gottes auf ein einziges Volk beschränkte: »Während so die Menschheit, der Erziehung durch Erfahrung hingegeben, Gott und sich aus ihren Schicksalen erlernen sollte, sollte Ziel dieser Erziehung gesichert und gefördert werden durch eigentümliche Veranstaltung. Hatte man Gott aus dem Leben, ja aus der Natur zurückgewiesen und des Lebens Grund im Besitz, des Lebens Ziel im Genuß gefunden, also, daß das Leben Produkt der Vielheit der Menschentriebe ward, wie die Natur als Produkt der Vielgötter dastand; sollte ein Volk eingeführt werden in der Völker Reihen, das durch Geschick und Leben den alleinigen Gott als des Lebens einzigen Grund, Erfüllung Seines Willens als des Lebens einziges Ziel darstellen sollte und den Ausspruch dieses Willens, für den Kreis eines solchen Volkes verjüngt, durchtragen als alleinigen Mittelpunkt seiner Vereinigung. Dazu bedurfte es eines Volkes, arm an allem, worauf die übrige Menschheit ihre Größe und ihren Lebensbau aufführt; im äußeren untergehend unter selbständig gerüstete Völker, unmittelbar nur von Gott getragen; auf daß in Überwindung des Entgegenstehenden Gott sich als alleinigen Schöpfer, Richter und Herrn in Natur und Geschichte unmittelbar offenbare..«1726 In dieser Erziehungskonzeption erscheint das Schicksal der Juden in der Zerstreuung, Verfolgung, Armut und vor allem Staatenlosigkeit als ein für die Erziehungsplanung Gottes nötiger, gerechtfertigter und damit von den Israeliten anzunehmender Zustand. Dieser begann mit dem ägyptischen Exil, der dortigen Versklavung, dem Exodus, der Sinaioffenbarung – alles sollte dieses Volk nur aus Gottes Händen in Empfang nehmen, insbesondere die Tora, welche, über all den genannten vergänglichen Gütern, Israels bleibender Besitz und Seele sein sollte.1727 Alle Verluste Israels, und insbesondere jener der eigenen Staatlichkeit, sind Glücksfälle und dienen dem einen Ziel, dass Israel nun in der Zerstreuung seine Mission, seinen Beruf, erfüllen könne, allen Menschen zu zeigen, dass der Mensch alleine auf Gott angewiesen ist. Nur die Tora soll sie immerdar und allerorten begleiten, denn sie ist die Trägerin des Geistes.1728 Dies ist die bleibende Aufgabe Israels: »wenn so Jissroéls Zerstreute überall still aufblüheten als Priester Gottes und reinen Menschentums; – […]wenn wir wären, – wenn wir würden, was wir sein sollten! – wenn unser Leben vollendetes
1726 Iggerot, VII, S. 48f. 1727 Iggerot, VIII, S. 52f. 1728 Iggerot, IX, S. 55f.
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Abbild unserer Lehre wäre! – welch allmächtiger Hebel für das Allziel aller Menschheitserziehung!«1729
4.
Kritik an Rabbinismus, Philosophie und Teilen der Kabbala
Sollte angesichts all des bisher Gesagten noch Zweifel an der Differenz zwischen Hirschs »Neoorthodoxie« und dem in seiner Zeit verbreiteten halachisch orientierten Judentum bestehen, so wird dieser Zweifel durch ein Letztes vollends ausgeräumt. Denn gerade an dieser Stelle, an der Hirsch die Tora als die alles bestimmende Mitte Israels herausstellte, fühlt Hirsch das Bedürfnis, sich vehement von den »Altgläubigen«, von einem rein orthopraxen Judentum abzugrenzen. Wo der Geist Israels, der »Geist« der Tora, dieser neue Begriff, zum zentralen Beschreibungsbegriff der jüdischen Religion wird, die eben in der Erkämpfung des reinen Monotheismus besteht, musste das »philosophiearme« orthopraxe Judentum der Kritik verfallen. Die »unverstandene« Disziplin in der Erfüllung der Gebote, die oft einem Gebrauch von Amuletten gleicht,1730 so Hirsch, kann nicht der Träger des Geistes des Judentums sein, wie auch nicht der pilpulistische Umgang mit dem Talmud, »wer siehet nicht, welche Kleinigkeitskrämerei und Haarspaltung, nun einen ganzen Folioband auszufüllen mit Untersuchungen, welche Arbeiten nun verboten; welche Sonderbarkeit nun, das Schreiben zweier Buchstaben – doch vielleicht eine geistige Beschäftigung! – als Todsünde zu stempeln; […] Und nun gar noch selbst der Henne das Eierlegen zu verbieten!«1731 Dies alles ist ihm »nur äußeres Judentum und unerkanntes, unbegriffenes, mißverstandenes Judentum, nur Bruchstück«,1732 »An Geist, an dem inneren Lebensprinzip fehlt es«.1733 Wahres Judentum sieht Hirsch darum nur da, wo das Gesetz eine Deutung im richtigen »Geiste« erfährt. Was dies bedeutet, soll im Folgenden noch deutlich werden. Zu dem solchermaßen missverstandenen Judentum zählt Hirsch allerdings auch die mittelalterliche jüdische Philosophie, etwa eines Maimonides, mit ihren »irregeleiteten« von außen herangetragenen Fragen nach dem Wesen Gottes – ein Vorwurf den sich auch Mendelssohn von ihm gefallen lassen muss – und den anthropologisch, pragmatisch und sozial gedeuteten Geboten. Hingegen hat die Kabbala, so Hirsch, ein reiches Repositorium echter jüdischer Tradition bewahrt, das allerdings doch meist missverstanden wurde, »was ewiges, fortschreitendes 1729 Iggerot, IX, S. 58. 1730 Iggerot, X, S. 65. 1731 Iggerot, XVIII, S. 109. 1732 Iggerot, X, S. 65. 1733 Iggerot, XVIII, S. 111.
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Fortentwickeln ist, als stehender Mechanismus, was innere Erscheinung und Begriff ist, als äußere Traumwelten begriffen worden«.1734 Nicht besser kommt die Wissenschaft des Judentums davon und die Reformbewegung seiner Tage. Für alle gilt »An Geist, an dem inneren einen Lebensprinzip fehlt es […] ,«1735 »aber das Judentum, Th’nách und Schaß als Wissenschaft blieb verwahrlost«, man pflegte da den »Th’nách philologisch-ästhetisch zu entwickeln, den Mauréh zu studieren und noch humanistische Studien anzubauen und zu verbreiten.«1736 Bei so viel Kritik an den anderen jüdischen Strömungen sieht sich Hirsch, alias Naphtali, genötigt, dem jungen Benjamin tröstend zuzurufen: »Und wenn auch Tausende sie aufgeben, die Sache des Lebens und des Lichtes, wenn auch Tausende sich lossagen vom Geschicke und vom Namen Jissroél, dessen Leben sie schon längst abgeworfen, die – Sache der Wahrheit zählt nicht die Zahl ihrer Träger. – Und wenn auch nur einer bleibt, – ein Jude mit dem Buche der Lehre in der Hand, Jissroéls Lehre im Herzen, Jissroéls Licht im Geiste, – auch der eine genügt; – Jissroéls Sache bleibt unverloren.«1737 Religionswissenschaftlich gesprochen, ist dies eine klare sektiererische Position – oder mit der altjüdischen Tradition: die Lehre vom gerechten wahren Rest Israels.
5.
Ein Judentum von Gebot mit Geist
Die Kritik von Samson Raphael Hirsch am pilpulistisch-halachischen Judentum verfolgte, im Gegensatz zu den »Reformern«, nicht das Ziel, die Befolgung der biblisch-rabbinischen Gebote abzuschaffen – im Gegenteil. Was er allerdings zusätzlich einforderte, ist, dass die Gebotserfüllung vom »Geist« getragen sei, denn nur so sei sie befähigt, ihren Erziehungsauftrag zu erfüllen. Die Gebotserfüllung soll also kein Selbstzweck sein und auch nicht nur die Bezeugung des Gehorsams gegenüber Gott. Die Gebote haben nach Hirschs Auffassung im göttlichen Erziehungsplan eine erzieherische Funktion wahrzunehmen, die »Erziehung des Geistes und Erzeugung des Lebens«,1738 und dazu müssen sie eben mit dem echten jüdischen Geist beflügelt sein. Dies ist dann der Fall, wenn man den »Begriff des Gegenstandes«, das heißt, die mit dem Gebot gegebene »Bestimmung« erfasst, und erkennt, welche »Symbolhandlung« im jeweiligen Gebot angeordnet ist. Die Anleitung zum richtigen Verstehen der Gebote gibt Hirsch in seinem zweiten, im Jahre 1837 erschienenen Gesetzeswerk חורב-Horev (aschkenasisch: 1734 Iggerot, XVIII, S. 106. 1735 Alles im 18. Brief, S. 102–118. 1736 Iggerot, XVIII, S. 108. 1737 Iggerot, XVIII, S. 117f. 1738 Iggerot, X, S. 65.
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Chaurew) – Versuche über Jissroéls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroéls denkende Jünglinge und Jungfrauen.1739 Im Vorwort zu diesem Buch fordert Hirsch seine Leser zunächst zu einer kompromisslosen Gebotserfüllung auf, aber darüber hinaus zum Nachdenken über sie: »Zu einem solchen Nachdenken über Gottes Gebote werden wir uns aber bei solchen Geboten ganz besonders aufgefordert finden, deren, größtenteils ausgesprochener, oder doch aus Aussprüchen zu erschließender Zweck eben das Erwecken bestimmter Gedankenreihen mit beabsichtigt, bei solchen nämlich, die uns eine gewisse Art der Tätigkeit zu versetzen vorschreiben, auf daß bestimmte Wahrheiten dadurch ihren Ausdruck erhalten. Wir werden da uns aufgefordert fühlen, die Beziehung aufzusuchen, in der der angeordnete Ausdruck zu dem auszudrückenden Gedanken stehe, und ebenso die Wahrheit in ihrem ganzen Umfange und in allen ihren Folgen durchzudenken und zu beherzigen.«1740 Die Torawissenschaft hat nach Hirsch demnach zwei Aufgaben: 1. Die materielle Gebotsseite darzustellen, wie dies in der Tradition geschah und 2. die »Betrachtung und Nachdenken über diese Gesetze; und seine Erkenntnisquelle wird zunächst das jedem einzelnen innewohnende, mehr oder minder hell leuchtende Geisteslicht sein.«1741 Hirsch will also das Verständnis der Gebote vor dem weiteren Hintergrund des göttlichen Erziehungsplanes erreichen, den Geist der Gebote. In gut hegelianischem Sinne, so glaubt Hirsch, offenbart sich der »Allgeist« in besonders nachdrücklicher Weise in den Geboten, wie analog für alle Menschen in Natur und Geschichte. Ein zentraler Begriff für Hirschs neues Toraverständnis ist das »Symbol«, beziehungsweise die »Symbolhandlung«.1742 Das heißt, nur wenn die Gebote als Symbole verstanden werden, hat deren Erfüllung ihr Ziel erreicht. Die konkrete Gebotserfüllung soll auf etwas anderes verweisen, das durch das Gebot symbolisiert wird – ein ferner Anklang an das symbolische Gebotsverständnis der Kabbala.1743 Dies alles hindert Hirsch jedoch nicht daran, auch im Sinne der Rabbi-
1739 Ursprünglich in Altona erschienen. Ich zitiere den Horev / Chaurew nach der fünften Auflage Frankfurt/M. 1921. Die in Zürich unter dem Titel Chorew etc. 1992 erschienene Ausgabe weist zahlreiche Veränderungen des ursprünglichen Textes auf und ist für eine historische Darstellung nicht geeignet. 1740 Horev, S. VII. 1741 Ebd. 1742 Iggerot, X, S. 66. 1743 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 437ff.
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Judentum der Tora – Samson Raphael Hirsch
nen, die Gebotserfüllung ausschließlich mit dem Hinweis auf Gottes Willen zu begründen,1744 dies allerdings, so können wir nun ergänzen, begleitet vom richtigen Verstehen.
6.
Die Tora als jüdische Lebensregel – der Chaurew
6.1
Der Chaurew als literarische Gattung – Sefer ha-Mizwot
Moses Mendelssohn hatte die jüdische Religion in zwei kategorial verschiedene Teile aufgespalten: Auf der einen Seite sieht er die universalistische Religion der Vernunft, die ganz auf die menschliche Vernunft gestützt ist und keinerlei Offenbarung bedürfe und deren Inhalt die drei Grunderkenntnisse der Vernunftreligion sind, nämlich die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und die Vergeltung für das irdische Tun. Und auf der anderen Seite erkennt Mendelssohn die partikulare Offenbarung des Gesetzes am Sinai, die nur für das Volk Israel gelte. Die nachmendelssohnianische jüdische Religions- und Geistesgeschichte lässt sich als Auseinandersetzung mit dieser Dichotomie verstehen, wobei die entstehenden Parteien sich je auf die eine oder andere Hälfte des aufgespaltenen Judentums stützen wollten. Die Neologen und Reformer wollten das Judentum fortan vor allem über den Glauben, die Erkenntnis und das Wissen definieren, während die Altfrommen und Rabbinisten das Judentum in erster Linie auf das geoffenbarte Gesetz gegründet sehen wollten. Samson Raphael Hirsch hat einen Mittelweg beschritten. Er hat, das haben die bisherigen Darlegungen gezeigt, eine ausgeprägte historiosophische Theologie entworfen und damit ein jüdisches Glaubensgut entwickelt. Auf der anderen Seite beharrte Hirsch aber auf einer vollständigen Erfüllung des Gesetzes, das er in seiner doppelten Offenbarungsgestalt als Mündliche und Schriftliche Tora für unantastbar und unverzichtbare Verpflichtung eines jeden Juden anerkennt, allerdings, wie das voranstehende Kapitel zeigte, versehen mit einer den Geist erweckenden Deutung. Nach seiner Darlegung der historiosophischen Theologie in den Neunzehn Briefen musste es für Hirsch ein zentrales Anliegen sein, den in diesen Briefen (Kapitel X-XIV) schon kurz skizzierten Inhalt der Offenbarung an das Volk Israel noch ausführlicher für den täglichen Gebrauch darzustellen. Dies tat er in seinem nur ein Jahr später veröffentlichten ( חורבChaurew) Versuche über Jissroéls Pflichten in der Zerstreuung zunächst für Jissroéls Jünglinge und Jungfrauen, Altona 1837.1745 Ziel dieses Werkes konnte es angesichts des anzusprechenden Publikums nicht sein, das gültige jüdische Recht auszubreiten, wie dies seit der
1744 Horev, S. V–VI. 1745 Als Scan auch im Internet: books.google.de.
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nachtalmudischen Zeit in einer Vielzahl von Halacha-Kodizes üblich geworden war, deren abschließende und formativ gewordene Krönung der zum Ende des 16. Jahrhunderts im palästinischen Safed entstandene Schulchan ‘Aruch des Josef Karo (1488–1575) war. Dieser Kodex, wie auch das umfassende Mischne Tora des Moses Maimonides (1135–1205), sind rechts- und gerichtsförmige Darstellungen des gültigen jüdischen Rechts. Während allerdings Maimonides (wie die Mischna des Jehuda ha-Nasi, um 200) auch das durch die Tempelzerstörung schon obsolet gewordene Recht verzeichnete, hat sich die Darstellung Karos und entsprechender Kodizes auf das aktuell noch anwendbare gültige Recht beschränkt. Diese Darstellungen sind nach den verschiedenen Rechtsgebieten geordnete Zusammenschauen der gültigen Bestimmungen, die für den Rechts- Gerichts- und Ritualalltag Entscheidungen ermöglichen sollten. Eine solche Darstellung konnte der Zielsetzung Hirschs natürlich nicht dienen. Er brauchte eine Form, in welcher das in seinen Augen als gültig erachtete Gesetz in einer homiletischen, die Zustimmung der Leser gewinnenden, Weise kurz dargestellt wird. Dafür bedurfte es nicht der kasuistischen Darlegung der unzähligen Rechtsbestimmungen, sondern einer Form, in welcher gleichsam der Grundbestand des Tora-Rechtes dargeboten und mit einer erklärenden, das Gebot einsichtig machenden Weise, verbunden wird. Dafür gab es in der jüdischen Tradition seit dem Mittelalter eine Darstellungsform, die sich dafür in besonderer Weise eignete, und die gleichfalls den von Hirsch angestrebten Zielen diente. Gemeint ist die Literaturform des Sefer ha-Mizwot (Buch der Gebote).1746 In ihm werden die sprichwörtlichen 613 von der Tora offenbarten Gebote1747 aufgezählt und mit homiletischen Erläuterungen verbunden, welche die Zustimmung des Lesers zu gewinnen suchen. Zu dieser Literaturform gesellt sich eine ebenfalls im Mittelalter mit der Philosophie und der Kabbala aufgekommene literarische Form, die Darlegungen der so genannten Ta‘ame ha Mizwot (Die Begründungen der Gebote). In dieser Literatur werden bei den Philosophen rationale Gründe für die Erfüllung der Gebote gesucht,1748 ein Unternehmen das gerade wieder im 19. Jahrhundert eine neue Blüte erfuhr,1749 während die Kabbalisten den Sinn der Gebote 1746 Zu ihr s. H.A. Davidson, The First Two Positive Commandments in Maimonides’ List of the 613 Believed to Have been Given to Moses at Sinai, in: Cration and Re-Cration in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of his Seventieth Birthday, hrsg. von R. Elior und P. Schäfer, Tübingen 2005, S. 113–146; A. Jellinek, Quntres Taryag, Wien 1878; A. Kahan, The Taryag Mitzvos, Brooklyn 1887; P. Leberecht, Tariack Mitzvoth, Hamburg 1734; M. Creizenach, Thariag, oder Inbegriff der mosaischen Vorschriften nach talmudischer Interpretation, Frankfurt 1833. 1747 Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 282; Bd. 2, S. 661, 665. 1748 Vgl. I. Heinemann, Ta‘ame ha-Mizwot be Sifrut Jisrae’el, Jerusalem 1942–1954. 1749 Vgl. M. Friedländer, Die jüdische Religion, Frankfurt/M. (1891) 1936 (Neudruck Basel 1971), S. 363.
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in deren Beziehung zu und theurgischen Wirkung auf die göttlichen »Sefirot« suchten.1750 Beide erst im Mittelalter entstandene Literaturgattungen gehen auf ein homiletisch-symbolisches Diktum des R. Simlai im Babylonischen Talmud zurück, nach welchem dem Moses 613 (mit hebräischen Buchstaben geschrieben: TaRJaG) Gebote befohlen worden waren und zwar 365 Verbote, entsprechend den 365 Tagen des Jahres und 248 positive Gebote entsprechen den 248 Teilen des menschlichen Körpers.1751 Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die gesamte menschliche Zeit und der gesamte menschliche Leib in das Gebot Gottes eingebunden seien und es keinen Raum ohne sie gebe. In den weiteren Nennungen dieser Zahlen im Midrasch und Babylonischen Talmud wird, entsprechend dieser nur exhortatorisch, predigthaft ermahnenden, symbolischen Bedeutung, nirgendwo eine Konkretisierung und wirkliche Zählung versucht. Eine solche Konkretisierung zu versuchen und die genannten Zahlen genau nachzurechnen, blieb dem systematischen Denken des Mittelalters vorbehalten und führte zu fast ebenso vielen unterschiedlichen Zählresultaten wie Autoren, die sich mit dem Thema befassten. Aber auch diese zahlreichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Aufzählungen blieben in gewissem Maße dem ursprünglichen homiletischen Ziel der Zählung treu, insofern auch sie den nunmehr einzeln aufgelisteten biblischen Geboten oft erklärende homiletische Erörterungen beigegeben hatten. Auch hinsichtlich der Aufzählungsweise gab es Unterschiede in dieser Literaturgattung. Da bot sich zunächst die Trennung in positive und negative Gebote an, die im Diktum R. Simlais vorgegeben war. Ihr folgt zum Beispiel Moses Maimonides in seinem einflussreichen Sefer ha-Mizwot, so auch das ihm nachgebildete verbreitete Sefer Mizwot Gadol (Kürzel: SeMaG)1752 von R. Mosche de Coucy (um 1250). Auch innerhalb dieser grundsätzlichen Zweiteilung in positive und negative Gebote gab es nun die Möglichkeit einer Sachordnung, so bei Maimonides,1753 oder aber die von der Bibel vorgegebene Reihenfolge. Letztere konnte auch als das umfassendere Ordnungsprinzip, unter Missachtung der Trennung in positive und negative Gebote, dienen. Dies war zum Beispiel die
1750 Vgl. Bd. 2, S. 112f., 147ff., 451ff., 596ff. 1751 Babylonischer Talmud, Makkot, 23b; S.E. Urbach, Hazal. Pirke ’Emunot we-De‘ot, Jerusalem, S. 301ff.; ders. The Sages – Their Concepts and Beliefs, Jerusalem 1987, 342ff. Es ist zu beachten, worauf die einzelnen Autoren nachdrücklich hinweisen, dass nicht jeder Israelit und dieser nicht zu allen Zeiten verpflichtet ist, alle Gebote zu halten, denn manche gelten nur den Priestern, manche dem König, manche nur den Frauen und dies nur zu bestimmten Zeiten etc. 1752 Venedig 1547. 1753 Siehe die übersichtliche Auflistung im Jüdischen Lexikon, Berlin 1927 (Nachdruck Königstein 1982), II, Sp. 914–928.
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Anordnung in dem anonymen1754 Sefer ha-Hinnuch (Buch der Erziehung), dem später weitere Autoren folgten. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Großform des Sefer ha-Mizwot außer den genannten Darstellungsweisen noch weitere Variationsmöglichkeiten aufweist. Der Autor des von der Kabbala beeinflussten Moralwerkes Sefer Haredim (Buch der Gottesfürchtigen) aus der Feder von ’El‘asar ’Askari (’Asikri) (16. Jh.) unterteilt die beiden Gruppen, positive und negative Gebote, in solche, die »am Herzen hängen und den ganzen Tag geübt werden können«, und solche, die an den Augen, Ohren, Mund, Luftröhre und Speiseröre, Nase, Hände, etc. an allen oder besonderen Zeiten, hängen.1755 Der Sefer ha-Hinnuch trägt es im Titel, worin die eigentliche Abzweckung dieser Literatur bestanden hat. Und so ist auch der Sefer Mizwot Gadol des Mosche aus Coucy in einem analogen Kontext wie Hirschs Chaurew entstanden, nämlich als es galt, der unter dem Einfluss der Philosophie um sich greifenden Laxheit gegenüber der Gebotserfüllung, homiletisch zu begegnen.1756 Der Autor des Sefer ha-Hinnuch spricht darum gleichsam dasselbe Publikum wie Hirsch an. Er verfasste das Buch als Begleitlektüre zum biblischen Text, »um das Herz des Knaben, meines Sohnes, und seiner Freunde, Woche um Woche auf die Anzahl der Gebote aufmerksam zu machen, nachdem sie die Wochen-Parascha (die wöchentliche Tora-Lesung) studiert haben, um sie ihnen geläufig zu machen, und ihre Gedanken mit reinen Dingen, mit dem Wesentlichen zu beschäftigen, anstatt mit Spielereien und Unnützem Zeug und damit es auch im Alter nicht von ihnen weiche.«1757 Mosche de Coucy rechtfertigt die Aufzählung auch von Geboten, die zu seiner Zeit im Exil und nach der Tempelzerstörung keine praktische Gültigkeit mehr haben, damit, dass das göttliche Gebot neben dem Tun der Gebote auch deren »Bewahren« befohlen habe, und »das Bewahren geschieht ja nirgend sonst als im Herzen«. In diesem Zusammenhang verweist auch er auf den göttlichen Auftrag, dass man die Gebote seinen Söhnen lehren solle.1758 Wieder also wird diese Form der Gebotsdarstellung dem Lehrkontext, nicht dem Gerichts und Entscheidungskontext zugewiesen. Nunmehr ist der Ort von Hirsch Chaurew erkennbar. Er folgt der Tradition der Sifre ha-Mizwot, die vor allem didaktische Zwecke zur Erziehung der Jugend hatte und den Menschen bis ins Alter begleiten sollte. Ziel dieser Werke ist nicht die Rechtspraxis, sondern die Erziehung, Erbauung, Erklärung, Gewinnung, und
1754 Die Jerusalemer Ausgabe von 1992 nennt den dem 14. Jahrhundert in Barcelona (?) lebenden R. Ahron Ha-Levi zum Verfasser. 1755 Z. B. Sefer Haredim, Jerusalem 1984, S. 53ff. 1756 Vgl. Encyclopaedia Judaica, s.vor allem Moses Ben Jacob of Coucy, Bd. 12, Sp. 418–420. 1757 Sefer ha-Hinnuch, Jerusalem 1992, Hakdamat ha-Mechabber, S. 7. 1758 Zit. nach Sefer ‘Iir ha-Zedek we-hu Kizzur SeMaG me-Rabbenu me-Coucy, hrsg. von S. Freund, Prag 1863, Hakdamat Rabbi Mosche [...], S. 2.
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außerdem eine gottesdienstliche, das ist das »Bewahren« der Gebote. Zu dieser Tradition gehören neben der Aufzählung aller – oder wie auch schon vor Hirsch1759 – einer Anzahl noch aktueller Gebote, die zum Teil breit ausladenden homiletischen Erklärungen der einzelnen Gebote. Insgesamt stellt sich somit der Chaurew als homiletische Theologie anhand des in Hirschs Gegenwart noch aktuellen Teils der 613 Gebote dar. Dass Hirsch mit seinem Chaurew tatsächlich einen Sefer ha-Mizwot der alten Gattung schreiben wollte, wird aus einer späteren Bemerkung deutlich, wo er von der Bedeutung der Gebotserfüllung im Kontext des modernen Lebens spricht und dafür eben auf die TaRJaG-Mizwot verweist. Er sagt da unter anderem: »Man kann auch Jude sein, der im Rahmen der großen Welt die Tora und Gebote einhält; denn die Verlockungen dieser Welt sind der Prüfstein für ihre Treue zum Judentum, denn die 613 Gebote wurden nicht gegeben, damit sie nur im Bet ha-Midrasch befolgt werden, sondern hauptsächlich im tätigen Leben.«1760
6.2
Die Systematik der 613 Gebote bei Hirsch
Samson Raphael Hirsch zählt nicht alle 613 traditionellen Gebote auf, dies gibt er schon im Titel seines Buches zu erkennen, das von »Jissroéls Pflichten in der Zerstreuung« handeln soll. Auch er trennt nicht nach negativen und positiven Geboten, sondern fasst beide Seiten systematisch zusammen. Nach Abzug der für die aktuelle Gegenwart obsoleten Gebote bleiben in seiner Aufzählung insgesamt noch 118 Einheiten. Sie gliedert er nach dem Vorgang bei Maimonides in Sachrubriken. Allerdings führt er eine völlig neue und eigenwillige SachSystematik ein, die aber seinen theologischen Lehren entsprechen. Während Maimonides die 613 Gebote und Verbote jeweils nach Sachgebieten unterteilt, legt Hirsch seiner Systematik sein oben gezeichnetes Modell von der Gemeinschaft der Geschöpfe im Angesicht des Schöpfers zugrunde. Im Zentrum dieses »Gesellschaftsmodells« steht das Individuum, das nach oben und unten hin als Empfänger und Geber in eine umfassende Verantwortungsgemeinschaft eingebunden ist. Hirsch skizziert dieses Modell schon in den Neunzehn Briefen und realisiert es im Chaurew, wobei er allerdings im Chaurew die so genannten Edaúß (‘Edot, Zeugnisse) sachgerechterweise von der fünften auf die zweite Stelle vorrückt, was man eigentlich auch von der Awaudóh (‘Avoda, Gottesdienst) er1759 Vgl. z. B. das hasidische Derech Pikkudecha ‘al Tarjag Mizwot ha-Tora von Zvi ’Elimelech Schapira (1782/3)-1840/1, Ausg. Jerusalem (Eschkol) o.D. 1760 Rückübersetzung aus dem Hebräischen nach M. Eliav, Ha-Hinnuch ha-jehudi be-Germania biJeme ha-Haskala we-ha-Emanzipazia, Jerusalem 1960, S. 229, er gibt als Quelle: Gesammelte Schriften, VI, 235, wo der Text sich aber nicht findet; das Buch in dt.: Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation, Münster 2001.
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wartet hätte, aber nicht geschehen ist. Für die Benennung seiner Gebotsgruppen greift Hirsch zu biblischen Begriffen vor allem aus dem Tora-Psalm 119,1761 die er aber, nur zum Teil an ältere Traditionen angelehnt, völlig eigenwillig und neu interpretiert. Die sechs Gruppen von Geboten sind nun hierarchisch um den Menschen herum aufgebaut (hier nach der Ordnung des Chaurew, aber mit den kurzen Definitionen aus den Neunzehn Briefen): 1. An erster Stelle stehen die Gebote, die des Menschen Verhältnis zu Gott bestimmen, samt den daraus folgenden ethischen Tugenden des Einzelnen. Sie sind die Thaúraúß (Torot, Lehren): »die geschichtlich offenbarten Ideen über Gott, Welt, Mensch- und Jissroéltum mit ihren Folgen; nicht als Glaubens- oder Wissenssätze, sondern als anzuerkennende und mit Geist und Herz aufzunehmende Prinzipien des Lebens.«1762 2. Danach folgen im Chaurew die Edaúß (‘Edot, Zeugnisse). Sie sind die von Hirsch als »Symbolhandlungen« bezeichneten so genannten Zeremonialgebote, welche die Beziehung von Mensch und Israel zu Gott symbolisch in der Tat zum Ausdruck bringen: »Denkmale für Mensch- und Jissroéltum begründende Wahrheiten durch Darstellungen in Wort und Tatsymbol für den einzelnen, für Jissroél und über Jissroél hinaus.«1763
1761 In seinem Psalmenkommentar sagt Hirsch zu diesem Psalm: »In der Tat ist es eben das göttliche Gesetz, dessen Erkenntnis und Verwirklichung in diesem Psalm als das Höchste, ja man kann sagen, als das einzige Anliegen eines jüdischen Menschen erscheint. Und zwar das Gesetz nach allen seinen Bestandteilen:
[ תורותTorot], die Geist und Gemüth belehrenden und
veredelnden Lehren; ‘[ עדותEdot], die von Gott für diese Lehren gestifteten symbolischen Institutionen;
פקודים
füllenden Aufträge; tungen;
חוקים
[Pikkudim], an den unserer Hut von Gott anvertrauten Wesen zu er-
מצות
[Mizwot], uns auf unseren Lebensposten anweisende Verpflich-
[Hukkim], unsere Sinnlichkeit umschränkend heiligende Gesetze;
משפטים
[Mischpatim], unsere menschengesellschaftliche Beziehungen regelnde Rechtsverordnungen: und während sie zusammen ihm 'ה
[ דברDevar JHWH], das Gotteswort, der Ausspruch Gottes
sind, so ist ihm der Ausdruck ’[ אמרהImra] für Gottes Gesetz eigentümlich.«, S.R. Hirsch, Die Psalmen übersetzt und erläutert, Frankfurt/M. 1882 , Neudruck als Jubiläumsausgabe Frankfurt/M. 1988, S. 213; und vgl. Ges. Schriften, II., S. 422. 1762 Iggerot, X, S. 67. 1763 Ebd.
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3. Unter dem Stichwort »Gerechtigkeit« folgen die Mischpotim (Mischpatim, Satzungen), welche die Rechtspflichten der Menschen, der einander gleichgestellten Geschöpfe, untereinander darstellen: »Aussprüche der Gerechtigkeit gegen Ihnen gleichgeordnete Wesen aus dem Grundsatze dieser Gleichheit, also der Gerechtigkeit gegen Menschen.«1764 4. Ihnen folgen die Chuckim (Hukkim, Gesetze), welche die Rechtspflichten des Menschen gegenüber den ihm untergebenen Geschöpfen beschreiben: »Aussprüche der Gerechtigkeit gegen Ihnen untergeordnete Wesen aus dem Grundsatze der Gotteshörigkeit; also Gerechtigkeit gegen Erde, Pflanze, Tier, und, alle drei schon in Ihre Persönlichkeit übergegangen, gegen Ihren Besitz, gegen Ihren Körper, Ihr Gemüt und Ihren Geist.«1765 5. Diesen beiden Rechtskategorien folgen die Mizwaúß (Mizwot, Liebesgebote), welche als Gebote der Liebe, nicht als Rechtsansprüche zu verstehen sind: »Gebote der Liebe gegen alle Wesen ohne Anspruch derselben, rein aus Gottes Auftrag und dem Begriffe Ihrer Mensch- Jissroélbestimmung.«1766 6. Und schließlich folgen die Gebote zur Awaudóh (‘Avoda, Gottesdienst) die der Erhebung und Weihe des inneren Lebens des Menschen dienen, und nur dank dieser fast »Schleiermacherschen«1767 Begründung des Gottesdienstes ihre Rechtfertigung als Letztplatzierte in dieser Hierarchie haben: 1764 Ebd. 1765 Ebd. 1766 Ebd. 1767 Trotz dieser mehrfachen Anklänge an Friedrich D.E. Schleiermachers Diktion muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Hirsch in einer »Neujahrs-Betrachtung« unter der programmatischen Überschrift »Glauben und Wissen«, Gesammelte Schriften VI, S. 12ff., nachdrücklich gegen Schleiermachers Definition von Religion als der Region des Gefühls oder Gemütes, eines Parallelbereichs zu dem des Wissens, polemisiert. Im Judentum sind für Hirsch Glaube und Wissenschaft eng verschlungen. Allerdings ist die Wissenschaft, von der Hirsch hier redet, die jüdische Wissenschaft um die Tatsachen der Heilsgeschichte und des Gesetzes. »Auf diesem hellen historischen Grund von der konkretesten Erfahrung einer ganzen Nation getragener Fakten steht das Judentum in Wissenschaft und Leben. Da ist nirgends Raum für faselndes, phantastisches Träumen und Fühlen, da soll nicht das Gemüt mit dem Kopfe davonlaufen, sondern durch das, was die hellen Sinne erfahren, der klare Verstand erfaßt, der denkende Geist in Grund und Folge gewürdigt [...] soll das Gemüt ergriffen, das Herz bestimmt und der ernste kräftige Wille erzeugt werden, das irdische Leben nach jenem zum Verstande gespro-
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»Erhebung und Weihe des inneren Lebens für die Berufserfüllung im äußeren Leben durch Urteilsläuterung in Symbolhandlung und Wort.«1768
6.3
Die Botschaft der sechs Gebotsgruppen
6.3.1 Die Thaúraúß (Torot) Die Gebotsgruppe der Thaúraúß (Torot, Lehren) behandelt, Maimonides folgend, zunächst die »theologischen« Grundlehren der jüdischen Religion, das heißt die Existenz Gottes, unter der Überschrift Gottheit, und dessen Einheit (Jichud). Danach folgen die für den Menschen daraus sich ergebenden Auffassungen und Einstellungen beziehungsweise Tugenden. Diese Zusammenstellung ist die folgerichtige Konsequenz aus Hirschs Auffassung, dass die – bei Maimonides begonnene und von seinen Nachfolgern übernommene – Deutung der »Gebote« zur Gotteserkenntnis nicht wie bei Maimonides nur eine rein intellektuell rationale Erkenntnis gebieten, sondern eine emotionale und somit auch die ethische Applikation verlangen. Das bedeutet, dass Hirsch die bei seinen Vorgängern zum Teil weiter hinten eingereihten Gebote nach vorne rückte. Allerdings folgte schon bei Maimonides dem Gebot der Gotteserkenntnis und des EinheitsGlaubens das Gebot zur Gottesliebe und zur Gottesfurcht sowie des Gottesdienstes. Entsprechend sind auch die Themen Gottesfurcht und Gottesliebe bei Hirsch als Nummer acht und neun in dieser Gruppe zu finden – es ist diese Linie, welche Hirsch weiter ausbaut. Die Tendenz zur individuellen emotionalen und ethischen Applikation der Gotteserkenntnis wird sogleich bei einem Vergleich des ersten Gebotes bei Maimonides und bei Hirsch evident, und damit Hirschs Religionsverständnis, das sich von dem rationalistischen des Maimonides zu einer »Schleiermacherischen« Gefühls-Religion entwickelt hat. Maimonides sagt zum ersten seiner 248 positiven Gebote: »Das erste Gebot ist, dass er uns befohlen hat, an die Gottheit (’Elohut) zu glauben. Das heißt, dass wir glauben, dass es eine Ursache und einen Grund gibt. Sie (Er) ist es, der alles Existierende bewirkt [po‘el, causa efficiens]. Und das ist es was die Schrift sagt: ›Ich bin JHWH dein Gott‹ (Ex 20, 2). [...]«1769
chenen Gottesdiktat zu gestalten. Klarer Verstand und tatkräftiger Wille, das sind die Potenzen, auf welche die ›jüdische Religion‹ rechnet; Herz und Gemüt sind ihr nur die Vermittler des Verstandes zur Tat.«, S. 17f. 1768 Ebd. 1769 Mosche Ben Maimon, Sefer ha-Mizwot, Jerusalem 1968, II, Minjan Ha-Mizwot, S. 3.
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Aus Hirschs langer Erläuterung dieses Gebots können hier nur einige zentrale Sätze herausgehoben werden, die seinen neuen Akzent anzeigen: »Des Wissens Blüte sei das Leben. – Doch, daß dem Wissen das Leben entblühe, dazu genügt das Wissen nicht. Was du allgemein in des Wissens Kreis aufgenommen, muß auf dich bezogen, das Erkannte muß anerkannt werden, muß vom Wissen ins Herz, in diesen Quell der Lebensentschlüsse treten, muß dich ganz durchdringen, muß Teil deiner selbst werden; [...]«1770 Diese hier geforderte emotionale Applikation des kognitiven Wissens wird im Folgenden mehrfach wieder aufgenommen: »so lange du ihn nicht in Geist und Herz als deinen Gott aufnimmst, mit deinem ganzen Wesen als deinen Gott ergreifst [...] ist selbst dieser Gedanke aller Gedanken – unfruchtbar fürs Leben«. 1771 Wesentlich ist Hirsch, dass die im Rahmen der mittelalterlichen rationalen Philosophie betrachteten Zusammenhänge und Wirkungen in der Welt nicht als physisch-metaphysische Einsichten stehen bleiben, sondern dass sie als Gottes Geschöpfe und Diener wahrgenommen werden, in die man sich selbst eingereiht sehen muss. All das muss im Sinne des oben gezeichneten göttlichen Erziehungsplanes gesehen werden. In diesem Licht muss auch das Gebot zur Erkenntnis der »Einheit« Gottes verstanden werden: Die Vielfalt der Kräfte, welche im Kosmos, in der Völkergeschichte sowie im eigenen Leben wirken, müssen als »Wirken eines Gottes« anerkannt werden, »ein Gott überall und in allem; und alles nur von diesem einen Gott im Himmel und auf Erden; und alles darum nur zu einem Zweck, zu des Einen Weisheitsplan.«1772 Nachdrücklich betont Hirsch, dass diese Aussage gerade auch für die Geschichte gilt, die von dem Einen stammt, zu Ihm hinströmt, dies gilt es zu erkennen und zu fühlen.1773 Entsprechend muss das menschliche Leben »einig« sein, so wie »Gott nur Einer ist.«1774 Als Einleitung zum nächsten Gebot (Nr. 3, Vielgötterei) übersetzt Hirsch das zweite Gebot des Dekalogs, »Du sollst keine anderen Götter vor meinem Angesicht haben« (Ex 20,3), demnach entsprechend seiner Sicht der Schöpfung als:
1770 Horev, S. 1, § 1. 1771 Horev, S. 1, § 2. 1772 Horev, S. 4, § 6. 1773 Horev, S. 4, § 7. 1774 Ebd.
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»Es soll nichts anderes dir Gott sein neben meiner allgegenwärtigen, alles durchdringenden Waltung.«1775 Diese Waltung, oder Wirkung Gottes, so wiederholt er es ein Weiteres Mal, ist in allem zu erkennen. Das Verbot der »Vielgötterei«, das es auch verbietet, in der Welt ein selbständiges Böses oder einen Zufall anzuerkennen,1776 muss die Grundlage dessen sein, was Hirsch beim nächsten Gebot unter der Überschrift »Weltanschauung« verhandelt. Hier polemisiert er ausdrücklich gegen das philosophisch physisch-metaphysische Weltbild eines Maimonides, das sich auf die sinnliche Wahrnehmung und den menschlichen Verstand gründet. Demgegenüber betont Hirsch, dass ohne die Tora und ihre Sicht der Welt der Mensch auswegslos in die Vielgötterei gelangt: »Aber auch auf geradem Wege gelangst du leicht zur Abgötterei, oder vielmehr zur Vielgötterei, an der Hand des sinnlichen Auges und des sinnlichen Verstandes, wenn dir nicht Thauróh den einzig einen Gott offenbart; denn mit deinem sinnlichem Auge und Verstande erblickst du zunächst nur Einzelwesen und Einzelstreben, nicht aber den unsichtbaren Einen und nicht sein einiges alles beherrschende Gesetz, – erblickst nur Götter – nicht Gott! = ›Awaudóh soróh‹ [Götzendienst].«1777 Dies kann nicht der Weg Israels sein, denn »Nur an Hand der Gott und Menschen offenbarenden Thauróh soll es [Israel] die Welt und sich betrachten; gesellen [zusammenzuhalten] Gott und Gesetz lehrende Thauróh, als Tatsache, – ebenso Tatsache wie Himmel und Erde ... nicht aus Welt und sich Gott erkennen wollen, sondern Welt und sich aus Gott.«1778
6.3.1.1 Tora ‘im Derech ’Erez – eine Zwischenbemerkung Man muss diese, die rationalistische Weltsicht verkehrende Position Hirschs ernst nehmen, will man das von ihm aus der Mischna mehrfach angeführte Motto »Tora ‘im Derech ’Erez« (Tora gepaart mit der Weise der Welt) für sein Erziehungsprogramm richtig verstehen. In seinem Aufsatz über das »Jüdische Schulwesen« von 1854 sagt der unermüdlich und sehr erfolgreich für eine neue tradi-
1775 Horev, S. 4, Kap. 3. 1776 Horev, S. 5, § 10. 1777 Horev, S. 8, § 16. 1778 Horev, S. 8, § 17.
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tionsgebundene und zugleich den modernen Ansprüchen genügende Schulbildung der jüdischen Jugend kämpfende1779 Hirsch: »Was uns retten kann, einzig retten kann, das ist eine innige Vermählung des religiösen Wissens und religiösen Lebens mit echter, wahrhaft sozialer Bildung, das ist die innige, aufrichtige Vermählung der [ תורה עם דרך ארץTora ‘im Derech ’Erez], wie es Lehre und Erbgut unserer großen Altvorderen gewesen.«1780 Wie schon in den Neunzehn Briefen nachdrücklich betont, kann diese Vermählung von Tora und »Weise der Welt« indessen nur bedeuten, dass die Welt auf die Ebene der Tora »gehoben«, nicht dass die Tora auf das Niveau der Welt »herabgezogen« wird. Es gilt, die Welt und sich selbst aus der Sicht der Tora wahrzunehmen, nicht die Tora aus der Sicht der Welt. In einem polemischen Artikel von 1854 gegen eine Broschüre aus Frankfurt am Main, in welcher folgendes Motto ausgegeben worden war »Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt« stellt Hirsch seine Sicht der Verbindung von Moderne und Religion dadurch klar, dass er das von den Fortschrittsgläubigen ausgegebene Motto geradewegs umkehrt: »Sie wollen die Religion im Bunde mit dem Fortschritte – und wir haben gesehen, wie dieses Prinzip von vorneherein die göttliche Wahrhaftigkeit dessen, was sie Religion nennen, negiert – wir aber wollen den Fortschritt im Bunde mit der Religion. Ihnen ist der Fortschritt das Absolute und die Religion das dadurch Bedingte. Uns ist die Religion das Absolute und der Fortschritt das durch sie Bedingte. Ihnen gilt die Religion nur insofern sie mit dem Fortschritte besteht. Uns gilt der Fortschritt nur insofern er mit der Religion besteht.«1781
1779 Dazu s. M. ’Eli’av, Ha-Hinnuch ha-jehudi be-Germania bi-Jeme ha-Haskala we-ha-Emanzipazija, Jerusalem 1961, S. 227–232, M. Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deuteschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt/M. 1986, S. 101f.; ders. The »Torah-Im-Derekh-Eretz« of Samson Raphael Hirsch, Jerusalem/New York 1970. 1780 Gesammelte Schriften, I., S. 262. Die beiden zu vermählenden Bereiche nennt er später im selben Aufsatz: »jüdische Wissenschaft, [....] und [...] die Schätze der allgemeinen Bildung«, S. 278f. Dazu bedarf es Männer, »die mit Kopf und Herz im Judentum wurzeln, die aber auch das Judentum vom Standpunkte der allgemeinen Weltanschauung zu schätzen und die allgemeine Weltanschauung vom Standpunkte des Judentums zu würdigen wissen«, S. 279; vgl. noch Ges. Schriften, V, S. 237, 239. 1781 Gesammelte Schriften, III, S. 501.
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Hirsch ist demnach bereit und willens, die volle bürgerliche oder soziale Bildung anzunehmen, aber nur insoweit sie nicht den Grundsätzen der Religion widerspricht, wie er sie versteht. • Kehren wir zu den Thaúraúß-Geboten zurück. Wie schon vermerkt, gehören in diese Rubrik all jene Gebote, welche die moralische und emotionale Applizierung der Erkenntnis Gottes als Gottes-Anerkenntnis zum Ausdruck bringen, dies sind: Das Verbot der »Vielgötterei«, die nicht rationalistisch, sondern von der Tora geprägte Weltanschauung, das »Selbstgefühl«, bei dem es um die richtige Selbstverortung unter Gottes Dienerschaft geht, und die »Lebensansicht«, bei welcher das Gefühl der unmittelbaren Unterstellung unter Gott verhandelt wird. Der Abschnitt über die Offenbarung in der Abteilung Thaúraúß erinnert an die seit Jehuda Ha-Levi1782 übliche Beweisführung für die Göttlichkeit der Sinaioffenbarung durch die Anwesenheit des ganzen Volkes Israel. Sie ist die ein für allemal gültige Gesetzesoffenbarung. Hernach folgte die prophetische Offenbarung, die nach Hirsch recht eigentlich bis in die Gegenwart reicht, sie bringt nicht neues Gesetz, sondern Ermahnung, das Gesetz Moses einzuhalten. Die Wahrheit solcher Prophetie muss sich stets an der Offenbarung durch Moses messen lassen. Ihre Aufgabe war es, den Geist in Israel zu pflanzen und zu wecken, der sie treu an der Tora des Moses festhalten ließ. Sodann folgt das Gebot der Gottesfurcht, das von der wissenden Präsenz und der bevorstehenden Vergeltung der Gottheit spricht. Das nächste Kapitel über die Gottesliebe nimmt nun, trotz der Abwehr gegen Schleiermacher,1783 dessen Diktion wieder auf: »Lieben heißt, sich nur ganz fühlen durchs Dasein und im Dasein eines andern. ›Gott lieben‹ heißt daher fühlen, daß das eigene Dasein und Wirken Möglichkeit und Bedeutung nur durch Gott und in Gott finde; seist nur und seist etwas nur durch Gott; und darum mit deinem Dasein und Wirken nur zu Gott hinstreben, d.h. seinen Willen erfüllen. Gott lieben und seine Thauróh lieben ist eins; denn Gott lieben erhält erst Sinn, indem du seine Thauróh liebst.«1784 Es lohnt sich, an dieser Stelle den entsprechenden Text des Maimonides zu stellen, der bei Hirsch deutlich im Hintergrund steht, von dem er sich aber durch die
1782 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 595. 1783 S.R. Hirsch, Naftole Naftali, Erste Mittheilungen aus Naphtalis Briefwechsel, hrsg. von Ben Usiel, Berlin 1919, S. 74; s. P.P. Grünewald, Eine jüdische Offenbarungslehre, Samson Raphael Hirsch, Bern/Frankfurt/M./Las Vegas 1977, S. 82. 1784 Horev, S. 22, § 49.
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emotionalen Einschübe doch spezifisch unterscheidet. Als drittes Gebot nennt Maimonides, die Gottesliebe: »Das dritte Gebot ist, dass er, Er sei erhoben, uns gebot, ihn zu lieben. Das bedeutet, dass wir über seine Gebote und Worte nachdenken und über sie sinnen, bis wir Ihn erkennen und uns an seiner Erkenntnis mit der höchsten Freude erfreuen. [...]«1785 Maimonides, der Rationalist sieht das höchste Ziel in der Gotteserkenntnis, die Gebote sind letztlich nur ein Vehikel dafür. Demgegenüber steht bei Hirsch, dem Zeitgeist verpflichtet, das »schlechtinnige Abhängigkeitsgefühl« im Vordergrund dieses Gebotes. Die Gebote sind hierfür ein Zeichen des Ausdrucks. Das Gottvertrauen (10. Kapitel der Thaúraúß) ist die Hinnahme der von Gott gesandten Schicksale als Teil der Erziehung zum Israel-Beruf, so auch die »Leidenserziehung«. »Stolz« und »Demut«, sind die negative und positive Haltung angesichts dessen, was man ist und besitzt, »Gelüste« sind das Streben zur Selbstvergrößerung. Zwar sind Gelüste, wie dies schon die Rabbinen sagten, nötig für Mensch und Welt, um zu bauen und Familien zu gründen,1786 führen aber weg von Gott, wo sie nicht in seinen Dienst gestellt werden. Dies mag zum Hinweis auf die Tendenz der unter den Thaúraúß verhandelten menschlichen Tugenden genügen. Sie alle sollen den Menschen als Diener Gottes unter Gottes Dienern erscheinen lassen.
6.3.2 Edaúß (‘Edot, Zeugnisse) Unter den ‘Edot versteht Hirsch alle jüdischen Feiertage mit ihren zugehörigen Geboten, die Beschneidung, Tefillin, Schaufäden, Mesusa, Erstlingsfrüchte, Orla (Wartezeit bei Baumfrüchten) und Teighebe, außerdem das Verbot die Spannader zu essen – nicht die übrigen Speisegebote, die unter die Hukkim fallen – und die Trauerriten. All diese Gebote werden als Symbole für die Erziehung des Menschen zum richtigen, oben schon dargestellten, Selbst- und Gottesverständnis betrachtet. Für alle betont Hirsch zum wiederholten Male, dass es nicht alleine die Erfüllung des Gebotes ist, sondern die Erfassung des von ihnen getragenen Geistes: »Siehe! es will es die Lehre nimmer und nimmer, daß du nur durch stumme Gewöhnung deine Kinder zum Jissroélleben bildest, und nur das äußere Le-
1785 Maimonides, Sefer ha-Mizwot, Nr. 3, S. 5. 1786 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 273ff.
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ben ohne Inneres, ohne den Geist, vererbest; – und du hast wahrlich deine Aufgabe nur halb erfüllt, wenn deinen Kindern Haschéms Gebot nur […] angewöhntes Menschengebot würde. – Den Geist der Lehre schöpfe, und damit tränke deiner Kinder Gemüt.«1787 In der Mitte dieser geistlichen Botschaft steht eben das Diener-Sein des Menschen vor Gott und das Wissen, dass alles von Ihm kommt, auch dass Israel zu einem besonderen Erziehungsauftrag an die Welt von Gott ausgesondert wurde. Für diesen Beruf soll sich der Israelit durch das »Denkmal« der Gebotserfüllung weihen. Vermerkenswert ist an dieser Stelle noch die Erläuterung des Arbeitsbegriffes, bezüglich der verbotenen Arbeiten am Schabbat. Aus dem biblischen Begriff des Mal’echet Machaschevet (מלאכת מחשבת, künstlich ersonnene Arbeit), in welchem ja die Wortwurzel »denken« enthalten ist, schließt Hirsch, dass nur solche Arbeiten verboten sind, welche die »Ausführung einer Idee an einem Gegenstand durch Kunstfertigkeit des Menschen«, die »Produktion, Hervorbringung« bedeuten, nicht aber zum Beispiel das Einreißen eines Hauses. Einsatz der reinen Körperkraft ohne planendes Vorhaben ist erlaubt, denn »Mit deiner Körperkraft bist du Tier; mit deiner deinem Geiste dienenden Kunstfertigkeit beherrschst du die Welt, – und als solcher, als Mensch, sollst du am Schabbóß dich Gott unterordnen.«1788 Es ist also jenes Kriterium, das bei Hirschs Anthropologie und Theologie im Zentrum stand, nämlich das Wissen und Akzeptieren, dass der Mensch nur Diener des einen Gottes ist, und eben dies soll durch die entsprechende Tatvermeidung ausgedrückt werden. Da die jüdischen »Wallfahrtsfeste«, also Pesach, Schawu‘ot und Sukkot zugleich Natur-, das heißt Landwirtschafts- und Geschichtsbezüge haben, kann Hirsch hier erneut seinen theologischen Grundsatz wiederfinden, dass Gottes Kräfte in Natur und Geschichte gleichermaßen wirken, was durch das Begehen dieser Feste vom Menschen durch die Tat bezeugt wird.1789 Aber die Tat muss vom erklärenden Wort begleitet sein, wofür das Rezitieren der Pesach-Haggada natürlich ein besonders eindrückliches Beispiel ist.1790 Die Gebote sind Symbol und Sinnbild für die Botschaft des Judentums, für den Geist, den der Mensch erfassen soll. Um noch ein letztes Beispiel anzuführen, die vier »Arten«, Bachweide, Palme, Myrte und Ethrog für den Feststrauß zu Sukkot (zum Laubhüttenfest) erfahren folgende Deutung:
1787 Horev, S. 104, § 209. 1788 Horev, S. 59, 144. 1789 Vgl. z. B. Horev, S. 76, § 163. 1790 Horev, S. 104, § 209.
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»Zum sinnbildlichen Ausdruck, daß, so wie man diese Früchte als von Gott gewährt betrachtet, also auch alles, was im ganzen Weltall ist, Gottes Eigentum sei, und diese vier Arten nur sinnbildlich Stelle vertreten für alles, was von überall her aus Gottes Schöpfung dem Menschen wird, – wendet man den Lulów nach Ost, Süd, West, Nord, nach oben, nach unten, und spricht damit aus: alles, alles, was Gott von überall her uns segnend spendet, nur als von ihm verliehene Mittel, ihm, der Erfüllung seines Willens freudig weihen zu wollen.«1791
6.3.3 Mischpotim (Mischpatim, Satzungen), Chuckim (Hukkim, Gesetze) Diese beiden Gruppen werden unter dem Leitwort »Gerechtigkeit« zusammengehalten. Die Mischpotim sind »Aussprüche der Gerechtigkeit gegen Menschen«,1792 die Chuckim hingegen sind »Gesetze der Gerechtigkeit gegen die dem Menschen untergeordneten Wesen, gegen Erde, Pflanze, Tier, gegen den eigenen Körper, eigenes Gemüt, eigenen Geist und eigenes Wort.«1793 Unter die Mischpatim fallen vor allem die eigentlichen »strafrechtlich-kriminellen« Gebote wie Tötung, Verwundung, Schlagen, Diebstahl und Raub, Lüge, aber auch Schmeichelei und Heuchelei, Ehre und Friede. Demgegenüber fallen unter die Chuckim mehr »ritualgesetzliche« Dinge wie die Verbote der Vermischung und Kreuzung von Tier- und Pflanzenarten, das Verbot Mutter und Junge gemeinsam aus dem Vogelnest zu nehmen, Schonung von Tieren und des eigenen menschlichen Körpers, Selbstmordverbot, Kleidung und Haartracht, Unzucht, Speisegebote und Gelübde. Hirsch betont im Zusammenhang dieser beiden Gebotsgruppen überraschenderweise mehrfach den alten rabbinischen Grundsatz, dass die Gebote nicht darum einzuhalten sind, weil man deren Sinn und Berechtigung einsieht, sondern alleine deshalb, weil Gott sie geboten hat: »Nicht weil auch du sie für Recht einsiehst; denn auch die Gebote, deren Grund du ahnest, sollst du nicht deshalb erfüllen – denn dann gehorchtest du nur dir, und du sollst Gott gehorchen – sondern weil Gott es dir geboten, und, wie alle Geschöpfe, auch du Gottes Diener sein sollest mit jeglichem.«1794 Dennoch ist der gesamte Chaurew auf das Verstehen der Gebote angelegt, will mit diesem Verstehen für deren Einhaltung werben. Hirsch tut das auch hier, indem er die Gebote in seine schon skizzierte Schöpfungstheologie einfügt. Wie die in der Natur wirksamen Gesetze ist auch die Tora ein Teil der göttlichen Schöpfungsordnung. Beide Seiten des göttlichen 1791 Horev, S. 117, § 225. 1792 Horev, S. 186, Dritter Abschnitt. 1793 Horev, S. 238, Vierter Abschnitt. 1794 Horev, S. 275, § 448.
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Gebotes sollen die von Gott seiner Schöpfung eingepflanzte Gerechtigkeit verwirklichen. Für Hirsch ist also der Begriff »Gerechtigkeit« nicht nur ein ethischer Begriff, sondern ein schöpfungstheologischer. Diese Gerechtigkeit ist der Natur ebenso eingepflanzt, wie sie in der menschlichen Welt verwirklicht werden soll: »Auf Gerechtigkeit hat Gott sein Weltall gegründet. – Du erhebst den Blick zum Himmel, Mensch! Und erspähest Gesetz nach dem die Himmelskörper in ihren Bahnen sich schwingen, verfolgst die Schöpfungsordnung durch Erde und Pflanze und Tier und Mensch […]«1795 Dies ist im Grunde eine moderne, verkehrte, Version der rabbinischen Vorstellung, nach welcher Gott mit der Tora die Welt erschaffen hat, mit der Tora, die ja ein ethisches Gesetz ist. Dienen nach rabbinischer Vorstellung die ethisch richtigen Handlungen der Menschen dazu, die Welt zu erhalten,1796 so sind nach Hirsch die Gebote der Tora gleichsam nur die für den Menschen eigens nochmals formulierten Gesetze der Weltordnung, in einer ihm gemäßen Weise formulierte.1797 »Gerechtigkeit« ist nach dieser schöpfungstheologischen Verankerung das, was jedem der Geschöpfe Gottes im Rahmen dieser Ordnung zusteht, darum gibt es Gerechtigkeit im natürlichen Ablauf der Dinge wie auch in der Forderung an den Menschen, den Dingen in dieser Welt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Pflanze und Tier, dem toten Menschen und dergleichen mehr.1798 Erst die Gerechtigkeit in diesem umfassenden Sinn lässt den Menschen zum Ebenbild Gottes werden.1799 Auch hier zeigt sich dieselbe Nähe und Distanz zur rabbinischen Lehre.1800 Die Nähe ist die ethische Interpretation der imago-Lehre. Die Distanz ist deren Ausweitung auf das menschliche Verhalten auch in nichtmenschlichen Bezugsfeldern, also nicht nur im Bereich der Zwischenmenschlichen Ethik, sondern auch im Sinne einer Ethik der gesamten Schöpfung gegenüber. Es ist dieses umfassende Verständnis der Gebote als Teil der Schöpfungsordnung, die Hirsch dazu führt, den von der rabbinischen Literatur (in der Lehre von der Mündlichen Tora) praktizierten 1801 und dann von der mittelalterlichen Philo-
1795 Horev, S. 187, § 321; und vgl. S. 247, § 410. 1796 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 260ff. 1797 Vgl. Horev, S. 190, § 325. 1798 Horev, S. 190, § 326. 1799 Horev, S. 191, § 327. 1800 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280ff. 1801 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
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Judentum der Tora – Samson Raphael Hirsch
sophie1802 propagierten Gedanken der teilweisen rechtlichen Autonomie des Menschen in einer seiner Lehre angepassten Weise aufzunehmen. Vor allem, aber nicht nur, für die Mischpatim gilt, dass der Mensch deren Erkenntnis aus seinem »Inneren« schöpfen kann: »also erkennest du das für gerecht, was den Anforderungen der Rechtsstimme in deinem Innern genügt, die Gott dir eingehaucht, und so ist Gott auch Quelle des Rechts. Und wenn du dich fragst, warum dir das ›wahr‹? das ›recht‹? So wirst du unabweisbar auf etwas geführt, davon dir weiter kein Grund ist, also Gottes Wille, der also die Wirklichkeit der äußeren Welt und die innere deines Geistes und Gemütes geordnet; und so ist Wahrheit und Recht die erste Offenbarung Gottes in deinem Innern.«1803 Die Notwendigkeit einer zusätzlichen »äußeren« Offenbarung durch die Tora ist eigentlich nur darin begründet, dass der Mensch nicht genügend Kenntnisse von den wirklichen Verhältnissen dieser Welt besitzt und deshalb nicht in jedem Falle alleine die jeweilige Forderung jener »Gerechtigkeit« erkennen kann.1804 Allerdings ist auch dieser Mangel der menschlichen Erkenntnis begrenzt. Denn Hirsch betont, dass der Mensch immerhin so viel Erkenntnisfähigkeit besitzt, um die Notwendigkeiten für die alltäglichen Lebensumstände des Menschen zu erfassen. Dieses Zugeständnis an die menschliche Erkenntnisgabe ermöglicht es Hirsch, dem Menschen die Fähigkeit und damit auch die Pflicht zuzuschreiben, in jeder Lebenssituation selbst zu erkennen, was die Gerechtigkeit erfordert. Dies ist also gleichsam das Terrain der menschlichen Teil-Autonomie: »Gott, der den Menschen zur Gerechtigkeit geschaffen, d. h. daß er jedem Wesen und jedem Verhältnis der Wesen das lasse und spende, was ihnen als solchen gebührt, gab auch seinem Geiste das Vermögen, daß in ihm sich die Wirklichkeit der Dinge und ihrer Verhältnisse, so weit für das Leben der Gerechtigkeit ausreicht, abspiegeln, damit er zuvor die Wesen und ihre Verhältnisse erkenne, und nach dem Erkannten ihnen das angedeihen lasse, was die Lehre der Gerechtigkeit für solche, wie er sie erkannt, als Recht ausspricht. Dieser Abdruck der Wirklichkeit im Geist ist = Wahrheit.«1805
1802 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393ff., 424ff., 480ff. 1803 Horev, S. 189, § 325. 1804 Ebd. 1805 Horev, S. 218, § 369; vgl. noch S. 191, § 328.
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Der Mensch soll und kann demnach die ihn treffenden Umstände erforschen, um daraus die an ihn gestellte Forderung abzuleiten.1806 Diese dem Menschen gegebene Gabe, das Gebotene und dessen Gründe einzusehen, dehnt Hirsch, ungeachtet des oben erwähnten »Gehorsamsprinzips«, auch auf solche Gebote aus, die einer rationalen Einsicht zunächst nicht erschließbar erscheinen. So unternimmt er zum Beispiel den Versuch, die Differenzierung von Tieren, die zur Speise erlaubt, beziehungsweise verboten sind, einsichtig zu machen. Diejenigen Tiere, die wie die Pflanzen wenig »Entschiedenheit in Streben und Trieb in der Aneignung mit sich bringen«, also Wesen, die uns ganz leidend und »für unsere Erfahrung ganz frei vom selbständigen Streben und Trieb« sind, die sind wie die Pflanzen zum Verzehr erlaubt, etwa Kühe, die sich nur dem vegetativen Geschäft des Fressens und Verdauens hingeben. Dagegen Tiere, bei denen sich »nur eben Lebendigkeit, entschiedene Selbsttätigkeit in tierischer Kraftäußerung herausstellt, wie im Hasen, Kaninchen, Kameel, stehen sie als unrein zur Speise da.«1807 Hirsch versucht sich hier in Rationalisierungsversuchen nichtrationaler biblischer Gebote, wie sie im 19. Jahrhundert – und bis heute – üblich waren.1808
6.3.4 Mizwaúß (Mizwot, Gebote) Die unter die Rubrik Mizwaúß fallenden Gebote sind die »Gebote der Liebe«. Auch sie werden in das beschriebene theologisch – kosmologisch – anthropologische Modell Hirschs eingeordnet: »Mischpót [Mischpat] und Chaúk [Hok] lehren dich Gerechtigkeit, Mizwóh lehrt dich Liebe; Mischpót und Chaúk lehren dich nicht Fluch werden, aber Mizwóh ruft dich auf Segen zu werden ringsum; Mischpót und Chaúk lehren dich nicht unter Bruderschöpfung zu sinken und frei den Ansprüchen dich unterzuordnen, denen sie gezwungen dienet, Mizwóh lehrt dich über Bruder1806 Horev, S. 191f., § 328. 1807 Horev, S. S. 283, § 454. 1808 Vgl. z. B. M. Friedländer, Die jüdische Religion (1891), Neudruck Basel 1971. Friedländer sagt dort, S. 363 u a.: »Es ist oft beobachtet worden, daß Juden sich eines gewissen Grades von Immunität gegen Epidemien erfreuten, die unter ihren nichtjüdischen Nachbarn wüteten. Es ist ferner bemerkt worden, daß sie eine geringere Sterblichkeitsziffer aufweisen und eine größere Langlebigkeit besitzen. Diese Tatsachen werden gewöhnlich als Resultat der mäßigen durch das göttliche Gesetz geregelten Lebensweise erklärt. Finden wir, daß das die Folge des Gehorsams gegen die Speisegesetze ist, so dürfen wir wohl annehmen, daß der Gesetzgeber, wenn er gewisse Unterschiede machte, dies erlaubte, jenes verbot, die Gesundheit und das Wohlergehen des menschlichen Körpers im Auge hatte. […]«
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Judentum der Tora – Samson Raphael Hirsch
schöpfung dich zu Gott zu heben in Liebewirken. Denn Liebe ist das Wirken, das ohne Anspruch der Wesen, ihr Wohl und Heil fördert.«1809 Die Mizwot sind für Hirsch die wahrhafte Aufforderung zu imitatio dei.1810 In ihnen erweist sich der Mensch als das wirkliche Ebenbild Gottes, weil er im Tun der Mizwot den andern Gutes tut, ohne dass sie darauf einen Anspruch hätten, im Unterschied zu Mischpat und Hok, die eine verpflichtende Schöpfungsordnung repräsentieren.1811 Die von Hirsch als Mizwot rubrizierten Gebote sind trotz des ersten Anscheins nicht das, was in der rabbinischen Literatur als Derech Hasidut, also die Weise der Frömmigkeit, bezeichnet wird. Diese rabbinische Frömmigkeitshandlung ist eine Handlungsweise, die über die Forderung des Gesetzes hinaus Gutes tut und auf eigene Rechtsansprüche verzichtet.1812 Demgegenüber zeigt die Reihe der unter den Mizwot von Hirsch aufgeführten Gebote, dass er ganz Anderes zu dieser Kategorie des Liebesgebotes zählt, zum Beispiel die Elternehre, die er nun doch als »unwandelbare Pflicht« apostrophiert,1813 das Torastudium, Ehepflicht und Eheverbot mit Nichtjuden, Scheidungsbrief (Get), Teschuva (Umkehr), Almosengeben, Regeln der Billigkeit und Dankbarkeit. Die Zugehörigkeit so unterschiedlicher Gebote zur Nachahmung Gottes im Liebeshandeln an den anderen, sieht Hirsch darin, dass wer anderen zum Segen werden will, erst sich selbst ein Segen sein müsse. Das heißt, nur der zur Liebe tüchtige Mensch kann andere lieben: »Der Weg zum Segenswirken gegen die Welt führt aber über Segenswirken gegen dich selbst. Dir selber mußt du erst Segen werden, Menschengeist, ehe du Segen werden kannst anderen! Mußt dich selber erst mit den verliehenen Kräften tüchtig machen, dich selbst veredeln, ehe du anderen Segen werden kannst.«1814
6.3.5
Awaudóh (‘Avoda, Gottesdienst)
Auch der »Gottesdienst« wird von Hirsch in die kosmologische Gesamtstruktur eingezeichnet. Das gesamte Leben des Menschen ist laut Hirsch Gottesdienst, während der spezielle Gottesdienst der Synagoge mit seinen Liturgien und Re-
1809 Horev, S. 308f., § 480. 1810 Horev, S. 309, § 480; S. 311, § 483. 1811 Horev, S. 309, § 480, 481. 1812 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 243f. 1813 Horev, S. 312f., § 485. 1814 Horev, S. 312, § 485.
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geln letztlich eben dazu dient, den Menschen zu seinem allgemeinen Dienst vorzubereiten, ihn zu tragen und zu stützen. Denn »solcher Lebensgottesdienst kann nur vollendet werden mit klar erleuchtetem Geiste, mit mild warmem Herzen, mit geweihter Kraft deines ganzen Wesens, – und die Erringung solcher Klarheit und Wärme, solcher Kraft und solcher Weihe, das Sichrüsten zu solchem Gottesdienst, das Sichweihen zum Diener Gottes, das Hinaustreten aus dem Gottesdienste des Lebens, um vor Gottes Angesicht sich erst Geist und Kraft und Weihe zu solchem Gottesdienst zu sammeln – wird ganz besonders Awaudóh, ganz besonders Gottesdienst genannt. Es ist die Befähigung seiner selbst zum Gottesdienst des Lebens.«1815 Der Gottesdienst ist für Hirsch darum, ganz im Geiste seiner Zeit, eine Institution im Dienste des Menschen, eine Rüstzeit, um den Menschen für das Leben im Dienste Gottes zu stärken – nicht aber ein Königsdienst, den man nur erfüllt, weil er dem König gebührt. Damit zeigt sich ein weiteres Mal, worin das Neue der »Neoorthodoxie« Hirschs im Gegensatz zur altjüdischen »Orthodoxie« oder »Orthopraxie« besteht. Es ist die Einfügung der traditionellen Halacha in ein Netz von Deutungen, die auf den Menschen bezogen sind. Nicht in der Erfüllung des königlichen Gebotes als solcher erfüllt sich das jüdische Leben, sondern im Verstehen dieses Gebotes als eines umfassenden Instruments zur Erziehung des Menschen als Diener unter der Dienerschaft des Schöpfers.
1815 Horev, S. 413f., § 616.
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Judentum als Religion des Geistes – Salomon Formstecher
IV. JUDENTUM ALS RELIGION DES GEISTES – SALOMON FORMSTECHER (1808–1889) 1.
Biographisches
Salomon Formstecher ist am 26. Juli 1808 in Offenbach am Main geboren und ebenda am 24. April 1889 verstorben. In dieser Stadt, in welcher er von seinem Vater Moses, der als Kunsthandwerker Druckstöcke »stach« wurde er in Hebräisch und im Talmud unterrichtet, ging daselbst in eine Lateiunschule, studierte an der Universität Giessen Philosophie, Philologie sowie protestantische Theologie, promovierte dort 1831 und kehrte danach als Prediger nach Offenbach zurück, um schließlich im Jahre 1842 und bis zu seinem Tode ebenda als Rabbiner zu amtieren. Er nahm als aktives Mitglied an den von Abraham Geiger initiierten Rabbinerversammlungen teil und arbeitete aktiv an Reform des Judentums und seiner gottesdienstlichen Formen.1816 Neben seinem 1841 in Frankfurt am Main erschienenen philosophischen Hauptwerk Die Religion des Geistes eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit publizierte Formstecher mehrere Sammlungen seiner Predigten, den Roman Buchenstein und Cohnberg, ein Familiengemälde aus der Gegenwart (1863) und war Co-Redaktor der Familienzeitschrift Freitagabend (1858/9) und der Israelitischen Wochenschrift (1861). Sein philosophisches Hauptwerk, hatte ihm alsbald großes Ansehen verschafft und dieses ist es, was uns hier interessiert.
2.
Die Religion des Geistes
Alleine mit dem Titel seines philosophischen Hauptwerkes Religion des Geistes reiht sich Formstecher in die Reihe der so genannten jüdischen Hegelianer ein, deren einen, Nachman Krochmal wir hier schon kennengelernt hatten und zu denen noch Samuel Hirsch (1815–1889) und Moses Hess (1812–1875) zu zählen sind.1817 Für Formstecher wird in der Literatur allerdings auch ein ausschlag1816 Zur Biographie s. B. Kratz-Ritter, Salomon Formstecher – Ein deutscher Reformrabbiner, Hildesheim 1991; dies., Salomon Formstecher, in: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, hrsg. von B. Kilcher und O. Fraisse, Darmstadt (Stuttgart) 2003, S. 240ff.; G. Greenberg, Die Kontroverse zwischen [Samuel] Hirsch und [Salomon] Formstecher im Jahre 1842, in: Judaica 29 (1973), S. 24–35; C. Seligmann, Geschichte der jüdischen Reformbewegung von Mendelssohn bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1922, Volltext: (www.archive.org/stream/); M. Waxman, A History of Jewish Literature, New York/London 1960, III, S. 648–658. 1817 S.D. Westerkamp, The Philonic Distinction: German Enlightenment Historiography of Jewish Thought, in: History and Theory 47 (2008), S. 533–559; ders., Die philonische Unterschei-
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gebender Einfluss von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) gesehen, wiewohl eine eindeutige Filiation der jeweiligen Topoi zum einen oder anderen der beiden idealistischen Philosophen nicht klar durchzuführen ist.1818 Zu vermerken ist außerdem ein mächtiger Nachhall von Baruch Spinoza, und zwar in dem zentralen Gedanken Formstechers, dass Materie und Geist1819 gleichermaßen die zwei Erscheinungsweisen der einen göttlichen Substanz sind,1820 wiewohl Formstecher Spinozas Identifikation von Gott und Natur als heidnischen Pantheismus nachdrücklich für das Judentum zurückweist. Hier kann es indessen nicht Aufgabe sein, die einzelnen Gedanken Formstechers auf den einen oder anderen der beiden deutsch-idealistischen Philosophen zurückzuführen, dies um so mehr, als er anerkanntermaßen nicht deren Philosophien vertritt, sondern nur wesentliche Gedanken von ihnen aufnimmt, um darauf sein eigenes religionsphilosophisches System zu errichten. Dieses System soll, wie Formstecher sogleich zum Eingang sagt, eine »Theologie des Judentums« sein und zwar nach »dem Standpunkte der gegenwärtigen Weltanschauung wissenschaftlich« bearbeitet, was eigentlich, so Formstecher, die Aufgabe jüdischer Theologie-Professoren sein sollte, deren allerdings die
dung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie, München 2009, Dirk Westerkamp, der mir freundlicherweise sein Manuskript vor der Drucklegung zur Verfügung stellte behandelt all die oben genannten jüdischen Hegelianer. Er misst sie zum einen an der von Hegel als »philonische Unterscheidung« bezeichnete Zusammenführung der Einheit und Andersheit in Gott, die die mosaische Unterscheidung des Einen von allem Anderen überwunden habe. Gott und Welt sind damit nicht mehr vollkommen geschieden. Für Hegel bedurfte es allerdings eines weiteren Schrittes, nämlich der Inkarnation des mit Gott vereinten Anderen (des Logos), welcher die Rückkehr des Anderen ins Eine vollenden konnte. Natürlich sah Hegel diesen Gedanken im Christentum vollendet. Dagegen haben aber, so Westerkamp, die jüdischen Hegelianer mit Hegel gegen Hegel eine »Konterhistoriographie« entfaltet und so das Judentum in die Historie reintegriert oder gar als deren Erfüllung dargestellt, wie unten noch deutlich werden wird. 1818 S.J. Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933, S. 321–327; N. Rotenstreich, Jewish Philosophy in Modern Times: From Mendelssohn to Rosenzweig, New York/Chicago/ San Francisco 1968, S. 106–120; E. Schweid, Toledot Filosofijat ha-Dat ha-jehudit bi-Seman he-hadasch, Tel Aviv 2002, Teil. II, S.40–50; I. Maybaum, Samuel (sic!) Formstecher, Ein Beitrag zur Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie im neunzehnten Jahrhundert, in: MGWJ 1927, Heft 2, S. 88–99 (im Internet: /www.compactmemory.de/); G. Greenberg, Zur Verteidigung Formstechers [gegen die Angriffe von Samuel Hirsch], in Judaica 29, 1–4 (1973), S. 24–35; M. Waxman, A History of Jewish Literature, New York/London 1960, Bd. III, S. 648–658. 1819 Zur Bedeutung des Geistes im deutschen Idealismus s. den Artikel »Geist« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Darmstadt 1971ff., Bd. 3, Sp. 182ff. 1820 S.oben Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 5.3.
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Judentum als Religion des Geistes – Salomon Formstecher
Zeit Formstechers noch ermangelte.1821 Eine solche wissenschaftliche Theologie des Judentums könnte, laut Formstecher tatsächlich als eine »Philosophie der Religion« bezeichnet werden, wäre die Philosophie nicht, wie sich im Laufe des Werkes herausstellen wird, eine heidnisch-pagane Unternehmung, die für das Judentum als Religion des Geistes nicht gelten kann. Dennoch ist es nicht von ungefähr, dass Formstecher diese Bemerkung macht,1822 denn in der Tat ist sein Buch, ähnlich dem von Saul Ascher, eine Philosophie der Religion im Sinne der neueren Religionsphilosophie, also ein Werk, in welchem über die Religion als grundlegendes menschliches Phänomen reflektiert und nicht im Sinne der mittelalterlichen »Religionsphilosophie« eine einzelne Religion philosophisch dargestellt wird. Das Judentum wird hier also im Rahmen des allgemeinen Phänomens Religion abgehandelt, allerdings zugleich mit dem gegen die christlichen deutschen Idealisten gerichteten Ziel, nicht das Christentum, sondern das Judentum als den Gipfelpunkt der Religionen aufzuweisen, nämlich als die Religion des Geistes schlechthin, weshalb Formstecher als Ziel seines ganzen Werkes dieses nennen kann: »Das Judenthum ist hier als Theil der Manifestation des Menschengeistes, für sich selbst aber als etwas Ganzes und Untrennbares in’s Auge zu fassen.«1823 Und noch mehr: »das Judenthum als eine absolut nothwendige Erscheinung in der Menschheit hinzustellen, und nachzuweisen, daß es noch jetzt als eine solche betrachtet werden müsse, und daß es in seiner wesentlichen Fortbildung sich zur universellen Religion der civilen Menschheit erhebe, ist die Aufgabe, welche in dieser Schrift gelöst werden soll.«1824 Das besondere an Formstechers Religionsphilosophie ist, dass er das Phänomen Religion und deren zwei noch zu nennende Gattungen aus der Ontologie ableitet. Religion erscheint hiernach nicht nur als ein logischer und notwendiger Teil des menschlichen Wesens, sondern als Teil der Gesamtentwicklung des Seins. Diese Grundgedanken bestimmen sachgemäßer Weise auch den sehr systematischen Aufbau des gesamten Buches. Die ersten acht Kapitel verhandeln die allgemeinen Grundlagen der Ontologie und der sich daraus ergebenden Phänomenologie der nur zwei Religionen, nämlich der Naturreligion und der Religion des Geistes, sprich Heidentum und Judentum. Diese Kapitel behandeln: 1. Gott und die Welt, 2. Natur und Geist, 3. Vernunft und Offenbarung, 5. Das Gute und das Böse, 6. Göttliche Vorsehung und menschlicher Wille, 6. Die Bestimmung des Menschen, 7. Vorhistorische und historische Offenbarung, 8. Heidenthum und Judentum.
1821 Religion des Geistes, S. 5. 1822 Ebd. 1823 Ebd. 1824 Religion des Geistes, S. 4.
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Erst nach diesen systematisch-religionsphilosophischen Darlegungen folgt die eigentliche Darstellung des Judentums als der Realisierung der Religion des Geistes: I. Quellen der jüdischen Religion: Offenbarung, Prophetie, Heilige Schrift und Tradition, II. Inhalt der jüdischen Religion: 1. Gott und sein Verhältnis zur Welt (Theogonie, Kosmogonie, Fatum und Vorsehung), 2. Die Welt und ihr Verhältnis zu Gott (Natur, Engel und Dämonen, der Mensch: als Teilhaber an der Natur und als Träger des Geistes). Die Kapitel elf und zwölf des Werkes schließlich bieten eine Geschichte des Judentums, in welcher die »Geistesgeschichte« des Judentums dargestellt wird, das heißt die voranschreitende Erkenntnis des Geistes seiner selbst im menschlichen Selbstbewusstsein – also Geistesgeschichte im buchstäblich idealistischen Sinn. Dabei ist zu beachten, dass zwischen dem ›Judentum nach seiner Idee‹ und dem ›Judentum in seiner Erscheinung‹ zu unterscheiden ist.1825 Die hier zu zeichnende Geistesgeschichte des Judentums beschreibt demnach die Entwicklung des realen zeitgebundenen historischen Judentums von seinen niedrigen und kindhaften Anfängen hin zum erstrebten Ideal des Judentums. Es ist dieses Ideal, das von Anfang an als Ideal gegeben undan dem die jeweilige historische Realität zu messen ist.1826 Mit anderen Worten, das Volk Israel oder das Volk der Juden ist nicht identisch mit dem Judentum als Ideal. Dies sieht man unter anderem daran, dass das Judentum als Religionstypus, als »Religion des Geistes«, schon vor der eigentlichen Volkwerdung Israels begonnen hat und diese schließliche Volkwerdung nur ein späterer, allerdings notwendiger Schritt in der Entwicklung und Entfaltung des Geistes ist. Das Abschlusskapitel – zwölf – endlich, zieht die Schlussfolgerung aus dem Ganzen und resümiert die Mission des Judentums an die Menschheit. Das Buch von Formstecher spiegelt mit diesem seinem Aufbau gewissermaßen die Idealform der Struktur des jüdischen Denkens im 19. Jahrhundert wider, wie sie oben im Einleitungskapitel für diese Epoche skizziert wurde, indem sie sich den beiden genannten Grundfragen widmet, nämlich der Frage nach dem Wesen von Religion und deren Verhältnis zum Judentum und sodann der Geschichte des Judentums in welcher sich – im Sinne der Hegelschen Geistesgeschichte – die voranschreitende Realisierung des Ideals vollzieht.
3.
Gott und die Welt
Salomon Formstecher setzt mit der aus dem Mittelalter bekannten empirischen Beobachtung ein, dass es in der Welt unzählige Dinge gibt, die auftreten, sich
1825 Religion des Geistes, S. 12. 1826 Religion des Geistes, S. 12f.
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Judentum als Religion des Geistes – Salomon Formstecher
verändern, um dann wieder zu verschwinden. Daraus, dass die menschlichen Sinne von derartigem beeindruckt oder affiziert werden, schließt Formstecher, dass tatsächlich etwas vorhanden sein muss, welches sich so den menschlichen Sinnen aufprägt. Und wie die mittelalterlichen Denker aus dem steten Wechsel der Erscheinungen und dem beständigen Dasein von veränderlichen Dingen geschlossen haben, dass all die veränderlichen Dinge von einem bleibenden, wenn auch durch die Sinne nicht wahrnehmbaren, Träger getragen werden, glaubt auch Formstecher an einen bleibenden Träger dieser Veränderungen. Die mittelalterlichen Philosophen schlossen daraus mit Aristoteles, dass die sich verändernden Formen von einer allzeit vorhandenen Materie, der Hyle, getragen werden, welche im steten Wechsel mit immer wieder neue Formen überkleidet wird. Die Urmaterie war demnach das stete Bleibende, das durch die Form in eine wahrnehmbare Existenz gebracht wurde. Formstecher wollte diese Schlussfolgerung des Mittelalters nicht nachvollziehen, weil er der Auffassung war, dass das mit den Sinnen Tastbare, sprich die Materie, nicht beständiger sein könne als das mit den Sinnen Hörbare: »Die Welt theilt sich somit in Form, oder Attribut, und Träger der Form, oder Wesen. Da zu den Attributen der Welt alle sinnlich wahrnehmbaren, der Veränderung unterworfenen Erscheinungen gehören, so muß auch die feste Materie zu denselben gezählt werden, und wer eine Ewigkeit des Stoffes annimmt, muß mit demselben Rechte auch die Ewigkeit der Farbe, des Geruchs und des Schalles behaupten; denn warum sollte das Objekt des Tastsinnes mehr Ewigkeit besitzen, als das Object des Gehörs, des Gesichtes, des Geruchs und des Geschmacks? – Auch der Stoff ist ein Attribut am Wesen; […] das Wesen der Welt ist sinnlich(,) nicht wahrnehmbar, sie selbst ist ein Pneumatikon. Nicht die Form an und für sich, sondern der Träger derselben an und für sich kann ein Dasein haben […] Die ganze Welt, wie sie sich den sinnlichen Organen darstellt, ist demnach nur eine Erscheinung ihres Trägers, ihres Wesens; die wahrnehmbare Hülle ihrer unwahrnehmbaren Seele.«1827 Der aristotelische Träger aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge dieser Welt, die Hyle, oder Urmaterie, ist damit entthront. Auch die Materie ist nur eine »Form« am eigentlichen Wesen der Welt. Alles Sinnlich Wahrnehmbare ist damit an die Form gebunden, auch die Materie, wohingegen der Träger der Form nicht sinnlich wahrnehmbar ist, er ist geistig, ein »Pneumatikon«. Damit kehrt Formstecher – mit Schelling – zur platonischen Weltseele zurück, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass dieser geistigen Weltseele bei Formstecher nicht wie bei Platon eine ewige Materie gegenübersteht, auf welche die Weltseele 1827 Religion des Geistes, S. 18.
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einwirkt, sondern nun ist auch die Materie ein sinnlich wahrnehmbares Attribut an der Weltseele. Das nicht wahrnehmbare Wesen der Welt ist die Weltseele, die sich nun in den sichtbaren Erscheinungen, oder Kräften, inklusive der Materie, manifestiert. Die Welt ist also eine sinnlich wahrnehmbare Manifestation der Weltseele.1828 Sie allein hat Sein und Dasein im bleibenden Sinne. Das bedeutet aber – und darin unterscheidet sich Formstechers Weltseele von Spinozas Substanz – das Dasein der Weltseele ist unabhängig vom Dasein der Welt, während umgekehrt die Welt kein Dasein ohne die Weltseele hat. »Der Träger aller Erscheinungen hat ein Dasein, wenn auch alle Erscheinungen hinweggedacht werden.«1829 Damit ist jedoch noch nicht alles über die Welt und ihre Seele gesagt und damit geht Formstecher wieder einige Schritte zusammen mit Spinoza. Zu den in dieser Welt erscheinenden Kräften der Weltseele gehört auch der Mensch und er besitzt außer seinen sensiblen Eigenschaften auch noch »intelligible« Qualitäten, die sich laut Formstecher als menschliches »Selbstbewußtsein« und menschliche »Selbsterkenntnis« auszeichnen. Somit ist er – als Teil der Erscheinungen der Weltseele – und als Teil der Welt diejenige Erdenkraft die Selbstbewusstsein hat, sprich er ist zugleich »die zum Bewußtsein gekommene Erdenkraft«. Die Gemeinsamkeit zu Spinoza ist, dass auch bei ihm das Geistige wie das Sensible, Geist und Materie, Modifikationen der einen göttlichen Substanz sind.1830 Der Unterschied zu Spinoza besteht darin, dass bei Formstecher der Träger dieser beiden Qualitäten nicht die eine Weltsubstanz, die Welt ist, sondern die über der Welt stehende Weltseele. Da nun die Weltseele nicht von niedrigerer Qualität als ihre Erscheinung Mensch sein kann,1831 muss man auch der Weltseele eine Form des Selbstbewusstseins und Selbstbestimmung zubilligen, die sie im Menschen erscheinen lässt. Also »der Träger aller Erscheinungen ist demnach nicht nur physische Weltseele, welche alle Bewegungen hervorbringt, sondern er ist durch sein Selbstbewußtsein und durch sein Sichselbstbestimmen ein selbständiger, freier Geist, er ist Gott.«1832 Die Welt als Ganzes, mit ihren beiden Seiten, dem Sensiblen und dem Geistigen, ist demnach eine Erscheinung Gottes und ohne ihn nicht existent. »Die Welt ist – nicht etwas neben Gott, sondern – die Enthüllung und die Befähigung zur Wahr-
1828 Religion des Geistes, S. 18f. 1829 Religion des Geistes, S. 19f. 1830 S.oben, Kap. Traditions- und Religionskritik, III, 5.3. 1831 Religion des Geistes, S. 21. 1832 Religion des Geistes, S. 20.
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Judentum als Religion des Geistes – Salomon Formstecher
nehmung göttlicher Eigenschaften oder Attribute. Demnach: ohne Gott keine Welt, aber nicht: ohne Welt kein Gott.«1833 Gott selbst existiert also auch ohne seine Erscheinung, das heißt ohne die Welt – Letzteres markiert die Differenz zu Spinoza.
4.
Natur und Geist
4.1
Natur und Geist, deren universale und individuelle Existenz
Alle Erscheinungen in dieser Welt, die mit den Sinnen wahrnehmbaren wie auch die geistigen des menschlichen Bewusstseins, sind, so hat das Vorangehende ergeben gleichermaßen Erscheinungen und Wirkungen der Gottheit. Sie kann so, sprich Gottheit, genannt werden, weil sie außer ihrer Funktion als Weltseele der sensiblen Welt zugleich die Seele der intelligiblen, das menschliche Selbstbewusstsein repräsentierenden Erscheinungen in dieser Welt ist. Als Träger der intelligiblen Phänomene in dieser Welt muss ihr, der Weltseele, alias Gottheit, eben auch ein solches Selbstbewusstsein und eine entsprechende Freiheit und Selbstbestimmtheit zugeschrieben werden wie ihrem Phänomen Mensch. Es stellt sich sodann angesichts der Herkunft beider, Natur und Geist, aus der einen göttlichen Weltseele die Frage nach dem ontologischen Verhältnis dieser beiden so unterschiedlichen Erscheinungen der Weltseele in dieser Welt. An dieser Frage wird sich das Verhältnis von gesetzmäßigem und kontingentem, unberechenbarem, Geschehen in dieser Welt wie auch die Frage nach der menschlichen Freiheit im Verhältnis zur göttlichen Bestimmung des Weltverlaufes entscheiden. Bei jeglicher Betrachtung weltlicher Verhältnisse gilt es laut Formstecher als erstes zu beachten, dass alles, was sich in dieser Welt zeigt, in ein doppeltes Koordinatensystem eingespannt ist, welches entsprechend unterschiedliche Beurteilungen des Geschehens an und mit dem einzelnen Ding zur Folge hat. Jedes einzelne Ding in dieser Welt ist zum ersten ein Teil des gesamten universalen Lebens dieser Welt, dem es angehört, und zum zweiten ist es ein Individuum, das sein eigenes Leben lebt. Das heißt alles in dieser Welt hat in einer doppelten Weise am Leben teil, zunächst als Universalleben und sodann als Individualleben. Dies gilt für die physischen wie für die geistigen Dinge gleichermaßen. Die Teilnahme eines Individuums am Universalleben zeigt sich zum Beispiel an seiner Gattungszugehörigkeit, und für die Gattung gilt das Bestreben der Erhaltung der Gattung, die Vorrang vor dem Individuum hat. Demgegenüber hat nun auch
1833 Religion des Geistes, S. 20f.
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das Individuum das Bestreben der Selbsterhaltung.1834 Diese beiden Bestrebungen können sich natürlich decken, müssen aber nicht, ja sie können sogar in Widerspruch zueinander treten. Wenn nun der Mensch die Welt betrachtet, um sie zu verstehen, muss er sie unter beiden Gesichtspunkten anschauen. Er wird auf beiden Ebenen, auf der universalen, wie auf der individuellen, jenseits der Einzelereignisse, regelmäßige und wiederkehrende Abläufe erkennen. Solche regelmäßigen Darstellungsweisen des Lebens nennt man Gesetz. Der Mensch erkennt demnach Gesetze auf der universalen wie auf der individuellen Ebene der Weltgeschehnisse. Beide müssen nicht notwendigerweise miteinander übereinstimmen. Komplizierend kommt hinzu, dass solche gefundenen Gesetze eben nur aus der Beobachtung durch den Menschen erschlossen sind, weshalb diese Gesetze nur subjektive nicht aber objektive Geltung haben. Das heißt die sichtbaren Gesetze des Weltgeschehens sind Gesetze, die sich dem Menschen so darstellen, sie müssen aber zum Beispiel aus »göttlicher Sicht« nicht so sein. Darum sagt Formstecher: »Eine jede Erscheinung, als Manifestation beider Lebensformen [der universalen und der individuellen], unterliegt den Lebensgesetzen, welche das menschliche Denken sich gebildet hat, sie erscheinen uns, subjectiv aufgefaßt, als ein Product der Nothwendigkeit.«1835 Aus dieser kantischen Relativierung der Naturgesetzlichkeit als vom menschlichen Wahrnehmungsvermögen abhängiger Gesetzlichkeit zieht Formstecher nun einen ersten Schluss hinsichtlich unseres Weltverständnisses. Oben wurde ja schon deutlich, dass der Gottheit, welche Träger allen Weltgeschehens ist, Selbstbewusstsein und Freiheit zugesprochen werden muss, eine Aussage die recht eigentlich im Gegensatz zu jeglicher Annahme von Naturgesetzen steht. Dieser Gegensatz ist nun aufgehoben durch die Relativierung der Naturgesetze als von der menschlichen Beobachtung abhängig. Darum gilt hinsichtlich der vom Menschen wahrgenommenen Abweichungen von den Gesetzen des Weltverlaufes: »Eine jede Anomalie, welche wir bei den Erscheinungen statuiren, ist nur subjectiv eine solche, weil die ganze Nothwendigkeit eine subjective ist; objectiv aber ist eine jede Erscheinung eine Folge der göttlichen Freiheit und eine Freiheit hat keine Anomalien. Auch kann eine Erscheinung eine Anomalie sein, nur insofern sie den Gesetzen des Individuallebens widerspricht, 1834 Religion des Geistes, S. 23. 1835 Religion des Geistes, S. 24.
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während sie als Theilnahme an dem Universalleben als eine ganz normale Erscheinung genannt werden müßte.«1836 Es gibt nach Formstecher verschiedene Hinsichten auf die Welt, die teilweise eine Gesetzlichkeit erkennen lassen, eine Gesetzlichkeit, die sich aber durch die Betrachtung der nächst höheren Stufe wieder auflöst. Mit dieser Konzeption hat Formstecher den Widerspruch von Naturgesetzlichkeit und Geistesfreiheit in der Erscheinungswelt recht eigentlich aufgelöst. Denn, als Natur bezeichnen wir jene Abläufe, in welchen wir eine solche Gesetzlichkeit erkennen. Diese aber ist, so wurde nun deutlich, nur eine relative, sie widerspricht auf der nächst höheren Ebene nicht einer widerläufigen Gesetzlichkeit oder gar einer Freiheit. Nach dieser Relativierung der Naturgesetzlichkeit kann Formstecher nun auch gelassen die in der irdischen Erscheinungswelt sichtbare Freiheit erörtern. Sie ist die Freiheit des Geistes. Der Geist des Menschen kann die Naturgesetzlichkeit beider Ebenen, der universalen wie auch der individuellen aufheben, er entspricht damit der Freiheit des göttlichen Geistes.1837 Es gibt aber noch eine weitere Verklammerung von Natur und Geist. Der Mensch gehört qua Geist zwar nicht der Natur, aber doch dem gesamten Erdorganismus an. Und insofern ist sein Menschengeist der ihm menschliches Selbstbewusstsein schenkt, zugleich auch Erdgeist, welcher der Erde demnach irdisches Selbstbewusstsein verschafft. Das bedeutet des Weiteren: Wenn der Mensch die Geschehnisse der Erde beobachtet und aus ihnen die Naturgesetze ableitet, so ist dieser Erkenntnisprozess zugleich ein Prozess der irdischen Selbsterkenntnis. Die Erkenntnisbilder, welche der Mensch aus der Beobachtung der Erdgeschehnisse gewinnt, sind nach alledem nicht fremde an die Erde herangetragene Bilder, sondern sie sind Bilder, welche der menschliche Geist als Teil des Erdorganismus, als Erdgeist aus sich schöpft und an sich selbst als Erde erkennt – oder platonisch ausgedrückt: diese Bilder der Naturgesetze »müssen, als dem Geiste eigenthümliche, ihm ursprüngliche Gedankenbilder oder Ideen betrachtet werden.«1838 Diese eingeborenen Ideen, oder wie Formstecher auch sagt, Ideale, sind es, welche dem Menschen die Wahrheit seiner Weltbeobachtung verbürgt: »hat aber der Menschengeist die regelmäßige Erscheinung als Gesetz wahrgenommen, dann wird er sich auch des ursprünglichen Gedankenbildes bewußt, welches er als Selbstbewußtsein der Erde besitzt; er findet für das durch die Wahrnehmung gewonnene Gesetz in sich ein angeborenes Ideal, 1836 Ebd. 1837 Religion des Geistes, S. 26. 1838 Religion des Geistes, S. 27.
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einen Maaßstab, nach welchem er die Erscheinungen der Außenwelt beurtheilen und sie durch das Identisch-Finden mit diesen Urtypen zur objectiven Wahrheit erheben kann. – Eine Welt apriorisch construiren zu wollen, ist eine Selbsttäuschung, weil ohne Erfahrung unser Bewußtsein, des Objectes entbehrend, leer und gehaltlos bleibt; die rein empirische Erkenntniß, mit Abläugnung aller angeborenen Ideen, bleibt immer nur ein subjectives Fürwahrhalten und entbehrt jeder objectiven Begründung.«1839 In dieser Tätigkeit des Aufsuchens und Bestätigens der gefundenen Gesetze an den eingeborenen Ideen erweist sich der Menschengeist in seinem »Universalleben« als Selbstbewusstsein der Erde. Und es ist diese Eigenschaft des Menschengeistes als irdischer Erdgeist, als irdisches Selbstbewusstsein, welcher ihn zur Kunst und Naturwissenschaft befähigt, denn: »Die Kunstschöpfung ist somit nicht eine der Natur entgegengesetzte Wirklichkeit, sondern sie ist die Natur in einer höheren Potenz, sie ist die Fortsetzung der nothwendigen Naturgesetze, sie ist der mit Bewußtsein sich selbst vollendende Erdorganismus. Die Kunstschöpfung ist die Realisirung des Ideals, welches das Erdbewußtsein von sich selbst besitzt; ist das Ideal mit klarer Deutlichkeit zum Selbstbewußtsein gelangt und entspricht ihm die Realisirung in allen ihren Nüancen, dann ist jene Schöpfung wahr und das dargebotene Schöne ist objectiv schön […]«1840 Die Kunstschöpfung wie die Wissenschaft ist demnach eine Art Selbstverwirklichung des Erdgeistes, dessen irdischer Träger der Mensch ist, es ist das Streben nach dem Ideal des Erdgeistes in Form von Erdgestaltung, Wissenschaft und Kunst. Die zu diesen beiden Betätigungen hinzugehörenden Wissenschaften sind die Physik, im Sinne von Naturwissenschaft, und die Ästhetik. Trotz dieser übergeordneten Verklammerung von Natur und Geist sind sie beide dennoch diametrale Gegensätze. Die Natur vollzieht sich mit unbewusster Notwendigkeit und zyklisch, der Geist hingegen bewusst nach den Idealen der Freiheit und auf einer voranschreitenden Linie. Im Gegensatz zur Natur ist der Geist das Unvollendete, das nicht Geschlossene, welches den Stoff zur Geschichte liefert. In Kunst und Wissenschaft begegnen sich Geist und Natur, insofern der Geist die Ideale der Naturgesetzlichkeit kennt und die Realität ihnen anpassen will.
1839 Ebd. 1840 Religion des Geistes, S. 28f.
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Die Wirkungen des Geistes in dieser Welt – Wissenschaft und Offenbarung, Ästhetik und Ethik
4.2.1 Die Wissenschaft Der Geist erscheint in der Welt ebenso wie die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, das wurde oben schon gesagt, als Teilhaber zweier Lebensebenen, nämlich als Teil des Universal- und als Teil des Individuallebens. In beide Lebensformen des Geistes in der Welt ist natürlich der Mensch involviert, denn er ist der Träger des in der Welt wirkenden Geistes. Das Selbstbewusstsein des Geistes in seinem Universalleben verwirklicht sich in dieser Welt in einer doppelten Weise: Da ist zum einen die Erkenntnis des Bestehenden, schon Realisierten, und zum anderen das erst noch zu Realisierende, das heißt das Ideal. Das schon Realisierte der Natur zeigt sich in den Naturgesetzen, während das zu erreichende Ideal das Schöne ist. Beiden Erkenntniszielen ist eine Wissenschaft zugeordnet, der Erkenntnis der bestehenden Naturgesetze die Wissenschaft von der Natur, das heißt die Physik im Sinne der allgemeinen Naturwissenschaften, wohingegen die Erkenntnis des »Schönen« in der Wissenschaft der Ästhetik gesucht wird. In diesen beiden Wissenschaften, in der Physik und in der Ästhetik, erkennt sich die Welt selbst in ihrer Wirklichkeit und nach ihrem Ideal. Dies ist der Selbstbewusstseinsakt der Welt, in welchem sie das Wissen um sich selbst erlangt, dank des Universallebens des Geistes in dieser Welt. Auch in seinem Individualleben erweist sich das Wissen des Geistes um sich selbst in doppelter Weise und zwar wiederum als Erkenntnis des Realisierten und als Erkenntnis des zu erlangenden Ideals. Die erste Weise, die Erkenntnis des Bestehenden, ist das Wissen um die eigene Erkenntnisfähigkeit und -Methode oder die Denkgesetze des Geistes. Die dafür zuständige Wissenschaft ist die Wissenschaft der Logik. Die zweite Weise, in welcher sich der Menschengeist selbst erkennt, ist die Erkenntnis seines Ideals, das es zu verwirklichen gilt, und dieses Ideal ist das Gute. Die Verwirklichung dieses Ideals geschieht in der Freiheit des Menschen, und das heißt im freien Handeln. Dieses freie Handeln des Menschen soll nun, im Gegensatz zum Naturgeschehen, nicht nach den Naturgesetzen erfolgen, sondern nach dem Sittengesetz. Die hierzu gehörige Wissenschaft ist die Wissenschaft der Ethik. Das heißt also, im Menschen, der die Natur, deren Gesetze und Schönheit erforscht, äußert sich das Universalleben des Geistes in der Welt. Im Menschen hingegen, der seine eigene Denkfähigkeit und seine Handlungsweisen erforscht, äußert sich das Individualleben des Geistes in dieser Welt. In beiden Lebensbereichen des Geistes werden je zwei Objekte erforscht, nämlich zum einen das Realisierte und zum anderen das Ideal. Beide Forschungsbereiche der beiden Lebensformen des Geistes befassen sich also mit den beiden Forschungsgegenständen, das heißt mit der Wirklichkeit der verwirklichten Erscheinungen in dieser
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Welt, sei es im Bereich der Natur (die Naturgesetze), sei es im Bereich des Geistes (die Gesetze der Logik), und außerdem mit den beiden Bereichen, Natur und Geist, zugehörigen Idealen, dem Schönen (Ästhetik) und dem Guten (Ethik). Dies ist das doppelt gedoppelte Leben des Geistes in dieser Welt. Zusammenfassend sagt dies Formstecher einmal kurz so: »Logik und Ethik sind dem menschlichen Individualleben das, was Physik und Ästhetik seinem Universalleben sind, denn die Logik gibt den Geist nach seiner Erscheinung, die Ethik aber nach seinem Ideale.«1841 Das menschliche Denken und Forschen in dieser Welt, das heißt das Agieren des Geistes, vollzieht sich demnach in beiden Bereichen, der Natur- und der Geisteswissenschaft, im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Ideal. Das Maß, in welchem Wirklichkeit und Ideal übereinstimmen ist das Maß, mit welchem der Mensch in beiden Bereichen, dem Universalen wie dem Individuellen, seine Prädikate vergibt, ob er etwas als »schön« und als »gut« benennt: »Die Erscheinung, sowohl in der Natur als in der Kunst, welche mit dem Ideale des Universallebens des Geistes übereinstimmt, benennt er schön, und diejenige, welche mit dem Ideale des Individuallebens übereinstimmt, heißt er gut; schön und gut sind also Prädicate, welche den Erscheinungen beigelegt werden, sobald sie dem relativen Ideale adäquat sind […]«1842
4.2.2 Die Offenbarung Nachdem Formstecher diese Tätigkeitsfelder des Geistes in der Welt beschrieben hat, kann er erste Blicke auf den Bereich der Religion tun, die ja in dieses System geistiger Aktivitäten hineingehört. Denn mit ihrer Hilfe kann nun Formstecher den für die Religion, speziell natürlich für die jüdische Religion, zentralen Begriff der »Offenbarung« erklären. Demnach stellt sich die Frage, woher der menschliche Geist, der vor Augen ja nur das Verwirklichte, die Natur- und Logik-Gesetze hat, woher er also um das Ideal in beiden Lebensbereichen des Geistes weiß. Woher kennt der menschliche Geist das Ideal des Schönen und woher das des Guten? Die Quelle für die Erkenntnis des Schönen ist naheliegend. Es ist die Betrachtung der Natur, aus welcher der Geist das Ideal des Schönen erschließen kann. Dies ist so, weil dieses Ideal bei der Schöpfung der Natur in diese selbst hineingelegt war. Es ist also
1841 Religion des Geistes, S. 30. 1842 Ebd.
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die Schöpfung der Natur, mit der das Ideal des Schönen in die Welt gegeben war, allerdings noch verborgen. Darum ist es die Aufgabe des Geistes aus der Betrachtung der Natur das Ideal des Schönen sukzessive zu erkennen. Wenn nun aber das Ideal des Schönen durch die Schöpfung, das heißt durch die Realisierung der Weltseele, in diese Welt gekommen ist, so muss es auch für die Präsenz des Ideals des Guten in der Welt einen Schöpfungsakt gegeben haben. Und da die Weltseele als Natur und Geist in der Welt in Erscheinung getreten ist, liegt es nahe, dass es die Schöpfung des Geistes war, die in analoger Weise das Ideal des Guten in der Welt erscheinen ließ. Das heißt so wie mit dem Erscheinen der Natur in der Welt das Ideal des Schönen in die Welt gekommen war, so ist mit dem Erscheinen des Geistes in der Welt das Ideal des Guten in die Welt gekommen: »Der Geist weiß, daß er ein Ideal des Schönen besitzt, weil die Natur die Elemente des Schönen darbietet; die Natur ist das wahrnehmbare Object, durch dessen Auffassung das Ideal zum Selbstbewußtsein gelangt. Ebenso aber bedarf auch das Ideal des Guten eines wahrnehmbaren Objects, welches der leeren Form des Ideals Stoff gibt. […] Neben der Schöpfung für das Ideal des Schönen muß deshalb auch eine Schöpfung für das des Guten da sein; der Träger des Weltalls [d.h. die Weltseele] muß sich im Erdorganismus nicht nur als das Schöne, sondern auch als das Gute manifestiert haben. Das Object des Schönen legte er in die Natur und das des Guten legte er in den Geist.«1843 Soweit zeichnete Formstecher eine Ontologie des gesamten Seins, welches aus der einen Quelle, der Weltseele, in Erscheinung tritt und sich dabei in Natur und Geist trennt. In dieser dualistischen Erscheinungsweise des absolut Einen werden neben den realisierten Gesetzlichkeiten (Naturgesetz und Denkgesetze/Logik) auch die zu erstrebenden Ideale, das Schöne und das Gute, zur Erkenntnis für den menschlichen Geist angelegt. Ziel des Geistes wird es sein, wie später noch darzulegen ist, diese Ideale zu erkennen und in Einheit zu verwirklichen. Doch bevor wir diese Linie weiterverfolgen, muss auf den entscheidenden Schritt eingegangen werden, den Formstecher an dieser Stelle seiner Darlegungen unternimmt. Es ist an dieser Stelle seiner »Schöpfungs-Ontologie«, an der er den zentralen religionsphilosophischen Gedanken verankert, nämlich seine Lehre von der Offenbarung. Es ist gerade dieser Akt der Schöpfung des Guten als Ideal, welchen er mit der Offenbarung identifiziert. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dieser Akt nicht die gewöhnliche Offenbarung in der Geschichte ist, sondern die vorhistorische absolute Ur-Offenbarung, die damit ein für allemale in der Welt ist. 1843 Religion des Geistes, S. 32.
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»Die Schöpfung des Guten liegt nur im Geiste, sie wurde ihm als Object für das Ideal des Guten gegeben, dessen er sich bewußt werden soll. Diese Manifestation des Urseins, als Schöpfung des Guten, ist diejenige, welche allgemeine Offenbarung genannt wird, sie ist im anthropomorphistischen Ausdrucke: die von Gott in den Menschengeist gelegte Mitteilung dessen, was gut ist. Sowie also der Inhalt der Natur die Manifestation des objectiv Schönen ist, welches im Geiste als Ideal zum Bewußtsein gelangt, und welches immer klarer erkannt wird, je klarer das Ideal ohne alle unwesentlichen Zufälligkeiten sich darstellt; so ist der Inhalt des Geistes die Manifestation des objectiv Guten; auch dieses kömmt im Geiste als Ideal zum Bewußtsein und wird ebenfalls immer klarer erkannt werden, je mehr es sich als Erscheinung verwirklicht. Die Schöpfung des Guten ist, wie die Schöpfung des Schönen, als Position des Urseins objectiv vollendet, die Offenbarung als Mitteilung Gottes kann darum nicht vollkommener werden, sowenig wie die Natur es kann; so wie aber die Natur immer mehr erforscht, so kann auch die Offenbarung immer deutlicher erkannt werden. Nicht die Offenbarung, wohl aber unsere Erkenntnis von derselben kann sich entwickeln […] Demnach: die objective Offenbarung, als das absolut Gute, ist vollendet und stabil, die subjective aber, als Object unseres Wissens, ist unvollendet und weiterschreitend.«1844 Damit ist gesagt, dass es zu Beginn der Schöpfung mit dem Erscheinen des Geistes die Uroffenbarung des Guten gab,1845 das unbewusst im Geiste ruht, lange bevor die so genannten historischen und relativen Offenbarungen geschahen, welche die je betroffenen Menschen ein Schrittchen näher an das Bewusstseins des Ideals der Uroffenbarung heranführt. Eine einmalig und definitive historische Offenbarung, in der ein für alle Male alles offenbart wurde, gar für die gesamte Menschheit, gibt es neben der vorhistorischen Uroffenbarung nach Formstecher nicht. Es gibt immer nur individuelle und partikulare Erkenntnisfortschritte, die meist chronologisch nicht fixierbar sind, weil sie sich oft über lange Zeiträume erstrecken.1846 Eine solche relative historische Offenbarung ist das subjektive Bewusstwerden der objektiv vorhandenen Uroffenbarung.1847 Diese partikularen Erkenntnisse des Ideals, der objektiven Offenbarung erlangt der Mensch nach und nach durch Anregung aus der Anschauung und Erfahrung, weshalb solche partikularen Offenbarungen auch stets zeitgebunden und zeitbedingt sind.1848 Die für das Judentum traditionellerweise zentrale und einmalige
1844 Religion des Geistes, S. 32f. 1845 Und vgl. Religion des Geistes, S. 53. 1846 Religion des Geistes, S. 54. 1847 Religion des Geistes, S. 53. 1848 Religion des Geistes, S. 54.
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Offenbarung am Sinai ist also im Grund nur eine dieser Partikularoffenbarungen und muss in ihrer möglichen Besonderheit anders erklärt werden, was später noch geschehen soll. An dieser Stelle ist zunächst noch ein weiterer für die jüdische PhilosophieGeschichte wichtiger Punkt zu nennen, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Die Vernunft ist nach Auffassung von Formstecher zunächst eine neutrale Fähigkeit des Menschen eine Art intellektuelle libido, die aber nichts aus sich selbst schöpfen oder kreieren kann. Um aktiv zu werden, braucht die menschliche Vernunft erst Objekte, an denen sie sich erweisen kann. In der Naturwissenschaft geschieht dies derart, dass zunächst der menschliche Verstand, der nicht mit der Vernunft identisch ist, aus der Betrachtung und Vergleichung der Naturabläufe die dort sichtbaren Regeln erkennt. Erst danach kann die Vernunft tätig werden und das erarbeitete empirische Material des Verstandes mit den ihr gegebenen Idealen vergleichen. Das heißt, ohne die Anschauung der Natur und ohne das mit der Naturschöpfung gegebene Ideal ist die menschliche Vernunft leer und tätigkeitslos. Und Entsprechendes gilt für das Gute und dessen Ideal. Resümierend sagt daher Formstecher: »Vernunft und Offenbarung sind ganz verschiedenartige Manifestationen des Geistes. Die Vernunft ist inhaltslos und kann das wahrgenommene Gute wohl beurtheilen, aber nicht schaffen; die Offenbarung ist an sich der Inhalt des Guten und ist eine fertige, reele, geistige Schöpfung. Die Vernunft ohne Offenbarung ist eine menschliche Seelenkraft, welche aber ohne Object des Guten für das Gute, ohne darum nothwendig zugleich auch für das Schöne, unthätig schlummert und keine Spur ihres Daseins gibt; die Offenbarung ohne Vernunft ist objectiv da, ohne subjectiv erkannt zu werden; für den Menschengeist müssen darum beide verbunden sein, die Offenbarung gibt der Vernunft für das Ideal des Guten einen Inhalt und die Vernunft bringt die objectiv gegebene Offenbarung zum Bewußtsein und vermittelt dadurch die objectiv im Geiste liegende unwahrnehmbare Offenbarung zur wahrnehmbaren Erscheinung und das subjective Ideal zur objectiven Realität.«1849 Man erkennt hier eine Aufspaltung des mittelalterlichen Intellekts, der Schöpfer und Erkenntnismittler in einem war, in zwei unterschiedliche Kategorien. Der Geist ist die schöpferische Erscheinung aller nicht sensiblen Dinge in der Welt, während die Vernunft nur eine aus diesem Geist geflossene Erscheinung mit beschränkter Funktion ist. Die Offenbarung, die absolute objektive Uroffenbarung ist der »Schöpfungsakt« des Geistes, das Heraustreten des Geistes aus der Weltseele in die Realität dieser Welt. Der Offenbarungsakt ist ein universales Ereig1849 Religion des Geistes, S. 33f.
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nis des Geistes, während die Vernunft eine subjektive Kraft im Menschen ist, welche die objektiv gegebene Offenbarung zum subjektiven Bewusstsein bringt und damit Subjektives mit Objektivem Verbindet. Die im Laufe der individuellen und kollektiven Geschichte sich ereignenden historischen Offenbarungen sind laut Formstecher sukzessive Akte des Hervortretens des Uroffenbarungsaktes in das subjektive Bewusstsein der Menschen. Die Vernunft hat dabei allenfalls noch die Funktion, das historisch bewusst gewordene Detail am idealen Universal des Guten zu messen. Die Vernunft hat dieses Ideal nicht geschaffen und kann darum nicht zu ihm im Widerspruch stehen, sowenig wie der Krug zu dem Wasser, das man in ihn gegossen hat, im Widerspruch stehen kann. Die Vernunft ist das Gefäß, in welches der Inhalt der Offenbarung gegossen wird. Die Vernunft ist nicht mehr wie im Mittelalter in Gestalt des Intellekts eine transzendente Größe, sondern eine anthropomorphe Erscheinung des Geistes.
4.2.3 Das Ziel des Menschen und die Stufen der historischen Offenbarungen – Naturreligion und Religion des Geistes Die historischen Offenbarungen, welche die Individuen und auch ganze Kollektive erfahren, sind, wie schon gesagt, von unterschiedlicher Qualität. Alle aber sollen sie – und darin folgt auch Formstecher einem hier schon mehrfach begegneten Lessingschen Gedanken1850 – den Menschen zu seinem Ziel des Ideals erziehen. Dieses Ziel ist es, die Dualität von Natur und Geist in dieser Welt zunächst zu erkennen, um sie hernach in einer höheren Einheit wieder zusammenzuführen. An der Fähigkeit, dies zu erreichen, sind die unterschiedlichen historischen Offenbarungen zu messen. Dies ergibt sich aus der folgenden Beschreibung des vom Menschen zu erreichenden Zieles und der dies vermögenden Offenbarung: »Zur absoluten Wahrheit kann nur diejenige Offenbarung gelangen, welche nicht nur das Ideal des geistigen Universal- sondern auch des geistigen Individuallebens zu realisiren strebt, welche also sowohl im Gebiete der Natur, als auch in dem des Geistes stehet, beide Seiten des Erdorganismus in ihrer Getrenntheit erkennt und das Ziel ihres Strebens darin findet, Natur und Geist durch den Geist zur harmonischen Einheit zu erheben.«1851
1850 Vgl. oben Kap. III, 3.4. 1851 Religion des Geistes, S. 59.
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Die historischen Offenbarungen des Geistes treffen den Menschen zunächst noch ganz im »Naturleben versunken« an.1852 Die Offenbarung wird darum, dem Menschen entgegenkommend, ihn nur in kleinen Schritten aus dieser Naturverfallenheit herausführen. Einer solchen ersten Offenbarung des Geistes wird es allenfalls gelingen, den Menschen dahin zu führen, dass »er in dem Geschöpf einen Schöpfer ahnte, die Natur vergötterte und sich ihr untergeordnet dachte.«1853 Diesen von einer derartigen Offenbarung erreichten Zustand des Menschen nennt Formstecher den »Naturdienst«. Dies ist die Form der Religion, welche die Natur nach ihren unterschiedlichen Seiten vergöttert, Steine und Bäume anbetet, geographische und astronomische Phänomene, dies ist der Geist der erst zu seinem Universalleben erwacht ist. Allerdings hat diese Form von Religion eine nur beschränkte Entfaltungsmacht, sie bleibt lange vor dem eigentlichen Ziel stehen. Denn: »Den höchsten Standpunkt hat der Naturdienst dann erreicht, wenn die Natur zur Erkenntnis und zur Realisirung ihres Ideals vermöge des Universallebens des Geistes gelangt ist; auf welcher Stufe der Mensch den Menschen, obgleich als der Natur höchstes Geschöpf, aber, weil er nur in dem Naturleben sich noch befindet, dennoch auch des Daseins höchstes Wesen erkennt. Auf dieser höchsten Stufe des Naturdienstes findet der Mensch seine eigene Apotheose, und die Bildsäule, welche dem Ideale des geistigen Universallebens, den objectiven Gesetzen der Ästhetik, entspricht, erkennt dann der Mensch als das Bild seines Zeus, des Gottes der Götter.«1854 Ziel der höheren Offenbarung muss es darum sein, den Menschen »aus seinem bewußtlosen Naturzustande zum bewußten Zustande des Geisteslebens heranbilden«1855 Aus dem Gesagten folgt allerdings, dass es dem »Entwicklungsgang des Geistes«1856 entspricht, dass in der menschlichen Entwicklung der Naturdienst immer an erster Stelle steht, bevor er durch die nächst höhere Stufe, den Geistesdienst abgelöst werden kann. Dieser Geistesdienst ist, wie gesagt, zunächst die Herausführung des Menschen aus seiner Naturverfallenheit und Naturverehrung hin zum Geistesdienst, der natürlich, wie aus dem oben schon Gesagten sich wie von selbst ergibt, nichts anderes ist, als das Verfolgen des Guten. Das Verfolgen des Guten bedeutet allerdings nicht zugleich eine Verwerfung der Natur, denn diese ist ja wie der Geist eine göttliche Erscheinungsweise in der Welt, sondern
1852 Religion des Geistes, S. 57. 1853 Religion des Geistes, S. 57f. 1854 Religion des Geistes, S. 58. 1855 Religion des Geistes, S. 60. 1856 Religion des Geistes, S. 61f.
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es bedeutet die sachgerechte Integration der Natur unter das Bestreben zum Guten: »Denn hat der Geistesdienst seinen Culminationspunkt erlangt, vermag er das Ideal seines Individuallebens zu erkennen und darzustellen, dann realisirt er das objectiv Gute; dieses aber bestehet in der Aussöhnung der Natur mit dem Geiste durch den Geist, in dem Momente nämlich, in welchem der Erdorganismus im Menschen sich selbst als Einheit weiß und durch die ethische Harmonie seiner Handlungsweise als solche sich darstellt. Auf dem Culminationspunkte des Geistesdienstes wird die historische relativ wahre Offenbarung eine historisch absolut wahre, denn dann ist das Wissen des Menschengeistes um die gegebene vorhistorische Offenbarung als um den Inhalt seines eigenen Selbstes, das Wissen um die darzustellende Bestimmung seines eigenen Lebens. – Jemehr der Geistesdienst fortschreitet, desto mehr kann er sich, nicht mit dem Naturdienste, aber doch mit der Natur, als wesentlichem Theile der Erdmonade, befreunden, desto mehr wird er sie in ihrem Rechte lassen, aber ihre Triebe durch das Aufprägen des ethischen Geistesstempels veredeln und sie von dem rohen animalischen Bewegen zu dem geläuterten humanen Leben emporheben.«1857 Abschließend muss vermerkt werden, dass der Naturdienst wegen der Vielfältigkeit der Naturphänomene sich natürlicherweise als Polytheismus manifestiert, während der Geistesdienst, angesichts der gestaltlosen Einheit des Geistes, sich am vollkommensten in einem »strengen Monotheismus« darstellt.1858 Mit dieser Aussage ist auch schon alles gesagt, wie Formstechers Religionsphänomenologie aussieht, nämlich als eine Dualität von Polytheismus und Monotheismus, worauf im Folgenden einzugehen ist.
4.2.4 Der Mensch als mixtum compositum aus Natur und Geist »Als Theilnehmer an beiden Manifestationen des Absoluten auf Erden tritt der Mensch auf in der unendlichen Reihe der Erscheinungen. Durch sein Treten in das Dasein, durch sein Verweilen in demselben und sein Scheiden aus demselben zeigt er das Gepräge der Natur, muß er willenlos deren feststehenden Gesetzen sich unterwerfen; durch seine Sichselbstbestimmung aber und durch sein freies Wirken und Schaffen erhebt er sich über alle feststehenden Naturnormen, vermag er die Natur an seinem ich zu beherrschen, sie
1857 Ebd. 1858 Religion des Geistes, S. 60.
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zu gewöhnen und sogar zu zernichten, manifestirt er den Geist. – Freiheit und Selbstbestimmung ist der Charakter des Geistes […]«1859 Diese Beschreibung der conditio humana, mit welcher Formstecher sein Kapitel über den Menschen als dem Träger des Geistes eröffnet, ist ein fernes Echo an den rabbinischen Midrasch von der Erschaffung des Embryo, der hier im ersten Band1860 ausführlich besprochen wurde. Auch nach diesem rabbinischen Midrasch waren dem Menschen zwei sich eigentlich widersprechende Grundbedingungen seines Daseins auf der Welt in die Wiege gelegt worden. Dort heißt es, dass Gott im Himmel über den Menschen entscheidet, ob er männlich oder weiblich, ob schwach oder stark, ob arm oder reich, klein oder groß und dergleichen werden sollte. Nicht aber wurde entschieden, ob er ein »Gerechter« oder ein »Frevler« sein wird. Demnach ist das physische Ergehen des Menschen von vorneherein für ihn festgelegt, während ihm hingegen die ethische Freiheit gegeben ist. Also auch hier im rabbinischen Midrasch ist von einer festen Vorgabe für den Menschen und zugleich von einer ihm geschenkten Freiheit die Rede. So weit gehen die innerjüdischen Gemeinsamkeiten, der Rest ist grundlegende Differenz. Der erste Unterschied liegt darin, dass die menschlichen Festlegungen im rabbinischen Midrasch willkürliche Festlegungen desselben Gottes sind, der dem Menschen zugleich die Freiheit schenkt. Diese Festlegungen sind von Mensch zu Mensch verschieden, je nach dem Willen Gottes. Bei Formstecher hingegen erfolgt die Festlegung des Menschen, und zwar aller zugleich durch die Natur. Individuelle oder kollektive Differenzen werden wiederum durch die Natur bewirkt, durch die unterschiedlichen Klimate, die unterschiedliche Herkunft, in Familie und Volk, und dergleichen natürliche Vorgaben des menschlichen Individuums. Während die Festlegung nach rabbinischem Denken ein voluntatives Element, den göttlichen Willen, für jeden einzelnen Menschen voraussetzt, gibt es nach Formstecher für alle Menschen gleichermaßen nur die Natur. Auch beim zweiten Element zeigt sich eine deutliche Verschiebung. Zwar gibt es hinsichtlich der Gabe der Freiheit auch nach rabbinischem Verstand nur die eine gleiche Gabe der ethischen Freiheit für alle Menschen, aber auch sie wird von dem persönlichen Gott erteilt. Bei Formstecher ist es wiederum eine innerweltliche Erscheinung, welche dem Menschen die Freiheit gewährt oder zur Auflage macht, der Geist. Alles was für die Rabbinen vor dem göttlichen Thron entschieden wurde, ist nun Wirkung der beiden innerweltlichen Erscheinungen, Natur und Geist, die, das muss nun allerdings hinzugefügt werden, beide gleichermaßen Erscheinungen des überweltlichen Einen sind, in dem die beiden Differenzen in einer einzigen Identität zusammenfallen, eine Formulierung, die sich wiederum in 1859 Religion des Geistes, S. 153. 1860 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263ff.
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gleicher Verwendung bei Schelling in seinem System des transcendentalen Idealismus finden.1861 Neu ist bei Formstecher nun auch, dass die beiden Vorgaben der menschlichen Existenz zwar Gegensätze sind, die sich aber im gelungenen Leben des Menschen nicht gegenseitig ausschließen sollen. Im rabbinischen Midrasch stehen die beiden Bereiche unverbunden nebeneinander, das eine soll vom andern nicht tangiert werden, während nach Formstechers Konzeption beide Bereiche unbedingt zusammengehören und zwar in einer dialektischen Weise. Da ist zunächst die entwicklungspsychologische Vorgabe, die für das Individuum wie auch für die Volkskollektive gleichermaßen gilt. Nach ihr beginnt das individuelle Leben, wie auch das der Völker, mit einer unbewussten Verbundenheit beider Elemente, ihr Unterschied, ja ihr kategorialer Gegensatz wird nicht erkannt, mit der Folge, dass der Mensch in einer Art paradiesischem Urzustand der Schuldunfähigkeit und Schuldlosigkeit lebt,1862 dies ist die Stufe der Natur und gleicht dem der Tiere.1863 Dieser Zustand wird von Formstecher zuweilen als die Epoche des »Gefühls« beschrieben, die hernach durch die des »Verstandes« abgelöst werden soll.1864 Diese Epoche der Schuldlosigkeit und nicht vorhandenen Selbstbewusstseins des Geistes ist aber nicht das vom Menschen zu erstrebende Ziel. Vielmehr muss der nächste Schritt der sein, dass die Differenz, ja der Widerspruch von Natur (= Vorbestimmtheit) und Geist (= Freiheit) vom Menschen erkannt wird, das heißt, dass der Geist zum Selbstbewusstsein gelangt. Dies ist das »Essen vom Baum der Erkenntnis«, das Wissen um die Differenz.1865 Dies ist eine Entwicklung, welche der einzelne wie die Völker durchschreiten müssen, sie gehört zu den notwendigen Stufen der Entwicklung des Geistes:1866 »Der Mensch stand in der antiken Zeit in der Sphäre des Gefühls, wodurch er, noch mehr dem Naturleben angehörend, seine einzelnen Völkerracen, gerade wie die Natur ihre einzelnen Geschlechter, zu vertheidigen strebte. Je mehr aber der Mensch aus der Sphäre des Gefühls in die des Verstandes und der Vernunft sich erhebt, desto mehr gewinnt sein Geist an Macht über die Natur und desto mehr bemühet er sich, die fatalistischen Gesetze der bewußtlosen Natur aufzugeben und den vernünftigen Institutionen des freien Geistes zu huldigen. Die Naturgebilde müssen willenlos den gegebenen Gesetzen
1861 Tübingen 1800; digitalisierte Version im Internet bei Google. 1862 Religion des Geistes, S. 52. 1863 Religion des Geistes, S. 159. 1864 Z. B. Religion des Geistes, S. 132. 1865 Religion des Geistes, S. 48. 1866 Vgl. Religion des Geistes, S. 161 und öfters.
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sich fügen und in ihren einzelnen Geschlechtern separatistisch sich abschließen; der Mensch aber, der Träger des freien Geistes, muß seine Freiheit gerade darin zeigen, daß er die separatistischen Naturfesseln nach und nach bricht, jeden Kastengeist, im Volke sowohl als in den Völkern, verbannt, bis er endlich diejenige Höhe erreicht hat, auf welcher alle Menschen, dem Ideale des geistigen Individuallebens folgend, als Geschöpfe des Geistes und nicht mehr als solche der Natur auftreten.«1867 Allerdings muss betont werden dass mit dem Abwerfen der Naturfesseln und der Befreiung des Geistes nicht einer Naturfeindlichkeit das Wort geredet werden soll. Die Erkenntnis der Differenz von Natur und Geist ist der zweite Schritt der Dialektik, der in einem dritten in die Einheit zurückzuführen ist. Die Natur ist ja auch göttlich, wie der Geist, böse ist sie nur, wenn sie den Menschen beherrscht und dieser nicht vermag, die Geistesfreiheit wider den Naturzwang durchzusetzen. Ziel muss es darum sein, dass der Natur ihr Ort zugewiesen wird, dass sie sich im Menschen der Freiheit des Geistes beugt. Es ist die Aufgabe des Menschen, »Natur und Geist als Gegensätze aufzulösen, sie auf eine solche Weise zur Identität zu bringen, daß keiner von Ihnen untergehe, ist das Ideal, das der Menschengeist zu realisiren strebt, ist die Aufgabe unserer Bestimmung. Wenn Natur und Geist in dem Menschen eine Einheit bilden unter der Herrschaft des Geistes, dann dürfen wir sagen, Mensch ruhe aus von deinem Streben, du hast deine Bestimmung erreicht, du stehst auf dem Culminationspunkt deiner Vollkommenheit. So lange aber beide Gegensätze als solche sich erhalten wollen, so lange der Körper durch sein Sichgeltendmachen den Geist unterdrückt, oder der Geist, in seinem Gegensatze beharrend, die Abtödtung der Sinnlichkeit fordert, so lange ist der Erdorganismus noch nicht zum Bewußtsein seiner Einheit gelangt, so lange ist er noch unvollkommen, unvollendet. Im vollkommenen Menschen darf die Natur nicht untergegangen sein, denn als wesentlicher Theil des Erdorganismus ist sie göttlich, aber sie muß veredelt und vergeistigt dastehen und in ihren Thätigkeiten zeigen, daß sie zum Selbstbewußtsein gelangt ist und zwar durch den Geist, weßhalb sie auch das Gepräge desselben tragen und sich ihm gänzlich unterwerfen muß.«1868 Es ist das Ziel der Entwicklung des Menschengeistes in der Geschichte, den Dualismus von Natur und Geist in der höheren hierarchisch geordneten Einheit 1867 Religion des Geistes, S. 132f. 1868 Religion des Geistes, S. 48f.
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zu überwinden.1869 Dies wird das messianische Zeitalter sein, in welchem die Menschen friedlich miteinander leben werden, die Selbstsucht dem Altruismus gewichen sein wird. Solange dieser Zustand noch nicht erreicht ist, bannen die Menschen dieses Ideal in Bilder, welche ihrem jeweiligen Erkenntnisstand entsprechen. Selbst die Naturreligion schildert das Ideal der Zukunft in einem solchen goldenen Zeitalter und man kann sagen, dass die tradierten Bilder vom endzeitlichen Naturfrieden und den Naturwundern, wie sie in der Bibel und in Teilen der rabbinischen Literatur geschildert werden, noch der niedrigeren Stufe der Naturreligion angehören: »Das Heidenthum in seinem Mysterion setzt seinem freien Streben zum Ziel: Gott zu werden; jenes ersehnte goldene Zeitalter ist demnach dann eingetreten, wenn, wie dieß früher war, Götter auf Erden wandeln und herrschen, wenn diese keinen Feind mehr zu bekämpfen und zu besiegen haben, sondern das ganze All, dieser sichtbare Naturgott, den höchsten Frieden und die selige Harmonie darbietet. Das Judenthum aber, welches den Menschen niemals einen Gott, sondern nur dessen Ebenbild darstellen läßt, bevölkert, selbst dann wenn sein Messias erschienen ist, die Erde nur mit Menschen und nicht mit Göttern, aber mit vollkommnen und höchst veredelten Menschen. Das prophetische Phantasiebild von der Zukunft trägt deßhalb im Heidenthume mystisch-physisches, und im Judenthume rationalistisch-ethisches Colorith.«1870 Die prophetische Erkenntnis des Gefühls, welche die heiligen Schriften festhielten und für die nachfolgenden Generationen bewahrte, zeichnen also ein zeitbedingtes Zukunftsbild, in welchem das menschliche Ideal mit Bildern des Gefühls ausgemalt wird. In der Epoche der Vernunft muss deshalb das messianische Bild ein Bild der Abstraktion, das Bild einer durch Sittlichkeit und Ratio geprägten Gesellschaft, sein.
4.2.4.1 Unsterblichkeit und Auferstehung Nur als Beispiel dafür, wie Formstecher die bildlichen Traditionen der jüdischen Vergangenheit aus der Phase der niedrigeren Stufe der Erkenntnis in seine neue, vom Selbstbewusstsein des Geistes getragene Erkenntnis übersetzt, soll hier noch kurz ein Blick auf seine Erörterung der altjüdischen Redeweisen von der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung vom Tode geworfen werden. Sie
1869 Vgl. noch Religion des Geistes, S. 51. 1870 Religion des Geistes, S. 178.
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mag als Exemplum für die anderen Neukonzeptionen der traditionellen Glaubensgüter durch Formstecher dienen. Es ist nach Formstecher schon ein Element des Heidentums, wenn man überhaupt von einer Seele spricht. Dies ist genau so inadäquat wie die Gottheit zu beschreiben. Er sagt darum: »Das Heidenthum, welches wagt, seinen Gott zu schildern, darf es auch wagen, einen Theil desselben, die menschliche Seele zu beschreiben.«1871 Formstecher weist eine solche Redeweise für die fortgeschrittene Stufe der Religion des Geistes kategorisch ab und sagt: »das Judenthum dagegen, welches immer seinen Gott als unerforschliches Wesen lehrt, kann sich nicht anmaßen, einen Theil desselben, welcher wie er sinnlich unwahrnehmbar ist, erfassen zu können. Wenn das Heidenthum uns ein Bild von dem Wesen der menschlichen Seele aufstellt und ihm gemäß ganz ausführlich schildert: wie, und wo und wann dieselbe fortdauert, so muß das Judenthum über eine solche Relation ein strengstes Schweigen beobachten; es kann wohl andeuten, daß die Menschenseele, als der zum Selbstbewußtsein gelangte Geist, als solcher nicht aufhören kann, muß aber auf jedes nähere Schildern dieser Fortdauer gänzlich verzichten. – Das Heidenthum muß eine Unsterblichkeitslehre besitzen, das Judenthum aber kann eine solche nicht nachweisen, erkühnt es sich aber dennoch, eine solche aufzustellen, so kann es nur die ihm vom Heidenthume zugeführte Elemente an einander reihen und durch sein judaisirendes Colorit als exotische Pflanze acclimatisiren. -«1872 Formstecher will von der Seele und von der Unsterblichkeit alleine in den kategorien seiner Geist-Philosophie reden. Und so wie Gumpel Schnaber-Levison in diesem Zusammenhang von der Erhaltung der Energie gesprochen hat, so spricht Formstecher von der Erhaltung des Geistes, wie er auch, wieder mit SchnaberLevison, entsprechend die Auflösung der materiellen Teile des Menschen und deren Reintegration in anderen Wesenheiten beschreibt – ein wahrhaftes »Erde zur Erde und Geist zu Geist« – nichts geht in dieser Welt der doppelten Phänomene der Gottheit zugrunde.1873
1871 Religion des Geistes, S. 147. 1872 Ebd. 1873 Religion des Geistes, S. 145; und s.oben Kap. Haskala, II, 6.
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5.
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Heidentum und Judentum
Wiewohl in der bisherigen Darstellung gelegentlich der Begriff »Religion« verwendet wurde, sprach Formstecher in seiner Darstellung zunächst immer nur von Naturdienst und Geistesdienst. Der Grund dafür ist der, dass zum Begriff der »Religion« für Formstecher wie für Saul Ascher noch ein soziologisches Element hinzugehört. Das heißt, von Religion spricht er nur dort, wo die einzelnen »Diener« von Natur oder Geist, sich zu menschlichen Gemeinschaften zusammenschlossen, welche durch einen solchen gemeinsamen »Dienst« zusammengebunden waren. Von Religion kann man demnach nur dann sprechen, wenn eine gesamte Menschengruppe ein gemeinsames Ideal verfolgt, durch das gemeinsame Streben um eines der beiden genannten Ideale, dem des universalen oder individuellen Geisteslebens, zu verwirklichen: »Wenn dieses Wissen und dieses Streben, das nur im Menschen, als dem Träger des Geistes, stattfinden kann, bei einer ganzen Gesellschaft eins und dasselbe ist, so daß sie nur durch diese zwei Manifestationen des Geistes erst eigentlich zur Gesellschaft herangebildet und als solche geschaffen wird, und diese demnach das einende Band bilden, das die einzelnen Glieder derselben umschließt, so werden sie – dieses Wissen und dieses Streben nämlich – Religion genannt. Religion ist somit: das einer ganzen Gesellschaft gemeinschaftliche Wissen um ein Ideal und das Streben nach der Realisierung desselben. Die Religion darf darum nicht zu einer zufälligen, vom Eudämonismus erfundenen Institution des Geistes herabgewürdigt werden, vielmehr ist sie eine nothwendige, mit dem Geiste selbst gesetzte Erscheinung, weil ohne sie der Geist weder um seinen Inhalt weiß, noch zur Realisirung seines Ideals gelangen kann.«1874 In dieser Definition der Religion ist natürlich das seit Herder im deutschen Idealismus verbreitete Modell des Volksgeistes als des Ausdrucks der kulturell geistigen Grundkonstante der verschiedenen Völker wirksam geworden, was sogleich noch deutlicher werden wird. Man könnte geradezu sagen, das Modell des Volksgeistes ist hier zu einem Modell der Volksreligion geworden. Allerdings muss dies sogleich wieder eingeschränkt werden, weil Salomon Formstecher eben im Grunde nur zwei Religionen anerkennt, die, welche sich dem Naturdienst verschreibt, das ist das »Heidenthum« und die, welche sich dem Geistesdienst verschreibt und diese ist das »Judenthum«.1875 Allerdings ist es bezüg1874 Religion des Geistes, S. 63; zu Ascher s.oben Haskala, IV, 2 und 3. 1875 Dazu s. H.-M. Haußig, »Heidentum« und »Judentum« in der jüdischen Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in: Von Enoch bis Kafka. Festschrift für K.E. Grözinger zum 60. Geburtstag, hrsg. von M. Voigts, Wiesbaden 2002, S.43–53.
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lich des Heidentums laut Formstecher so, dass der Naturdienst in den verschiedenen Weltregionen durch die unterschiedlichen Klimate und Naturbedingungen jeweils regional verschiedene Ausprägungen erfährt, so dass hier unter dem Schirm des »Heidentums« zahlreiche Formen von »Naturdienst«, also »Volksreligionen« anzutreffen sind.1876 Der Grund, weshalb, abgesehen von der Binnendifferenzierung des Naturdienstes, dennoch nur von zwei grundlegenden Religionstypen zu reden ist, liegt natürlich darin, dass die Religion als Ausdruck des Geisteslebens eben nur zwei Typen kennen kann. Sie entsprechen dem Geistesleben in der Welt, das heißt der genannten Alternative von »universalem« und »individuellem« Geistesleben: »Ist die Religion das Wissen einer Menschengesellschaft um das Ideal und das Streben derselben zu realisiren, und ist der Inhalt des Geistes ein zwiefaches Ideal, so muß es auch, kann es aber auch nicht mehr, als zwei Religionen geben, nämlich eine Religion für das Ideal des Universal-, und eine für das des Individuallebens; erstere nennen wir Heidenthum, letztere Judenthum.«1877 Aus dieser Feststellung gibt es sodann eine ganze Reihe von Folgerungen und Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Religionsformen und natürlich auch die entscheidenden Unterschiede. Zu den Gemeinsamkeiten gehört unter anderem, dass jede dieser beiden Religionsformen ihren Anfang in einer so genannten »historischen Offenbarung« hat, dies ist der Augenblick, in welchem der Geist sein jeweilig bezogenes Ideal erkennt,1878 hinzu kommt das Verwenden von Symbolen und Emblemen zur Erinnerung an die Offenbarung und zur Realisierung des jeweiligen Ideals.1879 Hier allerdings zeigt sich bereits ein erster wichtiger Unterschied: Die Symbole und Embleme des Heidentums sind aus der Natur gewonnen, diejenigen des Judentums alleine aus dem Geist. Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit ist, dass jede der beiden Religionsformen sich ihr eigenes zum Bewusstsein gekommenes Ideal des Menschengeistes, also des Schönen für den Naturdienst und des Guten für den Geistesdienst, »zum Bilde von der Gottheit« ausmalt,1880 was allerdings wiederum zu »zwei gänzlich entgegengesetzte(n) Bilder(n) von der Gottheit« führt. Also in beiden Religionen ist die Gottheit nichts anderes als die Hypostase des je eigenen Ideals:
1876 Religion des Geistes, S. 67. 1877 Religion des Geistes, S. 64. 1878 Ebd. 1879 Religion des Geistes, S. 65. 1880 Ebd.
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»Das Heidenthum, in welchem der Geist, in seinem Universalleben sich fühlend, der Natur anzugehören glaubt, stellt seinen Gott, sogar nach dem reinsten geläuterten Begriffe, immer nur als Weltseele dar […] Das Heidenthum hat einen Gott der Natur, das Judenthum einen Gott des Geistes, denn das Ideal des geistigen Individuallebens ist der Geist in seiner höchsten Vollkommenheit. […] Der Gott des Judenthums ist ein rein ethisches Wesen; er hat zwar die Natur, sowie den Geist erschaffen, er ist in beiden wesenhaft befindlich; […] sein Odem belebt das ganze All und ohne ihn muß es wieder in ein Nichts versinken; dennoch ist er zugleich ein extramundaner Gott, welcher nicht als bloße Weltseele der Welt bedarf, um da zu sein. […] So ist der Gott des Judenthums die Hypostase des Ideals für das geistige Individualleben, welches über der Natur stehend, dieselbe zu veredeln und gleichsam zu versittlichen strebt.«1881 Religion ist nach den hier aufgestellten Darlegungen Salomon Formstechers in erster Linie eine Aktivität des Wissen, das sich Bewusstwerden des Geistes, keinesfalls aber Glauben. Das betont Formstecher für das Judentum schon in seiner Einleitung mit allem Nachdruck: »Eine religiöse Glaubenspflicht, welche gebietet, irgend eine Lehre als Wahrheit der Religion aufzunehmen, auch dann, wenn sie sogar der Vernunft widerspricht, und nur deshalb, weil sie von einer höheren, göttlichen Autorität mitgetheilt ward, ist dem Judenthume fremd, das Wort glauben in der Bedeutung, für wahr halten, ohne es als wahr erfaßt zu haben, fehlt der Sprache seiner Religionsquelle […], denn im Judenthume muß eine jede Religionswahrheit zugleich eine Vernunftwahrheit sein, und letztere läßt sich auch ohne eine von Außen kommende Inspiration nur durch eine mit Aufmerksamkeit fortgesetzte Weltanschauung auffinden und beweisen. Das Judenthum kennt somit nur einen Glauben an ein historisches Factum und an ein durch eigenes Denken gewonnenes Erkenntnis-Resultat, aber keinen Autoritätsglauben.«1882 Diese dezidierte antifideistische Position wird auch, wie wir gesehen haben, nicht durch Formstechers Rede von »Offenbarung« eingeschränkt oder gar widersprochen, denn die Offenbarung ist ja nur ein subjektives Bewusstwerden der objektiven Uroffenbarung und sie ist eine Erkenntnis des Ideals, welches mit der Uroffenbarung schon in den Geist des Menschen gelegt war. Diese Auffassung
1881 Religion des Geistes, S. 65f. 1882 Religion des Geistes, S. 10f.
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wird auch des weiteren unterstrichen durch Formstechers Konzeption von der Prophetie und der Rolle von heiliger Schrift und Offenbarung.
6.
Prophetie, Heilige Schrift und Tradition
Die Prophetie, ein Phänomen, das es im Heidentum wie im Judentum gibt, ist ein Modus der relativen historischen Offenbarung, von welcher oben schon die Rede war. Sie ist ein Offenbarungsmodus aus der Frühgeschichte der Religion, der irgendwann einmal – im Judentum zur Zeit Esras – durch den Offenbarungsmodus der prüfenden Reflexion abgelöst wurde: »Das Ende der prophetischen Periode liegt da, wo der Israelit seinen Geist nicht mehr als Geist Gottes erkannte, wo er fühlte, daß die Herrlichkeit Gottes nicht mehr in seiner Mitte ruhe; es ist jener Zeitpunkt in der Geschichte des Judenthums, welcher […] das unmittelbare Prophetengefühl in die prüfende Reflexion umwandelte.«1883 Die »Prophezeihung« ist nach Formstecher eine Weise der Offenbarung, in welcher die Erkenntnis der Uroffenbarung nicht durch menschliches Prüfen und die Reflexion geschieht, sondern durch das »ekstatische Gefühl«, welches im Judentum sich als »wachender erhöhter Geistesseelenzustand« darstellt, während dies im Heidentum in einem unbewussten »somnambulen, erhöhten Naturseelenzustand« geschieht.1884 In beiden Religionen versiegt diese Offenbarung im Gefühl, sobald das ekstatische Gefühl durch den reflektierenden Verstand verdrängt wird. Damit wird die Prophetie nicht eigentlich herabqualifiziert, sondern als eine notwendige Frühphase der Offenbarung in der Religionsgeschichte dargestellt, deren Erkenntnisse wertvoll sind und bleiben und deshalb nach dem Abebben der Prophetie in heiligen Schriften fixiert wurden. Zur näheren Qualifizierung der Offenbarung muss noch angefügt werden, dass sie, wie gesagt, primär ganz auf dem Gefühl des Menschen beruht wie nachher auf der Reflexion des Verstandes. Die Prophetie ist damit analog zur maimonidischen Auffassung1885 kein übernatürliches Phänomen. Es ist vielmehr nur so, dass derjenige ein Prophet genannt wird, der in dieser Gefühlserkenntnis seiner Generation voraus ist, beziehungsweise eine schon höhere Stufe der Erkenntnis erlangt hat.1886 Wenn diese natürliche Form der Offenbarung nun dennoch als »Wort Gottes« bezeichnet wird, so ist dies nichts als eine Hypostasierung des vom Menschen erkannten 1883 Religion des Geistes, S. 91. 1884 Religion des Geistes, S. 95. 1885 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 468ff. 1886 Religion des Geistes, S. 75.
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Inhaltes des ethischen Ideals zu einem Ausspruch der Gottheit.1887 Die spätere Phase der Verstandeserkenntnis würde einfach von einer menschlichen Erkenntnis sprechen. Nach dem Ende dieser Gefühls-Offenbarung wurde der Inhalt dieser Offenbarung in heilige Schriften oder in Schriften der Tradition gebannt, um so bewahrt zu werden. Damit ist aber der Offenbarungsprozess, der ein kontinuierlicher ist, nicht zu Ende, denn: »Stellt sich in der Prophetie die relativ wahre Offenbarung als productiv schaffendes Gotteswort dar, so erscheint dieselbe als Tradition als die das gegebene Gotteswort erläuternde Reflexion.«1888 Aus dem Erkenntnisprozess der Prophetie, in welchem ein seines Ichs unbewusstes Gefühl das Offenbarungsmedium darstellt (das ist zum Beispiel die biblische Stufe der Prophetie), wird nun einer des seines Ichs bewussten Nachdenkens. Der Inhalt der Offenbarung, der ja ein Teil der absoluten Uroffenbarung ist, bleibt ewig unverändert, verändert hat sich nur der Offenbarungsmodus. Er zeigt sich nun als ein die Tradition reflektierender Prozess. Auch dieser gibt dem Menschen natürlich, wie oben schon dargelegt, nur relative historische Offenbarungen, deren absoluter Wahrheitskern stets durch historische und individuelle Bedingungen überlagert wird. Hier gilt es, wie bei der Auslegung des Prophetenwortes, das historisch bedingte vom absoluten Kern zu scheiden.
7.
Die mosaische Vision der Staatsgründung als Theokratie
Angesichts einer solchen Sicht der Offenbarung und Prophetie stellt sich natürlich die Frage nach der Rolle des Moses und der Einschätzung der traditionellen Sinaioffenbarung. Dessen Rolle wird zunächst dadurch relativiert, als nach dem prinzipiellen Charakter der Offenbarung diese schon immer existierte, seit es Menschen gab, also auch schon vor dem Entstehen des Volkes Israel und dem Auftreten Mosis, also seit Adam und der Zeit der Urväter,1889 weshalb Formstecher sogar sagen kann: »Vor Moses existirt in der Menschheit schon, dem Wesen nach, ein Judenthum.«1890 Die Besonderheit der mosaischen Prophetenrolle bestand folglich darin, dass Moses es mit seiner Prophetie gelungen war, zunächst wenigstens der Idee nach, »ein Judenthum im Gegensatz vom Heidenthum zum
1887 Religion des Geistes, S. 94. 1888 Religion des Geistes, S. 96. 1889 Religion des Geistes, S. 88. 1890 Religion des Geistes, S. 89; und vgl. S. 91.
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selbständigen Gottesstaat heranzubilden.«1891 In gut deutsch-idealistischer Manier, insbesondere Hegels, glaubte auch Formstecher, dass der Geist zur Verwirklichung seines Ideals eines konstituierten Volkes und schließlich eines Staates bedurfte,1892 wenn dessen Verwirklichung in Alt-Israel auch noch mehrere Generationen dauerte. Diese Staatsgründung war, nach Formstecher, ein notwendiger partikularistischer Durchgangsschritt, um als »freie Institution des Geistes« dazustehen, bevor das Judentum später auf den Staat verzichten und zum Universalismus weiterschreiten konnte.1893 In dieser Zeit der altisraelitischen »Theokratie hatte »Das Judentum […] sich bis zur Blüthe seines objectiven Lebens entwickelt, die Prophetie hatte die höchsten Wahrheiten des menschlichen Geistes erschaut, der ganzen Menschheit ein Zukunftsbild als Zielpunkt des Strebens aufgestellt, welches der Geist als den Reflex des Ideals seines Individuallebens erkennen muß; das Judenthum hatte als Volk seine Aufgabe gelöst und seine geistige Vollendung erreicht, so wie es unter David seine körperliche erlangt hatte. Darum mußte es die beengende Form eines abgeschlossenen Staates abwerfen, die Banden mußten gebrochen werden, welche es an einem abgegrenzten Boden fesselten, Israel wurde als Volk aufgelöst, über alle Theile der Erde gestreuet, damit es das Ideal, welches es in seiner prophetischen Objectivität erkannte, in seiner vernünftigen Subjectivität realisire.«1894 Das Ende des jüdischen Staates und die Zerstreuung der Juden sind hier nicht mehr das viel beklagte Elend der Juden, sondern ein notwendiger Schritt der Geistesgeschichte, durch den der Geist der Realisierung des Ideals näher schreiten konnte. Mit dieser Zerstreuung begann, so Formstecher, der gewaltige Kampf zwischen den beiden Lebensprinzipien, zwischen Gefühls- und Vernunftleben, zwischen Objektivität und Subjektivität.1895 Die beiden Begriffe, »Objektivität« und »Subjektivität« hat Formstecher gewiss von Schelling übernommen. Dieser gebraucht die beiden Begriffe in seinem System des transcendentalen Idealismus,1896 in welchem er die Geschichte als voranschreitende Offenbarung des »Absoluten« beschreibt, für die zwei sich gegenüberstehenden Prinzipien von Gesetzmäßigkeit und Freiheit. Das »Objektive« ist das Gesetzmäßige, das Unbewusste, Naturhafte, während das »Subjektive« für die Freiheit des Handelns
1891 Religion des Geistes, S. 91. 1892 Religion des Geistes, S. 209, 212, 214. 1893 Religion des Geistes, S. 214. 1894 Religion des Geistes, S. 233. 1895 Religion des Geistes, S. 234, 239. 1896 Tübingen 1800, S. 431–439.
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steht – beide sind im Absoluten identisch. Nach dieser Klärung wird das obige Zitat verständlich. Die prophetische Objektivität gehört dem noch nicht Bewussten an und damit auch dem »Bestimmten« und Naturhaften, während das »Subjektive« zur Freiheit und Vernunft gehört. In der weiter unten noch anzuführenden Verwendung der beiden Begriffe deutet Formstecher sie so, dass sie die Passivität beziehungsweise Aktivität des Menschen im Gestalten seines Schicksals und seines Wissens um sich selbst ausdrücken: In der Objectivität ist der Mensch nur Objekt der Geschichte, wird als unbewusstes Wesen von den Dingen und Gefühlen gesteuert, während der Mensch in der Subjectivität selbst das Subjekt der Geschichte wird, als Wissender und Verstehender, autonomer Gestalter des menschlichen Handelns ist.
8.
Die Rolle und Bedeutung der Gebote und Zeremonien
Die Bewertung der Gebote und des »Zeremonialgesetzes« war das Schibbolet der Trennung zwischen Orthodoxie und Reform seit dem 19. Jahrhundert. Das zeigt sich auch noch ganz deutlich in der Bewertung der Gebote in der Neoorthodoxie eines Samson Raphael Hirsch, der selbst zwar eine nur mechanische Erfüllung der Gebote verwarf, aber an deren Erfüllung dennoch unverbrüchlich festhielt, den Weg der Lösung hingegen in einer neuen Deutung des Sinnes der Gebotserfüllung suchte, die diese selbst aber unangetastet ließ, ja als Zentrum seines neoorthodoxen Judentums beibehielt.1897 Salomo Formstecher, der in dieser Frage ganz dem Reformlager zuzurechnen ist, hat dennoch einen mittleren Weg verfolgt, der in seinem »geistesgeschichtlichen« Blick auf das Judentum oder überhaupt auf die Religionsgeschichte begründet ist. Danach gab es eine Zeit, oder besser eine Entwicklungsstufe des Geistes, auf welcher der Ritus und das Gebot eine wichtige, dem geistigen Entwicklungsstand der Menschen angepasste Rolle spielten. Und da die Entfaltung des Menschengeistes bei den unterschiedlichen Völkern und Individuen unterschiedlich verläuft, kann es sein, dass selbst in Formstechers eigener Gegenwart für manche Menschen manche Riten und Gebote qua göttlicher Gebote noch von Bedeutung sein konnten. Die Stellung der Gebote im Religionsgebaren ist demnach vom kollektiven wie individuellen Entwicklungsstand der Menschen abhängig. Dies ist so, weil hinsichtlich der Erlangung des menschlichen Ideals alles von der »eigenen Kraft« des Menschen abhängt, nicht von einer von außen kommenden Anregung: »Freiheit ist der Charakter des Geistes; mit Freiheit soll er sich selbst entwickeln, mit um sich selbst wissender Selbstständigkeit seine Vollkommenheit
1897 S. oben Kap. III.
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erstreben. Nicht durch einen von Außen kommenden Schlag wird der Geist zu vollen Erkenntnis seines Ideals geführt, sondern durch seine eigene Kraft; geübt und erstarkt durch die Weltanschauung lernt er das in ihm liegende Ideal, als Object seines Inhaltes, als Offenbarung Gottes immer klarer und deutlicher zu kennen. Zur Erkenntnis seines Ideals gelangt der Geist auf einem freien, selbstständigen, stets vorwärts schreitenden Entwicklungsgange; sein Streben kann Object der Geschichte und nicht nur der Beschreibung werden, weßhalb die Erkenntnis seines Ideals in späteren Zeiten sich vollkommner darstellt, als in früheren. Ist die Erkenntniß des Ideals fortschreitend und Veränderungen unterworfen so ist dies auch die Weise, auf welche dies realisiert werden soll, mit der veränderten Lage des Zieles verändert sich auch der Weg, welcher zu demselben hinführt.«1898 In der Wahl der Mittel und Wege zur Erlangung seines Zieles ist der Mensch mithin autonom und nicht auf eine heteronome Gesetzgebung eines Gottes angewiesen. Jede Rede von göttlicher Gesetzgebung ist eine hypostasierende Redeweise für die Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins. Darum gilt auch für Formstecher der schon von den mittelalterlichen Philosophen formulierte Gedanke, dass die Gottheit keinerlei Gewinn von der menschlichen Gebotserfüllung hat,1899 oder er gar durch sie verbessert würde,1900 diese vielmehr alleine dem menschlichen Streben nach dem Ideale dienen soll und kann. Ja Formstecher geht noch einen Schritt weiter – damit sich gleichsam dem Rechtshegelianismus zuzuordnen – indem er die Auffassung vertrat, dass der Mensch durch sein Tun auch nicht befähigt sei, die Weltordnung zu verbessern: »Die Welt ist unverbesserlich, weil ein höchst weises, allmächtiges, unerforschbares Wesen sie erschuf.«1901 Die im Laufe der allgemeinen wie der jüdischen Religionsgeschichte eingeführten so genannten göttlichen Gebote und Zeremonien, unter ihnen der Opferkultus, ist mit der psychischen Verfassung der Menschen auf einem noch niedrigeren, noch kindlichen,1902 Entwicklungsstand zu erklären, auf dem man solche Riten einführte, um seine damals noch vorherrschende Gefühlslage in die gewollte Richtung zu steuern, eine Beurteilung die, so Formstecher, zugestandenermaßen auch für »viele Ceremonien des A.T.«, also des »Alten Testaments« gilt.1903 Die Einführung solcher Begehungen in allen Religionen entsprechen
1898 Religion des Geistes, S. 160f. 1899 Religion des Geistes, S. 156; und s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393ff., 424ff., 480ff. 1900 Religion des Geistes, S. 165. 1901 Religion des Geistes, S. 160. 1902 Religion des Geistes, S. 163. 1903 Religion des Geistes, S. 161, 170.
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dem »gesetzmäßigen Entwicklungsgang des menschlichen Geistes.«1904 Das heißt, die Gebote und Zeremonien in den Religionen, inklusive des Judentums, sind Mittel zur Erreichung des Zieles, als Krücken im Gang zum Ideal, keinesfalls aber sind sie der eigentliche Zweck der Religion.1905 Wo frühe Formen des Judentums, in der prophetischen, gemütsbestimmten Zeit des Judentums, die Gebote noch als »Gebote Gottes« darstellte, haben spätere Phasen das Bezugsfeld solcher Gebote ganz auf der anthropologischen Ebene erkannt: »Spätere Juden, welche auf einer höheren Stufe der Weltanschauung sich befanden und befreit von heidnischer Kabbalistik blieben, erkannten es, daß allen Mosaischen Vorschriften dietätische oder ethische Tendenzen zum Grunde liegen, welche hypothetisch angegeben werden dürfen […]. Bei vielen Vorschriften zeigt die Art der Reinigung, daß nur medicinische Absichten erreicht werden sollen, […] andere waren Concessionen […] oder Vorbauungsmittel […] die Israel gegen den Götzendienst schützen sollten, und wieder andere waren Symbole und Erinnerungszeichen, um das Andenken an Gottes Vorschriften, an seine Vorsehung und Vergeltung zu wecken und zu nähren […] Den Menschen als solchen zu veredlen, ihn körperlich zu stärken, sittlich zu erziehen und geistig auszubilden ist der Zweck aller rituellen und ceremoniellen Vorschriften des prophetischen Judenthums, weßhalb auch die Propheten gegen Werkheiligkeit kämpften und vertrauensvolle Gottesfurcht und wahre Sittenreinheit, als einzigen Ausdruck der Frömmigkeit, forderten.«1906 Mit diesen Deutungen der biblischen Gebote hat Formstecher das im 19. Jahrhundert und bis heute noch verbreitete Paradigma einer rationalistischen Deutung der jüdischen Gebote gegeben. Sie sind natürlich zugleich die Grundlage, solche Gebote und Riten für obsolet zu erklären, für welche ein derartiger medizinischer, ethischer oder didaktischer Zweck nicht erkennbar ist, sie aber beizubehalten, wo sie solchen Zielen auch noch in der Gegenwart dienen können.
9.
Die Geschichts-Philosophie
Die zweite Hälfte des Buches von Formstecher ist der Geschichte des Judentums gewidmet. Diese Darstellung der jüdischen Geschichte ist der erste moderne
1904 Religion des Geistes, S. 161. 1905 Religion des Geistes, S. 162. 1906 Religion des Geistes, S. 170f.; und vgl. S. 172f.
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Judentum als Religion des Geistes – Salomon Formstecher
Versuch einer Gesamtgeschichte des Judentums, die den Verlauf des Judentums von dessen Anfängen bei Adam bis in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts darstellt. Der Einsatz mit Adam ist natürlich der Auffassung Formstechers geschuldet, dass das Judentum als Idee schon begonnen hatte, noch bevor sich Israel zum Volk konstituierte, oder bevor Abraham als der Erzvater dieses Volkes dem Ruf Gottes gefolgt war. Formstecher war sich sehr wohl bewusst, dass für eine solche Geschichte eine fast unübersichtliche Fülle von Material zur Verfügung steht. Aber Geschichte, die diesen Namen verdient, ist nach seiner Auffassung keine Aufreihung der einzelnen Geschehnisse wie sie etwa die ersten historiographischen jüdischen Versuche des 16. Jahrhunderts erarbeiten,1907 sondern Geschichte im wahrhaften Sinne ist es, das einem bestimmten Faden folgende Geschehen zu erkennen und zu verfolgen. Dieser Faden, dies braucht nach all dem bislang zu Formstecher Gesagten kaum noch betont zu werden, ist die Entwicklung des Geistes zur Realisierung seines Ideals: »Das Streben des Judenthums nach der Realisirung seines Ideals ist als geschichtliche Darstellung die zusammenhängende Erzählung, wie der Geist zur Erkenntnis seines Ideals gelangt […]«1908 Dieses Streben des Judentums, als der Religion des Geistes, zur Erlangung des Ideals, schreitet über eine wachsende Erkenntnis durch eine fortgesetzte sich erweiternde Weltanschauung voran.1909 Dieses Streben des Geistes, seine voranschreitende Entwicklung, lässt sich am Judentum nachzeichnen, weil eben das Judentum die Realisierung der einen von den beiden Weisen des Lebens des Geistes in dieser Welt ist, nämlich des Individual-Lebens des Geistes. Die »Geistesgeschichte des Judenthums« ist demnach ein integriertes Glied der universellen Weltgeschichte, »nimmt an deren Pulsationen den innigsten Antheil und muß stets die Geistesrichtungen ihrer verschiedenen Lebensalter in’s Auge fassen.«1910 Mit dieser Auffassung stellt Formstecher das Judentum mitten in die Geschichte der Welt und ihrer Völker. Die Geschichte des Judentums geht mit dieser Weltgeschichte Schritt für Schritt voran, ist aufs engste mit ihr verzahnt, 1907 Zu ihnen s. Y.H. Yerushalmi, Zachor! Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996, S. 67ff.; und s. oben Einführung – Geschichte und Kultur, S. 4, 6; zum kabbalistischen Geschichtsverständnis s. K.E. Grözinger, Jüdische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Moderne – eine Verortung der Differenz, in: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag, hrsg. von J. Deventer, S. Rau, A. Conrad, Münster, Hamburg/ London 2002, S. 53–70. 1908 Religion des Geistes, S. 196. 1909 Religion des Geistes, S. 195. 1910 Religion des Geistes, S. 197.
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ist also nicht die Separatgeschichte eines kleinen aus dem Orient gekommenen Volkes. Allerdings lässt sich diese Rolle nur da nachzeichnen, wo diese Völker mit dem Judentum in Berührung traten.1911 Mit diesen Grundaussagen ist auch schon das Kriterium für die Stoffauswahl der historischen Darstellung gegeben. Geschichte lässt sich demzufolge nur da nachzeichnen, wo die Entwicklung des Geistes, sein Voranschreiten sichtbar wird. »Unberücksichtigt läßt sie [die Historiographie] deshalb alle jene Momente, welche in ihrer individualisirten Erscheinung auf die Gesammtmasse des Geistes weder einen merklichen Einfluß äußerten, noch von derselben direct ausflossen.«1912 Zu solchen ausgeschlossenen Nebensächlichkeiten der Geschichte gehören darum Individual-Biographien, kriegerische Bewegungen, einzelne Institutionen der Politik und des Kultus. »Nur Erscheinungen, welche die Bewegungen des strebenden Geistes manifestiren, seine Evolutionen und sein Weiterschreiten verkünden, kann diese Erzählung als ihre Objecte aufnehmen.«1913 Es ist die Geschichte des Geistes, welche den Faden für die Geschichtsschreibung an die Hand gibt. Und weil der Geist sich anders als die Natur entwickelt, kann die Geistesgeschichte nicht nach natürlichen Gesetzen sich entfalten, sondern alleine nach solchen, die der Freiheit des Geistes entspringen. Darum kommt als Hilfswissenschaft für eine solche Historiographie nur eine Wissenschaft in Frage, welche die geistige Entwicklung des Menschen betrachtet, also nur eine anthropologische Wissenschaft, nämlich die Psychologie. Das heißt also, der Historiker darf alleine nach einem »psychologischen Entwicklungsgang« suchen, der ihm helfen kann, die Geschichte in Epochen zu teilen. Und hier gibt es nur zwei Stufen der psychischen Entwicklung als Ausdrucksformen des Geistes samt einer in ihrer Mitte stehenden Übergangsform. Die eine Entwicklungsstufe der geistigen Entwicklung ist die der »Periode der Objectivität« und die andere die der »Periode der Subjectivität«. Die Periode der Objektivität ist die, in welcher der Geist sich seiner selbst noch nicht bewusst ist. Dies ist eine Phase, in welcher der Geist nur nach dem »Gefühl« urteilt, während die Vernunft noch schlummert. Es ist eine Zeit der »Bewußtlosigkeit«. In dieser Epoche ist der Mensch ein passives Object des Geschehens: »Er urtheilt nach einem noch nicht zum Bewußtsein gelangten Gefühle und stellt sich nicht als actives Subject, sondern als passives Object dar – er durchlebt die Periode der Objectivität.«1914 »Wirkt aber eine lange erfahrungsreiche Weltanschauung, oder eine schon zur Vernunft gelangte Umgebung auf das in der Anschauung noch begriffene 1911 Religion des Geistes, S. 198. 1912 Religion des Geistes, S. 197. 1913 Ebd. 1914 Religion des Geistes, S. 199.
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Individuum mit Nachdruck ein, dann wird nach und nach die Anschauung zum verständigen Begreifen und diese zum vernünftigen Wissen erhoben. Stehet der Mensch auf dieser Stufe, dann fällt er seine Urtheile nicht mehr nach dem bewußtlosen Gefühle, sondern nach erkannten Motiven und mit dem Wissen, daß er den Maaßstab für sein Urtheil in seinem eigenen Geiste als Idee trägt. Sein Ich tritt auf mit entschiedener Autonomie, er stellt sich nicht mehr als passives Object, sondern als actives Subject dar – er durchlebt die Periode der Subjectivität. Die zwei Hauptperioden für des Menschen geistiges Wirken erscheinen unter den zwei Formen der Objectivität und Subjectivität, zwischen welchen beiden die einzelnen Progresse der Verstandesthätigkeiten die Übergangsmomente bilden.«1915 Diese hier am Individuum abgelesene Entwicklung des Menschen vom unverständigen, gefühlsgetriebenen, abhängigen »Kinde« zum reifen eigenmächtigen Ichbewusstsein und autonomen Verstehen der Welt und seiner selbst, gelten allerdings nicht nur für das Individuum, sondern auch für die gesamte Menschheit und deren einzelnen Völker-Persönlichkeiten. In allgemeiner historiographischer Epochen-Terminologie ausgedrückt heißt dies, dass die Menschheit der Antike, beziehungsweise des Altertums, insgesamt in der Phase der »Objektivität« verweilte, während die Moderne den Schritt zur »Subjektivität« getan hatte. Zur Phase der gefühlsbestimmten Objektivität gehört als Erkenntnis-, sprich Offenbarungsmedium die Prophetie, während die Moderne ihre Erkenntnisse vom verständigen Wissen des Menschen als autonomem Denker gewinnt, der sich der Vernunft bedient. Zwischen diesen beiden Epochen liegt das Mittelalter, in welchem sich der Verstand – nicht die Vernunft – als erstem Schritt aus der Gefühlswelt heraus um rationales Erkennen bemüht.1916 Diese Zwischenphase benennt Formstecher mit dem Mischbegriff »subjective Objectivität«.1917 An dieser Stelle der Beschreibung der Entwicklungsstufen der Menschheit muss allerdings eine grundlegende Einschränkung gemacht werden. Nicht alle Völker durchschreiten diese drei Stufen der Entwicklung denn: »Von den beiden Religionen, welche die Menschheit manifestirt, ist es nur das Judenthum, welches die zwei Perioden nebst deren Übergang verlebt, denn das Heidenthum als Volksleben bleibt stets in der ersten Periode […]«1918
1915 Ebd. 1916 Religion des Geistes, S. 200. 1917 Religion des Geistes, S. 201. 1918 Ebd.
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Trotz dieses Verdiktes über die Entwicklungsmöglichkeiten des Heidentums, konzediert Formstecher, dass sich Menschen, die dem Heidentum verfallen sind, sich aus diesem heraus entwickeln können. Dafür gibt es zwei Stufen, die aber im Grunde keine Entwicklungen des Heidentums mehr sind. Vielmehr ist der erste Schritt zur Subjektivität im Heidentum eigentlich eine Selbstnegation desselben, während der zweite Schritt eine völlige Selbstauflösung des Heidentums ins Judentum hinein ist – letzteres ist auch tatsächlich das erstrebte Ziel aller Entwicklung des Geistes.1919 Der erste Schritt des Heidentums hin zur Subjektivität ist erstaunlicher Weise die Philosophie, sie ist der erste Akt der Selbstverleugnung der Naturreligion. Allerdings ist es nicht jede Philosophie, die diesen entscheidenden Schritt zu tun vermag. Gelungen ist dieser Schritt zur Subjektivität aus dem Heidentum heraus laut Formstecher durch Immanuel Kant, weshalb er sich einen zweiten Kant herbeisehnt, wohingegen Hegel und Schleiermacher – auch Schelling1920- als Hemmschuhe in der Entwicklung des Geistes zu betrachten sind: »Durch Kant hat die Subjectivität sich als die letzte Instanz des Wissens erklärt, allein die Philosophie, als ein anmaßendes Kind des Heidenthums, war nicht gewöhnt mit ihrem Wissen bei den Menschen stehen zu bleiben […] sie schritt deshalb in ihrer Speculation über den Menschen hinaus und erklärte – das Absolute. […]. So lange die Intelligenz sich die Aufgabe setzt, Gott in seiner Immanenz zu wissen, die innere Ökonomie seines Wesens zu erklären, so lange steht sie auf heidnischem Boden, ist sie Gnosticismus, demnach Gegensatz des Judenthums. Deshalb wird, so lange Hegel und der ihm nah’ verwandte, aber mehr gemüthliche Schleiermacher in der Theologie die Höhepunkte der Zeit behaupten, das Judenthum auf die wissenschaftliche Darstellung der Wahrheit verzichten […] Die Wahrheit des Judenthums wird nur dann ihre Anerkennung finden, wenn ein zweiter Kant nicht nur negativ, sondern auch positiv zu Werke gehet, an die Stelle der Metaphysik die Ethik setzt und dadurch das Ideal des geistigen Individuallebens in die Erkenntnis und in das Individualleben einführt.«1921 Es ist also die Sünde der Metaphysik, welche die Philosophie zum Heidentum gehören lässt. Wo sie sich konsequent der Ethik zuwendet, tut sie schon einen Schritt auf das Judentum zu, zur zweiten Entwicklungsstufe hin, zum Judentum der ethischen Autonomie des Individuallebens des Geistes, zum Judentum der »Subjektivität«. 1919 Ebd. 1920 Religion des Geistes, S. 388. 1921 Religion des Geistes, S. 358f.
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Nach diesen theoretischen Vorgaben kann nun Formstecher die einzelnen Phasen der Geschichte des Judentums behandeln. Dabei ist zu beachten, dass es sich auch hierbei um eine Entwicklung handelt. Das heißt, es gibt kein lineares Voranschreiten des Judentums, sondern es gibt Fort- und Rückschritte, die sich oft über viele Generationen hinziehen. Es gibt Maßnahmen, die als taktisch und vorübergehend ergriffen werden mussten, oder für die Geistesentwicklung notwendige Schritte sind, wie etwa die partikulare Abschließung als Volksgemeinschaft, die dazugehörigen Gesetze, oder der Talmud und die Kabbala.
10.
Christentum und Islam als »getarnte« Sendboten des Judentums
Christentum und Islam, die beiden aus dem Judentum hervorgegangenen Tochterreligionen, sind in Formstechers Geschichtskonzeption kein Unglück, sondern eine notwendige Strategie des Geistes in seiner Selbstverwirklichung. Oder anders ausgedrückt, Christentum und Islam sind zwei Strategme der Weltmission des Judentums als Religion des Geistes. Nach dem Ende der prophetischen Epoche, das heißt nach der Zeit des »Objectivismus« und noch mehr natürlich in der Moderne, nach der Überwindung des mittelalterlichen »subjectiven Objectivismus«, muss das Judentum, nunmehr in seiner vollen Gestalt des »Subjectivismus«, das Ideal des Subjectivismus weltweit verwirklichen. Und dies bedeutet, dass die noch vorhandenen Naturreligionen und der noch herrschende »Objectivismus« in einem dialektischen Schritt unter die Fittiche des Geistes gebracht werden muss, zu jener Einheit der beiden Erscheinungsweisen des Göttlichen in dieser Welt, von Natur und Geist, die im Menschen als dem Träger beider göttlichen Erscheinungsqualitäten, stellvertretend für die gesamte Welt, zu dieser hierarchisch geordneten Einheit gebracht werden müssen. Die soeben angesprochene Dialektik der Missions-Strategie des Judentums beruht nun darin, dass sich das Judentum, die Religion des Geistes, mit der »objectiven« Naturreligion verbinden muss, um in dieser Verbindung die zu missionierenden Völker in Kontakt mit der Religion des Geistes zu bringen und in dieser neuen Verbindung von innen heraus die Relikte der »Objectivität« und Naturreligion auszuhöhlen und zu vernichten: »Der Geist manifestiert sich während seines zweiten Lebenstheils ein zweifaches Leben; er behauptet 1922 sich als die zum Bewußtsein gelangte Subjectivität, und strebt nach der Identificirung derselben mit der Objectivität; er repräsentiert dieses Behaupten im Judenthume und dieses Streben in der Mission
1922 Alle Hervorhebungen KEG.
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desselben an das Heidenthum. Diese Mission ist die Thätigkeit des Geistes, in welcher er von der Subjectivität (dem Judenthume) zur Objectivität (dem Heidenthume) hin und dann, nach der Aufnahme und Auflösung der letzteren, zu sich selbst wieder zurück sich bewegt. Die Mission des Judenthums trennt sich somit als ein selbstständiges Glied von demselben los, erkennt sich zwar als demselben entsprossen, vindicirt sich, als einer neuen Erscheinung, aber dennoch ein eigenthümliches und absolutes Dasein und sucht insofern auf das Heidenthum einzuwirken, daß sie sich dessen wesentliche Elemente assimilirt, und diese Assimilation so lange behauptet, bis in ihm das Heidenthum reel sich aufgelöst hat; dann sondert sie diese aufgenommenen heidnischen Elemente, als fremde, feindliche Stoffe ab und tritt endlich wieder als Judenthum auf. Das Wesen der Mission ist ein Bewegen des Judenthums aus sich selbst durch das Heidenthum zu sich selbst zurück, nach der Form eines Denkactes, der als ein Bewegen des Subjectes durch das Object zu sich selbst zurückkehrt.« 1923 Die hier beschriebene dialektische Strategie des Individuallebens des Geistes, das aus sich selbst hervortritt, sich mit seinem Universal-Leben verbindet, um dieses zu läutern und zu erhöhen, um endlich in seiner reinen individuellen Form in sich selbst zurückzukehren, ist ein klassisches Stück historistischer Historiosophie. Mit diesem Doppelschritt ist es indessen nicht getan, schließlich begegnet uns diese Umarmungsstrategie des Geistes ja in zwiefältiger Gestalt, als Christentum und als Islam. Aber auch dies hat seine notwendigen Gründe. Schon oben hatten wir ja erfahren, dass die Naturreligion, also das Universal-Leben des Geistes, in dieser Welt überaus differenziert auftritt, weil es von den Klimaten und sonstigen geographischen Gegebenheiten abhängig ist. Und natürlich muss der Geist sich auf diese Unterschiede in seiner Strategie einstellen. In dieser Welt gibt es, wie jedermann aus der Betrachtung des Globus weiß, zwei sich gegenüberstehende Extreme, das ist die Polarregion und die Äquatorialregion. Am Pol herrscht in der Flora und Fauna eine in sich gekehrte zurückgenommene Lebensäußerung, dank der dort herrschenden »centripetalen« Kraft. Am Äquator hingegen, dem Bereich der »centrifugalen« Kraft birst die Natur mit voller Kraft und Üppigkeit nach außen. Das Gesagte kann analog mit zwei in der menschlichen Kultur bezeugten Kunstformen beschrieben werden: »Der Geist in seinem Universalleben ist das Selbstbewußtsein der Natur, weßhalb er auch als solches unter den zwei Hauptformen des Naturlebens, der Poesie und der Prosa sich darstellt. Prosa ist die Darstellungsform des geistigen Universallebens am Pole, Poesie unter dem Äquator, oder […] Pro1923 Religion des Geistes, S. 365f.
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sa behauptet der Geist als seine Erscheinungsweise im Norden, Poesie im Süden.«1924 Entsprechend ist das »Organ der geistigen Lebensthätigkeit im Norden […] der ordnende Verstand und die speculierende Vernunft«, deren Produkt die Philosophie ist. Das Organ dieser Lebenstätigkeit ist hingegen im Süden die »nachahmende Einbildungskraft und die schaffende Phantasie«, deren Produkt die Poesie ist. Also das »Naturleben« des Geistes ist im Norden Verstand, Vernunft und Philosophie, im Süden hingegen Einbildungskraft, Phantasie und Poesie.1925 Da die Weltreligionen dank der unterschiedlichen Klimate in diese beiden Lebensformen getrennt ist, musste der Geist sich diesen beiden Lebensformen anbequemen, um seine beschriebene Strategie zu verfolgen, also erfüllte sich die Mission der Geistesreligion, das heißt des Judentums im Norden durch das Christentum im Süden hingegen durch den Islam. Beide Religionen sind nichts als die Missionare des Judentums in unterschiedliche Mentalitätsbereiche, die beide aber das Ziel der Reinigung und Rückführung des Geistes in die eine ideale Lebensform des Geistes im Judentum verfolgen. Die einst von Maimonides geäußerte relative Anerkennung des Christentums als Träger des Monotheismus ist nun, für Christentum und Islam, zu einer notwendigen Entwicklung des Geistes auf dem Wege zum reinen Monotheismus geworden. Nach diesen grundsätzlichen Feststellungen verhandelt Formstecher die beiden »Missions-Töchter« ausführlich und im Detail, was hier nicht weiter verfolgt werden soll. Nur so viel: Es ist klar, dass der Islam in Sachen Wahrung des Monotheismus besser wegkommt als das Christentum mit seiner Trinitätslehre, wiewohl gerade auch die Trinitätslehre angesichts des »nördlichen Geistes« als unverzichtbares strategisches Element zur Gewinnung der Heiden akzeptiert werden muss. Demgegenüber wird der Islam wegen seiner Verhaftung in abergläubischen Bräuchen und in der Despotie kritisiert und wegen seines Hängens an der Gewalt, wenn er glaubt, die Religion nicht durch Überzeugung sondern durch die Übermacht der Waffen verbreiten zu müssen. Insgesamt resümiert Formstecher dieses Kapitel mit den Worten: »Christenthum und Islam, diese nordische und südliche Mission des Judenthums an die heidnische Menschheit, sind die Mittel in der Hand der Vorsehung, die Naturvergötterung zu stürzen und das Menschengeschlecht bis zum Gipfelpunkt seiner Vollkommenheit zu führen. Beide zeigen die Amalgamation des Judenthums mit dem Heidenthume, beide betrachten sich als die absolute Wahrheit und finden ihren Beruf in der Aufgabe, diese Wahrheit 1924 Religion des Geistes, S. 367. 1925 Religion des Geistes, S. 368.
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zum Gemeingute der Menschheit zu erheben. Deshalb treten beide nicht nur gegen den heidnischen und jüdischen Theil der Menschheit, sondern gegenseitig in die strengste Opposition, weil eine jede Mission doch nur das ihr angewiesene Gebiet bearbeiten kann und soll.«1926 Was nun das Judentum anbelangt, so meint Formstecher, dieses könnte sich sehr wohl all seiner eigenen Beschränkungen aus der Zeit seines »objectiven« Daseins entledigen. Jedoch solange es sich von diesen anderen, dem Naturdienst noch anhangenden Religionen umzingelt sieht, muss es weiterhin um seine Selbstbehauptung kämpfen und das heißt manche der eigentlich längst obsoleten biblischen und rabbinischen Gesetze bewahren, um sich selbst vor dem Einfluss der Naturdienste hüten zu können.1927 Das heißt, die Verhaftung des Judentums in eigentlich längst überwundenen zeremonialen Beschränkungen ist eine direkte Funktion des geistigen Zustandes seiner Umwelt.1928 Denn »Je mehr das Judenthum von der Außenwelt angefeindet wird, desto vorsichtiger muß es sich in die Panzerschale der gedankenlosen Werkheiligkeit hüllen und sich vor feigem Nachgeben der feindlichen Einwirkung schützen.«1929 In der diesbezüglich besten Situation sieht Formstecher das »germanische Judenthum«, denn dieses »repräsentirt die jüdische Intelligenz in quantitativer und qualitativer Beziehung auf ihrem jetzigen höchsten Standpunkte -«1930 und zwar, weil: »Deutschland ist für die Gegenwart derjenige Punkt, wo das Judenthum für seine Selbstbehauptung die geringsten Beweise seines isolirenden Separatismus zeigt und somit darstellt, daß es dessen, als eines Schutzes gegen heidnischen Fanatismus, am wenigsten bedarf; hier demnach der Ort, wo es seine Religion am freiesten zu ihrer reinen Wesenheit erheben kann, weil der Kreis seiner Weltanschauung der weiteste und die Unterwürfigkeit unter einem heidnischen Fanatismus die kleinste ist.«1931
1926 Religion des Geistes, S. 411. 1927 Religion des Geistes, S. 415f. 1928 Religion des Geistes, S. 416. 1929 Religion des Geistes, S. 418. 1930 Religion des Geistes, S. 422. 1931 Religion des Geistes, S. 423.
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Judentum des Gefühls und der Wissenschaft – A. Geiger
V.
JUDENTUM DES GEFÜHLS, DES BEWUSSTSEINS UND DER THEOLOGISCHEN WISSENSCHAFT – ABRAHAM GEIGER (1810–1874)
1.
Biographisches
In Frankfurt am Main im Jahre 1810 geboren, hat Abraham Geiger die traditionelle rabbinische Bildung nach der üblichen jüdischen Kinderschule, dem Heder, von seinem Vater erhalten. In »säkularen Fächern« hat er sich selbst gebildet und erfuhr vorübergehend auch Privatunterricht in seiner »Vaterstadt« am Main. Ohne formale öffentliche Bildung bezog er 1829 die Universität Heidelberg, studierte Orientalia, Griechisch, Philosophie und Kulturgeschichte, noch im selben Jahr wechselte er an die Universität Bonn. Im Jahre 1832 wurde er der Preisträger in der akademischen Beantwortung der Frage: »Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?« Die Preisschrift erschien 1833 in Bonn als Buch,1932 mit ihr wurde er 1834, ohne vorherigen anderen Abschluss seines Universitätsstudiums, in Marburg zum Doktor der Philosophie promoviert. Von 1832–1838 war er Rabbiner in Wiesbaden, dann 1840–1863 in Breslau, 1863–70 in Frankfurt am Main und schließlich von 1870–1874 in Berlin.1933 Geiger gilt als führender Vertreter einer wissenschaftlich begründeten Reform des Judentums, wozu im folgenden Abschnitt Weiteres zu sagen sein wird. Er hat neben zweier wissenschaftlicher Zeitschriften eine große Zahl von wissenschaftlichen Monographien und Aufsätze zur »Religionsgeschichte« des Judentums aber auch zu aktuellen Fragen der Reform des jüdischen Lebens und der
1932 Jetzt als digitalisierte Version bei Google Books herunterzuladen. Zu ihm u. a. in dem Sammelband: »Im vollen Licht der Geschichte«, Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der Koranforschung, hrsg. von D. Hartwig, W. Homolka, M.J. Marx, A. Neuwirth, Würzburg 2008. 1933 Zur Biographie s. L. Geiger et. al., Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk, Berlin 1910; Neudruck als: Abraham Geiger. Leben und Werk für ein Judentum in der Moderne, Berlin 2001; M.A. Meyer, Jewish Religious Reform and Wissenschaft des Judentums. The Positions of Zunz, Geiger and Frankel, in: Leo Baeck Institute, Year Book XVI (1971), London et al., S. 19–41; New Perspectives on Abraham Geiger, hrsg. von J.J. Petuchowski, (Hebrew Union College) (Distribution by Ktav), New York 1975; K. Koltun-Fromm, Abraham Geiger’s Liberal Judaism, Personal Meaning and Religious Authority, Bloomington 2006; ders., Historical Memory in Abraham Geiger’s Account of Modern Jewish Identity, in: Jewish Social Studies, New Series 7, 1 (2000), S. 109–126; M.A. Meyer, Abraham Geiger’s Historical Judaism, in: New Perspectives on Abraham Geiger, S. 3–16; Abraham Geiger and Liberal Judaism. The Challenge of the Nineteenth Century, compiled with a biographical Introduction by Max Wiener, Philadelphia 1962.
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jüdischen Religion publiziert.1934 Dafür berief er eigens Rabbinerkonferenzen ein, von denen drei zustande kamen, in Braunschweig (1844), Frankfurt am Main (1845), in Breslau (1846), während die vierte, geplant für Mannheim (1847), nicht mehr stattfand. Geiger war unermüdlich in seiner schriftstellerischen Tätigkeit und im Gründen von lokalen Bildungseinrichtungen, bei denen er selbst als Lehrer auftrat. In alledem war er als aktiver Reformer natürlich auch heftig umstritten, was sich am schmerzlichsten für ihn auswirkte, als er im Jahre 1854 nicht als Leiter an das Breslauer Rabbinerseminar berufen wurde, wiewohl dies aufgrund seiner Anregung letztlich gegründet worden war. Sein akademisches Streben, das ihn während seiner langen Zeit als Gemeinderabbiner an den genannten Orten nie losließ, wurde erst in den letzten Lebensjahren in Berlin befriedigt, wo er zunächst an der VeitelHeineEphraimschen Lehranstalt und danach an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums »akademischen« Unterricht in »jüdischer Theologie« erteilen konnte.
2.
Wissenschaft und Jüdische Theologie
Abraham Geiger hat den schleichenden Sprachwandel, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzogen hatte – aufgezeigt an den Synagogenordnungen1935 – in seiner Person und mit seinen Aktivitäten auf die Ebene einer bewussten Entscheidung gehoben. Waren in diesem Sprachwandel aus den Rabbinern und anderen Funktionsträgern »jüdische Theologen« geworden, so hat Geiger dieses gewandelte Bild vom Rabbiner systematisch gefördert. In seinem unten noch zu nennenden Promotionsgesuch vom Juni 1834 verweist er auf seine früheren Artikel, die er als »ein der jüd. Theologie Beflissener« unterzeichnet habe. Ein solcher »jüdischer Theologe« sollte nach Auffassung Geigers ein wissenschaftlich gebildeter Theologe sein. Zur Förderung dieses Gedankens richtete er sich als fünfundzwanzigjähriger junger Rabbiner ein Sprachrohr in Form der von ihm herausgegebenen Wissenschaftliche(n) Zeitschrift für jüdische Theologie ein, die von 1835–1847 erschienen war. Später, als die politische und finanzielle Situation wieder besser war, gründete Geiger eine neue Zeitschrift mit dem Titel Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, die er von 1866 bis zu seinem Tode 1874 herausgab. Damit begnügte er sich jedoch nicht. Er wollte auch institutionell und vor allem wissenschaftlich diesem Ziel dienen. So erschien im zweiten Jahrgang der Wissenschaftlichen Zeitschrift, 1836, sogleich im ersten Heft ein Eröffnungsartikel mit der programmatischen Überschrift: »Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit.« In die-
1934 Eine ausführliche Bibliographie bietet L. Geiger in: A. Geiger, S. 415–470. 1935 S.oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, II.
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sem Redaktionsartikel wird die von Leopold Zunz und seinen Freunden im Jahre 1819 mit dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (Kulturverein) »institutionalisierte« Wissenschaft des Judenthums, die von ihren Begründern als zweckfreie Wissenschaft für allgemeine und politische Geschichte, für LiteraturPhilosophie- und auch Religionsgeschichte definiert war,1936 zu einer modernen jüdisch-theologischen Wissenschaft umdefiniert.1937 Der Gegenstand der Wissenschaften des Kulturvereins wird in dem wohl von Geiger selbst verfassten Artikel der Wissenschaftlichen Zeitschrift in den Dienst »der jüdischen Theologie« gestellt. In einer solchen theologisch-jüdischen Wissenschaft müssten nun zunächst ganz andere Fragen geklärt werden wie die »Thatsache der Offenbarung […], die bewiesen, begreiflich gemacht werden soll; der philosophische und geschichtliche Beweis der besonderen biblischen Offenbarung soll folgen;«. Hernach kann das Glaubensdepositum dargestellt werden, die biblischen Schriften und deren Überlieferung, der Talmud, dies alles natürlich in historischer Perspektive.1938 Die Einschränkung des Begriffs der »Wissenschaft des Judentums« wird nochmals deutlich an Formulierungen wie »Unsere jüdische Wissenschaft steht, im Vergleiche mit denen anderer Confessionen, ziemlich verwaist da.«1939 Die Wissenschaft tritt für Geiger ganz in den Dienst, den jüdischen Theologen auszubilden, der nachher »mit Erkenntnis, mit heilsamem Erfolg sein Amt führen« kann, die ihm »eine Theologie« verschafft »die ihn anleite und ausrüste«.1940 In diesem Zusammenhang wird nun auch das völlig neue Verständnis des Rabbineramtes, oder wie es hier heißt, des Theologenamtes formuliert, dem diese theologische Wissenschaft zu dienen hat: »Nun soll der Theologe Lehrer sein der Religion im vollen Sinne des Wortes, er soll Rechenschaft geben können über das ganze Gefüge derselben, er soll ihre Anwendung im Leben zu bestimmen wissen, soll mit dem Worte, mit dem er die Jugend einführt, und mit dem er die Erwachsenen weiter belehret, erhebet und stärket, ausgerüstet sein. Die Grundlage hiefür bietet uns eine, 1936 Vgl. dazu die erste Ausgabe der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, herausgegeben von dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (Redakteur: Dr. Zunz), Erster Band, Berlin 1823, hier den programmatischen Artikel von Immanuel Wolf, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums, S. 1–24; besonders S. 18ff. 1937 Dies sagt schon der Sohn Geigers, Ludwig Geiger, im Vorwort des zweiten Bandes der nachgelassenen Schriften: Abraham Geiger’s nachgelassene Schriften, hrsg. von L. Geiger, Berlin 1875 (Neudruck Hildesheim/Zürich/New York 1999): »weil der dritte Theil diesem Stücke den Charakter eines Compendiums der jüdischen Theologie geben, mit welchem Namen mein Vater seine Wissenschaft fast bis zuletzt bezeichnet hat«, S. IV. 1938 Wissenschaftliche Zeitschrift, II, 1 (1836), S. 3f. 1939 Wissenschaftliche Zeitschrift, II, 1, S. 9. 1940 Wissenschaftliche Zeitschrift, II, S. 12f.
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gründlich und selbständig behandelte, jüdische Theologie im Geiste der jetzigen Bildung; für die wirksame Anwendung im praktischen Leben sind Übungen nöthig.«1941 Hier ist also nicht mehr der rechtsgelehrte Richter und Entscheider in Ritual- und Rechtsfragen gefragt, der das Profil des alten Rabbiners bestimmte, wie der Autor unseres Artikels selbst feststellt: »Früher hatte man unter Theologen blos Männer verstanden, die in den einzelnen Gesetzesbestimmungen zu entscheiden wußten«,1942 demgegenüber brauchte man nun wissenschaftlich gebildete Lehrer in Sachen der Religion und ihrer Geschichte, die daraus die ethischen, moralischen und glaubensmäßigen Folgerungen für die neue Zeit zu ziehen verstehen. Die Zeit der »alten Theologen« so stellt der Autor des weiteren fest, ist abgelaufen, deren Bildungsorte, die Jeschivot (Talmudhochschulen), »schwinden allmälig aus dem Reiche der Gegenwart, ihre Pforten schließen sich, und hiemit der einzige Ort, wo noch eine jüdische Theologie, wenn auch verkümmert, wenn auch nur dem Namen nach, gelehrt ward.«1943 Abraham Geiger war von nun an ein steter Verfechter der Einrichtung solch höherer jüdisch-theologischer Schulen. Nachdem die Berliner Universität zwischen 1840–1848 mehrere Anträge von Leopold Zunz auf Einrichtung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur abgelehnt hatte, und 1850 die Ephraim Veitel Stiftung einen entsprechenden Lehrstuhl und nach dessen Ablehnung 1853 sogar die von dieser Stiftung zu finanzierenden Privatdozenturen ablehnte, betrieben die jüdischen Intellektuellen unter tatkräftiger Beteiligung von Geiger die Errichtung privater jüdischer Hochschulen. Ein erster Versuch war die Berliner Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt, die 1856 ihren akademischen Betrieb aufnahm.1944 Zuvor war in Breslau unter tatkräftiger Beteiligung Geigers1945 das »Jüdisch-theologische Seminar« (Fränckelsches Seminar, nach dessen Stifter Jonas Fränckel) eingerichtet wurden, zu dessen Haupt allerdings nicht naheliegender Weise der führende Wissenschaftler der jüdischen Wissenschaft und Breslauer Rabbiner Geiger bestimmt wurde, sondern der konservativere damalige Dresdner Rabbiner Zacharias Frankel. Erst ab 1872, vom Tage ihrer Eröffnung an, nachdem er zuvor an der VeitelHeineEphraimschen Lehranstalt ge-
1941 Wissenschaftliche Zeitschrift, II, 1, S. 13. 1942 Ebd. 1943 Wissenschaftliche Zeitschrift, I, 1, S. 16. 1944 Zu diesen Bemühungen und Einrichtungen s. K.E. Grözinger (Hg.), Die Stiftungen der preußisch-jüdischen Hofjuweliersfamilie Ephraim und ihre Spuren in der Gegenwart, mit Beiträgen von H.van der Linden und K.E. Grözinger, (Jüdische Kultur, Bd. 19), Wiesbaden 2009. 1945 Vgl. L. Geiger, Abraham Geiger, S. 126.
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lehrt hatte,1946 erhielt Geiger eine Lehrberufung an die nominell 1870 gegründete Berliner Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums, für die er zuvor einen Lehrplan ganz im Sinne seiner jüdisch-theologischen Vorstellungen entworfen hatte.1947 Unter seinen nachgelassenen Schriften findet sich denn auch tatsächlich eine Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie, hervorgegangen aus »Vorlesungen, gehalten in Breslau vor Studirenden der jüdischen Theologie (1849)«, wie aus der beigedruckten Bemerkung erhellt.1948 Diese Gründungen machten Schule, wodurch ein neues Gesicht des Judentums als Religion oder Konfession geprägt wurde. Es entstanden um die selbe Zeit das Rabbiner-Seminar für das orthodoxe Judentum, gegründet 1873 durch Esriel Hildesheimer in Berlin, in Frankreich wurde die 1830 in Metz gegründete École Centrale Rabbinique 1859 als Séminaire Israélite de France nach Paris verlegt; in Italien gab es das Collegio Rabbinico Italiano zunächst in Padua (1829–1871) danach, ab 1899, in Florenz. In Budapest wurde 1877 die Landes-Rabbinerschule gegründet und in Wien 1893 die Israelitisch-theologische Lehranstalt für die Ausbildung von Rabbinern, in England das Jews College (1852, eröffnet 1856). In den USA wurde in Cincinnati 1874 das Hebrew Union College gegründet, 1886 das Jewish Theological Seminary in New York und andere. Damit hatte die alte Jeschiva, deren Herold noch der oben beschriebene Hajjim Woloschyner war,1949 ihr modernes Gegenstück. Beide Institutionen sind bis in die Gegenwart Ausdruck und jeweilige Bastion des in »Orthodoxie« und »Reform« beziehungsweise »Conservative Judaism« geteilten religiösen Judentums.1950
3.
Geigers Judenthum und seine Geschichte als theologisches Werk
Hier soll, wie in diesem gesamten Buch, keine geistige Biographie der behandelten Autoren gezeichnet, sondern der Teil ihrer Lehre dargestellt werden, der für die Entwicklung des jüdischen Denkens paradigmatisch war und geworden ist, sei die entsprechende Äußerung aus dem Anfang oder dem Ende der denkerischen Entwicklung des Autors genommen. Im Falle von Abraham Geiger ist dies ein Werk, das er zehn Jahre vor seinem Tode im Alter von 54 Jahren publizierte, nachdem er seine wichtigsten theologischen und religionspolitischen Kämpfe ge1946 L.Geiger, A. Geiger, S. 218. 1947 L. Geiger, A. Geiger, S. 219–223. 1948 A. Geiger, Nachgelassene Schriften, Bd. II, S. 1–32. 1949 S.oben Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, IV. 1950 Hierzu s. C. Wilke, Den Talmud und den Kant: Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Hildesheim 2003; ders., Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den böhmischen und großpolnischen Ländern, 1781–1871, München 2004.
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stritten hatte und er nach der großen Breslauer Enttäuschung den Ruf in seine Vaterstadt Frankfurt am Main annahm, was, wie sein Sohn schildert, nicht die erhoffte Befriedigung brachte. Diese trat dann schließlich mit der Berufung nach Berlin und der Gründung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein, an welcher er noch zwei Jahre unterrichten konnte. Dieses Buch, als historisches Werk vorgestellt, ist jedoch ganz in dem oben schon skizzierten Sinne nichts weniger als »die Theologie« Geigers. Auch sie ist typischerweise aus »Vorlesungen« hervorgegangen, deren erste zwölf Geiger vor »gebildeten Kreisen«, im Winter 1863/4 in Frankfurt am Main, die zweiten im darauffolgenden Winter ebenda und die dritten schließlich in Berlin im Winter 1870/71 wohl an der gleich einer »Universität« geführten Veitel Heine Ephraimschen Lehranstalt1951 gehalten hatte. Diese Vorlesungen waren es, die dann ab 1864 in Breslau im Druck erschienen. Das Buch trug den Titel: Das Judenthum und seine Geschichte. Dem Eröffnungsband von 1864 (Breslau) folgten in den Jahren 1865 der zweite und 1871 der dritte Band. In ihnen wurde die jüdische Geschichte von ihren Anfängen bis herab ins 16. Jahrhundert dargestellt.1952
4.
Das Wesen der Religion und das Wesen des Menschen
Schon in den vorangehenden Abschnitten war deutlich geworden, dass Abraham Geiger sich in allererster Linie als jüdischer Theologe definierte. So ist es kaum verwunderlich, wenn er seine »Geschichte des Judentums« mit einer Erörterung über »Das Wesen der Religion« eröffnet. Judentum war für Geiger eben in erster Linie und in seinem Wesen »Religion«. Die Zeiten eigener Staatlichkeit und sei-
1951 Zu ihr s. K.E. Grözinger, Die Stiftungen. 1952 Die Vorlesungen waren zuvor in der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben von 1864 veröffentlicht worden. Die ersten zwölf Vorlesungen erfuhren ein Jahr später eine zweite Auflage unter dem Titel: Das Judentum und seine Geschichte bis zur Zerstörung des zweiten Tempels. In zwölf Vorlesungen. Nebst einem Anhange: Renan und Strauß. (Das Judentum und seine Geschichte. Erste Abteilung.) 2. Aufl. Breslau 1865; der Folgeband erschien ebenfalls 1865: Das Judentum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. In zwölf Vorlesungen. Nebst einem Anhang: Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann. (Das Judentum und seine Geschichte. Zweite Abteilung.) Breslau 1865; der dritte Band: Das Judentum und seine Geschichte von dem Anfang des dreizehnten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts. In zehn Vorlesungen. Nebst einem Anhange: Das Verhalten der Kirche gegen das Judentum in der neueren Zeit. Ein zweites Wort an den evangelischen Oberkirchenrat. (Das Judentum und seine Geschichte. Dritte Abteilung.), Breslau 1871; alle drei Bände erschienen zusammengefasst als: Das Judentum und seine Geschichte. In vierunddreißig Vorlesungen, Breslau 1910, ohne die Anhänge, herausgegeben von L. Geiger.
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ner Verfasstheit als Volk waren nur entwicklungsbedingte, nun aber überwundene Vorstufen, die schrittweise dem wahren und eigentlichen Wesen des Judentums als Religion weichen mussten. Mit einer solchen Fragestellung nimmt Geiger den Faden der Diskussion auf, der von Mendelssohn begonnen, von Saul Ascher, Samson Raphael Hirsch und Salomon Formstecher weitergesponnen wurde. Mendelssohn hatte den Religionsbegriff universalisiert, als Religion der Vernunft, zu der auch das Judentum als denkerisches System zu zählen ist, wohingegen das Judentum als Träger der Offenbarung nur als »offenbartes Gesetz« zu betrachten sei, wenn auch innerhalb dieses Gesetzes auf Lehren verwiesen und solche eingeübt wurden, welche der vernunftgemäßen Gotteserkenntnis dienen sollten. Mit diesen Darlegungen Mendelssohns war die Frage nach dem Wesen von Religion und deren Verhältnis zum überkommenen Judentum in die jüdische Debatte eingeführt und wurde von den nachfolgenden Autoren, wie den im Vorangegangenen dargestellten Autoren Ascher, Hirsch und Formstecher, in der ihnen je eigenen, Weise aufgenommen. Diese Autoren, wie auch alle folgenden jüdischen Teilnehmer dieser Diskussion, fügten sich, wie schon mehrfach deutlich wurde, mit ihren eigenen Auffassungen mehr oder weniger eng in die von den deutschen Philosophen des Idealismus vorgetragenen diesbezüglichen Auffassungen ein. Dasselbe gilt auch für Abraham Geiger. Er stellt darum zu Beginn seiner Erörterungen die Frage nach dem Wesen von Religion und sucht das Verhältnis des Judentums dazu zu bestimmen. Wie Hirsch in seinen Neunzehn Briefen versucht Geiger, seine Auffassung von Religion in dem Kontext der zeitgenössischen Religions-Debatte zu verorten. Da ist zunächst die seit Mendelssohn akzeptierte und nun zum Allgemeinplatz mutierte Auffassung, die Geiger zum Ausgangspunkt seiner Erörterungen nimmt: »Das Judenthum, so sagt man zunächst, ist Religion, ist eine der verschiedenen Arten wie Religion in dem Menschenleben, in der Geschichte auftritt; Religion selbst ist aber ein bereits überwundener Standpunkt.«1953 Den ersten Teil dieser verbreiteten Auffassung akzeptiert Geiger ohne Vorbehalt, wie oben schon angedeutet und wie im Folgenden noch deutlicher werden wird. Damit ist auch für Geiger die Religion nicht ein ausschließlich an das Judentum und seine Offenbarung gebundenes Phänomen, Religion ist qua Religion nichts Einmaliges, nur dem Judentum Vorbehaltenes. Religion schlechthin ist für den Juden Geiger also nicht das Judentum allein, wie es der traditionellen Auffassung gegolten hat. Religion ist ein allgemeinmenschliches Phänomen, das nicht an die Offenbarung am Sinai gebunden, oder gar von ihr allein ins Dasein geru1953 Judenthum, 1864, S. 4; 1910, S. 2.
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fen wurde. Der Theologe Geiger behandelt, wie unten noch deutlich werden wird, das Phänomen Religion nicht von Gott her, nicht von der »Theologie« her, sondern ausgehend von der Anthropologie. Religion ist eine Einstellung des Menschen, ein Bewusstsein des Menschen, oder ein Gefühl des Menschen, unabhängig von einer bestimmten, oder gar der spezifisch jüdischen Offenbarung. Geiger zitiert deshalb mit allem Nachdruck den cartesianischen Grundsatz aller menschlichen Gewissheit: »Es ist ein großes Wort eines Denkers, der die Gedankenreihe der neueren Zeit eröffnet: Ich denke, darum bin ich. Das Bewußtsein davon, daß ich denke, giebt mir die Bürgschaft dafür, daß ich überhaupt bin; ich könnte an Allem, was mich umgiebt, an mir selbst irre werden, meine sinnliche Wahrnehmung läßt sich sehr bezweifeln, sie bekommt erst Sicherheit durch mein Bewußtsein.«1954 Wie Descartes seine Philosophie, so entfaltet Geiger seine Theologie vom menschlichen Bewusstsein aus, nicht von einem von außen auf ihn eindringenden Offenbarungsereignis, nicht vom Sinai oder der Tora als Offenbarungsschrift her. Bevor wir diese Grundlegung und Definition der Religion von Geiger weiterverfolgen, muss zuvor auf Geigers Haltung gegenüber dem zweiten Teilsatz des oben von ihm angeführten »Allgemeinplatzes« eingegangen werden, die Behauptung nämlich, Religion sei ein bereits überwundener Standpunkt. Natürlich ist er der Meinung, dass die Religion kein überwundener Standpunkt sei. Er beschreitet bei seiner Behauptung der bleibenden Aktualität der Religion einen ähnlichen Weg wie Saul Ascher, aber ist dennoch spezifisch von ihm unterschieden. Während Saul Ascher die Meinung vertrat, der Glaube sei eine für den Menschen konstitutive Erkenntnisweise neben der Vernunft, kann sich Geiger auf den durch den evangelischen Theologen Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834) en vogue gekommenen Ansatz in dieser Frage berufen, in dessen Zentrum nicht die zweite »Erkenntnisweise« des Menschen, sondern das menschliche »Gefühl« oder »Selbstbewußtsein« steht. Um seine Auffassung von Religion zu entwickeln, verweist Geiger zunächst auf die in seiner Zeit mit »Riesenschritten« voranschreitenden Erkenntnisse der neueren Wissenschaften. Sie bestätigen ihm aber nurmehr den alten Gedanken, dass hinter all dieser neuerlich erkannten großartigen Ordnung der Natur ein »ordnender Geist« steht.1955 Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse verweisen auf einen Kosmos, der 1954 Judenthum, 1864, S. 9; 1910, S. 7 (Hervorhebung KEG). 1955 Judenthum, 1864, S. 6; 1910, S. 5.
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»eben nach einem bestimmten Willen, nach einer frei waltenden Vernunft geordnet und in dieser Ordnung erhalten [wird], das ganze Universum ein Gefüge, in seiner großen Mannigfaltigkeit dennoch vereinigt, verschiedenartige Theile und dennoch ein harmonisches Ganzes bildend. […] Das ist ein Wirken der bewußten Vernunft, nimmermehr ein ohne Ziel hinaustreibendes.«1956 An dieser Stelle seiner Weltsicht muss sich Geiger aber zugleich gegen eine bruchlose Übertragung dieser neueren Naturerkenntnis auch auf den Menschen abgrenzen, also Theorien, die den Menschen nur als einen organischen, wenn auch am höchsten entwickelten Teil der Tierwelt betrachtet: »Aber gerade sich selbst wird der Mensch das größte Räthsel, je mehr er über sich nachdenkt. Man hat zwar versucht, den Menschen ganz nahe hinanzurücken an ähnliche Wesen, man sprach von gewissen Affengattungen, die von der Natur des Menschen nur ein klein wenig entfernt seien.«1957 Demgegenüber beharrt Geiger auf der überkommenen Auffassung von der ontologischen Differenz von Mensch und Tier »Der Mensch hat einen Geist, eine Fähigkeit in sich, die mit dem Körper insofern zusammenhängt, als sie ihn bewegt, beseelt, die aber doch noch weit mehr ist, indem sie ihn zur vernünftigen Betrachtung hinführt.«1958 Der Mensch steht zwar zum einen innerhalb dieser materiellen organischen Welt, ragt aber doch zugleich über sie hinaus: »Nein! Der Mensch ist ein durchaus anders gearteter. Er, der an Raum und Zeit wie alles Körperliche und Irdische gebunden ist, der einzelne Mensch, der an einen bestimmten Boden geknüpft ist, der in kleinen Zeittheilchen sich bewegt, er überwindet dennoch wiederum Raum und Zeit in seinem Innern, er vermag sich in die entlegensten Gegenden zu versetzen, er kann die Vergangenheit sich vorführen, die Zukunft ahnen, er hat eine Vorstellung von dem, was die Gegenwart überragt. Das kann nicht am Körper haften. Der Körper ist räumlich, zeitlich, es kann aus ihm nichts hervorgehen, was Raum und Zeit überwindet. […] Die Erkenntniß ist sein Eigenthum geworden, er
1956 Judenthum, 1864, S. 7; 1910, S. 5. 1957 Judenthum, 1864, S. 8; 1910, S. 6; zu dem jüdischen Proto-Darwinismus Schnaber-Levisons, s. oben Kap. Haskala, II, 5; außerdem war im Jahre 1859 Charles Darwins (1809–1882) On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Die Entstehung der Arten) erschienen; zuvor hatte schon Jean Baptiste de Lamarck (1744–1829) seine biologischen Werke mit deren Evolutionstheorie publiziert. 1958 Judenthum, 1864, S. 8f; 1910, S. 7.
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schreitet von der einen, die in sicherem Gewahrsam bei ihm ruht, zur anderen fort.«1959 Es ist diese geistige Ungebundenheit, welche die eine Seite des Menschen prägt, jene Seite, die Geiger als die »Freiheit« des Menschen beschreibt, eine Freiheit die sich insbesondere in der menschlichen Sprache, als dem »treuesten Abbild des Geistes« bekundet.1960 Aber mit dieser Freiheit des Menschen, die das »Gepräge der Herrschaft« trägt, ist noch nicht sein ganzes Wesen beschrieben. Denn auf Schritt und Tritt fühlt sich diese geistig-denkerische Freiheit des Menschen eingeengt, fühlt allenthalben zugleich auch überall »Schranken«, die ihn begrenzen, Schranken, »die ihm gesteckt sind in seinem Leben und in seinem Denken.« »Also frei, und dennoch wiederum gebunden!« 1961 Die Freiheit des Menschen zeigt sich außer in seinem Denken in seiner freien Wahl, all das zu tun, was er will, und deren Begrenzung daran, dass sein Wollen durch außer ihm liegende Gründe bestimmt wird, die zugleich von seinen eigenen Erkenntnissen abhängen. Der Mensch erkennt, dass er ein Kind seiner Zeit ist, überhaupt, dass er nicht der Schöpfer seiner selbst ist, sondern von so vielem außerhalb seiner abhängt. Kurz, der Mensch besitzt eine »Doppelnatur«: »Es ist diese Doppelnatur in ihm, das Bewußtsein seiner Größe und Erhabenheit und wieder das demüthigende Gefühl seiner Unselbständigkeit, das Streben, sich zu jenem Quell zu erheben, aus dem auch seine geistige Kraft, die kleine selbstschöpferische, weil sie bedingt ist, hervorgeht, und dennoch auf der anderen Seite das Unvermögen, vollkommen die hohe Stufe einzunehmen.«1962 Es ist diese Doppelnatur des Menschen, die sein Wesen ausmacht. Es ist nicht die mittelalterliche Doppelnatur von Körper und Seele, oder Körper und Intellekt. Beide Seiten dieser Doppelnatur des Menschen sind nach Geiger im Bewußtsein des Menschen verankert. Das Wesen des Menschen bei Geiger ist aber auch nicht jenes der mittelalterlichen Philosophen, welche dieses sein Wesen im Intellekt oder in der rationalen Seele begründet sehen. Das Wesen des Menschen liegt nach Geiger im »Bewußtsein« des Menschen und zu diesem Bewusstsein gehört der Geist, oder auch der Intellekt zwar hinzu, macht es aber nicht aus. Es ist das Selbstwissen des Menschen um sich, zwischen diesen beiden Polen zu le1959 Ebd. 1960 Judenthum, 1864, S. 9; 1910, S. 8. 1961 Judenthum, 1864, S. 10; 1910, S. 9. 1962 Judenthum, 1864, S. 10f.; 1910, S. 9f.
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ben, zwischen geistiger Freiheit, welche ihm das Gefühl der Herrschaft über die Dinge der Welt verleiht, und zwischen dem Gefühl der Abhängigkeit, dem Gefühl, letztlich doch nicht Herr seiner selbst zu sein, sondern bedingt zu sein. Und es ist gerade dieser Punkt der Definition des menschlichen Wesens, der nach Geiger zutiefst auch das Wesen der Religion ausmacht: »Ist nun das nicht wahrhaft Religion? Das Bewußtsein von der Höhe und Niedrigkeit des Menschen, dieses Streben nach Vervollkommnung mit dem Bewußtsein, daß man zur höchsten Stufe sich nicht emporringen könne, dieses Ahnen des Höchsten, das als freiwaltender Wille vorhanden sein muß, dieser Weisheit, aus der auch unser Stücklein Weisheit hervorgeht, einer unendlich waltenden Freiheit, aus der auch unsere bedingte Freiheit erzeugt ist, dieses Emporsehnen, sich Erheben mit aller Kraft der Seele, ist dies nicht recht das Wesen der Religion? Religion ist nicht ein System von Wahrheiten, sie ist der Jubel der Seele, die ihrer Höhe bewußt ist, und zugleich wieder das demüthige Bekenntniß der Endlichkeit und Begrenztheit, Religion ist der Schwung des Geistes nach dem Idealen hin, das Emporstreben nach den höchsten Gedanken, das Verlangen im geistigen Leben zu reifen und immer mehr sich zu vertiefen, das Körperliche und Irdische zu bewältigen, und auf der andern Seite das Gefühl, die nicht zu beseitigende Empfindung, daß man dennoch gebunden ist an das Endliche und Begrenzte, Religion ist der Schwung nach dem Höchsten hin, den man als die einzige, volle Wahrheit begreift, der Aufschwung nach der Alles umfassenden Einheit, welche einmal der Mensch als ein Ganzes nach der ganzen Natur seines Geistes in sich ahnt, als die Grundlage alles Seins und Werdens, als die Quelle alles irdischen und geistigen Lebens, die er, wenn er sie auch nicht vollkommen erkennt, doch als lebendigste Überzeugung in sich trägt. […] Allein das ist das eigentliche Wesen des Menschen, seine Natur, und muß so sein, weil er ein Einzelwesen ist, ein losgerissenes Stück aus dem ganzen geistigen Leben, zu dem er sich emporgezogen fühlt, ohne es ganz in sich aufzunehmen.«1963 Aus alledem geht hervor, was Geiger sogleich unter Berufung auf Lessing betont, dass das vollkommene menschliche Leben und sein Wesen niemals im Besitz der vollkommenen Wahrheit besteht, sondern alleine im »Streben nach der Wahrheit«, das ist wahre Religion. Mit einer solchen Auffassung ist auch der Stab über einer Tradition gebrochen, die sich als ein für allemal gegebene Wahrheit versteht. Wahre Religion wird sich nie mit dem einmal Empfangenen begnügen, sondern strebt stets weiter fort. Und mit dieser Aussage ist auch die Behauptung überholt, Religion sei ein je überwindbares Stadium menschlicher 1963 Judenthum, 1864, S. 11; 1910, S. 10.
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Entwicklung, von welcher der oben zitierte »Gemeinplatz« sprach. »Die Religion ist ein Leben. Das ganze Thun des Menschen, insofern es von höheren Gesichtspunkten geleitet ist und nach ihnen hinstrebt, ist ein Werk der Religion, ist eine Errungenschaft derselben. Die Religion wird geläuterter, klarer werden, aber sie wird immer bleiben, weil das Sehnen und die Unvollkommenheit in dem Menschen immer bleiben wird.«1964 Welch ein Unterschied zu den bisher hier verhandelten Auffassungen vom Wesen des Menschen und dem was ihn zum Menschen macht, was nach Geiger einfach mit dem Begriff von »Religion« zusammengefasst werden kann. Welcher Unterschied zu den bisherigen jüdischen Vorstellungen von Frömmigkeit oder Religion. War »Religion« im Sinne des rabbinischen Denkens der Gehorsam gegenüber dem am Sinai offenbarten Willen Gottes, oder die ethische imitatio dei, nach den mittelalterlichen Konzeptionen die Erlangung der Glückseligkeit durch die Vervollkommnung des Intellekts mit Hilfe der Wissenschaft, die vom Gebot, oder der Ethik, allenfalls unterstützt und gefördert wird, oder die mystische Vereinung mit dem Göttlichen in den verschiedenen Phasen der Mystik. Und hier bei Geiger die Religion als das doppelte Bewusstsein des Menschen, das unabhängig vom Gebot und der Offenbarung ein universaler Wesenszug aller Menschen ist. Die Wende Geigers kann nicht stark genug betont werden, umso mehr als er als einer der Väter der Reformbewegungen im Judentum bis auf unsere Tage gesehen wird. Natürlich ist Geigers Auffassung vom Menschen und von der Religion nicht »vom Himmel gefallen«. Er ist, und das hat er in seinen vorangegangenen Äußerungen ja selbst nachdrücklich betont, eben wie jeder Mensch ein Kind seiner Zeit. Und einer der Väter dieser Zeit war der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher, dessen diesbezüglichen Auffassungen hier noch kurz in Erinnerung gerufen werden sollen. Die Nähe Geigers zu Schleiermacher zeigt sich besonders zu dessen späteren Auffassungen, wie sie etwa in der zweiten Auflage seiner Glaubenslehre von 1830/31 dargelegt sind. Dort wird gleich zu Anfang die »Frömmigkeit« als »eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins« definiert.1965 Im Paragraphen vier wird dieses derart definierte »Wesen der Frömmigkeit« von Schleiermacher als ein Bewusstsein von doppelter Natur beschrieben:
1964 Judenthum, 1864, S. 12; 1910, S. 11. 1965 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage 1830/31, hier zitiert nach der Auswahlvon Heinz Bolli, Schleiermacher-Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl Barth, München und Hamburg 1968, Einleitung § 3, S. 20.
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»In jedem Selbstbewußtsein also sind zwei Elemente, ein – um so zu sagen – Sichselbstsetzen und ein Sichselbstsonichtgesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein; das letzte also setzt für jedes Selbstbewußtsein außer dem Ich noch etwas anderes voraus, woher die Bestimmtheit desselben ist, ohne welches das Selbstbewußtsein nicht gerade dieses sein würde. Dieses andere jedoch wird in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, mit dem wir es hier allein zu tun haben, nicht gegenständlich vorgestellt. Denn allerdings ist die Duplizität des Selbstbewußtseins der Grund, warum wir jedesmal ein anderes gegenständlich aufsuchen, worauf wir unser sosein zurückschieben; […] in dem Selbstbewußtsein ist nun zweierlei zusammen, das eine Element drückt aus das Sein des Subjekts für sich, das andere sein Zusammensein mit anderem. – Diesen zwei Elementen, wie sie im zeitlichen Selbstbewußtsein zusammen sind, entsprechen nun in dem Subjekt dessen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit.«1966 Das Wesen der Religion bei Geiger wird demnach mithilfe derselben Bewusstseinsstruktur wie die »Frömmigkeit« bei Schleiermacher beschrieben. Da ist das eigenmächtige »Sichselbstsetzen« mit seiner »Selbsttätigkeit« und ihm gegenüber das von anderswoher gesetzt sein, das einer »Empfänglichkeit« entspricht. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung sind die beiden Seiten dieses Bewusstseins, welches die Frömmigkeit nach Schleiermacher ausmacht. Im folgenden Abschnitt desselben Paragraphen verwendet nun Schleiermacher eben jene Terminologie, zu welcher schließlich auch Geiger gegriffen hat. Bei Schleiermacher heißt es da: »Das Gemeinsame aller derjenigen Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins, welche überwiegend ein Irgendwohergetroffensein der Empfänglichkeit aussagen, ist daß wir uns abhängig fühlen. Umgekehrt ist das Gemeinsame in allen denjenigen, welche überwiegend regsame Selbsttätigkeit aussagen, das Freiheitsgefühl.«1967 Es sind diese Gedanken, die Geiger von Schleiermacher übernimmt. Er folgt ihm allerdings nicht in seiner Differenzierung von »Abhängigkeitsgefühl« allgemein und »schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl«. Das allgemeine Abhängigkeitsgefühl ist nach Schleiermacher auf allerlei »Gegenstände« dieser Welt bezogen, also auf Teile des Universums und solchen gegenüber gibt es zugleich das »Freiheitsgefühl« des Menschen. In diesem »Weltbewußtsein« des Menschen gibt es nach Schleiermacher die Wechselwirkung, also die Wirkung des Menschen auf 1966 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Einleitung § 4.1, S. 27. 1967 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Einleitung § 4.2, S. 28.
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die Welt, von der er seinerseits Wirkung erfährt.1968 Nicht so ist es bei dem »schlechthinnigen Abhängigkeitsverhältnis«. Dieses ist auf eine »überendliche und absolute Instanz« bezogen, das heißt Gott, welcher die »absolute unendliche Einheit« ist, und auf ihn kann es keine menschliche Wirkung geben, kein Gefühl der Freiheit des Menschen Ihm gegenüber.1969 Demgegenüber sieht Geiger auch gerade in der Religion, die sich auf das Allerhöchste bezieht, ein menschliches Streben und Bemühen, den ewigen Weg, auf dem der Mensch gehen soll, als Zeichen seiner Freiheit. Hier folgt Geiger den alten jüdischen Traditionen seit der rabbinischen Antike über die mittelalterliche Philosophie und Kabbala, die schon immer dem Menschen die Befähigung einräumten zu Gott hinzustreben oder gar auf ihn einzuwirken.
5.
Der Mensch als Ebenbild Gottes
Dieser Topos, vom Menschen als Ebenbild Gottes hat den Leser dieses Buches von seinen ersten Seiten an stets begleitet, eben weil mit dieser Lehre jüdische Theologie und Anthropologie aufs Engste miteinander verbunden sind und an der Veränderung des Verständnisses dieser Lehre die Veränderung jüdischen Denkens sichtbar wird. Das Gottesbild Geigers nimmt verschiedene Topoi aus der zeitgenössischen Philosophie auf. Da ist zum einen, wie der folgende Abschnitt zeigt, vom »Allgeist« die Rede, der sich dem menschlichen Geiste mitteilt. Weiter unten werden wir sehen, dass er von einer »Gottesidee« spricht, sodann von der Gottheit als dem Vorbild der Sittlichkeit, Gott – mit Immanuel Kant – gleichsam als Postulat für die Ermöglichung der Sittlichkeit, und schließlich die Gottheit als das »Sein«. Oben war schon deutlich geworden, dass das Wesen des Menschen in seinem dualistischen Bewusstsein, von der menschlichen Höhe und Niedrigkeit zugleich, besteht, eine Aussage die in die Entsprechungslehre der Ebenbildlichkeit gewiss nicht passt. Dennoch fasst auch Geiger die wesentlichsten Gesichtspunkte seiner Anthropologie unter diesem Topos jüdischer Anthropologie zusammen, und sucht möglichst viele der aufgezählten Elemente darin unterzubringen. Natürlich ist die erste Deutung, die Geiger für sehr alt hält, die, dass die Ebenbildlichkeit »in geistigem Sinne gemeint wird«. Geiger verweist auf den Psalm 8, in dem die Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dessen herrlicher Ausstattung und Einsetzung über das göttliche Schöpfungswerk gedeutet wird.1970 Aber gerade hier fügt Geiger eine für ihn bezeichnende Auslegung hinzu: 1968 So M. Redeker, Friedrich Schleiermacher. Leben und Werk (1768–1834), Berlin (Göschen) 1968, S. 164. 1969 S. Redeker, Schleiermacher, S. 164; Schleiermacher, der christliche Glaube, § 4.2, S. 29. 1970 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 136.
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»Überall tritt der Mensch uns entgegen in dieser seiner Erhabenheit, die ihm eben den Schwung verleiht, daß er auch zu größerer Erhabenheit sich entfalte, nach ihr strebe. Denn der Mensch hat diese Fähigkeit der Entwickelung zum Höheren hin: Ja, ein Geist ist in dem Menschen und der Hauch des Allmächtigen giebt ihm Einsicht. Die Vernunft, als ein Strahl aus der göttlichen Vernunft, adelt den Menschen, erweckt in ihm das Sehnen, zu der Allvernunft mehr und mehr sich zu erheben. Das Wesentlichste ist aber wiederum in ihm das Bewußtsein der sittlichen Kraft, die dem Menschen eingeflößt ist und seinen wahrhaften Adel begründet, seiner sittlichen Kraft, die gerade, weil sie das Streben nach voller Reinheit weckt, ihn auch umsomehr wieder die Endlichkeit auch in dieser Beziehung, die Schranken im sittlichen Leben empfinden läßt. Er fühlt, daß die Sinnlichkeit von Jugend auf ihn begleitet, daß sie zu seinem Grundwesen gehört, so daß ein Kampf erzeugt wird zwischen dem Sinnlichen und den geistigen Idealen.«1971 Die Macht und Erhabenheit des Menschen, so Geiger, liegt in seiner Fähigkeit zur Strebsamkeit, zur Höherentwicklung, wie sich dies ja nicht nur im Individuum, sondern auch in der Völkergeschichte zeigt. Natürlich gehört die menschliche Vernunft auch hierher, dies ist seit dem Mittelalter ein fester Topos. Anders aber als die mittelalterlichen Philosophen wird bei Geiger das Sittliche, das heißt das Ethische, zu dem herausragenden Faktor in der Fähigkeit des Menschen, also das, was bei den mittelalterlichen Philosophen nur eine sekundäre und unterstützende Funktion hatte. Für Geiger steht das Sittliche an erster, das Intellektuelle an zweiter Stelle. Dies ist eine vollkommene Verkehrung der mittelalterlichphilosophischen Bewertung und eine scheinbare Annäherung an die rabbinische Position der ethischen Deutung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.1972 Ich betone »scheinbar«, da bei Geiger die Verwirklichung des Sittlichen der idealistischen Vorstellung folgt, nämlich dass es der »Geist« ist, der sich im Ethischen oder Sittlichen verwirklicht, wohingegen die Rabbinen hier vom puren Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes sprechen. In einer neuerlichen Erwähnung der imago-Lehre hebt Geiger darum nochmals im idealistischen Sinne deutlicher auf das »Geistige« ab, welches den Menschen als ganzes bestimmt: »Die Bestimmtheit, mit der [im Judentum] immer von der geistigen Macht gesprochen wird, sowohl von dem geistig lebendigen Gott als auch von dem durch den Geist lebendigen Menschen […] ist der Bürge für den Glauben
1971 Judenthum, 1864, S. 23; 1910, S. 23f. 1972 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280ff., 462ff.
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des Judenthums, daß der Geist ein ewiger ist und nicht abgeschnitten wird.«1973 Damit ist natürlich, im Sinne Hegels, der allgemeine Geist gemeint, der sich durch die menschlichen Generationen hindurch in dieser Welt realisiert. Und es sind laut Geiger die »gesunden Völker«, welche »das entschiedene Bewußtsein ihrer geistigen Kraft [haben], sie fühlen die Unendlichkeit und Ewigkeit des Geistes bereits in der Gegenwart.«1974 Es ist dieser Glaube an die Ewigkeit des Geistes, welcher mithin auch den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele verbürgt, »der Geist des Menschen steigt nach oben«. Natürlich kann sich Geiger der rabbinischen Lehre von der Auferstehung des Leibes nicht entziehen, wiewohl sie dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele eigentlich widerspricht, aber er hängt nicht wirklich an der Auferstehung und meint, dass man die antiken Sadduzäer, welche die Auferstehung leugneten, deshalb vielleicht nicht als Ungläubige verdammen darf.1975
6.
Die Offenbarung – deren anthropologische und ethnische Grundlage
Die Tatsache einer göttlichen Offenbarung ist das Schibbolet aller »Offenbarungsreligionen«, um einen Terminus von Saul Ascher aufzunehmen,1976 zu denen ja das Judentum gehört. Seit der Hebräischen Bibel ist es das Ereignis am Sinai, welches Israel zum Gottesvolk konstituierte und das Volk Israel als »Knechtsvolk« Gottes, das Judentum als Dienstschaft an dem Gott vom Sinai definierte. Es ist weiterhin nach der Bibel dieser selbe Gott, der sich wider deren Willen und nicht ohne Zwang auch den Propheten offenbarte, um ihnen seinen Willen kundzutun. Die Tora, so formuliert es dann vor allem das nachexilische Judentum und die rabbinische Theologie, ist der bleibende Träger dieser einmaligen und für immer gültigen sinaitischen Offenbarung. Die nachfolgende Prophetie, die nach der Lehre der Rabbinen der Sinaioffenbarung gegenüber keine selbständige Stellung einnimmt,1977 ist mit der Zerstörung des Ersten Tempels im Jahre 587 vor der Zeitrechnung zu Ende gegangen. Damit ist für rabbinisches Denken die Offenbarung Vergangenheit, an ihre Stelle trat die Auslegung der Offenbarung durch die Gelehrten. Diese Beschränkung der Prophetie auf das biblische Altertum wird mit den mittelalterlich aristotelisch-platonischen Konzeptionen von der Prophetie als einer »natürlichen« Begabung des intellektuellen Menschen wenigstens der Theo1973 Judenthum, 1864, S. 91; 1910, S. 96. 1974 Ebd. 1975 Judenthum, 1864, S. 92f.; 1910, S. 98. 1976 S.oben Kap. Haskala, IV, 3–4. 1977 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 230f.
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rie nach wieder aufgehoben und dann tatsächlich von einzelnen Philosophen und Mystikern als eine gegenwärtige Möglichkeit akzeptiert oder gar praktiziert. Hier galt die Prophetie entweder als Gipfelpunkt der rationalen Entwicklung – der Philosoph war zugleich Prophet1978 – oder als Empfänger einer von ihm selbst herbeigeführten göttlichen Emanation, auf die er sich gründlich vorbereitet hatte.1979 Die Ausführungen Abraham Geigers über dieses zentrale Thema der Religion stehen, wie schon die mittelalterlichen Konzeptionen, in einem seltsamem Schwanken zwischen einer rein anthropologischen und einer theologischtranszendentalen Erklärung, wobei der transzendentale Gesichtspunkt eher angedeutet wird, während der anthropologische eine eingehende Erörterung erfährt. In alledem, das sei schon vorweggenommen ist Geiger wiederum »Kind seiner Zeit« und steht deutlich Auffassungen nahe, wie er sie von Johann Gottfried Herder und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) kennengelernt haben konnte. Der Ausgangspunkt von Geigers Rede über die Prophetie, welcher das dritte Kapitel seiner Vorlesungen gewidmet ist, ist die »Idee«, oder des Näheren die »Religionsidee«. Es ist die Idee, welche die eigentliche Triebkraft des Prophetischen ist – dies ist für Geiger die transzendente Seite – denn die Idee gilt ihm von einem »höheren Geiste getragen«, sie ist Zeichen des »Wehens eines höheren Geistes«. Von dieser Idee sagt Geiger, sie sei eine »ursprüngliche Kraft«, »eine schöpferische Macht«.1980 Es ist nach der Auffassung Geigers diese Kraft, dieser Geist, der gemeint ist, wenn die biblischen Texte im Zusammenhang der prophetischen Rede von »Gott« sprechen. Der Anschein der Transzendenz dieser Kraft, dieses Geistes, wird aber alsbald beiseite geräumt, wenn Geiger an anderer Stelle desselben Kapitels die Frage stellt, woher denn diese Kraft komme, welche sich als Idee in den Menschen auswirkt: »Woher nun diese Kraft, die als ein so Urplötzliches auftritt? Wir gelangen hier an den tiefen Grund der menschlichen Seele, über den hinaus wir nicht können, an eine Urkraft, die schöpferisch aus sich selbst wirkt, ohne daß sie von einem Äußeren Antriebe getragen würde.«1981 Um diese Frage nun nicht nur in einer so andeutungsweisen, auf die menschliche Seele deutenden Weise, zu beantworten, sondern sie wie es für einen »zünftigen« Religionsphilosophen seiner Zeit gehört, auf den »Begriff« zu bringen, nimmt 1978 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 419ff., 468ff. 1979 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 421; Bd. 2, S. 354–360. 1980 Judenthum, 1864, S. 27f., 30; 1910, S. 28f., 31. 1981 Judenthum, 1864, S. 30; 1910, S. 32.
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Geiger Anregungen aus einer im Deutschland jener Jahre geführten Debatte auf, aus den Darlegungen von Philosophen und Literaten gleichermaßen, die über das Phänomen und das Wesen des »Genies« debattierten.1982 Geiger eröffnet seine diesbezügliche Darstellung mit folgenden Worten: »Wir unterscheiden im Allgemeinen bei dem Menschen ein doppeltes geistiges Wirken, eine zwiefache, bevorzugende Begabung; wir unterscheiden das Talent und das Genie, die einander zwar vielfach berühren, zwischen denen die Grenzlinie nicht so scharf gezogen werden kann, und die dennoch in ihrer ganz entschiedenen Besonderheit bleiben.«1983 Das Talent ist demnach die schnelle Auffassungsgabe, die Fähigkeit, geschickt zu reproduzieren. Das Talent lehnt sich aber doch stets an bereits Geleistetes an. Nicht so das Genie: »Anders das Genie. Es lehnt sich nicht an, es schafft, es entdeckt Wahrheiten, die bis dahin noch verborgen waren, es enthüllt Gesetze, die bis dahin noch nicht bekannt waren, es ist, als wenn sich in ihm die Kräfte, welche in der Natur tief unten arbeiten, in ihrem Zusammenhange, nach ihrem gesetzmäßigen Ineinanderwirken in höherer Klarheit enthüllten, als wenn sie greifbar vor es hinträten, als wenn die geistigen Bewegungen in dem Einzelnen wie in der Gesammtheit der Menschen ihren Schleier vor ihm hinwegzögen, damit es hineinzuschauen vermöge in den tiefsten Urgrund der Seele und dort die Triebfedern und Beweggründe sich loszulösen verstände. […] das Genie ist eine freie Gabe, es ist ein Gnadengeschenk, ein Mal der Weihe, das eingeprägt dem Menschen, das nimmermehr erworben werden kann, wenn es nicht im Menschen vorhanden ist. […] das Genie dagegen tritt mit siegreicher Macht gegen die härtesten Widerwärtigkeiten auf, es bricht sich Bahn, es muß seine Kraft entfalten, denn es ist ein lebendiger Drang, eine Macht, die stärker ist, als der Träger, eine Berührung mit der in der Natur zerstreuten Kraft, die gesammelt sich niederläßt, mit dem Allgeiste, der in höherer Erleuchtung sich ihm kundgiebt. […] das Genie bereichert die Menschheit mit neuen Wahrheiten und Erkenntnissen, es giebt den Anstoß zu allem Großen, was in der Welt geschieht, sich ereignet hat und ereignet.«1984
1982 Dazu s. die sehr anschauliche Darstellung von J. Schmidt, Die Geschichte des Genie – Gedankens 1750–1945, Darmstadt 1985. 1983 Judenthum, 1864, S. 31; 1910, S. 32. 1984 Judenthum, 1864, S. 31; 1910, S. 32f.
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Die Fähigkeit des Genies ist, im Gegensatz zu dem des Talents, niemals erlernbar, es ist gleichsam eingeboren, aber ist doch ein allgemeinmenschliches Phänomen, wenn auch auf einzelne Individuen beschränkt. Das Genie sieht Dinge, die zwar allpräsent sind, aber doch von den meisten nicht erkannt werden. Nur das Genie sieht solches, sieht das Wirken des Allgeistes in den Dingen. Diese Fähigkeit des Genies, das zeigen die von Geiger angeführten Beispiele, kann sich auf die unterschiedlichsten Bereiche menschlichen Erkennens und menschlicher Kultur beziehen. Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die astronomischen Erkenntnisse des Kopernikus, die physikalischen von Newton, hier das Gesetz der Gravitation, sie alle wurden mit dem »genialen Blick«, mit dem »Auge des Genies« erkannt. So auch der Geschichtsforscher, der das »Räderwerk der Ideen« hinter den zahllosen Details der Ereignisse erkennt, oder der Dichter, der »tief in die Seele« des Menschen hineinzuschauen vermag: »Es ist der Blick, der sicherer und geschärfter aus der einzelnen Erscheinung das ganze Leben der menschlichen Seele in sich aufnimmt und es wiederzugeben weiß. Ja, nur die Genialität befähigt den Einzelnen, daß er mächtig eingreift in die Bewegungen des Geistes und sie Jahrhunderte hinaus fördert, und wie den Einzelnen, so auch ganze Völker.«1985 Das Genie ist eine besondere menschliche Befähigung einzelner herausgehobener Menschen, das sich in den unterschiedlichsten Lebens- und Geistesbereichen betätigen kann, es ist eine einzelnen Individuen geschenkte Begabung gerade so wie die Musikalität. Wenn Geiger unter dieser Kategorie des Genies nun gerade auch die Prophetie abhandelt, so ist damit gesagt, dass sie eben eine menschliche Begabung unter anderen ist. Prophetie ist damit nicht von einer eigenen Kategorie, sondern sie ist eine der Spezialisierungen des Genies, das sich ja auf ganz unterschiedlichen Bereichen erweisen kann. Es ist wert an dieser Stelle einige Sätze aus Johann Gottlieb Fichtes Vorlesung »Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinung aus dem Gebiete der Freiheit« von 1805 anzuführen, welche den Kontext des Geigerschen Denkens aufzeigen. Auch für Fichte realisiert sich die Idee, die göttliche Idee im Dasein von Menschen, insbesondere im Dasein des Gelehrten, der von dieser Idee völlig in Beschlag genommen wird, die ihn treibt und lenkt: »Die ewige göttliche Idee kommt hier in einzelnen menschlichen Individuen zum Daseyn: […] und dann sagen wir, dem Scheine uns bequemend, dieser Mensch liebt die Idee und lebt in der Idee, da es doch, nach der Wahrheit, die Idee selbst ist, welche an seiner Stelle und in seiner Person lebt und sich liebt, 1985 Judenthum, 1864, S. 33; 1910, S. 34.
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und seine Person lediglich die sinnliche Erscheinung dieses Daseyns der Idee ist […] In dem wahrhaften Gelehrten hat die Idee ein sinnliches Leben gewonnen, welches sein persönliches Leben völlig vernichtet, und in sich aufgenommen hat.«1986 Es ist bei Fichte wie bei Geiger, die Idee, die den Menschen, hier den Gelehrten, dort den Propheten treibt, so dass in ihm nur noch die Idee lebt, nicht eigentlich mehr der sinnliche Mensch, der ganz hinter der Idee, die er vertritt, zurücktritt. Der Mensch ist, wie Fichte an anderer Stelle wiederholt, das »einzige und unmittelbare Werkzeug und Organ der göttlichen Idee in der Sinnenwelt.« Und diese Selbstoffenbarung der Idee gerade im Menschen ist nicht zufällig so, denn das wirkliche Ziel dieser göttlichen Idee ist »Die Fortbildung der menschlichen Gattung.«1987 Zwar wirkt die göttliche Idee auch nach Fichte gleichfalls in der Natur, in deren Gesetzen, aber doch nicht in so unmittelbarer Weise wie beim Menschen, der der wirkliche Träger der Idee in der Welt ist und diese voranbringt, wo die Natur doch stets in ihrem gleichen Rhythmus stehen bleibt. Die Wirkungsweise der göttlichen Idee ist nun bei beiden Denkern, bei Fichte wie bei Geiger, nicht auf eine einzige Geistestätigkeit des Menschen beschränkt, sondern wirkt sich in allen Bereichen seines geistigen Tuns aus. Geiger führte die Beispiele des seefahrenden Geographen, des Physikers, des Astronomen, des Historikers und des Dichters an. Entsprechend sagt auch Fichte: »Die genannten Wirkungssphären: die der Gesetzgebung, die der Naturerkenntnis und der Naturherrschaft, die der Religion, sind die allgemeinsten, in denen die göttliche Idee durch Menschen in der Sinnenwelt sich äußert und darstellt. Es ist sichtbar, dass jeder dieser Hauptzweige wiederum seine einzelnen Theile habe, in denen vereinzelt die Idee sich offenbaren könne.«1988 Es sind all diese Bereiche, in welchen das Drängen der Idee die Fortschritte in den verschiedenen Bereichen der menschlichen Kultur bewirkt.1989 Die Gemeinsamkeit zwischen Fichte und Geiger reicht noch einen Schritt weiter. Es ist bei ihm nicht nur die Idee, welche den Gelehrten treibt, sondern für ihn ist der Gelehrte ein Genie, wie für Geiger der Prophet. Auch Fichte sieht eine anthropologische Seite des Gelehrten-Phänomens. Es ist der »Trieb« im Men-
1986 Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke. Herausgegeben von J.H. Fichte, Berlin 1845, Dritte Abteilung. Populärphilosophische Schriften (Neudruck Berlin 1965), Band VI, S. 356. 1987 Fichte, Werke, Bd. VI, S. 368. 1988 Fichte, Werke, Bd. VI, S. 370. 1989 Ebd.
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schen, für die Idee zu kämpfen, der Trieb des Genies. So sagt er in seiner dritten Vorlesung zum Thema: »Man nennt diesen soeben beschriebenen Trieb nach einem nicht deutlich gekannten Geistigen Genie: […] Er ist ein Übernatürliches, nach einem anderen Übernatürlichen Hinziehendes im Menschen, welches die Verwandtschaft desselben mit der geistigen Welt, und seine ursprüngliche Heimath in dieser Welt andeutet. […dieser Trieb wird in seiner wirklichen Erscheinung] immer sich darstellen, als ein Trieb für eine besondere Seite der Einen an sich untheilbaren Idee, oder […] als Trieb für eine besondere Idee in der Sphäre aller möglichen Ideen; oder wenn dieser Trieb Genie genannt wird, – das Genie wird immer erscheinen als ein besonderes Genie, für Philosophie, Poesie, Naturbeobachtung, Gesetzgebung und dergleichen, keineswegs aber bloss im Allgemeinen als Genie. Dieses besondere Genie ist, nach der ersten [zuvor ausgeführten] Annahme, gleich als besonderes in dieser seiner Bestimmtheit angeboren; nach der zweiten ist es nur im Allgemeinen als Genialität überhaupt angeboren, und lediglich, durch den ohngefähren Gang der Bildung, in Genie für dieses besondere Fach verwandt worden.«1990 Die Spezialisierung der Genialität, die Fichte hier beschreibt, ist eine Auffassung, die, wie oben schon deutlich wurde, auch Abraham Geiger teilt, wenn er sie in den unterschiedlichsten Fachgebieten durch unterschiedliche Individuen realisiert sieht. Diese spezialisierte Realisierung des Genies in einzelnen Menschen sieht Abraham Geiger analog nun auch als Spezialisierung einzelner Völker, wie in dem zuletzt von ihm angeführten Zitat in der Schlussbemerkung angezeigt wird. Mit seiner Schlussbemerkung, nach welcher es auch auf bestimmte Fachgebiete spezialisierte Genialitäten ganzer Völker gibt, überträgt Geiger den Gedanken der Spezialisierung des Genies vom Individuum auf Volks-Kollektive auf »Völkerindividualitäten«.1991 Er folgt darin einer gleichfalls in seiner Zeit verbreiteten Auffassung, die man als »Volksgeist-Lehre« bezeichnen kann, was oben in der Einleitung zum 19. Jahrhundert und im Kapitel zu Samson Raphael Hirsch schon beschrieben wurde.1992 Diese Wendung zur »Volksgeist-Lehre« dient Geiger dazu, zu begründen, weshalb das – im christlichen Europa ja allgemein anerkannte – Phänomen der Prophetie gerade bei den alten biblischen Israeliten aufgetreten ist.
1990 Fichte, Werke, Bd. VI, S. 373f. 1991 Judenthum, 1864, S. 14; 1910, S. 13. 1992 Oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, I, und s. III, 3.4; und s. zu Nachman Krochmal, Haskala, V, 5.
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Geiger begnügt sich, neben den Juden die Griechen als Beispiel für eine unterschiedliche »Volksgenialität« oder »Volksanlage« anzuführen. Zu den Griechen sagt er da: »Die Griechen hatten nicht Vorbild und Lehrer in Kunst und Wissenschaft, sie waren sich selbst Lehrer und Meister, sie traten alsbald mit einer Vollendung auf, die sie zu Lehrern der Menschheit fast für alle Zeit macht. Es ist, als wenn dem Volke eingeboren wäre der höhere, lebendigere Sinn für das Schöne, Harmonische, Wohlgefügte und lieblich Gestaltete, es ist eine Volksgenialität, die es befähigte, daß aus ihm Meister in jeglicher Kunst und Wissenschaft hervortraten.«1993 Diese Spezialisierung der Griechen auf Kunst und Wissenschaft ist es, die ihm eine bleibende Stellung und Bedeutung in der Weltgeschichte des Geistes verschufen, so wie andere Völker wieder ihre besonderen Fähigkeiten zu dieser Menschheitsleistung beitrugen. Sollten da nicht auch die Juden eine Genialität besitzen, die ihnen eine bleibende Stellung in diesem Konzert geben. Geiger stellt darum sogleich die rhetorische Frage: »Hat nicht das jüdische Volk gleichfalls eine solche Genialität, eine religiöse Genialität? Ist es nicht gleichfalls eine ursprüngliche Kraft, die ihm die Augen erleuchtete, daß sie tiefer hineinschauten in das höhere Geistesleben, die enge Beziehung zwischen dem Menschengeiste und dem Allgeiste lebendiger erkannten, inniger empfanden, die höhere Anforderung des menschlichen Lebens, die tiefere Natur des Sittlichen im Menschen mit einer größeren Kraft und Klarheit erschauten und als Erkenntnis aus sich heraus gebaren? Ist es also, so ist dies die innigere Berührung des Einzelgeistes mit dem Allgeist, das Hineinleuchten der Alles erfüllenden Kraft in die einzelnen Geister, so daß sie ihre endliche Schranke durchbrachen, das ist, scheuen wir doch das Wort nicht, Offenbarung, und zwar wie sie im ganzen Volke sich kundgab.«1994 Jetzt ist es gesagt! Die Offenbarung ist nur eine Sonderform eines Volksgeistes oder einer Volksbegabung, wie die Kunst und Wissenschaft bei den Griechen.
1993 Judenthum, 1864, S. 33; 1910, S. 35. 1994 Judenthum, 1864, S. 34; 1910, S. 35; zur Bedeutung der Geschichte bei Geiger s. H. Liebeschütz, Wissenschaft des Judentums und Historismus bei Abraham Geiger, in: Essays Presented to Leo Baeck on the Occasion of His Eightieth Birthday, 1954, S. 75–93; M.A Meyer, Abraham Geiger’s Historical Judaism, in: J.J. Petuchowski, New Perspectives on Abraham Geiger, 1975, S. 3–16.
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Und so wie Kunst und Wissenschaft vom »Allgeist« ausgehen, so geht auch die Offenbarung vom Allgeist aus. Und es ist nur dank der speziellen Begabung der Juden, dass diese Kundgabe des Allgeistes bei ihnen sich nicht als Kunst und Wissenschaft manifestiert, sondern eben als Offenbarung. Was nun der inhaltliche Unterschied zwischen diesen Manifestationen des Allgeistes im Menschengeist ist, sagt Geiger hier ebenfalls. Die materiale Seite der Offenbarung ist das »Sittliche«. Das heißt, wo die Berührung des Allgeistes mit dem Menschengeist bei den Griechen zu Kunst und Wissenschaft transformiert wird, wird sie bei den Hebräern dank ihres spezifischen Genies in Sittlichkeit umgesetzt. Man könnte also sagen: Offenbarung ist die Transformation der Berührung des Menschen mit dem Allgeist ins Sittliche. Eine Auffassung, der auch Fichte hätte zustimmen können, der in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung unter die »Kriterien der Göttlichkeit einer Offenbarung in Absicht ihres möglichen Inhalts (materiae revelationis)«1995 sagt: »Das allgemeine Kriterium der Göttlichkeit einer Religion in Absicht ihres moralischen Inhalts, ist also folgendes: Nur diejenige Offenbarung, welche ein Princip der Moral, welches mit dem Princip der praktischen Vernunft übereinkommt, und lauter solche moralische Maximen aufstellt, welche sich davon ableiten lassen, kann von Gott sein. […] Widersprechen gewisse dogmatische Behauptungen dem Endzwecke des Moralgesetzes, so widersprechen sie dem Begriffe von Gott, und dem Begriffe aller Religion; und eine Offenbarung, die dergleichen enthält, kann nicht von Gott seyn.«1996 Der Offenbarungsbegriff Geigers ist also auf der Höhe der Philosophie seiner Zeit. Die Vorstellung von einer besonderen Begabung des jüdischen Volkes für die Prophetie ist nicht ganz neu im Judentum. Schon der mittelalterliche Denker Jehuda Ha-Levi1997 hatte die Auffassung vertreten, dass die Israeliten im Gegensatz zu allen übrigen Völkern die »göttliche Sache« dank ihrer Genealogie besäßen. Nur, für Ha-Levi war dies eine einmalige Sache, welche die Israeliten über die Kategorie der übrigen Völker hinaushob. Bei Geiger hingegen ist die prophetische Gabe der Juden keine nur ihnen eignende Begabung dank einer göttlichen Substanz, einer res divina, die ihnen einwohnt, den anderen hingegen nicht. Nach Geigers Auffassungen haben ja alle Völker Kontakt zum Allgeist, nur machen sie dank ihrer unterschiedlichen Veranlagung je etwas anderes daraus.
1995 Fichte, Werke, Bd. V, S. 116. 1996 Fichte, Werke, Bd. V, S. 124ff. 1997 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 601–609.
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Das sich hier möglicherweise ergebende Problem, weshalb dann nicht alle Juden Propheten seien, kann Geiger gelassen mit dem Hinweis abtun, dass ja auch nicht alle Griechen Wissenschaftler und Künstler sind, vielmehr immer nur einzelne Individuen die Volksanlage realisieren.1998 Diese Einsicht, dass immer nur Einzelne zu gewissen Zeiten diese den Hebräern eignende Gabe verwirklicht haben, ist denn nun zugleich der hermeneutische Schlüssel für Geigers Sicht der jüdischen Geschichte. In ihr hat es immer wieder Hoch- und Tiefpunkte gegeben, Voranschreiten und Stagnation, auch Rückfall, nämlich je nach dem Maße der Verwirklichung der prophetischen Anlage, entsprechend dem Grad der Öffnung zum Allgeiste hin, die sich dann je als Offenbarung artikulierte.
7.
Das Wirken des Geistes in der Geschichte Israels – Offenbarung und Tradition
Schon in der biblischen Zeit haben die einzelnen Stämme Israels in unterschiedlicher Intensität und Qualität an der Begründung der »Offenbarungslehre« gearbeitet. Die Gründung der Offenbarungslehre erfolgte im ostjordanischen Bereich, in welchem der Stamm Ruben mit seinen assoziierten Stämmen siedelte und zwar, weil Moses nur bis dahin gelangt war und dort gestorben ist. Moses war demnach der Begründer der Offenbarungslehre, nicht aber deren Vollender. Diese Relativierung der Mosesgestalt hatte für Geiger Gründe, die nicht nur in der Vergangenheit lagen, sondern die für ihn höchst aktuell waren. Anlässlich der Frage, wie denn er und seine Religionsgenossen ihre Religion benennen sollten, ob israelitisch, ob mosaisch oder eben jüdisch hat die Beurteilung der Rolle Mosis eine fundamentale Bedeutung. Alle die hier genannten Benennungen für das Judentum sind im 19. Jahrhundert von den verschiedenen jüdischen Gemeinden oder Regionalverbänden gewählt worden,1999 um das oft verhöhnte »jüdisch« zu meiden. Geiger entscheidet sich dennoch dezidiert für »Judentum«, gegen Israel und gegen Mosaismus: »Wir sind aber nach dem engeren Begriffe keineswegs Israeliten. Wir sind Israeliten als die Nachkommen Jakobs oder Israels, aber nicht Israeliten als die Genossen des Reiches Israel. Wir sind nicht mosaische Glaubensgenossen allein, wir hangen nicht blos an dem engen Gesetz, wenn es auch unser Symbol ist, das umfassende Buch, das von Anfang bis zu Ende die Gotteslehre in sich schließt. Weisen wir nicht zurück die großen Männer, die in Juda entstanden sind, die Jesajas und Jeremias, die Dichter der Psalmen und Hiob, sie sind mit
1998 Judenthum, 1864, S. 34; 1910, S. 35f. 1999 S. oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, II, die Synagogenordnungen.
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der lebendige Geist, sie sind der wahrhafte Quell, der das Ganze durchströmt, und wenn wir uns wie die Ephraimiten blos an den todten Buchstaben des Gesetzes halten wollen und nicht den geistigen Quell aufnehmen, dann sind wir freilich keine Juden, aber wir verdienen es auch nicht zu sein.«2000 Die Geschichtsschreibung Geigers ist eine Funktion seiner Tagesfragen, eine Frage jüdischer Identität2001 – er will Jude sein, weil die großen Propheten mit ihrer – vermeintlich puren ethischen2002 – Botschaft Judäer waren. Mosaismus klingt für ihn nach Gesetz und dies kann für ihn nicht der Identifikationspunkt seiner Religion sein, eher historisches Symbol, nicht aber die Mitte. Die Religion des Moses entstand in einem Bereich der Stämme, in welchem die »jüdische Idee« noch nicht auf der Höhe war, »offenbar ein zurückgebliebener Standpunkt, unreif in seiner Entwickelung, die durch höhere Entfaltung verdrängt, dann auch völlig in Vergessenheit geriet.«2003 Es sind diese Präferenzen, welche dann auch das sehr selektiv wahrgenommene Geschichtsbild der israelitisch-jüdischen Geschichte Geigers prägen. Moses, ist zwar Gründer der Offenbarungslehre, blieb aber im Ostjordanland und somit gleichsam auch geographisch nicht zentral. Die Ephraimiten waren demgegenüber schon höher entwickelt, hier »erstehen die Propheten«, »Männer, die die volle reine Gotteserkenntniß in sich tragen, die die Lehre nach ihrer tieferen Auffassung und vollständigen Entwicklung verkünden.«2004 Doch auch hier konnte sich die Idee noch nicht im ganzen Volk durchsetzen. Dies gelang schließlich erst in Juda: »Juda war es, welches die Entwickelung voll und ganz übernahm und durchführte. In Juda, in seiner engen Einheit, in seinem Durchdrungensein von dem Glauben an den Einzigen, der als der Reine und Unbildliche gefaßt wurde als ›er ist‹, in diesem Glauben, der in ihm sich vollständig verkörperte, der, wie er selbst eine Einheit in sich trägt, auch Einheit erzeugte in allen seinen Einrichtungen, in ununterbrochener Folge innerhalb seines Königsgeschlechtes, Einheit in seinem Tempel und allen seinen Anordnungen, mit lebendigem, sittigendem Geist in allen seinen Äußerungen, die diesem Glauben entsstammten: Juda war es, das zur wahren Manneshöhe heranreifte und die
2000 Judenthum, 1864, S. 67; 1910, S. 70. 2001 Dazu s. K. Koltun-Fromm, Historical Memory in Abraham Geiger’s Account of Modern Jewish Identity, in: Jewish Social Studies, New Series 7, 1 (2000), S. 109–126; ders., Abraham Geiger’s Liberal Judaism, Bloomington 2006; M.A. Meyer, Abraham Geiger’s Historical Judaism, in: New Perspectives on Abraham Geiger, S. 3–16. 2002 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 84ff. 2003 Judenthum, 1864, S. 63; 1910, S. 66. 2004 Judenthum, 1864, S. 64; 1910, S. 67.
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Offenbarungslehre zur vollen Lebensmacht gestaltete. In ihm entstanden dann auch die großen Männer, deren umfassende Werke […] Juda war es, das in sich die Idee so mächtig ausbildete, daß sie auch nicht mehr an einen bestimmten Boden geknüpft sein mußte. […] Juda fiel, aber das Judenthum fiel nicht mit.«2005 Nach dieser Sicht Geigers war das Judentum als Religion, die nicht an staatliche und nationale Grenzen gebunden war, in vorexilischer Zeit im Staate Juda vollkommen ausgebildet, und auf ein Fundament gestellt, das künftig nicht mehr verlassen werden musste, was allerdings für Geiger nicht bedeutete, dass damit jegliche Weiterentwicklung ausgeschlossen sei, im Gegenteil. Dennoch ist für Geiger diese Feststellung des grundlegenden Abschlusses der jüdischen Religion in dieser Zeit wichtig, weil er mit ihrer Hilfe eine historische Tatsache – und zugleich ein rabbinisches Dogma – erklären konnte, das seinen bisherigen Darlegungen eigentlich entgegenstand, nämlich das Aufhören der biblischen Prophetie mit oder kurz nach dem babylonischen Exil. Nach den oben vorgetragenen Erklärungen dessen, was denn die »Offenbarung« sei, müsste Geiger eigentlich die Auffassung vertreten, dass die Offenbarung bis in seine Gegenwart anhalte, da ja der Allgeist weiterwirkt und auch das Judentum nicht erstorben ist. Geiger musste hier also die Quadratur des Kreises vollbringen. Er musste erklären, weshalb die für seinen Religionsbegriff konstitutive Offenbarung, die sich in altisraelitischer Zeit ja auch als Entwicklungsprozess darstellte, nun plötzlich zu Ende gehen und der kreative Geist dennoch weiterwirken konnte. Seine Antwort war: Der Entwicklungsprozess des Offenbarungsgedankens ist im alten Judäa zu einem Höhepunkt und vorläufigen Abschluss gelangt, der weitere Offenbarung im vollen Sinne verzichtbar erscheinen lässt. Da aber lebendige Religion nicht der Stagnation anheimfallen darf, sondern weiter vom Geist getrieben sein muss, kann Geiger nach dieser Formel vom Ende der Offenbarung beim Erreichen der Vollendung der Gottesidee, an deren Stelle nun die »Tradition« setzen, die er sodann als kreative, stets in Bewegung und Weiterentfaltung befindliche Tradition beschreibt. Geiger erweist sich hier als ein Mann, der versucht, die traditionellen – auch historischen – Sichtweisen mit seiner eigenen modernen theologischen Philosophie zu verbinden. Es ist dies eine mittelnde, vorsichtig novellierende Verfahrensweise, die Geiger auch bei seiner Reform des Gottesdienstes in seinem von ihm erarbeiteten »Gebetbuch« anwendet.2006
2005 Judenthum, 1864, S. 66; 1910, S. 69. 2006 Vgl. hierzu D. Ellenson, The Israelitische Gebetbücher of Abraham Geiger and Manuel Joël: A Study in Nineteenth-Century German-Jewish Communal Liturgy and Religion, in: Leo Baeck Yearbook XLIV (1999), S. 143–164; J.J. Petuchowski, Abraham Geiger the Reform
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Auch mit dieser Wendung, die Tradition als kreatives Entwicklungspotential zu sehen, nimmt Geiger einen alten rabbinischen Gedanken auf, nämlich den von der stets in Bewegung befindlichen Mündlichen Tora, zu der ja auch das hinzugehört was »dereinst ein erfahrener Schüler seinen Meister fragt.«2007 Es ist nur der dabei von Geiger explizit formulierte Entwicklungsgedanke, der die konservativen Geister seiner Zeit stören musste, denn für sie galt die Fiktion dass alle »Hiddusche Tora« (Neuerungen der Tora) nichts als wiederentdeckte Auffassungen des Moses vom Sinai sind. Bei Geiger lautet dies progressiver im buchstäblichen Sinne: »Das Judenthum hat eine fortzeugende Tradition. Ja ehren wir dieses Wort! Die Tradition ist wie die Offenbarung eine geistige Macht, die immer weiter wirkt, eine höhere, die nicht aus dem Menschen hervorkommt, sondern ein Ausfluß des göttlichen Geistes ist, die innerhalb der Gesammtheit wirkt, ihre Träger sich auserwählt, in stets reiferen und edleren Früchten sich manifestirt und dadurch Lebensfähigkeit und Lebensdauer bewahrt.«2008 Diese Formulierung Geigers klingt hinsichtlich des Ursprungs dieser fortzeugenden Kraft sehr traditionell, muss aber im Lichte des oben zur Offenbarung schon Gesagten gelesen werden. Es ist der Allgeist, der das jüdische Volk auch nach dem Ende der Offenbarung weiter berührt und der den jüdischen Genius auch weiterhin zu Transformationsleistungen dieser Anregungen zu immer höheren und reiferen religiösen Anschauungen führt. Ein Gütezeichen dieser kreativen Tradition ist es nach Geiger, dass sie die den Juden bei ihren Wanderungen begegnenden Anregungen, »neue Bildungen«, »frische, geistige Entwicklung« bereitwillig aufnimmt und sich zu eigen macht, wie dies zum Beispiel bei der Begegnung der Juden mit dem Hellenismus im Altertum geschah.2009 Ein neuer Geist wird den Juden alsbald zur neuen »Heimat«, »Jede Zeit schafft und muß schaffen, und wenn man in ihr blos träge dahin schleichen will, so wird damit auch die Zukunft im Keime erstickt«, wie das leuchtende Beispiel des alten Hillel zeigt, der neue gesetzliche Regelungen einführte, die zwar dem Buchstaben des Gesetzes widersprachen, aber dessen Geist erfüllten.2010
Jewish Liturgist, in: New Perspectives on Abraham Geiger, hrsg. von J.J. Petuchowski, New York 1975, S. 42–54. 2007 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 26. 2008 Judenthum, 1864, S. 72; 1910, S. 76. 2009 Judenthum, 1864, S. 76; 1910, S. 80. 2010 Judenthum, 1864, S. 100f.; 1910, S. 106f.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
8.
Die theologischen Errungenschaften des Judentums
8.1
Gott als Idee der Sittlichkeit
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Die Überschrift für diesen Abschnitt, in welchem die theologischen Lehren des Judentums im Sinne Abraham Geigers zusammengetragen werden sollen, wurde mit Bedacht gewählt. Denn was hier darzustellen ist, ist nicht etwas, was ein transzendenter Gott in einer sich selbst vorstellenden Offenbarung seinem Volk mitteilte wie dies zum Beispiel im ersten Gebot beschrieben wird: »Und Gott redete all diese Worte und sprach: Ich bin JHWH, dein Gott, der dich geführt aus dem Lande Ägypten …« (Ex 20, 1–2). Das, was das Judentum der Welt zu bieten hat, ist nicht die Botschaft, die ihm eine außerirdische Gottheit aufgenötigt hat, oder wovon es sich überzeugen lassen musste. Das was das Judentum der Welt schenkte war nach Geigers Auffassung dessen eigene theologische Leistung, eine Idee. Das Judentum hat »wie durch innere Kraft getrieben, diese Anschauungen aus sich geboren«.2011 Es ist eine Idee, die in harten Kämpfen auch gegen die eigenen Religionsgenossen erstritten werden musste. »Die ganze Geschichte Israel’s während der Zeit des ersten Tempels, also während der eigentlichen Gründung des Glaubens, bietet uns eine unzählige Masse von Beispielen des Abfalls, des energischen Kampfes, welchen die wahrhaft Begeisterten, die großen Männer gegen die Versunkenen führen mußten.«2012 Es war dies ein Kampf, geführt mit »geistiger Kraft, die dem Volke innewohnte«, auch gegen die Anschauungen der Nachbarsvölker. Beispielhaft für einen solchen Kampf ist die Geschichte von der Opferbindung Isaaks, deren Deutung Geiger geradezu auf den Kopf stellt. War für die rabbinische Deutung Abraham ein Vater des Glaubens, weil er im vertrauenden Gehorsam gegenüber Gottes Willen bereit war, seinen Sohn zu opfern, so ist es bei Geiger gerade umgekehrt. Danach war »der alte Gottesbegriff«, von dem mächtigen und strengen Gott, dem der Mensch sich zu unterwerfen hat, auch noch in Abraham mächtig. Aber als es so weit kam, den Sohn zu opfern, da regte sich in dem Erzvater die »höhere Gotteserkenntnis«, von einem Gott der nicht nur allmächtig, sondern auch allgütig ist: »Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben, das ist die wahre Verehrung des Allerbarmenden, und Abraham opferte den Knaben nicht. Nicht die Bereitwilligkeit zum Opfer ist die wahre Frömmigkeit Abraham’s sondern die Unterlassung desselben, nicht daß er sein Kind darbringt, sondern daß er es bewahrt, nicht daß er sich blind der göttlichen Macht unterwirft, um das Kind von sich loszureißen, sondern daß er Gott in seiner höheren wahreren
2011 Judenthum, 1864, S. 26; 1910, S. 27; und s. das oben angeführte Zitat aus Judenthum, S. 30. 2012 Judenthum, 1864, S. 38; 1910, S. 39f.
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Würde erkennt, ist seine wahre, geläuterte Frömmigkeit. Darum ist es nicht wohlgethan, auf den Willen zur Opferung immer hinzuweisen als Act der Frömmigkeit Abraham’s, er war und ist vielmehr ein Vorbild dadurch, daß er es unterlassen.«2013 Die höhere sittliche Tat Abrahams ist ein Zeichen seiner höheren Gotteserkenntnis. Für Geiger gilt der Grundsatz, dass der Gottesbegriff eines Volkes zugleich der Maßstab für seine sittliche Anschauung ist, wie auch umgekehrt.2014 Die sittliche Bildung eines Volkes ist der Gradmesser seines »religiösen Bewußtseins«. Man kann – angelehnt an Kant – auch sagen, die Gottesvorstellung ist eine Funktion der Sittlichkeit, die Gottesvorstellung ist das sittliche Ideal eines Volkes. Mit einem solcherart formulierten Funktionszusammenhang zwischen sittlichem Handeln und der Gottesidee, oder des Gottesbegriffes, kann nun Geiger auch gegen das gesamte Opferwesen und Priestertum des alten Israel zu Felde ziehen, das nur der Ausdruck eines minderen Gottesbegriffes ist.2015 In der Form der Gottesverehrung erweist sich die Stufe des Gottesbegriffs, bringt man Gott Opfer dar, so ist das Ausdruck eines rohen Gefühls, einer niedrigen Stufe der Gottesverehrung, wo man aber zu Gott emporblickt als »dem Vorbilde der höchsten Sittlichkeit«, da hat man eine geläuterte Gottesvorstellung. Bei dieser Sicht der Dinge lässt Geiger es sich nicht entgehen, eine Spitze gegen das Christentum mit seiner Begründung auf einem Menschenopfer, wie auch gegen das rabbinisch-jüdische Gebetbuch mit seinen Gebeten um die Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels oder auch nur der Rezitation von Opfertexten im Gottesdienst anzubringen: »Eine jede Begründung der Religion auf Opferdienst, auf irgend ein Opfer, das einmal dargebracht worden, sei es ein menschliches, etwa ein göttliches, oder ein thierisches, ein jeder sehnsüchtige Rückblick auf den früheren Opferdienst, als auf eine höhere und vollere Lebensäußerung, ein jeder Ausspruch, daß der Opferdienst nun einmal geschwunden sei und daher ersetzt werden müsse durch ein Gebet, eine jede solche geistige Anerkennung des Opferwesens ist ein Rückfall in das Heidenthum.«2016 Mit der Verwerfung des Opferwesens und der ihn tragenden Priesterschaft fegt Geiger zugleich jegliche religiöse Vermittlertätigkeit vom Tisch, die ja noch in seiner Zeit im osteuropäischen Hasidismus mit seinen »Zaddikim« eine zentrale 2013 Judenthum, 1864, S. 50f.; 1910, S. 52f. 2014 Judenthum, 1864, S. 48; 1910, S. 50. 2015 Dies ist der Tenor des gesamten Kapitels 5, Judenthum, 1864, S. 48ff.; 1910, S. 50ff. 2016 Judenthum, 1864, S. 53; 1910, S. 55f.
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607
Säule dieser Art Judentum war.2017 »In der Religion des Judenthums bedarf es nicht der Vermittelung besonderer Personen, ein jeder sei selbst sein Priester, selbst sein Mittler zu Gott.«2018
8.2
Gott als das »Sein«
Mit all diesen Aussagen zu Gott als dem Allerbarmer und damit als der Idee der Sittlichkeit, als des sittlichen Vorbildes für den Menschen, ist indessen noch nicht das Wesentliche gesagt. Zentral ist das andere, das die Gottheit nicht als funktionale Idee beschreibt, sondern das, wo Geiger zu einer ontologischen Diktion greift. Die eigentlich große Schöpfung des Judentums ist für Geiger in dem unaussprechlichen Gottesnamen JHWH angezeigt. Die Unaussprechbarkeit dieses Namens ist Programm, denn es kann keinen Namen geben, der Gott umfassen kann. Wie sehr aber diese Unaussprechbarkeit des Tetragrammaton Symbol für die umfassende Unfassbarkeit Gottes ist, so sehr ist doch, nach Geiger, die Bedeutung dieses Namens gesichert: »Seine Bedeutung aber ist sicher! ›Er ist‹, so lautet er; wie Gott von sich selbst sprechend in der heiligen Schrift sagt: ich bin, der ich bin, so sagt der Mensch von ihm: er ist! Das einzige Sein, das Allumfassende für Natur wie für Menschenleben. ›Er ist‹ und als solches allumfassendes Sein natürlich auch absolute Einheit. […] Dieses Sein, das Alles umfaßt, ist die einzige, volle lebendige Persönlichkeit, zugleich aber als das Allgemeinste nicht zu erschauen […] Mit dieser Einheit, dem Begriffe des Allumfassenden, ist natürlich auch verbunden die Allmacht: Sollte Gott etwas unmöglich sein? Ist die Hand Gottes zu kurz geworden? Nicht minder erfüllt der Begriff der Allweisheit alle Blätter des Judenthums, die Weisheit, die alles durchdringt und durchforscht …«2019 Um zu verstehen, was Geiger mit dieser Deutung des göttlichen Namens meint, ist es wert nach weiteren verstreuten Bemerkungen zu suchen, die ein wenig Licht in diese noch wenig konkreten Vorstellungen von Gott als dem »Sein« bringen können. In seinem Kapitel über das Wesen der Religion nimmt Geiger den mittelalterlichen Gedanken auf, nach welchem die Ordnung in der Schöpfung von einer »frei waltenden Vernunft«, einem »bestimmten Willen« erzeugt
2017 S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870ff., 904ff.; und hier das Kap. Restaurativ-integrative Orthodoxie, II, 9.3.3. 2018 Judenthum, 1864, S. 54; 1910, S. 56. 2019 Judenthum, 1864, S. 20; 1910, S. 21.
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und bewahrt wird.2020 An anderer Stelle wird Gott von ihm so beschrieben: »das ist der Gott der Welt, der Gott, der geistig und räumlich Alles durchdringt und erfüllt.«2021 Zu diesen Beschreibungen Gottes passt es, wenn Geiger bei seiner Darstellung des jüdischen Hellenismus in Alexandria meint, dass der Platonismus mit seiner Ideenlehre »den jüdischen Philosophirenden besonders zusagen mußte.«2022 Und zwar deshalb: »In ihr fanden sie die Brücke zwischen den rein urgeistigen und den stofflichen Dingen. Wie geht der höchste Geist, der ewig vollkommene, ein in die unvollkommene Welt? Musterbilder schaffte er aus sich, sagt Plato, er schaut in sich hinein, und da entsteht Vollkommenes, aber dieses Vollkommene prägt sich wiederum in untergeordneten Existenzen aus und so geht es tiefer hinunter von Mittelursachen zu Mittelursachen, bis die wirklichen Dinge entstehen und die Schöpfung uns entgegentritt. Gott das ewige Sein, das ewig vollkommene ist die höchste Ursache, doch der ewig Reine tritt nicht in unmittelbare Verbindung mit diesem Unreinen, erst durch vielfache Ausströmungen und Verkettungen entsteht das Irdische.«2023 Geiger sieht diese neoplatonische Kosmogonie offenbar als geeignet, jüdisches Denken darstellen zu können, sie steht seiner eigenen Auffassung von Gott als »Sein« offenbar nahe, wenn er auch die neoplatonische Emanationshierarchie wohl als überwundene Darstellungsweise sieht. Dennoch bezeugt Geiger damit eine gewisse Affinität zum platonischen Denken, vielleicht in einer Form, wie sie Johann Gottlieb Fichte – den Geiger in Heidelberg studierte – in seiner 1806 gehaltenen großen Vorlesung Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre,2024 vorträgt. Auch die dort von Fichte vorgetragenen Vorstellungen haben zuweilen eine große Nähe zu den Geigerschen Formulierungen, dies insbesondere darin, dass Fichte dort die Gleichsetzung von Gott und »Seyn« zum Zentrum seiner gesamten Religionslehre macht, wie dies auch Geiger in den paar wenigen Sätzen hier tut. Hinzu kommt außerdem, dass auch bei Fichte die Gottheit als Muster der Sittlichkeit erscheint, jene zweite, oben beschriebene Seite der Geigerschen Gottesvorstellung. Unter seinen fünf Weisen die Welt zu betrachten zählt Fichte in seinen Vorlesungen die Sichtweise der Religion als vierte. Diese ist, laut Fichte, mit der dritten Sicht der Welt vereinigt und geht aus ihr hervor. Die dritte Sicht ist »die
2020 Judenthum, 1864, S. 7; 1910, S. 5. 2021 Judenthum, 1864, S. 40; 1910, S. 42. 2022 Judenthum, 1864, S. 80; 1910, S. 84f. 2023 Judenthum, 1864, S. 80; 1910, S. 85. 2024 Fichte, Werke, V, S. 397–574.
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aus dem Standpuncte der wahren und höheren Sittlichkeit«.2025 Dieser dritte Standpunkt anerkennt ein Gesetz, das kein negativ begrenzendes ist, sondern »Es strebt an, könnte man sagen, nicht bloss wie jenes, die Form, der Idee, sondern die qualitative und reale Idee selber. Sein Zweck lässt sich kurz also angeben: es will die Menschheit in dem von ihm Ergriffenen, und durch ihn in anderen, in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie ihrer Bestimmung nach ist – zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens.«2026 Die Sicht der Religion auf die Welt ist demnach die Sicht der idealen Verwirklichung der Menschheit, die Aufdeckung jenes göttlichen Gesetzes, das den Menschen zum Göttlichen hinführt. Die vierte Sichtweise der Welt ist nach Fichte nun die, »klare Erkenntnis, dass jenes Heilige, Gute und Schöne keineswegs unsere Ausgeburt […] sondern, dass es die Erscheinung des inneren Wesens Gottes, in uns, unmittelbar sey«. Diese Auffassung, dass das innere Wesen der Gottheit – auch – im Menschen erscheint, geht auf folgende Grundsätze zurück: »Gott allein ist, und ausser ihm nichts: […] Mag es doch immer Gott selber seyn, der hinter allen diesen Gestalten lebet; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Hülle; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er. Immer verhüllet die Form uns das Wesen; immer verdeckt unser Sehen selbst uns den Gegenstand, und unser Auge selbst steht unserm Auge im Wege. – Ich sage dir, der du so klagest: erhebe dich nur in den Standpunct der Religion, und alle Hüllen schwinden; die Welt vergehet dir mit ihrem todten Princip, und alle Gottheit selbst tritt wieder in dich ein, in ihrer ersten und ursprünglichen Form, als Leben, als dein eigenes Leben, das du leben sollst und leben wirst. Nur noch die Eine, unaustilgbare Form der Reflexion bleibt, die Unendlichkeit dieses göttlichen Lebens in dir, welches in Gott freilich nur Eines ist; aber die Form drückt dich nicht; denn du begehrst sie […] In dem, was der heilige Mensch thut, lebet und liebet, erscheint Gott nicht mehr im Schatten, oder bedeckt von einer Hülle, sondern in seinem eigenen, unmittelbaren und kräftigem Leben; und die, aus dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: was ist Gott, wird hier so beantwortet: er ist dasjenige, was der ihm Ergebene und von ihm Begeisterte thut. Willst du Gott schauen, wie er in sich selber ist, von Angesicht zu
2025 Fichte,Werke, V, S. 468f. 2026 Fichte, Werke, V, S. 469.
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Angesicht? Suche ihn nicht jenseits der Wolken; du kannst ihn allenthalben finden, wo du bist.«2027 Es ist dies ein »Platonismus« wie ihn Geiger gewiss unterschreiben könnte. Gott als das einzige Sein, das Absolute, das vollkommen Eine, welches allem »Daseienden« (Fichte), aller Natur und Menschenleben (Geiger) das Sein schenkt. Nochmal mit Geigers Worten: » ›Er ist‹, […] der Unaussprechliche, das ewige Sein, das allem irdischen und geistigen Sein zu Grunde liegt«.2028 Er ist, und als solcher ist er unfassbar und ist doch stets die Grundlage allen Lebens, dem er Dasein schenkt.
9.
Gebot und Gottesdienst im Dienste des religiösen Bewusstseins
Abraham Geiger gilt, wie gesagt, als einer der führenden Väter des Reformjudentums. Was seine Reform auszeichnet ist ihre enge Verbindung zwischen »Ideologie« und Reformmaßnahmen. Dabei ist allerdings zu betonen, dass Geiger bei der wirklichen Umsetzung von Reformen, wie sich bei seinen beiden Gebetbüchern zeigt, niemals konsequent seine eigenen Ideen umgesetzt, sondern stets Rücksicht auf die Gefühle der Gemeinden genommen hat,2029 was, wie sogleich deutlich werden wird, im Grunde ebenfalls den Kern seines reformatorischen Denkens und seiner Religions-Theorie entspricht. Die Religion ist, im Sinne Geigers, so wurde eingangs deutlich, das Bewusstsein des Menschen zwischen seiner eigenen Machtvollkommenheit und der Erkenntnis seiner eigenen Begrenztheit und Abhängigkeit. Es sind diese beiden Seiten des menschlichen Bewusstseins die auch Geigers Auffassungen von der Rolle des Gesetzes und der Aufgabe des Gottesdienstes prägen. Nur wo diese beiden Ausdrucksweisen der Frömmigkeit dem bipolaren menschlichen Bewusstsein entsprechen, sind sie wahrhaft wertvoll und für den Menschen von Nutzen. So müssen die im Gottesdienst verbalisierten theologischen Vorstellungen dem religiösen Bewusstsein der Zeit entsprechen, wie auch das vom Gesetz Gebotene. Wenn darum Geiger Reformschritte empfiehlt oder noch gültiges oder auch abzuschaffendes Gesetz bekräftigt oder verwirft, richtet er sich stets nach dem Bewusstseinsstand seiner
2027 Fichte, Werke, V, S. 470ff. 2028 Judenthum, 1864, S. 50; 1910, S. 52. 2029 Dies formuliert Geiger ganz nachdrücklich in seiner 1869 erschienenen »Abhandlung« »Plan zu einem neuen Gebetbuche« in:, Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, S. 241– 269, hier S. 241f.; und vgl. D. Ellenson, The Israelitische Gebetbücher of Abraham Geiger and Manuel Joël, in: Leo Baeck Yearbook XLIV (1999), S. 143–164.
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Gemeinde, nicht nach seinem eigenenen meist weiter vorangeschrittenen und radikaleren Bewusstseins- und Kenntnisstand.
10.
Die Reform des Gottesdienstes
Die Aufgabe des Gottesdienstes, so sagt es Geiger im Vorwort seines im Jahre 1854 in Breslau erschienenen Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst, ist es, ein Ort der Andacht zu sein, ein Ort an welchem »fromme Gefühle« ihren Platz haben, ein Ort der »religiösen Empfindung«, nicht, wie es das altrabbinische Denken, wollte ein Ort der ‘Avoda, des Gottes-Dienstes. Im Jahre 1869 legte Geiger einen »Plan zu einem neuen Gebetbuche«2030 vor, in welchem er die von einer eigens dafür berufenen Kommission befolgten Leitsätze zur Neugestaltung der Liturgie formuliert. Um den Gefühlen der Gemeinden entgegenzukommen und die historische Kontinuität zu wahren, sollte zum einen der gesamte hebräische Text des Gebetbuches belassen werden, aber andererseits musste den neuen religiösen Vorstellungen entsprochen werden: »Bei aller ehrerbietigen Feststellung der geschichtlichen Momente im Judenthume dürfen dennoch religiöse Vorstellungen, welche ihre zeitliche Geltung gehabt haben, aber im Fortschritte der Erkenntnis einer reineren Auffassung gewichen sind, nicht in einseitiger und schroffer Betonung beibehalten werden und muß deren Ausdruck entweder ganz wegfallen oder eine Form wählen, welche einer geläuterten Auffassung nicht widerstrebt. So müssen 1. starksinnliche Bezeichnungen der Gottheit, wie sie in Piutim [Poesien] vorkommen, beseitigt werden; 2. die Aufzählung der verschiedenen Engelordnungen und die Ausmalung ihrer Thätigkeit darf keine Aufnahme finden; 3. der Glaube an die Unsterblichkeit darf sich nicht mit dem einseitigen Ausdrucke leiblicher Auferstehung begnügen, sondern muß in einer Weise ausgedrückt werden, welche auch die geistige Fortdauer einschließt.«2031 Das neue Gottesbewusstein, der Glaube an den Allgeist, ist für Geiger also so zentral, dass er nicht einmal durch poetische Metaphorik beleidigt werden darf. Der in der Welt wirkende Geist wird nicht in Engeln personifiziert und die Auferstehung des Leibes, eine der »geistigen« Wesenheit des Menschen eigentlich widersprechende Vorstellung, darf nicht als die dominante oder alleinige Erlö-
2030 S. die vorangehende Fußnote. 2031 Plan, Wissenschaftliche Zeitschrift, S. 245f.
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sungshoffnung in den Vordergrund treten. Hier fordert das neue, geläuterte, und höhere religiöse Bewusstsein des modernen Juden seinen Tribut. Ein zweiter Themenbereich, welcher der neuen Religionsauffassung von Geiger widerspricht ist der Bereich des Partikularen, des Nationalen und Volkhaften. Deshalb sagt er in der Einleitung zu seinem Gebetbuch von 1854 unter anderem: »Die Klage über die verlorene volksthümliche Selbständigkeit Israels, die Bitte um Sammlung der Zerstreuten in Palästina, um Herstellung des Priesterund Opferdienstes tritt in den Hintergrund; Jerusalem und Zion sind die Orte, von denen die Lehre ausgegangen, an welche sich heilige Erinnerungen knüpfen, sind aber im Ganzen mehr als eine geistige Idee, als die Pflanzstätten des Gottesreiches, zu feiern, denn als eine gewisse Erdgegend, an welche sich etwa besonders die Vorsehung Gottes für alle Zeiten knüpfte. Ebenso heftet sich der ahnungsvolle Blick in die Zukunft auf das Messiasreich als auf die Zeit der allgemeinen Herrschaft der Gottesidee, der unter allen Menschen sich befestigenden Frömmigkeit und Gerechtigkeit, nicht aber als auf die Zeit der Erhebung des Volkes Israel.«2032 Das Judentum, so wurde schon oben deutlich, ist für Geiger keine VolksReligion, sondern eine weltumspannende religiöse Idee, die für die gesamte Welt gedacht ist. Ihre vorübergehende Bindung an ein ethnisch oder gar staatlich definiertes Volk war, wie dies schon Formstecher sah,2033 im Sinne der EntfaltungsGeschichte des Allgeistes ein notwendiges Durchgangsstadium. An dieser Stelle weicht Geiger, wie Nachman Krochmal, natürlich von all den oben genannten christlichen deutschen idealistischen Historiosophen oder Geschichtsphilosophen ab, die mit dem Ende der jüdischen Staatlichkeit auch das Ende des Judentums als geistiger Macht dekretierten. In seinen oben schon zitierten Kriterien für den »Plan zu einem neuen Gebetbuche« formuliert Geiger diese Frage nochmals grundsätzlicher. Die Formulierungen des jüdischen Gottesdienstes müssen demnach Folgendes beachten: »Was insbesondere die weltgeschichtliche Stellung Israels betrifft, so muß dieselbe dahin scharf betont werden, daß das Judenthum die Religion der Wahrheit und des Lichtes ist, Israel seine Aufgabe erhalten habe und weiter festhalte, Träger und Verkünder dieser Lehre zu sein, und daß sich daran die
2032 A. Geiger, Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahre mit Einschluss der Sabbathe und sämmtlicher Feier- und Festtage, Breslau 1854, S. VI. 2033 S. oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV.7.
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Zuversicht knüpft, diese Lehre werde immer mehr zum Gemeingut der ganzen gebildeten Welt werden und so Israel sich zur Menschheit erweitern.«2034 Diese Ausrichtung der jüdischen Religion auf die gesamte Menschheit muss nun laut Geiger die Folge haben, dass alle Formulierungen der »Scheidung Israels« von allen Völkern fallen müssen. Der Erwählungsgedanke muss in einer Weise formuliert werden, die keine Seitenhiebe auf die anderen Völker beinhaltet. Ebenso müssen, wie schon gesagt, die gesamten nationalen Zukunftshoffnungen aus dem Gottesdienst verschwinden, denn »was mit einer solchen Restauration entschwundener Zustände zusammenhängt, ist in unserem Bewußtsein gänzlich erloschen. Der Ausdruck einer solchen Hoffnung im Gebete, die Bitte um deren Erfüllung, wäre eine volle Unwahrheit.«2035 Das religiöse Bewusstsein und das gottesdienstliche Handeln müssen bruchlos miteinander übereinstimmen. Wenn nun aber, und dies ist der Zug der Mäßigung in Geigers Reformhandeln, in einer Gemeinde solche »älteren Vorstellunge« und Hoffnungen noch gehegt werden, dann darf die Reform auch nicht wider dieses Bewusstsein der Gemeinde handeln.2036
11.
Die Stellung der Gebote
Die Ablehnung der traditionellen Gebote oder des so genannten ZereminialGesetzes durch Abraham Geiger folgt gleichermaßen seiner Grunddefinition der Religion als einem bestimmten »Bewusstsein«. Seine Begründung dieser Ablehnung formulierte Geiger in einem Aufsatz in der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie unter dem provokativen Titel »Der Formglaube in seinem Unwerthe und in seinen Folgen«.2037 Hier legt Geiger dar, dass im Zentrum seiner »Ethik«, anders als bei dem späten Kant,2038 nicht die die moralische Pflicht, sondern das »sittliche Bewußtsein« steht. Es kann demnach nicht eine von außen auf den Menschen zukommende Forderung sein, welche eine Tat zu einer guten Tat macht, sondern ausschließlich die Übereinstimmung dieses Tuns mit dem eigenen sittlichen Bewusstsein des handelnden Menschen. Allerdings macht Gei2034 Plan, Wissenschaftliche Zeitschrift, S. 246. 2035 Ebd., S. 247. 2036 Zu Geigers »mittlerer« Reformposition s. auch J.J. Petuchowski, Abraham Geiger, Samuel Holdheim. Their Differences in Germany and Repercussions in America, in: Leo Baeck Year Book, XXII (1977), S. 139–159. 2037 Wissenschaftliche Zeitschrift Bd. IV, S. 1–12; wieder abgedruckt und hiernach zitiert in Abraham Geiger’s Nachgelassene Schriften, Bd. I, Berlin 1875, S. 477–488. 2038 Zu Kants Wechsel von einer »Gefühls-Ethik« zu seiner späteren »Pflicht-Ethik«, s. Röd, Der Weg, II, S. 163–168.
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ger dabei, gleich in der Eröffnung seines Aufsatzes, eine Einschränkung, die dem gesamten Duktus seines Denkens entspricht. Danach ist nur das wirklich wertvoll, was eine höhere Entwicklungsstufe erreicht hat. Darum sagt Geiger gleich zu Anfang: »Die menschlichen Handlungen haben nur dann einen Werth, wenn durch sie einem inneren sittlichen Drange und Bedürfnisse entsprochen wird, wenn sie Erzeugnisse sind eines sittlichen Bewusstseins, wie es der Höhergebildete in sich trägt, oder eines sittlichen Gefühls, welches selbst dem Tiefstehenden nicht fehlt.«2039 Der Schlussatz, welcher auch dem tieferstehenden Menschen die Befähigung zu gutem Handeln zubilligt, entspricht wiederum Geigers Grundgedanken, dass es im Individuum wie in der Völkergeschichte eine Entwicklung zum Höheren gibt, in deren Zwischenstufen eben auch noch niedrigere Formen des guten Handelns anerkannt werden müssen. Gerade dieser Gedanke der Höherentwicklung ist es nun auch, mit dessen Hilfe er eine weitere Qualifizierung des ethisch guten Handelns vornimmt. Das sittliche Bewusstsein ist demnach nicht ein einmal erworbenes und dann zu konservierendes, sondern das sittliche Bewusstsein muss wie die intellektuell-geistige Entwicklung in einer steten Höherbewegung voranschreiten, damit sie wirklich gut genannt werden kann: »Wahrhaft gut ist eine Handlung nur dann, wenn sie unmittelbar aus dem Streben nach Selbstveredlung, d.h. nach Erhebung des Geistes und Kräftigung des Willens mit Besiegung der Sinnlichkeit, aus dem Gefühle des Rechtes und Wohlwollens in seinen verschiedenen Graden gegen die Menschen, und der Verehrung und Liebe gegen Gott fliessen. Eine jede Handlung auszuüben, welche sich aus derartigen Bestrebungen unmittelbar ergibt, drängt sich dem Menschen mit gesunden Sinnen von selbst als Pflicht auf.«2040 Der Gegensatz zum Kant des kategorischen Imperativs ist nicht zu übersehen, auch wenn Geiger hier von Pflicht redet. Für Kant gilt: »Eine Maxime [des Handelns] ist dann sittlich gut, wenn sie dem allgemeinen Gesetz entspricht und uneingeschränkt verallgemeinerungsfähig ist.«2041 Bei Geiger ist von einer solchen Fähigkeit der Verallgemeinerung der Handlungsmaxime nicht die Rede. Bei ihm ist alles auf das innere Bewusstsein des Menschen abgestellt. Die Sünde beginnt da, wo man nicht in Übereinstimmung mit dem eigenen Bewusstsein handelt. 2039 Geiger, Nachgelassene Schriften I, S. 477. 2040 Ebd., S. 478. 2041 Röd, Der Weg, II, S. 166f.
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Für Kant wäre sie eher da angesiedelt, wo ein Imperativ des Handelns nicht für eine allgemeine Gesetzgebung tauglich, nicht verallgemeinerungsfähig wäre. Geiger deutet demgegenüber sogar an, dass eine Handlung, die zwar gut an sich sein mag, insofern sie dem Wohl der menschlichen Gesellschaft dient, nicht in dem oben genannten Sinne als sittlich wertvolle Handlung zu betrachten ist. Das unbeteiligte Befolgen solcher äußerlichen Gebote sind nach Geigers Auffassung schädlich für die sittliche Ausbildung des Menschen. Wo keine GemütsBeteiligung beim Handeln stattfindet, führt dies zu einer schädlichen Überschätzung des Äußerlichen: »So entsteht im Leben Überschätzung des Äusseren und Zurücktreten des Inneren; der That wird der absolute Werth beigelegt, welcher der thatkräftigen Gesinnung gebührt, das Streben nach Selbstheiligung wird zur Werkheiligkeit, und das halten an den religiös-sittlichen Ideen verwandelt sich in ein halten an den einzelnen Handlungen und Formen, in welchen sich dieselben angeblich äussern. Der Mensch ist nun einmal kein Werkethier, es muss wenigstens irgend einen Gedanken mit seiner That verknüpfen, und sei es auch ein falscher […]«2042 Damit ist schon deutlich, welche Haltung Geiger den »nichtrationalen« unverständlichen Geboten der Tora gegenüber einnehmen wird. Bevor Geiger sich wirklich den »Gottesgeboten« zuwendet und nach der Gehorsamspflicht ihnen gegenüber fragt, legt er dar, dass es selbst gegenüber den eigenen Eltern, den Gesetzen des Staates und jener von weisen Männern, keine absolute Gehorsamspflicht geben kann. Selbst die staatlichen Gesetze erheischen unsere indirekte Zustimmung, dahingehend, dass sie das Wohl der Gesellschaft befördern oder die nötige Autorität des Staates stützen. Und dies gilt schließlich auch gegenüber den göttlichen Geboten. Wo wir deren Sinn nicht verstehen und ihren Zweck nicht akzeptieren können, können sie nicht sittlich wertvoll und damit auch nicht verpflichtend sein. Gehorsam gegen Gott, kann die Innerlichkeit des Menschen, dessen sittliches Bewusstsein nicht ausschließen. Deswegen muss die altjüdische Rede von der Gehorsamspflicht gegenüber Gott wie folgt neu formuliert werden: »Unter Gehorsam gegen Gott haben wir daher im Allgemeinen zu verstehen: den Gehorsam gegen das Göttliche in uns, gegen das von ihm uns gegebene sittliche Bewusstsein, dann die Ergebung in seinen Willen, wie er sich in unserm Schicksale ausspricht; undenkbar ist es hingegen für uns, dass Gott uns Dinge gebieten sollte, in welchen wir bloss aus einem blinden Gehorsame 2042 Geiger, Nachgelassene Schriften, I, S. 479.
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gegen ihn uns seinem Willen zu unterwerfen haben. Göttliche und religiöse Anordnungen aber können nur der Art sein, dass wir zu einer freien Aneignung der in ihnen liegenden Belehrung fähig sind, oder sie sind Mittel zu unserer Vervollkommnung, deren Zweckmäßigkeit uns nicht unerkennbar ist.«2043 Mit diesen Feststellungen ist das Verhältnis des Menschen zu den Geboten der Tora klar beschrieben. Man kann solche Gebote, auch so genannte Zeremonialgebote, wie die Speisevorschriften, akzeptieren und befolgen, sofern man für sich selbst darin einen erzieherischen, hygienischen oder welch immer gearteten nutzbringenden Sinn erkennt. Man kann sie aber auch ohne Bedenken ablehnen, wenn einem solche Sinnhaftigkeit nicht ersichtlich ist und sie dem eigenen sittlichen Bewusstsein nicht entsprechen. Alles andere erscheint Geiger als »starre Gesetzlichkeit«2044 und ein Handeln, das sittlich verderblich ist und – wie zum Beispiel bei den Kabbalisten – zu finsterem Aberglauben führt.2045 Das sind die Grundlinien, welche die Charta eines Reformjudentums ausmachten und bis heute prägen.
2043 Ebd., I, S. 486. 2044 So überschreibt er in seiner »Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie«, Nachgelassene Schriften, II, S. 129, die Zeit vom 6.- Mitte des 18. Jahrhunderts. 2045 Vgl. Geiger, Nachgelassene Schriften, I, S. 479, 488.
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VI. JUDENTUM ALS RELIGION DER VERNUNFT – HERMANN COHEN (1842–1918) 1.
Biographisches
Hermann Cohen, geboren in Coswig, vorübergehend Student am Breslauer Rabbinerseminar, wandte sich aber ebenda der universitären Philosophie zu, promovierte in Halle, habilitierte sich in Marburg und wurde dort 1876 zum ordentlichen Professor für Philosophie ernannt, was er bis 1912 blieb. Er war einer der wesentlichsten Begründer und Vertreter des so genannten Neukantianismus und nimmt als solcher seinen Platz zunächst in der allgemeinen deutschen Philosophiegeschichte ein. Im Rahmen der Fragestellung des vorliegenden Buches soll diese Seite des reputierten Philosophen nicht betrachtet werden, es sei denn, sie ist zum Verständnis dessen, was hier im Zentrum stehen soll, nämlich Cohens Jüdische Philosophie, unabdingbar. In der philosophischen Biographie Cohens wird gemeinhin das Jahr 1880 als Wendepunkt apostrophiert, weil Cohen in diesem Jahr mit einem Beitrag Ein Bekenntnis in der Judenfrage gegen die antisemitische Schrift des Berliner Historikers Heinrich von Treitschke Ein Wort über unser Judentum (1879)2046 öffentlich die Sache des Judentums vertrat. Nach seinem Abschied vom Marburger Lehrstuhl zog Cohen nach Berlin, wo er von 1913 bis zu seinem Tode an der Hochschule/Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums lehrte. In dieser Zeit vollzog sich zugleich – wegen antisemitischer Zwischentöne – eine innere Distanzierung von den philosophischen Weggenossen wie auch von der KantGesellschaft, deren angesehenes Mitglied Cohen war. In diese Jahre fällt auch Cohens Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie2047 in welcher er, anders als zuvor, der Religion nachdrücklich eine besondere Funktion im System der Philosophie – so der Titel seines dreiteiligen opus magnum (1902– 1912)2048 – zubilligte. Ob mit alledem tatsächlich eine grundlegende philosophische Wende geschehen war ist umstritten. Alexander Altmann hat in seinem
2046 Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Berlin 1924, hrsg. von B. Strauß, Einleitung von F. Rosenzweig, (3 Bd.), Bd. II, S. 73–94. 2047 Giessen 1915. 2048 Dieses Werk bestand aus den drei Bänden Logik der reinen Erkenntnis (1902, zweite verbesserte Aufl. 1914), Ethik des reinen Willens (1904, 2. Rev. Aufl. 1907, 3. Aufl. 1921, 4. Aufl. 1923, 5. Aufl. 1981) und Ästhetik des reinen Gefühls (1912, 2. Aufl. 1923, 3. Aufl. 1982). Seit 1987 erscheint bei Olms eine Werkausgabe, Hermann Cohen, Werke, Hildesheim, 1987ff., hrsg. von H. Holzhey.
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Judentum als Religion der Vernunft – Hermann Cohen
grundlegenden Artikel zu Hermann Cohens Begriff der Korrelation 2049 sich vehement gegen Franz Rosenzweigs in der Einleitung zu Hermann Cohens Jüdischen Schriften geäußerte Auffassung gewehrt, als habe Cohen mit seiner Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie von 1915 eine ideologische Wende vollzogen, die dann in der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 2050 ihre abschließende Krönung erfahren habe.2051 Rosenzweig, der Schüler Cohens, vertritt dort die Meinung, Cohen habe seinen ursprünglichen philosophischen Idealismus verlassen und die ehemals idealistischen Begriffe »Mensch« und »Gott« hätten nun eine neue »Wirklichkeit« erhalten, und dies im Sinne des nachherigen dialogischen Denkens von Buber und Rosenzweig selbst.2052 Demgegenüber sieht Altmann in Cohen auch in den Jahren nach 1880 weiterhin einen idealistischen Denker, der immer nur von der »Idee Gottes« und nicht von einem wirklichen »Gott« rede. Auch Francesca Albertini, dieses Mal bezogen auf die Stellung der Religion im philosophischen Denken Cohens, sieht zwischen Cohens Marburger und Berliner Epoche keinen wirklichen Bruch, sondern sich entfaltende Kontinuität.2053 Dies wird auch die Einbeziehung des zweiten Teiles des Systems der Philosophie, von Cohens Ethik des reinen Willens von 1904, in die folgenden Erörterungen bestätigen. Der Blick auf Cohen geschieht hier also nicht auf den neukantianischen Philosophen des Marburger Lehrstuhls, sondern auf seine Auffassung vom Judentum, wie sie sich hauptsächlich in dem postum (1919) erschienenen Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums darstellt, aber auch schon in den vorausgegangenen Schriften, etwa der Ethik des reinen Willens von 1904 und in
2049 Der Artikel Altmanns erschien in: In zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfzigsten Geburtstag, Tel Aviv 1962, S. 377–399; wieder in: Hermann Cohen, hrsg. von H. Holzhey, Frankfurt/M. 1994, S. 247–268. 2050 Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Berlin 1919, 2 Aufl. 1928 (NeudruckWiesbaden/ Dreieich 1978). 2051 Auch Hugo Bergmann spricht von einer vollkommenen Wende Cohens, EJ, V, S. 673–676. 2052 Vgl. Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Berlin 1924, hrsg. von B. Strauß, I, S. XLVI; und S. XLIX, Rosenzweig über Cohens Denken: »Denn was sich wechselseitig aufeinander bezieht, das ist nicht in Gefahr, sich einander die Wirklichkeit streitig zu machen, wie es der idealistische Erzeugerbegriff seinem Erzeugnis gegenüber fast notwendig muß […] So wird für beide Glieder der korrelativen Beziehung [Gott und Mensch] die Tatsächlichkeit gerettet.« Auch S. Ucko, Der Gottesbegriff in der Philosophie Hermann Cohens, Diss. Königsberg 1927, S. 48, sieht in Cohens Altersschriften eine ontologische Wende im Gottesbegriff Cohens. 2053 Dies trotz des anderes signalisierenden Untertitels ihres Buches, F. Albertini, Das Verständnis des Seins bei Hermann Cohen. Vom Neukantianismus zu einer jüdischen Religionsphilosophie, Würzburg 2003, S. 58.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
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der nach allgemeiner Auffassung die »Wende« markierenden Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie.2054
2.
Das Wesen der Religion
2.1
Wahre Religion als philosophischer Monotheismus
Für alle Rede von Religion gilt für Hermann Cohen deren Grundlegung und Verankerung in der Philosophie: »Der systematische Begriff der Religion stellt es freilich außer Zweifel, daß die wahre Religion auf der Wahrheit der systematischen Philosophie, und demgemäß subjektiv die wahrhafte Religiosität auf der Reife und Klarheit der systematischen Erkenntnis beruht.«2055 Alles, was sich als Religion ausgibt, kann nur gemessen werden am Maße seiner Teilhabe an der systematischen Erkenntnis der Philosophie. Wahre Religion ist erst »mit dem Einzigen Gotte, mit dem Gott ohne Gleichnis und ohne Bildnis«2056 erreicht, also bei Erreichung eines philosophischen Gottesbegriffes. In der Geschichte der Religion gibt und gab es, so Cohen, zahllose Vorstufen, die Mystik, den Mythos, aus denen sich die wahre Religion in langen Kämpfen herausgehoben hat. Zur Begründung dieser Auffassung muss der Anteil der »wahren« Religion am System der Philosophie, beziehungsweise an deren vier Bewusstseinsarten, der Erkenntnis, dem Willen, dem Gefühl und dem Selbstbewusstsein, aufgewiesen werden.
2.2
Der Anteil der Religion an der Logik
Wie schon oben vermerkt, gehört es zur unverzichtbaren Verpflichtung der deutsch-jüdischen Denker des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Cohen noch zu rechnen ist, darüber Rechenschaft zu geben, was denn »Religion« sei und in welchem Verhältnis dazu das Judentum stehe. Hermann Cohen hat sich mit dieser Frage ausführlich in einem eigens dafür verfassten Werk auseinandergesetzt, in dem schon genannten Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Für Cohen als Philosophen musste eine solche Klärung von besonderer Dringlichkeit sein, da für ihn, den Kantianer, menschliche Kultur sich zunächst in den drei Arten von Bewusstsein, Erkenntnis, Wille und Gefühl, äußerten, zu denen er, über Kant hinausgehend, noch das diese drei Bewusstseinsformen vereinende Selbstbewusstsein hinzufügte. Diese drei – und nach Cohen vier – Arten des menschli2054 Giessen 1915 (Neudruck Hildesheim 2002). 2055 Begriff der Religion, S. 137f. 2056 Begriff der Religion, S. 138.
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chen Bewusstseins werden in einer entsprechenden Anzahl von Wissenschaften verarbeitet, nämlich die Erkenntnis in der Logik, das Wollen oder Sollen in der Ethik, das Gefühl in der Ästhetik und schließlich das Selbstbewusstsein in der Psychologie. Jede dieser Wissenschaften bearbeitet nach Cohen einen eigenen menschlichen Problembereich, sie alle zusammen konstituieren das »System der Philosophie«, welches in erschöpfender Weise die conditio humana erforschen kann. Es stellt sich angesichts dieses Befundes natürlich die Frage, ob die Religion im Rahmen dieses geschlossenen menschlichen Kultursystems noch irgendeine ernst zu nehmende Berechtigung habe, oder als ›unwissenschaftliche Beschäftigung‹ aus philosophischer Sicht abzulehnen ist. Und schon Immanuel Kant, der »Lehrmeister« Cohens, hatte sich darum mit diesem Thema in einer eigenen Schrift, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793,2057 auseinandergesetzt und war dabei zu einer durchaus negativen Einschätzung des Judentums gekommen. Dies und die systematische Notwendigkeit der Fragestellung nach der möglichen Stellung der Religion im menschlichen Kulturkanon werden die schon vor die so genannte Wende durch den TreitschkeStreit zurückreichenden Gründe sein, weshalb sich auch Cohen mit der Religion auseinanderzusetzen hatte. Hinzu kommen die oben schon nachgezeichneten innerjüdischen Gründe der nachmendelssohnianischen Debatte, welche eine Antwort auf die Frage nach der jüdischen Religion erheischten. Ziel der Schrift zum Begriff der Religion musste es daher sein, für die Religion eine Einordnung in das »System der Philosophie« zu finden, sofern man ihr eine ernsthafte Rolle und Notwendigkeit für die Bewältigung menschlicher Probleme zuschreiben wollte.2058 Da nun die genannten vier Arten des menschlichen Bewusstseins und ihre zugehörigen Wissenschaften von Cohen als definitiv und gleichsam erschöpfend erachtet wurden,2059 konnte keine neue konkurrierende Wissenschaft und keine zusätzliche Bewusstseinsart für die Religion reklamiert werden. Es musste darum der Versuch unternommen werden, die Religion in das bestehende philosophische System einzuordnen.2060 Entsprechend ist der Aufbau des gesamten Büchleins vom Begriff der Religion. In seinen vier Hauptkapiteln2061 wird das Verhältnis der Religion zur Logik, Ethik, Ästhetik und Psycho-
2057 Zweite Auflage 1794. Ich benutze die Ausgabe: Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1981, hier Bd. 7, S. 647–879. 2058 Vgl. z. B. Begriff der Religion, S. 45. 2059 S. Begriff der Religion, S. 10, § 20. 2060 Vgl. z. B. Begriff der Religion, S. 9: »Es muß daher die neue Frage werden: Welche Stellung kommt der Religion zu im System der Philosophie? Oder kommt ihr überhaupt keine selbständige Stellung im System zu? – Steht es vielleicht so mit der Religion, daß sie einen natürlichen und nicht minder methodischen Anhang zur Ethik bildet?«; und s. S. 136, § 53. 2061 Kapitel II–V.
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logie untersucht. Es ist selbstverständlich, dass es bei dieser Einordnung in die Disziplinen der Philosophie nur um eine »Religion der Vernunft« gehen kann, denn die Vernunft ist eben das Werkzeug und die Grundlage für die Philosophie schlechthin. Daraus folgt zugleich, dass alles, was sich dieser Kategorie nicht unterordnen lässt, also der Kultus, der Ritus, der Mythos und, seit Kant, auch die Metaphysik, nicht zur Religion im vollen Sinne gerechnet werden kann. Cohen sieht in ihnen allenfalls verdunkelte Vorstufen oder Rückschritte und so höchstens vorläufige Krücken, mit deren Hilfe sich die wahre Religion zu entfalten suchte, die sie aber letztlich abwerfen muss. Ohne eine Basis der Vernunft ist die Religion kulturell wertlos, darum sagt Cohen »Die Religion würde allen echten Kulturwert einbüßen, wenn sie der Gemeinschaft mit der Erkenntnis entrissen würde. Wenn aber ihr Zusammenhang mit der Erkenntnis unlösbar ist, so ist damit ihr Zusammenhang mit der Logik in aller Strenge befestigt.«2062 Die Religion hat also nur dann echten Kulturwert, wenn sie an Erkenntnis interessiert ist (Teil der Logik), des weiteren am Gesetz der Sittlichkeit (Teil der Ethik), am Schönen (Teil der Ästhetik) und schließlich an der Ganzheit des menschlichen Individuums (Teil der Psychologie). Schon in der Ethik und in der Begriffsschrift, nicht erst in dem eigentlichen Buch zur Vernunftreligion, führt Cohen die Nachweise einer solchen Zugehörigkeit der Religion, gewiss auch als Reaktion auf Kants Geringachtung des Judentums, gerade am Judentum vor, welches für ihn wegen seines Monotheismus die Religion par excellence ist. Die Beziehung der jüdischen Religion zur Erkenntnis und Logik sieht Cohen vor allem in dessen konsequentem Monotheismus. Es ist nicht zufällig, dass bei Cohen dieser Begriff »Monotheismus« als die Mitte der jüdischen Religion gesehen wird. Wo die jüdische Tradition allenfalls von dem »einen Gott« oder von dessen »Einheit« gesprochen hat, setzt Cohen bevorzugt den religionswissenschaftlichen Terminus »Monotheismus«. Er tut dies aber nicht als Religionshistoriker, sondern als systematischer Philosoph und zwar im Sinne der kantianischen Erkenntnislehre, nach welcher sich Erkenntnis gerade dadurch vollzieht, dass der Mensch Begriffe schafft, in denen er die Vielfalt der Sinneswahrnehmung in eins zusammenfasst und so erst in das Denken und Verstehen hebt.2063 Nach Cohen ist es folglich gerade dieser Begriff des Monotheismus, welcher für die Vernunftgemäßheit der jüdischen Religion bürgt. Den Beginn der sukzessiven Entfaltung dieses Vernunftprinzips »Monotheismus« sieht Cohen schon in der »ersten« Selbstoffenbarung des biblischen Gottes am Dornbusch (Ex 3, 13), der sich dort als »Ich werde sein, der ich sein werde« vorstellt.2064 Diese Selbst2062 Begriff der Religion, S. 18, § 6. 2063 Vgl. Begriff der Religion, S. 24. 2064 Begriff der Religion, S. 20.
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vorstellung deutet Cohen, wie vor ihm schon Abraham Geiger,2065 dahingehend, dass dieser Gott sich mit dieser Formel als das »Sein« geltend macht. Cohen präzisiert noch weiter. Gott wird in seiner Selbstoffenbarung nicht nur als das »Sein« offenbart, sondern, wie Cohen aus Jes 45, 6 (»Nichts ist außer mir«) schließt, als das einzige Sein, demgegenüber alles andere »Nichts« ist. Und deshalb müsse man bei diesem Gott nicht nur von dem »Einen«, sondern von dem »Einzigen« schlechthin sprechen. Diese Einzigkeit bedeute die Unvergleichbarkeit Gottes mit allem übrigen Existierenden, womit sich Cohen des Weiteren auf Formeln von Sa‘adja Ga’on2066 und Maimonides2067 berufen kann.2068 Und es ist gerade diese Aussage von der Einzigkeit des göttlichen Seins im »monotheistischen Prinzip«,2069 welche den Anteil der Religion an der Vernunft und damit deren Zugehörigkeit zum System der Philosophie beweist: »Die Einzigkeit bedeutet demgemäß auch die Unterscheidung zwischen Sein und Dasein. Und in dieser Unterscheidung bewährt sich vorzüglich der Anteil der Vernunft am Monotheismus. Denn das Dasein wird von den Sinnen bezeugt, von der Wahrnehmung. Dahingegen ist es die Vernunft, welche gegen den Sinnenschein, der dem Dasein Wirklichkeit verleiht, das unsinnliche Sein entdeckt, das Unsinnliche zum Sein erhebt, als Sein auszeichnet.«2070 Was derartige Formulierungen für die Gottesvorstellung bedeuten, das heißt welche Art Wirklichkeit diesem so definierten Gott eignet, muss später noch erörtert werden. Hier sollte zunächst Cohens Argumentation dafür vorgeführt werden, dass die Religion, insbesonders die jüdische, mit ihren monotheistischen Aussagen spezifisch philosophische Fragen stellt und Antworten gibt, sie mithin Anerkennung vor dem Forum des alleine zur Wahrheit führenden philosophischen Erkennen finden kann.
2065 S.oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, V, 8. 2066 S. Jüdisches Denken, Bd. I, S. 380, 384. 2067 S. Jüdisches Denken, Bd. I, S. 441; und vgl zu Ibn Da’ud, S. 411. 2068 Religion der Vernunft, S. 51; Begriff der Religion, S. 26, § 24: »Das ist die neue Folgerung: die Einzigkeit Gottes bedeutet von vorneherein nicht seine Ungeteiltheit, auch nicht nur seine Unvergleichbarkeit mit anderem Sein, sondern schlechthin seine Identität mit dem Sein, so daß dieser gegenüber kein anderes Sein in Geltung bleibt.« Und vgl. Begriff der Religion, S. 27, § 27. 2069 Religion der Vernunft, S. 42. 2070 Religion der Vernunft, S. 51.
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2.3
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Der Anteil der Religion an der Ethik und die »Eigenart« der Religion
Die Ethik ist eine genuine philosophische Wissenschaft, welche sich allerdings im Gegensatz zur Logik nicht mit dem »Sein«, sondern mit dem »Sollen«, dem moralisch-sittlichen Handlungsziel, befasst. Der Erweis, dass die Religion sich auch mit diesem schlechthin menschlichen Thema abgibt, lässt sich leicht führen, ist es doch verbreitete religiöse Tradition, dass im Namen Gottes menschliche Verhaltensregeln verkündet werden. Aber hier geht Cohen noch einen Schritt weiter. Dabei zeigt sich ganz pointiert, dass Cohen sich nicht wie der Religionshistoriker mit einem empirischen Religionsbegriff zufrieden gibt, der die Religion aus der Vielfalt der religiösen Phänomenologie zu definieren versucht. Cohen als systematischer Philosoph und Kantianer definiert »a priori«, was unter Religion zu verstehen sei und misst daran die religiöse Wirklichkeit. So definiert er apodiktisch: »Religion entsteht erst, wenn der Mensch, soweit es sich um das Problem der Religion handelt, gleichsam ebenbürtig Gott zur Seite tritt.«2071 Und gerade diese Forderung sieht Cohen im »Begriff des Monotheismus« erfüllt, nämlich »daß in ihm nicht sowohl Gott den Hauptinhalt bildet als vielmehr der Mensch, oder genauer ausgedrückt: nicht Gott allein und an sich, sondern immer nur in Korrelation zum Menschen, wie freilich daher auch gemäß der Korrelation: nicht der Mensch allein, sondern immer zugleich in Korrelation mit Gott.«2072 Mit anderen Worten. Im wahren Monotheismus wird niemals über Gott allein, über sein Wesen spekuliert. Über Gott wird hier nur im Blick auf den Menschen, wie auch vom Menschen nur im Blick auf Gott geredet wird. Die Geburtsstunde dieser klaren »korrelativen« Theologie sieht Cohen im Wort des Propheten Micha, der sagt »Er hat dir verkündet, o Mensch, was gut sei.« (Micha 6,8). Es ist wert, hier die ganze Deutung dieses prophetischen Satzes durch Cohen anzuführen, zeigt sie doch, wie für Cohen die Erkenntnis durch das Finden von »Begriffen« entsteht und wie damit der Fortschritt der Erkenntnis zum Fortschritt der Religion wird: »Hier sind die drei Begriffe vereinigt. Der Mensch ist aufgetreten, an die Stelle des Israeliten getreten. Und Gott hat ihn berufen, um ihm Kunde zu geben – wovon? Etwa von sich? Oder vom Menschen? Von beiden nicht. Die
2071 Begriff der Religion, S. 32. 2072 Begriff der Religion, S. 32, § 1.
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Kunde bezieht sich auf etwas ganz anderes, auf einen neuen Begriff mit dem Schwergewicht der Abstraktion: das Gute. Gäbe es eine tiefere, kompliziertere Abstraktion in dem ganzen Schatz der Begriffe? Mit diesem Begriffe entsteht die Religion, und zwar als Monotheismus. Dieser Begriff läßt scheinbar sowohl Gott zurücktreten, wie auch den Menschen: als ob beide erst durch den Begriff des Guten entstünden und zu Recht bestünden.«2073 Das heißt, in diesem prophetischen Wort ist nicht der »Israelit« angesprochen, sondern der »Mensch« schlechthin. Und diesem Menschen wird eine Kunde von Gott mitgeteilt, die aber nichts über Gottes Wesen aussagt, sondern über das vom Menschen geforderte »Gute«. In diesem Begriff des »Guten« werden Gott und Mensch vereinigt und das bedeutet laut Cohen, dass der Prophet Micha, wie auch die anderen Propheten, nicht eigentlich an Gott noch am empirischen Menschen in seiner Realisierung als Volk oder Staat interessiert ist, sondern an dem Menschen, wie er erst werden soll, als dem der das Gute tun soll. Das heißt »ein neuer Mensch, die Menschheit wird ihr [der Propheten] Begriff vom Menschen. Und mit diesem Menschenbegriffe vernichten sie die Götterwelt und entdecken und offenbaren den Einzigen Gott der Einen Menschheit.«2074 Die Propheten wurden mit diesem Konzept »die Schöpfer einer neuen Art des Denkens, die wir eben in einem strengeren Sinn Religion bezeichnen.«2075 Dieser Monotheismus hat zu seinem Zentrum das »Sollen«, den Aufruf, das Gute zu tun, und er erweist sich damit als Teilhaber an der philosophischen Wissenschaft der Ethik. Es ist beachtenswert, dass Cohen schon in seiner eigentlich noch ganz der allgemeinen Philosophie gewidmeten Schrift Ethik des reinen Willens vom Jahre 1904 in Anlehnung an Kant, welcher die »Gottesidee« als für die Ethik notwendiges Postulat gesehen hatte,2076 die Gottesidee zu einer Notwendigkeit in der Methodik der philosophischen Grundbegriffe erklärte, um eine Lücke im System, zwischen der Logik und der Ethik, zu schließen. Darum sagt er dort: »Die Ethik hat den Begriff Gottes in ihr Lehrgebäude aufzunehmen.«2077 Der Gedanke der zu dieser Forderung führt, schreitet über mehrere Schritte. Zunächst fragt Cohen, wie denn dem Sittlichen eine Wirklichkeit – analog zu jener der Natur – verbürgt werden könne. Dies sei alleine durch die Vorstellung »des ewigen Fortgangs der sittlichen Arbeit« möglich, in welchem sich der reine Wille des Menschen vorwärtsbewege. »Wirklichkeit des Sittlichen erkennen wir vielmehr gera-
2073 Begriff der Religion, S. 33, § 3; s. schon Ethik, S. 381. 2074 Begriff der Religion, S. 33, § 3. 2075 Ethik, S. 383. 2076 S. Röd, Der Weg der Philosophie, II, S. 169; und s. Cohen, Ethik, S. 417. 2077 Ethik, S. 416; und vgl. Begriff der Religion, S. 60, § 55.
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de in dem Ziele, welches der sittlichen Arbeit gesteckt ist: unendlich zu sein.«2078 Wie aber kann dieses ewige Ideal des Sittlichen gewährleistet werden, alleine durch den Begriff Gottes, »Er soll für die Ewigkeit des Ideals die analoge Ewigkeit der Natur sichern.«2079 Dies alles führt schließlich zu der abschließenden Folgerung: »Allem Pessimismus und allem Quietismus widerspricht die Idee Gottes. Es bleibt nicht dem Ungedanken des Zufalls überlassen, was aus dem Menschengeschlechte, aus der geistig sittlichen Kultur der Menschheit werden wird; es braucht aber auch nicht den Naturgesetzen selbst anheim gestellt zu werden; denn sie stehen nicht allein für das Sein. Das Sein ist nicht nur das Sein des Denkens, sondern auch das des Wollens. Und dieses Wollen ist das reine Wollen, das Wollen der Sittlichkeit. So besteht für das Sein eine doppelte Correlation, zum Denken und zum Wollen. Und die Einheit dieser ist die Wahrheit; ist Gott. Die Ewigkeit des Ideals ist nunmehr gesichert durch die Vorsehung Gottes in der Natur für die Sittlichkeit.«2080 Also noch vor der Pforte seiner eigentlichen Religionsphilosophie ist für den kantianischen Philosophen Cohen der Gottesbegriff ein für das Denken notwendiger Begriff. Denn alleine durch ihn kann philosophisch die Ewigkeit der sittlichen Aufgabe gedacht und damit zum Antrieb und zur Begründung des menschlichen Handelns werden. Bei der Verfassung der Ethik im Jahre 1904 glaubte Cohen allerdings noch an die Möglichkeit, dass die Religion sich in die Ethik auflösen könne oder solle.2081 Und auch in Begriff der Religion findet Cohen keine »neue Bewußtseinsart«, welche die Aufnahme der Religion als eigene Größe in das System der Philosophie rechtfertigen würde. Dennoch bahnt sich hier, in Anlehnung an erste Gedanken in der Ethik,2082 der Wille an, die Religion nicht nur als Teilhaberin an den Disziplinen der Philosophie dastehen zu lassen, sondern ihr eine Aufgabe zuzuweisen, welche von den Disziplinen der Philosophie nicht zu leisten ist. Allerdings wird sich diese eigentümliche Aufgabe nicht als so grundlegend von der Ethik unterscheiden, dass sie sich ganz von dieser befreien könnte – ohne Ethik gibt es auch weiterhin keine Religion. Aber es ist die Frage des Individuums in seinem Selbstbewusstsein, welches laut Cohen nicht von der Ethik abgedeckt werden könne, denn in dieser wird ja der Einzelne von der »Allheit« der Menschheit her definiert, der
2078 Ethik, S. 387f. 2079 Ethik, S. 416. 2080 Ethik, S. 426. 2081 Ethik, S. 58; Begriff der Religion, S. 42, § 18. 2082 Ethik, S. 202.
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Menschheit, die das Ziel der sittlichen Aufgabe ist.2083 Diese spezielle, von der Ethik nicht geleistete, Aufgabe sichert der Religion nach Cohen im Rahmen des philosophischen Systems keine »Selbständigkeit«, wohl aber eine »Eigenart«.2084 In der Ethik wird, so Cohen, der Mensch nur von der Menschheit her definiert: »Die Menschheit gibt seiner Person, die nur eine Maske ist, den geschichtlichen Grund der Persönlichkeit.«2085 Dies aber, so fährt er mit einem neuen Gedanken fort, ist ein Denken, das dem Menschen als einem Individuum, das der sittlichen Anforderung nicht gerecht wird und das in Leiden und Nöte dieser Welt verstrickt ist, nicht gerecht wird, so dass man gar zu der Auffassung gelangen konnte, das ethische Denken habe die »Vernichtung« des Individuums bewirkt. Dagegen setzt Cohen die folgende Reflexion: »Indessen wenngleich nicht die Vernichtung, die Selbstvernichtung des Menschen der Sinn der Menschheit ist, so rückt die Menschheit den Menschen doch in das Licht einer Vereinsamung und Isoliertheit, einer Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit, die ihm entgehen würde, wenigstens seinem Bewußtsein, wenn die Menschheit diese Mängel grell beleuchtete. Man darf nicht sagen, daß die Einsicht in seine Defekte dem Menschen gar nichts schade, sondern nützlich sei. Das gilt nur, wenn die Einsicht ihn zur Verbesserung befähigt, und somit ihm zum Beistand und zum Troste wird. Ohne die Möglichkeit solcher Hilfe würde die Lage des Menschen vielleicht trostlos werden.«2086 Das bedeutet, die Ethik kann auf diese Fragen des persönlichen Versagens und Leidens keine Antwort geben. Und der Mensch, der dies alles an sich wahrnimmt und erlebt, müsste eigentlich der Verzweiflung anheimfallen. Und an dieser Stelle sieht Cohen die Geburtsstunde der Religion: »Diese Selbsterkenntnis seiner Schwächen ist die Geburtsstunde der Religion.«2087 In dieser Situation braucht der Mensch eine gedankliche Hilfe, etwas das ihm hilft, das ihn von dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit frei macht und ihm so wieder die Kraft für seine sittliche Verpflichtung schenkt.2088 Hier tut sich ein Religionsverständnis auf, das von Cohens jüdischen Kritikern umgehend als christlich verworfen wurde. Und wie schon im Falle der Erkenntnis des Seins im biblischen Gottesnamens, findet Cohen auch für diese Geburtsstunde der semiselbständigen »Eigenart« der Reli-
2083 Vgl. z. B. Begriff der Religion, S. 52. 2084 Begriff der Religion, S. 44. 2085 Begriff der Religion, S. 52f., § 39. 2086 Begriff der Religion, S. 53f. 2087 Begriff der Religion, S. 54, § 44. 2088 Begriff der Religion, S. 55.
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gion biblische Zeugen, nämlich die Propheten Jeremia und vor allem Ezechiel.2089 Sie haben, so Cohen, mit dem Thema der »Selbsterkenntnis der Sünde das Individuum erst zur Entdeckung« gebracht. Zu dieser Entdeckung gehört aber zugleich die weitere, dass dem Menschen seine Sünde vergeben wird und er sich erneut auf den sittlichen Weg begeben kann.2090 Damit ist auch ein neuer Begriff des Menschen geschaffen, eines Menschen, der seine Sündhaftigkeit erkennt und auf Vergebung hoffen darf. »In diesen positiven Momenten«, so fasst Cohen diese Gedankengänge zusammen, »vollzieht sich der neue Begriff des Menschen, den die Erkenntnis vom sittlichen Mangel und von der Sündhaftigkeit herbeigeführt hat. So entsteht dieser neue Begriff des Menschen als eine homogene Ergänzung des Menschenbegriffs der Ethik: Eine Ergänzung als Fortsetzung.« Dies ist der »begriffliche Ursprung der Religion.« 2091 Aus diesem Grundgedanken zur Entstehung des Individuums werden in der Religion der Vernunft weit ausgebreitete Kapitel zur »Entdeckung des Menschen als Mitmenschen«, »Das Individuum als Ich«, »Die Versöhnung« und »Der Versöhnungstag«, die weiter unten nochmals aufzunehmen sein werden. Während nun in der Ethik die Gottesidee in Korrelation zur gesamten Menschheit steht, steht sie in der Religion zum Menschen (als Individuum).2092
2.4
Das Verhältnis der Religion zur Ästhetik
Das Grundbewußtsein der Ästhetik ist, wie auch der dritte Band von Cohens System der Philosophie anzeigt, das »Gefühl«. Die Realisierungen des Ästhetischen wie des religiösen Gefühls expliziert Cohen am Begriff der Liebe, wobei die Erörterungen dazu das Ziel verfolgen, die ästhetische Liebe von der religiösen Liebe deutlich zu unterscheiden und vor der Gefahr einer Vermischung der beiden zu warnen. Die ästhetische Liebe richtet sich, im Kunstwerk, auf einen Typus, während die religiöse Liebe sich, gemäß dem zuvor Erörterten, auf das Individuum beziehen.2093 Das ästhetische Bewusstsein ist auf die Natur, auch auf die Natur des Menschen, und damit vorzüglich auf seine Leiblichkeit, ausgerichtet, während die religiöse Liebe nur auf die »Seele« oder den »Geist«, den Insignien der Individualität des Menschen, ausgerichtet ist.2094 Der Unterschied der beiden
2089 Begriff der Religion, S. 56. Zu dieser auch von der Religionswissenschaft anerkannten deutung Ezechiels s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 147–150. 2090 Begriff der Religion, S. 56, § 47. 2091 Begriff der Religion, S. 57f., § 50. 2092 Begriff der Religion, S. 60, § 55. 2093 Begriff der Religion, S. 86. 2094 Begriff der Religion, S. 90.
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Gefühle lässt sich besonders anschaulich am Leid des Menschen und dem daraus resultierenden Mitleid erkennen, wie Cohen dies deutlich macht: »Wir haben das religiöse Gefühl als Mitleid erkannt: als Entdeckung des Menschen im Leiden, als Entdeckung des Individuums am leidenden Menschen, und als Entdeckung seiner Korrelation mit Gott, die gleichsam durch dieses Leiden und Mitleiden gefügt wird. Darin besteht die schöpferische Aktivität dieses religiösen Gefühls, dieses Mitleids mit der Menschenseele. Wie anders dagegen ergeht sich die schöpferische Aktivität der ästhetischen Liebe zur Menschennatur.«2095 Es ist diese von Cohen vorgenommene Konzentration der religiösen Liebe auf das Mitleid, die ihn schließlich zu der Auffassung führte, dass letztlich erst die biblischen Psalmen den entscheidenden Schritt zur wahrhaften Religion vollzogen hätten, während die Propheten die Schöpfer der Sittlichkeit waren.2096 Denn das Thema der Psalmisten sei eben das Leiden und die Not des Individuums und dessen Hoffnung auf Erlösung der eigenen »Seele«. Die Propheten hingegen, die noch mehr die ethische Seite der Religion in den Vordergrund stellten, mit ihrer Beziehung zwischen Mensch und Mensch, insbesondere zwischen den Völkern, dachten, wenn sie vom erhofften Ziele sprachen, an die Friedenstage der messianischen Zeit. – Cohen sagt das in einem gewissen Widerspruch zu seiner Auffassung, gerade die Propheten Jeremia und Ezechiel hätten das Individuum entdeckt. Doch im Blick auf den hier nun herausgestellten Unterschied zwischen Propheten und Psalmisten resümiert Cohen: »Der Gott der Sehnsucht ist der Gott der Erlösung; und was für die Menschheit die Idee des Messias bedeutet, das bedeutet für das Individuum die Idee der Erlösung.«2097 Auf die Messiasidee im Sinne Cohens werde ich später noch zurückkommen müssen.
2.5
Der Anteil der Religion an der Psychologie
Unter Psychologie versteht Cohen nicht die Wissenschaft von der metaphysischen Seele als einer im Körper weilenden separaten geistigen Substanz, wie dies die philosophische und religiöse Tradition verstanden hatte. Auch nicht in dem Sinne spricht Cohen von Psychologie insofern in ihr die Ordnungen und Vorstellungen des Bewusstseins verhandelt werden, wie sie etwa von den mittel-
2095 Begriff der Religion, S. 94. 2096 Begriff der Religion, S. 100, § 30. 2097 Begriff der Religion, S. 101, § 32.
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alterlichen Philosophen beschrieben wurden. Die Psychologie von der Cohen redet, ist die Psychologie der Einheit des menschlichen Bewusstseins, also der Einheit jener drei Bewusstseinsarten, welche von der Logik, der Ethik und Ästhetik verhandelt wurden: »Während die drei Glieder des Systems mit drei Sonderrichtungen des Bewußtseins befaßt sind, mit der Erkenntnis, mit dem Willen und mit dem Gefühl, zeigt sich der systematische Wert, beinahe möchte man sagen, das systematische Vorrecht der Psychologie darin, daß sie nicht eine Sonderrichtung des Bewußtseins, und auch nicht einmal nur die Gesamtheit derselben, sondern vielmehr ihre Einheit zum Problem hat. Diese Einheit zustande zu bringen, scheint das eigentliche Problem zu sein, dessen Behandlung die Psychologie erfordert. Denn die einzelnen Bewußtseinsformen könnten den einzelnen Systemgliedern überlassen zu werden scheinen, aber ihre Zusammenfassung, vielmehr ihre Vereinigung, so daß in dieser die Einheit des Bewußtseins zustande kommt, dazu besonders scheint es der Psychologie zu bedürfen.«2098 Die Psychologie dieser Art kümmert sich mithin um die Einheit der Persönlichkeit und ihres Bewusstseins. Es stellt sich darum die Frage, ob und wie die Religion in ihrer schon beschriebenen »Eigenart«, nicht »Selbständigkeit«, hierzu einen Beitrag zu leisten imstande ist. Hier kommt nach Cohen wieder die oben gezeichnete Funktion der Religion zu Konstituierung des Individuums ins Spiel, als der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit und die Zuversicht der Versöhnung und Sühne. Für letztere ist der Gedanke Gottes das funktionale Element. Darum sagt Cohen: »Die Bedeutung Gottes besteht nunmehr in dieser persönlichen Bürgschaft, nicht mehr in der menschlichen überhaupt. Der Unterschied der religiösen Bedeutung Gottes wird evident. Diese steht nur ein dafür, daß es der Sittlichkeit niemals an der Menschenart mangelt, so daß die Sittlichkeit auf Erden sich nicht verwirklichen könnte. Aber daß ich selbst in meiner isolierten Individualität mit meinem redlichen Bemühen um meine Sittlichkeit, um ihre Erhaltung und Wiedergewinnung zustande komme, das kann mir der Gott der Menschheit nicht an sich verbürgen. Die Allheit, als welche die Menschheit zu denken ist, verbürgt nicht die Individualität, als solche. Dazu bedarf ich Gottes, als meines Gottes. Mein eigener Gott ist der Gott der Religion.«2099
2098 Begriff der Religion, S. 108f., § 2. 2099 Begriff der Religion, S. 116, § 16.
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Hier ist die Rolle der Religion als der Hüterin der sittlichen Kraft angesichts der menschlichen Schwäche beschrieben und somit hat sie eine aktive Rolle in der Bewahrung eines der Systemglieder, was mithin auch der Vereinung der Bewusstseinsformen dient. Hinsichtlich der Erkenntnis scheint die Rolle umgekehrt. Hier ist es Aufgabe der Religion, sich in ihren Erkenntnismöglichkeiten der philosophischen Erkenntnis unterzuordnen und dadurch wiederum der Einheit des Bewusstseins zu dienen.2100 Im ästhetischen Bereich hat die Religion die Aufgabe, das ästhetische heroische Ideal in Frage zu stellen angesichts des menschlichen Leidens und vermag dadurch die Einheit des Bewusstseins vor einer Lücke zu bewahren.2101 Auch dahingehend kann das religiöse Bewusstsein der Einheit des menschlichen Bewusstseins dienen, dass die Kunst nicht die Verbindung von Endlichem und Unendlichem vergisst. Es ist die Korrelation von Mensch und Gott, welche die Ästhetik vor einseitigen Gefühlen schützt.2102 Mit diesen ausführlichen Darlegungen zur Stellung der Religion im Rahmen der menschlichen Kultur oder des philosophischen Systems hat Cohen schon weite Teile seiner eigentlichen Religionsphilosophie berührt, die er in seiner Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums mit einem an die klassische theologischen Topologie oder Systematik angelehnten Aufbau vorträgt. Daraus gilt es im Folgenden, im Rückgriff auf das oben Dargelegte, die wesentlichsten Punkte vorzustellen.
3.
Die Korrelation als methodische Grundlage jeglicher Rede von Gott, Welt und Mensch
Es sind die Worte der Schlange in der Erzählung vom Sündenfall, welche für Hermann Cohen die erste biblische Beschreibung des besonderen Verhältnisses von Mensch und Gott sind, wenn sie sagt: »Denn Gott weiß, dass an dem Tage, an welchem ihr von ihm [dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen] esst, eure Augen geöffnet werden und ihr wie Gott sein werdet, das Gute und das Böse zu erkennen.«2103 Diese Stelle kommentiert Cohen wie folgt: »Also um Erkenntnis handelt es sich jetzt beim Menschen. Und in der Erkenntnis handelt es sich um das Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Schlange nennt es Identität; unsere Sprache der Philosophie nennt es Korrelation, die der Ausdruck ist für alle Wechselbegriffe. Wechselwirkung besteht 2100 Begriff der Religion, S. 111–114. 2101 Begriff der Religion, S. 131, § 45. 2102 Begriff der Religion, S. 135. 2103 Gen 3, 5.
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für Mensch und Gott. Das Sein Gottes ist die Grundlage für das Sein der Schöpfung, vielmehr für das Dasein der Schöpfung. Aber beim Menschen genügt diese nicht für sein Dasein; in dieser Beziehung beträfe die Voraussetzung des göttlichen Seins den Menschen nur als Lebewesen. Bei dem Menschen muß Gottes Sein die Voraussetzung sein für die Erkenntnis. Und die Erkenntnis betrifft nicht allein das Naturwissen, sondern es handelt sich um ›die Erkenntnis von gut und böse‹. Das Wesen des Menschen wird bedingt durch die Erkenntnis der Sittlichkeit. Die Vernunft ist nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische, die ethische. Die Schöpfung des Menschen muß die Schöpfung seiner Vernunft bedeuten.«2104 Der Begriff der »Korrelation« ist der Schlüssel und zugleich das Schibbolet zum Verständnis der Cohenschen Religionsphilosophie. Bezeichnet dieser Begriff, wie Alexander Altmann2105 und Julius Guttmann2106 meinen, einen Begriff des reinen Denkens, oder kommt ihm in den Religionstexten Cohens ein Hauch von metaphysischer Realität zu, wie Franz Rosenzweig andeutet2107 und Guttmanns Schüler Siegfried Ucko glaubt.2108 Mit der Antwort auf diese Frage ist auch die andere entschieden, ob die Gottheit für Cohen im gut idealistischen Sinn nur »Gottesidee« bleibt, also ein denknotwendiges Konstrukt, beziehungsweise eine Voraussetzung und Grundlegung des Denkens, oder ob sie eine metaphysische Qualität hat. Der angeführte Passus aus der Religion der Vernunft, der gleichsam in nuce die gesamte Theologie, Kosmologie und Anthropologie Cohens enthält, ist zugleich paradigmatisch für die anscheinend schwankende Diktion Cohens in der Frage zwischen »Idealismus» und metaphysischem »Realismus«. Hier wird die »Korrelation« im Sinne des so genannten kritischen Idealismus als »Wechselbegriff« bezeichnet, woraus man schließen kann, dass das hier zu Sagende rein im Begrifflich- Denkerischen bleibt. Das heißt, alles was folgt, wäre demnach reine Erzeugung der menschlichen Vernunft, wie dies Cohen im Begriffs-Buch einmal sagt: »Die Korrelation ist eine wissenschaftliche Grundform des Denkens, in unserer Terminologie des Urteils. Ihr allgemeiner Name ist der des Zwecks. Wo eine Begriffsbildung angestellt wird, da wird eine Zwecksetzung aufgestellt. Eine Zweckbeziehung ist es, die wir zwischen Gott und Mensch, wie zwi-
2104 Religion der Vernunft, S. 100f. 2105 Hermann Cohens Begriff der Korrelation. 2106 Philosophie, S. 345–362. 2107 Jüdische Schriften, I, Einleitung. 2108 Der Gottesbegriff.
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schen Gott und Natur ansetzen. Wenn wir fragten, wie wir zu der Korrelation von Gott und Mensch kommen, so ist die Antwort: so verfährt das Urteil in der Zwecksetzung, welche ihre allgemeine Form in der Begriffsbildung überhaupt hat. Wenn ich demgemäß den Begriff von Gott bilden will, muß ich zwischen Gott und Mensch eine Zwecksetzung vornehmen, und so auch den Begriff des Menschen aus der Gliederung im Inhalt des Gottesbegriffes gewinnen, und umgekehrt.«2109 Cohen ist also der Überzeugung, dass man vom Menschen im vollgültigen Sinne nur sprechen könne, wenn man ihn in eine Korrelation zum Begriff Gottes setzt, woraus zugleich folgt, dass man über Gott nur reden kann, wenn man den Begriff des Menschen bilden, das heißt Erkenntnis vom Menschen, gewinnen will. Es ist also ein Problem des menschlichen Denkens, welches hier zur Debatte steht. Wir können eben nicht anders denken, nicht anders erkennen, dies ist die menschliche Denkstruktur. Und hier darf man nicht den Fehler der mittelalterlichen Denker begehen, für die das Denken zugleich der ontologischen Wirklichkeit entspricht.2110 Das menschliche Denken und das »Ding an sich« sind zwei verschiedene Dinge, wenn es überhaupt ein solches »an sich« gibt. Cohen ist ja der Überzeugung, dass das »Sein« mit dem »Denken« identisch ist,2111 nicht aber im mittelalterlichen Sinne, dass das Denken einer metaphysischen »Realität« entspricht, sondern eben, dass das Gedachte reine Gedanken sind und ein solch reiner Gedanke ist auch das »Sein«. Wenn man dann aber in dem zuvor angeführten Passus aus der Religion der Vernunft Sätze wie den folgenden liest, so scheint Cohen doch wieder zu einem ontologischen Realismus zu kippen: »Das Sein Gottes ist die Grundlage für das Sein der Schöpfung, vielmehr für das Dasein der Schöpfung.« Aber dieser Widerspruch löst sich dann auf, wenn man Cohen ernst nimmt, wenn er sagt, dass das »Sein« eine Frucht des menschlichen Denkens ist, im Gegensatz zum »Dasein«, welches mit den Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit besitzt. Indessen wird für Cohen dieses rein gedankliche Sein nicht zur spielerischen Fatamorgana. Denn für das menschliche Dasein spielen die gedachten Ideen doch eine überaus mächtige Rolle. Sie führen und leiten den Menschen, prägen sein Leben. So gesehen wird deutlich, warum Cohen glaubt, man könne über Gott nur sprechen, wenn man vom Menschen redet. Die Ideen und Begriffe sind das, was menschliche Erkenntnis ausmacht, ist das, was ihn motiviert und prägt, eine denkerische »Wirklichkeit« und Macht. Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn man die Gottheit als Korrelat der menschlichen Sittlichkeit betrachtet. Dazu sagt Cohen: 2109 Begriff der Religion, S. 47, § 29. 2110 Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 254f., 318, 636. 2111 S. sogleich.
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»Während der Mensch bei der Korrelation, die unsere Aufgabe jetzt bildet, nur als tätiger Faktor gedacht wird, wird Gott dagegen als Ziel gedacht, auf welches die eigene sittliche Arbeit des Menschen hingerichtet wird. So bleibt das Ziel zwar noch der sittlichen Arbeit angehörig; man könnte sogar von einem Faktor sprechen, den das Ziel bildet; aber das Ziel ist nicht mit dem Faktor identisch zu machen. […] So muß, so kann allein die Korrelation von Mensch und Gott hier aushelfen, wo Gott erdacht wird, aber nicht anders als in Korrelation zum Menschen.«2112 Für das sittliche Handeln des Menschen bedarf es also unbedingt eines Ziels, auf das der Mensch hinstrebt, dieses Ziel treibt ihn voran, dies auch, wenn das Ziel nur im menschlichen Denken erdacht wird. Somit gehört das erdachte Ziel unabdingbar zum menschlichen Handeln dazu, ist aber nicht mit ihm identisch, ist »nur« eine Idee. Gott ist das vom Menschen erdachte Ziel seines Handelns, ohne welches dieses Handeln stagniert. Gott ist als denkerische Idee ein Motor des menschlichen Handelns und gewinnt so eine »Art Wirklichkeit«. Im selben Zusammenhang erörtert Cohen die oben schon erwähnte »Eigenart« des religiösen Bewusstseins, welches durch das ethische Denken alleine nicht erfüllt werden könne, nämlich die Situation des Menschen, der sich seiner sittlichen Schwäche und damit seiner Sündhaftigkeit bewusst ist. In dieser Situation wird der Mensch, so Cohen, von der Sündenlast durch seine »Bußarbeit« befreit, ohne dass Gott dabei als Sühnender wirklich etwas täte. Aber durch die Korrelation hat sich der Begriff der Gottheit verändert. Und hier wird es nochmals deutlich gesagt. Das veränderte Menschenbild vom leidenden Menschen bringt wegen der Korrelation des Menschen mit Gott notwendigerweise ein einen neuen Gottesbegriff hervor. »Der neue Sinn Gottes entspricht dem neuen Begriffe des sündigen Menschen.«2113 Gott kann in diesem Zusammenhang auch einmal das »Wahrzeichen« genannt werden, das eine Wirkung auf den Menschen hat: »Der Mensch bleibt in Arbeit, aber Gott, der an dieser Arbeit selbst nicht teilnimmt, wird als das Wahrzeichen gedacht, das die Befreiung von der Sünde bewirkt.«2114 Ein anderes Beispiel um die Korrelation zu erklären, ist das von der Liebe zu Gott. Diese Liebe zu Gott ist wegen der Korrelation nicht ohne die Liebe zum Menschen möglich. »Wurm, der ich bin, von Leidenschaften zerfressen, der Selbstsucht zum Köder hingeworfen, soll ich dennoch den Menschen lieben.
2112 Begriff der Religion, S. 63f. 2113 Begriff der Religion, S. 64. 2114 Begriff der Religion, S. 64, § 64.
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Wenn ich dies kann, kann ich auch Gott lieben.«2115 Natürlich wird man einwenden können, dass die Liebe zum Menschen und die Liebe zu Gott zwei vollkommen inkommensurable Leidenschaften sind, ist doch der Mensch ein wahrnehmbares wirkliches Wesen; und Gott? Auf diesen Einwand gibt Cohen eine erstaunliche, aber für sein Denken typische Antwort: »Oder sollte ich etwa daran Anstoß nehmen, daß Gott ja kein Mann ist; daß er den Erkenntniswert einer Idee hat. Sollte ich etwa Ideen nicht lieben können? Was ist denn aber der Mensch anderes als eine soziale Idee und doch kann ich ihn nur in dieser und kraft dieser als Individuum lieben: also, streng genommen, nur diese soziale Idee vom Menschen lieben. Und was vom Menschen möglich ist, das sollte von Gott, der nur Idee ist, und den ich nicht, wie immerhin den Menschen, in einer empirischen Gestalt wahrnehmen: den ich nur auf Grund seiner ethischen Idee denken und lieben kann?«2116 Deutete ich oben Cohens Denken in korrelativen Formen dahingehend, dass er glaube, dies entspräche der Struktur der menschlichen Denkweise, die ein solches korrelatives Denken erfordert, so erscheint die Verwendung dieses Denkens an anderer Stelle bei Cohen etwas zurückhaltender als frei gewählte, weil wirksame Arbeitshypothese: »So erkennen wir wiederum den Vorzug unserer methodischen These der Korrelation. […]«2117 Da in meiner Darstellung der Geschichte des jüdischen Denkens die biblische Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes zum Maßstab für das sich wandelnde Gottes- und Menschenbild erkoren wurde, soll an dieser Stelle auch Hermann Cohens Deutung dieser für die gesamte jüdische Religionsgeschichte so wichtigen Formel noch angeführt werden. Wie diese Deutung aussieht, wird nach dem bis hier Vorgetragenen kaum mehr eine Überraschung sein. Es ist die Korrelation, dieser philosophische Begriff, der sein Äquivalent in der biblischen Lehre vom Menschen als imago dei hat: »Die Korrelation von Mensch und Gott macht in der Methodik den Menschen Gott ebenbürtig. So bringt die Religion auch zu begrifflicher Bestimmtheit, was sie im biblischen Gleichnis zu ihrem Wahrzeichen gemacht hat: daß der Mensch im Bilde Gottes geschaffen sei. Im Begriffe Gottes besteht sein Sein. Und wenn anders der Mensch ebenso auch die Aufgabe hat, Gott zu erkennen, zu lieben, und wenn anders die Erkenntnis seines Wesens nur reflektiv aus dem sittli2115 Begriff der Religion, S. 82, § 99. 2116 Begriff der Religion, S. 82, § 100. 2117 Begriff der Religion, S. 134, § 50.
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chen Wesen des Menschen hervorgehen kann, so wird auch Gott durch den Menschen bedingt.«2118 Gottes und Menschenbild entsprechen sich reziprok. Wo zum Beispiel die Rabbinen die Gottebenbildlichkeit des Menschen in ethischen Kategorien deuteten,2119 und Maimonides in intellektuellen,2120 versteht sie Cohen begrifflich – epistemologisch. Ohne den Begriff vom einen, gibt es kein Verstehen des anderen.
3.1
Die Lehren von Gott
Wenn man von Cohens Begriff der Religion zu seinem postum veröffentlichten jüdisch-philosophischen Hauptwerk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums2121 kommt, erscheint Letzteres als der Versuch, die biblischen und späteren jüdischen Texte in das im Begriffs-Buch entwickelte Bild einer Vernunftreligion einzuzeichnen. Das bedeutet, dass die dort aufgestellten Voraussetzungen von »wahrer Religion«, welche Anteil an der Vernunft hat, auch für dieses Buch gelten. Diese Voraussetzung des Begriffs-Buches für das ReligionsBuch scheint, wie dies wohl auch Rosenzweig verstanden wissen wollte, jedoch aufgeweicht oder gar aufgelöst worden zu sein. Dies aber trügt, weil Cohen in seiner Gleichsetzungsarbeit von Vernunft-Philosophie und biblisch-jüdischen Texten häufig die Diktion der jüdischen Texte übernimmt, die einfach von Gott – und nicht wie der Philosoph Cohen vom Begriff Gottes oder von der Idee Gottes – sprechen. Cohen redet hier auf zwei Sprachebenen, auf jener der Tradition und auf der anderen der Philosophie, wobei eben die traditionelle durch die philosophische Redeweise interpretiert werden soll. Die neue, kantianisch geprägte, Situation in der Rede von Gott und der Abschied von der mittelalterlich jüdisch-philosophischen Theologie zeigt sich sogleich daran, dass Cohen in diesem Buch nicht die Frage nach den möglichen Gottesbeweisen stellt, nicht die Frage, ob und wie Gott erkannt werden könnte. Cohen fragt dem gegenüber nach der Entstehung und Bildung der religiösphilosophischen Begrifflichkeit. Es wird also nicht die Existenz einer Gottheit vorausgesetzt, der man sich philosophisch anzunähern versucht, es wird nicht nach einer ersten Ursache gefragt und die Art und Weise wie man diese philosophisch nachweisen könne. Cohen ist demgegenüber an der Entwicklung des 2118 Begriff der Religion, S. 136, § 52. 2119 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280ff. 2120 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S.462ff. 2121 Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Berlin 1919, 2 Aufl. 1928 (NeudruckWiesbaden/ Dreieich 1978).
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menschlichen Denkens und am Erkenntnisfortschritt seiner Protagonisten interessiert. Es geht ihm nicht um die Erkenntnis Gottes, sondern um die Bildung, Kristallisierung und Durchsetzung des von Menschen geschaffenen Begriffes »Monotheismus« oder des monotheistischen Prinzips. Im Zentrum des Interesses steht darum nicht eigentlich Gott, sondern der Mensch und seine intellektuelle Entwicklung, hin zu einem reiferen Gottesbegriff. Deshalb spricht Cohen hier, wo es um den Nachweis der Vernunftgemäßheit der biblischen und jüdischen Religion geht, von geistigen Schöpfungen durch das Genie der Israeliten oder des jüdischen Nationalgeistes.2122 Und da die menschliche Erkenntnis laut Cohen über die Begriffsbildung voranschreitet, beziehungsweise dokumentiert ist, sind solche Begriffsentwicklungen zugleich immer ein Indiz für neue menschliche Fragestellungen und Probleme, deren Lösung schließlich in den reifer werdenden Begriffen ausgedrückt wird. An dieser Stelle muss auch noch bemerkt werden, dass die Deutung der biblischen Texte durch Cohen keine Deutungen im historisch-kritischen und philologischen Sinne sind und vor der modernen historischen Bibelwissenschaft weitgehend keinen Bestand haben können. Sie sind vielmehr »philosophische« oder kulturphilosophische Deutungsversuche auf den Spuren möglicher Entwicklungen des menschlichen Geistes. Sie stehen folglich den Deutungsmethoden wie sie in der jüdischen Tradition aus der Haggada wie der Philosophie überkommen sind, sehr viel näher als jenen der modernen Textwissenschaft.2123
3.2
Der Monotheismus und die Frage der »Schöpfung«
Cohen beginnt Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums nach einer Einleitung mit dem Kapitel über »Die Einzigkeit Gottes«. In seinem Mittelpunkt, wie in den folgenden, mit ihm aufs engste verbundenen Kapiteln – jene über den Bilderdienst, die Schöpfung, die Offenbarung, die Schöpfung des Menschen in der Vernunft, die Attribute der Handlung und schließlich über den heiligen Geist (Kapitel I-VII) – steht das Entstehen solcher Vorstellungen und Gedanken, die mit dem Terminus »Monotheismus« auf den Begriff gebracht sind. Hier wird der voranschreitenden Durchsetzung des »monotheistischen Prinzips«2124 nachgespürt und erörtert, welche Probleme oder Fragestellungen mit den je neuen begrifflichen Schritten denkerisch gelöst wurden. 2122 Religion der Vernunft, S. 42, 44f. 2123 Dazu vgl. E. Schweid, Hermann Cohen’s Biblical Exegesis, in: »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk, hrsg. von H. Holzhey, G. Motzkin, H. Wiedebach, Hildesheim et. al., 2000, S. 353–379. 2124 Religion der Vernunft, S. 42.
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Sogleich im Buche Exodus, so meint Cohen, ist bei der »ersten Selbstoffenbarung Gottes« am Dornbusch, einem Paukenschlag gleich, die oben schon beschriebene denkerische Entdeckung der Gottheit als dem »Sein« gemacht worden. Das heißt, an diesem Offenbarungstext lässt sich jener Vernunftfortschritt nachweisen, welcher aus der Vielfalt des mit den Sinnen wahrnehmbaren »Daseins« zu dem Vernunftbegriff des allumfassenden einheitlichen »Seins« durchbricht. Wobei Cohen, wie gesagt, betont, dass hier nicht einfach von der »Einheit« Gottes sondern von dessen »Einzigkeit« zu reden sei. Die »Einheit« nämlich bezeichne nur eine Abgrenzung gegenüber der Vielheit von Göttern.2125 Mit dem Begriff »Einheit« sei des Weiteren eine notwendige Abgrenzung Gottes von der Vielzahl der Erscheinungsformen oder Kräften der Natur nicht gewährleistet.2126 Auch die in der mittelalterlichen philosophischen Attributenlehre erreichte Erkenntnis,2127 welche mit dem Begriff der »Einheit« Gottes die in der Tradition üblichen vielfältigen Attributierung Gottes, z.B. als gut, streng, Herr, Vater etc., zurückwies, reichte für den wahrhaften Begriff des Monotheismus nicht aus. Vielmehr muss der wahre Monotheismus die Gottheit der gesamten Welt gegenüber als einzigartig definieren, also als vollkommen verschieden von allem in der Welt, weshalb der Begriff »Einheit« nicht ausreicht, sondern dem der »Einzigkeit« weichen musste.2128 Diese Einzigartigkeit Gottes gegenüber seiner Welt wird in der hebräischen Bibel laut Cohen durch den Schöpfungsgedanken ausgedrückt,2129 wie auch in dem Gottesnamen ’El Schaddaj, in dem Cohen eine Art fortgeschrittene »Begriffsbildung« für den Gedanken der »Beziehung Gottes zur Welt als eine(r) ursprüngliche(n) und als eine(r) im Wesen Gottes begründete(n)« sieht.2130 Wo dieses Verhältnis Gottes zur Welt nur mit dem Begriff der »Einheit« bezeichnet wird, führt das in die Irre des Pantheismus, den Cohen durch sein ganzes Werk scharf bekämpft, vor allem in seiner unablässigen Auseinandersetzung mit Baruch Spinoza.2131 Pantheismus gilt dem monotheistischen Denken Cohens nicht als Religion.2132 Demgegenüber betone der Begriff der »Einzigkeit« eine strenge Identität zwischen Gott und dem einzigen und ausschließlichen Sein, womit zugleich eine angebliche »Einheit« zwischen Gott und Welt im Sinne des Pantheismus ausgeschlossen werde.2133 Gott also ist das ein2125 Religion der Vernunft, S. 41. 2126 Religion der Vernunft, S. 41, 43. 2127 Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 410ff., 438ff. 2128 Religion der Vernunft, S. 42. 2129 Religion der Vernunft, 45f. 2130 Religion der Vernunft, S. 46. 2131 Religion der Vernunft, S. 47. 2132 Religion der Vernunft, S. 47; dennoch hatte auch Cohen in seiner Frühphase dem Pantheismus zugeneigt. 2133 Religion der Vernunft, S. 48.
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zige Sein! Die Welt hingegen hat nur »Dasein«, also eine Existenzform, die mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, wohingegen das Sein alleine von der Vernunft erkannt wird.2134 Es ist an diesem Punkt der Entwicklung des Gedankens von der Einzigkeit Gottes, an welchem Cohen den radikalen Bruch mit dem mittelalterlichen Rationalismus vollzieht. Dieser habe stets das »Wesen« Gottes mit seiner »Existenz« identifiziert und das bedeutet eine Vermischung von sinnlicher Wahrnehmung und reinem Denken. Diese Identifikation war die Grundlage der mittelalterlichen Gottesbeweise, des kosmologischen wie des ontologischen.2135 In ihnen wurde die Epistemologie mit der Ontologie identifiziert, das heißt sie hatten dem von der Vernunft Erkannten auch »Existenz« oder Dasein zugeschrieben. Mit den Worten Cohens: »Die Einzigkeit bedeutet daher auch in dem Sinne den Unterschied von der Einfachheit, daß diese nur den Gegensatz bildet zur Zusammengesetztheit, die das allgemeine Merkmal der Materie ist. Aber diese Einfachheit genügt nicht für das Sein Gottes. Das einzige Sein Gottes besteht darin, daß es auf keine Mischung eingeht, keine Verbindung mit dem sinnlichen Dasein zuläßt. Der Ontologismus, der auf dieser Verbindung von Sein und Dasein beruht, enthält keinen Schutz gegen den Pantheismus, der vielmehr gerade auf dem Ontologismus in allen seinen Hauptvertretern sich stützt.«2136 Angesichts dieser strengen Trennung zwischen dem raum- und zeitlosen Sein Gottes2137 und dem Dasein der Welt, das den Schranken von Raum und Zeit unterliegt, erhebt sich natürlich die Frage, welchen Sinn eine solche Gottheit haben könne, die »keine Welt hat«.2138 Die unausweichliche Frage jeder Religion vom Verhältnis der Gottheit zur Welt wird nun nach der Ansicht Cohens durch die anscheinend bemerkenswerte Formulierung des göttlichen Seins in der Bibel beantwortet. Wenn die biblischen Autoren diesem Gott des Seins die Worte in den Mund legen »Ich bin, der ich bin«, so bedeutet dies für Cohen, dass dieses Sein nicht in Relation einer zu bewegenden Materie gedacht ist, sondern in Relation
2134 Religion der Vernunft, S. 51. 2135 Vgl. Jüdisches Denken, Bd. I, S. 376ff., 451, 449ff. 2136 Religion der Vernunft, S. 52. 2137 In der biblischen Terminologie für Gottes Erhabenheit über Raum und Zeit entdeckt Cohen unter anderen das Wort des Jesaja, dass die Herrlichkeit Gottes die Welt erfüllt (Jes 6, 3) und auch den rabbinischen Begriff von der Schechina, welche das in sich ruhende Sein Gottes beschreibe, ein Ruhen, welches die Voraussetzung für die Bewegung sei, Religion der Vernunft, S. 52f. 2138 Religion der Vernunft, S. 52.
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zu dem ethisch handelnden Menschen vorgestellt wird. Diese Art Denken, nach welchem die Beziehung Gottes zur Welt in erster Linie als Beziehung zum Menschen und nicht zur Natur gesehen wird, ist, so glaubt Cohen, der Grund, weshalb in der jüdischen Tradition die Naturwissenschaft keine Rolle gespielt habe, hingegen alles auf die Ethik konzentriert war.2139 »Die Natur aber ist und bleibt diesem Sein des göttlichen Ich gegenüber ein Nichts. Nur so konnte aus dieser Metaphysik des Monotheismus heraus der Einzige Gott der Ethik entstehen, aus der Kausalität der Natur die Teleologie der Sittlichkeit.«2140 Dieses Thema der Bedeutung Gottes für die Sittlichkeit muss indessen später noch behandelt werden. Dennoch, trotz dieser Privilegierung der Ethik vor der Naturwissenschaft, musste auch das biblische Denken, so Cohen, sich der Wirklichkeit der Natur stellen und ihr Verhältnis zum göttlichen Sein klären. Auch hier muss zunächst das Denken des Philosophen Cohen eine Antwort geben, bevor die Spuren dieser Philosophie dann auch im biblischen Text zu finden sind. Die Lösung dieses Problems gibt Cohen durch die Unterscheidung des Begriffes »Sein« vom Begriff des »Werdens«. Der Kosmos ist demnach nicht »Sein«, sondern ewiges »Werden«, steter Wechsel. Es ist nun aber gerade an diesem Wechsel des Irdischen, an welchem das menschliche Denken offenbar erst den Gedanken an ein unveränderliches »Sein« konzipieren konnte. »Der Wechsel und das Werden mußten voraufgehen, ehe die Einheit und das Sein erdacht werden konnten.«2141 Das bedeutet, dass der Begriff des Seins am Problem des Werdens entstanden ist, woraus folgt, dass denkerisch das Sein und das Werden in einer Relation stehen. Mit Bezugnahme auf Kant bedeutet das für Cohen schließlich, dass das Sein als die »Voraussetzung« des Werdens gedacht werden muss. Das Sein ist nicht die Ursache der Natur-Kausalität, sondern deren Voraussetzung, deren Ursprung.2142 Und damit hat die Einzigkeit Gottes eine weitere Bedeutung: »Wir verstehen die Einzigkeit jetzt erst recht, indem wir diese Immanenz der Beziehung auf das Werden jetzt in aller Schärfe erkennen als die Voraussetzung, mithin auch als die Immanenz der Ursächlichkeit. Das einzige Sein Gottes bedeutet uns jetzt die in ihm enthaltene Grundbedingung zur Kausalität dieses göttlichen Seins. Die Einzigkeit erkennen wir jetzt als die einzige Ursächlichkeit.«2143
2139 Religion der Vernunft, S. 54. 2140 Religion der Vernunft, S. 54. 2141 Religion der Vernunft, S. 69. 2142 Religion der Vernunft, S. 75. 2143 Religion der Vernunft, S. 70, 76.
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Angesichts dieser Formulierung muss nochmals betont werden, dass die Gottheit als das einzige Sein hier nicht als die »Ursache« des Daseienden und des Werdens verstanden wird, sondern als dessen Voraussetzung. Das Sein Gottes ist die Voraussetzung der »Ursächlichkeit« in der Natur. Der hier zusätzlich eingeführte Begriff des »Ursprungs« bedeutet für Cohen zugleich, dass in ihm nicht ein historischer Beginn einer einmaligen Schöpfung zu einem gewissen Zeitpunkt konzipiert wird, sondern dieser Begriff soll sagen, dass das Sein Gottes die Voraussetzung für das anhaltende Bestehen der Welt ist. Das sei nun auch der Grund, weshalb die jüdische Religion die Schöpfung nicht als einmaligen mythischen Akt verstehe, sondern als andauernde Voraussetzung des andauernden Werdens in dieser Welt. Den Beleg für diese Deutung der jüdischen Religion sieht Cohen, in der liturgischen Formel des täglichen synagogalen Gebets »der täglich das Schöpfungswerk erneuert«2144 sowie in der philosophisch mittelalterlichen Rede von der »Erneuerung der Welt« (Hiddusch ha-‘Olam) statt einer creatio, angezeigt.2145 Abschließend muss nochmals betont werden, dass all diese Formulierungen Cohens nicht im Sinne einer Ontologie, also im Sinne einer gar wahrnehmbaren göttlichen Wirklichkeit zu verstehen sind, sondern als logische Gedanken der Vernunft: »Ist Gott das einzige Sein, so ist er der Ursprung für das Werden, und in diesem Ursprung hat es seinen gedanklichen Urgrund gefunden.«2146 Mit diesen Erkenntnissen wird alleine der menschlichen Logik Genüge getan.2147 »Das Sein wird erdacht [Hervorhebung KEG] für das Problem des Werdens.«2148
4.
Der Mensch
4.1
Cohens Menschenbild und die Tradition
Die Frage nach dem Wesen des Menschen wurde im Laufe der langen jüdischen Religionsgeschichte immer wieder neu gestellt und oft in der Deutung der biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes fokussiert.2149 In der nachbiblischen Zeit haben sich dafür vor allem zwei Grundformen der Deutung durchgesetzt. Die eine ist die rabbinische Deutung, nach welcher der Mensch das ethi2144 Im täglichen Jozer-Gebet, z. B. Siddur Safa Berura, Basel 1956–1964, S. 33; und H. Cohen, Einheit oder Einzigkeit Gottes, Jüdische Schriften, I, S. 93. 2145 Religion der Vernunft, S. 78. 2146 Religion der Vernunft, S. 76. 2147 Religion der Vernunft, S. 76. 2148 Religion der Vernunft, S. 69. 2149 Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, 129ff., 209ff., 280ff., 462ff., 561ff.; und Bd. 2, S. 281ff., 437ff., 579ff.
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sche, Cohen würde sagen das sittliche, Ebenbild Gottes ist, und die andere ist die mittelalterlich philosophische, nach welcher der Mensch als rationales, durch die Vernunft begründetes, Ebenbild der Gottheit betrachtet wird. Hermann Cohen, der Kantianer, scheint auf den ersten Blick ganz eindeutig der rabbinischen Deutung zuzustimmen, nach welcher der Mensch das sittliche Ebenbild der Gottheit ist. Dieses naheliegende Verständnis der Position Cohens ist allerdings vordergründig und wird zunächst von der Forderung Cohens nach menschlicher sittlicher Autonomie in Frage gestellt, wo doch nach rabbinischem Verstand gerade die ethisch-rechtliche Heteronomie dem menschlichen Handeln sein Gütesiegel verschafft.2150 Es wird sich der genannten vordergründigen Deutung der Auffassung Cohens gegenüber jedoch zeigen, dass er einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen wählt, der logisch, wie schon oben angezeigt, durch die Formel von der »Korrelation« zwischen Mensch und Gott getragen wird. Es gibt noch eine weitere Besonderheit des Cohenschen Menschenbildes zu beachten und dies ist dessen komplementäre Zusammensetzung aus zwei Elementen, von denen das eine der philosophischen Wissenschaft vom Menschen, das heißt der Ethik, entstammt, und das zweite aus dem, was Cohen als »Religion« definiert. Zentral für die gesamte Anthropologie Cohens ist allerdings der Gedanke, dass er von der transzendenten Psychologie der jüdischen Tradition Abschied nimmt. Es gibt keine vom Leib zu unterscheidende Seele. Die Seele des Menschen ist der Begriff vom Menschen, die Idee vom Menschen.2151
4.2
Der von der Ethik kommende Anteil am Menschenbild
Der aus der philosophischen Ethik herrührende Anteil des Cohenschen Menschenbildes ist jener, welcher die beiden oben genannten Deutungen der Tradition, der sittlichen und der rationalen, vereint. Die reine sittliche Konzeption der Anthropologie Cohens lässt sich am leichtesten in seiner Ethik des reinen Willens erkennen. Etwa wenn es dort heißt: »Der Mensch wird zum Menschen durch die Handlung, sofern er derselben fähig wird.«2152 Diese Handlung des Menschen, welche ihn zum Menschen macht, ist nun aber die autonome Handlung, 2150 Dies ist kein Widerspruch zu der Auffassung Cohens, die in der »Heteronomie« eine legitime religiöse Formel anerkennt. Denn nach seiner Auffassung legt die echte religiöse Zuschreibung der »Gesetze« an Gott nicht deren Wortlaut fest. Solche Gesetze gelten als göttlich, weil sie der Vernunft entstammen und sie ist frei, das von ihr Erkannte zu formulieren. Erst die »Theologen« verkrümmen diese Offenbarung, indem sie ihr einen festen Wortlaut zuschreiben, Ethik, S. 316–319. 2151 Begriff der Religion, S. 34. 2152 Ethik, S. 160.
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nicht die durch ein fixiertes göttliches Gesetz vorgeschriebene – hier tut sich die tiefste Kluft zum rabbinischen Verständnis auf, welches ja gerade in der gehorsamen Erfüllung der offenbarten Gebote die Menschwerdung des Menschen sieht. Für Cohen dagegen muss diese den Menschen konstituierende Handlung auf die eigene Gesetzgebung – im kantischen Sinne – zurückgehen. Wo rabbinisch gesprochen die gehorsame Erfüllung der Gottesgebote die dem Menschen gestellte Aufgabe ist, die ihn der Erfüllung seines Menschseins näherbringt, da muss laut Cohen die Selbstgesetzgebung des Menschen vorangehen: »Das Selbst ist keineswegs und in keiner noch so idealen Gestalt vorher vorhanden, bevor es sich darlegt, und es hat sich keineswegs nur darzulegen; sondern es hat sich erst zu erzeugen. Und es kann sich nur erzeugen in der Gesetzgebung. In dieser und kraft dieser entspringt die Handlung. Sie bildet den Fortschritt, den wir jetzt entwickeln. Die Handlung ist nicht mehr lediglich die Entfaltung des Selbst; sondern sie ist bedingt durch die Gesetzgebung, welche die Gesetzgebung des Selbst ist, so dass auch das Selbst bedingt ist durch die Gesetzgebung. Also die Selbstgesetzgebung ist nicht etwa die Gesetzgebung aus dem Selbst, sondern zum Selbst. Auf die Gesetzgebung kommt es an; in ihr erst bezeugt sich das Selbst; in ihr erzeugt es sich. Der Gedanke der Autonomie geht also nicht dahin, dass das Gesetz vom Selbst ausgehen müsse. […] Die Gesetzgebung allein erzeugt das Selbst der sittlichen Handlung, des geschichtlichen Daseins.«2153 Es ist diese Forderung nach der menschlichen Selbstgesetzgebung, welche zugleich den Mittelweg zwischen der rein sittlichen und der intellektuellenrationalistischen Definition des Menschseins im Denken Cohens eröffnet. Es geht ihm beim wahren Menschen eben nicht nur darum, dass er die Gebote der Sittlichkeit, seien sie göttlich oder gesellschaftlich, befolgt, sondern um die unabdingbare Voraussetzung jeden Handelns, nämlich dass der Mensch im Sinne des kantischen kategorischen Imperativs, sich diese Gesetze selbst gibt. Darum formuliert es Cohen in der Religion der Vernunft einmal so, dass nicht eigentlich das Handeln das Wesen des Menschen ausmacht, sondern die Erkenntnis dessen, was sein Handeln bestimmen sollte: »Das Wesen des Menschen wird bedingt durch die Erkenntnis der Sittlichkeit. Die Vernunft ist nicht nur die theoretische,2154 sondern auch die praktische, die ethische. Die Schöpfung des Menschen muß die Schöpfung seiner Vernunft bleiben.«2155 Hier wird also in gut maimoni2153 Ethik, S. 321f., vgl. S. 325, 329. 2154 Also die wissenschaftliche, den Kausalitäten des Naturgeschehens nachspürende. 2155 Religion der Vernunft, S. 101.
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dischem Sinne die Vernunft zum Wesen des Menschen erklärt, seine »Abbildhaftigkeit«, in der er geschaffen wurde, ist die Vernunft. In diesem Sinne liest man sodann in der Religion der Vernunft, dass der »Geist« das Fundament der Korrelation zwischen Gott und Mensch ist,2156 oder dass Gott und Mensch, beide, gleichermaßen »Geist« seien.2157 Aber hier zeigt sich zugleich die Abweichung von Maimonides, der die Ethik auf die göttliche Offenbarung angewiesen lassen sein will, wiewohl auch er von Geboten der Vernunft sprechen kann, und keine Differenz zwischen Offenbarung und Vernunft anerkennt. Das menschliche Leben kann nach Maimonides ohne die göttliche Offenbarung der Gebote nicht gelingen. Anders dagegen Cohen. Für ihn ist das Gebot ausschließlich eine Frucht der Vernunft, und von Offenbarung will er nur sprechen, sofern damit die universale Vernunfterkenntnis jedes Menschen, allerorten und jederzeit gemeint ist.2158 Ein weiterer wichtiger Parameter für die »ethische« Definition des Menschseins ist nach Cohen die menschliche Gesellschaft als unabdingbares Korrelat und Ziel des menschlichen Handelns. In diesem Sinne kann Cohen den Menschen geradezu als »soziale Idee« bezeichnen.2159 Dies gilt auch für den Menschen als Individuum, das für Cohen zunächst immer nur von der Gesamtheit der Menschheit her zu verstehen ist: »Das Ich des Menschen wird in ihr [in der Ethik] zum ich der Menschheit. […] Die Ethik kann den Menschen schlechterdings nur als Menschheit erkennen und anerkennen. Auch als Individuum kann er nur Träger der Menschheit sein. Und als dieser Träger der Menschheit verliert er nicht den Charakter des Individuums, wenn er sonach zum Symbol der Menschheit wird. Die Menschheit erst verleiht ihm in diesem Symbol die wahrhafte Individualität.«2160 Dazu wurde schon oben im Abschnitt zur Anteil der Religion an der Ethik Weiteres gesagt. Neben diese Definition des Menschen vom allgemeinen Begriff der Menschheit her, hat Cohen in der Ethik den Versuch unternommen, den Menschen nicht nur von seiten der »Allheit« der Menschen zu definieren, sondern auch aus der Konfrontation mit seinem einzelnen menschlichen Gegenüber. Er meint da, es sei der »Nebenmensch« oder vielmehr der »Andere«, der für den ethischen Beg-
2156 Religion der Vernunft, S. 101f. 2157 Religion der Vernunft, S. 104. 2158 S. Religion der Vernunft, Kap. IV, S. 82ff. 2159 Begriff der Religion, S. 82, § 100. 2160 Religion der Vernunft, S. 15f.
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riff vom Menschen unabdingbar ist. Cohen besteht darauf – und dies ist grundlegend für sein gesamtes Denken – dass der »Andere« für den Menschen nicht nur ein Gegenstand der Erfahrung sei, sondern aus der Logik der ethischen Wissenschaft entwickelt werden kann. Im »Anderen« nur ein Ding der Erfahrung zu sehen, beruht nach Cohen auf dem Irrtum, dass man diesen »Nebenmenschen« nur als einen der vielen Nebenmenschen zu betrachten gewohnt sei. Demgegenüber glaubt Cohen, dass der »Andere« ein logisches Desiderat für die Bestimmung des »Ich« des Menschen sei. Das heißt, in der Ethik, der philosophischen Wissenschaft vom Menschen schlechthin, kann der Mensch, der Einzelne, das »Ich« nicht ohne den »Anderen gedacht werden: »Gehen wir dagegen von dem richtig verstandenen Begriffe des Nicht-Ich aus, so tritt an die Stelle des Nebenmenschen der genauere Begriff des Andern. Der Andere ist nicht ein Anderer; er steht in der genauen Correlation, vielmehr Continuitätsbeziehung zum Ich. Der Andere, der alter Ego ist Ursprung des Ich.«2161 Das heißt die Logik gebietet, den »Anderen« vorauszusetzen, um das »Ich« setzen zu können. Damit ist der sittliche Mensch per definitionem ein auf den »Anderen« bezogenes Wesen, eine soziale Idee. Somit kann man sagen, das menschliche Selbstbewußtsein »ist in erster Linie bedingt durch das Bewußtsein des Andern«.2162 Dieser schon in der Ethik entwickelte Gedanke erfährt ebenda noch eine weitere Ergänzung, die dann in der Religion der Vernunft breit ausgeführt wird und in dem man mit Recht die Grundlegung für Martin Bubers und Emmanuel Levinas’ dialogische Philosophie erkannt hat.2163 Dadurch nämlich, dass das Ich mit einem solchen »Anderen« in ein vertragliches Verhältnis tritt, so Cohen, verwandelt der menschliche »Anspruch« an den Anderen zur »Ansprache« »Und daher verwandelt sich der Andere zum Ich in Du. Du ist nicht Er. Er wäre der Andere. Er kommt in Gefahr, auch als Es behandelt zu werden. Du und Ich gehören schlechterdings zusammen. Ich kann nicht Du sagen, ohne dich auf mich zu beziehen; ohne dich in dieser Beziehung mit dem ich zu vereinigen.«2164
2161 Ethik, S. 201. 2162 Ethik, S. 202. 2163 S. z. B.H. Wiedebach, Artikel: Hermann Jecheskel Cohen, in: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, hrsg. von A.B. Kilcher et al., S. 265. 2164 Ethik, S. 235.
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Das bedeutet, dass man »Ich« nicht denken kann, ohne das »Du« zu denken. Der Mensch kann demnach, ethisch gesprochen, nicht definiert werden, ohne diesen Dualismus von Ich und Du.2165
4.3
Der von der Religion kommende Anteil am Menschenbild
Im Einleitungskapitel zur Religion der Vernunft ersetzt Cohen den in der Ethik herangezogenen »Vertrag« als dem Weg vom »Anderen« zum »Du« durch das »menschliche Leiden«. Und im Zusammenhang damit bestreitet er zugleich der Ethik, das »Du« überhaupt zur Entdeckung bringen zu können. Darum sieht er jetzt gerade hier die Notwendigkeit, die Ethik durch die Religion zu ergänzen:2166 »Erstlich bildet auch für das Ich das Leiden ein keineswegs indifferentes Moment. Das Selbstbewußtsein darf vielleicht auch seiner sittlichen Forderung wegen nicht Gleichgültigkeit beobachten gegenüber dem physischen Leiden. Zweitens aber darf dem Anderen gegenüber diese Beobachtung nicht gleichgültig bleiben. Und es entsteht die Frage, ob nicht gerade durch die Beachtung des Leidens bei dem Anderen dieser Andere aus dem Er in das Du sich verwandelt. Bei bejahender Lösung dieser Frage tritt die Eigenart der Religion in Kraft, unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zur ethischen Methode.«2167 Cohen schreibt also die Entdeckung des Du der Religion zu und dies, weil die Ethik der Frage des menschlichen Leidens gegenüber keine Antwort habe. Ebenso hat die Ethik, so Cohen, keine Antwort auf die Entdeckung der menschlichen Unfähigkeit dem sittlichen Anspruch gegenüber und somit auf die menschliche Sünde. Und hier ist demnach, wie oben schon ausgeführt, der Ort der Religion. In diesem Sinne schreibt Cohen schon in der Ethik dem biblischen Propheten Ezechiel die Entdeckung des Individuums zu: »Die Seele, die Person, sie ist das Individuum. Und in der Sünde ist das Individuum zur Entdeckung gekommen.«2168 Der Mensch erscheint hiermit nicht nur als der mit freiem Willen ausgestattete, der sittlichen Forderung gewachsene Mensch, der Mensch der Ethik, sondern als der schwache, leidende und sündige Mensch, welcher der Erlösung bedarf, um erneut zur sittlichen Tat frei zu werden. Und eine solche Erlösung von der Sündenlast kann nicht die Ethik, sondern nur die Religion anbieten. Der
2165 Ethik, S. 235. Us. S. 244; und s. Religion der Vernunft, S. 208. 2166 Religion der Vernunft, S. 17f. 2167 Religion der Vernunft, S. 19. 2168 Ethik, S. 283; vgl. Begriff der Religion, S. 56.
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Mensch ist demnach, oder muss es sein, ein homo religiosus.2169 Damit ist ein neuer »Begriff des Menschen« entstanden »als eine homogene Ergänzung des Menschenbegriffes der Ethik.«2170 Die Wahrnehmung des schwachen, des sündhaften und leidenden Menschen musste logisch bearbeitet werden und hat zu einem neuen Gottesbegriff geführt, der das Problem des neu gesehenen Menschen zur Lösung bringt. »Der neue Sinn Gottes entspricht dem neuen Begriffe des sündigen Menschen.«2171 Gottesbegriff und Menschbegriff müssen sich nach der Regel der Korrelation – biblisch gesprochen nach der Regel der Gottebenbildlichkeit des Menschen – stets entsprechen. Und wo die Sünde als ein unvermeidbares Element des menschlichen Daseins erkannt ist, muss auch der Gottesbegriff entsprechend konzipiert werden: »Die Sünde ist ein Ferment der Sittlichkeit, und das Sündenstadium des Individuums daher ein unentsetzbares Glied in der Begriffskette des sittlichen Menschen. Und ebenso ist der Gott der Vergebung, der Erlösung und der Versöhnung nicht etwa ein Mythos, sondern, wie er eine notwendige Ergänzung zum Gotte der Ethik bildet, so ermöglicht er auch jene befreiende Arbeit des Individuums, die ohne das Ziel der Gnade den Sinn ihres Weges verlöre.«2172 Cohen spürt bei solchen Formulierung seine eigene Nähe zum Christentum und beeilt sich, eine Differenz herauszustellen. Sie liegt darin, dass im Judentum der Gott der Gnade nur die Bedeutung habe »das Ziel, den Erfolg, den Sieg der sittlichen Selbstarbeit des Menschen zu verbürgen«, während das Christentum die Gottheit an der sittlichen Arbeit im Menschen teilnehmen lasse.2173 Mit anderen Worten, das Christentum sei eben eine »Erlösungsreligion« mit mythologischen Vermenschlichungen der Gottheit, während das Judentum strenge ethische Religion bleibe, in welcher der Mensch seine Sittlichkeit wie seine Erlösung selbst zu erarbeiten habe, und die Gottheit nur als Begriff, als Ideal dem menschlichen Streben als Motivation und verbürgender Zuspruch zu dienen habe.
4.4
Vom Messias zur Messiasidee – zum Messianismus
Immanuel Kant, so schreibt Hermann Cohen, hat jeglicher Ethik vor der eigenen – mit der Ausnahme Platos – den Charakter der Wissenschaft und Philosophie 2169 Begriff der Religion, S. 55. 2170 Begriff der Religion, S. 58, § 50. 2171 Begriff der Religion, S. 64, § 63. 2172 Begriff der Religion, S. 65, § 66. 2173 Begriff der Religion, S. 66, § 68.
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abgesprochen. Und dies, weil in seiner Ethik der Begriff des Menschen, wie Sokrates ihn entdeckt hatte, dem neuen anbrechenden Weltalter gemäß wiederentdeckt worden sei und zwar »in der Idee der Menschheit. Und es war nicht die kosmopolitische Menschheit allein, in welcher der Begriff des Menschen, dem Zeitalter der Humanität gemäß, wiedergeboren wurde; sondern es war die soziale Menschheit, die den Begriff des Menschen für jegliches Volk selbst und damit erst für die Menschheit zur politischen Wahrhaftigkeit, und dadurch erst zur ethischen Bestimmtheit brachte.«2174 Es ist dieser ethische Begriff vom Menschsein, der sein Ideal in der gesamten Menschheit hat, welcher für Cohen die Brücke zum jüdischen, dem prophetischen Monotheismus schlagen lässt. Hier im prophetischen Monotheismus wird ein vom Monotheismus bestimmter Begriff vom Menschen erdacht, welcher eben in der einen Menschheit gipfelt. Und diese Idee von der einen Menschheit ist für Cohen die messianische Idee: »Es sind aber von vorneherein die Propheten, welche den einzigen Gott entdecken. Und sie entdecken ihn an ihrer messianischen Idee von der einstigen Einigung der Menschenwelt, der Einheit der Menschheit. Die Einheit Gottes bedeutet von Anfang an nichts Anderes als die Einheit der Menschheit.«2175 Was bei Abraham Geiger zunächst nur als Bekenntnis zum deutschen Vaterland erscheinen mochte, nämlich dem historisch-politischen und geographisch orientierten Messiasglauben den Abschied zu geben und stattdessen den »ahnungsvollen Blick in die Zukunft auf das Messiasreich zu heften als auf die Zeit der allgemeinen Herrschaft der Gottesidee, der unter allen Menschen sich befestigenden Frömmigkeit und Gerechtigkeit, nicht aber als auf die Zeit der Erhebung des Volkes Israel«,2176 das ist bei Hermann Cohen zu einem systematischen Topos seiner Religionsphilosophie geworden. Das konsequente Prinzip des Monotheismus, musste als dessen Gegenüber den Begriff der einen Menschheit erzeugen, »Der eine Gott fordert die eine Menschheit.«2177 Und diese Idee der einen Menschheit ist die messianische Idee. Und sie wiederum ist eine eminent ethische Idee. Wie nun dem philosophischen Ethiker das »Sein« des Sittlichen dadurch verbürgt ist, dass es einen unablässigen ewigen Prozess der sittlichen Arbeit gibt, der von der Gottesidee getragen wird, so haben die Propheten das mes-
2174 Ethik, S. 140. 2175 Ethik, S. 203; vgl. den programmatischen Aufsatz von H. Cohen, Monotheismus und Messianismus, in: Neue Jüdische Monatshefte 1, 4 (1916), S. 106–111 (s. Internet: compactmemory.de). 2176 Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahre mit Einschluss der Sabbathe und sämmtlicher Feier- und Festtage. Von A. Geiger, Breslau 1854, S. VI. 2177 Ethik, S. 383.
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sianische Konzept der einen Menschheit entworfen. Diese Idee des Messianismus, das zeichnet Cohen in der Religion der Vernunft in einem für sein »kulturgeschichtliches« Denken exemplarischen Kapitel nach, das man ohne Zweifel als Historiosophie charakterisieren kann. Es trägt den Titel: »Die Idee des Messias und die Menschheit«.2178 In diesem Kapitel beschreibt Cohen anhand der biblischen und nachbiblisch-rabbinischen Quellen, wie sich seiner Ansicht nach die Idee des Messianischen nach und nach entwickelt hatte. Da gab es zunächst die nationalistischen, kriegerischen und von einem persönlichen Messias bestimmten Vorstellungen, die alsbald das Partikulare zugunsten einer universalgeschichtlichen Sicht überwanden, wie nach und nach aus dem Herrschermessias der »Knecht Gottes wurde«, den die späteren rabbinischen Deuter zu recht auf das ganze Volk Israel, das leidende und demütige Volk, bezogen, mit dem Resultat, dass schließlich der leidende Mensch, der stellvertretend leidende Mensch, die Idee des Messianischen verkörperte. Aus dieser Entwicklung der Idee des Messianismus zieht Cohen sodann den grundsätzlichen Schluss, nämlich dass das Volk Israel als leidendes die messianische Aufgabe in dieser Welt wahrnimmt, »Das messianische Volk leidet als Stellvertreter des Menschenleids.«2179 Und er sieht darin, ganz ähnlich wie Samson Raphael Hirsch, die Mission Israels in der Weltgeschichte. Allerdings wird für Cohen, wie auch schon für Salomon Formstecher,2180 das historische Israel schließlich durch das Ideal Israel in den Hintergrund gedrängt. Dann gilt: »Nur symbolische Bedeutung hat die Erwählung Israels, wenn man von der historischen Grundbedeutung absieht, daß durch sie das nationale Bewußtsein für den religiösen Beruf ersetzt werden sollte. Die höhere Symbolik liegt von vornherein in der Vorbedeutung für den messianischen Beruf Israels, für seine Aufhebung in die Menschheit.«2181 Aber auch der einzelne Mensch nimmt diese messianische Aufgabe wahr. Der einzelne Leidende, der »Demütige trägt die ganze Menschheit an seinem Busen. Daher kann er zum Stellvertreter des Leidens werden, weil er gar nicht anders als im Leiden sein sittliches Dasein vollbringen kann.«2182 Er ist der Idealmensch »Der Idealmensch leidet.«2183 »Und so wird nun auch der Mensch, der Messias, denkbar als Stellvertreter, nicht etwa der Schuld des Menschen und der Völker, aber des Leidens, das
2178 Religion der Vernunft, Kap. XIII, S. 276–313. 2179 Religion der Vernunft, S. 312. 2180 S. oben, Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV, 7. 2181 Religion der Vernunft, S. 303. 2182 Religion der Vernunft, S. 310. 2183 Religion der Vernunft, S. 310.
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sonst ihre Strafe sein müßte. Der Messias wird dadurch erst das Idealbild des Menschen der Zukunft, der Menschheit, als der Einheit der Völker. Daß er das Erdenleid auf seine Schultern nimmt. […] Er ist [… der] Atlas, der die sittliche Welt der Zukunft trägt..«2184 Bei so viel Nähe zur kirchlichen Christologie bedurfte es natürlich auch hier der Abgrenzung gegenüber dem leidenden Christus der Kirche. Der Irrtum der kirchlichen Christologie liegt nach Cohen darin, »daß sie den Stellvertreter des Leidens zum Stellvertreter der Schuld gemacht hat.« Denn der Mensch kann von seinem Schuldbewusstsein nicht entlastet werden. Dadurch würde die Ethik als Norm der Religion beseitigt, dadurch würde auch der Begriff der Geschichte verfehlt, die ja nichts anderes als das Voranschreiten des sittlichen Handelns des Menschen ist. Der Messianismus hat, so Cohen, darum einen hohen politischen und geschichtsphilosophischen Wert, weil in ihm die Geschichte der Völker als Geschichte der Menschheit konzipiert ist. Dieser prophetische Messianismus steht in klarem Gegensatz zu dem, was man gemeinhin als Weltpolitik betrachtet. In ihm liegt eine »sittliche Urkraft«, die sogar die wissenschaftliche Ethik in ihr System aufzunehmen gut täte.2185 »Die Messiasidee ist«, wie Cohen einmal in einem eigens zum Thema Messianismus verfassten Aufsatz sagte, »die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit.«2186
4.5
Die Unsterblichkeit der Seele
Das Kapitel über »Unsterblichkeit und Auferstehung« in Cohens Religion der Vernunft ist ein Musterbeispiel zur Erkenntnis seines gesamten Denkansatzes in der Behandlung von Religion. Hier wird auf Schritt und Tritt deutlich, als was er diese zentralen dogmatischen Topoi verstanden wissen will. Für die jüdische Tradition gehören seit der hellenistisch-rabbinischen Zeit die Auferstehung der Toten und die Unsterblichkeit der Seele, zuweilen als getrennte, meist aber als miteinander kombinierte Glaubenslehren, zum Grundbestand des Judentums.2187 Es ist daher nur selbstverständlich, dass Cohen sich dieser schwierigen Frage annimmt, und der Leser dieses Kapitels wird gewahr, dass auch Cohen sich nicht leicht mit dieser Frage tut und oft der Eindruck entsteht, als formuliere er die alten Glaubenssätze einfach nach. Doch dann tauchen wiederholt Wegemarken auf, die den Leser wieder auf den Boden von Cohens eigentlichem Anliegen zu2184 Religion der Vernunft, S. 308. 2185 Ethik, S. 384f. 2186 Die Messiasidee, Jüdische Schriften, S. 116. 2187 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 202ff., 263ff., 471ff.
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rückrufen. Und dieses Anliegen ist, die jüdische Redeweise von den genannten beiden Themen als eine im Grunde vernunftgemäße Strategie zur Bewältigung von zentralen menschlichen Fragen zu rechtfertigen. Sie als eine Strategie des Denkens und des Findens von Begriffen darzustellen, welche dem zentralen Anliegen der menschlichen Aufgabe in dieser Welt dienen, nämlich der Entwicklung der Sittlichkeit als allgemeinmenschlicher universaler Aufgabe. Die genannten Wegmarken zeigen sich an Formulierungen Cohens wie »Bedeutung« der Unsterblichkeit,2188 oder erwartungsgemäß »Begriff der Unsterblichkeit«,2189 »Gedanken der Unsterblichkeit«,2190 deren »Sinn« und »Aufgabe«.2191 Einmal wird das ewige Leben als »Hilfsbegriff« apostrophiert2192 und mehrfach als »Vehikel«.2193 Die Auferstehung der Toten wird einmal als »Zwischenlösung« akzeptiert,2194 welche Vermittlungsdienste leisten konnte.2195 Unsere Frage kann demnach nicht lauten, wie Hermann Cohen den Glauben an die Auferstehung der Toten oder an die Unsterblichkeit der Seele verstand, sondern: Welche denkerische Funktion hatten nach Cohens Meinung die beiden Begriffe Unsterblichkeit und Auferstehung für die voranschreitende Erkenntnis der jüdischen Weisen bezüglich des menschlichen Daseins, dessen Ende oder dessen Fortdauer. Um es vorweg zu nehmen: sie dienten nach seiner Auffassung dazu, die sittliche Aufgabe des Menschen verstehen zu lehren und in ihren universalen Bezügen erkennbar zu machen. Cohen setzt dazu scheinbar ganz traditionell ein: »Der Monotheismus […] setzt dem Menschen einen anderen Ursprung: Gott hat den Menschen erschaffen. Und er hat ihn nicht nur als Seele erschaffen, sondern auch als Geist. Er hat seinen Geist in den Menschen gelegt. Und er hat seinen Geist der Heiligkeit in den Menschen gelegt, und diesem daher den Geist der Heiligkeit zuerteilt.«2196 Dieser »Geist der Heiligkeit«, also der »Heilige Geist«, ist für Cohen allerdings nicht der »prophetische Geist« der rabbinischen oder auch mittelalterlich philosophischen Tradition, sondern er ist etwas, das Gott und Mensch verbindet, näm-
2188 Religion der Vernunft, S. 358. 2189 Religion der Vernunft, S. 358. 2190 Religion der Vernunft, S. 382. 2191 Religion der Vernunft, S. 364. 2192 Religion der Vernunft, S. 382; vgl. S. 383: »Auch hier mußte die Unsterblichkeit aushelfen.« 2193 Religion der Vernunft, S. 382, 390. 2194 Religion der Vernunft, S. 359. 2195 Religion der Vernunft, S. 367. 2196 Religion der Vernunft, S. 354.
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lich in der Korrelation. Die Heiligkeit ist das »Vollzugsmittel« dieser Korrelation zwischen Mensch und Gott.2197 Und dies ist nichts anderes als die Sittlichkeit.2198 Die Sittlichkeit des Menschen ist nun aber nicht ein einmal erreichbares Ziel, sondern »Die Heiligkeit des Menschen besteht in der Selbstheiligung, die aber keinen Abschluss haben, mithin keinen dauernden Ruhezustand bedeuten kann, sondern nur ein unendliches Streben und Werden.«2199 »Der Geist […] ist bestimmt als Geist der Heiligkeit, der unendlichen Sittlichkeit.«2200 Nachdem nun der von Gott bei der Schöpfung dem Menschen, laut der monotheistischen Schöpfungslehre, eingegebene Geist als der Geist der unendlichen sittlichen Aufgabe bestimmt ist, kann die Frage nach der Bedeutung der Rede von der Unsterblichkeit gestellt werden. Eine erste Antwort gibt Cohen sogleich nach dem zuletzt angeführten Passus und sie lautet: »Die Unsterblichkeit ist nicht sowohl die der Seele schlechthin als vielmehr die des Geistes und noch bestimmter, die des heiligen Geistes. Die unendliche Aufgabe der Heiligung kann kein Ende haben für den Menschengeist.«2201 Die Rede von der Unsterblichkeit will demnach sagen, dass die sittliche Aufgabe des Menschen, seine Selbstläuterung, eine unendliche Aufgabe ist und damit – in traditioneller Rede – mit dem Tod kein Ende haben kann.2202 Cohen sieht diese Aussage vor seiner umfassenderen Lehre vom Messianismus als Aussage der Entwicklung auf die eine Menschheit hin. Und es ist für Cohen eben der Messianismus, der diese unendliche Entwicklung der Menschenseele verkündet und verbürgt.2203 Es ist diese Verbindung von messianischer Idee mit dem sittlichen Ideal der Selbstentwicklung des Individuums, die schließlich zur modalen Deutung des Unsterblichkeitsgedankens führt. Laut ihr wird mit der Lehre von der Auferstehung keinesfalls über ein »danach«, über eine Zeit nach dem Ableben des Körpers spekuliert, sondern ein höchst präsentisches Movens befeuert, sie ist Symbol für die nimmer endende sittliche Aufgabe: »Auch die Unsterblichkeit kann für das Individuum nur diese messianische Bedeutung haben. Die Menschenseele ist die des messianischen Individuums.
2197 Religion der Vernunft, S. 121. 2198 Religion der Vernunft, S. 123. 2199 Religion der Vernunft, S. 129. 2200 Religion der Vernunft, S. 354. 2201 Religion der Vernunft, S. 354. 2202 Vgl. Religion der Vernunft, S. 355. 2203 Religion der Vernunft, S. 357.
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Die Unsterblichkeit kann demgemäß auch nur im messianischen Begriffe der menschlichen Individualseele zu denken sein. In der unendlichen Entwicklung des Menschengeschlechts zu seinem idealen Geiste der Heiligkeit kann daher auch die Individualseele ihre Unsterblichkeit vollziehen. Sie ist immer nur Aufschwung, immer nur Inbegriff von Aufschwüngen, die in der unendlichen Entwicklung sich zusammenfassen.«2204 Von der Seele, die hier zur Debatte steht sagt Cohen einmal, dass sie eine »Versittlichung des Seelenbegriffs« darstelle.2205 Das heißt, die Seele wird von ihrer sittlichen Aufgabe her begriffen und folglich ebenso die Rede von der Unsterblichkeit. Die »Unsterblichkeit«, das Symbol der unendlichen sittlichen Aufgabe, ist mithin etwas, was in der Gegenwart dieses Lebens schon gegeben ist. Hier in dieser irdischen Gegenwart soll der Mensch Gott erkennen, und das heißt eben nicht sein göttliches »Wesen« erkennen, sondern ihn als das Urbild der vom Menschen erwarteten sittlichen Handlungen. Und wenn dem so ist, fragt Cohen, »Was kann für die Erkenntnis dieses Urbildes […] die Unsterblichkeit Neues bringen, Neues leisten? Nur die sittliche Entwicklung kann neue Erkenntnisse bringen, und in ihnen neue Genüsse, wenn man so will, für das Individuum.«2206 Die hier genannten »neuen Genüsse«, welche die sittliche Entwicklung verschafft, sind die Neudeutung der Genüsse des Paradieses, in welchem die Seelen die Herrlichkeit Gottes genießen. An einer anderen Stelle deutet Cohen die Annäherung des Menschen an Gott, sei es in dieser Welt, oder aber in der »Kommenden Welt«, als den Sinn der Rede von der Unsterblichkeit: »Die Nähe Gottes ist nicht an sich mein Gut, sondern sie kann dies nur als meine Aufgabe, mein Ideal sein für meine eigene Tätigkeit der Selbstannäherung. Diese aber ist identisch mit meiner Aufgabe der Selbstvervollkommnung […]. Diese Selbstannäherung und Selbstvervollkommnung ist aber wiederum nichts anderes als die Selbstentwicklung. Und so bleibt diese der einzige Sinn und die einzige Aufgabe der Unsterblichkeit. Diese ihre einzige Aufgabe kann ihr nur durch den messianischen Seelenbegriff erfüllbar werden. Dieser muß daher der Leitbegriff bleiben für die Unsterblichkeit […]«2207 Bei einer solchen Position kann natürlich die Lehre von der Auferstehung der Toten allenfalls noch als eine der vermittelnden Vorstufen der intellektuellen 2204 Religion der Vernunft, S. 358. 2205 Religion der Vernunft, S. 363. 2206 Religion der Vernunft, S. 363. 2207 Religion der Vernunft, S. 364.
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Entwicklung des monotheistischen Denkens betrachtet werden,2208 wobei sich Cohen nicht ganz zu Unrecht auf Maimonides berufen kann, der ja selbst schon für die Auferstehung keine rationalen Gründe anführen konnte und sie deshalb als ein unerklärliches Wunder darstellen musste, das allerdings wiederum nur eine Vorstufe für die wirkliche und ewige körperlose Glückseligkeit des Menschen, beziehungsweise dessen »erworbenen Intellekts« ist.2209
5.
Offenbarung und Gesetz
5.1
Die Bedeutung von Offenbarung und Gesetz
Bei einem kantianischen Denker für den das sittliche Handeln gemäß einer Pflicht das Zentrum des religiösen Denkens ausmacht, sollte man glauben, dass für ihn die Frage nach der Rolle des jüdischen Gesetzes leicht zu beantworten sei. Dies ist aber keineswegs der Fall. Denn dieses Handeln nach einer Pflicht hat das gleichfalls kantische Prinzip der rechtlich-sittlichen Autonomie des Menschen zu seiner Zwillingsschwester und dies steht im diametralen Gegensatz zur jüdischen Gesetzes-Heteronomie. Andrerseits kann Cohen bei der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung auf eine stattliche Reihe jüdischer Präzedenzen zurückgreifen. Da ist schon der Satz des fünften Buches Mose (30,11–14) der betont, dass die Tora nicht im Himmel ist, sondern in Mund und Herzen der Israeliten, sodann die rabbinische Lehre von der mündlichen Tora, welche für die rabbinischen Kommentare gleichfalls sinaitischen Ursprung beanspruchte,2210 und schließlich die Auffassung der mittelalterlichen Philosophen von der Übereinstimmung von Vernunft und Offenbarung.2211 Es ist die letztere Tradition, die Cohen zu ihrer letzten Konsequenz führt. Danach will der Begriff »Offenbarung« letztlich nichts anderes ausdrücken als die Entstehung des Menschen als Vernunftwesen.2212 Das bedeutet, im Wirken der menschlichen Vernunft vollzieht sich Offenbarung fortwährend, seit es vernünftige Menschen gibt. Fragt man nun nach der Stellung der Offenbarung in der Struktur der denkerischen Konzepte, so kann man sagen, dass die Offenbarung nichts weniger ist als ein Prozess der Schöpfung, der sich dieses Mal nicht auf die Natur, sondern auf die menschliche Vernunft erstreckt.2213 »Die Offenbarung ist die Schöpfung
2208 Religion der Vernunft, S. 367, 359. 2209 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471ff. 2210 S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227ff. 2211 Religion der Vernunft, S. 94ff.; s. Bd. 1, S. 365ff., 378ff., 393ff., 425, 437. 2212 Religion der Vernunft, S. 83. 2213 Religion der Vernunft, S. 82.
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der Vernunft.«2214 Und so wie das »Sein«, das heißt Gott, die Voraussetzung für das Werden in der Natur ist, so ist er auch die Voraussetzung für das Werden in der Vernunft. Diese »Offenbarung« ist analog zu dem Vorgang in der Schöpfung der Natur nicht die kausale Ursache für das Entstehen der Vernunft, sondern nur deren Vorbedingung.2215 »Daher dürfen wir endlich auch als Charakteristik der Offenbarung die allgemeine Grundansicht aufzustellen wagen, welche in aller Philosophie, ja in aller geistig-sittlichen Kultur die Voraussetzung eines Ewigen erfordert gegenüber der Vergänglichkeit aller irdischen Einrichtungen und aller menschlichen Vorstellungen.«2216 Um die rein begriffliche Bedeutung einer solchen Feststellung ins Gedächtnis zu rufen sagt Cohen einige Zeilen später: »Dieses Ewige, als die Grundlage der Vernunft für allen Inhalt der Vernunft, nennt der Jude Offenbarung.«2217 Die Rede von einer Offenbarung ist also nur eine »jüdische« Ausdrucksweise für ein allgemeines philosophisches Konzept.
5.2
Der Inhalt der Offenbarung
Im Anschluss an die biblische Formulierung, Gott habe dem Moses auf dem Sinai »Satzungen und Rechte« (Dtn 5, 28) mitgeteilt, fasst Cohen den Inhalt dieser Satzungen und Rechte erwartungsgemäß wie folgt zusammen: »Wie der Ausdruck selbst es schon besagt, handelt es sich in ihnen nicht um gottesdienstliche Vorschriften, zu denen doch wahrlich das Gebot der Ausrottung des Götzendienstes nicht gerechnet werden kann, sondern um rein sittliche Vorschriften und um sozialpolitische Einrichtungen und Anforderungen, wie um die ganze Einrichtung von Recht und Gericht in Theorie und Praxis. […] wir dürfen behaupten, daß die sittlichen, die rechtlichen, die politischen, die sozialen Grundlagen der menschlichen Gesittung in diesen Kapiteln 12 bis 28 des Deuteronomiums niedergelegt sind. Die Frage nach dem Inhalt und Charakter der Satzungen und Rechte ist hiermit beantwortet.«2218
2214 Religion der Vernunft, S. 84; und s. Formstecher, oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV, 4.2.2. 2215 Religion der Vernunft, S. 83. 2216 Religion der Vernunft, S. 96. 2217 Religion der Vernunft, S. 97. 2218 Religion der Vernunft, S. 90.
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In einem späteren Kapitel seines Buches, welches sich eigens dem »Gesetz« widmet, beantwortet Cohen die Frage nach dem Inhalt der Gesetzesoffenbarung indessen weitaus differenzierter. Hier gesteht er ein, dass Teile dieses Gesetz noch in »mythologischer Befangenheit oder in der Nachgiebigkeit gegen eine solche ihren Grund haben.«2219 Auch weist er hier auf die Existenz ausgedehnter ritueller Gesetzgebung in der Offenbarung hin.2220 Zur Erklärung von deren »Vernünftigkeit« oder zumindest deren relativer Berechtigung, greift Cohen auf das von Samson Raphael Hirsch in den deutsch-jüdischen Diskurs eingeführte Erklärungsmuster von der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechtes und der symbolischen Bedeutung der Gebote2221 zurück, das seinen Vorläufer ja bereits in Maimonides hatte.2222 Viele der Gebote, welche nicht strikt als Sittengesetz reklamiert werden können, haben demnach erzieherische und somit natürlich auch temporäre Bedeutung.2223 So dass man schließen kann »Das Gesetz ist Sittengesetz, oder Hilfswerk zum Sittengesetz. Einen anderen Sinn hat es nicht als allein den zur Erziehung und zur Heiligung des Menschen«,2224 wobei zu betonen ist, dass auch die Heiligung für Cohen nichts anderes bedeutet als die sittliche Selbstvervollkommnung des Menschen. Ein letztes, für den universalistisch-messianischen Denkansatz Cohens besonderes Problem muss schließlich die die jüdische Gemeinschaft isolierende und abgrenzende Wirkung des jüdischen Gesetzes aufwerfen. Ist die Separierung Israels durch seine Gesetze mit dem universalistischen Ziel des jüdischen Monotheismus vereinbar und wie viele solcher trennender Verordnungen darf man unbeschadet beiseite lassen?2225 Sicherlich gab es in der Tradition schon einzelne Autoren, die eine gewisse Relativierungsmöglichkeit oder gar Abänderung von Geboten andeuteten, ’Avraham Ibn Da’ud, Moses Maimonides und schließlich Josef ’Albo,2226 worauf man sich in der Gegenwart Cohens und des Reformjudentums berufen konnte. Diese Freiheit zur Abänderung muss aber von der Einsicht in die Notwendigkeit geleitet sein, das »Prinzip des Gesetzes selbst in seiner relativen Notwendigkeit zu erkennen und für jede Einzelerwägung als Richtmaß festzuhalten.«2227
2219 Religion der Vernunft, S. 395, 397. 2220 Religion der Vernunft, S. 395. 2221 S. oben, Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, III, 3.4. 2222 Religion der Vernunft, S. 395, 413; und s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 480ff. 2223 Vgl. Religion der Vernunft, S. 398. 2224 Ebd., S. 399; und vgl. S. 402. 2225 S. ebd., S. 419. 2226 Ebd., S. 424f.; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 424ff., 480ff. 2227 Religion der Vernunft, S. 427.
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Judentum als Religion der Vernunft – Hermann Cohen
Also das Prinzip des Gesetzes muss erhalten bleiben, wenn auch einzelne Gebote außer Kraft gesetzt werden können. Der Grund für dieses Festhalten am Prinzip des Gesetzes ist der, dass solange es noch andere Formen monotheistischer Religionen neben Israel gibt, es nötig ist, diesen reinen Monotheismus in der Separierung zu schützen: »Der Fortbestand der Religion des jüdischen Monotheismus ist dadurch an den Fortbestand des Gesetzes, seinem Begriffe nach – nicht in den Einzelheiten der Gesetze –, gebunden: daß das Gesetz diejenige Isolierung ermöglicht, welche unerläßlich scheint für die Pflege und Fortbildung des Eigenen als des Ewigen. […] Indessen muß bedacht werden, daß die Isolierung nicht letztlich aus dem Gesichtspunkt des Gesetzes gefordert wird, sondern aus dem des reinen Monotheismus. Der Monotheismus steht auf dem Spiele; wie könnte dagegen die Gemeinschaft der Kulturwelt eine rechtmäßige Instanz bilden. Mit dem Monotheismus steht die Kulturwelt auf dem Spiele.«2228 Neben dieser Bollwerkfunktion der Separierung im Dienste des Monotheismus und damit der Bildung eines festen Mittelpunktes aller Kultur,2229 zählt Cohen schließlich eine Reihe emotionaler Gründe für die Erhaltung dieses Prinzips des Gesetzes auf. Unter ihnen ist das Erleben der Religion, welches den jüdischen Menschen am Herzen liegt, wofür schließlich ein sehr von Emotionen getragenes Zitat von Leopold Zunz angeführt wird, welche die Liebe des Volkes zu der jüdischen Gemeinschaft beschwört, die durch das Brauchtum befestigt wird, denn »wenn deine Seele an dem religiösen Gesetze Ergötzen hat,« »wirst du« »denen zugetan bleiben, welche in demselben Gesetze dasselbe Heiligtum verehren.«2230 Abschließend soll bemerkt werden, dass die Abgrenzung Israels funktional im Dienste der Mission von Monotheismus und Messianismus, also universaler Menschheitsziele, zu sehen ist, keinesfalls als Eigenzweck. Darum hält Hermann Cohen den Zionismus als einer nationalen Bewegung für einen Irrweg und rückständig, weshalb er ihn mehrfach mit deutlichen Worten ablehnt und dieser Ablehnung eigens einen Aufsatz widmete.2231 Die Kehrseite dieser Ablehnung des Zionismus war die, aus heutiger Sicht, illusionäre und tragische Verkennung der Einheit von Judentum und Deutschtum, die Cohen, schon in Berlin, im Jahre
2228 Religion der Vernunft, S. 425f.; so auch Formstecher, s. oben Kap. Neuorientierung nach der Aufklärung, IV, 8. 2229 Religion der Vernunft, S. 426. 2230 Religion der Vernunft, S. 430. 2231 Religion und Zionismus. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdischen Glaubens (1916), Jüdische Schriften, II, S. 319–327; und vgl. z. B. Religion der Vernunft, S. 419, 421.
Neuorientierung nach der Aufklärung – Konfessionalisierung
657
1915 noch hegte. Sie mag diesen Band beschließen, um das Ende einer Epoche voller Hoffnungen zu markieren: »Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde. […] Wenn mit diesem Kriege die letzten Schatten verscheucht werden, welche die innere deutsche Einheit verdunkeln, dann wird über alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität auf der Grundlage der deutschen Nationalität, der deutschen Eigenart in seiner Wissenschaft, seiner Ethik und seiner Religion die anerkannte Wahrheit der Weltgeschichte, werden. Wir sind uns dessen bewußt, unsere Philosophie und unsere Literatur hat uns den Beweis dafür erbracht, daß Freiheit und Humanität nicht Worte für uns sind, deren Sinn wir nicht als den Leitstern unserer Geschichte dächten.«2232 Der vierte und letzte Band dieser Darstellung wird mit der Ernüchterung und der Erkenntnis solcher zerstörter Hoffnungen beginnen müssen, die nicht nur für das deutsche, sondern für das gesamte europäische Judentum eintraten, ein Judentum, das europäischer kaum hätte sein können.
2232 H. Cohen, Deutschtum und Judentum, Gießen 1915, S. 39; s. dazu M. Brumlik, Zur Zweideutigkeit deutsch-jüdischen Geistes: Hermann Cohen, in: Judentum im deutschen Sprachraum, hrsg. von K.E. Grözinger, Frankfurt/M. 1991, S. 371–381.
REGISTER ‘ ‘Asarja dei Rossi 31, 33, 35, 49f., 57, 115, 121, 170, 178, 239, 247, 444, 470f. ‘Asri’el aus Gerona 276 ‘Avoda 53, 494, 522, 524, 536, 611 ‘Edot 522f., 530 ‘Ikkar, ‘Ikkarim 88, 114, 300, 301, 302, 303, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 406 ‘Olam ha-ba 276, 280
’ ’Abul‘afja, ’Avraham 78, 84 ’Albo, Josef 109, 114, 130, 150–152, 188, 289, 300–310, 336f., 385, 655 ’Arba‘a Turim 97, 122 ’Ari 67, 318 ’Ari nohem 41, 94, 133f. ’Azilut 332 ’El‘asar ’Askari 521 ’En Sof 217, 315f., 319, 323, 329, 332, 460 ’Ibn Ruschd 62, 72f. ’Imre Bina 49, 51, 52–54, 57 ’Ish Schalom, B. 457 ’Elijahu, Ga’on von Wilna 313, 314, 315, 317
A Aberglaube 161, 177, 413, 448–450, 452, 475, 616 Aboab, Isaak 217 Abraham Ibn Esra 158, 444, 446, 462 Abravanel, Jehuda 29, 160, 164, Abravanel, Jizchak 36, 44, 104, 158, 302, 303, 310f. Absoluter Geist 461 Acosta, siehe da Costa 113, 137, 138 Adelman 125 Adler, I. 43 Adler, J. 70f., 167, 196 Aertsen, J.A. 64
Affection 204f., 208f., 219 Affekt 173, 225 Affen 100f., 364 Aggada, s. auch Haggada 57f., 475 Aguilars, d’ Rephael 144 Agus, J.B. 34f. Ahron ben Elijas v. Nicomedien 107 Aktiver Intellekt 82f., 167, 173, 226, 238, 244f., 258, 287–290, 297, 409 Akzidenz 80, 83, 132, 203, 207 Albeck, Ch. (H.) 120 Albertini, F. 618 Albrecht, M. 387 Alchemie 31, 40f., 65, 93, 102 Alemano, Jochanan 63 Alembert, D’ 61 Alexander, B. 158, 208, 209 Al-Farabi 69 Allegorese 48, 74, 170 Allgeist 482f., 517, 591, 595f., 599– 601, 603f., 611f. Allkraft 503, 505, 513 Allmacht Gottes 409 Allwissenheit 104, 301, 307 Altaras, Th. 490, 492 Altmann, A. 43, 380, 384, 388, 394f., 617f., 631 Altneuschul 233, 236 Altshuler, M. 39 Amir, Y. 446 Amor dei (s. auch Liebe) 201 Amsterdam 28, 29, 36f., 38, 59, 65f., 113, 137–140, 158f., 161, 164f., 171, 217 Amulett 102, 126, 133, 515 Andrologie 87 Anthropologie 82, 99, 167, 194, 202, 245, 278, 295, 298, 324, 326, 480, 506f., 531, 585, 591, 631, 641 Anthropomorphismus 155, 292 Apokryphen 49, 156 Apotheose 333, 409, 554 Aptroot, M. 344 Araber 279 Arama, Jizchak 286 Aristeas Brief 49
660 Aristoteles 56, 64, 67, 78–80, 82f., 109, 113, 215f., 288, 304, 358, 360, 542 Aristoteliker 80, 82, 216, 218, 244, 286, 289, 291, 295, 299, 357 Arnold, R. 42, 126 Artes liberales 30, 310 Ärzte 18, 29–31, 59, 86, 136, 255, 263, 350 Ascher aus Krakau 291 Ascher, Saul 69, 349, 417f., 420–430, 432–442, 447f., 480, 482, 489, 496, 498, 540, 561, 584f., 593 Aschkenasi, ’Eli‘eser 243 Aschkenasim Asher Halevi 36 Ästhetik 392, 395f., 399, 402–404, 547–549, 554, 617, 620f., 627, 629f. Astronomie 18, 27, 30, 32f., 38, 65, 67f., 90, 247, 249, 288, 310, 355f. Atome 78, 396 Attribut, Attribute 162, 197, 200f., 203–212, 214, 218f., 221, 226, 243, 258, 291f., 319, 324, 360, 369f., 459, 542, 544, 636 Auerbach, Berthold 195 Auerbach, Erich 467, 488 Auferstehung 88f., 108, 131f., 152, 155f., 272f., 301, 367f., 406, 434, 559, 593, 611, 649–653 Aufklärung 17f., 21f., 27, 31, 33, 35, 37, 42, 44, 137, 171, 343f., 345, 346–349, 360, 363, 380, 381, 424, 437, 441, 444, 450, 457, 477, 522, 539 Ausdehnung 194f., 205, 207f., 212, 214, 218–220, 226, 394, 399 Auslegungsparadigma 184, 190 Austrittsgesetz 28, 496, 498 Autonomie 103, 440, 442, 534, 572f., 641f., 653 Averroes 62, 64, 69, 72 Averroisten 62, 73 Axiom 70, 103, 195, 197, 244, 301, 303f., 483
B Ba‘al Schem, Ba‘al Schem Tov, Ba‘ale Schemot 19, 40, 45, 72, 267
Register Baeck, Leo 32, 34, 347, 351, 578, 599, 603, 610, 613 Baer, F. 94 Balaban, M. 281 Ballin, G. 23 Bamberger, S. 185, 336 Band, K.P. 64 Bann 29, 68, 96, 140f., 157, 158, 161, 313, 492 Barnett, R.D. 25 Baron, S.W. 49, 52, 95 Barrois, M. de 25 Bartuschat, W. 158, 208f., 213 Barzilay, I. 27, 65f., 67f., 77, 95, 101, 104, 107 Battenberg, F. 24 Bauer, J.E. 424 Be’ur Millot ha-Higajon 69, 197 Bechinat ha-Dat 37, 41, 62f., 67, 72, 73 Begabung 112, 428, 458f., 483, 593, 595f., 600 Begierde 222, 389 Begriff 78, 137, 150, 167f., 178, 187– 189, 197f., 200, 203, 208, 212, 222, 225, 229f., 248, 251, 253, 256, 259, 262, 265, 304, 311, 317, 319, 338, 343f., 354, 358f., 365, 370, 373, 387, 389, 393, 397–399, 405f., 408, 412f., 417–419, 437, 441, 448f., 453–457, 459, 461, 463f., 469, 473, 477, 480, 495, 498, 504, 509, 511, 515–517, 523f., 531, 533, 549, 561, 563, 566f., 580, 589, 594, 600f., 607, 617–621, 622, 623–625, 626, 627, 628–630, 631–637, 638, 639– 641, 643f., 645, 646f., 649f., 652f., 656 Bemporad, Z. 64 Ben ’Ascher, Ja‘akov (Jacob) 122 Ben Usiel 497, 529 Bendavid, Lazarus 34, 345 Ben-Ja‘akov, J.E. 49 Ben-Sasson, J. 302 Ben-Schlomo, J. 193, 194 Bergman, H. (S.), 150, 618 Bernays, Isaak 496 Bernfeld, S. 29 Bescht 317, 337, 503 Bewußtsein, Bewusstsein (religiöses) 88, 606, 610, 612f., 630, 633 Bezalel, S. 35
Register Bibel 29, 37, 41, 49f., 107, 115f., 121f., 127, 129–131, 139, 143, 147f., 154–156, 158, 160f., 164, 170, 172, 174f., 177, 179, 183f., 186, 193, 217, 237, 245, 250, 253, 255, 282, 293, 317, 319, 325, 334f., 346, 350, 374, 406, 418, 459–462, 466, 472f., 484, 502f., 520, 559, 593, 637f. Bibelexegese 169f. Bibelwissenschaft 128, 156, 170f., 178, 636 Biderman, Sh. 158 Bindung Jizchaks 286 Bland, K. 62 Blau, J.L. 40 Bleich, J.D. 150 Bloch, Chajjim 234 Blumenstock, K. 194, 196 Bodin, Jean 112, 149 Bokser, B.Z. 235, 242 Bonfil, R. 26, 35, 49f., 52, 55, 109 Bonnet, Charles 382, 384, 387 Bonsiepen, W. 451f. Borodianski, H. 392 Böser Trieb 274, 448 Böse, das 155, 222f., 225, 244, 257, 262, 268, 274f., 305, 434, 451, 540f., 558, 630f. Bosmat Bat Schlomo 79 Bourel, D. 380, 382 Boyle, Robert 351 Brahe, Tycho 32, 67, 85, 90 Bravo, Alvaro Gomes 142f. Brenner, M. 23, 32, 345 Breslau, Mendel 347 Breslauer Rabbinerseminar 579, 617 Breuer, M. 23, 229, 345, 528 Briegleb, K. 417 Bruch der Gefäße 269 Brumlik, M. 657 Buber, Martin 161, 415, 618, 644 Buchdruckerkunst 22 Buchstaben 118, 300, 308, 310, 319f., 330, 332, 340, 414, 448, 456f., 515, 520, 602, 604 Buchstabenkombinatorik 320 Bulle 24 Bülow, F. 195 Burroughs, J. 107 Buße 44, 280, 416, 434
661
C Cala, A. 281 Cancik, H. 420 Cantarini, Hajjim 30 Caponigri, A.R. 103 Capsali, Eljahu 55 Carlebach, J. 491 Carpi, D. 102, 125 Causa efficiens 80, 299, 361, 525 Causa finalis 277, 299 Causa formalis 256, 299 Causa materialis 215, 256, 299 Cebulla, F. 233 Ceremonien, s. auch Zeremonialgesetz 189, 407, 414f., 489, 567f, 569, Chaurew (s. auch Horev) 517f., 521– 523, 532 Cherbury, Herbert von 149 Chiarini, P. 115, 178, 252, 283 Chmielnicki, Bogdan 313 Chodowiecki, Daniel 229 Christentum 37, 75, 94, 109, 125, 129f., 132, 171, 307, 382, 415f., 425, 539, 540, 574–576, 606, 646 Christliche Kabbala, Kabbalisten 40f., 52, 63, 69, 74, Christologie 132, 649 Cohen, Hermann 17, 34, 161, 445, 478–480, 482–487, 508, 617–657 Cohen, M.R. 31, 36, 41, 102, 125 Conatus 222, 224 Conegliano, Salomon und Israel 30 Confirmation, Konfirmation 28, 492, 495 Conrad, A. 570 Consistorium, Konsistorium 490, 493 Conversos 25, 28 Cooperman, D. 52 Copernicus, N. 38 Copleston, F. 422 Cordovero, Moses 193, 218 Cornelius Agrippa von Nettesheim 41 Cranz, August Friedrich 383 Creatio ex nihilo 68, 91, 99, 163, 176, 193, 217 Creizenach, M. 519 Crescas, Hasdaj 160, 164, 165, 206, 210, 220, 221, 303 Cropsey, J. 150
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D Da Costa, Branca 142f. Da Costa, Maria 142f. Da Costa, Uriel Gabriel 29, 36f., 94, 95, 96, 112f., 125, 136–140, 142– 158, 160, 164, 304, 471 Dahan, G. 159 Dan, J. 67, 234, 242 Darwin, Charles 586 Darwinismus, Proto-Darwinismus 363, 365, 586 Dasein 82, 207f., 227, 246, 250, 253, 256, 260, 301f., 323, 330, 353, 392–395, 400, 409, 429, 465, 484, 486, 502–504, 506, 529, 542f., 552, 554–556, 575, 577, 584, 596, 610, 622, 631f., 637f., 642, 646, 648, 650 Davidson, H.A. 519 Deismus 149, 362 Delf, H. 218 Delgado, J.P. 25 Delmedigo, ’Elija 33, 37, 41, 62, 63– 65, 67, 72f., 75, 128, 160 Delmedigo, Josef Schlomo 27, 30f., 36, 38, 62, 64–69, 70–73, 75–78, 79f., 82–84, 138, 160, 167, 169f., 196, 350, 357 Demographie 22 Der Sammler 348 Derham, William 359f. Descartes, René 159f., 164, 193–195, 205, 368, 389, 585 Dethlott, K. 25 Deussen, P. 396 Devekut 243, 270–272, 317, 333f., 336–340 Deventer, J. 570 Dhialoghi d’amore 21 Dialektik 30, 69, 310, 355, 422, 558, 574 Diderot, Denis 61 Diener Gottes 121, 505–507, 530, 537 Dimant, D. 467 Dogma, Dogmen 33, 36, 108, 121, 131, 293, 302f., 304, 310, 412, 428, 430, 436f., 603 Dohm, Christian Wilhelm 383 Dreyfus, Th. 235
Register Dualismus 239, 267, 348, 353, 484, 558, 645 Dubnow, S. 21, 313, 337, 345, 466 Duran, Schim‘on Ben Zemach 302, 304
E Ebenbild, Ebenbildlichkeit, Gottebenbildlichkeit 101, 155, 194, 218, 263–265, 295, 298, 317, 324– 328, 449, 458, 506–508, 533, 536, 559, 591f., 634f., 640f., 646 Eckman, L.E. 45 Einbildung (Phantasma) 394, 567 Einheit Gottes 88, 162, 217, 244, 290, 294f., 301, 479f., 484, 513, 647 Einstein, Albert 161 Eisen, R. 159 Elbaum, J. 27, 32 Elbogen, I. 161, 392, 466 Elemente 41, 66, 78, 80–83, 86, 287, 320, 357, 360 Eliav, M. 347, 522 Elior, R. 519 Emanation 52, 68, 99, 172f., 193f., 242, 252, 254, 260f., 275, 286, 295, 319, 329, 463–465, 506, 594, 608 Emden, Jakob 36, 41 Emek ha-Bacha 35 Emek ha-Beracha 291 Empedokles, Pseudo 163, 190, 194 Empirismus 27, 352f., 367 Emrich, Ahron Ben Salman 354 Endzeit 470, 559 Engel 77, 85, 104, 106, 131, 165, 169, 245, 274, 277, 280, 287, 355f., 364f., 378f., 427f., 448, 455, 464, 541, 611 Engel, E.J. 381 Enzyklopädie, Enzyklopädisten 30, 47f., 59–61, 65, 79, 85, 229, 236, 451f., 504 Ephraim aus Siedlykov 337 Epistemologie, epistemologisch 68f., 70, 466, 638 Erkenntnis 33, 52, 57, 66, 69–73, 75f., 86, 101, 109f., 115, 137, 162–164, 166–169, 171f., 177, 179, 181, 185f., 188–191, 195–202, 216f.,
Register 218, 224–227, 232, 240, 244, 246– 249, 270, 287, 291, 296f., 319, 323f., 331, 338, 352f., 358, 368, 370–373, 375f., 385, 388, 393, 402–405, 414, 424–426, 428, 448, 450f., 453, 455–458, 464, 469, 481f., 485, 500, 502, 510f., 513, 518, 523, 525f., 529f., 534, 541, 548–551, 554, 557–559, 563–565, 568, 570, 572f., 580, 587, 595f., 599, 609–611, 617, 619–621, 623, 626f., 629–632, 634, 636f., 642, 649f., 652, 657 Erlösungslehre 45, 245 Erlösungsreligion 646 Erwählung 34, 59, 182–186, 247, 265, 273, 289, 474, 487, 513, 648 Erziehung, jüdische 41f, 163, 235, 237, 314, 346, 375, 494, 521, 522, 527 Erziehung (des Menschen durch Gott) 34, 486–488, 510–514, 516f., 526, 530f., 537, 655 Eschwege, H. 36 Esra (biblisch) 53, 111, 118f., 180f., 469f., 473, 564 Esra, Vierter 156 Essenz 202, 207f., 464 Ethik 34, 112, 149, 160, 192–199, 200f., 202, 203–205, 206–208, 209– 211, 212f., 214, 218, 219 Etkes, I. 45, 313, 314, 345 Ettlinger, Jakob (Aaron) 230, 496 Euchel, Isaak 22, 42, 344, 345, 347 Evolutionstheorie 364, 586 Ewigkeit 85, 91, 99, 162, 200f., 207f., 226f., 237, 288, 301, 360, 368, 372, 374, 396, 408, 428, 542, 593, 625 Exame das tradições Pharieseas 37, 125, 137, 140,147, 151, 152, 153– 155, 156 Exegese 107, 115f., 129, 169f., 178f., 252, 283, 475 Exemplar humanae vitae 36, 137, 142 Exil 35, 95, 111, 118, 121f., 125, 128f., 186, 235, 237, 242, 246f., 466, 469, 473, 514, 521, 603 Existenz Gottes 112, 130, 299, 368, 373, 375, 379, 518, 525 Exkommunikation 161 Experiment, Experimente 245, 357, 359, 370, 372f.
663 Extensio (Ausdehnung) 194, 201, 205, 207, 214, 218, 220, 394
F Fabricius, J. Albert 359, 360 Faierstein, M.M. 36, 39 Falckenberg, R. 352f., 387, 422 Fano, ‘Asarja di 39, 67 Farrar, ’Avraham 96 Fastnachtspiel 44 Fechter, M. 45 Feilchenfeld, A. 35, 45 Feiner, S. 344, 345, 347–349, 380, 445 Feldman(n), S. 159, 221 Felsendom 685 Ferrara 24, 31, 49, 60, 160 Fichte, Johann Gottlieb 33, 417, 444, 462, 594, 596–598, 600, 608–610 Ficino, Marsilio 103, 107, 134 Fieber 87 Finkelstein, L. 120 Fishman, T. 35, 95f., 98f., 101f. 104– 110, 111, 112, 113, 115, 116–125 Flechtner, J. 19 Flew, A. 422 Form (und Materie), 79–83, 194–195, 203, 205, 215, 219, 239, 251, 256– 257, 261–263, 271, 274, 299, 358, 503, 505, 542f. Formstecher, Salomon 23, 34, 279, 478, 480–482, 484f., 538f., 540– 546, 549, 550–557, 559–574, 576f., 584, 612, 648, 654, 656 Fraenkel, C. 159, 215 Fraisse, O. 159, 215,461,538 Franck, I. 160 Frank, D.H. 221 Frankel, Zacharias 23, 32, 578, 581 Fränkel, D. 380f. Französische Revolution 21f., 343 Freier Wille 403 Frerichs, E.S. 40 Freude 101, 105f., 456 Freudenthal, G. 159 Freund, S. 521 Friedländer, David 38, 345, 392 Friedländer, M. 519, 535 Friedlender, Sanwil Samuel 347 Friedlender, Schimon 347 Friedrich II. 381
664 Neuzeit 17, 19, 21, 23f., 25, 26, 34, 36, 37, 45, 47f., 55, 60f, 62, 64, 65, 66, 72, 89, 127, 159, 231, 282, 288, 345, 346, 354, 370f., 375, 385, 445, 495, 520 Fünfte Materie 287, 360 Funktionalität 346, 421f., 436 Fürst, J. 99, 126, 162, 371
G Galen 52 Galileo 38, 65, 67 Galizien 444, 462 Gans, David 32, 55 Gaster, M. 119 Gawlick 164 Gebet 28, 42, 110, 122f., 134, 144, 155, 181, 244, 283, 292, 316, 319, 322, 332, 335, 490, 493f., 603, 606, 610–613, 640 Gebhardt, C. 36f., 113, 137–139, 142, 144, 145, 149, 158f., 197 Gebot 51, 77, 82, 88f., 106, 110f., 112, 116, 120, 122–124, 129f., 134, 143–146, 149, 150, 162, 169, 181, 190, 237, 245, 263, 264, 267–271, 276, 283, 295f., 305, 308f., 311, 314, 316f., 328, 334–336, 338, 348, 373, 377, 390, 405, 411, 416, 448, 450f., 481, 483f., 508–510, 512, 515–522, 525–527, 529–533, 535– 537, 567–569, 589, 605, 613, 615f., 642f., 654–656 Gebote (248/365) 263, 520,525 Gebote (613) 311, 335, 519, 520, 522– 525 Geffen, D. 64 Gefühl 18, 156, 450, 479f., 482, 524, 525, 529f., 557, 559, 564–567, 571f., 585, 587–591, 606, 610f., 613, 614, 617, 619f., 626–630 Gehinnom 130f., 152, 155 Geiger, Abraham 23, 28, 32, 34f., 38, 66, 67f., 94, 110, 121, 126, 139, 144, 146f., 161, 446, 478, 480, 482– 485, 498, 538, 578f., 581–616, 622, 647 Geiger, L. 67, 578–583 Geist 18, 34, 86f., 103, 107, 132, 146, 152–155, 163, 167f., 172f., 182,
Register 191, 194, 201, 205, 210, 219–223, 225–227, 239, 259, 277, 288, 308, 315, 340, 352, 360, 369, 384, 388– 390, 393, 399, 401, 414, 431, 449, 451, 452f., 457–466, 468–470, 472, 480–482, 485f., 494, 497f., 500– 505, 507, 514–518, 523f., 526, 529–532, 534, 537–541, 542, 543f., 545, 546–564, 565, 566–576, 577, 581, 585–588, 591–594, 596, 599, 602–604, 608, 611, 614, 627, 636, 643, 650–652, 657 Geistesgeschichte 23, 34, 50, 89, 218, 351, 380, 383, 474, 518, 541, 566, 570f. Gelehrte 30, 32, 38f., 43, 52, 54, 56f., 59, 61, 65, 70, 79, 85, 89, 93, 112, 120, 133f., 147, 150, 166f., 235, 238, 240f., 247–249, 251, 255, 271–273, 313, 340–342, 350, 354f., 361, 375, 380, 466, 470, 474–476, 488, 501, 593, 596f. Gehlhaar, S. 60 Gemara 60, 339, 476 Gematria 299 Gemüth, Gemüt 449, 472, 494, 523, 524, 525, 531f., 534 Genie 38, 483, 595–598, 600, 636 Geometrie 30, 32, 65, 67, 195, 304, 310, 355f. Gersonides 159, 164, 215–217 Gesang, I. 233 Geschichte 17, 21, 22f., 25, 29, 34–36, 38, 40, 44, 49f., 55, 61, 89, 109f., 112, 121, 124, 133, 137f., 145, 149, 154, 160, 165, 175, 179–181, 187, 191, 213, 250, 267, 281, 311, 313, 315, 337, 339, 343, 344, 345, 352f., 380, 385, 387, 396, 406, 410, 415, 417f., 419, 420, 422, 424, 432, 441, 444–446, 466f., 469, 472, 478f., 481, 482, 483, 485–488, 495, 497, 498, 499, 501–503, 510f., 513f., 517, 526, 531, 538f., 541, 547, 550, 552f., 558, 564, 566–571, 574, 578, 580f., 583f., 595, 599, 601f., 605, 612, 619, 634, 649, 657 Geschichte des Geistes 571, 599 Geschichtsphilosophie 34, 38, 446, 461, 471, 488, 502, Geschichtszyklus 469f.
Register Gesellschaft 22, 26, 57f., 69, 106, 126, 130, 150, 171, 185f., 224f., 272f., 305, 344, 346–348, 378f., 386, 415, 419f., 422–424, 429f., 432f., 435, 437, 440, 442, 450, 478, 481, 500, 559, 561, 615, 617, 643 Gesellschaft der Freunde der Hebräischen Sprache 347 Gesetz, göttliches 189f., 306, 642 Gesetz, natürliches, s. Naturrecht Gesetzesreligion 418, 477 Ghetto 22, 24, 43, 95, 125, 126, 344 Gikatilla, Josef 292, 316, 320, 326 Gladigow, B. 420 Glaube 32, 69–72, 75, 83, 88, 108, 127, 130f., 133, 137, 141–143, 155, 167, 171, 189, 191, 197f., 229f., 241, 244, 303, 308, 310–312, 316, 343, 352, 354, 356f., 368, 370, 373–375, 377f., 383, 386, 387, 388, 396, 398, 417f., 419, 421f., 425–443, 446– 455, 462, 467, 472, 475, 478f., 484, 489, 491, 494, 496f., 512, 518, 523, 524, 525, 563, 585, 589–591, 592f., 602, 605, 611, 650, 656 Glaubensartikel 301f., 354, 360, 406, 436 Glaubensreligion 418, 477 Glenn, M.G. 45 Glockner, H. 464 Glück 103, 186, 196, 225, 367, 401 Glückseligkeit 89, 151, 187, 189, 195f., 202, 217, 225, 270–272, 305, 346, 382, 386f., 389, 404f., 410f., 414, 419, 423, 438, 442, 499, 507, 589, 653 Gnosis 462 Goeman, G.-H. 34 Goetschel, Roland 242 Goitein, S.D. 119 Goldberg, H. 45 Goldfaden, Abraham 44 Goldsmith, L.A. 233 Golem 233f., 261 Gómez, A.E. 25 Goodman, L.E. 160 Goodman, M. und S. 40 Goodman-Thau, E. 89 Gottesbegriff 290, 605f., 618, 619, 625, 631, 632f., 636, 646
665 Gottesbeweis 88, 97, 210, 240, 244, 352, 368, 373, 388, 392, 635, 638 Gottesdiener, A. 235, 236, 237, Gottesdienst 23, 25, 42f., 110, 123, 284, 328, 331, 334, 337, 383, 384, 390, 415, 448f., 492f., 522, 524f., 536f., 603, 605, 610f., 613, 647 Gottesfurcht 109, 111, 334, 340, 494, 525, 529, 569 Gottesnamen 40f., 133, 233, 292, 319– 321, 330, 484f., 607, 626, 637 Grab, W. 417, 498 Grade, Chaim 45 Graetz, Heinrich 21, 36, 62, 138, 445 Graetz, Michael 21, 22, 36, 65, 345, 347 Graf von Schaumburg 350 Grafton, A. 40 Graupe, H.M. 23, 34, 350, 351, 450, 508 Greenberg, G. 538f. Greenstone, J.H. 33 Gross, B. 235, 242, 313, 315–338, 340–342 Grotius, Hugo 112, 149 Grotsch, K. 451f. Grözinger, E. 36, 44 Grözinger, K.E. 40, 43, 89, 115f., 178, 233f., 242, 252, 267, 283, 339, 341, 415, 561, 570, 581, 583, 657 Grózinger, M.J. 34 Gruschka, R. 344 Gumpertz, Ahron Salomon 354, 381 Gustafsson, L. 360 Gute, das, [Gutes] 108, 257, 296, 305, 403f., 434, 536, 540, 548, 550–552, 555, 609, 624, 630 Guttmann, J. 34, 72, 150, 160, 161, 392, 445, 462, 481, 539, 631 Gutzkow, K. 138 Gynäkologie 87
H HaBaD-Hasidismus 322 Hadrat Sekenim 49 Haggada (s. Aggada) 55, 57, 236–238, 247, 282, 288, 333, 340, 437, 446, 475, 497, 531, 636 Hailperin, J. 281 Hajjim aus Woloschyn 19, 313–342
666 Ha-Kohen, Tuvja (Tobias) 30, 59–61, 85–91, 350 Ha-Kohen, J. 35 Halacha 57f., 96f., 101, 121, 129, 145, 150, 229, 236, 269, 298–300, 312, 317, 333f., 338–341, 346, 407, 435, 446, 471, 472–474, 490, 497, 509, 537 Halacha-Studium 339, 341, 346 Ha-Levi, Jehuda 152, 185, 190, 262, 264, 269, 377, 384f., 410, 508, 529, 600 Hallamish, M. 242 Ha-Me’assef 348 Hameln, Glückel von 35, 36, 45 Hames, H. 64 Hamiz, Josef 30 Hammacher, K. 160 Hammer-Schenk, H. 36 Hansel, J. 39 Harmonie 161, 289, 360, 397f., 402f., 428, 555, 559 Harrán, D. 43 Harris, J.M. 445, 461 Hartwig, D. 578 Harvey, S. 47, 59f. Hasidismus 19, 40, 45, 271f., 313f., 317, 321, 341, 448, 503, 606 Haskala 17f., 21, 31, 343–345, 347– 349, 443, 445, 457, 508 Häußermann, F. 217 Haußig, H.-M. 561 Hayoun, M. 36, 62f. Hebraistik 24, 178 Hebrew Union College 445, 450, 578, 582 Hecker, J.W. 387 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33f., 444, 450, 451f., 458f., 461, 462, 463–465, 468, 481f. 486, 488, 501, 504, 513, 539, 566, 573, 593 Heidentum, Heidenthum 34, 481, 540, 559f., 561, 562–565, 571, 573, 575, 606 Heiliger Geist 466, 636, 650f. Heiman-Jelinek, F. 25 Heine, H. 417, 579, 581, 583 Heliozentrisches Weltbild 38, 90 Henotheismus 175
Register Herder, Johann Gottfried 33f., 459, 461f., 167, 468, 481, 486, 488, 500f., 504, 513, 561, 594 Herem 158, 161, 492 Hermeneutik 107, 115, 117, 120f., 129, 131, 137, 145, 170, 309, 407, 415f., 480, 502, 504 Hermeneutisches Paradigma 78, 115f., 182 Hermetische Literatur 51 Herrera, Abraham Cohen 160, 217 Hermann, Ch. 467 Herrmann, K. 661 Herz, Marcus 34 Herzig, A. 40, 570 Herzog von Portland 350 Hess, Moses 538 Heteronomie 641 Heymann, F. 25 Hierarchie 73, 82, 100, 290, 305, 328, 364f., 420, 433, 435, 438, 456, 466, 524 Hildesheimer, Esriel 582 Hildesheimer, M. 31, 313 Hillel (Tannaite) 54, 115, 311, 604 Hirsch, Samson Raphael 23, 34, 229, 349, 417, 440, 446, 462, 478, 480f., 483–485, 487, 496–537, 567, 584, 598, 648, 655 Hirsch, Samuel 34, 482, 538, 539 Historiographie 21, 26f., 35f., 38, 54f., 68, 231, 462, 474, 479, 486, 502, 571 Historiosophie 462, 479, 485, 575, 648 Historismus 32, 38, 349, 444, 599 Hobbes, Thomas 33, 418–420 Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 480, 579, 583 Hödl, S. 24 Hofjuden 24 Hoher Rabbi Löw (s. Maharal, u. Jehuda Liwaj) 233 Holitscher, A. 233 Holzhey, H. 617f., 636 Homolka, W. 578 Horev 516–537 Horoskop 126 Horowitz, Jesaja 45 Hübsch, A. 72 Hukkim 523, 524, 530 Humanisten 238
Register Hume, David 422, 424, 429, 434 Hyle 79f., 360, 542 Hylischer Intellekt 266 Hypostase 204, 208, 463, 562f.
I Ibn Da’ud, ’Avraham 79, 219, 357, 384, 622, 654 Ibn Gevirol, Salomo /Schlomo 163, 190, 194, 234, 384 Ibn Verga, Judah 35 Idealismus 34f., 349, 446, 463, 498, 539, 557, 561, 566, 584, 618, 631 Idee 52, 167, 196, 212, 214, 221, 241, 352f., 372, 382, 417, 423f., 451, 454, 461, 478, 483f., 486, 488, 504f., 523, 531, 541, 546f., 565, 570, 572, 594, 596–598, 602f., 605, 607, 609f., 612, 615, 618, 625, 628, 632–635, 641, 643f., 647f., 651 Ideengeschichte 174 Idel, M. 40, 45, 233f., 467 Idelsohn, A.Z. 43 Identität, jüdische 35, 387, 477, 602 Imaginationskraft 165, 166–169, 173f., 182, 184, 191, 197f., 250 Imago (s. Zelem) 155, 324, 508, 533, 592, 634 Imitatio dei 331, 508, 536, 589 Individualleben des Geistes 548 Individuum 36, 89, 104, 113, 134, 136, 153, 194, 208, 219, 222, 257, 272f., 389, 404, 432, 438, 458, 460, 499, 522, 544f., 556f., 572, 592, 598, 614, 621, 625–629, 634, 643, 645f., 651f. Inquisition 25, 28, 142 Intellekt 48, 69, 71, 74, 82f., 85, 98, 100f., 153, 163, 165–169, 173, 192–194, 198, 201, 204f., 207f., 215f., 218, 226, 238–240, 243–245, 247f., 250f., 254, 256–259, 262, 263, 264–266, 270–274, 277, 286– 290, 292–298, 300, 352, 355–357, 360f., 368f., 392f., 409, 451, 458, 464, 552f., 587, 589, 653 Intuition 200 Islam 44, 109, 119, 129, 307, 425, 573, 575f.
667 Israel (Volk) 34, 40, 44, 50f., 62, 72, 78, 100, 118, 151, 182–186, 237f., 241, 247, 257, 264–266, 270, 273– 276, 278f., 288f., 297, 303, 311f., 329, 333, 347, 374, 385, 396, 411, 460, 462, 466f., 469, 474, 479, 481, 486f., 491, 497, 498, 500–502, 511, 514–516, 518, 523, 527, 529, 531, 541, 565f., 569f., 593, 601, 605f., 612f., 647f., 654, 656 Israel, J.I. 23, 24 Israeliten 35, 66, 118, 147, 165, 172, 175–177, 182, 184–186, 189f., 239, 250, 256f., 264, 274f., 278, 284, 339, 405, 410, 419, 435, 444, 469, 481, 490, 511, 514, 598, 600f., 623, 636, 653 Israelitisch-theologische Lehranstalt 582 Isserles, Moses 32, 45, 281–312
J Ja‘akov Josef aus Polna’a 251 Jacobson, Israel 23, 494 Jagel (Yagel), Abraham (Avraham) 38, 39, 60 Jaschar aus Kandia (s. Delmedigo Josef Schlomo) 65 Jechida (Seele) 329 Jehuda Liwaj Ben Bezalel, Jehuda Löw Ben Bezalel 233–280 Jellinek, A. 138, 519 Jellinek, H. 113, 138 Jenseits 89, 144, 156, 308 Jersch-Wenzel, S. 23 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 420 Jeschiva 30, 32, 60, 281, 313f., 317, 331, 333, 341, 492, 582 Jesus 191, 425 Jisraeli, Jizchak 190, 194, 331 Johannes von Jandun 64 Joel (bibl. Prophet) 174 Joel, D.H. 452 Joel, M. 160, 165, 178, 222, 603, 610 Josef ha-Kohen 55 Joseph II. 383 Josia (biblischer König) 118 Jost, Marcus 35, 444 Judas Makkabäus 181
668 Judentum als offenbartes Gesetz Judentum als Religion 18, 480, 540f., 603 Judentum als Religion der Tora 480 Judentum als Religion der Vernunft 18, 480 Judentum als Religion des Gefühls 480 Judentum als Religion des Geistes 480, 540 Judentum als Volk 33, 161, 481, 512, 599, 604 Jüdische Theologie 38, 238, 289, 303, 579, 581, 591, 613 Jüdisches Recht 22, 32, 45, 97, 122, 129, 281 Jüdisch-theologisches Seminar 23, 581f. Jurewicz, G.G. 381
K Kabbala 18f., 27, 38–41, 43f., 62f., 64, 65–69, 71, 74–79, 84, 93f., 106, 125f., 131, 133f., 139, 162, 190, 193, 204, 217f., 231, 233, 234, 236, 238, 241f., 254, 267, 269, 281–283, 285, 290–292, 298, 315–317, 325f., 328f., 332, 339, 345, 350, 406, 448, 462, 467, 502f., 515, 517, 519, 521, 574, 591 Kafih, J. 371 Kafka, Franz 233, 242, 339, 561 Kahan, A. 519 Kahana, A. 102, 126 Kalender 50, 53f., 249 Kandia 62, 65 Kanon 18, 174, 179, 181, 310 Kant, Immanuel 33, 344, 381, 386, 387, 444, 486, 502, 508, 573, 591, 606, 613, 614f., 617, 619–621, 623f., 639, 646 Kantianer 17, 619, 623, 641 Kaplan, L. 32 Karo, Josef 39, 45, 122, 281, 519 Karpeles, G. 124 Kasher, A. 158 Kassel, D. 50 Kastein, J. 137 Kategorischer Imperativ 614f., 642 Katsh, A.I. 451 Katz, J. 22, 32, 347
Register Katzenellenbogen, Samuel Juda 49 Kausalprinzip 204, 211 Kawwana, Kawwanot 316, 325 Kedourie, E. 25 Kellner, M. 302f., 304, 311 Kenneke, A. 347, 381 Kepler, Johannes 32, 38, 67 Kersting, W. 418 Ketzer 308 Kieszkowski, B. 63 Kilcher, A.B. 159, 215, 218, 461, 538, 644 Kirche 27, 33, 44, 120, 133, 143, 149, 156, 191, 383, 386, 387, 389, 431, 477, 489, 491, 493, 495, 583, 589, 649 Kirchenväter 50 Kirk, R. 103 Kisch, Abraham 381 Kizzur SeMaG 521 Klaar, A. 138 Klar, B. 96 Klausner, J. 161 Klerus 433 Kley, Eduard 23 Kneset Jisra’el 329 Kodifizierung 45, 121 Kohl, K.H. 424 Kol Sachal 37, 94–129, 133f., 148, 178, 446, 469, 471 Koltun-Fromm, K. 578, 602 Kolumbus, Ch. 596 Kommende Welt 89, 250, 280 Konfessionalisierung 18, 27f., 490, 496 Konsistorium, Consistorium 493 Kopernikus, Nikolaus 67, 83, 85, 90, 361, 596 Körper 81f., 86f., 89, 98f., 107, 154f., 173, 185, 187, 203, 209, 218–227, 258, 262–266, 293–299, 306f., 318f., 325–335, 355–370, 391–409, 411, 505, 520, 524, 532, 535, 558, 586, 628, 654 Körperlichkeit Gottes 52, 75, 484 Korrelation, Correlation 618, 623, 625, 627f., 630–634, 641, 643f., 646, 651 Kosmos 116, 231, 295, 298–300, 309, 316, 354, 389, 503, 508, 526, 585, 639 Kotowski, E.-V. 22, 40
Register Krabbenhoft, K. 217 Kraft, Kräfte 17, 81, 87–89, 107, 136, 173, 251, 265f., 280, 292f., 307, 318f., 321, 324f., 327, 330, 332, 335, 338, 353, 355, 357–359, 361– 363, 365f., 368, 387, 395–399, 402, 405, 413f., 429, 451, 464, 468, 474, 482f., 485, 497, 503, 505–507, 509–513, 526, 531, 536f., 543, 553, 567f., 575, 587f., 592–595, 599, 604f., 626, 630, 637, 645, 656 Kratz-Ritter, B. 538 Kräuter 81, 87, 89 Krautz, H.W. 36, 137 Kreimendahl, L. 352, 358, 387, 422 Krochmal, Nachman 23, 349, 444–476, 481, 488, 504, 538, 598, 612 Krochmalnik, D. 164, 461 Krypto-Judentum 136 Kulenkampf, J. 422 Kunstmusik 43 Kunstschöpfung 547 Künzl, H. 36, 65
L Lachower, F. 41 Lam, N. 314 Lamarck, Jean Baptiste de 586 Lamm, L. 159, 192 Lämmlein, Ascher 44 Lampronti, Isaac (Jizchak) 30, 48, 60 Lanczowski, G. 421 Landau, J. 450, 461, 467 Landes-Rabbinerschule 582 Laubscher, M. 420 Lavater, Johann Kaspar 382, 383 Lazarus, Moritz 34 Leaman, O. 221 Leberecht, P. 519 Leibniz, Gottfried Wilhelm 387, 392, 394f., 399, 402f. Lenhardt, A. 471 Leone Ebreo, siehe auch Abravanel Jehuda 21, 29, 160, 164, 384, 401 Lepenis, W. 360 Lernen der Tora 334 Lerner, R. 150 Lessing, Gotthold Ephraim 34, 380, 381, 462, 481, 486, 488, 510–513, 553, 588
669 Letteris, M. 445 Levi Ben Gerson 159, 164, 178, 192, 215, 217, 244, 250, 257, 375 Levi, Jizchak 49 Leviathan 417, 418–421, 433, 477f. Levison, Georg 31, 33, 349, 350–370, 374–377, 396, 560, 586 Levy, Ascher 36 Levy, Z. 160 Lewkowitz, A. 34, 459 Libawitsch, N.S. 126 Liebe 105, 188, 201, 212, 260, 316, 337, 390f., 406, 434, 507f., 524, 529, 535f., 614, 627f., 633f., 656 Liebe Gottes 105, 188, 201 Liebes, Y. 45 Liebeschütz, H. 32, 599 Limborch, Ph. van 137 Linden, H. van der 581 Linné, Carl von 351, 359f. Literatur 31, 42, 51f., 156, 192, 238f., 348, 500, 580 Locke, John 343, 351–353, 359, 371, 375f., 387 Logik 30, 65, 67, 70, 74, 102f., 105, 127f., 244, 307, 310, 355, 382, 408, 451, 452, 461, 464, 504, 548–550, 617, 620f., 623f., 629, 640, 644 Lohmann, I. 42 Lohn 97, 102, 105, 108, 110, 152, 337, 363, 379 Luftpumpe 358 Lunschitz, Efraim 236 Lurja, Jizchak 217, 218, 318, 322f. Lus, E. 467 Lust 87, 223, 352 Luzatto, Mosche Hajjim 39
M Ma‘arechet ha-’Elohut 291 Ma‘ase Tuvja 30, 59, 60, 85, 87–90 Magall, M. 36 Magen wa-Herev 37, 94, 126, 129f., 131 Magen we-Zinna 94, 95, 125, 139, 144f., 146f., 152 Maggid 39 Maggid Mescharim 39 Magie, Namenmagie 19, 39, 60, 67, 234, 261, 448
670 Magus 40 Maharal von Prag (s. Jehuda Liwaj) 241, 349 Mahoney, E.P. 63f. Maier, J. 65 Maimon, Salomon 34, 345, 444 Maimonides, Moses 55, 62f., 67f., 69, 70, 74f., 77f., 82, 88, 91, 97f., 101, 124, 127, 131, 152, 159, 163, 165– 169, 173, 182, 184, 190, 197–199, 206, 215, 224, 226, 240f., 243f., 263, 265, 276, 283, 286f., 289, 291, 293, 295f., 298, 300–306, 311, 319, 337, 354, 358, 360, 367–369, 375– 380, 382, 384, 401, 406, 412, 444, 446f., 458, 497, 515, 519f., 522, 525, 527, 529f., 576, 622, 635, 643, 653, 655 Makrokosmos 295, 326, 507 Manasseh ben Israel 383 Mantovan-Kromer, D. 22 Mappa 281 Marranen, Marranos 25, 28f., 42, 136 Marranisches Judentum 136, 139, 142f. Martin, B. 25 Marx, J. 139 Marx, M.J. 587 Materie 69, 79–81, 83, 152–154, 162f., 192–195, 203–205, 210, 215, 217, 219, 239, 247, 251–253, 256–259, 261–263, 265f., 271, 273–276, 278, 280, 287, 293, 297, 299, 357–361, 366, 399, 451, 458, 539, 542f., 638 Mathematik 30, 32, 38, 65, 67, 355, 381, 408 Mauskopf, A. 235 Maybaum, I. 539 Mayer, S. 233 Me’or ‘Enajjim 49f., 51, 133 Mechanik 38, 60, 67, 356, 359 Mechoulan, H. 139, 383 Meditation 284, 316, 325, 337, 340 Medizin 18, 30, 60, 52, 59f., 63, 69, 65, 85–88, 304, 350f, 569 Meier, H.& W. 153, 156, 164 Meisel, Mordechai 235 Meisl, J. 466 Melamed, A. 47, 60 Mendelssohn, Moses 17, 22, 27, 31– 35, 38, 42, 52, 111, 160, 344f., 349, 354, 363, 365, 366, 380–394, 395,
Register 396, 398–417, 420, 436, 440, 444, 477, 481, 489, 491f., 496–498, 502, 515, 518, 538f., 584 Menora 309f. Menschenbild 101, 105f., 134, 163, 195, 205, 295, 324, 633–635, 641 Menschengeist 513, 536, 540, 546– 548, 551f., 555, 558, 562, 567, 599f., 651 Menschheit 101, 134, 191, 277, 413, 427f., 468, 487f., 501f., 510f., 513f., 538, 540f., 551, 565f., 572, 576f., 595, 599, 609, 613, 624–629, 643, 647–649, 651 Messianismus 647, 648f., 651, 656 Messer, David Leon 29 Messer, Leon, Judah 30, 64 Messianische Bewegungen 44f Messias 44f., 88, 233, 276–280, 301, 308, 367, 434, 559, 628, 648f. Messiasidee 483, 629, 647–651 Metaphysik 33, 48, 60, 67, 71, 75, 77, 79, 169, 356f., 451, 573, 621, 639 Metz, Mosche 79, 83 Meyer, M. 21, 347 Meyer, Th. 480 Meyer, M.A. 23, 32, 35, 38, 345, 488, 495, 578, 599, 602 Meyrink, G. 233 Middot 145 Midrasch 57, 129, 238, 466, 474f. Mikrokosmos 67, 86, 194, 285, 294, 326, 364, 402, 507 Miletti, G. 60 Mischna 51, 53, 59, 119–121, 148, 235, 237, 246, 284, 340, 406, 470, 473f., 519, 527 Mischpatim 523, 524, 532, 534 Mitnaggedim 313, 333 Mittelalter 17f., 21, 23, 32f., 36, 47f., 59, 62, 64f., 66, 75–79, 99f., 105, 122, 162f., 192, 239, 266, 281, 286, 305, 309, 313, 320, 351, 356f., 361, 370–372, 375, 384f., 406, 409f., 412, 444, 463, 466, 491, 519f., 541f., 553, 572, 592 Mittelinstanzen 211, 244f., 290, 359, 452 Mittwoch, A. 392 Mizwot 110, 150, 245, 283, 457, 519– 522, 523, 524, 525, 530, 536
Register Modena, Avtalion 30 Modena, Leone 26, 31, 35, 36f., 41–43, 93–96, 98–100, 102–107, 110, 112f., 115–119, 121–134, 137, 138–140, 144–147, 148, 152, 170, 237, 243, 384, 385, 469, 471 Modus, Modi 144, 171, 180, 200, 201, 204, 208–211, 214, 217–221, 227, 249, 253, 394f., 402, 408–410, 464, 564f. Molcho, Schlomo 44 Monade, Monaden 394–396, 399, 401– 403 Monotheismus, 479, 484–487, 512, 515, 555, 576, 619, 621–624, 636f., 639, 647, 650, 655f. Montada, J.P. 64 Morais, S. 33 Moral (moralisch) 45, 111, 112, 124, 138, 149, 158, 224, 237, 256, 314, 334, 360, 379, 381, 391, 458, 461, 521, 529, 581, 468, 600, 613, 623, Moralphilosophie 391 More Nevuche ha-Seman 444f., 446 More Nevuchim 75, 77, 124, 163, 165, 169, 182, 215, 377 Morpurgo, Samson 30 Mörschel, Daniel 383 Morteira, Saul Levi 158 Mosaisch 28, 37, 88, 112f., 114, 119, 137, 139, 144, 148, 150f., 165, 175, 189, 308, 415f., 491, 519, 539, 565, 569, 601 Moscati, Jehuda 104 Mosche de Coucy 520f. Moses ben Nachman 67, 444 Moses, biblischer 51, 54, 97, 99, 107– 109, 111–113, 118f., 129–131, 133f., 139, 142f., 145, 147–151, 156, 165, 172, 174–177, 181, 189, 191, 246, 256–258, 274, 278, 288, 299, 339–341, 379, 415, 420, 433f., 449f., 471f., 474, 491, 519, 520, 529, 565, 601f., 604, 654 Motzkin, G. 636 Mündliche Tora 55, 94, 96, 109, 117, 120f., 128f., 134, 145, 147f., 152, 332, 334, 339, 413, 471 Musar 45, 313, 382 Musar-Literatur 45 Muschenboek, Pieter van 359
671 Musik 22, 30, 38, 41, 42, 43, 44, 60, 67, 93, 102, 125, 128, 310 Mystik 19, 40, 234, 243, 271, 619 Mystisch 39, 44, 68, 199f., 234, 241– 243, 273, 283, 333f., 336f., 340, 559, 589
N Nachal ha-Besor 347 Nationalgeist 486, 636 Natur 33, 74, 81, 83, 87, 89f., 99, 103, 107f., 112–114, 131, 149f., 153, 166–168, 175f., 178, 183–185, 187f., 192, 194, 199–201, 204f., 207–215, 219, 222–224, 226, 239f., 248–250, 255, 268–271, 275f., 286, 304, 355, 357–359, 361–365, 368, 377–379, 381, 390f., 400, 405, 409, 411, 413, 422, 424–426, 428f., 442, 453, 467, 478, 481–483, 485, 487f., 501, 505, 514, 517, 531–533, 539– 541, 544–558, 561–563, 571, 574f., 585f., 588f., 595, 597, 599, 607, 610, 624f., 627, 632, 637, 639f., 653f. Naturdienst 554f., 561f., 577 Naturforschung 379 Naturgesetzlichkeit 545–547 Natur-Kräfte 363 Natürliche Religion 27, 387f. Naturrecht (Naturgesetz) 110–114, 148f., 150–152, 306, 389, 550, 609, Naturreligion 424, 478, 482, 540, 553, 559, 573–575 Naturwissenschaft 31, 51, 76f., 169, 178, 237, 240f., 247–255, 354–356, 358f., 370, 374, 381, 547, 552, 639 Nauen, F. 498 Navè, P. 126, 128, 130, 134 Necker, G. 39 Nefesch 265f., 327–330 Nefesch ha-Hajjim 315, 316, 317, 318– 325, 327–335, 337–342, 392 Negationsattribute 206 Nehemia 53, 118, 473 Neher, A. 32, 233, 235, 241f., 244 Nemoy, L. 119 Neologen 22, 42, 495, 518
672
Register
Neoorthodoxie, Neo-Orthodoxie 18, 23, 34, 417, 478, 496, 505, 515, 537, 567 Neo-Platonismus 66 Neschama 318, 328–331 Neuchristen 25, 136, 138, 143 Neues Testament 50, 55, 115, 174, 180 Neumark, D. 162, 165, 220, 371 Neunzehn Briefe über Judentum 478, 481, 496f. Neuschöpfung 317, 360 Neusner, J. 40 Neuwirth, A. 578 Neuzeit 17, 19, 21, 23–25, 34, 36f., 45, 47f., 60, 62, 64–66, 72, 89, 288, 343, 345f., 370f., 375, 385, 445 Newton, Isaak 351, 357–359, 396, 596 Nichtjuden 37, 42, 123f., 380, 536 Nichts 68, 98f., 190, 217, 259f., 288, 293, 308, 361, 504, 563, 622, 639 Nieto, David 27, 30, 95f., 122, 137, 144 Niewöhner, F. 164 Nig’al, G. 234 Novak, D. 150
251f., 267, 271f., 274f., 279, 285f., 289, 318, 322f., 356, 368, 388, 392, 408, 425, 454, 456, 461, 466, 484, 540, 544, 550, 586, 607, 618, 632, 638, 640 Opfer 155, 167, 260, 283f., 293, 390, 605f. Opferbindung Isaaks 605 Oppenheim, Daniel 36 Optimismus 267 Ordnung 89, 97f., 108–112, 114, 151, 175, 181, 183, 213–216, 237, 244, 249, 253–255, 261, 271, 305, 318, 321, 323f., 328, 362, 364, 366, 368, 378, 389, 393f., 397f., 440, 452, 457, 467f., 490, 523, 533, 585f., 607, 628 Organon des Aristoteles 304 Orgel 43, 494 Orthodoxie 18f., 23, 32f., 45, 138, 229–331, 311, 405, 416f., 496, 505, 528, 537, 567, 582 Orthopraxie 23, 229–231, 405, 416, 537 Osmanisches Reich 24, 26
O
P
Ober-Kirchen-Behörde, königl. Israelitisch 490 Offenbartes Gesetz 111, 404, 414, 436, 584 Offenbarung 33f., 39, 48, 53, 57, 61, 63, 73, 75, 82, 96f., 108–111, 114f., 121, 124, 127, 129, 131, 133, 137, 149, 151f., 156, 158, 162–168, 172f., 222, 231, 249, 301f., 306f., 312, 341, 385, 387–389, 405, 407f., 410–412, 416, 423, 425–427, 430– 432, 435–440, 446f., 449, 457, 465, 479, 481, 483f., 511f., 514, 529, 534, 540f., 549–555, 562–566, 568, 572, 580, 584f., 589, 593, 599–605, 609, 636, 641, 643, 653–655 Offenbarungsreligion 422–427, 432f., 435, 439, 478–480, 593 Omnipräsenz Gottes 176, 321 Onomatologie 260, 320 Ontologie, ontologisch 55, 89, 137, 145, 148, 192, 195, 199, 209, 214– 216, 218, 221, 240, 243, 245, 248f.,
Pachad Jizchak 30, 48, 60 Padua 30f., 38, 63, 65, 85, 582 Panentheismus, panentheistisch 321 Pantheismus, pantheistisch 321f., 463, 539, 637f. Pappenheim, B. 35 Paracelsus, Philippus, Aureolus, Theophrastus 86 Pascheles, Wolf 234 Patai, R. 27, 31, 41 Pathologie 86f. Pearl, Ch. 286 Pelli, M. 347 Perlman, M. 119 Petuchowski, J. 27, 95f., 122, 137, 144, 578, 599, 603f., 613 Pflanzenkunde 87 Phädon 363, 365f., 381, 388f., 392f., 396–402 Phänomen, Erscheinung 165, 169, 172f., 184f., 212, 323, 353, 378, 386, 389, 394–396, 399, 402, 404f., 421, 425, 432, 437, 465, 477, 479,
Register 483, 486, 496, 499f., 504, 516, 540–556, 544, 554, 560f., 564, 571, 584f., 595–598, 609, 623, 637 Phantasma 394 Pharisäer 120, 148, 181 Philipowski, Z. 50 Philipp, W. 360 Philipson, D. 488 Philosophie 17f., 30, 33, 34f., 52, 61, 62, 63, 64, 65, 67f., 69, 72–79, 82– 84, 97, 149, 152, 159f., 161, 162, 164, 165, 169f., 178, 183, 189, 192–195, 202f., 205, 206, 215, 218, 224, 231, 236f., 239, 242, 244, 251, 257, 265, 269, 281–286, 288–292, 309f., 328, 343, 344f., 349f., 352, 356, 371, 375, 377, 381f., 384, 387, 392, 394, 395f., 399, 402–404, 418, 421f., 442, 445–447, 450f., 452, 458f., 461f., 464, 481, 483f., 487f., 497f., 501, 504, 505, 508, 515, 519, 521, 526, 538–540, 560, 573, 576, 578, 585, 591, 598, 600, 603, 617– 622, 624f., 627, 630, 631, 635f., 639, 644, 646, 654, 657 Philosophie-Geschichte 66, 69, 74f., 451f. Physik 18, 33, 60, 67, 79, 304, 355– 358, 409, 451, 547–549 Physiko-Theologie 359, 364 Physiologie 86 Pico della Mirandola 39, 40, 62, 63, 64, 103, 104, 134 Pilpul 45, 237–239, 346 Pines, S. 173 Pinkuss, F. 417 Plato 52, 78, 82, 366, 380f., 542, 608, 646 Platoniker 193, 218, 265, 286 Pneumatik 86 Pneumatikon 542 Pneumatologija 355 Podet, A. 37, 126, 131f. Pogrome 17, 345 Poliakov, L. 25 Polytheismus 482, 484, 555 Pomponazzi, Pietro 74 Potenz 38, 83, 269f., 280, 289, 292, 296, 525, 547 Prado, Daniel de 164 Prado, Juan de 158
673 Prästabilierte Harmonie 402 Predigt 42, 123, 125f., 128, 130, 134, 141, 236f., 475, 494, 538 Priestertum 606 Prima causa 97, 105, 163, 194, 202, 355 Prinzipien 79f., 131, 179, 182, 196, 231, 253, 301–303, 304, 306f. 309, 345, 358, 381, 391, 424, 467, 479, 487, 499, 523, 566 Prisca theologia 51, 238 Progressus 260 Propheten 70, 77, 88f., 107, 114, 120, 146f., 150f., 156, 165–169, 171– 176, 182f., 198, 250, 272, 274, 294, 301, 304, 307f., 311, 378, 434, 459f., 475, 483, 564f., 569, 593, 597, 601f., 623f., 627f., 645, 647 Propostas contra a tradição 37, 144 Prosopomantie 86 Provenzali, David und Abraham 31 Pseudepigraphie 156 Psychologie 68, 71, 79, 82, 295, 326, 364, 396, 571, 620f., 628f., 641 Ptolemäisches Weltbild 56 Purimspiel 43f. Puster, R.W. 352f.
R Rabbenu Tam 119 Rabbiner 26–30, 32, 35, 38, 41, 43, 45, 49, 93–96, 102, 125f., 139, 144, 161, 235–237, 241, 244, 281, 313, 336, 385, 440, 449, 480, 492–494, 496f., 501, 538, 578f., 581f., 617 Rabbinerkonferenzen 23, 579 Raisin, J.S. 345 Raschi 119, 185, 336 Rationalismus 27, 63, 352, 447, 638 Rau, S. 570 Raum 21, 25–27, 33, 41, 43, 122, 203, 212, 244, 270f., 281, 323f., 340, 344, 352, 358, 410, 464, 468f., 475, 490, 520, 524, 586, 638 Raven, H.M. 160 Rawidowicz, S. 445–450, 452–455, 457f., 460–462, 465–470, 472–476 Ray, John 359 Redeker, M. 591 Rechtsliteratur 21, 27
674 Reform 18, 23, 32, 38, 43, 123, 171, 229f., 346, 417f., 430, 434, 437, 439–441, 478, 480, 488, 490, 494, 497, 502, 516, 518, 538, 567, 578f., 582, 589, 603, 610, 613 Reformation 56, 421, 441f., 570 Reformjudentum 610, 616, 655 Reggio, I.S. 93f., 96, 99f., 101f., 104– 113, 115–125 Regressus 260 Reimarus, H.S. 387, 420 Reimers-Tovote, I. 160 Reitemeyer, U. 486 Rekanati, Menachem 291 Relationsattribute 206, 319 Religion der Vernunft 18, 385, 387– 389, 416, 480, 484, 486, 518, 584, 618, 621f., 627, 630–632, 635f., 637–640, 642–645, 648f., 650–656 Religion (Judentum) des Gefühls 18, 480, 524, 583–591 Religion des Geistes 18, 480, 482, 538, 540f., 542–566, 568f., 570, 571– 577 Religionsbegriff 387, 415f., 482, 584, 603, 623 Religionsdefinition 481f., 498f. Religionsgeschichte 175, 435, 479, 564, 567f., 578, 580, 634, 640 Religionskritik 18, 22, 26, 29, 31, 35, 37, 41, 71, 164 Religionsphilosophie 34, 96, 149, 385, 420, 452, 480f., 539, 540, 561, 618, 625, 630f., 647 Religionstypen 424, 482, 562 Religionsunterricht 42, 492 Religionswissenschaft 175, 421, 516, 627 Religiosität 230, 334, 480, 494, 619 Rema (s. auch Isserles) 281 Renaissance 19, 21, 22, 26, 31, 35, 40, 42, 43, 47, 49f., 51, 52, 60, 62, 64, 65, 68, 106f., 108, 160, 238, 495, 498 Res divina 262, 600 Res extensa 205, 207, 214 Reubeni, David 44 Reuchlin, Johannes 39, 40 Révah, I.S. 21, 138, 139, 143, 158, 164 Revelatio continua 38 Ribera, Daniel 164
Register Ries, R. 24 Ritius, Paulus 69, 74f. Ritter, J. 539 Rivkin, E. 27, 95 Röd, W. 149, 205, 343, 352, 371, 387, 395, 418, 422, 451, 461, 501, 504, 505, 613f., 624 Roling, B. 69, 74f. Rollins, S.L.W. 360 Romantik 34, 38, 137, 498 Rohrbacher, S. 32 Rosch ’Amana 302f., 311 Rosch Jeschiva 314 Rosen, K. 45 Rosenberg, Judel 234 Rosenberg, S. 467 Rosenblum, N.H. 502 Rosenfeld, B. 233 Rosenzweig, Franz 445, 481, 539, 617, 618, 631, 639 Ross, T. 314 Rossi, ‘Asarja, s. ‘Asarja Rossi, Salamone 43, 102 Rotenstreich, N. 150, 539, 486 Roth, C. 22, 25, 26, 106, 136 Ruach 172, 315, 328–330, 453, 459 Ruderman, D.B. 30f., 35, 38–40, 42f., 50, 52, 55, 60, 64, 67f., 86, 351, 352, 354, 359f., 375 Rudolf II. 235 Rüssel, H.W. 103f., 134
S Sa‘adja Ga’on 48, 76, 88, 91, 150f., 162, 164, 175, 196, 203, 364, 371, 452, 622 Sadduzäer 138, 148, 156, 593 Salanter, Israel 45, 313 Salomo, biblisch 176f., 279 Salomon, H.P. 37, 94, 125, 137 Same, menschlicher 279, 362, 367f. Zamosc, Israel Ha-Levi 31, 381 Saperstein, M. 42 Sassoon, I.S.D. 37, 94, 137 Scha‘are ’Ora 291 Scha’agat ’Arje 94f., 96, 125 Schabbat 123, 143, 236, 237, 268, 289, 311, 335, 472, 531 Schäfer, P. 519 Schechina 272, 342, 638
Register Schechter , S. 445 Schwarzschild, S. 445 Schelling, Wilhelm Joseph 33, 444, 461f., 539, 542, 557, 566, 573 Scherira Ga’on 53 Schi‘ur Koma 294, 298, 327 Schimschon aus Jerusalem 67 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 33, 482, 524f., 529, 573, 585, 589f., 591 Schlesinger, L. 114, 150, 289, 301, 303–308, 337 Schlessinger, W. 114, 150f., 289, 301, 303–308, 337 Schlüter, M. 445 Schmidt, J. 595 Schmu’el Aschkenasi 66–68 Schnaber-Levison, (Mordechai) Gumpel 31, 33, 349–352, 354, 357–363, 365–370, 374–377, 396, 560, 586 Schne Luchot ha-Brit 46 Schoeps, H.J. 34, 66, 351, 385 Schoeps, J.H. 22, 40, 67, 214, 385 Scholastik 211, 245, 304, 310, 350 Scholem, G. 44f., 217, 233, 241f., 269, 317 Schöne(s) 547–552, 562, 599, 609, 621 Schöpfer 33, 89, 97–102, 104–106, 109f., 112f., 123, 149, 163, 193, 203, 218, 233, 245, 255, 296f., 300, 337, 355–357, 366, 389, 390f., 400f., 415, 419, 423, 448, 475, 503f., 514, 522, 537, 548, 554, 587, 624, 628 Schöpfung 50, 52–54, 55, 68, 85, 96– 100, 102, 105–108, 151, 155, 162, 190, 202, 234, 244, 253, 260–262, 268f., 275, 277, 285, 291f., 294, 308, 322f., 325f., 328, 332, 361– 363, 366, 393, 402, 409, 451, 463, 503–505, 510, 526, 532f., 547, 549–552, 607f., 631f., 636, 640, 642, 651, 653f. Schorsch, I. 28, 488 Schreiner, S. 65 Schriftauslegung 55, 63, 77f., 115f., 129, 178, 252, 283, 301, 473–475, 480 Schriftautorität 181
675 Schriftliche Tora 114f., 129, 146f., 152, 309, 332, 471, 518 Schulchan ‘Aruch 32, 39, 45, 122f., 129, 237, 281f., 314, 509, 523 Schulin, E. 25 Schulte, Ch. 42, 343, 345, 347, 381, 508 Schwab, W.M. 21 Schwarcz, M. 242 Schwärmerei 448–450, 452 Schwartz, Y. 159, 215 Schwarz, H.P. 36 Schweid, E. 539, 636 Schwerkraft 358 Scienta Divina 355f. Sebastián, M. 25 Secret, F. 40 Seder ‘Olam Rabba 53 Seele 33, 64, 79, 81–83, 86–89, 97–99, 102, 106–108, 130f., 140, 149, 151–155, 163, 172f., 203, 218, 225, 250, 265f., 270f., 276, 284, 290, 294f., 297, 306, 315, 318f., 321, 324, 327–333, 353, 355–357, 363– 369, 376, 379, 381, 385, 388f., 391–394, 395, 396, 398–402, 404, 411, 449, 451, 453, 456, 482f., 505, 512, 514, 518, 542–544, 559f., 587f., 593–596, 627f., 641, 645, 649–652, 662 Seesen 23, 494 Sefardim 28 Sefer ’Elim 30, 38, 66, 68f., 69, 79, 167, 196 Sefer ’Emunot we-De‘ot 99, 162, 371 Sefer ha-‘Ikkarim 114, 130, 150f., 289, 301, 304, 307f., 337 Sefer ha-Hinnuch 521 Sefer ha-Kusari 269 Sefer ha-Madda‘ 97, 287 Sefer ha-Mizwot 519–522, 525, 530 Sefer Haredim 521 Sefer Jezira 261, 332 Sefer Mazref la-Hochma 65, 67, 76, 166 Sefer Mizwot Gadol 520f. Sefirot 41, 67, 132, 212, 269, 290–293, 316, 320, 325f., 328f., 332f., 339, 506, 520 Segal, L.A. 35, 54 Seidenraupe 367
676 Sein, das 183, 195, 200, 205, 211f., 217f., 222f., 247, 252–254, 256, 259–261, 279, 295, 320, 366, 392f., 455, 458, 460, 465, 482, 483–485, 503f., 540, 543, 550, 588, 590f., 607f., 610, 618, 622f., 625f., 631f., 634, 637–640, 647, 654 Seins-Analogie 325 Selbstbewußtsein, Selbstbewusstsein 314, 513, 541, 543–548, 550, 557– 560, 568, 575, 585, 589f., 619f., 625, 644f. Selbstbezeichnung 229, 347 Selbsterhaltung 183, 223f., 545 Seligmann, C. 538 SeMaG 520, 521 Séminaire Israélite de France 582 Separate Intellekte 83, 85, 100, 167, 216, 240, 244, 251, 256, 286f., 289f., 292, 294, 296f., 299, 356f., 361, 392, 451 Septimus, B. 35, 173 Servet, Michael 153 Shepard, S. 156 Sherwin, B.L. 235, 242, 243 Shulman, Y.D. 235 Silva, Samuel da 138, 140 Silver, A.H. 44 Simon, H. 233 Simonsohn, S. 126, 131f. Sinai 53, 117, 120f., 128f., 133, 147, 165, 299, 339–341, 379, 405, 410, 434, 446, 469, 471f., 474, 481, 512, 518f., 552, 584f., 589, 593, 604, 654 Sinneswahrnehmung 70, 76, 162, 196, 198, 201, 366, 368, 370–373, 376f., 453, 621 Sirat, C. 210, 221 Sittengesetz 253, 548, 609, 655 Sittliches 592, 599f., 624f., 647 Sittlichkeit 149, 461, 482–484, 487, 494, 501, 559, 591, 600, 606–609, 621, 625, 628f., 631f., 639, 642, 646, 650f. Sohar 37, 39, 41, 94, 218, 267, 292, 315, 318f., 321, 328, 331f., 337, 340, 444, 452 Sohn Gottes 52, 104 Sokrates 365, 380f., 393, 397, 401, 647 Solms-Lauenbach, Gräfin 229
Register Sommer, A.U. 502 Sonne 56, 80, 90, 98, 128f., 176, 250, 358, 372, 394 Sorkin, D. 344, 347 Soteriologie 244 Spinoza, Baruch Benedict 18, 25, 37, 70f., 77, 128, 137, 138f., 153, 156, 157–161, 163–227, 243, 250, 293, 322, 353, 385, 403, 416, 420, 427, 539, 543f., 637 Sprachwandel 583, 579 Sprecher, S.M. 351 Staat 24, 27f., 109, 113f., 151, 185f., 188f., 225, 279, 306, 356, 378, 382, 386, 388–390, 415, 419, 474, 489, 492, 566, 603, 615, 624 Staatenlosigkeit 487, 514 Staatsverfassung 186, 416 Stampfer, S. 313 Stegmaier, W. 161, 253 Steinheim, Salomon Ludwig 34 Steinschneider, M. 59 Stemberger, G. 115, 128 Steresis 79, 279 Stern, S. 24, 35, 94, 95f., 98f., 101f., 104–113, 115–125 Stoiker 56, 195 Strack, H. 115, 128 Stratenwert, I. 233 Strauß, B. 381, 480, 484, 617f., 635 Strauss, L. 150, 153, 156, 161, 164 Studemund-Halevy, M. 28f. Studentenschaft 31 Studium der Halacha 338 Studium der Tora 331, 335, 338 Sulamith 490f. Sünde, Sünden, Sündhaftigkeit 247, 263, 274, 280, 284, 331, 334, 336, 340, 354, 363, 379, 404, 573, 614, 627, 633, 645f. Sündenfall 262–264, 331, 630 Symbol 137, 144, 155, 309, 430f., 433, 435, 440f., 443, 454, 456, 487, 517, 530f., 562, 569, 601f., 607, 643, 651f. Symbolhandlung 432, 516f., 523, 525 Symbolschrift 502 Synagoge 25, 28, 34, 36, 41, 43, 129, 141, 273, 351, 386, 490, 493f., 536 Synagogenbann 28, 139f., 160f., 492
Register Synagogenordnung 22, 28, 42, 489– 492, 579, 601 Synagogenprediger 125 System der Philosophie 451f., 464, 617–620, 622, 625, 627
T Ta‘alumot Hochma 38, 66–69, 72f., 170 Ta‘ame ha-Mizwot 245, 283, 519 Tabula rasa 352 Talmud 45, 57, 60, 73, 96f., 120f., 133, 146, 236, 238, 246f., 334, 337–339, 350, 354, 474–476, 515, 574, 580f. Tanz 41, 102, 125 Tarjag, Taryag 519, 522 Taubes, J. 462, 467 Tefillin 116, 119, 144, 298–300, 530 Tempel 23, 28, 43, 53, 60, 120, 133, 181, 283–287, 290, 296, 309, 415f., 473, 493, 583, 593, 602, 605f. Tempelvereinigung 23 Tetragrammaton 319f., 330, 607 Theater 43f., 93 Theodizee 97 Theokratie 420, 433, 566 Theologe 28, 65, 72, 82f., 382, 492, 579–581, 583, 585, 589, 641 Theologie 19, 31, 33, 38, 43, 45, 51f., 60, 67f., 75, 77, 96f., 102, 105, 111, 162, 164, 169, 171, 189, 195, 235, 236, 238, 241–243, 282, 286, 288– 290, 292, 303, 316, 345, 354–356, 381, 392, 421, 433, 437, 451f., 462, 502, 518, 522, 531, 538–540, 573, 579–583, 585, 591, 593, 613, 616, 623, 631, 635 Theologisch-Politischer-Traktat 77, 160, 164f., 166, 177, 178, 184, 189, 192, 217 Therapie 86f. Theurgie 269, 325, 337 Thieberger 235 Thom, M. 363, 366, 381f. Thomas von Aquin 50, 150 Tikkunim 316, 337 Tirosh-Rothschild, H. 64 Tishby, J. 41, 337 Tod 17, 23, 25, 89, 94, 97, 106, 110, 112, 137, 141f., 148, 156, 202,
677 226f., 235, 267, 313, 315, 351, 362f., 366–368, 390, 396f., 400f., 447f., 451, 468f., 496, 538, 559, 579, 582, 617, 651 Toland, John 149 Tora 18, 19, 29, 37, 51, 54f., 73–75, 77, 79, 82, 85, 88, 94, 96–100, 102, 107–115, 117–122, 127–134, 137, 139f., 144–148, 150–152, 156, 169, 176, 189, 237–239, 241, 245f., 248, 253–257, 260–271, 273f., 276f., 282–284, 291, 293, 297f., 302f., 305, 308–312, 315f., 318, 320, 326, 331–341, 353f., 358, 361, 365, 369, 376–379, 385, 396, 406, 411, 413, 445f., 449–455, 457, 459f., 462, 466, 469–474, 480f., 499–503, 509, 514f., 518f., 521f., 527–529, 532– 534, 585, 593, 604, 615f., 653 Tora ‘im Derech Erez 527f. Tora li-Schemah 314, 336–338 Tora-Lernen 334, 346 Torastudium 235, 314f., 326, 328, 334–341, 536 Tora-treu 229, 391 Torawissenschaft 78, 517 Torot 147, 523, 525 Torres, H. 25 Tradado da Immortalitade da Alma 140 Traditionskritik 231, 237, 384 Transzendenz 319, 364, 422, 594 Traum, Träume 39, 77, 126, 102, 165, 169, 172, 236, 524 Treitschke, Heinrich von 617 Trigonometrie 67, 355f. Trinitätslehre 132, 576 Tugend 173, 185f., 200f., 223–225, 296, 370, 374f., 389, 400, 523, 525, 530 Tuvja Ha-Kohen, s. Ha-Kohen Tuvja Twersky, I. 35, 173 Typen des Rechts, Rechtstypen 150
U Unerkennbarkeit Gottes 162 Universalleben des Geistes 548 Universität, Universitäten 30f., 59f., 85, 138, 161, 496, 538, 578, 581, 583 Unkörperlichkeit Gottes 301, 307
678 Unsterblichkeit 33, 79, 83, 88, 97, 102, 106–108, 131, 140, 151–155, 202, 226, 250, 305, 363, 365–367, 379, 381, 389, 392, 396, 512, 518, 559f., 593, 611, 649–652 Unvollkommenheit, der Welt 267–269 Urelement 360 Uroffenbarung 551f., 563–565 Ursache, Ursachen 56, 70, 80, 83, 87, 89, 97, 98, 111, 165,166–168, 183, 185f., 188, 193–195, 199f., 202– 205, 208, 210–212, 214–217, 219– 221, 238, 240, 244, 249, 254–256, 260, 267f., 287, 289f., 292f., 299f., 344, 356–358, 362f., 368f., 376, 378, 389, 392, 397, 401, 410, 422, 455, 468, 479, 502, 525, 608, 635, 639f., 654 Ursprung 40, 55, 332, 417, 627, 636, 639f., 644, 650
V Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt 579, 581, 583 Veltri, G. 43, 55, 64f. Venedig 24, 42–44, 55, 63, 93f., 96, 125, 139f., 281 Verbot, Verbote 122, 124, 129, 351, 448, 512, 520, 522, 527, 529f., 532 Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden 32, 580 Vergnügen 100–102, 104f., 108, 110f., 134, 223, 463–165 Vernunft 32f., 38, 48, 63, 72, 73f., 98, 112f., 116, 126f., 130–132, 137, 145, 149–153, 162–164, 169f., 173, 177, 184, 189, 191f., 196, 198–200, 223–226, 238, 239f., 247, 250, 288f., 354f., 365, 370, 372–376, 385–391, 396, 401, 403, 405, 408– 410, 416, 418, 420, 424, 427–429, 431f., 434, 437, 450, 454–456, 461, 466f., 469, 477, 479f., 484, 486, 511, 518, 540, 552f., 557, 559, 563, 567, 571f., 576, 585f., 592, 600, 607, 620–622, 631, 635f., 638, 640–643, 653f. Vernunftgebot 150, 449 Vernunftreligion 18, 385, 387–389, 416, 480, 484, 486, 518, 584, 618,
Register 621f., 627, 630–632, 635–640, 642–645, 648–656 Verstand 75, 101, 105f., 108, 113, 122, 130f., 168, 177, 186, 188, 194, 196, 206f., 210, 213–216, 225, 227, 231, 247, 266, 269, 272, 298, 304, 344, 364f., 368, 372f., 405, 408, 427, 446, 448f., 453, 456, 473, 524f., 527, 552, 556f., 564, 572, 576, 641 Vertreibung 17, 23–25, 44, 186, 470 Vico, Giambattista 462, 467, 487 Vierfacher Schriftsinn 282 Vital, Hajjim 31, 36, 39 Viterbo, ’Avraham 96 Vogelmann Goldfeld 64 Voigts, M. 19, 242, 561 Volk 33, 51, 70, 72f., 74, 100, 116– 118, 120f., 137, 158, 161, 173, 175, 182, 184, 186f., 189–191, 264, 330, 334, 382, 385, 387, 411, 417, 423, 453f., 458–460, 467f., 470, 472– 479, 481, 485–487, 489, 491, 499– 501, 511–514, 518, 529, 541, 556, 558, 565f., 570f., 574, 584, 593, 599, 600, 602, 604–606, 612, 624, 647f., 656 Völker 51, 56, 82, 85, 107, 121f., 161, 175, 183, 186, 238–241, 247, 249, 256f., 264f., 273–276, 279f., 288, 374, 421, 449, 451, 458–460, 462, 467–469, 481, 486–488, 499f., 512–514, 557f., 561, 567, 570–572, 574, 593, 596, 598–600, 613, 628, 648f., 657 Völkergeschichte 481, 486, 526, 592, 614 Völkerindividualitäten 598 Völkerpsychologie 486 Volksgeist 459, 486, 561, 598f. Volksgenialität 599 Volksreligion 561f. Vollkommenheit 110f., 113, 188, 224, 257, 262, 266–268, 277, 296–298, 300, 306, 308, 368, 370, 392f., 395, 400, 469, 499, 458, 463, 467, 476 Voltaire, François Marie 487 Volz, R. 360 Vorher-Bestimmung 403 Vorherwissen 403
Register Vorsehung 33, 89, 97, 102, 104, 183, 215, 307, 372, 379, 388, 540f., 569, 576, 612, 625
W Wahrheit 18, 33, 51, 54f., 57f., 62–64, 70, 72–74, 76f., 105, 112, 115, 129, 137, 148f., 164, 169, 171, 173, 179, 182f., 190f., 196–198, 238–240, 249, 252, 275, 283f., 308f., 311, 337, 343, 350, 352, 354, 363–377, 381, 384, 387, 391, 396, 399, 405f., 408–412, 414, 420f., 428, 436, 454, 460, 464, 468, 472, 482, 497, 516f., 523, 529, 534, 546f., 553, 563, 566, 573, 576, 588, 595f., 612, 619, 622, 625, 657 Wahrheitsfrage 55, 76, 170, 172, 176 Waite, A.E. 40 Wallenborn, H. 22, 28 Walther, M. 158, 160f., 218 Waxmann, M. 206 Wegrzynek, H. 281 Weinberg, J. 35, 49–54, 57, 133 Weiß, L. 137 Weiss A. 75, 77, 107. 163, 165, 215, 377f. Weller 137 Weltintellekt 254, 393 Weltmission 481, 486, 574 Weltseele 286, 393, 542–544, 550, 552, 563 Werblowsky, R.J.Z. 39 Werkheiligkeit 448–450, 569, 577, 615 Wesen der Religion 384f., 388, 418, 439, 478, 480, 483, 583, 588, 590, 607 Westerkamp, D. 34, 450, 486, 538f. Wiedebach, H. 636, 644 Wiener, Max 34, 42, 116,161, 578 Wiener, M. 35 Wiesenberg, H. 233 Wilke, C. 25, 582 Wilke-Primavesi, J. 19 Wille Gottes, göttlicher Wille 293, 362 Willensfreiheit 176, 220, 311, 403 Winkelmann, A. 65 Wirkattribute 206, 243, 258, 291f., 319 Wirklichkeit 25, 80f., 83f., 99f., 107, 131, 170, 198, 207, 209, 213, 215–
679 217, 268, 270, 280, 289, 291, 296, 300, 323, 361f., 369, 371f., 389, 393–396, 401, 426, 450, 460f., 484, 505, 534, 547–549, 609, 618, 622– 624, 632f., 639f. Wirszubski, Ch. 40 Wischnitzer, M. 466 Wissen 47f., 59–61, 65f., 69f., 72, 75f., 78, 85, 88, 91, 98, 115, 130, 136, 142, 147, 162, 167, 178, 237, 243f., 258, 281, 300, 316, 352–355, 363, 366, 368, 370, 375, 388, 450–452, 458, 461, 467, 518, 524, 526, 528, 531, 548, 551, 555, 557, 561–563, 567, 572f. Wissenschaft 17f., 21, 24, 31–33, 38f., 47, 57, 60f., 65, 68f., 72f., 76–78, 83, 85f., 89, 106, 112, 121, 125, 127f., 149, 159, 165, 167, 169f., 231, 240f., 248f., 281, 288f., 303f., 350, 353–361, 365, 371, 374–377, 379, 381, 389, 406, 420, 422, 425, 440f., 445, 451f., 459, 467f., 473, 480, 487, 499, 504, 516, 524, 528, 547f., 571, 578–583, 585, 589, 599f., 610, 620, 623f., 628, 641, 644, 646, 657 Wissenschaft des Judentums 32, 94f., 160f., 444, 446, 470, 476, 480, 502, 516, 578–580, 582f., 599, 617 Wölfel, K. 510 Wolff, Christian 343, 394, 396 Wolfson, H.A. 70, 160, 163, 190, 192, 195f., 201, 203, 210, 215, 221 Wortschöpfungstheologie 503, 505 Wortsinn 73, 129, 170, 172, 282, 338, 346, 475 Wyrwa, U. 38
Y Yadin, Y. 119 Yagel siehe Jagel Yerushalmi, Y.H. 35, 187, 570 Yovel, Y. 138f., 158
Z Zahalon, Jakob 60 Zahl(wert) 30, 54, 78, 128, 131, 176, 199, 299f., 309, 413
680 Zalewska, G. 281 Zamosc, Israel Ha-levi 31 Zaun um die Tora 120, 147 Zeit (philosophisch) 201, 207, 208, 226f., 307, 352, 362, 372, 373, 374, 376, 408–410, 464, 469, 586, 638 Zelem ’Elohim 263, 317, 458, 507 Zentrifugalkraft 358 Zentripetalkraft 358 Zeremonialgesetz 189, 407, 414f., 489, 567 Zeremonien 142f., 384, 414, 568f. Zimmermann, H.-D. 115, 178, 252, 283
Register Zimzum 323f. Zinberg, I. 49 Zink, W.S. 42, 490, 491–495 Zinser, H. 420 Zionswächter, Der treue 23, 230 Zizitgebot 116 Zöllner, Johann Friedrich 344 Züchtigung 404 Zunz, Leopold 35, 38, 444, 446, 461, 476, 580f., 656 Zwangschristen 136 Zwangstaufe 25 Zwi, Schabtai, Sabbatai 44f.