Janusz Korczak, der Brückenbauer: Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk [1. Aufl.] 9783658306229, 9783658306236

Die historisch systematische Studie von Kristina Schierbaum untersucht, unter welchen Umständen Janusz Korczak den Beruf

355 43 19MB

German Pages IX, 372 [380] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Janusz Korczak, der Brückenbauer (Kristina Schierbaum)....Pages 1-24
Brücken bauen als soziales Erbe der Familie (Kristina Schierbaum)....Pages 25-127
Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik (Kristina Schierbaum)....Pages 129-282
Eine Brücke zwischen den Generationen (Kristina Schierbaum)....Pages 283-346
Schlussbetrachtung: Die Bedeutung Janusz Korczaks (Kristina Schierbaum)....Pages 347-354
Back Matter ....Pages 355-372
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Janusz Korczak, der Brückenbauer: Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk [1. Aufl.]
 9783658306229, 9783658306236

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Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung

Kristina Schierbaum

Janusz Korczak, der Brückenbauer Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk

Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung Band 23 Reihe herausgegeben von Sabine Andresen, Frankfurt am Main, Deutschland Isabell Diehm, Frankfurt am Main, Deutschland Christine Hunner-Kreisel, Vechta, Deutschland Claudia Machold, Wuppertal, Deutschland

Die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Kindheitsforschung sind ungeheuer vielfältig und innovativ. Hier schließt die Buchreihe an, um dem Wissenszuwachs sowie den teilweise kontroversen Ansichten und Diskussionen einen angemessenen Publikationsort und breit gefächertes -forum zu geben. Gegenstandsbereiche der Buchreihe sind die aktuelle Kinderforschung mit ihrem stärkeren Akzent auf Perspektiven und Äußerungsformen der Kinder selbst als auch die neuere Kindheitsforschung und ihr Anliegen, historische, soziale und politische Bedingungen des Aufwachsens von Kindern zu beschreiben wie auch Theorien zu Kindheit zu analysieren und zu rekonstruieren. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen sind mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Kinder- und Kindheitsforschung verankert und tragen zur aktuellen Entwicklung bei. Insofern versteht sich die Reihe auch als ein neues wissenschaftlich anregendes Kommunikationsnetzwerk im nationalen, aber auch im internationalen Zusammenhang. Letzterer wird durch eine größere Forschungsinitiative über Kinder und ihre Vorstellungen vom guten Leben aufgebaut. Entlang der beiden Forschungsperspektiven – Kinder- und Kindheitsforschung – geht es den Herausgeberinnen der Reihe „Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung“ darum, aussagekräftigen und innovativen theoretischen, historischen wie empirischen Zugängen aus Sozial- und Erziehungswissenschaften zur Veröffentlichung zu verhelfen. Dabei sollen sich die herausgegebenen Arbeiten durch teildisziplinäre, interdisziplinäre, internationale oder international vergleichende Schwerpunktsetzungen auszeichnen. Reihe herausgegeben von Sabine Andresen Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Isabell Diehm Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Christine Hunner-Kreisel Universität Vechta Deutschland

Claudia Machold Bergische Universität Wuppertal Deutschland

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12221

Kristina Schierbaum

Janusz Korczak, der Brückenbauer Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk

Kristina Schierbaum Frankfurt am Main, Deutschland Dissertation Universität Frankfurt, 2018

ISSN 2512-0964 ISSN 2512-0972  (electronic) Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung ISBN 978-3-658-30623-6  (eBook) ISBN 978-3-658-30622-9 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30623-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Stand der Forschung: „Gesammelte Werke“ und Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1. Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.4 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie – Familiengeschichte als Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.1 Gelebte Lebensgeschichte(n) – Henryk Goldszmit als die verkörperte Beständigkeit seiner Ahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.2 Die Urgroßelterngeneration väterlicherseits . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.2.3 Die Großelterngeneration väterlicherseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2.4 Die Generation des Vaters und seiner Geschwister . . . . . . . . . . 46 2.2.5 Die Urgroßelterngeneration mütterlicherseits . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.6 Die Großelterngeneration mütterlicherseits . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2.7 Die Generation der Mutter und ihres Bruders . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.8 Die Kindergeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n) – Ein Versuch der Deutung der Genogrammdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3.1 Neun Jahrsiebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3.2 Ein Leben wie ein Partiturspiel – Brücken bauen als soziales Erbe der Familie . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

V

VI

Inhalt

3 Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rekonstruktion und Analyse von Theorie – Methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns . . 3.2.1 Dreißig Jahre Nachdenken über das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Janusz Korczaks Wissen – Ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Medizin – Janusz Korczak und die Pädiatrie . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Polens „Neue Erziehung“: Janusz Korczak und die Wissenschaft vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Medizin und Pädagogik im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Die Dreiheit von Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik . . . 3.3 Praxis als Können – Die Medikalisierung von Kindheit als Brückenschlag von der Medizin zur Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Soziale Arbeit bzw. Heimerziehung (in Polen) . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Janusz Korczak im Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die „Erziehungsklinik“ als Forschungssubjekt und Konzept von Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 „Erziehungsdiagnostik“ – Zur Methode in der „Erziehungsklinik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Grundsätze der Erziehung in Internaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Resümierend: „Doing Health“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . 3.4.1 Janusz Korczak über das Verhältnis von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Korczak-Forscher und -Forscherinnen zum Verhältnis von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Zusammenfassend: Zum Verhältnis von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Brückenschlag: Die Burse als Ort der Weitergabe von Wissen (Theorie) und Können (Praxis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers? . . . . . . . . . .

129 133 135 136 138 141 158 171 174 178 179 202 205 221 229 231 234 235 255 269 275 279

Inhalt

4 Eine Brücke zwischen den Generationen – (Jüdische Heim-)Kindheit im Warschau des 20. Jahrhunderts . . . . . . . 4.1 Über Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Janusz Korczak und das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 O-Töne zum Kind als dem Anderen und Fremden . . . . . . . . 4.2 Kindheit und Erziehung im „Dom Sierot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Kindheit und Erziehung in der Erinnerung von ehemaligen Zöglingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Kindheit als Moratorium – Das „Dom Sierot“ als Schutz- und Schonraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Soziale Arbeit mit dem Kind als dem Anderen – Kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

283 286 287 289 296 300 332 338

5 Schlussbetrachtung: Die Bedeutung Janusz Korczaks . . . . . . . . . . . . . 347 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

VII

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16

Janusz Korczaks Schrifttum (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Methodische Triangulation (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Drei Ebenen des Fallverstehens (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . 35 Genogramm der Familie Goldszmit (eigene Darstellung) . . . . . . . . . 39 Drei Strömungen des Judentums (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . 45 Namenvergabe Elterngeneration (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . 49 Generationenübersicht (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Ereignisse im vierten Jahrsiebt (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . 77 Drei-Generationen-Modell (I) nach Aumüller 2009: 76 . . . . . . . . . . 116 Drei-Generationen-Modell (II) – angewendet auf die Goldszmits (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 30 Jahre Nachdenken über das Kind nach SW Bd. 9: 424 f. . . . . . . . 136 Janusz Korczak in Berlin nach Graubner 1982: 148 ff. . . . . . . . . . . . 151 „Neue Erziehung“ in Polen nach Szymański 2002: 45 ff. . . . . . . . . . 162 Zusammenhang Medizin – Pädagogik – Schriftstellerei (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Janusz Korczaks Wissen – Ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen (eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Heime, die im Jahre 1940 von CENTOS unterhalten wurden nach Lewin 1998: 37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

IX

Janusz Korczak, der Brückenbauer 1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

1

1.1 Vorbemerkungen 1.1 Vorbemerkungen

„Ein Mann voller Widersprüche, von Zweifeln zerfressen, ein humaner Individualist und eine pathetische, vor allem jedoch tragische, Figur.“ (Bocian 1999: 226)

Meine Monographie widmet sich einer „kleinen“, aber „wichtigen“ (SW Bd. 15: 303) und vor allem außergewöhnlichen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Ihr Lebensende liest sich wie eine Legende, schwer und erinnerungswürdig zugleich. Ihr Name wurde auf die UNESCO-Liste der „100 Thinkers of Education“ des International Bureau of Education gesetzt. Er steht dort u. a. neben bekannten Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam, Jean-Jaques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi, Leo Tolstoi und Jean Piaget. Henryk Goldszmit alias Janusz Korczak, der Pädiater, Schriftsteller und Pädagoge ist „vor allem als moralische Instanz bekannt“ (Flitner 1992: 48) und hat in Warschau mehr als drei Jahrzehnte das „Dom Sierot“, ein Heim zur Koedukation jüdischer Sozial-, Halb- und Vollwaisen, geleitet. Er verlieh seinen Zöglingen eine Stimme und ließ sie ihre Welt aktiv mitgestalten. Sein (pädagogisches) Handeln war stets durch einen tiefen Glauben an den Wert und die Würde des Menschen und der Menschheit geprägt – Krisen, Konflikten und Kriegen zum Trotze. Janusz Korczaks Todestag jährte sich im August 2017 zum 75. Mal. Seine Person ist unvergessen und seine Wirkungsstätte (das „Dom Sierot“) ist unlängst zum „Mnemotop“ geworden. Der Begriff des Erinnerungsortes ist eine Wortneubildung und geht auf das Werk „Les lieux de mémoire“ (1984–1992) des französischen Historikers Pierre Noras (geb. 1931) zurück. Nora geht davon aus, dass sich das individuelle und kollektive Gedächtnis an bestimmten „Orten“ (an denen etwas Wichtiges

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Schierbaum, Janusz Korczak, der Brückenbauer, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30623-6_1

1

2

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

passiert ist) orientiert. Er unterscheidet prinzipiell mit Blick auf die französische Geschichte zwischen materiellen Erinnerungsorten (z. B. Regionen, Städte und Gebäude) und Erinnerungsorten im übertragenen Sinne (z. B. historische Ereignisse, Institutionen und Persönlichkeiten). Er forciert eine subjektive Wahrnehmung der Vergangenheit in individuellen oder Gruppenkontexten, so „dass jede Gruppe (ebenso wie Individuen) eigene Erinnerungen und Geschichtsbilder besitzen und dass sich diese unterscheiden können sowie Veränderungen und Entwicklungen unterworfen sind bzw. durch Agenten der Erinnerung (Geschichtspolitik) aktiv gestaltet werden“ (Weber 2011, o. S.). Das „Dom Sierot“ ist heute sowohl Kinderschutzeinrichtung1 als auch Sitz des „Korczakianums“ (einem Archiv und einer Forschungsstätte). Als solches ist es nicht nur ein materieller Erinnerungsort [ein Gebäude], sondern auch ein Erinnerungsort im übertragenen Sinne, weil es für eine Institution [das „Dom Sierot“] und eine Persönlichkeit [Janusz Korczak] steht. Um an seinen ehemaligen Leiter zu erinnern, wurde im Hof bzw. vor dem Haupteingang ein Denkmal mit seiner Büste aufgestellt und der ehemalige Speisesaal mit einer Fototapete gestaltet, die Janusz Korczak mit seinen Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und Zöglingen beim gemeinsamen Speisen zeigt. In der Biographie „Ein Leben für die Kinder“ (2002) zitiert Erich Dauzenroth aus den Versen des katholischen Priesters Jan Twardowski: „Es sind Rahmen, die ‚einsperren … was sich für den Käfig nicht eignet […]‘“ (Dauzenroth 2002: 9). Die Korczak-Literatur hat für ihren „Helden“ und „Heiligen“ sehr viele schmückende Titel und Namen gefunden. Sie rahmen seine Person, obwohl sie aus jedem Rahmen fällt, wie auch das folgende Zitat verdeutlicht: „Er war allen fremd, wenn er auch überall als ein achtbarer Ausländer respektiert wurde. Die Polen aus dem nationalen und klerikalen Lager konnten ihm seine jüdische Herkunft nicht verzeihen. Die nicht assimilierten sahen in ihm den polnischen Schriftsteller, den Repräsentanten der polnischen Kultur. Die soziale Linke, insbesondere die aktive revolutionäre Jugend, stieß er durch Skeptizismus ab, aber auch dadurch, daß er die Kinderfrage nicht mit dem Kampf um die Änderung des Gesellschaftsaufbaus verband. Für die Konservativen war er ein Linker, fast schon ein Bolschewik. In der literarischen Welt stand er abseits von Richtungen und Gruppen, wurde mit einem gewissen Bedauern bewundert: ein beachtliches Talent, aber illegitimer Herkunft, nämlich ‚von dieser Pädagogik da‘ gezeugt. Die Pädagogen verwirrte er mit dem Temperament des Volkstribunen, indem er ihnen die Maske vom Gesicht riß2 und 1 2

Es trägt gegenwärtig den Namen „Dom Dziekck“, dt. „Haus des Kindes“ (vgl. Nehustai 1999: 330). Beim Zitieren älterer Quellen werde ich darauf verzichten, eine Anpassung im Hinblick auf die Rechtschreibereformen der Jahre 1996 und 2006 vorzunehmen.

1.1 Vorbemerkungen

3

sie dem Zweifel aussetzte, ob ‚denn dieser ganze Korczak vielleicht nicht doch nur Literatur sei?‘“ (Newerly in Korczak 2012: XXX)3.

In dem Zitat deutet sich an, dass Janusz Korczaks Fremd-Werden verschiedene Tonlagen (vgl. Waldenfels 1997: 42) angenommen hat. Er ist immer dann zu einem Fremden geworden, wenn ihn eine Gruppe, in die man ihn hätte einordnen können, als nicht zugehörig wahrnahm. Er war „schlicht und ergreifend ein Quertreiber, naturwissenschaftlich interessiert, wo es um Human- und Sozialwissenschaften gehen soll, mit Familie beschäftigt, wo Professionalität gefordert wurde, für Kollektiverziehung und Heime, wo Familie als allein selig machend galt“ (Winkler 2013: 194). In der Erinnerung an Janusz Korczak [seine Person], sein Leben [seine Biographie] und Werk [sein literarisches und wissenschaftliches Erbe] werden Spannungen deutlich. Dass er als ein „Fremder“, „Quertreiber“ und „einsamer Wanderer“ wahrgenommen wird, verdeutlicht eine Art Außenseiterstellung. Dabei bringt die Rekonstruktion abwehrender Stimmen auch eine Offenheit mit sich, welche herrschende Diskurse nicht bloß wiederholt, sondern Janusz Korczak in den Spannungsfeldern von jüdischer Religion und polnischer Nation; Medizin und Pädagogik wie auch der heranwachsenden und erwachsenen Generation als einen „Brückenbauer“ in Erscheinung treten lässt. Janusz Korczak war jüdischer Herkunft, identifizierte sich aber auch mit der polnischen Kultur. Als polnischer Jude engagierte er sich für Kinder mosaischen Glaubens, die in den Warschauer Elendsquartieren geboren wurden und förderte ihr Hineinwachsen in die polnische Gesellschaft. Er wechselte scheinbar von der Medizin zur Pädagogik, war aber auch Literat und ist bereits vor seiner Ermordung im Vernichtungslager Treblinka weltbekannt geworden. Und auch wenn Janusz Korczak die Kinderfrage nicht mit dem Kampf um die Änderung des Gesellschaftsaufbaus verband, gilt er bis heute als Pionier der Kinderrechte und formulierte zum ersten Mal, dass Kinder nicht erst zu Menschen werden, sondern bereits welche sind (vgl. SW Bd. 1: 475). Eine erziehungswissenschaftliche Monographie über Janusz Korczak kann keine gewöhnliche sein und muss wie er etwas aus dem Rahmen fallen. Ihre Abfassung erfolgt nicht aus der Motivation heraus, einen akademischen Grad zu erreichen, sondern überliefern zu wollen. Die Geschichte des Humanisten Janusz Korczak hat sich ohne mein Zutun vollzogen, doch möchte ich zum aktiven Tradieren unseres Wissens über sein Leben und Werk beitragen. Ich werde in meiner Dissertations3

Igor Newerly (1903–1987, polnischer Pädagoge und Schriftsteller) lernte Janusz Korczak 1925 kennen und wurde ein Jahr darauf sein Sekretär im „Dom Sierot“. 3

4

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

schrift immer dann nicht im Rahmen bleiben, wenn es darum geht, über bisherige Forschungsfragen bzw. ihre Antworten, aber auch meine eigenen Fachgrenzen (inhaltlich wie methodisch) hinauszugehen, um meinem Forschungssubjekt Henryk Goldszmit / Janusz Korczak gerecht zu werden.

1.2

Stand der Forschung: „Gesammelte Werke“ und Rezeptionsgeschichte

1.2

Stand der Forschung

Im Folgenden möchte ich den Stand der Forschung skizzieren, um darzustellen, welches Wissen von und über Janusz Korczak bisher tradiert wurde. Es ist in einem ersten Schritt notwendig, die Bedeutung der „Gesammelten Werke“ herauszuarbeiten, weil erst durch sie sein Gesamtwerk im Ganzen in deutscher Übersetzung vorlag. In diesem Rahmen bietet es sich an, auch die fünfzehn Bände der Werkausgabe im Einzelnen vorzustellen, um einen Ein- und Überblick über die nicht-fiktionalen und fiktionalen Arbeiten Janusz Korczaks zu erhalten. Der Abschnitt wird zeigen, wie vielfältig sein Schrifttum ist und zum Verständnis darüber beitragen, warum er auch posthum noch als (Fach-)Fremder wahrgenommen wird. In einem zweiten Schritt werde ich innerhalb der Rezeptionsgeschichte darlegen, wie Janusz Korczaks schriftliche Hinterlassenschaft bei den Rezipienten und Rezipientinnen im Verlauf der Zeit angekommen ist. Die produktive Textrezeption ist dabei von zentraler Bedeutung, um die vier Forschungsstränge herauszuarbeiten, die sich bisher im Diskurs über Janusz Korczak durchsetzen konnten.

„Gesammelte Werke“ Quellen sind unmittelbare Überreste und Spuren der Vergangenheit, mit deren Hilfe sich Geschichte rekonstruieren lässt (Borowsky / Vogel und Wunder 1989: 120). Ausgewählte Quellen bilden als Korpus die empirische Basis meiner Erkenntnisarbeit und in seinen Schriften hielt Henryk Goldszmit alias Janusz Korczak eine mittlerweile vergessene Wirklichkeit fest. Seine „Gesammelten Werke“ (etwa 8.000 Seiten mit Kommentierungen, darunter 24 Monographien, ca. 1.000 Artikel sowie einige Theaterstücke und Rundfunkbeiträge) geben als Primärquellen ein Zeugnis von ihr. Bei den „Gesammelten Werken“ handelt es sich nicht um eine von Janusz Korczak autorisierte Werkausgabe, sondern um eine Sammlung aus zweiter Hand, die alles4, 4 „Alles“ bezieht sich auf erhaltene Erstdrucke, weil die meisten Handschriften oder schriftstellerischen Entwürfe nicht überliefert werden konnten.

1.2 Stand der Forschung

5

was er jemals in Schriftform als Gedächtnis gestiftet hat, nach der Übersetzung vom Polnischen ins Deutsche unter verschiedenen Kategorisierungs- und Ordnungspunkten vereint. Die „Gesammelten Werke“ liegen seit dem Jahr 2010 in fünfzehn Bänden und zwei Ergänzungsbänden vor. Darunter sind sowohl nicht-fiktionale als auch fiktionale Arbeiten, die nicht nur ein Spiegel seines Selbst und dessen Entwicklung, sondern auch ein Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes sind: Mehr als vier Jahrzehnte publizieren

Abb. 1 Janusz Korczaks Schrifttum (eigene Darstellung)

Abbildung eins („Janusz Korczaks Schrifttum“) macht deutlich, wie vielfältig Janusz Korczaks Schrifttum ist. Es lässt sowohl thematisch als auch im Hinblick auf die Entstehungs- und Publikationskontexte, Gattungen und Textsorten ein vielfältiges Œvre erkennen. Nur eine Zusammenschau des gesamten Schrifttums lässt die Mannigfaltigkeit seiner Gedankenlinien hinreichend würdigen. Im Anschluss stelle ich die ersten fünfzehn Bände schlaglichtartig vor, um einen inhaltlichen Überblick über die „Gesammelten Werke“ zu geben und zu zeigen, mit welchen 5

6

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

Themen und Fragstellungen sich Janusz Korczak seinerzeit auseinandergesetzt hat. Erich Dauzenroth (1931–2004) und Friedhelm Beiner (geb. 1939) haben die Arbeit an der Edition in den 1990er Jahren begonnen. Der erste Band konnte 1996 in Anlehnung an die polnische Werkausgabe im Gütersloher Verlagshaus mit Unterstützung der „Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit“ erscheinen, vierzehn weitere Bände folgten: Band 1 Band 2

Band 3

Band 4 Band 5

Band 6

Band 7

Band 8

enthält die frühen Romane „Kinder der Straße“ (1901) und „Kind des Salons“ (1906). versammelt alle journalistischen Arbeiten (darunter auch Humoresken, Satiren und Bagatellen), die zwischen den Jahren 1896 bis 1911 im satirischen Wochenblatt „Kolce“ (dt. „Stacheln“) publiziert wurden. Ergänzt wird der zweite Band von Janusz Korczaks Passagen der Mehr-Autoren-Erzählung „Lokaj“ (dt. „Der Lakai“, 1900). legt Schriften vor, welche die Dokumentation der komplexen Entwicklungsanforderungen des heranwachsenden Menschen wissenschaftlich und literarisch reflektieren. „Bobo“ (1914), „Eine Unglückswoche“ (1914), „Wenn ich wieder klein bin“ (1914), „Regeln des Lebens“ (1930) und „Beichte eines Schmetterlings“ (1914) gründen sich auf Janusz Korczaks eigene Beobachtungen und Erfahrungen. vereint die vier pädagogischen Hauptschriften „Wie man ein Kind liebt“ (1. Teil 1919), „Erziehungsmomente“ (1919), „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1929) und „Fröhliche Pädagogik“ (1938 / 39). versammelt „Der Frühling und das Kind“ (einen Vortrag, 1921), „Allein mit Gott“ (ein Gebet, 1921 / 22), „Senat der Verrückten“ (ein Theaterstück, das 1931 uraufgeführt wurde), „Die Menschen sind gut“ (satirische Miniaturen, 1938) und die „Drei Reisen Herscheks“ (eine Darstellung des biblischen Kindes Mose und Palästina-Schriften für Kinder, 1939). Die Texte stammen allesamt aus den Jahren der polnischen Unabhängigkeit (1918 bis 1939). enthält die frühen journalistischen Arbeiten des Medizinstudenten Janusz Korczak, die zwischen den Jahren 1898 und 1911 nahezu ausnahmslos in der Wochenschrift „Czytelnia dla Wszystkich“ (dt. „Leihbibliothek für alle“) erschienen sind. Darunter auch „Geschichten und Erzählungen“, „Belehrungen und Betrachtungen“ und „Die Schweizreise“. dokumentiert, wie sich der junge Janusz Korczak mit den gesellschaftlichen Problemen Polens im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert auseinandergesetzt hat („Sozialkritische Publizistik“). Außerdem ist im siebten Band die Sozialutopie „Die Schule des Lebens“ (1907 / 08) abgedruckt. vereint die „Sozialmedizinischen Schriften“ – darunter „Eindrücke und Erfahrungen des jungen Arztes“ (1905 bis 1928), „Pädiatrische Arbeiten zur Säuglingspflege“ (1904 bis 1911), „Beiträge zur Gesundheitspolitik“ (1904 bis 1926), über „Ärztliches Denken und Handeln“ (1898 bis 1923) und „Pädologische Arbeiten“ (1923 bis 1937). Sie geben einen Eindruck seines Wirkens als Arzt und Erzieher.

1.2 Stand der Forschung

Band 95 Band 10

Band 11 Band 12 Band 13 Band 146

Band 157

7

fasst aus 42 Jahren publizistischem Schaffen alle Kurzveröffentlichungen in „Theorie und Praxis der Erziehung“ und „Pädagogische Essays“ zusammen. enthält „Eindrücke und Notizen aus Sommerkolonien“ (1904), „Die Mojscheks, Joscheks und Sruleks“ (1910), „Die Józeks, Jasieks und Franeks“ (1911) und „Ruhm“ (1913). Sie geben Erlebnisse und Impressionen aus den Jahren 1904, 1907 und 1908 wider, als Janusz Korczak Jungen während ihrer Ferienaufenthalte auf dem Lande betreut hat. versammelt die „König-Macius-Erzählungen“ (1923) – zwei Kinderbücher, die Janusz Korczak als Autor für Kinder weltbekannt machten. legt zwei weitere Kinderbücher vor – „Der Bankrott des kleinen Jack“ (1924) und „Kajtus, der Zauberer“ (1935). enthält eine Beschreibung des Lebens und Werks Louis Pasteurs (1938). Außerdem vereint er die „Publizistik für Kinder und Jugendliche“ (1921 bis 1942) und „Berichte und Geschichten aus den Waisenhäusern“ (1913 bis 1942). schließt alle Texte ein, die Janusz Korczak für die „Kleine Rundschau“ (1926 bis 1938) geschrieben hat. Sie erschien als wöchentliche Beilage zu einer großen polnisch-jüdischen Tageszeitung und etablierte sich als eigenständiges Publikations-Organ jüdischer Kinder. Außerdem sind im vierzehnten Band die überlieferten „Chanukka- und Purim-Szenen“ (1926 bis 1938) abgedruckt. enthält neben 55 Briefen an Freunde und Freundinnen in Palästina auch eine Vielzahl weiterer Texte aus Janusz Korczaks Nachlass. „Tagebuch – Erinnerungen“ (1942) ist das letzte Schriftzeugnis, das von ihm aus dem Warschauer Ghetto herausgelangen konnte.

Die Ordnung bzw. Gliederung der „Gesammelten Werke“ richtet sich im Wesentlichen nach dem Lebensalter der von Janusz Korczak adressierten Leser und Leserinnen. Darüber hinaus wurden die Bände so zusammengestellt, dass neben Buchveröffentlichungen und größeren Texten, die in einer Zeitschrift oder Zeitung erschienen sind, gleiche oder ähnliche Textsorten in Bänden spezifischer Thematik vereint sind. Die Beiträge in den Einzelbänden wurden nach Möglichkeit in chronologischer Reihenfolge und nach Publikationsorganen abgedruckt. Dabei verpflichteten sich die Übersetzerinnen in Form und Inhalt stets dem polnischen Original, so dass sie nicht nur zeitbedingte und spezifisch polnische Ausdrucksweisen, sondern auch den Aufbau und die Struktur des Textes soweit wie möglich übernommen bzw. im Deutschen nachgebildet haben. Das Ziel der Edition war es, die Nähe zum Original trotz Einhaltung der Regeln der deutschen Grammatik 5 Die Bände 1 bis 9 richten sich vornehmlich an eine erwachsene Leserschaft. 6 Die Bände 10 bis 14 wenden sich überwiegend an Kinder und Jugendliche. 7 Die Band 15 enthält vor allem biographisches Material zu Janusz Korczak. 7

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zu bewahren, um die wissenschaftliche Arbeit an seinem Werk autorentreu zu ermöglichen (vgl. SW Bd. 1: 487 f.). Den „Gesammelten Werken“ wurde eine ausführlichere Beschreibung zuteil, um zu zeigen, wie umfangreich Janusz Korczaks Gesamtwerk ist. Wenn man sich mit seinem Leben und Werk wissenschaftlich auseinandersetzen möchte, ist die Vielfalt eine Chance und Herausforderung gleichermaßen. Bei meiner Relektüre gilt es, stets den Überblick zu bewahren, um für jede Fragestellung die geeignete(n) Quelle(n) auszuwählen.8

Rezeptionsgeschichte Zur deutschen Rezeptionsgeschichte liegen bislang drei ausführlichere Beiträge vor. Erich Dauzenroth schrieb über „Korczak, Deutschland und die Deutschen“ (1994), Friedhelm Beiner zusammen mit Silvia Ungermann „Zur Rezeption der Pädagogik Korczaks in der deutschen Erziehungswissenschaft“ (1998) und Friedhelm Beiner „Zur Rezeption der Achtung. Eine Bestandsaufnahme der deutschsprachigen Rezeption anlässlich des Korczak-Jahres 2012“. Meine Rezeptionsgeschichte wird sich an ihnen orientieren und ggf. weitere (interessante) Punkte ergänzen. Ziel ist es, die vier Stränge herauszuarbeiten, die sich bisher im Diskurs über Janusz Korczak durchgesetzt haben. Das erste Kinderbuch9, das von Janusz Korczak in deutscher Sprache im Williams & Co. Verlag Berlin erschienen ist, war „Der Bankrott des kleinen Jack“ (vgl. Beiner 2013: 26). Das Buchcover von 1935 zeigt einen blonden Jungen (Jack). Er trägt einen roten Pullunder und sitzt nachdenklich auf einem Hocker. Auf seinen übereinander geschlagenen Beinen liegt ein Buch. Im Hintergrund erkennt man die Skyline einer amerikanischen Großstadt, denn die Geschichte, mit der Janusz Korczak seinen jungen Lesern und Leserinnen die Prinzipien des Finanz- und Gemeinschaftswesens zu erklären versucht, spielt im fernen Amerika. Das Buch 8 Ich werde in meiner Dissertationsschrift mit ausgewähltem Material der Bände 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 15 und den Ergänzungsbänden arbeiten. 9 Bis heute nimmt der Kinderbuchautor Janusz Korczak selbst Haupt- und Nebenrollen in Kinderbüchern ein. Zu denken ist an Tomek Bogackis „Janusz Korczak: Ein Held der Kinder“ (2010), Iwona Chmielewskas „Blumkas Tagebuch. Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus“ (2011), Adam Jaromirs „Fräulein Esthers letzte Vorstellung: Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto“ (2013), Irène Cohen-Jancas und Maurizio A. C. Quarellos „Die letzte Reise: Janusz Korczak und seine Kinder“ (2015) oder Karlijn Stoffels und Mirjam Presslers „Mojsche und Reijsele“ (2016). Bücher, die das „Dom Sierot“ als Ausgangspunkt (fantastischer) und kindgerechter Erzählungen haben; die sich so hätten zutragen können oder zugetragen haben und die häufig mit Liebe zum Detail illustriert sind.

1.2 Stand der Forschung

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machte seinen Autor über die Grenzen Polens hinaus bekannt, so dass sein Name auch im Deutschen Reich unter der NS-Diktatur ein Begriff war. Die deutsche Besetzung Polens (1939 bis 1945) und der Zweite Weltkrieg haben Not und Elend über die Nation gebracht. Janusz Korczak ließ sich zwar weder das Schreiben noch seine Radioplaudereien verbieten, doch hatte sich die Reaktion auf seinen Namen verändert. Seine „polonisierte“ Identität war unlängst mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung gebracht worden, so dass er nicht mehr als „Janusz Korczak“, sondern unter dem Pseudonym des „alten Doktors“ vor das Radiomikrophon bzw. die Öffentlichkeit treten musste. Es vergingen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als zwei Jahrzehnte, bis Janusz Korczaks Name wieder in der deutschen Öffentlichkeit genannt wurde. 1957 wurde das Bühnenstück „Korczak und die Kinder“10 von Erwin Sylvanus (1917–1985) zu einem internationalen Erfolg. Es sollte an das Schicksal des Waisenhausleiters und „seiner“ 200 Waisenkinder erinnern. Das Theaterstück wurde sowohl in der Deutschen Demokratischen Republik als auch in der Bundesrepublik Deutschland aufgeführt. 1959 war das Hörspiel „Korczak und die Kinder“ von Fritz Göhler der Auftakt einer Reihe von fiktionalen Rundfunksendungen in der DDR. Auch der Deutschlandsender sendete am 22.06.1959 eine eigene Hörspielproduktion, vier Monate nach einer Hörspielfassung des Bayrischen Rundfunks (vgl. Gerlof 2010: 141). Im selben Jahr wurde auch die zweiteilige Kinder-Utopie „König Hänschen I.“ erstmals in deutscher Sprache verlegt. Erst als polnische und jüdische Autoren und Autorinnen11 zu Janusz Korczaks Leben auch in deutscher Sprache Stellung bezogen, wurde ein größerer Leserkreis auf ihn aufmerksam und der „Mythos Korczak“ begründet. Es ist in den Jahren zwischen 1945 und 1972 neben einer Popularisierung seiner Lebens- und Leidensgeschichte12 in Zeitungsartikeln und kleineren Beiträgen auch zu einer Verbreitung „attraktiver Titel“ (vgl. Beiner und Ungermann 1998: 5) gekommen. Es ist der Verdienst Vandenhoeck & Ruprechts, dass nach „König Hänschen I.“ mit „Wie 10 Erich Dauzenroth sah die deutsche Uraufführung des Stückes und wurde dadurch angeregt, sich intensiver mit den Ideen Janusz Korczaks auseinanderzusetzen. Er war im deutschen Sprachraum in einem hohen Maß an der Verbreitung seiner Gedanken zu den Kinderrechten und einer Erziehung zur Selbständigkeit beteiligt. 11 Unter ihnen waren vor allem Weggefährten, Weggefährtinnen, Freunde, Freundinnen und ehemalige Zöglinge. 12 Die erste Phase der Korczak-Rezeption war in dieser Weise vielleicht nötig, „um Korczak [überhaupt] ins Bewußtsein zu bringen, so wie die Wundergeschichten nötig waren, die von den Heiligen erzählt wurden, ehe man begriff, daß sie nur Menschen waren, Menschen mit einem vielleicht ungewöhnlichen Lebensstil und mit ungewöhnlichen Überzeugungen“ (Pelzer 1987: 19). 9

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1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

man ein Kind lieben soll“ (1967) ein weiterer Primärtitel neben einer kleinen Zahl übersetzter Auszüge und Beiträge in den Zeitschriften „Die Sammlung“ (später „Neue Sammlung“) gedruckt werden konnte. Im selben Jahr ist auch die Biographie Hanna Mortkowicz-Olczakowas („Janusz Korczak. Arzt und Pädagoge“) in der BRD erschienen, sechs Jahre später als in der DDR. Die Rezeption seiner pädagogischen Hinterlassenschaft nahm erst im Jahre 1970 mit Otto Friedrich Bollnows (1903–1991) Buchbesprechung zu „Wie man ein Kind lieben soll“ eine Wendung. In seiner Zusammenfassung stellte Bollnow die zentralen Elemente der Korczak-Pädagogik einer breiteren Leserschaft vor. Außerdem wurde Janusz Korczak 1972 posthum der „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“ verliehen und er als Schriftsteller ausgezeichnet (vgl. ebd.: 6). Der „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ ist ein internationaler Friedenspreis, der jährlich zur Frankfurter Buchmesse vom „Börsenverein des Deutschen Buchhandels“ verliehen wird. Janusz Korczaks Auszeichnung war mit einer internationalen Publizität verbunden, weil erstmals ein Schriftsteller posthum geehrt wurde. Im Zuge dessen entstanden neben Artur Brauners Spielfilm „Sie sind frei, Dr. Korczak“ (1974)13 auch internationale Korczak-Bewegungen. Zu erinnern sind bspw. die Gründungen der „Deutschen Korczak Gesellschaft“ in Gießen (1977) und der „Internationalen Korczak Gesellschaft“ in Warschau (1978). Seit dem Jahre 1978 nahmen die Veröffentlichungen der (pädagogischen) Quellentexte zu, so dass bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwa die Hälfte seines Werkes in deutscher Übersetzung vorlag. Neben Vandenhoeck & Ruprecht beteiligten sich auch das Verlagshaus Mohn und die Verlage Knaur, Suhrkamp, Haag & Herchen, Agentur Dieck und Thienemann an der Herausgabe (vgl. ebd.: 6). Eine umfassende Beschäftigung aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wurde aber erst nach dem Vorliegen der „Gesammelten Werke“ (2010) als Gesamtausgabe möglich. Bis dahin haben sich im Diskurs über Janusz Korczak im Wesentlichen vier Stränge durchgesetzt: • Sie erhalten entweder den „Mythos Janusz Korczak“ aufrecht, dessen Leben und Werk von seinem Ende her gedacht wurde14, weil er sich mit „seinen“ Kin-

13 Ein zweiter Film („Korczak“) erschien 1990. Der polnische Filmemacher Andrzej Wajda stellt in ihm mit eindrücklichen Schwarzweiß-Bildern und einer ruhigen Erzählweise ein filmisches Porträt Janusz Korczaks und seiner Arbeit im „Dom Sierot“ dar. 14 Dieser Strang erscheint im Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte als „zeitlos“. Vielleicht ist der „Mythos Janusz Korczak“ aber ein (guter) Ausgangspunkt, um sich überhaupt mit seinem Lebenswerk auseinanderzusetzen. Die Gefahr des Vergessens ist latent und Janusz Korczaks Schicksal kann stellvertretend für viele namenlose Opfer der Shoah

1.2 Stand der Forschung

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dern am Umschlagplatz versammelt und mit ihnen den Waggon in Richtung Vernichtungslager Treblinka bestiegen hat; • referieren bloß beschreibend über seine pädagogische Theorie und Praxis; • nehmen eine Fokussierung der Fragestellungen auf eine „konstitutionelle Pädagogik“15 hin vor; • oder greifen erneut die Diskussion der gegenwärtigen Bedeutung der von ihm formulierten „Rechte des Kindes“16 im Kontext der UN-Kinderrechtskonvention auf. Neben Erich Dauzenroth und Friedhelm Beiner, die im Wesentlichen17 für die Herausgabe der „Gesammelten Werke“18 verantwortlich waren, gibt es bis heute nur wenige Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen, die sich im deutschsprachigen Raum intensiver und über eine längere Zeit fachwissenschaftlich mit Janusz Korczak und seinem Erziehungskonzept auseinandergesetzt haben. Beiner führt an, dass seit dem Jahre 1957 zwar einige 100 Zeitungs- und mehr als 200 Zeitschriftenartikel über Janusz Korczaks Leben und Werk erschienen sind, aber weniger als 30 von ihnen in pädagogischen Zeitschriften abgedruckt wurden (vgl. ebd.: 7). Seine Rezeption war und ist nicht an ein erziehungswissenschaftliches Fachpublikum, sondern an einen breiteren Kreis adressiert. Deshalb wurden über Janusz Korczak auch mehr populärliterarische als fachwissenschaftliche Publikationen veröffentlicht.

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stehen. Es ist in unserer Zeit durchaus auch eine Mahnung, dass sich Geschichte nicht wiederholen soll. Unter einer konstitutionellen Pädagogik (im Sinne Janusz Korczaks) ist die Bindung der Erziehung an eine Verfassung zu verstehen, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht. Weil Kinder nicht erst Menschen werden, sondern bereits welche sind, unterscheiden sie sich von den Erwachsenen lediglich im Hinblick auf ihre körperliche Entwicklung und ihre Lebenserfahrung. Im „Dom Sierot“ gestalteten sie das Erziehungsverhältnis zusammen und es wurde sich an die „Heimregeln“ gehalten. In der „Magna Charta Libertatis“, dem Grundgesetz für das Kind, hielt Janusz Korczak drei Grundrechte fest: 1. das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod, 2. das Recht des Kindes auf den heutigen Tag und 3. das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist (vgl. SW Bd. 4: 40). An einigen waren auch Silvia Ungermann und Michael Kirchner beteiligt. In Bezug auf die „Gesammelten Werke“ ist neben den zwei Ergänzungsbänden („Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen. Mitarbeiter, Kinder und Freunde berichten“ und „So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks“) noch Band 16 zu nennen, der die Werk-Biographie aus der Feder Friedrich Beiners enthält. 11

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1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

Seit den 1960ern und 1970ern finden sich außerdem viele Zeitzeugen- und Zeitzeuginnenberichte, die den „Mythos Janusz Korczak“ als Aufhänger nutzten, um auch seine pädagogischen Ideen zu beschreiben. Sie gingen thematisch aber nur selten über die Institutionen der Selbstverwaltung und die Kinderrechte hinaus. Viele Autoren und Autorinnen fassten seine Schriften inhaltlich zusammen, statt sein pädagogisches Gedankengut kritisch zu lesen und zu analysieren. Mit der Gründung der „Deutschen Korczak Gesellschaft“ fand sich zwar regelmäßig ein Kreis Interessierter und (wissenschaftlich) Kundiger zusammen, um zu diskutieren und sich auszutauschen, aber die Resultate der Workshops (etwa in Arnoldshain, Gießen, Wuppertal oder Loccum) waren – so die Kritik Beiners – lediglich Sammelbandbeiträge in Bezug auf unterschiedliche Fragestellungen bei nicht gleicher Qualität (vgl. ebd.: 8). Die Analyse des komplexen Gesamtwerkes ist in seiner Ganzheit auch im Hinblick auf die Anzahl der Dissertationen und Monographien noch nicht ausgeschöpft. Eine Auswahl soll aufzeigen, wer im deutschen Sprachraum19 zu Janusz Korczak forscht(e). Sie beschränkt sich auf diejenigen, die mehr als Sammelbandbeiträge, Lexikonartikel oder Zeitschriften- und Zeitungsartikel zu ihm veröffentlicht haben. Die Auswahl20 ist chronologisch geordnet: 19 Ich werde neben deutschsprachigen Publikationen auch englischsprachige Sekundärliteratur in meine Forschungsarbeit einbeziehen. Aufgrund von Sprachbarrieren wird es mir nicht möglich sein, auch Monographien aus Polen zu berücksichtigen. 20 Ohne die gewählte Einschränkung auf die Diskurs-Stränge sind bspw. auch Magdalene Benden („Das Wohl des Kindes in der Pädagogik von Janusz Korczak“ 1987), Bruno Bettelheim („Janusz Korczak: Ein Gerechter in unserer Zeit“ 1990), Karl Heinz Bohrer („Unsere Despotie über die Kinder. Die Problematik des Friedenspreises und Hentigs Rede über Korczak“ 1972), Maria Falkowska („Die Erziehungsmethoden und -mittel Janusz Korczaks. Genese, Entwicklung und pädagogische Funktion“ 1991), Walter Fleischer („Korczak, ein Sicherheits-Erzieher?“ 1984), Hermann Giesecke („Janusz Korczak – Der Anwalt des Kindes“ 1972), Rudolf Gönner („Theoretiker und Praktiker der Erziehung. Zum 25. Todestag Janusz Korczaks“ 1967), Rolf Göppel („Janusz Korczak und die Kindheitsforschung in seiner und in unserer Zeit“ 1997), René Görtzen („Janusz Korczak als unbehauster Gläubiger“ 2004), Ferdinand Klein („Janusz Korczak – Hilfe beim Suchen des reinen Erziehungsbegriffs“ 1982), Zwi Erich Kurzweil („Janusz Korczak als Waisenhausvater“ 1974), Elisabeth Lax-Höfer („Leben und Lernen im Augenblick. Janusz Korczak und die aktuelle Erziehungs- und Bildungsdebatte in der Elementarpädagogik“ 2004), Aleksander Lewin („Das Wesentliche in Korczaks Inspirationen“ 1984), Werner Licharz („Janusz Korczak – Mehr als ein pädagogisches Credo“ 1991 oder „Janusz Korczak – Vorbild für Kinder und Erwachsene“ 1984), Katja Maar („Handlungsleitende Prinzipien gegenwärtiger Sozialer Arbeit vor dem Hintergrund der Pädagogik Janusz Korczaks“ 2004), Igor Newerly („Über Janusz Korczak“ 1991), Jürgen Oelkers („Korczak als Pädagoge“ 1996 oder „Liebe als pädagogisches Thema. Überlegungen an Anschluss an Korczak“ 1987),

1.2 Stand der Forschung

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• Die Sozialpädagogin Elisabeth Heimpel (1902–1972) hat gemeinsam mit dem Historiker Hans Roos (1919–1984) „Wie man ein Kind lieben soll“, „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1970) und „Begegnungen und Erfahrungen“ (1973) herausgegeben. Ihr sind auch wichtige Beiträge zu Janusz Korczak in „Die Sammlung“ (später „Neue Sammlung“) zu verdanken. • Herwart Kemper setzt sich in „Erziehung als Dialog“ (1990) mit „Anfragen an Janusz Korczak und Platon-Sokrates“ auseinander. Kemper unternimmt den Versuch, den dialogischen Erziehungsbegriff als Kritik am neuzeitlichen Generationen- und Erziehungsverhältnis zu deuten. • Michael Langhanky nähert sich ihm in „Die Pädagogik von Janusz Korczak: Dreisprung einer forschenden diskursiven und kontemplativen Pädagogik“ (1994) auf drei Ebenen an und arbeitet seinen besonderen pädagogischen Ansatz heraus. Im ersten Teil nimmt Langhanky Bezug auf die Reformpädagogik und ihre aufklärerischen Wurzeln, im zweiten Teil beschreibt er Janusz Korczaks Identitätslinien und im dritten Teil deutet er Erziehung als einen Akt des Diskurses, der Handlungsforschung und der Kontemplation. Auch in „Auf der Suche nach einem anderen Wir. Kleine Narrative zu einer kritischen Sozialen Arbeit“ (2017) – herausgegeben von Michael Kirchner, Timm Kunstreich und Barbara Rose – nimmt Langhanky Bezug auf Janusz Korczak, wenn er fordert, dass Pädagogik und Soziale Arbeit auf einer Handlungsforschung gründen sollen. • Bruno Schonig (1937–2001) beschreibt in „Auf dem Weg zur eigenen Pädagogik. Annäherungen an Janusz Korczak“ (1999) die Versuche, sich auf dessen pädagogische Texte einzulassen. • Kees Waldijks Biographie „Janusz Korczak. Vom klein sein und groß werden“ (1999) geht auch der Frage auf den Grund, was wir aus dem, was Janusz Korczak über Kinder geschrieben hat, über Kinder lernen können. Um die aktuelle Bedeutung seiner Pädagogik herauszuarbeiten, erweitert Waldijk seinen Werdegang um Schilderungen über das „Dom Sierot“ und die Grundansichten seiner pädagogischen Praxis. • Uwe Radtke beschreibt in „Janusz Korczak als Pädagoge. Zum Recht des Kindes auf Achtung“ (2000) neben den Einflussfaktoren auf die Pädagogik auch sein pädagogisches System und die Umsetzung seines Erziehungsverständnisses in die Praxis.

Ilona K. Schneider („Kindheit aus der Perspektive von Kindern. Aktualität Korczaks gewendeter Perspektive“ 2004), Marc Silvermann („Korczaks Weltanschauung und Gottesbild“ 2004) oder Ilse Renate Wompel („Janusz Korczak – Ein Reformpädagoge?“ 1982) zu nennen. 13

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• Phillipp Hermeier setzt sich in seiner Dissertationsschrift „Die politische Relevanz der Erziehung bei Janusz Korczak“ (2006) nicht nur mit dem Menschenbild, der Gesellschaftskritik und den grundlegenden pädagogischen und politischen Prinzipien Janusz Korczaks auseinander, sondern beschäftigt sich auch mit den Freiheitsrechten des Kindes und den politischen Elementen des Erziehungsalltags. • Silvia Ungermann war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Korczak-Forschungsstelle an der Universität Wuppertal und legte 2006 mit ihrer Monographie „Die Pädagogik Janusz Korczaks: Theoretische Grundlegung und praktische Verwirklichung 1896 bis 1942“ die erste umfassende Darstellung des wissenschaftlichen und literarischen Werkes Janusz Korczaks vor. • Malgorzata Sobecki analysiert die Verbindungen Janusz Korczaks zu der Sonderpädagogin Maria Grzegorzewska und der Sozialpädagogin Helena Radlinska in „Janusz Korczak neu entdeckt: Pädologe und Erziehungsreformer“ (2008). Seine Aktivitäten und sein pädagogisches Konzept werden im Kontext polnischer Reformbewegungen untersucht. • Waltraut Kerber-Ganse hat mit „Die Menschenrechte des Kindes“ (2009) den Versuch unternommen, die Perspektiven der UN-Kinderrechtskonvention mit der Pädagogik von Janusz Korczak zu verschränken. • Monika Kaminskas „Dialogische Pädagogik und die Beziehung zum Anderen“ (2010) nimmt die Kritik der geläufigen Lesart, welche Janusz Korczaks ethische und pädagogische Auffassungen mit denen Martin Bubers gleichsetzt, zum Ausgangspunkt. • Manfred Liebl organisierte anlässlich des Internationalen Korczak-Jahres (2012) an der Freien Universität zu Berlin eine Konferenz, deren Beiträge im Tagungsband „Janusz Korczak – Pionier der Kinderrechte“ (2013) dokumentiert sind. Gemeinsam mit Urszula Markowska-Manista operierte er zuletzt in „Mit Hoffnung der Verzweiflung und Hilflosigkeit widerstehen. Nachdenken über Janusz Korczak“ (2015) mit dem Begriff der Resilienz. • Auch Michael Winkler arbeitet zu Janusz Korczak und hat zu ihm bereits mehrere (kleinere) Beiträge veröffentlicht, zuletzt „Janusz Korczak und die Pädagogik der Nicht-Erziehung“ (2016). Eine Monographie ist angekündigt, ihr Druck steht bisher noch aus. • Sigur Hebenstreit hat mit „Janusz Korczak. Leben – Werk – Praxis“ (2017) versucht, ein Studienbuch vorzulegen, das die Breite seines Werkes als Schriftsteller, Kinderarzt, Sozialpolitiker, Theoretiker und Praktiker der Pädagogik übersichtlich darstellt. • Ferdinand Klein hat in seinem Band „Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten“ (2018) die eigenen Erfahrungen in der Praxis mit seinem Verständnis der

1.2 Stand der Forschung

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Korczak-Pädagogik verbunden, um eine andere bzw. neue Sichtweise auf das Konzept von „Inklusion“ zu etablieren. • Michael Kirchner arbeitete als niedergelassener Arzt, bevor er sich dem pädagogischen Wirken Janusz Korczaks zuwandte.21 Jüngst erschien die gemeinsame Monographie „Janusz Korczaks ‚schöpferisches Nichtwissen‘ vom Kind“ (Kirchner, Andresen22 und Schierbaum 2018). Die Monographie – ein „Drei-Generationen-Projekt“ – zeichnet die Impulse, die Janusz Korczak der Kindheitsforschung als ausgewiesener Praktiker und Theoretiker gegeben hat, nach und bemüht sich um die Darstellung der Methoden, die er im Umgang mit Kindern und für das Erkennen des Kindes durchgeführt und sublimiert hat. Die Zahl der Sekundärquellen ist seit den 1970ern zwar angestiegen, doch das (erziehungswissenschaftliche) Forschungsfeld um Janusz Korczak ist noch immer nicht ausgeschöpft. Meine Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk ist ein Versuch, nicht nur über die vier bereits etablierten Forschungsstränge hinauszudenken, sondern auch über die Fachgrenzen der Erziehungswissenschaft durch das Beschreiten neuer (methodischer) Wege hinauszugehen.

21 Als Publikationen von ihm sind u. a. „Der diagnostische Blick Janusz Korczaks. Medizinische Phänomenologie als Methode zur Beobachtung des Kindes“ (1988), „Janusz Korczak als Arzt“ (Teil 1 und 2 1994), „Janusz Korczak: ‚Wo aber ist der Arzt – der Mensch ist?‘ – Gedanken zu seiner Anthropologie“ (1984), „Über Trauer, Einsamkeit und Tragik im Lebenswerk Korczaks“ (2004), „Von Angesicht zu Angesicht. Janusz Korczak und das Kind“ (1997), „Vom Gebot und der Gnade des Augenblicks. Chassidische Einflüsse auf Janusz Korczak“ (1987) zu nennen. 22 Unter der Leitung von Sabine Andresen und Michael Kirchner habe ich im Projekt „Erziehen im Spannungsfeld von Profession, Wissenschaft und Ethik. Zur Verortung von Janusz Korczak“ (DFG AN 296/6-1, Laufzeit 5/2012 bis 4/2014) mit gearbeitet, in dessen Rahmen auch die Idee für mein Dissertationsvorhaben entstanden ist. Während der Projektlaufzeit habe ich mich im Wesentlichen auf die Erarbeitung zweiter Studien zu „Janusz Korczak / Anton Makarenko / Stanislaw T. Schazki: Die Kolonien – Ein Vergleich“ und „Schule im Werk von Leo Tolstoi, Ellen Key und Janusz Korczak: Schulkritik, Visionen von Schule und Schulversuche im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert“ (bisher unveröffentlicht) konzentriert. Zwar habe ich Recherche-Arbeiten synergetisch genutzt, doch sind alle Teile der vorliegenden Monographie originär entstanden. Ich werde im weiteren Verlauf explizit darauf hinweisen, wenn ich Ergebnisse unserer gemeinsamen oder meiner eigenen Projektarbeit nutze. 15

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1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

1.3

Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl

1.2

Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl

„Das ‚Verstehen‘ des Textes gleicht also nicht der Assimilation des Fremden in das eigene Selbst, es ist nicht Integration desselben ins eigene vertraute Milieu: Es muss vielmehr jenes Fremde bewahren, als das sich der Text ergibt. Dann vermag er auch das eigene Selbst im Zuge der hermeneutischen Bemühung umzubilden, neue Perspektiven anzuregen; die Hermeneutik wird zum Bildungsprozess, statt diesen nur verstehen23 zu wollen.“ (Rittelmeyer und Parmentier 2006: 3)

Es ist von einem Dreieck zwischen Theorie, Empirie und Methode auszugehen, weil zu jeder Art von Forschung neben einem Thema, auch empirisches Material und eine wissenschaftliche Methode gehören (vgl. Beetz und Franzheld 2017: 43). Meiner Forschung liegt eine problemorientierte Fragestellung zugrunde, die um die Spannungsverhältnisse im Leben und Werk Janusz Korczaks kreist; und sich auf einen realen empirischen Gegenstand bezieht (vgl. ebd.: 43). Im Kapitel „Stand der Forschung: ‚Gesammelte Werke‘ und Rezeptionsgeschichte“ (1.2) habe ich mich bereits ausführlich zum Datenmaterial geäußert, das mir für meine wissenschaftliche Forschung zur Verfügung steht. Bleibt also noch die Frage nach geeigneten Methoden, um das ausgewählte Datenmaterial auswerten zu können. Das Kapitel „Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl“ (1.3) wird sich mit den Methoden auseinandersetzen, über die ich im Verlauf meiner Dissertationsschrift zu Antworten auf meine Fragestellungen kommen werde. Meine Monographie „Janusz Korczak, der Brückenbauer – Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk“ ist in den Historischen Wissenschaften zu verorten. Die historische Perspektive ist aber keine Restriktion, weil alle Forschungsmethoden (sofern es der Gegenstand zulässt) auch in der historischen Forschung angewendet werden können (vgl. Horlacher 2009: 410). Die Historischen Wissenschaften sind von der Erfahrung geprägt, dass die Spezifik unterschiedlicher Quellengattungen nicht nur die Methoden und Zugriffsweisen, sondern auch das Bild der Geschichte beeinflusst (vgl. Maurer 2002: 10). Mit den verschiedenen Quellengattungen sind sowohl Möglichkeiten als auch Grenzen verknüpft, die im Forschungsprozess reflektiert werden müssen. Es ist in Bezug auf die Vielfalt im Werk Janusz Korczaks somit auch immer die Frage zu stellen, ob es sich um eine literarische oder nicht-literarische Quelle handelt. Die Antwort ist vorentscheidend für das jeweilige Vorgehen, die Resultate und die Aspekte 23 Hervorhebung im Original.

1.2 Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl

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der Deutung. Schließlich sind die Erwartungen an einen Reisebericht andere, als an einen (privaten) Brief oder biographische Zeugnisse, literarische Werke oder Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Außerdem entstanden die Quellen nicht nur in mannigfachen Lebenssituationen, sondern waren auch an unterschiedliche Leser- und Leserinnenkreise adressiert. Die Historische Erziehungswissenschaft hält Zugänge und Methoden bereit, die für meinen Untersuchungsgegenstand – Janusz Korczak als Forschungssubjekt – geeignet sind. Sie versteht sich als „ein Teil der Geschichtswissenschaft, die aber einen spezifischen erziehungswissenschaftlichen Focus einnimmt“ (Horlacher 2009: 415). Bei der Rekonstruktion historischer Entwicklungstendenzen oder Ergebnisse sind außerdem die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und ideologischen Ebenen zu bedenken, weil die Analyse von Institutionen der Erziehung [im konkreten Fall des „Dom Sierots“] auch die sozialhistorische Kontextualisierung berücksichtigen muss. Die Studie kommt nicht umhin, die Fragestellungen interdisziplinär zu bearbeiten, um soziale Strukturen, Prozesse und Handlungen zu verstehen. Denn es ist der Gegenstand, der die disziplinäre Anbindung bestimmt und nicht länger seine fachliche Herkunft (vgl. ebd.: 419). Ich habe mich für eine methodologische Triangulation im Sinne einer „Kombination unterschiedlicher Methoden bei der Datenerhebung“ (Schründer-Lenzen 2013: 150) entschieden. Die Grundidee der Triangulation ist, dass eine Methode allein nicht ausreicht, um den Spannungsverhältnissen im Leben und Werk Janusz Korczaks in den drei Hauptkapiteln meiner Dissertationsschrift auf die Spur zu kommen. Ziel ist es durch ein multimethodisches Vorgehen, Antworten auf meine Fragestellungen zu geben, um Hypothesen generieren und (über-)prüfen zu können. Abbildung zwei („Methodische Triangulation“) zeigt das methodische Dreieck, das durch die (1) wissenschaftliche Hermeneutik, (2) die Genogrammarbeit als Sequenzanalyse und (3) eine Arbeit an der Theorie im Sinne einer Analyse und Rekonstruktion gebildet wird. Es gilt nachfolgend herauszuarbeiten, welche Methode an welcher Stelle zur Anwendung kommen wird.

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1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

Abb. 2 Methodische Triangulation (eigene Darstellung)

(1) Meine Studie gründet sich im Wesentlichen auf einen ideengeschichtlichen Zugang, dem eine starke Orientierung an der Theorie zugrunde liegt. Die Theorie kann sich als Konstruktion der Wirklichkeit aber nur annähern. Um einen Zugang zum Forschungsgegenstand zu finden, muss den kursorischen Hinweisen im Gesamtwerk Janusz Korczaks nachgegangen werden. Weil das Quellenmaterial aber nicht von sich aus spricht, bedarf es einer „methodisch geregelten Weise“ (Rittelmeyer 2013: 236), so dass ich mich „auf das Gebiet der wissenschaftlichen24 Hermeneutik“ (ebd.: 236) begebe, um die Quellen zu interpretieren. Die Hermeneutik, wie ich sie verstehen möchte, hat für die (geisteswissenschaftliche) Pädagogik eine zentrale Bedeutung, weil der Sinn von Texten mit ihrer Hilfe ausgelegt werden kann. Für diese Methode stellen vor allem sprachliche Quellen einen Untersuchungsgegenstand dar, aus denen pädagogische Theorien und Programme der Vergangenheit rekonstruierbar sind (vgl. Wulf 1978: 27). Wolfgang Klafki (1927–1916) weist darauf hin, dass der Begriff „hermeneutisch“ in einem weiten Sinne zu verstehen ist, so dass er alle Verfahren zur Analyse von Dokumenten und insbesondere Texten wie auch die ideologiekritische Analyse einschließt. Klafki unterscheidet ein primär historisches von einem primär systematischen Erkenntnisinteresse, wobei sich beide auch verbinden lassen. Fragestellungen und Hypothesen empirischer Untersuchungen – wie der meinen – werden in der Regel durch hermeneutische Analysen gewonnen. Hermeneutisch ermittelte Aussagen über Realität müssen jedoch immer erst durch empirische Verfahren überprüft werden, bevor sie als vorläufig gesichert gelten können (vgl. Klafki 2006: 131). 24 Hervorhebung im Original.

1.2 Der Gegenstand bestimmt über die Methodenwahl

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Klafki beschreibt in „Hermeneutische Verfahren in der Erziehungswissenschaft“ elf methodologische Grunderkenntnisse, die als Arbeitsschritte aufeinander folgen (ebd.: 132–147) und die ich auch auf mein Forschungsvorhaben anwenden werde: • Die Textinterpretation erfolgt unter bestimmten Fragestellungen, in denen sich ein bestimmtes Vorverständnis des zu untersuchenden Zusammenhangs ausdrückt. Mein Blick wird sich deshalb auf bestimmte Aspekte der auszulegenden Quellen richten und andere in den Hintergrund treten lassen. • Die leitenden Fragestellungen und das sich darin ausdrückende Vorverständnis müssen an der Quelle bzw. den Quellen immer wieder überprüft und gegebenenfalls verändert werden. • Die Quellen- bzw. Textkritik sind die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Janusz Korczaks Texten, was mich dazu anhält, die „Gesammelten Werke“ zu nutzen, weil sie als historisch-kritische Ausgabe vorliegen. • Die Frage nach der Bedeutung einzelner Worte ist ein notwendiges Moment der Interpretation, um (falls nötig) bestimmte Ausdrücke mit dem heutigen Sprachgebrauch in Frage zu stellen und nach dem speziellen Sinn zu suchen. • Es ist zu bedenken, dass Janusz Korczaks Texte häufig als Stellungnahmen im Zusammenhang mit Kontroversen entstanden sind. Sie ergreifen Partei, sind Ausdruck seines praktischen Engagements und nicht reinen theoretischen Erkenntnisstrebens. Sie sind nur zu verstehen, wenn auch die jeweiligen Gegenspieler und Gegenspielerinnen in die Interpretation miteinbezogen werden. • Prinzipiell ist von einem Verhältnis wechselseitiger Erklärung textimmanenter und textübergreifender Zusammenhänge auszugehen, so dass der Einbezug weiterer Quellen notwendig werden kann. • Neben semantischen sind auch die syntaktischen Aspekte von Bedeutung, weshalb auch der Syntax der Quellen Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. • Außerdem soll die gedankliche Gliederung der Quellen (bspw. in Hauptthesen, Begründungen, Erläuterungen, Beispiele, Nebengedanken und Exkurse) herausgearbeitet werden. • Die Begründungen, Folgerungen und Herleitungen sollen nicht nur mitvollzogen, sondern auch kritisch überprüft werden, weil die innere Widerspruchsfreiheit bzw. logische Stringenz ein entscheidender Auslegungsaspekt ist. • Dabei bewegt sich die Interpretation immer in einem „hermeneutischen Zirkel“ (ebd.: 144), einem wechselseitigen Erläuterungsvorgang zwischen Einzelelementen und größeren Zusammenhängen sowie zwischen meinen Fragestellungen und der konkreten Textanalyse. • Damit meine Textauslegung konsequent ist, muss ich auch die ideolgiekritische d. h. die Frage nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Lage 19

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1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

und Bewusstsein stellen. Schließlich waren Janusz Korczaks Auffassungen, Zielsetzungen, Thesen und Argumentationsweisen entscheidend durch seine gesellschaftliche Situation und Position mitgeprägt. Die hermeneutische Methode ist ein geeignetes wie auch „streng methodisches und überprüfbares Verfahren“ (ebd.: 147) und mehr, als sich nur in Janusz Korczak hineinzuversetzen oder eine subjektive Meinungsbildung. Mit ihr kann ich Verborgenes ans Licht bringen, das im Geschriebenen steckt und im Besonderen das Allgemeine entdecken. Von der Methode der wissenschaftlichen Hermeneutik werde ich im Verlauf der Dissertationsschrift zwei Mal abweichen: (2) Das zweite Kapitel „Brücken bauen als (soziales) Erbe der Familie“ orientiert sich im Wesentlichen an einer biographischen Methode. Die Familiengeschichte der Goldszmits, erzählt als „Eine Geschichte des Hin und Her“ (2.2), beruht auf der Genogrammarbeit als Sequenzanalyse. Die Methode wird an dieser Stelle nur genannt und nicht weiter beschrieben, weil der Fallmonographie das Kapitel „Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse“ (2.1) vorausgeht. (3) Ähnlich verfahre ich im dritten Kapitel „Brückenbau zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik“. Ich werde den reflexiven Umgang mit und die Arbeit an der Theorie in der Orientierung auf die Methode einführend in „Rekonstruktion und Analyse von Theorie“ (3.1) im Rahmen methodologischer Überlegungen beschreiben und diskutieren, so dass ich auf weitere Ausführungen an dieser Stelle verzichte. Über das multimethodische Vorgehen im Rahmen meiner methodischen Triangulation möchte ich zu Antworten auf meine Fragestellungen kommen, auf die ich im nächsten Kapitel näher eingehe.

1.4

Fragestellungen und Aufbau der Arbeit „Der lebendige Korczak – das ist der Korczak, der stets neu gelesen wird.“ (Kȩdzierska 1999: 261)

1.4

Fragestellungen und Aufbau der Arbeit

Unter einer Relektüre verstehe ich weniger die Wiederaufarbeitung klassischer Texte, als die Überprüfung ihrer früheren Interpretationen. Das ist auch, was meine Monographie leisten möchte, nämlich Korczak-Texte im Hinblick auf die Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk neu lesen und zeitigere Auslegungen

1.4 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit

21

von ihnen weiterdenken, um sie (bei Bedarf) kritisch zu reflektieren. Ziel ist es, sowohl in den Primärquellen als auch in der Sekundärliteratur Hinweise auf Janusz Korczak – den Brückenbauer – aufzuspüren und (weiterführend) zu interpretieren. Der rote Faden, der sich durch alle drei Kapitel zieht, wird um das Motiv der Brücke und die Metapher des Brückenbaus kreisen, um zu sensibilisieren und den Radius alternativer Lesarten zu erweitern. Auf der einen Seite sind Brücken funktionale Ingenieurbauwerke, die zwei Punkte miteinander verbinden oder einen Verkehrsweg über einen anderen führen. Als solche besitzen sie nicht nur einen ästhetischen und architektonischen Wert, sondern erfüllen auch einen politisch-gesellschaftlichen Auftrag. Ferner treten sie als einende Symbole in Erscheinung, weil mit ihrer Hilfe Gräben oder Grenzen überwunden werden. Außerdem ermöglichen Brücken, Neuland zu betreten, also zu neuen Ufern aufzubrechen oder gar Sehnsüchte zu befriedigen. Auf der anderen Seite entzweien Brücken aber auch etwas, weil sie eingerissen oder hinter sich gelassen werden können. Georg Simmel (1858–1918), der deutsche Philosoph und Soziologe, war der erste, der in seinem Essay „Brücke und Tür“ (1909) die Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung als Merkmal von Brücken erörtert hat: „Praktisch wie logisch wäre es sinnlos, zu verbinden, was nicht getrennt war, ja, was nicht in irgendeinem Sinne auch getrennt bleibt. […] Aber nun kommt die natürliche Form hier diesem Begriff wie mit positiver Absicht entgegen, hier scheint zwischen den Elementen an und für sich die Trennung gesetzt zu sein, über die jetzt der Geist versöhnend, vereinigend hinübergreift“ (Simmel 1957: 1f.).

Zwar sind auch Tiere in der Lage, einen Abstand zu überwinden, aber dessen Anfang und Ende bleiben asyndetisch. Im unmittelbaren wie symbolischen, im körperlichen wie geistigen Sinne verfügen allein die Menschen über die Fähigkeit, Wege zu bauen bzw. abzubrechen, also Getrenntes zu verbinden oder Verbundenes wieder zu trennen. Die Menschen, die zuerst einen Weg zwischen zwei Orten anlegen, bringen einen Verbindungswillen und damit eine der größten menschlichen Leistungen zum Ausdruck. Mit dem Brückenbau gelingt es ihnen, Hindernisse zu überwinden und die Ausbreitung ihrer Willenssphäre über den Raum zu symbolisieren (ebd.: 2). „Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat“ (ebd.: 6).

Diesen Gedanken werde ich in meiner Dissertationsschrift aufgreifen. Um die Spannungsverhältnisse in Janusz Korczaks Leben und Werk einer Relektüre zu 21

22

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

unterziehen, möchte ich ihn – wie eingangs in den „Vorbemerkungen“ (1.1) angeklungen – als einen Brückenbauer verstehen: Als jeweils zwei geistig voneinander getrennte Ufer sind (1) die jüdische Religion und polnische Nation, (2) die Medizin und Pädagogik, aber auch (3) das Kind und der Erwachsene zu denken. Es ist möglich, eine Verbindung zwischen den jeweiligen Spannungsfeldern über das Symbol der Brücke herzustellen. Janusz Korczak war es aus einer (1) interkulturellen, (2) interdisziplinären und (3) intergenerationellen Dialoghaltung heraus gelungen, Brücken zu bauen und durch sie die Spannungsverhältnisse zu überwinden. (1) Er schlug eine Brücke von der Religion zur Nation über das soziale Erbe seiner Familie, (2) die Sozialmedizin bzw. die „Erziehungsdiagnostik“ als Methode in seiner „Erziehungsklinik“ befähigte ihn, Medizin und Pädagogik miteinander zu verbinden und (3) das Prinzip der generationellen Unterscheidung half zwischen dem Kind als dem Anderen und dem Erwachsenen zu vermitteln. Über den Brückenbau konnte sich Janusz Korczak in den Spannungsfeldern der (1) eigenen Identität(en), (2) Disziplinen / Professionen und (3) Generationen bewähren und sich stets seine Handlungsfähigkeit als Akteur bewahren. Meine Relektüre der Spannungsverhältnisse wählt eine „klassische“ Reihenfolge und wird zuerst das Leben Janusz Korczaks und dann sein Werk eingehender betrachten: • Das zweite Kapitel „Brücken bauen als soziales Erbe der Familie“ soll in erster Linie die Frage beantworten, warum Janusz Korczak den Berufswechsel vom Kinderarzt zum Pädagogen vollzogen hat. Seine Motivation, das Kinderspital zu verlassen, gibt auch heute noch Rätsel auf (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 71) und wurde – aus meiner Sicht – noch nicht zufriedenstellend gelöst. Ich habe mich bewusst entschieden, dieses Kapitel familienbiographisch zu rahmen, um nach dem Einfluss familiärer und somit transgenerationaler Zusammenhänge auf Janusz Korczaks beruflichen Werdegang zu fragen. Zu Beginn geht es um die „Herkunft und Methode der Genogrammanalyse“ (2.1), um in mein methodisches Vorgehen einzuführen und es im Verlauf der Analyse nachvollziehen zu können. In „Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her“ (2.2) versuche ich, das Familien- und Lebensthema der Familie aufzuschlüsseln, das eng mit dem Spannungsverhältnis von jüdischer Religion und polnischer Nation verwoben ist. Auf der Basis der Arbeit an der Familienbiographie wird es gelingen, eine Fallstrukturhypothese zu formulieren, die eine Antwort auf die Frage geben kann, warum Janusz Korczak scheinbar von der Medizin zur Pädagogik gewechselt ist. Im Kapitel „Erlebte Lebensgeschichte(n) – Ein Versuch der Deutung der Genogrammdaten“ (2.3) werde ich die Hypothese überprüfen, so dass ich mich innerhalb der biographischen Analyse „Neun Jahrsiebte“ (2.3.1)

1.4 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit

23

seiner individuellen Lebens-, Lern- und Bildungsgeschichte zuwende. Daraufhin wird Janusz Korczaks beruflicher Werdegang als Pädiater, Schriftsteller und Pädagoge als „Ein Leben wie ein Partiturspiel“ (2.3.2) gedeutet. Um das zweite Kapitel abzuschließen, werde ich in einem Exkurs der „Familie als Ort des Wandels“ (2.4) auf die Spur kommen, um das Allgemeine im Besonderen des Einzelfalls zu entdecken und festzuhalten. • Als Kinderarzt und Pädagoge agierte Janusz Korczak innerhalb zweier Theorieund Disziplingeschichten; und somit im Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik. Wie er das Verhältnis von Theorie und Praxis ausgestaltet, beschrieben und bewertet hat, und eine Brücke von der Medizin zur Pädagogik schlagen konnte, wird im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen. „Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik“ richtet den Fokus auf Janusz Korczak – den Theoretiker, der keine ausformulierte Theorie niedergeschrieben hat; und Janusz Korczak – den Praktiker, der seine Praxis so detailreich und genau beschrieb, wie nur wenige andere seiner Zeit. Über die Beschreibung wird der Versuch unternommen, nicht nur seiner medizinischen und pädagogischen Praxis, sondern auch seiner pädagogischen Theorie auf die Spur zu kommen. Nach methodologischen Überlegungen zur „Rekonstruktion und Analyse von Theorie“ (3.1) wird es für das Verständnis der Pädologie und Pädagogik Janusz Korczaks notwendig sein, mich in einem nächsten Schritt mit der „Theorie als Wissen“ zu beschäftigen, um mich mit den „Reflexionen pädagogischen Handelns“ (3.2) auseinanderzusetzen. Weil ich neben den Disziplinen auch die Professionen in den Blick nehme, werde ich anschließend der „Praxis als Können“ im Hinblick auf eine „Medikalisierung von Kindheit“ (3.3) auf den Grund gehen.25 Auf diese Weise kann ich nachvollziehen, wie es Janusz Korczak gelungen ist, die Medizin mit der Pädagogik zu verschränken. Ein weiteres Ziel des dritten Kapitels ist es, Janusz Korczaks „Verhältnis von Theorie und Praxis“ (3.4) einer Relektüre zu unterziehen. Dafür ist es erforderlich, sowohl mit Quellen aus den „Gesammelten Werken“, als auch mit Sekundärliteratur zu arbeiten. Bevor ich mich in einem Zwischenresümee der Frage nach einer „Theorie des forschenden Praktikers“ (3.6) widmen kann, soll es noch einmal um „die Burse als Ort der Weitergabe von Wissen (Theorie) und Praxis (Können)“ (3.5) gehen. Denn hier konnten die Bursisten und Bursistinnen nicht nur erste praktische Erfahrungen

25 Ich habe mich unter der Überschrift „Janusz Korczak im Spannungsfeld von Pädiatrie und Pädagogik“ (2018) bereits zu diesem Themenfeld geäußert. Der Artikel ist abgedruckt in Verein für Sozialgeschichte der Medizin (Hrsg.), Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 17. Medikalisierte Kindheiten. Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert. Leipzig: Leipziger Universitätsbuchverlag (S. 203–220). 23

24

1 Janusz Korczak, der Brückenbauer

im pädagogischen Feld sammeln, sondern bekamen von Janusz Korczak auch Wissen vermittelt und wurden von ihm zur Reflexion angeregt. • Das vierte Kapitel „Eine Brücke zwischen den Generationen“ wird sich mit der konkreten Praxis des Pädagogen und Waisenhausleiters Janusz Korczak beschäftigen. Der Schwerpunkt liegt nunmehr auf den Adressaten und Adressatinnen seiner Arbeit. Ich möchte den Fragen nachgehen, welche Vorstellungen er „Über Kindheit“ (4.1) im Allgemeinen hatte und wie „Erziehung und Kindheit im ‚Dom Sierot‘“ (4.2) konkret ausgestaltet wurde. Im vierten Kapitel wird sich der Fokus vom Erzieher Janusz Korczak auf seine Zöglinge verschieben und der Quellenkorpus um den „Zeitzeugenband“ erweitert. Auf diese Weise werden resümierend auch kritische Stimmen zur Sozialen Arbeit mit dem Kind als dem Anderen (4.3) laut und einer Relektüre unterzogen, was bisher zur Forschung über Janusz Korczak immer zu kurz kam. • Abschließend soll im fünften Kapitel die „Bedeutung Janusz Korczaks als historisches Schlaglicht“ noch einmal auf den Punkt gebracht und die Ergebnisse meiner Relektüre der Spannungsverhältnisse in seinem Leben und Werk zusammengefasst werden. Ich möchte mit dem Motiv der Brücke und der Metapher des Brückenbaus neue Facetten in Bezug auf Janusz Korczaks Leben und Werk ent- und aufdecken, um so viele Menschen wie möglich nach dem Lesen meiner Relektüre anzuregen, ihn – wie ich – auch in Zukunft noch weiter zu lesen und weiter zu denken. Denn das Forschungssubjekt Janusz Korczak wirft noch viele weitere Fragen auf, die ich allein – und vor allem im Rahmen meiner Dissertationsschrift – nicht beantworten kann.

2

Brücken bauen als soziales Erbe der Familie Familiengeschichte als Zeitgeschichte 2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Unter der Überschrift „Brücken bauen als soziales Erbe der Familie“ möchte ich vor allem die schwierigeren Momente eines Lebens zwischen der jüdischen und polnischen Welt aufspüren, um herauszuarbeiten, unter welchen familiären und sozialen Bedingungen sich Henryk Goldszmit 26 dazu entschied, scheinbar von der Medizin zur Pädagogik zu wechseln. Über die Verbindung zweier Narrative (der Familien- und Zeitgeschichte), die mehrere Jahrhunderte nebeneinander herliefen oder sich berührten und überschnitten, werde ich in mein methodisches Vorgehen einführen. Nachdem ich mich zur „Herkunft und Methode der Genogrammanalyse“ (2.1) geäußert habe, möchte ich über die Rekonstruktion der Familiengeschichte als „Eine Geschichte des Hin und Her“ (2.2) versuchen, das Familien- und Lebensthema der Familie Goldszmit herauszuarbeiten, das vor allem vom Spannungsverhältnis von jüdischer Religion und polnischer Nationalität tangiert wurde. Im Hinblick auf die Frage, warum Henryk Goldszmit scheinbar seinen Beruf wechselte, wird eine Fallstrukturhypothese entwickelt. Es werden ausgewählte Textstellen aus seinem Werk entlang meiner Ergebnisse aus der Genogrammanalyse untersucht, um den Verweisungszusammenhang von Medizin und Pädagogik in „einem Versuch der Deutung der Genogrammdaten“ (2.3) zu beschreiben. Seine Biographie wird im Zuge dessen über „Neun Jahrsiebte“ (2.3.1) nachvollzogen und letztlich als „Ein Leben wie ein Partiturspiel“ (2.3.2) gedeutet. Abschließend wird in einem Exkurs noch einmal die „Familie als Ort des Wandels“ (2.4) hinterfragt. Die Aufschlüsselung des Allgemeinen im Besonderen des Einzelfalls – der Familienbiographie der Goldszmits – wird mir zugleich als Resümee des zweiten Kapitels dienen.

26 Um nicht Verwirrung zu stiften: Im Rahmen der Familienbiographie werde ich über Janusz Korczak als Henryk Goldszmit schreiben. Wie es dazu kam, dass er sich Janusz Korczak nannte, wird sich im Verlauf des zweiten Kapitels zeigen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Schierbaum, Janusz Korczak, der Brückenbauer, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30623-6_2

25

26

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Henryk Goldszmit wurde nicht nur in seine Familie, sondern auch in ihre Geschichte(n) hineingeboren. Er konnte weder wählen, von welchem Vater er gezeugt und von welcher Mutter er geboren wurde, noch konnte er sich losgelöst von seinen familialen Wurzeln entwickeln. Es ist der Kreislauf des Lebens, der sich stetig wiederholt. Generation um Generation, Mensch um Mensch teilt dieses Schicksal. Dabei sind die einzelnen Familienmitglieder aufgrund von Gebürtlichkeit und direkter Verwandtschaft (unfreiwillig) miteinander verbunden und die Beziehungsstrukturen innerhalb der Familie weder frei wähl- noch aufkündbar (vgl. Ecarius 2017: 56). Unabhängig von der Nation, Ethnie oder Religion gibt es in allen Kulturen gesellschaftliche Gebilde, die sich entweder selbst als Familie charakterisieren oder als solche bezeichnet werden. Familien schaffen in der Regel soziale Rahmenbedingungen für das Aufwachsen der nachfolgenden Generation (vgl. Lenz 2013: 104) und sind ein besonderer „sozialer und biografischer Ort“ (Gerner 2011: 406), wo die Heranwachsenden zuerst erzogen, gebildet und sozialisiert werden, aber auch Fürsorge erfahren. Das zweite Kapitel geht nicht von Henryk Goldszmit als Individuum, sondern von seiner Familie als Grundeinheit aus, weil Familien den individuellen Lebensverlauf ihrer Familienmitglieder prägen. Grundlage bildet die Familienbiographik, die Carola Groppe als eine Möglichkeit beschreibt, um fundierte Beiträge zur Geschichte der Familie zu leisten und ihre Funktion im Rahmen historischer Gesellschaften wie auch im sozialen Wandel zu verdeutlichen. Kollektive Familienidentitäten, Familiengedächtnisse und Familienstrategien können umso klarer ermittelt und in die Analyse einbezogen werden, je mehr Generationen zu überblicken sind (Groppe 2009: 97 f.). Die Familienforscherin weist außerdem darauf hin, dass eine Familie Kriterien zu erfüllen habe, um Gegenstand einer Untersuchung zu werden. Sie nimmt dabei Bezug auf Percey Ernst Schramm (1894–1970), der (1) eine regionale Konstanz, (2) eine kontinuierliche Zugehörigkeit zu einer Schicht, (3) einen übersichtlichen Personenbestand, (4) eine Teilnahme der Familie an Ereignissen und Prozessen der Geschichte und (5) eine kontinuierlich dichte Quellenlage (vgl. Schramm 1963: 5 f. in Groppe 2009: 101) fordert. Die polnisch-jüdische Familie Goldszmit erfüllt (bis auf die kontinuierlich dichte Quellenlage) all diese Kriterien Schramms. Zudem sind sie eine Familie von kulturellem Interesse, weil sie als letzten männlichen Nachfahren einen der bekanntesten Ärzte, Schriftsteller und Pädagogen Polens hervorgebracht hat. Familie hat eine „zeitliche Dimension“. Sie beeinflusst das familiale Binnenverhältnis im Sinne der Koordination des Alltagslebens wie auch die Abfolge und den Zusammenhang von individuellen Lebensereignissen. Außerdem sind die Familienmitglieder in die Zeitgeschichte chronologisch eingebunden, was auf der Ebene der Familie vor allem die Familiengeschichte betrifft (vgl. Lange und Lettke

2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

27

2007: 24). Im intergenerationalen Familien- und Verwandtschaftssystem nehmen die Familienmitglieder eine je individuelle Position im familialen Generationengefüge ein und erwerben Praxen zur Gestaltung und Bewältigung ihres Alltags (vgl. Schierbaum 2017: 147). Ich gehe somit von einer familienbezogenen Generationenthematik aus, die aus dem Genogramm der Familie Goldszmit und ihrem Familiengedächtnis herausgelesen werden kann. Wie jede Familie haben auch die Goldszmits ihre eigenen Geschichten, die durch die Familienmitglieder individuell oder kollektiv erlebt, selektiv aufbewahrt und innerfamilial weitergegeben wurden (vgl. Groppe 2007: 406). Durch das, was die Familienmitglieder tradiert haben, werden neben familienspezifischen Erziehungs- und Sozialisationsprozessen auch Familienstrategien und -muster offenbar, welche Zeit und Kulturen übergreifend sind (vgl. McGoldrick 2013: 14). Ich möchte zuerst auf die Herkunft der Genogrammarbeit eingehen und sie als einen methodischen Zugang vorstellen, der es vermag, einen Zusammenhang zwischen der Familiengeschichte und der beruflichen Sozialisation Henryk Goldszmits herzustellen. Ziel ist es, eine Hypothese zu bilden, welche erklären kann, unter welchen Umständen er sich dafür entschied, scheinbar von der Medizin zur Pädagogik zu wechseln. In einem weiteren Schritt soll die Hypothese durch die Analyse ausgewählter Textstellen aus seinem Werk überprüft werden, um Henryk Goldszmits Weg von der Medizin zur Pädagogik nachzuvollziehen und den Brückenbau als soziales Erbe der Familie zu deuten.

2.1

Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

2.1

Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

Die fallrekonstruktive Familienforschung steht in der Tradition der interpretativen bzw. qualitativen Sozialforschung und basiert auf der sequentiellen Genogrammanalyse. Murray Bowen (1913–1990) und Iván Böszörményi-Nagy (1920–2007) waren die ersten, die bedeutende Beiträge zur systemischen Familientherapie geleistet und die Genogrammarbeit in erster Generation geprägt haben. Ihnen folgten Virginia Satir (1916–1988), Monica McGoldrick und Randy Gerson in zweiter Generation. McGoldrick und Gerson griffen Bowens Idee von Familienmustern auf, die über die Generationen entwickelt werden (vgl. Hildenbrand 2013: 93). Sie versuchten, das Genogramm als praktische Methode einzuführen und (allgemein gültige bzw. standardisierte) Prinzipien seiner Interpretation darzustellen. Im deutschen Sprachraum ist es Ulrich Oevermann, der neben Bruno Hildenbrand die Genogrammanalyse als Methode der fallrekonstruktiven (Familien-)Forschung in besonderem Maße geprägt hat. 27

28

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

„Der Begriff System bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die als funktionales Ganzes interagieren“ (McGoldrick und Gerson 1990: 5) und die Familie ist eines der einflussreichsten Systeme, dem ein Individuum im Laufe seines Lebens angehören kann. Weil das Individuum in seinem alltäglichen Lebensvollzug nicht isoliert existiert, wird es innerhalb seines Familiensystems und nicht außerhalb betrachtet, was Hildenbrand als strukturale Perspektive bezeichnet (Hildenbrand 2005a: 11). Familie erscheint in der Perspektive der Sozialphänomenologie als ein Verweisungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt- und Selbstauffassung (vgl. ebd.: 12). Die Genogrammarbeit geht davon aus, dass individuelle Entwicklungen und mögliche Störungen durch die Rekon­ struktion des familialen Raumes in seiner historisch vermittelten Strukturiertheit erfasst werden können (vgl. Hildenbrand 2013: 93). Neben der Perspektive, dass die Familie als System sozialisatorischer Interaktion betrachtet wird, kommt sie in der fallrekonstruktiven Familienforschung auch als Milieu und geschichtlich gewachsener Generationenzusammenhang in den Blick (vgl. Hildenbrand 2005b: 223). Die Therapeutin McGoldrick und der Therapeut Gerson sind neben dem Soziologen Tilman Allert bisher die einzigen, die konkrete Fallgeschichten27 bekannter Persönlichkeiten geschrieben und veröffentlicht haben. McGolddrick und Gerson haben vielfältige Fallstrukturen durch die Analyse der Genogramme bspw. zu den Familien Freud, Allen, Kennedy, Clinton, Kahlo, Curie, Mahler, Kafka und de Beauvoir aufzeigen können. Allert hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Familiengeschichte der Ratzingers28 rekonstruiert, die spätestens seit der Wahl Joseph Aloisius (geb. 1927) im Jahre 2005 zu Papst Benedikt XVI. einer breiteren Öffentlichkeit bekannt ist. Die Kulturanthropologin Monika Sznajderman ist dagegen die einzige Autorin, die eine konkrete Fallgeschichte einer unbekannten Familie geschrieben hat, die nicht der Belletristik zuzuordnen ist. Auch wenn sie ihr Vorgehen nicht als „Genogrammanalyse“ bezeichnet, macht sie genau das, nämlich die Geschichte ihrer jüdisch-polnischen Familie väterlicher- und mütterlicherseits in „Die Pfefferfälscher“29 über mehrere Generationen nachzuerzählen. Weitere Arbeiten sind mir nicht bekannt, weshalb sich nun die Frage stellt, was mich dazu bewegt, eine Fallmonographie auf der Grundlage der Genogramm­ 27 Nachzulesen sind diese in McGoldrick, M. und Gerson, R. (2008). Genogramme in der Familienberatung. Bern: Huber und McGoldrick, M. (2013). Wieder heimkommen. Auf Spurensuche in Familiengeschichten. Heidelberg: Carl Sauer. 28 Erschienen in Allert, T. (2013). Zweierlei Rückzug, online abrufbar unter http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/familie-ratzinger-zweierlei-rueckzug-12094549.html?printPagedArticle=true#void (letzter Zugriff am 11.04.2018). 29 Abgedruckt in Sznajderman, M. (2018). Die Pfefferfälscher. Geschichte einer Familie. Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag.

2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

29

arbeit zu schreiben, wenn sie weder zu den am meisten verbreitetsten qualitativen Forschungsverfahren zählt, noch in den Historischen Wissenschaften bekannt ist. Grundsätzlich gilt in allen Forschungskontexten, in denen es um die Erforschung biografischer Sachverhalte im weitesten Sinne geht, dass sich die Analyse objektiver Daten als eine grundlegende Forschungsoperation etabliert hat (Wenzl und Wernet 2005: 85). Eine Möglichkeit ist, sie im Rahmen einer Genogrammanalyse im Sinne Bruno Hildenbrands (2015) in das Zentrum der Fallrekonstruktion zu rücken, auch wenn ich alternativ nach Alfred Schütze (1983)30 oder Gabriele Rosenthal und Wolfram Fischer-Rosenthal (2004)31 vorgehen könnte. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass die Genogrammarbeit (so wie Hildenbrand sie lehrt) als Forschungsverfahren für den Gegenstand und die Fragestellung des zweiten Kapitels meiner Monographie eine geeignete wie angemessene Methode darstellt, weil sie sich durch eine Offenheit auszeichnet, die einer Entdeckungs- und keiner Überprüfungslogik folgt. So wird die Genogrammarbeit zu einem Werkzeug, um mich dem Leben Henryk Goldszmits historisch und Prozess-orientiert anzunähern. Da die Genogrammarbeit auf objektiven (und nur wenigen) Daten basiert, ist die Analyse für historische Arbeiten wie die meine besonders geeignet. Bereits ein kleiner Datenkorpus und Hintergrundwissen genügen, um eine Fallstrukturhypothese zu entwickeln. Ein Argument für die Genogrammarbeit, weil es kaum noch schriftliche Quellen gibt, die neben den objektiven Daten auch (kürzere) Fragmente zur Familiengeschichte der Goldszmits enthalten. Auch wenn alle mir zugänglichen Quellen zusammengetragen und ausgewertet wurden, können sie nicht wie in der Fallkonstruktiven Familienforschung üblich, durch Feldforschung oder (narrative) Interviews ergänzt werden. Alle Mitglieder der Familie Goldszmit sind seit mehr als siebzig Jahren verstorben, so dass es keine Nachkommen gibt, die das Familiengedächtnis weiter tradieren konnten. Weil die Analyse des Genogramms den Zeitraum des 18. bis 20. Jahrhunderts umspannt und die Akteure bzw. Akteurinnen einem anderen Kulturkreis entstammen, erscheint ihre Lebenswelt aus heutiger Perspektive häufig als fremd. Wissenslücken über die vergangenen Lebenswelten können nur noch durch einschlägige sozialhistorische Werke und belletristische Literatur geschlossen werden. Als einschlägiges Werk für die historische Epoche der Goldszmits gilt Isaac Bashevis Singers (1902–1991) „Die Familie Moschkat“ (1984).

30 Schütze nutzt objektive Daten als „Ereignisketten“ bzw. „Verlaufskurven“ im narrationsanalytischen Vorgehen. 31 Rosenthal und Rosenthal-Fischer gleichen forschungslogisch das „gelebte Leben“ (Ereignisdaten im Sinne objektiver Daten) und „erzählte Leben“ (sequentielle Analyse von Interviewmaterial – Selbstpräsentation) mit dem „erlebten Leben“ (Rekonstruktion der Fallgeschichte) ab. 29

30

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Aber auch andere Romane von ihm oder seinem älteren Bruder Israel Joschua Singer (1893–1944) beschreiben sehr gut das Leben jüdischer Familien in Polen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Außerdem ist Joseph Roth zu nennen (1894–1939). Der galizische Schriftsteller und Journalist zog in seinem kurzen Leben quer durch Europa und schrieb regelmäßig über die „Ostjuden“32. Auf diese Weise erinnert er auf eindrucksvolle Weise an die Realität seines Jahrhunderts. Ich gehe davon aus, dass die Erfahrungen, die Henryk Goldszmit während seiner Sozialisation in seiner Familie machte, und die Verarbeitung dieser Erinnerungen Zukunftsvorstellungen in Form von Sinnkonstruktionen, Erzählungen, gelernten Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern auch dann noch wirksam waren, als er seine Herkunftsfamilie schon lange verlassen hat (vgl. Schmidt 2003: 12). In seinem Tagebuch notierte Henryk Goldszmit im Juli des Jahres 1942, einen Tag vor seinem Geburtstag: „Meinem Vater müßte ich viel Platz einräumen: Ich verwirkliche im Leben das, wonach er gestrebt hat, wonach Großvater so viele Jahre strebte. Und meine Mutter. – Später einmal. – Ich bin sowohl Mutter wie Vater. Das weiß ich, und dank dessen begreife ich viel“ (SW Bd. 15: 368).

„‚Das beständigste und charakteristischste aller rabbinischen Gebote ist denn auch das Sachor!33 – Erinnere dich!‘“ (Judt in Sznajderman 2018: 91), schreibt Tony Judt (1948–2010) in seiner Autobiographie „Chalet der Erinnerungen“ (2012). Der Historiker verweist auf die Verpflichtung gegenüber vorangegangener Generationen und der Vergangenheit ‚nicht zu vergessen‘. Aber auch die hebräische Bibel fordert ausdrücklich dazu auf, sich zu erinnern und das Wissen über die Vergangenheit der Nachwelt zu übermitteln (Yerushalmi in ebd.: 92). Henryk Goldszmit kannte sowohl den Talmud als auch die (hebräische) Bibel. Er ist nicht mehr dazu gekommen, seine Erinnerungen vollständig niederzuschreiben, denn sein Leben fand noch im August desselben Jahres im Vernichtungslager Treblinka ein tragisches Ende. Doch er hat seine Familie und ihre Geschichte(n) vor dem Vergessen bewahren wollen. Es gibt nicht nur in seinem „Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto“ (1942), sondern auch 32 Der Begriff „Ostjuden“ hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als soziales und kulturelles Phänomen im deutschsprachigen Raum etabliert und diente als Bezeichnung für die aus Osteuropa zugeströmten Juden und Jüdinnen. Sie (etwa 35.000) waren vor allem einfache Arbeitskräfte und während des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) aus den polnischen Gebieten ins Deutsche Reich gekommen (vgl. Pacholkiv 2011: 2). Sie verfügten über ein besonderes jüdisches Selbstverständnis, weil sie überall dort heimisch wurden, wo ihre Toten begraben waren. Einst in Osteuropa formiert, zerstreuten sie sich über die ganze Welt und eine Heimat haben sie meist nur in ihren Erinnerungen gefunden (vgl. ebd.: 4). 33 Hervorhebung im Original.

2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

31

in anderen Schriften der „Gesammelten Werke“ viele kursorische Hinweise darauf, dass er sich seiner familiären Wurzeln bewusst war und sich stets an sie zurück erinnerte. Was blieb, sind autobiographische Fragmente von Henryk Goldszmit bzw. Janusz Korczak und Biographien über ihn, aus denen ich im Folgenden versuchen werde, eine Erzählung zusammenzufügen. Über die Genogrammarbeit wird es mir letztlich gelingen, beide Erzählperspektiven zu überwinden und über objektive, personenbezogene Daten eine familienbezogene Thematik einzuschließen. Auf diese Weise wird es möglich, eine Lesart zu entwickeln, welche ergründet, was „das“ war, wonach die Männer34 in seiner Familie gestrebt haben und was er selbst (davon) verwirklicht hat. Auch die berufliche Neu- und Umorientierung Henryk Goldszmits von der Medizin zur Pädagogik beschäftigt den Kreis der Korczak-Forscher und -Forscherinnen bis heute. Es stellt sich noch immer die Frage, warum er die Leitung des „Dom Sierots“ übernommen hat? Die Frage nach dem „Warum“ wird um die lebensgeschichtliche Situation erweitert, in der es zu dieser Lebensentscheidung gekommen ist, so dass ich eine Antwort auf die Frage aus dem Genogramm generiere. Schließlich haben lebensgeschichtliche Erfahrungen nicht nur Einfluss auf Lebenswege, sondern auch auf berufliches Handeln und Deuten. Der Beruf wird in der Berufssoziologie als ein „Medium der Persönlichkeitsvervollkommnung interpretiert“ (Kurz 2002: 11). Gewöhnlich zielt er nicht nur auf den Erwerb, sondern entspricht auch den inneren Neigungen des Individuums (ebd.: 11). Er bedeutet „Fachlichkeit, Spezialisierung, Tradition, Sicherheit, formale Rationalität, Kontinuität, Immobilität und inhaltliche Festlegung“ (Corsten 2010: 3). Da vom Beruf auch die Einkommens- und Vermögensverhältnisse abhängen, bestimmt er den sozialen Status mit. Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame begreifen den sozialen Status als Merkmal familialer Gruppen und nicht als Attribut einzelner Individuen. Letztere würden eine berufliche Stellung besitzen, die dem sozialen Status nicht entspreche (vgl. Bertaux und Bertaux-Wiame 1991: 13). Die Vorstellung von sozialen Familien-Lebensläufen basiert auf der Annahme, dass die Familie eine Einheit darstellt und die Eltern ihren Kindern Statuselemente zugänglich machen oder übertragen können, auf deren Grundlage ein sozialer Status aufgebaut werden kann (ebd.: 13). Innerhalb der Familie als erstes Milieu der Sozialisation ereignet sich auch die Berufswahl, die sich auf den weiteren Verlauf der Karriere auswirkt. Zugangschancen zu (öffentlichen) Bildungsinstitutionen und dem Arbeitsmarkt waren und sind auch vom Niveau der ausbildungsspezifischen, 34 Ich werde unter der Überschrift „Die Generation des Vaters und seiner Geschwister“(2.2.4) erklären, warum die Familiengeschichte der Goldszmits als „His-Story“ und nicht als „Her-Story“ gelesen wird. 31

32

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

wirtschaftlichen und kulturellen Fähigkeiten der Eltern abhängig. Bei bestimmten Berufen ist außerdem eine Transformation zum Identischen typisch. Der väterliche oder mütterliche Beruf stellt dann einen Orientierungsrahmen dar und ermutigt Kinder, denselben Beruf oder eine strukturell ähnliche Variante von ihm zu ergreifen. Vor allem Professionen wie die Medizin oder Jurisprudenz sind für ihre Selbstrekrutierungsrate bekannt (vgl. Hildenbrand 2005c: 71). Um die Ausgangsfrage zu beantworten, warum der Pädiater scheinbar vom Kinderspital in das Waisenhaus „Dom Sierot“ wechselte, wähle ich einen stratifikationstheoretischen Ansatz. Die Perspektive wird von Henryk Goldszmit und seiner Biographie auf das Verhältnis zu seinen Eltern und Großeltern verschoben. Eine solche familialistische Blickrichtung wird über die bisherigen Erklärungsansätze der Korczak-Forschung hinausgehen, weil sie in einem ersten Schritt erfragt, was Henryk Goldszmit von seinen Vätern ererbte und in einem zweiten Schritt versucht zu erklären, wie sich dieses generationale Erbe auf seinen individuellen Lebenslauf ausgewirkt hat. Die Erforschung der Familie im Judentum ist ein verhältnismäßig junges Forschungsobjekt. In den Standardwerken der sozialhistorischen Familienforschung bleibt die jüdische Familie weitestgehend auf die Periode des Altertums beschränkt (vgl. Keil 2001: 90). Zwar konnte die jüdische Genealogieforschung (zu Biographien einzelner und zumeist prominenter Familien) im deutschsprachigen Raum ein Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden35, doch schon die Gebrüder Zweig (Stefan 1881–1942 und Alfred 1879–1977) haben auf die Spannung zwischen genealogischer Forschung und Familiengeschichte hingewiesen: Ein „Stammbaum ist noch keine Familiengeschichte. Er kann ihr bloß Rückgrat sein, die erste Voraussetzung dafür bilden. Denn diese Geschichte hat das Leben und Wirken der Familienmitglieder und Gruppen aufzuzeichnen und, höheren Flugs, die Familienschicksale in ihrer lebendigen Verflechtung mit der physischen und geistigen Umwelt, mit den nationalen und religiösen Gemeinschaften, den politischen und Wirtschaftsverbänden, mit den sozialen und kulturellen Bestrebungen der Zeitgenossen zur Darstellung zu bringen“ (Zweig 1932: 6).

Dieser Forderung kommt die Genogrammarbeit nach, auch wenn man an dieser Stelle den Einwand erheben kann, dass mir über die Genogrammanalyse zwar 35 Georg Gauguschs Trilogie „Wer einmal war“ (2011, 2016 und voraussichtlich 2020) etwa, in der er das jüdische Großbürgertum in Wien beschreibt. Seine Arbeit „versucht, durch das detaillierte genealogische Rekonstruieren der tragenden jüdischen Familien Mitteleuropas die handelnden Personen und ihr familiäres Verhältnis zueinander zu dokumentieren. Es geht hier um Individuen und deren Leistungen, eingebettet in ein großes Netzwerk“ (Gaugusch 2016: IX).

2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

33

ein aufschlussreicher Zugang zu meiner Fragestellung („warum Janusz Korczak scheinbar den Berufswechsel vom Mediziner zum Pädagogen vollzogen hat“) gelingt, aber die Gefahr besteht, dass sie das Spekulative an manchen Stellen mit objektiven Tatsachen verweben wird. Fakt ist: Weil die Daten selbst schweigen, müssen sie zum Sprechen gebracht werden und ich habe einen Weg gefunden, um das empirisch generierte Datenmaterial aufzuschließen. Auf diese Weise kann ich die Oberfläche des Datentextes durchbrechen (vgl. Strübing 2006: 151) und das Material mit meinem theoretischen Wissen konfrontieren. Auch wenn andere Deutungen möglich sind (vgl. Schultheis / Schulz 2005: 13), werde ich über meine Interpretationsleistung die Strukturbedingungen der Berufsbiographien aus den überlieferten Quellen erschließen und eine Fallstrukturhypothese zum Familienthema der Goldszmits generieren können. Dabei werde ich stets versuchen, den Grundsatz der Genogrammanalyse, nichts in die Familiengeschichte hineinzulesen, was aus dem Genogramm nicht herausgelesen werden kann, einzuhalten. Ich bin in jedem Fall darum bemüht, zwischen der Objektivität sozialer Strukturen und der in meinen Deutungsprozessen erfolgten, konstruktiven also interpretativen Aneignung zu unterscheiden. Zudem bin ich mir der Grenzen der Genogrammanalyse bewusst. Wenzl und Wernet betonen, dass bei der Analyse objektiver Daten nicht die Regelkompetenz eines „native speaker“ und kein daraus sich ergebendes intuitives Wohlgeformtheitsurteil in Anschlag gebracht, sondern ein sozio-historisches Expertenwissen mobilisiert wird, das ein Kontextwissen darstellt, das thematisieren kann, was es typischerweise heißt, hier und nicht dort geboren zu sein, dieser und nicht jener Generation anzugehören, diesen und keinen anderen Berufsweg ergriffen zu haben (Wenzl und Wernet 2015: 89). Die Genogrammanalyse verwebt die Daten in ein Muster, um eine Fallstrukturhypothese zu formulieren und hat in der Regel eine Vorbereitungs- bzw. Begleitfunktion für die Analyse von Interviewmaterial. Sollte die sich anschließende Interviewanalyse die Befunde der Analyse der objektiven Daten nicht bestätigen, ist die letztere als widerlegt anzusehen (vgl. ebd.: 99). Leider konnte ich kein Interviewmaterial erheben, durch das ich die Analyse meiner tatsachenwissenschaftlichen Datensammlung bestätigen oder widerlegen kann. Somit bin ich auf die wenigen autobiographischen Quellen sowie Dokumente Henryk Goldszmits und seiner Familienmitglieder angewiesen, die ich im weiteren Verlauf analysiere. Nun aber zur Methode der Genogrammanalyse: In der Fallrekonstruktiven Familienforschung sind Genogramme „in der Abfolge objektiver Daten wie Geburts- und Todestag, Beruf, Wohnort, Heirat das Ergebnis von Entscheidungen in lebenspraktisch zu bewältigenden Krisen vor dem Hintergrund objektiv gegebener Möglichkeitsräume“ (Hildenbrand 2004: 257). In der Forschungspraxis führt die Genogrammarbeit eine Perspektive ein, die sowohl eine Fülle von Theoriebeständen integriert als auch ein praktikables Instrument zum Erschließen von Sinnstrukturen 33

34

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

von Familien bereitstellt (ebd.: 257). Die mehrgenerationale Perspektive erlaubt es, individuelle Frage- und Problemstellungen nicht nur mit der Familienstruktur zu verknüpfen, sondern auch seine historische Entwicklung nachzuvollziehen. Genogramme dienen nicht bloß dazu, Familiengeschichten nachzuerzählen oder aus der Beschreibung von sich wiederholenden Familienkonstellationen und -ereignissen auf Regelhaftigkeiten zu schließen. In diesem Punkt denkt Hildenbrand die Genogrammarbeit im Sinne McGoldricks und Gersons als Verknüpfung von Familienberatung und Familienforschung weiter. So wie er sie versteht, liegt ihr die objektive Hermeneutik als die Kunstlehre des Verstehens zugrunde (vgl. Hildenbrand 2013: 93). Hildenbrand plädiert deshalb für eine ressourcenorientierte Genogrammarbeit, welche die Defizitperspektive auf das Individuum zu überwinden versucht. Indem es immer wieder vor Entscheidungen gestellt wird, entstehen Krisenkonstellationen, „in denen sich die Autonomie einer konkreten Lebenspraxis herausbildet bzw. erweist“ – und „der Normalfall ist so gesehen die Krise“ (Hildenbrand 2005c: 19). Die Routine wird zu einem Grenzfall bzw. einem Übergangsstadium zwischen zwei Krisen, die den eigentlichen Ort zur Realisierung von Möglichkeiten darstellen. Es wird immer das Genogramm eines einzelnen Falles untersucht. Bei der Untersuchung werden Muster aus dem Genogramm mit Blick auf die Entwicklung der Familie heraus- und nicht hineingelesen. Diesem Anspruch wird die Sequenzanalyse als ein geeignetes Vorgehen gerecht, „das es ermöglicht, methodisch kontrolliert vorhandenes Wissen (aus unterschiedlichen Quellen) in den Prozess des Fallverstehens einzuführen“ (ebd.: 66). Schritt für Schritt werden die unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten der Familienmitglieder als Akteure und Akteurinnen sequentiell rekonstruiert und mit ihren tatsächlich getroffenen Entscheidungen konfrontiert. Jede einzelne Äußerung wird für sich und abhängig vom realen Kontext betrachtet, um mögliche Lesarten zu erschließen und voneinander abzugrenzen (vgl. Beetz und Franzheld 2017: 120). Um die Prozesse des sozialen Wandels, den eine Familie erlebt hat, zu erfassen, ist es notwendig, mindestens drei Generationen zu überblicken. Von Bedeutung sind dabei die objektiven Daten, da sie Antworten auf die Herausforderungen der Lebenspraxis geben (vgl. Hildenbrand 2005c: 19 ff.). Zu ihnen zählen nicht nur die faktischen Lebensereignisse wie Geburten, Heiraten, Sterbefälle und Umzüge, die in der Regel amtlich dokumentiert werden, sondern auch historische und biographische Ereignisse wie Kriege, Behinderungen oder Krankheiten. Ziel ist es, mit den Daten „eine Hypothese über das Muster herauszuarbeiten, das die Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben steuert, vor die Individuen, Paare und Familien gestellt sind“ (ebd.: 24). Das epochale (historische) Wissen vermag es, das Fallverstehen anzuregen. Die sequentielle Analyse rekonstruiert die Familiengeschichte immer auch im

2.1 Zur Herkunft und Methode der Genogrammanalyse

35

Kontext der jeweiligen Zeit- und Kulturgeschichte. Abbildung drei („Drei Ebenen des Fallverstehens“) verdeutlicht die Eingebundenheit des Individuums in den Kontext der Familien- und Zeitgeschichte, dessen Selbstbild nicht losgelöst vom Familien- und Sozialbild entsteht, sondern sich immer auch in Abhängigkeit von ihnen konstituiert:

Abb. 3 Drei Ebenen des Fallverstehens (eigene Darstellung)

Bei der Genogrammanalyse wird gewöhnlich bei der ältesten Generation auf der Seite des Vaters begonnen. Von ihm aus wird Person für Person in den Blick genommen. Die kontextfreie Analyse ist von besonderer Bedeutung, denn bevor das tatsächliche Handeln eines Familienmitgliedes aufgedeckt werden kann, wird jedes einzelne Datum auf die damals objektiv gegebenen Handlungsmöglichkeiten befragt (vgl. Hildenbrand 2013: 94). Dieses Verfahren ist zeitlich aufwändig, aber nur so ist es möglich, zentrale Lebens- und Familienthemen zu rekonstruieren. Hypothesen werden nicht gezielt auf das Individuum formuliert, sondern immer mit Blick auf das gesamte Familiensystem und wenn das Muster gefunden wurde, was es zu erschließen galt, ist die Genogrammarbeit beendet (vgl. Hildenbrand 2005c: 69). Erst im Anschluss werden die Geschichten bedeutsam, aus denen die objektiven Daten generiert wurden. Auf diese Weise lässt sich die „gelebte Lebensgeschichte“ (sie enthält die Genogrammdaten und die darauf bezogene Sequenzanalyse) von der „erlebten Lebensgeschichte“ (sie enthält die biografischen 35

36

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Erzählungen sowie deren Rekonstruktion) unterscheiden (vgl. Rosenthal 1995: 14). Die Genogrammarbeit als Sequenzanalyse lässt sich in der Praxis am konkreten Fall noch besser nachvollziehen. Deshalb beschränken sich die Vorbemerkungen an dieser Stelle auf die theoretischen Grundlagen und das Vorgehen in seinen wesentlichen Grundzügen.

2.2

Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

2.2

Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“ (Kierkegaard 1923: 203)

2.2.1 Gelebte Lebensgeschichte(n) – Henryk Goldszmit als die verkörperte Beständigkeit seiner Ahnen Die Rekonstruktion der Familiengeschichte im Rahmen meiner Genogrammanalyse im Kontext der jeweiligen Kultur- und Zeitgeschichte Polens folgt dem interpretativen Paradigma der qualitativen Sozialforschung. Die Genogrammarbeit als eine Form der Familienforschung und qualitativen Biographieforschung macht deutlich, dass der Anfang jeder Lebensgeschichte in die Familiengeschichte eingebettet ist und die einzelnen Familienmitglieder durch eine gemeinsame Beziehungsgeschichte miteinander verbunden sind. Die erzählten Lebensgeschichten, welche vorwärts gelebt wurden, können nur noch rückwärts verstanden werden. Henryk Goldszmit hat seine (Ur-)Großeltern teilweise nicht persönlich kennen lernen können. Über Erzählungen wurden aber auch die Verstorbenen im familialen Gedächtnis am Leben gehalten, so dass er zur verkörperten Beständigkeit seiner Ahnen wurde. Über den methodischen Zugang der Genogrammarbeit als sequenzanalytisches Verfahren sind im Folgenden qua objektiver Daten zur Lebens- und Familiengeschichte der Goldszmits die Entscheidungs- und Handlungsmuster herauszustellen, welche die Familienmitglieder als Akteure und Akteurinnen im Lebenslauf vor dem Hintergrund tatsächlich gegebener Möglichkeiten bilden (vgl. Schierbaum 2017: 155). Da sich die Genogrammanalyse über mindestens drei Generationen erstrecken soll, habe ich die dafür notwendigen objektiven Daten innerhalb eines umfangreichen Literatur- und Quellenstudiums recherchiert. Mein Datenkorpus setzt sich aus unterschiedlichen Datensorten zusammen und umfasst neben (1) autobiographischen (Tagebüchern, Lebensläufen und Dokumenten) auch (2) biographische (Biographien und Zeitzeugenberichte) Quellen. Darunter bspw. Betty

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

37

Jean Liftons (1926–2010) „Der König der Kinder. Das Leben von Janusz Korczak“ (1988), eine biographische Erzählung, die auf Quellen und Recherchen in Warschau rekurriert. Oder Friedhelm Beiners Werkbiographie „Themen seines Lebens“ (2010), der es gelungen ist, die biographischen Bezüge zum gesellschaftskritischen und pädagogischen Gesamtwerk Janusz Korczaks herzustellen. Aleksandra Kalisz weist (zu Recht) darauf hin, dass sich Autoren und Autorinnen (in Polen) zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise Henryk Goldszmits Lebensgeschichte angenähert haben (vgl. Kalisz 2014: 30). Um dies zu illustrieren, untersuchte sie vier Publikationen: (I) Hanna Mortkowicz-Olczakowas „Janusz Korczak“ (1949, ein narratives Portrait), (II) Igor Newerlys „Żywe wiązanie“ (2001, dt. „Das Lebensband“, ein Portrait, das Henryk Goldszmit auf der Suche nach seinem eigenen Weg beschreibt), (III) Aleksander Lewins „Korczak znany i nieznany“ (1999, dt. „So war es wirklich: Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis von Janusz Korczak“, eine Biographie, die auch auf seine pädagogischen Ideen und die Geschichte des „Dom Sierots“ eingeht) und (IV) Joanna Olczak-Ronikiers „Korczak – próba biografi“ (2011, dt. „Korczak – Versuch einer Biographie“, die Henryk Goldszmit nicht als Helden, sondern typischen Repräsentanten der jüdischen Minderheit in Polen darstellt)36. Die Autoren und Autorinnen haben gemeinsam, dass sie mit Henryk Goldszmit persönlich bekannt waren, denn Mortkowicz-Olczakowas Vater war sein Verleger, Newerly war sein Sekretär, auch Lewin hat mehrere Jahre für ihn gearbeitet und Olczak-Ronikier ist die Tochter Mortkowicz-Olczakowas. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Herangehensweise bzw. in ihrem Blick auf sein Leben und Werk, denn sie konnten sich mit wachsendem zeitlichem Abstand emotional zur Shoah distanzieren, so dass neben narrativen auch wissenschaftliche Publikationen erschienen sind. Im Hinblick auf die Zukunft ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass sich auch weiterhin neue Perspektiven eröffnen und Henryk Goldszmit neue Plätze im kollektiven Gedächtnis einnehmen wird (vgl. ebd.: 41). Die Suche nach den Spuren der Familiengeschichte erwies sich als schwierig, weil viele Daten nicht nur lückenhaft, sondern auch unterschiedlich publiziert wurden. Die Quellenlage ist unvollständig, weil nur noch wenige Urkunden und Artikel, welche als Quellen verlässlich Auskunft zu Geburts- und Sterbedaten, Heirat, Kinderzahl oder Umzügen geben können, existieren. Das Andenken der polnischen Juden und Jüdinnen wurde während der Shoah fast vollständig vernichtet und mit ihm auch ein großer Schatz von Dokumenten, Wissen und Erinnerungen. Die Spuren der Familie Goldszmit verlieren sich spätestens im Jahre 1942.

36 Bisher leider weder in englischer noch in deutscher Sprache erschienen. 37

38

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Die objektiven Daten, die ich zusammen tragen konnte, wurden von Marta Cisielska37 bestätigt und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme polnisch-sprachiger Quellen korrigiert und ergänzt. Außerdem hat das „Nowa Panorama Literatury Polskiej“ (NPLP)38 Henryk Goldszmits Stammbaum und interaktive Karten als Online-Ressourcen in den letzten zwei Jahren zugänglich gemacht. Die digitale Sammlung präsentiert zudem eine Auswahl von Schriften seines Vaters und Onkels sowie eine Vielzahl visueller Quellen, darunter gescannte Fotografien und wichtige (nie zuvor veröffentlichte) Aufzeichnungen und Dokumente, welche Auskunft über die Schicksale der Familienmitglieder geben. Glücklicherweise kann man auswählen, ob die Internetseite in polnischer oder englischer Sprache angezeigt wird, so dass es keine Übersetzungsschwierigkeiten gibt. Daraufhin habe ich das Genogramm der Familie Goldszmit über vier Generationen gezeichnet, das in dieser Form nun zum ersten Mal publiziert wird. Es bildet die Grundlage für die Fallmonographie und wird immer dann um epochales Wissen ergänzt, wenn (zusätzliche) Informationen für die gelebten und erlebten Lebensgeschichten notwendig werden, die die Goldszmits hätten geben können, aber nicht gegeben haben. Fehlende Daten sind einzuholen, „und zwar dort, wo sie zu gewinnen sind“ (Hildenbrand 2005a: 34) – also nicht nur bei der Familie selbst, sondern auch in regional- und sozialgeschichtlichen Studien oder sozialstatistischen Übersichten. Abbildung vier zeigt das Genogramm der Familie Goldszmit und dient im weiteren Verlauf der Orientierung. Männliche Familienmitglieder werden durch ein Quadrat und weibliche Familienmitglieder durch einen Kreis symbolisiert. Neben dem Vor-, Geburts- und Familiennamen, wurden – soweit bekannt – auch das Geburts- und Sterbejahr, der Beruf / die Berufe und besondere Informationen wie bspw. Erkrankungen in das Genogramm als objektive Daten aufgenommen. Linien symbolisieren die Beziehungen der Personen untereinander und zeigen, wer mit wem wann und wo die Ehe eingegangen ist und Kinder bekommen hat. Die Geschwisterreihe zeigt von links nach rechts die Kinder vom Erst- zum Letztgeborenen. Totgeburten werden mit einem Kreuz im Symbol markiert.

37 Sie ist Leiterin des Korczakianums in Warschau, der wissenschaftlichen Stelle des Warschauer Museums / Pracownia Naukowa Muzeum Warszawy. Ihr gebührt an dieser Stelle mein Dank. 38 Das NPLP ist Teil des Zentrums für Digitale Geisteswissenschaften am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Es besteht aus verschiedenen Sammlungen, die jeweils eine andere „wissenschaftliche Geschichte“ erzählen Das Team ist interdisziplinär und setzt sich aus Literatur- und Kulturwissenschaftlern, Grafikern und Typographen zusammen.

Magdalena

* 1837 † n. 1905

Józef

* 1844 † 1896

Maria

* 1841 † 1918

Goldszmit

Pistolowa

oo // 1867 durch den Tod geschieden

* 1826 † 1877

Józef Adolf Juliusz

* 1828 † 1836

Gebicki Gebicki

Ber.1: Arzt

Jakub

* 1848 † 1912

Goldszmit

Cécylia

* 1853 † 1920

geb. Goldszmit Ber.1: Übersetzerin

Sy phillis Selbstmord

Anna

Lui * 1875 † 1942

oo / 1909 durch den Tod geschieden

* 1870 † 1909

Józef

Lui

Ber.1: Arzt Ber.2: Pädagoge JANUSZ KOR CZAK

Henryk

* 1878/79 † 1942

Goldszmit * 1882

geb. Deitzer

Mina

* 1830/31 † 1892

Gebicka

oo

geb. Natt

Karol

* 1854 †?

Cyrla

* 1800 † 1845

Deitzer

* 1862

Gebicki Gebicka

oo 1853 Kalisz

Goldszmit

geb. Ejser/R ajz Ber.1: Textilhersteller Ber.2: Kaufmann

* 1807 † 1867

Chana Anna

Goldszmit

oo Py zdry

Szymon

* 1801 † 1869

Maurycy

* 1796 † 1853

Anna Rozalia

* 1780 † nach 1853

Deitzer

Gebicka

Gebicki

Ludwik nach Tauf e geb. Goldszmit geb. Goldszmit Ber.1: Anwalt Ber.1: Anwalt geb. Gebicka Ber.1: Kaufmann (Mindla) 3 Kinder Ber.2: Publizist Ber.2: Publizist oo an Ty phus gestorben // 1896 1874 in Kalisz, durch den Tod in Warschau geschieden

* 1831 †?

Leizor

Goldszmit

Ber.1: Chirurg Ber.2: Gelehrter

* 1804 † 1872

Hirsz

Goldszmit

Rejnervowa

*? †?

*? †?

Ber.1: Glaser Ber.2: Kaninchenfellhändler oo Hrubieszów

Goldszmit

Goldszmit

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her 39

Abb. 4 Genogramm der Familie Goldszmit (eigene Darstellung)

39

40

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Ich werde meine Analyse mit dem Urgroßvater väterlicherseits beginnen. Zwar ist es unwesentlich, auf welcher Seite man anfängt, doch da es sich bei den Goldszmits um eine Familie handelt, die sich in einer patriarchalischen Gesellschaft bewegte, ist es sinnvoll bzw. nicht falsch auf der väterlichen Linie zu beginnen.

2.2.2 Die Urgroßelterngeneration väterlicherseits Der Urgroßvater Goldszmit: „Damit es hell und warm werde …“ Der Urgroßvater väterlicherseits war Glaser und ein strenggläubiger Jude. Er trug mit großer Sicherheit einen jüdischen Vornamen aus dem Familienfundus. Dieser galt seinerzeit als Glaubensbekenntnis zum Judentum und diente der Abgrenzung gegenüber der nichtjüdischen Welt. Er lebte in der südpolnischen Provinzstadt Hrubieszȯw. Die Stadt wurde 1254 zum ersten Mal urkundlich erwähnt und hat das Stadtrecht im Jahre 1400 erhalten. Die Niederlassung der jüdischen Stadtbevölkerung lässt sich bis in das Jahr 1444 zurückverfolgen (vgl. Lifton 1988: 482). Von 1772 bis 1809 gehörte Hrubieszȯw zu Galizien (Österreich) und entwickelte sich zu einer Hochburg des Chassidismus (vgl. Schumacher-Bruhnes 2010: Abschn. 50). Von 1809 bis 1815 zählte die Stadt zum Herzogtum Warschau und nach 1815 zum russischen Kongresspolen. Zur Zeit des Urgroßvaters pflegten jüdische Glaser noch auf die Stör zu gehen, so dass sie häufig nur den Tag der Ruhe (Sabbat) zu Hause verbrachten (vgl. Haumann 1991: 103). Als Glaser wanderte der Urgroßvater mit großer Sicherheit von Dorf zu Dorf, so dass er häufig zu Hause abwesend war. Der Beruf des Glasers war und ist ein traditionsreiches Handwerk im Dienstleistungsbereich. Das Handwerk gehörte neben dem Handel und der Kredittätigkeit zu den Grundbeschäftigungen der jüdischen Stadtbewohner. Bereits Zeugnisse aus dem 15. Jahrhundert bestätigen, dass polnische Juden auch Berufsfelder wählten, die nichts mit der Ausübung religiöser Vorschriften zu tun hatten. Zu ihnen zählte auch das Glaserhandwerk (vgl. Cała et. al 2000: o. S.). Im 18. Jahrhundert waren viele Juden außerdem im Leder- und Pelzhandel aktiv (vgl. Haumann: 101). Es gab einen Absatzmarkt für Felle, was erklärt, warum der Urgroßvater auch mit Kaninchenfellen handelte. Henryk Goldszmit erinnert ihn in einem Artikel in „Unsere Rundschau“ wie folgt: „Der Urgroßvater war Glaser in einem kleinen Städtchen. Die armen Leute hatten damals keine Scheiben in den Fenstern. Der Urgroßvater ging in die Höfe und setzte Scheiben ein. Er kaufte Hasenfelle. Gern denke ich, dass mein Urgroßvater Scheiben einsetzte, damit es hell werde, und Felle für Pelze kaufte, damit es warm werde“ (Korczak in Langhanky 1994: 76).

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

41

Als strenggläubiger Jude wird der Urgroßvater die Ehe mit einer strenggläubigen (und jüngeren) Jüdin eingehen. Die Orthodoxie war vor allem in Galizien gut organisiert und die Gruppe der Strenggläubigen groß. Vielleicht war der Urgroßvater auch eine Frühehe eingegangen, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches war (vgl. Ruppin 1930: 198), um die Knaben davor zu schützen, vorzeitig in die Armee des Zaren eingezogen zu werden. Die Ehestiftung hat bei den Juden und Jüdinnen eine lange Tradition und konnte auch von Angehörigen arrangiert werden. Zu jener Zeit stand noch die Verbindung zweier Familien im Vordergrund und die Ehe gründete sich nur selten auf eine individuelle Entscheidung oder das Gefühl der Liebe. Es wurde darauf geachtet, dass die Familien neben der Religiosität auch in Bezug auf Bildung und Ansehen miteinander harmonierten. Daneben war die „Nedunja“ (Mitgift) Ausschlag gebend, weil Männer in der Regel erst dann ihr Elternhaus verließen bzw. verlassen konnten, wenn sie mit der Mitgift ein eigenständiges Leben beginnen konnten. Die Mitgift galt als Ausgleich für die fehlende Erbfähigkeit der künftigen Ehefrau und betrug als Richtwert etwa ein Zehntel des väterlichen Vermögens (vgl. Keil 2001: 92). Zu jener Zeit wurden Frauen von ihren Müttern in den Elternhäusern unter Verzicht auf eine weltliche Bildung zu Sitte und Sittlichkeit, aber auch zu großer Bescheidenheit erzogen, so möglicherweise auch die Frau des Urgroßvaters. Sie war vermutlich Hausfrau und Mutter. Um aber nicht etwas in die Familiengeschichte hineinzulesen, was aus dem Genogramm nicht herausgelesen werden kann, müssen die Ausführungen zur Partnerwahl an dieser Stelle abgebrochen werden. Sicher ist aber, dass es ein Leitmotiv der israelitischen Ehegesetze war, dass die Ehe den sexuellen Trieb in die sittlich gebotenen Schranken weisen und seinem natürlichen Zwecke zurückführen sollte (vgl. Weigl 1911: 266). Weil die Kontrazeption unter den Strenggläubigen im 18. und 19. Jahrhundert noch verboten und die Geburtenziffer umso höher war, je näher die Eheleute der jüdischen Religion und ihren Traditionen standen, werden die Urgroßeltern wahrscheinlich mehr als ein Kind haben.

2.2.3 Die Großelterngeneration väterlicherseits Hirsz Goldszmit, der Schwankende Als einziges Kind des Ehepaares Goldszmit wird der 1804 geborene Sohn Hirsz (Hersz) erinnert (siehe Abbildung vier). „Hirsz“ wurde vor allem von Jiddisch sprechenden Juden und Jüdinnen als Name für ihre Kinder ausgewählt. Es ist nicht bekannt, ob er das einzige Kind war bzw. an welcher Stelle er in der Geschwisterreihe stand. 41

42

2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Als Sohn strenggläubiger Eltern wird er mit drei oder vier Jahren in den Cheder (die jüdische Elementarschule) gegangen sein. Dort lernten die Jungen das hebräische Alphabet und die hebräische Sprache, um die Thora (den ersten Teil des Tanach, der hebräischen Bibel) lesen und später in der „Jeschiwa“ (einer jüdischen Hochschule) studieren zu können. Seinen Eltern war aber nicht nur an seiner religiösen, sondern auch an seiner weltlichen Bildung gelegen, weil er eine weiterführende Schule besucht und die Matura abgelegt haben muss. Für Hirsz Goldszmits berufliche Orientierung gibt es eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten: Wenn er zum Ebenbild seines Vaters heran gewachsen ist, wird er Handwerker und erlernt wie sein Vater den Beruf des Glasers oder steigt in den statushöheren Fellhandel ein. Tatsächlich stellte der Beruf des Vaters keinen Orientierungsrahmen dar, denn Hirsz Goldszmit studierte Medizin in der ehemaligen Hauptstadt Ostgaliziens. Lemberg galt seit dem Mittelalter als ein Zentrum jüdischen Lebens (vgl. Haumann 1991: 158) und war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1918) die viertgrößte Stadt im Habsburger Reich. Die „Nationale Medizinische Danylo-Halytskyj-Universität“ wurde im Jahre 1661 gegründet, als König Johann II. Kasimir das Jesuitenkollegium zu einer Akademie mit dem Titel „Universität“ erhoben hat. Sie wurde im Jahre 1784 zur vollwertigen Universität. Dass Hirsz Goldszmit den Beruf des Arztes ergreifen bzw. an einer der ältesten und renommiertesten Hochschulen Galiziens studieren konnte, war nicht selbstverständlich, weil der Zugang für Juden zu den staatlichen Universitäten noch beschränkt war. Erst seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts war es jüdischen Männern überhaupt erlaubt, in den akademischen Arztberuf einzutreten und seit Ende des 18. Jahrhunderts durften sie an den Universitäten promovieren (vgl. Wolff 2014: 10). So gelesen, war Hirsz Goldszmit ein Pionier unter den jüdischen Medizinern seiner Zeit, dem es gelungen war, aus seiner strenggläubigen Familie herauszutreten und ein säkulares Studium aufzunehmen. Nach seinem Studium kehrte er nach Hrubieszȯw zurück, das zu Beginn seines Studiums bereits Kongresspolen (Russland) unterstand. Laut einer „Liste der Ärzte und Apotheker im Königreich Polen“ aus dem Jahre 1839 hat er eine Anstellung als Chirurg am „Szpital Starozakonnych“ gefunden (vgl. Lifton 1990: 482). Das Krankenhaus war ein bescheidenes zweistöckiges Gebäude, in dem die Kranken der jüdischen Gemeinde behandelt wurden. Hirsz Goldszmit war als Arzt in einem Spital eine Respektsperson. Als solche war er sozial anerkannt und genoss vermutlich ein hohes Ansehen in der jüdischen Gemeinde, obwohl er sich offen der jüdischen Aufklärung zugewandt hat (vgl. Lifton 1988: 32). Seine Gemeinde umfasste etwa 3.000 Mitglieder und machte die Hälfte der Hrubieszȯwer Stadtbevölkerung aus (vgl. ebd.: 33). Hirsz Goldszmit unterstützte mit finanziellen Mitteln den Bau einer neuen Synagoge und setzte sich für die Annahme europäischer Gewohnheiten ein.

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

43

Denn neben der (politischen) Gleichberechtigung der Polen / Polinnen und Juden / Jüdinnen befürwortete er nicht nur die Verbreitung moderner und weltlicher Lehren, sondern auch die Entstehung einer neuen Kultur, die den Integrationswillen der Juden und Jüdinnen hör- und sichtbar machte. Als aufgeklärter Jude hatte er auf das Jiddische zugunsten der polnischen Sprache verzichtet, den Kaftan gegen europäische Kleidung getauscht und sich den Bart und die Schläfenlocken abrasiert – alles samt Merkmale, die ihn äußerlich nicht mehr als einen Juden in Erscheinung treten ließen und einen Wechsel bzw. Wandel symbolisierten. Auch wenn er die jüdische Religion und Tradition nicht gänzlich hinter sich ließ, strebte er zum Polentum. Er hat sich dafür entschieden, sein Leben, seine gesellschaftliche Rolle und sein Schicksal zu ändern, das und die ihm qua Geburt von seinen strenggläubigen Eltern vorherbestimmt waren. Ob der Bruch mit dem traditionellen jüdischen Milieu auch einen Bruch mit seiner Familie bedeutete, ist nicht bekannt. Dass er nach seinem Studium nach Hrubieszȯw zurückgekehrt ist, spricht eher dagegen. Kurz zum historischen Hintergrund und Verständnis: In den europäischen Mehrheitsgesellschaften waren die Juden und Jüdinnen eine Minderheit, die erst nach der Französischen Revolution (1789 bis 1799) die rechtliche Gleichstellung erhalten konnte. Die jüdische(n) Identität(en) veränderte(n) sich im Zuge der jüdischen Aufklärung, die zwischen den 1770ern und 1780ern zuerst das jüdische Bürgertum in Berlin ergriffen hat. Die Haskalah versuchte, die Ideen der europäischen Aufklärung mit den Werten des Judentums zu verknüpfen; und trat für mehr Toleranz und eine bürgerliche Gleichberechtigung der Juden und Jüdinnen in den Ländern Europas ein. Die jüdische Aufklärung war durch eine kulturelle Krise ausgelöst worden, die mit einem Autoritätsverlust der Rabbiner einhergegangen ist. Es kam zu einer Spaltung der jüdischen Gesellschaft, die Heinrich Heine (1797–1856; selbst Jude) in seinem satirischen Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1843) zusammenfasst: „Die Juden teilen sich wieder ein In zwei verschiedne Parteien; Die Alten gehn in die Synagog‘, Und in den Tempel die Neuen. Die Neuen essen Schweinefleisch, Zeigen sich widersetzig, Sind Demokraten; die Alten sind Vielmehr aristokrätzig.“ (Heine 1974: 8)

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Die Haskalah ist im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Erscheinungen der jüdischen (intellektuellen) Kultur geworden. Die Bewegung konnte sich von Berlin in einer zweiten Welle als eine Form der Minoritäten-Aufklärung bis in die urbanen Milieus Osteuropas ausbreiten und erlebte ihre Blüte zwischen den 1850er bis 1890er Jahren. Auch wenn der Handlungsrahmen der aufgeklärten Ostjuden und -jüdinnen konflikthaft(er) als der ihrer Glaubensgenossen in Westeuropa war, weil die staatlichen Autoritäten und nicht-jüdischen Intellektuellen nicht sonderlich an ihrer Integration (und Emanzipation) interessiert waren, konnte die Haskalah die Grundlage für ein kulturelles, wenn auch noch nicht politisches jüdisches Nationalbewusstsein schaffen. Die Anhänger der Haskalah nannten sich Maskilim und hegten ein Interesse an der säkularen Welt. Es war ihr Ansinnen, die Juden und Jüdinnen zu befreien, ohne sich dabei den traditionell jüdischen Gedanken zu verweigern. Neben der Haskalah hat sich der Chassidismus immer stärker verbreitet und sich zu einer „Volkskultur mit umfassenden Ansprüchen an Bildung von Geist und Gemüt“ (Jouhy Bd. I 1988: 220) entwickelt. Auch der Chassidismus war eine Erneuerungsbewegung, die aber als „mystisch-ekstatischer Kult“ (vgl. Augustynowicz 2017: 48) in Erscheinung getreten ist. Die Chassidim lehnten eine Akkulturation und Assimilation in die polnische Gesamtgesellschaft ab und lebten stattdessen in den Schtetln39 einen zurückgezogenen „Lebens- und Frömmigkeitsstil, der von Ausgelassenheit, ekstatischen Gebetspraktiken und anderen eigenen Bräuchen geprägt war“ (Balog und Morgenstern 2010: Abschnitt 5). Sie stellten sich den modernen Ideen der Aufklärung und einem jüdischen Nationalismus entgegen, so dass es zwischen dem Chassidismus und der Haskalah seit dem 19. Jahrhundert immer häufiger zu Auseinandersetzungen gekommen ist. Ihr Konflikt kann aber nicht als reiner Kulturkampf zwischen orthodoxen Traditionalisten und zur Assimilation bereiten Modernisten abgetan werden, weil sie häufig demselben Milieu angehörten. „Sie entstammten orthodoxen Familien und waren den Talmudakademien entflohen, um in gleicher Weise Kontinuitäts- und Erneuerungslösungen zu finden. Auch der Chassidismus lässt sich als Versuch verstehen, die jüdische Gegenwart neu zu schreiben“ (Schumacher-Bruhnes 2010: Abschnitt 42). Neben diesen zwei Strömungen hat sich der Zionismus als eine weitere herausgebildet und Abbildung fünf („Drei Strömungen des Judentums) fasst ihre Grundsätze noch einmal zusammen: 39 Als Schtetl (jiddisch; deutsch „Städtlein“) wurden (vor dem Zweiten Weltkrieg) osteuropäische Siedlungen mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil bezeichnet. Sie entsprachen nicht den später eingerichteten Ghettos, auch wenn Stadtteile größerer Städte als Schtetl benannt wurden.

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

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Abb. 5 Drei Strömungen des Judentums (eigene Darstellung)

Nun aber zurück zu Hirsz Goldszmit, der eine passende Ehefrau an seiner Seite braucht. Im Judentum war ein leitender Gedanke, dass bei der Wahl der Gattin eine Frau gewonnen werde, die eine wirkliche Gefährtin für das Leben und eine treue Mitarbeiterin in ihren Bereichen des Hauses sein konnte (vgl. Weigl 1911: 267). Weil er sich der jüdischen Aufklärung zugewandt hat, wird er sich eine Frau suchen, die seine Entscheidung, sich zu assimilieren, mit tragen und selbst nicht strenggläubig sein wird, denn Mischehen waren im 19. Jahrhundert noch ungewöhnlich. Hirsz Goldszmit heiratete die drei Jahre jüngere Chana (Anna) Rajz (Ejser). Über die Umstände ihres Kennenlernens, die Herkunftsfamilie der Braut oder ihre spätere Rolle in der Familie konnten keine (objektiven) Daten zusammengetragen werden. Weil die beruflichen Möglichkeiten der Frauen im 19. Jahrhundert noch immer sehr eingeschränkt waren, wird Chana Goldszmit – so die Lesart – die Hausarbeit erfüllt und für die Erziehung der Kinder Sorge getragen haben. Hier zeigt sich eine Reproduktion der familialen Strukturen der Urgroßeltern in Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Rollen von Mann und Frau blieben traditionell verteilt. Der Mann verdiente mit seiner beruflichen Tätigkeit das Geld (außer Haus), die Frau verblieb im Haushalt und trug die Sorge für die Kinder. Hirsz und Chana Goldszmit werden zwischen vier und sechs Kindern haben. Tatsächlich bekommen sie fünf, drei Söhne und zwei Töchter. Weil sich Hirsz Goldszmit der polnischen Kultur geöffnet hat, werden die Kinder polnische Vornamen erhalten und die Goldszmits dadurch (mehr oder weniger) zu einer Familie im Migrations- bzw. Assimilationsprozess. Denn die Bereitschaft sich integrieren zu wollen, zeigt sich häufig auch an der Vergabe der Vornamen. Bereits der Name des Erstgeborenen – Lejzor – bestätigt die Hypothese. Lejzor ist die polnische Form des hebräischen Namen „Elisier“. Da der Älteste keinen Traditionsnamen der Familie erhält, werden auch seine Schwestern und Brüder keine jüdischen Namen erhalten. Nach Lejzor werden Magdalena (Mindla), Maria, Józef und Jakub geboren. Die Ver45

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

gabe polnischer anstelle transliteriert hebräischer bzw. jiddischer Vornamen steht ganz in der Tradition der Haskalah (vgl. Schumacher-Bruhnes 2010: Abschn. 37), der sich Hirsz Goldszmit zu Beginn des 19. Jahrhunderts – wahrscheinlich während seines Studiums in Lemberg – angeschlossen hat. Die Vermutung liegt nahe, weil die Juden und Jüdinnen seinerzeit vom deutschsprachigen Bildungsbürgertum beeinflusst wurden. Die Reformer sind hier besonders radikal vorgegangen (vgl. Rüthers und Schwara 2003: 58) und die Habsburger waren [anders als die Russen] sowohl an der Aufklärung als auch an der Assimilation der Juden und Jüdinnen interessiert.

2.2.4 Die Generation des Vaters und seiner Geschwister Lejzor (Ludwik) Goldszmit: Der Erstgeborene, der sich taufen ließ Lejzor, der erstgeborene Sohn von Hirsz und Chana Goldszmit, wurde 1831 geboren. Die Zeiten waren turbulent, denn 1830 / 31 ist es zum Novemberaufstand gekommen, der als Polnisch-Russischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Es war nach dem Wiener Kongress (1815) der erste größere Aufstand samt militärischer Auseinandersetzung, um die Unabhängigkeit Polens wiederzugewinnen. Der russische Zar konnte zwar zeitweise abgesetzt werden, doch haben sich die verschiedenen politischen Lager nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Der Kampf war ungleich und hatte von vornherein nur geringe Aussichten auf Erfolg (vgl. Hoensch 1998: 200). Der Novemberaufstand war gescheitert und Kongresspolen hat seine Verfassung und Autonomie verloren. Es stand als Provinz nun unter direkter russischer Herrschaft. Aufgrund folgender Repressionen kam es zu einer Welle der Emigration40, Haftstrafen wurden in Sibirien verhängt und die Bürgerrechte eingeschränkt. Es ist interessant, dass Hirsz und Chana Goldszmit ihrem Sohn keinen traditionellen jüdischen Namen gaben, der auf das Jüdisch-Sein der Familie hindeutet. Lejzor ist „nur“ die polnische Variante des hebräischen Namen „Elieser“ (Bedeutung „mein Gott ist Hilfe“) bzw. der deutschen Übertragung „Gotthilf“. Über den Erstgeborenen ist nur bekannt, dass er im Alter von 18 Jahren (1849) konvertierte. Dieses Ereignis ist durch das „Kirchenbuch der Kirchenkonvertierungen“ überliefert (vgl. Lifton 1990: 484). Lejzor Goldszmit ist vom englischen Missionar Jan Krystan West auf den Namen „Ludwik Goldszmit“ getauft worden (vgl. Instytut Badań Literackich Akademii Nauk 2018: o. S.). Ludwik ist in Polen nun kein außer40 Etwa 9.000 Polen – darunter vor allem Akademiker, Politiker und Hocharistokraten – haben die Provinz gen Westeuropa ziehend verlassen (vgl. Hoensch 1998: 202 f.).

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

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gewöhnlicher Name, aber vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Ereignisse fällt auf, dass der Erstgeborene den Vornamen eines polnischen Revolutionärs (Ludwik Mierosławski, 1814–1874) angenommen hat, der bereits mit sechzehn Jahren als Fähnrich am Novemberaufstand gegen Russland teilgenommen und einer kleinen Gruppe jugendlicher Verschwörer angehört hat. Seinerzeit haben die Diskussionen um die „Judenfrage“ wieder zugenommen. 1835 wurde das „Judenstatut“ verabschiedet. Es stand in einem Widerspruch zur gesamten offiziellen Politik des Russischen Reiches. Auf der einen Seite (I) erlaubte und förderte es die Assimilation der Juden und Jüdinnen, (II) respektierte es die jüdische Religion und gestattete der Jugend, in öffentliche Schulen jeden Niveaus einzutreten, (III) forderte es die Führer der Kahale41 dazu auf, Kenntnis der Russischen Sprache zu haben und (IV) verbot es die jüdische Kinderehe. Auf der anderen Seite (V) wurde das traditionell russische Verbot aufrechterhalten, sich außerhalb der ihnen zugewiesenen Territorien anzusiedeln42, (VI) blieb das Militärregime in Kraft43 und (VII) hat der Zar das Mindestalter von achtzehn Jahren für die Einberufung abgelehnt44 (vgl. Bauer 2013: 369). Die Unterdrückung der Juden und Jüdinnen blieb allgegenwärtig und zeigte sich u. a. im Verbot von 1851, sich jüdisch zu kleiden (bzw. einen Kaftan anzuziehen). Außerdem durften Juden nicht mehr die Pejes (Schläfenlocken) tragen und Jüdinnen sich nach der Hochzeit nicht mehr den Kopf kahl scheren45 (vgl. ebd.: 372). Die „Taufbewegung“ hat im 19. Jahrhundert im Zuge der Französischen Revolution und mit der beginnenden jüdischen Emanzipation eingesetzt (vgl. Ruppin 1930: 295). Eine Konvertierung war unter den Angehörigen der bürgerlichen jüdischen Klassen nicht mehr ungewöhnlich. Arthur Ruppin führt dazu an, dass Russland (Kongresspolen eingeschlossen) mit 84.536 Getauften die größte Zahlt stellte (vgl. ebd.: 296). Auch bekannte Persönlichkeiten wie etwa der Dichter Heinrich Heine oder der Präsident des ersten deutschen Reichstages Eduard Simson haben sich 41 Als „Kahale“ wurden die jüdischen Gemeindeorganisationen bezeichnet, die 1884 in Polen aufgehoben wurden. Bis dahin waren sie innerhalb der jüdischen Gemeinden mit der Erhebung und Verwaltung der Steuern, jüdischer Bildung und Kultur sowie der Rechtsprechung betraut. 42 Der Wohnort konnte erst frei gewählt werden, als Alexander II. den Thron bestiegen hat (nach 1856). 43 Unter Zar Alexander I. dauerte der Militärdienst noch 25 Jahre. 44 Juden konnten zu jener Zeit bereits mit zwölf Jahren in den Militärdienst einberufen werden. 45 Der Brauch das Haar zu bedecken, hat sich im 15. Jahrhundert im orthodoxen Judentum ausgebildet und wird bis heute von den Chassidinnen befolgt, die sich das Haar scheren und ihr Haupt mit dem Tichel (einem Tuch) oder einer Perücke bedecken. 47

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trotz ihrer jüdischen Herkunft taufen lassen (vgl. Barth 1975: 45). Ludwik Goldszmits Übertritt kann im Hinblick auf zwei Motive erklärt werden: Wenn er sich an seinem Vater orientierte und selbst ein aufgeklärter Jude war, kann seine Taufe einerseits als ein symbolischer Akt zum Eintritt in die polnische Kultur gedeutet und ihm ein „kulturelles (postreligiöses) Motiv“ (Hertz 2001: 333) unterstellt werden. Andererseits ist es möglich, dass er einen Zugang zu höheren Bildungschancen erhalten, also wie sein Vater einen akademischen Beruf ergreifen wollte. In diesem Falle könnte Ludwik Goldszmits Handeln auf einem „karrieristischen Konversationsmotiv“ (vgl. ebd.: 332) beruht haben.

Die Töchter Goldszmit: Ihre Geschichte ist keine „Her-Story“ Nach Lejzor werden Magdalena (Mindla) und Maria Goldszmit geboren. Da ihr Vater ein aufgeklärter Jude war, haben sie sich wie ihre Brüder wahrscheinlich „freier“ (als bspw. in orthodoxen Familien) entwickeln können. Es ist nicht auszuschließen, dass sie auch Lesen und Schreiben lernten. Ihre Geschichte im Sinne einer „Her-Story“ wurde vermutlich in den Haus- und Alltagsgeschichten und den Quellen zu diesen überliefert. Privatbriefe, Tagebücher, Notizen, Zeichnungen und Fotos wurden während der Shoah aber vollständig vernichtet. Es fällt auf, dass in der „His-Story“ der Familie oft nicht einmal ihre Geburts- und Sterbejahre erinnert werden, was eine stärkere Fokussierung auf die männlichen Mitglieder verdeutlicht. Von den beiden Schwestern ist bekannt, dass die 1837 geborene Magdalena (Mindla) mit dem Besitzer eines Lotteriebüros aus Lublin und Sohn eines Arztes – Leon Rajner (1822–1942) – 1857 die Ehe eingegangen ist. Sie hatten drei Kinder: Cecylia (1858–1942, sie erhielt den Namen „Aleksandra“, als sie am 23.11.1890 zum Katholizismus konvertierte), Maria Rojza (1867–1942) und Artur / Aron (1871–1872). Magdalena (Mindla) ist 1918 als Witwe in Warschau verstorben. Die 1841 geborene Maria hat ihren Ehemann – den Arzt Rachmil vel Rudolf Pistal (1829–?) 1860 in Tomaszów geheiratet und ist möglicherweise zeitweise mit ihm nach Galizien gezogen. Ob und wie viele Kinder sie hatten, ist nicht bekannt. Es wird nur eine Totgeburt erinnert, als sie bereits 47 Jahre alt war. Außerdem soll sie 1905 ein jüdisches Altenheim in ihrer Heimatstadt Hrubieszów gegründet haben (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.), was zur Jahrhundertwende nichts Alltägliches war.

Józef und Jakub Goldszmit: Die Gebrüder Goldszmit Józef Goldszmit wurde 1844 und sein jüngster Bruder Jakub 1848 geboren. Zum erstgeborenen Sohn haben sie einen Altersabstand von 13 und 17 Jahren. Die Geschwisterreihe liegt nun im Ganzen vor und es zeigt sich, dass keines der Kinder

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

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im Kindesalter verstorben ist, es sei denn, eine Totgeburt oder ein (plötzlicher) Kindstod werden nicht erinnert. Die Kindersterblichkeit war im 19. Jahrhundert noch sehr hoch, aber in jüdischen Familien bereits geringer als in polnischen Familien. Unabhängig von Hirsz Goldszmits Arztberuf war die Hygiene durch die Einhaltung jüdischer Traditionen und Gesetzmäßigkeiten46 eine bessere, auch wenn die Lebensverhältnisse in jüdischen Vierteln oft prekär(er) waren. Außerdem stillten jüdische Mütter ihre Kinder teils bis zum dritten Lebensjahr, so dass ein Kindstod durch eine falsche Ernährung oder Unterernährung seltener eintrat. Am auffälligsten ist noch immer, dass bis auf Lejzor (Ludwik) alle Goldszmit-Kinder Namen aus der Bibel erhalten haben. Abbildung sechs geht auf die Herkunft der Vornamen und ihre Bedeutung näher ein:

Magdalena

•Beiname Maria Magdalenas, der treuesten Jüngerin Jesu •Prostituierte, die Jesus mit ihren Haaren die Füße trocknete

Maria

•polnischer Name •die Mutter Jesu •»welche geliebt wird«

Józef

•»Gott möge einen Sohn hinzufügen« •AT: elfter Sohn Jakobs •NT: Ehemann von Maria und ein Bruder Jesu

Jakub

•»Gott möge schützen« •AT: Sohn Isaaks und Vater von 12 Söhnen, welche die Begründer der 12 Stämme Israels waren •NT: einer von zwei Aposteln oder Bruder Jesu

Abb. 6

Namenvergabe Elterngeneration (eigene Darstellung)

„Nomen est omen“ und in der Regel beginnt mit der Namensgebung auch die Existenz des Menschen (vgl. Maurer 2008: 50). Es sind meist die Eltern, die über die Namensvergabe ihrer Kinder entscheiden. Der Name selbst bestimmt über die Identifikation und dient der Individuation (vgl. ebd.: 51). Er ist für den einzelnen prägend und ein Ausdruck von Zugehörigkeit (zu einem Sprach- und Kulturraum, aber auch zu Epochen im Kontext von „Namensmoden“). In der ‚Onomastik‘ (der Wissenschaft von den Namen) gibt es zwei Schulen. Die eine versteht den Namen 46 Die Thora enthält nicht nur eine Fülle von sanitären, sondern auch medizinischen Vorschriften, die sowohl die Bäderkunde, als auch die Reinlichkeits- und Reinheitsprinzipien, Krankheitsisolierung, Lagerhygiene und Speiseverordnungen umfassen (vgl. Rossin 1926: 3 f.).

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

als gewissermaßen bedeutungsloses Zeichen (Symbol), während die andere ihm die höchste Bedeutung beimisst (vgl. Wolf 1985). Der Name Jakubs ist der einzige, der für die christliche und jüdische Grundlagenliteratur in Anspruch genommen werden kann. Jakob war neben Abraham und Isaak einer der Urväter der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Die Namensgebung des letztgeborenen Sohnes kann demnach als kleine Versöhnung oder Verbeugung hin zum Judentum gedeutet werden. Wenn es tatsächlich so ist, dass man die Integrationsbereitschaft von Zuwanderern und Zuwanderinnen an der Praktik ihrer Namensvergabe identifizieren kann, so handelt es sich im Falle der Goldszmits (so meine These) um eine Geschichte von der Entfernung aus dem jüdischen zu einer forcierten Hinwendung zum christlichen Vornamenarsenal, während der Nachname „Goldszmit“ aber stets und eindeutig auf das Jüdisch-Sein der Familie hindeutet(e). Möglicherweise waren die Goldszmits innerhalb ihres Assimilationsprozesses eine Familie auf dem schmalen Grat der Identitätserhaltung und Neugewinnung (vgl. Schierbaum 2018: 155). Józef und Jakub Goldszmit besuchten die Talmudschule (Jeschiwa). Ihr Vater hat sich als Maskil zwar für eine säkulare Erziehung seiner Kinder geöffnet, doch war ihm scheinbar auch an einer Unterweisung seiner Jüngsten in der Thoralehre gelegen. Die Brüder besuchten nach der siebenjährigen Grundschule das Gymnasium (später Lyzeum) in Lublin, zu dessen Schülern auch Bolesław Prus (1847–1912) zählte. Er kam wie Józef und Jakub Goldszmit aus Hrubieszȯw und wird noch heute als der bedeutendste Schriftsteller Polens erinnert. Wenn sich die Brüder am Bildungsaufstieg ihres Vaters orientieren, werden sie den Arztberuf ergreifen, weil die Medizin als Profession für ihre hohe Selbstrekrutierungsrate bekannt ist. Oder sie wechseln in eine andere Profession und studieren bspw. Jura. Die Brüder entscheiden sich beide für ein Studium der Rechtswissenschaft. Um zu studieren, zog Józef Goldszmit von Hrubieszȯw in die Hauptstadt Kongresspolens, die seinerzeit als eines der bedeutendsten Zentren jüdischen Lebens galt. In Warschau47 lebten etwa 500.000 Menschen und unter ihnen war jede(r) sechste ein Jude bzw. eine Jüdin. Die Kommunikationsstrukturen unter ihnen waren sehr dicht und trugen zu einem wesentlichen Teil zum Zusammenhalt der jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen bei (vgl. Haumann 1991: 120). Vor allem die Masse der nicht-assimilierten Juden und Jüdinnen lebte in großer Armut und war von Verwahrlosung betroffen. Józef Goldszmit muss Warschau als einen starken Kontrast zu seiner provinziellen Heimatstadt erlebt haben. Er begann sich wie sein Vater in Hrubieszȯw für die jüdische Gemeinde zu engagieren. Er sammelte Geld für Schulen in Lublin und Warschau, die arme jüdische Kinder die polnische 47 Juden und Jüdinnen durften sich in Warschau erst seit dem Jahre 1768 ansiedeln (vgl. Marylski 1918: 143).

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

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Sprache lehren und sie handwerklich so ausbilden sollten, um mit polnischen Arbeitskräften konkurrieren zu können (vgl. Lifton 1990: 35). Jakub Goldszmit begann nach Verlassen des Lyzeums (1866) zu publizieren, darunter vor allem Buchrezensionen und kleinere Artikel. Wie sein Vater gehörte er der „Gesellschaft zur Unterstützung von verarmten Doktoren, Waisen und Kindern von Doktoren“ an (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.). 1868 bis 1869 ist er nach Warschau gezogen, um den „Vorbereitungskurs für künftige Studenten der Rechtswissenschaft“ zu absolvieren. Daneben machte er sich mit Józef als die „Gebrüder Goldszmit“ (vgl. Lifton 1990: 36) einen Namen. Die Brüder verkehrten in den Kreisen der polnischen wie jüdischen Intelligencja und zu ihrem Freundeskreis zählten die bekanntesten Schriftsteller ihrer Zeit. Jakub Goldszmit gab den „Kalendar“ allein und gemeinsam mit seinem Bruder die „Portraits berühmter Juden“ heraus. Später ergänzten sie die monographische Serie noch um „Portraits berühmter Polen“. Ihr Ansinnen war es, die Kluft zwischen den Juden und Polen zu überwinden und die Katholiken / Katholikinnen über die Juden / Jüdinnen, ihre Kultur und ihre Religion aufzuklären. Józef Goldszmit übersetzte außerdem vom Deutschen ins Polnische und Jakub Goldszmit vom Englischen ins Polnische48. In ihrer Übersetzertätigkeit zeigt sich, dass sie der Fremde gegenüber aufgeschlossen waren. Während Jakub Goldszmit emigrierte, blieb Józef Goldszmit aber sein ganzes Leben in Polen. Zu Jakub Goldszmit ist außerdem überliefert, dass er 1869 von Warschau nach Lublin gezogen ist und im Herbst des Jahres 1870 an der „Kaiserlichen Universität“ in St. Petersburg ein Studium der Rechtswissenschaft aufgenommen hat, das er 1875 abschließen konnte (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.). Seit 1867 war er als Lehrer an einer Abendschule in Lublin tätig. 1872 ist er in Kalisch mit der aus Lublin stammenden neunzehnjährigen Gitla Warman (1852–1925) die Ehe eingegangen. 1873 wurde ihre Tochter Anna Henryka Goldszmit49 geboren (vgl. ebd.: o. S.), die 1883 nach längerer Krankheit verstorben ist. Zu dieser Zeit hat er mit seiner Familie bereits wieder in Warschau gelebt. Um den Tod seiner Tochter zu verarbeiten, musste er sich Anfang 1884 in Therapie begeben. 1887 – Jakub Goldszmit war wieder genesen – wurde er von den Zaristen wegen Ungehorsams verhaftet und emigrierte als politischer Flüchtling nach Budapest. Es war ihm gelungen, von dort in die Vereinigten Staaten von 48 1883 übersetzte er bspw. Herbert Spencers „On the Physiology of Laughter“ (vgl. Lifton 1988: 486). 49 Wie sich noch zeigen wird: Jakub Goldszmit gab seiner Tochter den gleichen Namen, wie ihn auch seine Nichte bekommen hat. Als Zweitname hat Anna Henryka die weibliche Form des Namens ihres Großvaters erhalten. 51

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Amerika zu reisen und sich in New York als Journalist niederzulassen. Seit 1894 lebte er in Philadelphia und siedelte letztlich nach Boston über. Dort hat er 1910 die siebenunddreißigjährige Eugenia Bodzyńska (geb. 1873–?) – die Tochter von Wincenty Bodzyński und Ludomita Sotkiewicz – geheiratet.50 Jakub Goldszmit ist 1912 an Krebs verstorben und fand auf dem „Mount Hope“ Friedhof in Boston seine letzte Ruhe (vgl. ebd.: o. S.). Zurück zu Józef Goldszmit: Er hat seine Dissertation über das Scheidungsgesetz im Talmud im Jahre 1871 eingereicht. Sein Professor lobte ihn im Vorwort, dass er „als erster dieses esoterische Problem einer polnischen Leserschaft zugänglich gemacht“ (Lifton 1990: 37) habe. Die Arbeit erklärte, warum eine zivilrechtliche Scheidung nicht ausreichte, um ein nach jüdischem Religionsrecht verheiratetes Paar zu scheiden. Mit der Aufnahme seines Jurastudiums löste Józef Goldszmit die Delegation seines Vaters ein, sich zu assimilieren. Er hat sich für ein säkulares Studium entschieden, auch wenn er sein Promotionsprojekt als Mußezeit nutzte, um sich mit einer Forschungsfrage auseinander zu setzen, die in seiner (religiösen) Herkunft wurzelte und und einen Versuch darstellt, eine Brücke zwischen den Juden / Jüdinnen und Polen / Polinnen zu schlagen. Nach dem jetzigen Stand meiner Forschung bereitet die Frage Schwierigkeiten, unter welchen Umständen Józef Goldszmit studierte. Er soll sich im Jahre 1864 an der „Kaiserlichen Universität“ in Warschau für ein Studium der Rechtswissenschaft eingeschrieben haben (vgl. Kahn 1992: 16). Einerseits war der Zeitpunkt, um als Jude51 ein Studium in Kongresspolen zu beginnen, nie so günstig gewesen, weil im Mai 1862 alle wesentlichen zivilrechtlichen Diskriminierungen gegen die Juden und Jüdinnen aufgehoben und somit ihre Gleichberechtigung dekretiert worden ist (vgl. Haumann 1991: 84). Weil es 1864 in Folge einer Verschärfung der politischen Lage zum Januaraufstand gekommen ist, konnten sich ihre Lebensumstände aber nur unwesentlich verbessern. Vor allem unter den Studenten hatten eine revolutionäre Romantik und der polnische Nationalismus ihren Höhepunkt erreicht. Es sollte in der Geschichte das letzte Mal sein, dass sich das dreigeteilte Polen gegen das Zarenreich erhob. Der Aufstand entwickelte sich zu einem erfolgreichen Kleinkrieg, doch die Freiheitskämpfer scheiterten wie schon beim Novemberaufstand im Jahre 1831, weil die Unterstützung westeuropäischer Regierungen ausgeblieben und die zaristische Armee überlegen war (vgl. Hoensch 1998: 218). In diesen turbulenten Zeiten konnte 1862 die „Szkoła Główna Warszawska“ (dt. „Warschauer Haupt50 Wann, warum oder auf welche Weise die Ehe mit seiner ersten Frau geschieden wurde, ist nicht bekannt. 51 Zu jenem Zeitpunkt war es noch immer ausschließlich Männern vorbehalten, ein Studium zu beginnen.

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

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schule“) neugegründet werden. Bei ihr handelte es sich um eine Hochschule mit vier Abteilungen, darunter auch die Abteilung für „Recht und Administration“. Sie durfte offiziell nicht als Universität bezeichnet werden, konnte aber während der Schließung der „Kaiserlichen Universität“52 fortbestehen. Aus dieser Schule sind viele Symbolfiguren der Warschauer Intelligencja wie Henryk Sienkiewicz (1846– 1916, „realistischer“ Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger)53 und Alexander Swiȩtochowski (1849–1938, Schriftsteller) hervorgegangen (vgl. Sdvižkov 2006: 117). Da der Transkulturationsprozess nach dem Januaraufstand in Gang gebracht und Kongresspolen sukzessive russifiziert worden ist, erhielt die „Szkoła Główna“ 1869 die Titulatur als Universität. Sie wurde zeitgleich reformiert (vgl. Rolf 2012: 66) und vergleichbaren russischen Universitäten angeglichen. Demnach hat Józef Goldszmit 1864 ein Studium in Warschau beginnen können, nur war er nicht Student an der „Kaiserlichen Universität“, sondern an der „Warschauer Hauptschule“. Józef Goldszmit promovierte 1871 und absolvierte seine juristische Ausbildung in Lublin (1871 bis 1874). Daraufhin zog er nach Kalisch und ließ sich letztlich in Warschau nieder. Bevor er zu Beginn der 1880er Jahre seine eigene Kanzlei eröffnete und das Einkommen der Familie mit der Vermietung von Wohnungen im Westen der Stadt aufbesserte, arbeitete er als Rechtsanwalt am Zivilgericht (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.). Das Recht, eine eigene Anwaltspraxis auszuüben, haben die Juden erst unter Zar Alexander II. Nikolajewitsch (1818–1881) erhalten (vgl. Bauer 2013: 373), der durch seine „Großen Reformen“ in die Geschichte eingegangen ist und u. a. die Leibeigenschaft abgeschafft hat. Józef Goldszmit konnte sich der Jurisprudenz zuwenden, einer Profession, zu der die Generation Juden vor ihm noch keinen Zugang hatte. Als Anwalt setzte er sich auch weiter für die Erziehung und Bildung verarmter jüdischer Kinder und die Mädchenbildung ein (vgl. SW Bd. 15: 368). Im Übrigen ist die Mädchenbildung im Sinne einer Verbesserung der Bildung von Mädchen ein typisches Versuchs- und Betätigungsfeld der Maskilim gewesen (vgl. Prestel 2001: 265). 52 An dieser Stelle möchte ich Gérard Kahns Ausführungen berichtigen: Die „Kaiserliche Universität“ in Warschau ist erstmals 1816 gegründet worden. Nach dem Novemberaufstand von 1831 wurde sie geschlossen und 1857 wieder eröffnet. Die Wiedereröffnung währte nicht lange, weil die Universität aufgrund des Januaraufstandes von 1864 erneut geschlossen und erst 1870 wieder eröffnet wurde. Kahn hat die Schließung der Universität und die Neugründung der „Warschauer Hauptschule“ im Jahre 1862 übersehen. 53 Er war der erste polnische Literaturnobelpreisträger (1905), der auch in westlichen Sprachen populär war (vgl. Augustynowicz 2017: 101). Janusz Korczak beschreibt ihn als großartigen Stilisten, hervorragenden Maler, Kenner menschlicher Herzen, Erforscher vergangener Jahrhunderte, Meister im Erschaffen von Episoden, Szenen und Situationen (vgl. SW Bd. 7: 19). 53

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Nun stellt sich die Frage, wen er zu seiner Ehefrau und Mutter seiner Kinder macht. Als aufgeklärter Jude wird er sich eine Frau aus seinem Milieu suchen; also eine Frau, deren Familie wie seine am Fortschritt orientiert und assimiliert war. Ich wende mich nun der mütterlichen Seite der Familienlinie zu.

2.2.5 Die Urgroßelterngeneration mütterlicherseits Auch auf der Seite der Mutter kann bis zur Generation der Urgroßeltern zurückgegangen werden (siehe Abbildung vier).

Maurycy Gebicki: Der Arzt Der Urgroßvater mütterlicherseits – Maurycy Gebicki – wurde 1780 zwischen der ersten (1772) und zweiten (1793) Teilung Polens in Piotrków Trybunalski (in der Nähe von Łódź) geboren. Die Zeit war vom Bestreben Russlands, Preußens und dem Haus Österreichs geprägt, ein Machtgleichgewicht herzustellen. Das Königreich Polen war nach seiner Teilung nicht mehr der größte europäische Flächenstaat neben Russland und zum Spielball der drei Großmächte geworden, was sich nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Lebensverhältnisse im Land ausgewirkt hat. Es ist nicht bekannt, unter welchen Umständen Maurycy Gebicki aufgewachsen ist, aber er soll sein Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät in Erfurt 1808 abgeschlossen haben (vgl. SW Bd. 16: 16). Erfurt war seit 1802 ein Teil Preußens und unterstand in den Jahren zwischen 1806 und 1814 als Fürstentum Erfurt direkt der französischen Herrschaft54. Danach zog Maurycy Gebicki nach Pyzdry (im Powiat Wrzesiński der Woiwodschaft Großpolen), wo er als Chirurg praktizierte. Er soll nach 1853 über neunzig jährig in Koło (in Großpolen, etwa 130 Kilometer östlich von Posen) gestorben sein. Maurycy Gebicki heiratete die sechzehn Jahre jüngere Anna Rozalia. Sie wurde 1796 geboren und lebte mit ihrem Ehemann in Pyzdry. Auch zur Urgroßmutter mütterlicherseits sind keine weiteren (objektiven) Daten überliefert. Es wird lediglich erinnert, dass sie 1853 verstorben ist und das Ehepaar Gebicki zwei Söhne hatte –Józef Adolf und Juliusz, der als Achtjähriger verstorben ist (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2019: o. S.). 54 Vermutlich hat Maurycy Erfurt als Studienort gewählt, weil gemäß Artikel 4 der Verfassung die Juden und Jüdinnen den übrigen Bürgern und Bürgerinnen Frankreichs seit 1791 gleichgestellt waren. Die Gleichberechtigung war „nur“ in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht beschränkt, das ihnen durch ein Dekret aus dem Jahr 1808 entzogen worden war. Der Zugang zu den Universitäten war ihnen nicht mehr verwehrt.

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

55

2.2.6 Die Großelterngeneration mütterlicherseits Józef Adolf Gebicki: Ein gefallener Kaufmann und Philanthrop Józef Adolf Gebicki, der Großvater mütterlicherseits, wurde 1826 geboren. Sein Vater Maurycy Gebicki war zum Zeitpunkt seiner Geburt 46 und seine Mutter Anna Rozalia 30 Jahre alt. Weil Józef Adolf der Erstgeborene ist, wird er sich nach dem Schulabschluss vermutlich am Beruf des Vaters orientieren und Medizin studieren. Tatsächlich wurde er Textilhersteller und Kaufmann in Kalisch55. Kalisch liegt in Westpolen. Nach der zweiten Teilung Polens wurde die Stadt 1793 Preußen zugesprochen und dem Regierungsbezirk Posen unterstellt. Nachdem es 1807 zum napoleonischen Herzogtum Warschau gehörte, wurde es 1815 Kongresspolen zugeteilt. Noch im selben Jahr hat Zar Alexander I. Pawlowitsch Romanow (1777–1825) die Verfassung unterzeichnet, welche den Bürgern und Bürgerinnen zwar die Gleichheit vor dem Gesetz zusicherte, aber nur auf die christlichen Konfessionen angewandt wurde (vgl. Rosenfeld 1917: 5). Die Bürgerrechte galten nicht für die polnischen Juden und Jüdinnen und so blieb ihnen der Schutz vor der bewaffneten Macht der Regierung und Eingriffen in die Privatsphäre, wie auch die Freiheit ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen (vorerst noch) vorenthalten. Auch der Großvater mütterlicherseits unterlag den Bestrebungen Russlands, Kongresspolen zu russifizieren. Seit 1815 hat sich Kalisch, die Hauptstadt eines Verwaltungsbezirkes, zum Industriezentrum entwickelt, das vor allem vom Anschluss an das Eisenbahnnetz profitierte. Etwa 40 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen waren Juden und Jüdinnen. Die berufstätigen Männer unter ihnen bestimmten nicht nur den Textilhandel, sondern machten auch etwa die Hälfte der Handwerker aus. Józef Adolf Gebicki konnte die Bedingungen vor Ort für sich nutzen und sich als erfolgreicher Unternehmer einen Namen machen. Seine Berufswahl ist also nicht als Abstieg gegenüber dem Arztberuf anzusetzen. Das 19. Jahrhundert wird als goldenes Zeitalter erinnert, in dem die Juden und Jüdinnen die polnische Kultur bereichern und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen konnten. Sie konnten nun auch in wohlhabendere Schichten aufsteigen und Józef Adolf Gebicki war einer der wenigen in Kalisch, der nicht der sozialen Unterschicht angehörte.56 Er verkehrte in der polnischen Gesellschaft und auch innerhalb der 55 Die jüdische Gemeinde in Kalisch (Kalisz) gehörte zu den ältesten Polens und die ersten Nennungen Kalischer Juden geht auf das Jahr 1287 zurück (vgl. Lewin 1909: 1). 56 Israel Joshuas Singers Roman „Die Brüder Aschkenasi“ ist ein Epos des polnischen Judentums, das nicht nur von dieser Zeit, sondern auch vom sozialen Aufstieg zweier Brüder ein literarisches Zeugnis ablegt. Der Roman spielt zwar in Łódź, aber die Stadt 55

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

jüdischen Gemeinde genoss er einen guten Ruf. In den Jahren 1853 bis 1868 war er Mitglied des Exekutivrates (poln. „Rada Szczegółowa“) des jüdischen Krankenhauses, 1858 ist er dem Aufsichtsrat der Sparkasse beigetreten, seit 1861 stand er dem städtischen Wohltätigkeitsverein vor und 1863 wurde er in das Aufsichtsgremium der Kalischen Wälder aufgenommen (vgl. ebd.: o. S.). Er war allen als Philanthrop bekannt und sein gesellschaftliches Engagement konnte arme Juden und Jüdinnen sogar einmal vor der Obdachlosigkeit bewahren. Über die genaueren Umstände ist nichts bekannt, aber ihm war es gelungen, den Gouverneur davon überzeugen, ihre Behausungen nicht niederreißen zu lassen. Er verstarb im Jahre 1877 nach einer schweren Krankheit in Warschau. Auch bei ihm kann nur spekuliert werden, wen er sich zur Frau nimmt. Es ist nicht viel über die 1831 geborene Mina (Emilia) Deitzser57 überliefert. Sie heirateten 1853 in Kalisch, fünf Jahre nach einer Typhusepidemie. In ihrem Nachruf wird Mina als „herzensgut“, „von gutem Charakter“ und „tief religiös“ erinnert. Außerdem soll sie „sanftmütig“, „zuvorkommend“, „anspruchsvoll gegenüber sich selbst“, „vergebungsvoll“, der „Inbegriff häuslicher Tugenden“ und „still“ gewesen sein.

2.2.7 Die Generation der Mutter und ihres Bruders Józef Adolf Gebicki und Mina Gebicka, die Großeltern mütterlicherseits,bekommen drei Kinder. Die Letztgeborene verstarb noch an ihrem Geburtstag am 01. Juli 1862 in Kalisch.

ist nur 100 Kilometer von Kalisch entfernt. Der Roman ist sowohl Fiktion als auch ein historisches Dokument, das dem Leser und der Leserin einen Einblick in die Lebenswelt(en) eines der wichtigsten Textilzentren Europas und dessen Webereigeschichte in den Jahren zwischen 1870 bis 1918 gewährt. Die Geschichte um den rivalisierenden Konflikt jüdischer Zwillingsbrüder umspannt ein Stück Zeitgeschichte, das neben ihrer Familiengeschichte auch von Arbeiteraufständen, der russischen bzw. deutschen Besetzung und der Oktoberrevolution in Petrograd erzählt. Ein Stück (Kultur-)Geschichte der Ostjuden im Austausch mit ihrer Umwelt, das vor Augen führt, womit auch Józef Adolf seinerzeit konfrontiert wurde. 57 Ihr Vater hieß Szymon (1801–1869) und ihre Mutter Cyrla, eine geborene Natt (Wolf, 1800–1845). Der Name Deitzser (Deutscher) weist auf eine deutsche Herkunft der Familie hin. Das Paar hatte insgesamt fünf Kinder. Nach Mindele (1822–1823) wurden Sisse (Zuzanna, 1824–1893), Mina (Emilia, 1831–1892), Wolf (1829–1830) und seine Zwillingsschwester Estera (Ernestyna, 1829–?) geboren (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.) geboren. Die Mutter Cécylias war demnach die Drittgeborene.

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

57

Karol Gebicki: Der Erstgeborene Karol Gebicki (der Onkel Henryk Goldszmits) wurde 1854 geboren. Wie schon seine Eltern erhält er keinen jüdischen Vornamen. Karol ist die slawische Form des Namens Karl. Er wurde geboren, als das Leben in Kalisch sehr schwierig war. Die Stadt hatte sich zwar zu einem Industriezentrum mit vielen Fabriken entwickelt, doch gerade im jüdischen Viertel waren die Lebensumstände prekär und viele Familien lebten in Armut. Im Frühling des Jahres 1862 ist die Cholera ausgebrochen und als sie sich über die ganze Stadt ausgebreitet hat, starben täglich mehr als sechzig Menschen. Die Seuche konnte erst von der am 18. Juli aufgeflammten Feuersbrunst aufgehalten werden, die hauptsächlich Gebäude der jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen zerstörte. Wie schon nach der Feuersbrunst von 1792 versuchten die Juden und Jüdinnen von Kalisch ihre Häuser schnell wieder aufzubauen. Daneben ist 1864 noch eine Hungersnot ausgebrochen, die vor allem die Leben der alten Stadtbewohner und -bewohnerinnen wie auch elternloser Kinder gefordert hat. Sollte sich Karol Gebicki mit seiner Berufswahl am Vater orientieren, wird auch er im Handel tätig. Er wurde Kaufmann und ist mit seinen Eltern und seiner Schwester 1874 nach Warschau gezogen, wo er eine Bank- und Wechselstube eröffnet hat. Er wechselte Banknoten, gab Darlehen und verwaltete Hypotheken. Außerdem ist bekannt, dass er die Ehe mit Tekla (Teresa) Lewental (1858–1927) eingegangen ist und mit ihr drei Kinder bekommen hat – Osip58 Adolf (geb.1880–?), Bronislawa (geb. 1882–?) und Stanislaw (geb. 1884–?) (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.).

Cécylia Gebicka: Die Mutter Henryk Goldszmits Cécylia Gebicka wurde 1857 geboren. Józef Adolf und Mina gaben ihrer Tochter einen polnischen Namen, ein Hinweis darauf, dass auch die Gebickis eine Familie im Assimilations- und Migrationsprozess waren, die sich von Generation zu Generation immer mehr für die polnische Kultur geöffnet hat. Für diese Lesart spricht, dass vor allem die reiche Kaufmannschaft in Kalisch zur Assimilierung neigte. Zu Beginn der 1860er Jahre hat sie sich sogar der polnischen Befreiungsbewegung angeschlossen und als Ausdruck der Solidarisierung gemeinsame Gottesdienste mit den Katholiken besucht (vgl. Alicke 2017: o. S.). Vermutlich hat Cécylia Gebicka ihren dreizehn Jahre älteren Ehemann Józef Goldszmit kennen gelernt, als er kurzzeitig in Kalisch wohnte und Vorlesungen über das jüdische Eherecht gehalten hat. Dass sie heirateten, macht deutlich, dass man

58 Osip ist eine russische Variante des Namens Józef. Der Erstgeborene hat demnach beide Vornamen des Großvaters väterlicherseits erhalten. 57

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

sich nicht nur in eine Person, sondern auch in ein Milieu verliebt. Wie Józefs Vater war auch Józef Adolf Gebicki ein aufgeklärter Ostjude und angesehener Philanthrop. Nach der Hochzeit (1874) ging Cécylia mit ihrem Ehemann nach Warschau. Durch die Heirat und den Umzug wurde sie zum Vorstand eines bürgerlichen Haushaltes, der neben einer Küchen- und Putzfrau auch mehrere Kinderfrauen beschäftigte. Während ihr Mann in der Kanzlei den Unterhalt für die Familie verdiente, verbrachte sie die Zeit im Haus und bei den Kindern. Nach dem Tod Józef Adolfs (1877) lebte auch Mina Gebicka bis zu ihrem Tod (1892) mit im Haushalt der Tochter. Die Eheleute Gebicki liegen bis heute auf dem jüdischen Friedhof in Warschau begraben. Sie sind ihrer Tochter nach Warschau gefolgt und es ist anzunehmen, dass Cécylia ihre Eltern nah bei sich haben wollte, weil Józef Adolf zu diesem Zeitpunkt bereits unheilbar krank war. Er litt unter einer Lähmung und war pflegebedürftig.

2.2.8 Die Kindergeneration Józef Goldszmit war eines von fünf und Cécylia eines von drei Kindern (siehe Abbildung vier). Beide wuchsen in aufgeklärten jüdischen Elternhäusern auf und gründen vermutlich keine Großfamilie. Wenn das Ehepaar so modern ist, wie es scheint, werden sie zwei bis drei Kinder haben. Tatsächlich haben sie drei, wobei das Letztgeborene – ein Mädchen – noch am Tag seiner Geburt (12. Februar 1882) verstorben ist.

Anna Goldszmit: Eine kinderlose Frau mit Beruf Anna Goldszmit wurde 1875 geboren. Józef und Cécylia Goldszmit griffen die Tradition der jüdischen Namensvergabe wieder auf und gaben ihrer Erstgeborenen den Zweitnamen der Großmutter väterlicherseits und den Namen der Urgroßmutter mütterlicherseits, denn Chana ist die hebräische Transliteration von Anna. Anna Goldszmit wuchs in einer Zeit auf, als es der Frauenbewegung in Kongresspolen unter schwersten Bedingungen bereits gelungen war, die soziale, kulturelle und rechtliche Lage der Frauen erheblich zu verbessern. Sie war vermutlich eine der ersten Frauen ihrer Familie, die einen Beruf ergreifen und ausüben konnte. In den assimilierten Familien im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde erstmals auch den Töchtern eine säkulare Bildung zu Teil. Da in den 1890ern die Frauen in Warschau noch nicht zum Studium zugelassen waren, wird sie nicht wie ihr Vater Jura oder eine vergleichbare Profession studieren (können). Und wenn doch, dann hat sie für ein Studium ihr Heimatland Polen verlassen müssen. Anna Goldszmit wurde beeidigte Übersetzerin für Französisch, Deutsch, Englisch und

2.2 Die Goldszmits – Eine Geschichte des Hin und Her

59

Russisch. Sie übte die gleiche Tätigkeit wie ihr Vater und Onkel Jakub, wenn auch mit zertifiziertem Abschluss, aus. Als beeidigte Übersetzerin wird Anna Goldszmit einen Mann heiraten, der ebenfalls aus einer assimilierten Familie kommt. Sie heiratete den 1875 geborenen Józef Lui an einem unbekannten Datum. Er war an Syphilis erkrankt und hat seinem Leben im Jahre 1909 selbst ein Ende gesetzt. Dass die Ehe kinderlos geblieben ist, kann mit seiner Syphiliserkrankung erklärt werden. Die Krankheit konnte erst mit der Entdeckung des Penicillins (1928) geheilt werden und es war bekannt, dass man sich durch sexuellen Verkehr mit dem Krankheitserreger infizieren konnte. Anna Goldszmit ist 34-jährig zur Witwe geworden und ihr Mann wurde in der Nähe ihres Vaters beerdigt. Sie blieb den Rest ihres Lebens allein und kinderlos. Nach dem Tod ihres Mannes hielt sie sich noch für längere Zeit in Paris auf. Als sie vom Tod ihrer Mutter erfahren hat (1920), kehrte sie nach Warschau zurück und hat als Übersetzerin gearbeitet. Zwischen den Jahren 1922 und 1926 besuchte sie häufiger das „Dom Sierot“ in der Krochmalna Straße 92 und in den Jahren 1932 bis 1939 hat sie mit ihrem Bruder Henryk in der Żurawia Straße 2 zusammen gewohnt (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018: o. S.). Als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen ist, musste sie in das Warschauer Ghetto (in die Złota Straße 8) umziehen. 1942 versammelte sie sich am Umschlagplatz und wurde mit vielen anderen Juden und Jüdinnen in das Vernichtungslager Treblinka gebracht, wo sie umgebracht wurde.

Henryk Goldszmit: Janusz Korczak Henryk Goldszmit wurde am 22. Juli des Jahres 1878 (1879) in der Ulica Bielańska Nummer 18 geboren. Ursprünglich bildete die Bielańska mit der Ulica Wierzbowa die alte Route zum Silbernen Berg Bielany (Krakau). Die Straße liegt linker Hand der Weichsel (ganz in der Nähe der Warschauer Altstadt). In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts prägten Holzvillen das Straßenbild, das erste Ziegelhaus wurde im Jahre 1788 gebaut. Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Bielańska eine Einkaufsstraße und neben vielen Hotels auch von Palästen und Wohnhäusern gesäumt. In den 1870er Jahren wohnten dort hauptsächlich die Warschauer Juden und Jüdinnen, unter ihnen auch die Goldszmits. Henryks Vater (Józef Goldszmit) hat es versäumt, für seinen Sohn nach seiner Geburt eine Geburtsurkunde zu beantragen. Es war aber nicht ungewöhnlich, dass jüdische Väter die Altersangabe ihrer Söhne zu verschleiern suchten, um ihren Einzug in die Armee des Zaren hinauszuzögern. Auch wenn er mit der Geburtsmeldung bei den Behörden nachlässig war, war die Freude über die Geburt des Sohnes dennoch groß, denn Józef Goldszmit hat Henryks Geburtsanzeige auch an seine Freunde ins Ausland gesandt (vgl. Lifton 1999: 44). 59

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Auch das zweite Kind erhält einen Namen aus dem Arsenal der Familienvornamen. Es wird nach seinem Großvater väterlicherseits benannt, denn Henryk ist die polnische Form von Hirsz. Auf seinem Arztdiplom, das dem Korczakianum in einer Abschrift vorliegt und in der deutschen Ausgabe der „Gesammelten Werke“ vom Russischen ins Deutsche übersetzt wurde, steht außerdem geschrieben, dass Henryk Goldszmits zweiter Vorname „Jozefowicz“ (SW Bd. 16: 46) war. Damit hat er als Zweitnamen sowohl den Namen des Großvaters mütterlicherseits als auch den seines Vaters erhalten, was innerhalb der traditionellen jüdischen Namensvergabe aber eine Ausnahme darstellt, weil es nicht üblich war, Kinder nach noch lebenden Verwandten zu benennen (vgl. McGoldrick 2013: 39). Die Geschwister Goldszmit wuchsen in einer Zeit auf, als sich die Situation für die Warschauer Juden und Jüdinnen stetig verschlechterte, denn die Jahre der 123-jährigen Fremdherrschaft und die Kämpfe um die Befreiung der Nation Polen hatten einen polnischen Patriotismus zur Folge, der nicht nur Fremdenfeindlichkeit und nationalen Größenwahn, sondern auch Hass zur Folge hatte. Die politisch-gesellschaftliche Situation der polnischen Gesellschaft war davon geprägt, dass die Menschen die Politik als ihr Schicksal erfahren mussten (Zernack 1981: 36). Die Polen und Polinnen befanden sich im Wirkungsfeld eines modernen Nationalismus in einer besonderen Lage, weil sie nicht nur um ihre Befreiung als Nation kämpften, sondern auch die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des polnischen Staates wiederherstellen wollten (vgl. ebd.: 37). In den 1870er und 1880er Jahren waren zum ersten Mal auch Arbeiter und Bauern am politischen Meinungskampf beteiligt, so dass die einst auf die Intelligencja beschränkten Polonisierungsbestrebungen immer weitere Kreise zogen. Die russischen Pogrome führten dazu, dass jüdische Familien aus dem Zarenreich geflohen sind. Sie strahlten bis nach Kongresspolen, so dass es bspw. im Dezember 1881 über mehrere Tage zu Plünderungen im Warschauer Judenviertel gekommen war, von denen 1.928 Familien betroffen waren (vgl. Meisl 1916: 70). Der Hass gegen die Juden und Jüdinnen Warschaus gipfelte schließlich in Boykottbewegungen und die Stadt wurde zu einer „Zweivölkerstadt“ (Haumann 1991: 147), in der nichtjüdische und jüdische Lebenswelten voneinander getrennt wurden. Anna und Henryk Goldszmit wuchsen in einem bürgerlichen Haushalt auf und die Familiensprache war Polnisch. Henryk Goldszmit besuchte das Gymnasium und durch die voranschreitende Russifizierung wurde er bis auf den Religionsunterricht ausschließlich in russischer Sprache unterrichtet. Es ist zu erinnern, dass sein Urgroßvater mütterlicherseits wie der Großvater väterlicherseits Arzt und sein Vater und Onkel Anwälte waren. Auch Henryk Goldszmit wird ein Studium aufnehmen. Er schrieb sich im Jahre 1899 an der „Kaiserlichen Universität“ in Warschau für ein Studium der Medizin ein. Zu diesem

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

61

Zeitpunkt war Józef Goldszmit bereits verstorben. Ein weiterer Schicksalsschlag war der Tod seiner Mutter im Jahre 1920. Sie starb an Fleckfieber, nachdem sie sich bei der Pflege ihres Sohnes angsteckt hat. 1912 hat Henryk Goldszmit die Leitung des „Dom Sierots“ übernommen. Für das Waisenhaus in der Krochmalna Straße 92 hat er seine Anstellung als Kinderarzt im Berson-Bauman-Spital aufgegeben. Von da an widmete er sich ganz „der Sache des Kindes“. Mehr als drei Jahrzehnte ward er für eine Vielzahl jüdischer Waisenkinder nicht nur ein Begleiter, sondern auch Erzieher und eine Vaterfigur. Wie seine Schwester gründete auch er keine Familie, so dass die Goldszmits um keine weitere Generation fortgesetzt wurden. Auch er wurde ein Opfer der Shoah und im Vernichtungslager Treblinka 1942 umgebracht. Die Ausführungen zu Henryk Goldszmit sind an dieser Stelle bewusst kurz gehalten, weil ich im nächsten Kapitel („Erlebte Lebensgeschichte(n) – Ein Versuch der Deutung der Genogrammdaten“) noch einmal näher auf seine Biographie eingehen werde.

2.3

Erlebte Lebensgeschichte(n) – Ein Versuch der Deutung der Genogrammdaten

2.3

Erlebte Lebensgeschichte(n)

Mit der Genogrammarbeit bin ich nun bei Ego (Henryk Goldszmit) angekommen. Die Genogrammarbeit ist beendet, wenn das Muster, das es zu erschließen galt, gefunden und bestätigt wurde (vgl. Hildenbrand 2015: 68). Zur Erinnerung: Unter der Kapitelüberschrift „Brücken bauen als soziales Erbe der Familie“ war die Ausgangsfrage, unter welchen Umständen sich Henryk Goldszmit dazu entschieden hat, von der Medizin zur Pädagogik zu wechseln. Ich wage nun einen Versuch der Deutung und fasse zu Beginn des Kapitels die Genogrammanalyse noch einmal zusammen: In der Genogrammarbeit hat sich die Lesart bewährt, dass das Lebensund Familienthema der Goldszmits das der Gratwanderung im Sinne eines ständigen Oszillierens zwischen verschiedenen Orientierungen, also zwischen einer Identitätserhaltung und Anpassung an die polnische (christliche) Mehrheitsgesellschaft, ist:

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Abb. 7 Generationenübersicht (eigene Darstellung)

Abbildung sieben („Generationenübersicht“) stellt die Familienmitglieder59 nach den Ordnungspunkten „Beruf“, „Wohnort“, „Glauben“60 und „sozialem Engagement“ Generation für Generation dar und verdeutlicht, wie sich die einzelnen Familienmitglieder ihre jüdische Religion und Kultur bewahren konnten, und inwieweit sie sich der polnischen Nation und Kultur bereits geöffnet haben. Die Zusammenfassung wird im Folgenden aufgegriffen und für Hirsz, Józef und vor allem Henryk Goldszmit noch einmal genauer ausgeführt, um zur biographischen Rekonstruktion überzuleiten, welche die (objektiven) Daten der Genogrammanalyse ggf. um „Quellenwissen“ ergänzt.

Hirsz Goldszmit: „Daheim ein Jude, auf der Straße ein Pole“ Die Goldszmits waren eine Familie im Migrations- bzw. Assimilationsprozess, der dann eingesetzt hat, als Hirsz Goldszmit beschloss, nicht wie sein strenggläubiger Vater Glaser oder Fellhändler zu werden, sondern Medizin zu studieren und sich der 59 Ich beziehe mich überwiegend auf die männlichen Familienmitglieder, weil – mit Ausnahme von Anna Lui – zu den weiblichen Familienmitgliedern kaum (objektive) Daten vorliegen und die Familie am Patriarchat orientiert war. 60 Wie Abbildung sieben zeigt, war die Familie mosaisch. Mosaisch bedeutet jüdisch und deutet auf einen jüdischen Glauben hin. In einem „Fragebogen zur erstmaligen Meldung der Heilberufe“ gab Henryk Goldszmit im September 1940 an, dass seine Großeltern wie auch er mosaischen Glaubens waren (SW Bd. 15: 438 f.).

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

63

jüdischen Aufklärungsbewegung anzuschließen. Er wurde zu einem Führer seiner Gemeinde, weil er seine Glaubensgenossen davon überzeugen konnte, sich wie er in die polnische Gesellschaft zu integrieren, sich in das weltliche Bildungswesen einzufügen und die traditionelle Lebensweise hinter sich zu lassen. Dies war angesichts der herrschenden Verhältnisse ein schwieriges Unterfangen, weil Chassidim und religiöse Orthodoxe unter den polnischen Juden / Jüdinnen dominant waren. Die Haskalah war an den Ostjuden gescheitert, weil sie ihrer traditionellen Lebenswelt überwiegend fremd blieb. Henryk Goldszmit schreibt über seinen Großvater: „Mein Vater hatte das Recht, mich Henryk zu nennen, denn selbst hatte er den Namen Józef erhalten. Und seinen anderen Kindern hatte Großvater auch allen christliche Namen gegeben: Maria, Magdalena, Ludwik, Jakub, Karol61. Und trotzdem schwankte und zögerte er“ (SW Bd. 15: 368).

Seine Lebensgestaltung erinnert an eine Romanfigur Israel Joshua Singers. In seinem Roman „Die Familie Karnovski“ (1997) erzählt er die Geschichte einer jüdisch-polnischen Familie, die eigensinnig und aufsässig ist. Sie nimmt ihren Lauf, als David (der Großvater) am Ende des 19. Jahrhunderts aus der orthodoxen Glaubensgemeinschaft seines polnischen Schtetls nach Berlin, in die Stadt Moses Mendelsohns, aufbricht, den er sehr verehrte. Er war als Ostjude seinen jüdischen Prinzipien treu, aber auch ein Maskil, der ein tadelloses Deutsch sprach. Er achtete darauf, dass „sein Sohn daheim als Jude und auf der Straße als Deutscher aufwuchs“ (Singer 1997: 36). Zwar verlegt Singer die Handlung von Polen nach Deutschland, doch wird durch das Zitat deutlich, was es bedeutete, ein aufgeklärter Jude zu sein. Diese Identität war bipolar. An Hirsz Goldszmits Person zeigt sich zum ersten Mal die Gratwanderung der Familie Goldszmit zwischen der Synagoge (der jüdischen Tradition) und der Welt außerhalb (der polnischen Kultur). Er hat sich für die polnische Kultur geöffnet. Zwar deuteten sein Vor- und Nachname zeit seines Lebens auf seine jüdische Abstammung hin, doch hat er sich äußerlich der Kultur seines „Gastlandes“ anzupassen versucht. Hirsz Goldszmit rasierte sich die Schläfenlocken und den Bart, legte den Kaftan ab und sprach nicht mehr Jiddisch, sondern Polnisch. Er war aus der überlieferten Welt seines Vaters herausgetreten, auch wenn er sich nicht wie andere Maskilim gänzlich von seinem Glauben losgesagt hat. 61 Karol war Hirsz Goldszmits Sohn aus zweiter Ehe und wird auch als Aleksander Sender (Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2018) erinnert. Als Chana (Anna) gestorben ist (1867), heiratete der Großvater Sara (Sura) Ester (Estera) Wajngarnt (1838–1914), die Tochter von Lejba und Gitla. Aleksander kam im Januar 1871 zur Welt. Zu beiden liegen keine weiteren (objektiven) Daten vor. 63

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Józef Goldszmit: „Ein vereidigter Advokat; der 50 Jahre durchlebte“ Józef Goldszmits Vorname war polnisch und sein Nachname jüdisch. Sein Vater hat sowohl seine geistige als auch säkulare Bildung gefördert. Wie Hirsz Goldszmit hat er sich einer klassischen Profession mit Ansehen zugewandt und Jura in Warschau studiert, wo vor dem Zweiten Weltkrieg noch die größte jüdische Gemeinde Europas und die zweitgrößte der Welt gelebt hat. Józef Goldszmit wurde nach seinem Umzug aus der Provinz ein Teil der polnischen und jüdischen Intelligencja Warschaus, eine nur kleine Gruppe im Vergleich zu den verarmten Juden und Jüdinnen der jüdischen Straßenzüge, die das Aussehen und Leben der Stadt in besonderem Maße geprägt haben und überwiegend strenggläubig waren. Er galt wie sein jüngerer Bruder Jakub als Gelehrter und wie ihr Vater hielten die Brüder ihre Glaubensgenossen und -genossinnen nicht nur dazu an, sich an die fremde Kultur Polens (im Sinne einer Akkulturation) anzupassen, sondern versuchten auch zwischen der jüdischen und polnischen Kultur zu vermitteln. Sie nutzten das Schreiben als Werkzeug (vgl. Lifton 1990: 485), um ihre polnische Leserschaft über die Juden / Jüdinnen und ihre Religion aufzuklären. Sie wollten die Polen / Polinnen für die vermeintlich fremde jüdische Kultur sensibilisieren und den Talmud entmythologisieren. Heute würde man sagen, dass sie in einen interkulturellen Dialog eingetreten sind, um Missverständnisse, Probleme oder Konflikte aufgrund kultureller Differenzen zwischen den Polen / Polinnen und Juden / Jüdinnen zu (er-)klären und zu überwinden. Ihre Schicksale waren seit Jahrhunderten in zwei weit voneinander entfernten Bahnen dahin verlaufen und es hat weder eine Gemeinsamkeit des Schicksals noch eine gemeinsame Erinnerung gegeben (Bikont in Sznaiderman 2018: 201). Wie auch? Die Polen / Polinnen haben nicht erfahren können, wer „die Juden“ waren, weil sie zwar ihre äußeren Merkmale wahrnahmen, aber sie ihre Stimmen nicht verstehen und ihre Schriftzeichen nicht entziffern konnten. Neben den polnischen Katholiken und Katholikinnen „führten Menschen [die Juden / Jüdinnen] ein Leben voller Geheimnisse und Eigentümlichkeiten, als würde das nicht in Polen geschehen, sondern in Persien oder China, dabei aßen sie doch alle dasselbe Brot, das auf polnischem Boden gewachsen war“ (Singer in ebd.: 202). Wie Hirsz Goldszmit haben auch seine Letztgeborenen das Erfordernis erkannt, das jüdische Schulsystem zu säkularisieren. Sie forderten außerdem, die jüdischen Waisenhäuser zu verbessern, die armen Juden / Jüdinnen (überhaupt) medizinisch zu versorgen (Józef) und zu verstehen, dass viele Jüdinnen zur Prostitution62 gezwun62 Die Prostitution und der „Mädchenhandel“ haben vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesichts der nachlassenden Bindungkräfte von Religion und traditioneller Kultur – selbst in chassidischen Familien (wenn auch unfreiwillig) – zur Einstellung

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

65

gen wurden (Jakub) (vgl. ebd.: 36). Daneben wurden Józef und Jakub Goldszmit beide als Übersetzer tätig. Auch ihre Übersetzertätigkeit ist ein Indiz dafür, dass sich die Goldszmits für die Fremde geöffnet haben. Zwar blieb Józef Goldszmit bis zu seinem Tod in Polen, doch Jakub Goldszmit war in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert und hat dort auch seine letzte Ruhe gefunden. Józef Goldszmit hat sich nach seinem Studium als Anwalt niedergelassen und führte in Warschau ein bürgerliches Leben. Seine Familie und ihre Lebensweise werden als assimiliert erinnert. Er war in die polnische Kultur hineingeboren worden und seine Eltern konnten die religiösen Bräuche des Judentums im Familienleben noch beibehalten. Er bewahrte sich zwar nach seinem Umzug noch seine jüdische Identität, übte aber die religiösen Rituale nicht mehr aus. Mit seinem Sohn Henryk besuchte er zu Weihnachten sogar Krippenspiele in der Kirche, denn es war zur Jahrhundertwende in den Großstädten auch in jüdischen Familien üblich geworden, das christliche Weihnachtsfest zu feiern (vgl. Holbok 1999: 136). Die Heirat mit Cécylia Gebicka macht deutlich, dass ihn die Partnerwahl nicht in seine (jüdische) Herkunft zurück getrieben hat, sondern ihn weiter von ihr entfernte. Laut „Halacha“ (den jüdischen Religionsvorschriften) war Cécylia eine Jüdin, weil sie von einer jüdischen Mutter geboren wurde, doch haben die Akkulturations- und Assimilationsbestrebungen in ihrer Familie eine noch längere Geschichte als bei den Goldszmits und beginnen bereits beim Urgroßvater Maurycy Gebicki. Józef und Cécylia Goldszmit führten in dem Sinne eine traditionelle Ehe, dass Józef den Familienunterhalt durch seine Tätigkeit als Anwalt bestritt und Cécylia dem Haushalt vorstand. In ihrer Verbindung zeigt sich, dass man sich nicht (nur) in eine Person, sondern (auch) in ein Milieu verliebt. Es war, wie das Sprichwort sagt: „gleich und gleich gesellt sich gern“. Józef Goldszmits vermeintlicher Selbstmord ist ein ebenso hartes Datum wie seine „Spielsucht“ und sein „Wahnsinn“ (SW Bd. 15: 360). Er wurde mehrmals in eine „Irrenanstalt“ (ebd.: 360) eingeliefert. Es liegt nahe, dass sich seine Spielsucht religiöser Praktiken bzw. zum Bruch weiblicher Frömmigkeit geführt (vgl. Haumann 2001: 254). Es war keine Seltenheit, dass Väter aufgrund von sozialer und finanzieller Not dem Ehewunsch von (unerkannten) Zuhältern und Mädchenhändlern zustimmten. Die zumeist nach religiösem Recht aber nicht zivilrechtlich geschlossenen Ehen sollten die Mädchen und jungen Frauen von ihrem Elternhaus und dem gewohnten Umfeld fern halten. Durch die Auslieferung an ihre „Ehemänner“ konnten sie sich ihrer (sexuellen und finanziellen) Ausbeutung nicht entziehen. Aber nicht nur arme Mädchen aus der Provinz, sondern auch Mädchen ohne familiäre Bindung wie Waisen oder Töchter aus Bettlerfamilien mussten sich prostituieren (vgl. Rüthers 2003: 276). Die Nachfrage nach Prostituierten war vor allem in Warschau groß. Sie wurden in „öffentlichen Häusern“ aufgesucht, die sich auch „Rasthof “, „Restaurant mit Gästezimmer“, „Hotel“ oder „Gasthof“ nannten (vgl. ebd.: 276). 65

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im Rahmen einer bipolaren Störung ereignet hat, denn Patienten und Patientinnen mit einer manisch-depressiven Erkrankung haben ein um Vielfach erhöhtes Suizidrisiko. Es ist möglich, dass sich Józef Goldszmit im Zuge einer schweren Depression das Leben genommen hat. Hinweise darauf finden sich unter anderem in dem autobiographischen Roman seines Sohnes „Kind des Salons“: „Die Familie des Selbstmörders. Euthanasie auf Bestellung. Der geistig Umnachtete, seines eigenen Willens Beraubte – unfähig, selbst zu entscheiden“ (ebd.: 365). Der Sohn erinnert seinen Vater als jemanden, der verwirrt und geistig nicht (mehr) klar war. Im Frühjahr des Jahres 1890 hielt sich Józef Goldszmit zum ersten Mal in einer Klinik auf. Für einen Mann mit seinem Ansehen kommt das Sanatorium in Tworki in Frage. Die Nervenheilanstalt bot dreißig Kilometer südlich von Warschau Behandlungsmöglichkeiten für etwa 420 Patienten und Patientinnen aus dem gesamten Zarenreich. Sie galt als eines der modernsten Sanatorien und verfügte sogar über elektrischen Strom. Józef Goldszmit war vermutlich in dem besonderen Trakt für vornehmere Patienten und Patientinnen untergebracht und erhielt ein kleines Gärtchen zugeteilt, da die Behandlung nach westeuropäischem Muster erfolgte und vor allem handwerkliche Arbeitsprojekte umfasste (vgl. Lifton 1990: 42 f.). Er soll sich häufiger dort aufgehalten haben, auch wenn seine Patientenakte verschollen ist, weil während des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) nicht nur alle Patienten und Patientinnen, sondern auch alle Akten nach Kasan gebracht wurden. Die Spuren der Akten verlieren sich nach dem Krieg. Da die Spielsucht und die Aufenthalte in der Klinik das Vermögen der Familie mit der Zeit reduzierten, war Cécylia Goldszmit immer häufiger gezwungen, die wertvollen Habseligkeiten der Familie im Pfandhaus zu versetzen. Von den Geschwistern Anna und Henryk konnte das nicht unbemerkt bleiben. Die mehrmaligen Klinikaufenthalte zollten ihren (finanziellen) Tribut und sprechen für die Lesart, dass der Vater an einer bipolaren Störung litt. Es liegt nahe, dass Józef Goldszmit während seiner manischen Episoden bei der Familie war und ihr Vermögen verspielte. In seinen depressiven Episoden hingegen, wenn sich die Aspekte der Manie ins Gegenteil umgekehrt haben, erschien die Klinik vermutlich als ein Ort, wo er zur Ruhe kommen konnte, sich aber gleichzeitig seinen Schuldvorwürfen stellen musste. Józef Goldszmit starb am 25. August des Jahres 1896. Sein Sohn war 17 (18) Jahre alt und befand sich inmitten der Adoleszenz, als sein Vater auf dem Jüdischen Friedhof begraben wurde und er Abschied nehmen musste.

Henryk Goldszmit: Sein Vater hatte das Recht, ihn Henryk zu nennen oder „Was er ererbt von seinen Vätern“ Henryk Goldszmit blieb der einzige Sohn und das Familienleben der Goldszmits trug in Sitte und Kultur das Siegel des Polnischen (vgl. Mortkowicz-Olczakowa

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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1973: 19). Er wuchs in einem assimilierten jüdischen Elternhaus mit Polnisch als Familiensprache auf. Seine Familie gehörte somit einer Minderheit an, da sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert (1897) nur etwa 3,5 Prozent aller Juden und Jüdinnen in Kongress-Polen (14 Prozent der Warschauer Juden und Jüdinnen) zu Polnisch als ihrer Muttersprache bekannt haben (vgl. Haumann 2001: 253). Weil er nach seinem Großvater väterlicherseits benannt wurde, haben die Eltern die Tradition der jüdischen Namensvergabe wieder aufgenommen, auch wenn sein Vorname wie der seines Vaters nicht mehr auf die jüdische Herkunft der Familie hindeutete. Es gilt den Spuren nachzugehen, was der letzte männliche Nachkomme der Goldszmits von seinen Vätern ererbt hat. Es wird nicht möglich sein, Henryk Goldszmits (kulturelle) Identität ein für alle Mal zu (er-)klären, aber seine familialen Wurzeln und die Geschichte(n) seiner Ahnen haben maßgeblich seinen Lebensweg und seine Berufsbiographie mitbestimmt. Es steht außer Frage, dass die eigene Biographie mit der Familie in einem Verweisungszusammenhang steht, weshalb die Interpretation der familienbiographischen Daten der Biographie vorausgegangen sind. Da ich mich bei der Genogrammanalyse kurz gefasst habe, werde ich Henryk Goldszmits Lebensgeschichte im Folgenden (ausführlicher) rekonstruieren, um sowohl die Frage nach dem vermeintlichen Wechsel von der Medizin zur Pädagogik zu beantworten, als auch eine Engführung auf das Spannungsverhältnis von jüdischer Religion und polnischer Nation vorzunehmen.

2.3.1 Neun Jahrsiebte Der Fokus liegt nachfolgend unmittelbar auf Janusz Korczaks Berufs- und Werkbiographie, denn der Beruf ist ein institutionelles Faktum (vgl. Corsten 1999: 275) und vom Lebensverlauf untrennbar. Zwar wäre auch eine Untersuchung einzelner Phasen seines Lebens möglich, doch scheint die Lebenslaufforschung hier als besonders aufschlussreich. Eine Synthese von (1) Lebensverlaufsanalyse (als Abfolgemuster der objektiven Lebensereignisse) und (2) Biographieforschung (die sich für den Zusammenhang von der Deutung und Gestaltung des Lebens interessiert) (ebd.: 279 f.) ist sinnvoll, weil biographische Erfahrungen auch das Denken, Fühlen und Handeln im beruflichen Kontext beeinflussen (vgl. Kübler 2000: 11). Die biographische Analyse wird die biographischen Daten zur Lebens-, Lernund Bildungsgeschichte Henryk Goldszmits umfassen. Seine Biographie wird zur Erzählung, weil die Ereignisse seines Lebens als zusammenhängende Ereignisfolge präsentiert werden (vgl. Etzemüller 2012: 16). Klassisch wäre nun eine Einteilung nach Lebensaltern (Kindheit, Jugendalter, frühes, mittleres und reifes Erwachsenenalter), doch wählt Henryk Goldszmit selbst Jahrsiebte, um über sein Leben 67

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nachzudenken. Dieser Einteilung werde ich folgen und dabei Übergangsschwellen ausmachen, die „bei allen Völkern mit rites de passage (Arnold Gennep) markiert werden“ (Maurer 2008: 158). Henryk Goldszmit stand in seinem neunten Jahrsiebt, als er im Ghettotagebuch sein Leben resümiert. Er hatte das Bedürfnis, Rechenschaft abzulegen. Was er sich aus der Vergangenheit in die Gegenwart seiner letzten Lebensmonate holte, ist das Bewahrenswerte und nicht Vergessene seiner Lebensgeschichte. Das Dokument ist einzigartig, weil es nicht nur zu den wichtigsten Belegen des schriftlichen Vermächtnisses als Schlüssel zum Leben des „Alten Doktors“ gehört (vgl. Lewin 1998: 115 / 127), sondern auch ein Zeugnis des „Alltagserlebens“ im Warschauer Ghetto und ein Dokument des Völkermordes unter dem nationalsozialistischem Regime ist. Henryk Goldszmit nennt im Ghettotagebuch die unterschiedlichen Jahrsiebte und beschreibt in Kürze, was ihm im Gedächtnis geblieben ist, oder auf welche Weise er sich selbst und seine Sicht auf die Welt verändert hat. Die Zahl Sieben nimmt eine Sonderstellung unter den Zahlen63 ein und ist eine Zahl, die vor allem eine Entwicklung symbolisiert. Das Jahrsiebt ist auch in der Pädagogik von Bedeutung, wo sie die menschliche Biographie in Entwicklungsschritte teilt. Rudolf Steiner (1861–1925) hat bspw. die Umstände der Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen zu deuten versucht und Entwicklung als einen Prozess von Wachstum und Metamorphose, der stufenweise in einem Rhythmus von annähernd je sieben Jahren erfolgt (vgl. Ulrich 2003: 66), begriffen. In seiner kosmisch-spiritualisierten Anthropologie beschreibt er auf der Grundlage seiner Untersuchungen das erste, zweite und dritte Lebensjahrsiebt: • 1–7: Von der Geburt bis zum Zahnwechsel baue sich der physische Leib des Kindes auf. Aus den körperlichen Wachstumskräften gingen die Kräfte des Lernens hervor und durch seine Schulreife lerne das Kind nicht mehr bloß durch „Vorbild und Nachahmung“. • 7–14: Vom Zahnwechsel bis zur Pubertät gestalteten die noch verborgenen astralischen Kräfte die Welt der Triebe, Leidenschaften und Gefühle.

63 In der Thora umfasst die Schöpfungsgeschichte sieben Tage. Auch eine Woche zählt sieben Tage und Gott bestimmte den siebenten als einen Ruhetag. Im Judentum ist es der Sabbat (Samstag), bei den Christen und in der westlichen Welt der Sonntag. Das siebente Jahr gilt in der Thora als Sabbatjahr (Schmittah). Auch in den Grimm´schen Märchen taucht die Sieben häufig auf. Schneewittchen flüchtet sich zu den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen, der Wolf frisst sieben Geißlein und das tapfere Schneiderlein erschlägt sieben Fliegen auf einen Streich. Es gibt sieben Weltwunder und den Mythos von den Siebenmeilenstiefeln.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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• 14–21: Mit der Geschlechtsreife verwandelten sich diese schließlich in die Fähigkeiten begrifflichen Denkens und der menschlichen Urteilskraft (vgl. ebd.: 67). Es ist nicht bekannt, ob Henryk Goldszmit mit Steiners Anthroposophie vertraut war. Da Steiners Person und seine Reformimpulse („Waldorfpädagogik“ und „Freie Waldorfschule“) die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts mitprägten und noch bis heute nachwirken, ist nicht auszuschließen, dass er sein Werk kannte und Bezug auf ihn nahm. Henryk Goldszmit schrieb in den frühen 1890ern zum ersten Mal über den Sieben-Jahre-Rhythmus. In der „Beichte eines Schmetterlings“ (1892) vermerkt er, dass sich „alle sieben Jahre der gesamte Organismus, die Denkweise und alles“ (SW Bd. 3: 63) ändere. An dieser Stelle deutet sich an, dass (s)ein Sich-Zurecht-Finden in der Zeit und Geschichte zugleich die Vermittlung von Sinn (vgl. Maurer 2008: 163) bedeutete und Henryk Goldszmit einer Zeitlichkeit unterworfen war, die er in Siebenjahresabschnitten kultivierte. Was ihm seine Jahrsiebte gebracht haben, wird sich nachfolgend zeigen.

1x7 – Die Frage nach dem Bekenntnis Seine Memoiren beginnen in seiner (frühen) Kindheit, als Henryk Goldszmit etwa fünf Jahre alt ist. Er war für bewusste Erinnerungen noch zu jung; aber alt genug, um bestimmte Ereignisse bis an sein Lebensende in sich zu tragen und von ihnen erzählen zu können. Der bürgerliche Haushalt in Warschau, in dem er aufwuchs, war auf den ersten Blick ein „Weiberzwinger“, der neben seiner Mutter und Großmutter auch von der Köchin, der Schwester, dem Dienstmädchen und dem Fräulein Maria64 (für die Kinder) „regiert“ wurde (vgl. SW Bd. 15: 320). Das Matriarchat beherrschte aber nur scheinbar das Familienleben, denn die Genogrammarbeit hat gezeigt, dass das Patriarchat die Erinnerungen der Familie dominierte. Bereits im Alter von fünf Jahren sann Henryk Goldszmit darüber nach, was man tun könne, damit es keine schmutzigen, zerlumpten und hungrigen Kinder mehr gebe. Seine Mutter hatte ihm verboten, mit den Kindern im Hof zu spielen, denn sie waren keine Spielgefährten für das „Kind des Salons“. Ihr Sohn sollte sich nicht schmutzig machen oder gar (durch den Kontakt mit ihnen) erkranken. Henryk Goldszmits Kindheit im Salon65 war behütet und einsam. Er wuchs zu einem Kind heran, „das ‚sich stundenlang mit sich allein beschäftigen [konnte]‘, 64 Eine andere hieß Catherine. 65 Das Stichwort „Salon“ aufgreifend, eine knappe Ausführung zur Wohnsituation der Goldszmits: Im Milieu der Intelligencja, die einkommensstärker war, konnten neue Muster der Wohnkultur entstehen und eine Mehrzimmerwohnung stellte in diesen gesellschaftlichen Kreisen die Norm dar (vgl. Żarnowska 2006: 48). Ihre Wohnungen 69

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bei dem ‚man nicht [merkte], daß ein Kind im Hause ist‘“ (ebd.: 364). Er hat die Fähigkeit entwickelt, sich in eine Phantasiewelt zurückzuziehen und war sich selbst der beste Spielgefährte. Er spielte besonders gern mit Bauklötzen, die er mit sechs Jahren geschenkt bekommen hat. Er legte sie erst beiseite, als er von den Eltern mit vierzehn Jahren getadelt wurde, weil er noch immer mit ihnen spielte. An ihre Stelle trat die Literatur, welche dem Träumer und Denker eine Gegenwelt zur Realität eröffnete. Sein Vater hat ihn in seiner Kindheit „eine Schlafmütze und einen Trottel genannt, und in stürmischen Augenblicken sogar einen Esel und Idioten. Allein die Großmutter hat an [seinen] Stern geglaubt. Sonst aber – war [er] ein Faulpelz, eine Heulsuse, ein Tölpel […], ein Idiot (das sagte [er] schon) und zu nichts zu gebrauchen“ (ebd.: 301). Als er sich im Ghetto zurückerinnert, beschreibt er sich als Kind bzw. wie er von seinem Vater wahrgenommen wurde. Es fällt auf, dass er von ihm nicht als das „Wunderkind“ und „Genie“ erkannt wurde, dem im Sächsischen Garten sogar die älteren Herren zugehört haben (vgl. SW Bd. 11: 436). Sein erstes Jahrsiebt hat Henryk Goldszmit „das Gefühl für den eigenen Wert“ vermittelt, so dass er feststellte: „Ich bin. Ich habe ein Gewicht. Eine Bedeutung. Man sieht mich. Ich kann. Ich werde“ (SW Bd. 15: 344). Er hat an sich selbst beobachtet, was auch Entwicklungspsychologen wie Jean Piaget66 (1896–1980) und Erik H. Erikson (1902–1994) in ihren Stufenmodellen ausmachten: Durch die Selbstobjektivation wurde er sich seiner (eigenen) Identität bewusst, so dass er ein Selbstgefühl und ein Bewusstsein für seine Person entwickeln konnte. Während Henryk Goldszmits Mutter als die Tonangebende in Erziehungsfragen erscheint, bezeichnet er den Vater als einen „nicht sonderlich soliden Pädagogen“ (ebd.: 318). Auch wenn er seine Kinder manchmal derart an den Ohren zog, dass sie schmerzten, begrüßten die Geschwister Goldszmit aber „mit schauerndem Entzücken und stürmischer Freude selbst die übermütigsten, anstrengendsten, die unausgegorensten und in ihren Folgen beklagenswertesten ‚Überraschungen‘“ (ebd.: 318), die ihr Vater für sie erfand. Durch seine Tätigkeit als Anwalt und Publizist

boten nicht nur Raum für die Pflege, Erziehung, Bildung und Sozialisation der Kinder sowie die Weitergabe des kulturellen Erbes, sondern wurden auch für gesellschaftliche Treffen und / oder als Arbeitsstätte für künstlerische, schriftstellerische oder pädagogische Tätigkeiten genutzt (vgl. ebd.: 48). Die Wohnung war für die Intelligencja zum (privaten) Rückzugsort geworden und die Wohnungseinrichtung hing im Wesentlichen vom Vermögen und dem Geschmack ihrer Bewohner und Bewohnerinnen ab. 66 Mit Jean Piaget war Henryk Goldszmit persönlich bekannt. Zu Beginn der 1930er Jahre hat der Franzose das „Dom Sierot“ besucht, um einen Einblick in die Waisenhausarbeit bzw. das Selbstverwaltungssystem zu erhalten.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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war der Vater im Familienalltag weniger präsent, sodass es für seine Kinder etwas Besonderes war, wenn er mit ihnen Zeit verbrachte. Die Goldszmits lebten kein spirituelles Leben. Gebet, Mediation und die Thora waren ihnen im Familienalltag ebenso fremd wie die Einhaltung des jüdischen Kalenders und das Begehen jüdischer Feste. Henryk Goldszmit wurde nicht wie sein Vater im Thorastudium unterrichtet. Seinen Eltern war bei der Erziehung vor allem an der Weitergabe ihres ethischen und nicht ethnischen jüdischen Erbes gelegen. Henryk Goldszmit hat sich zum ersten Mal die Frage nach (s)einem Bekenntnis gestellt, als sein geliebter Kanarienvogel verstorben ist. Weil er nicht mit den anderen Kindern im Hof spielen durfte, war er ihm zu einem treuen Freund geworden. Er hat nach seinem Tod den Plan gefasst, ihn in einer blechernen Bonbondose unter der Kastanie im Hof zu begraben. Das (vermutlich römisch-katholische) Dienstmädchen der Familie gemahnte ihn, kein Kreuz auf das Grab zu stellen. In ihren Augen war der Vogel etwas sehr viel Niedrigeres als ein Mensch, so dass selbst das Weinen um ihn eine Sünde gewesen sei (vgl. ebd.: 301). Der Knabe aber ließ sich nicht beirren und begrub seinen Freund. Dabei wurde er vom Sohn des Hausmeisters beobachtet, der befand, sich auch einmischen zu müssen. Er bezeichnete sowohl den Kanarienvogel als auch Henryk Goldszmit als jüdisch. Während er als Pole und Katholik in den Himmel käme, bliebe den Juden zwar nicht die Hölle, aber ein finsterer Ort vorbehalten. „Das schwarze jüdische Paradies“ (ebd.: 302) verängstigte Henryk Goldszmit, der sich weniger als jüdischer denn als polnischer Knabe gefühlt haben muss. Während Himmel und Hölle in der christlichen Religion67 eine zentrale Rolle spielen, ist ihre Bedeutung in der jüdischen Religion nur eine vage. Das Judentum verneint die Erbsünde und geht stattdessen von der Ganzheitlichkeit des Menschen aus, die gute wie schlechte Eigenschaften miteinander vereine. Das Ereignis führte bei Henryk Goldszmit zu einer großen Irritation um seine Identität, denn es warf die „geheimnisvolle Frage nach der Konfession auf“ (ebd.: 302). Es stellt sich die Frage, ob „geheimnisvoll“ als „rätselhaft“ oder „mystisch“ zu interpretieren ist. • Die erste Lesart deutet auf die Frage, welcher Konfession er wohl angehörte. Das Rätsel wird in der Episode durch (Fremd-)Zuschreibung, also durch die Einordnung durch das Dienstmädchen und den Sohn des Hausmeisters, gelöst. Sie charakterisieren den Knaben als einen Juden in Abgrenzung zu den christlichen Polen. 67 Die dominante Religion war zu jener Zeit das Christentum. Sowohl die römisch-katholische Kirche als auch orthodoxe wie protestantische Kirche haben ihre Anhänger gefunden. 71

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• Die zweite Lesart wirft die Frage nach einer transzendentalen Ordnung und Sakralität auf. Konnte Henryk Goldszmit als Fünfjähriger bereits eine Vorstellung vom (jüdischen und / oder christlichen) Bekenntnis haben, wenn er in einer Familie aufwuchs, welche die jüdischen Traditionen nicht (mehr) lebte? Verneine ich die Frage, so wurde er durch den Tod des Kanarienvogels zum ersten Mal – überhaupt – mit der Glaubensfrage konfrontiert. Dann wäre das Kreuz als Hinweis auf die christliche Religion aber von seiner Symbolik enthoben und hätte die Funktion eines Grabmals im Sinne eines Gedenk- und Erinnerungsmales für den verstorbenen Freund. Die Rückerinnerung scheint als eine Schlüsselstelle auf, denn mit dem Tod des Kanarienvogels wurde seine (polnische) Identität in Frage gestellt. Die Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologen unserer Zeit stimmen Erik H. Eriksons Annahme zu, dass die (Ich-)Identität des Individuums die Aufgaben der Synthetisierung von Teilaspekten des Ich, der Selbstidentifizierung des Individuums und der Abgrenzung nach außen leistet (Ottomeyer 2000: 18). Henryk Goldszmits Einsamkeit im Elternhaus hat die Zahl derer, mit denen er kommunizieren konnte, stark eingeschränkt. Sein Welterkundungsdrang ging (noch) nicht über die elterliche Wohnung hinaus, in der er Halt und Anerkennung erfuhr. Seine ethnische oder gar religiöse Zugehörigkeit schien für ihn bis zu diesem Zeitpunkt (noch) keine Rolle zu spielen. Erst durch die Konfrontation mit dem Sohn des Hausmeisters und den Wandel seiner Familienkindheit in eine Schulkindheit hat sich sein Aktionsradius vergrößert und sein soziales Umfeld konnte sich verändern. Wie in den Kreisen gebildeter Familien der jüdischen Oberschicht üblich, war Henryk Goldszmit bis zu seinem Eintritt in die russische Volksschule von Gouvernanten mit erzogen worden. Noch bevor er in der Ulica Freta die Elementarschule „Augustyn Smurłas“ besuchte (1884), die ihn auf das Gymnasium vorbereiten sollte, hat er Lesen und Schreiben gelernt. Bereits die Grundschule diente der Russifizierung der polnischen Gesellschaft, weshalb er auch in der Schule mit der Divergenz von Eigenem und Fremden konfrontiert wurde. Der Eintritt in die erste Klasse provozierte (s)eine Zweisprachigkeit, denn die Unterrichtssprache war Russisch. Gelehrt wurde die russische statt der polnischen Geschichte; und die (russischen) Lehrer prügelten ihre Schüler häufig zur Strafe. Die erste Begegnung mit dem zaristischen Schulsystem war zu viel für den sensiblen Jungen, der von seinen Eltern nach nur wenigen Monaten wieder von der Schule genommen wurde. Er wurde stattdessen bis zum Eintritt in das Gymnasium zu Hause von einem Hauslehrer unterrichtet. Rund um sein erstes Jahrsiebt war sich Henryk Goldszmit der Wahrnehmung seiner eigenen Person durch andere bewusst geworden. Er musste sich damit auseinandersetzen, wie seine Umwelt auf ihn blickte und welche Identität er annahm.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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Zu Hause war er der polnische Knabe des Salons68, der häufig mit sich allein spielte; im Hof galt er als jüdischer Junge, der sich von den Polen / Katholiken aufgrund seines vermeintlichen Glaubens unterschied und in der Schule war er einem Transkulturationsprozess ausgesetzt, der ihn zwang, Russisch (die Sprache der Besatzer) als Unterrichtssprache zu lernen. Schon früh war seine Selbstwahrnehmung durch unterschiedliche Irritationen und Anforderungen in Frage gestellt worden.

2x7 – Auf dem Weg zum Adoleszenten „Vierzehn Jahre. – Ich halte Umschau. Nehme wahr. Sehe. – Die Augen sollten mir aufgehen. Sie gingen mir auf. Erstes Nachdenken über erzieherische Reformen. – Ich lese. – Erstes Suchen und Sehnen.“ (ebd.: 344 f.)

Aus dem Kind wurde ein Heranwachsender, der seine Bauklötze gegen Bücher eintauschte. Henryk Goldszmit hat eine regelrechte Lesegier entwickelt und sich in die Bücher geflüchtet, denn das russische Gymnasium im Stadtteil Praga69 langweilte ihn häufig. Er las „Klassiker und zeitgenössische Dekadente, Meister der Form, Reimer, Vielschreiber und Journalisten, aber auch progressive und konservative Schriftsteller, Lyriker und Prosaiker“ (SW Bd. 1: 435). Er begann ein Tagebuch zu führen, das er später in der „Beichte eines Schmetterlings“ verarbeitete. Es ist nicht nur ein autobiographisches Zeugnis, sondern auch eine literarische Studie zur Adoleszenz. 68 Eines der bekanntesten Fotos und das einzige aus seinen Kindheitstagen zeigt Henryk Goldszmit als etwa Neun- bis Zwölfjährigen. Auf dem Foto lächelt er nicht, sein Blick ist ernst neben das Kameraobjektiv gerichtet. Seine rechte Hand hat er auf dem rechten Knie, die Linke ergreift die Sitzfläche. Er trägt einen Anzug – Kniestrümpfe, eine knielange Hose mit seitlicher Knöpfung, ein weißes Hemd mit großem Kragen, darüber eine Weste und eine Jacke. Eine schwarze Schleife war ihm zwischen Hemdkragen und die Weste gebunden worden. 69 Praga gilt als historischer Vorort Warschaus und liegt auf der rechten Seite der Weichsel. Henryk Goldszmit musste den Fluss überqueren, um das Gymnasium zu erreichen. An dieser Stelle erscheint es passend, näher auf seine Schulkleidung einzugehen: Zu jener Zeit ließen die russischen Schuluniformen die Schüler wie eine Miniatur von Offizieren aussehen, wenn auch in den 1890ern der strenge Gehrock bereits durch eine Feldbluse ersetzt worden war, der nur noch zu festlichen Anlässen getragen wurde. Die Gymnasiasten hatten eine Lackschirmmütze auf dem Kopf und wenn es kühl war, trugen sie über ihrer Feldbluse einen Doppelreihermantel mit silbernen Knöpfen. Die Uniformierung war aber nicht allein der Schule und dem Militär vorbehalten. Es gab eine einheitliche Uniform vom Gymnasiasten bis zum hohen Staatsbeamten. So tauschte Henryk Goldszmit seine Schüleruniform gegen die Uniform des Studenten, als er sich an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau einschrieb. 73

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Er war, bekleidet mit der gymnasialen Schuluniform, am ersten Tag noch von seinem Vater gebracht worden. Bereits am zweiten Tag konnte sich Henryk Goldszmits Aktionsradius vergrößern, denn dann durfte er allein in die Schule gehen und sich in der Stadt bewegen. Warschau war nun nicht mehr allein auf die Honigstraße und den Weg zum Sächsischen Garten begrenzt, es wuchs und wurde ihm nicht mehr nur zu Fuß, sondern auch mit der Pferdebahn erfahrbar. Das humanistische Gymnasium war auf einen gedankenlosen und Gedächtnisübungen umfassenden Unterricht beschränkt und zwang ihm neben Griechisch und Latein auch weiterhin die russische Sprache auf. Obwohl er längst wusste, „daß er Jude ist, fühlt[e] sich Henryk als Pole, [kannte] keine andere Kultur als die polnische und keine andere Sprache als die, die in seiner seit langem assimilierten Familie gesprochen“ (Newerly 1967: VIII) wurde. Eines der einschneidenden Ereignisse dieses Jahrsiebts war der Tod seiner Großmutter mütterlicherseits, die mit im Haushalt der Familie gelebt hat. Während weder Vater noch Mutter an den Ehrgeiz und die Fähigkeiten ihres Sohnes glaubten, hat sie ihm „Rosinen in den Kopf gesetzt“ und nannte ihren Enkel einen „Philosophen“ (vgl. SW Bd. 15: 301), der mit ihr seine Träume teilen konnte. Sie war ihm zur engsten Vertrauten geworden. Henryk Goldszmit war vierzehn Jahre alt, als sie auf dem Jüdischen Friedhof begraben wurde und er Abschied nehmen musste. Für eine Zeit besuchte er sie dort noch regelmäßig und bat sie um Beistand.

3x7 – Abschied vom Vater Ein weiteres einschneidendes Ereignis war der Tod des Vaters im Jahre 1896. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Warschau beigesetzt und auf seinem Grabstein steht geschrieben: „Józef Goldszmit, Vereidigter Advokat; er durchlebte 50 Jahre, starb am 26. April 1896. Friede seiner Seele. Dem geliebten Ehemann. Die Ehefrau und die Kinder“ (SW Bd. 16: 25). Henryk Goldszmit war elf (zwölf) Jahre alt, als sich sein Vater das erste Mal für längere Zeit in einer Klinik aufhielt und in einem Alter, als er die Episoden seines Vaters nicht nur bewusst erlebte, sondern auch hinterfragen konnte und verarbeiten musste. Es scheint wahrscheinlich, dass ihm auch die finanziellen Sorgen Cécylia Goldszmits nicht verborgen geblieben sind und er mitbekommen hat, dass sie das Hab und Gut von Wert beim Pfandleiher versetzt hat. In seinem Artikel „Stadium der Reife“ (1901) schreibt er: „Die Zeit der Reifung ist nicht nur eine Zeit der geschlechtlichen Reifung, sondern auch eine Zeit, in der sich die Weltsicht bildet, in der man nach einem eigenen Lebensziel sucht. […] Die Pflicht des Vaters ist es, dem Sohn ein Lebensziel zu weisen und den Ort zu zeigen, auf dem er stehen soll. Und wenn kein Vater da ist, wenn der Vater diese ehrenhafte und verantwortungsvolle Aufgabe nicht übernehmen kann

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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oder will, dann fällt diese Pflicht der Mutter zu […]. Übel liegt sowohl darin, daß die Eltern oft nicht verstehen, wie wichtig die Zeit der Reifung für die Kinder ist, als auch darin, daß sie von Pädagogen so wenig bearbeitet wurde und sich Ärzte nur mit der körperlichen Seite befassen […]‘“ (SW Bd. 3: 426 f.).

In diesem Zitat deutet sich an, welche Lücke Józef Goldszmit hinterlassen haben muss und welcher Pflicht er als Vater nicht mehr nachkommen konnte, weil sein Sohn auf dem Weg durch die Jugendbiographie durch seinen Tod sich selbst überlassen blieb. Ohne Pathos verweist Henryk Goldszmit auf den Stellenwert der Adoleszenz, wenn der Sohn kein Kind mehr aber auch noch kein Erwachsener ist. Das Oszillieren des Adoleszenten zwischen geistiger und körperlicher Reife verlangte nach einer Person, die ihn als Vorbild unterstützen und führen konnte. Hier zeigt sich, dass Józef Goldszmit in Gestalt des (jüdischen) Vaters das System seiner maßgebenden Werte, Normen und Verhaltensmuster geprägt, aber auch kontrolliert und repräsentiert hat; und dass er ein maßgeblicher Träger der Erziehung im Sinne einer Autoritätsfigur seines Sohnes war. Der Tod des Vaters markiert das Ende einer fröhlichen Kindheit, denn es änderte sich Vieles im Hause Goldszmit. Die Spielsucht und die Klinikaufenthalte haben die Familie finanziell ruiniert. Die Ersparnisse gingen zur Neige und die Familie musste ihre Ausgaben verringern. Zuerst ging das Hauspersonal und dann zog die Familie in eine bescheidenere und kleinere Wohnung. Cécylia Goldszmit hat nach dem Tod ihres Mannes von der Schulbehörde die Genehmigung erhalten, jüdische Schüler und Schülerinnen in Pension zu nehmen. Für Witwen in ihrer Position war es eine gesellschaftlich akzeptierte Lösung (vgl. SW Bd. 15: 45), um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. An diesem war auch Henryk Goldszmit beteiligt, der als Nachhilfelehrer einen erheblichen Teil zum finanziellen Auskommen der Familie beitrug, denn seine Mutter bot neben einer Unterkunft auch „privaten Unterricht und gute Pflege“ (vgl. Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk 2019: o. S.). Zu diesem Zeitpunkt lebten sie in der Ulica Leszno 18 / 10 (1895), wo sich auch das Warschauer Bezirksgericht befand.70 Henryk Goldszmit war noch mitten in der Pubertät, als er seinen Vater verloren hat. Es war die Zeit, als die interessante Welt nicht mehr nur außerhalb, sondern auch in ihm war (vgl. SW Bd. 15: 345). Er durchlebte Gefühle, die ihn besänftigten und gleichzeitig aufwühlten. Und es ist die einzige Phase, in der er sich die Liebe zum anderen Geschlecht ein- oder zugestand:

70 Später eröffnete sie eine Pension in der Ulica Nowosenatorska 6 / 11 und zog in den darauf folgenden Jahren mehrmals um: 1902 lebte sie in der Chłodna, 1904 bis 1905 in der Elektoralna, ab 1905 in der Śliska und seit 1912 in der Wielka. 75

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie „Ich denke über Liebe nach, bisher habe ich nur gefühlt, geliebt. Zwischen sieben und vierzehn war ich andauernd verliebt, immer wieder in ein anderes Mädchen. Interessant, daß ich mich an viele von ihnen erinnere. […] Meine Liebe zu Mania seit meinem vierzehnten Lebensjahr […]“ (ebd.: 345).

Seine eigenen Gefühle negiert er sonst überwiegend in seinem Gesamtwerk (die „Beichte eines Schmetterlings“ einmal ausgenommen), denn die Sinneslust und erotische Träume waren etwas, das ihn als Adoleszenten geängstigt haben. Der Tod des Vaters löste in ihm die Furcht aus, selbst psychisch erkranken zu können, so dass er erstmals Selbstmordgedanken hegte. Er war noch nicht volljährig, als er die Rolle des einzigen Mannes in der Familie einnehmen musste. Er hat weder die Schule beendet noch ein Studium begonnen, trug aber schon sehr viel Verantwortung – nicht nur für sein eigenes, sondern auch für das Leben seiner Mutter und Schwester. „Ich bin nicht dazu da, geliebt und bewundert zu werden, sondern um zu handeln und zu lieben. Es ist nicht die Pflicht meiner Umgebung, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern“ (ebd.: 345). Dieses Credo sollte nicht nur für die Frauen in seiner Familie gelten, sondern auch seinen weiteren Lebensweg bestimmen. Zeitgleich lehnte Henryk Goldszmit die Identität, die er von seinen Eltern übernommen hat, ab und gab sich einen „polonisierten“ Namen, der überhaupt nicht mehr auf seine jüdische Herkunft hinwies: „Janusz Korczak“. Der Fall des Namenwechsels kann als Statuspassage gedeutet werden, die ein Sinnbild für die Identitätsproblematik ist und Henryk Goldszmits Polnisch-sein symbolisiert. Als Schüler des Gymnasiums hat er an einem Literaturwettbewerb teilgenommen, der von Jan Ignacy Paderewski ausgeschrieben worden war (1898)71. Er reichte ein Theaterstück mit vier Akten ein, das den Titel „Którȩdy?“ (dt. „Wohin?“) trug und vermutlich den Verlust des Vaters literarisch bearbeitete. Weil die „Geschichte von Janusz Korczak und der schönen Schwertfegerstochter“ des polnischen Schriftstellers Kraszewski auf seinem Tisch lag und er in Eile war, schrieb er den Namen des Titelhelden als Pseudonym auf das Papier (vgl. SW Bd. 16: 26) und stellte auf diese Weise seine geistige Wahlverwandtschaft mit ihm zur Schau. Durch einen Druckfehler tauchte er in der Liste der Teilnehmer als „Janasz Korczak“ auf; doch sollte er das Pseudonym „Janusz Korczak“ [in der richtigen Schreibweise] als Künstlernamen beibehalten. Nur bei privater Korrespondenz und seine sozialmedizinischen Schriften unterzeichnete er zeit seines Lebens mit seinem Geburtsnamen 71 Das Theaterstück war aber nicht sein Debüt, weil er bereits in den Jahren 1896 bis 1898 in der Zeitschrift „Kolce“ (dt. „Stacheln“) 31 humoristische Texte und satirische Feuilletons veröffentlicht hat. Außerdem hat er zwei Dramen für einen literarischen Wettbewerb geschrieben.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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„Henryk Goldszmit“. In persönlichen Angelegenheiten und im Feld der Medizin stand er noch zu der Identität, die er durch seine familiale Herkunft erhalten hat.72 Die doppelte Namensgebung in seiner Jugend verdeutlicht gewissermaßen die zwei Nationalitäten, zu denen sich Henryk Goldszmit / Janusz Korczak zugehörig fühlte: der jüdischen und der polnischen (vgl. Tarnowski 1981: 18).

Zwischen Medizinstudium, sozialem Elend und darüber schreiben Mit dem einundzwanzigsten Lebensjahr veränderte sich viel im Leben des jungen Henryk Goldszmit. Nach dem Abitur schrieb er sich im Studienjahr 1898 / 99 an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau für ein Studium der Medizin ein, auch wenn seine schriftstellerischen Ambitionen nicht weniger geworden sind. Bereits in der „Beichte des Schmetterlings“ hat er geschrieben, dass er nicht Literat, sondern Arzt werden wolle: „Literatur, das ist das Wort, und die Medizin – das sind Taten“ (SW Bd. 3: 126). Er hat sich für eine Profession mit Ansehen entschieden und wurde Arzt wie sein Urgroßvater mütterlicherseits und Großvater väterlicherseits. Er promovierte im Jahre 1905. Sein Studium dauerte sieben Jahre. Dieses Jahrsiebt war prägend, weil Henryk Goldszmit nicht nur studierte und reiste, sondern auf vielen Ebenen umtriebig war. Er publizierte viele Aufsätze und sein erstes Buch wurde veröffentlicht. Außerdem begegnete er immer häufiger dem sozialen Elend Warschaus und nahm sein sozialpädagogisches Engagement auf. Nun aber Schritt für Schritt:

Abb. 8 Ereignisse im vierten Jahrsiebt (eigene Darstellung)

72  Der Arztberuf bot die Möglichkeit an der bürgerlichen und christlich dominierten Gesellschaft teilzunehmen (vgl. Wolff 2014: 156). So lange die jüdischen Ärzte nicht in jüdischen Spitälern oder Arztpraxen agierten, spielten ihre Herkunft und Religion kaum eine Rolle. Waren sie wie Henryk Goldszmit auch publizistisch tätig, wurden sie mehr als Ärzte und Wissenschaftler und weniger als Juden wahrgenommen (vgl. ebd.: 156). 77

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Abbildung acht zeigt, worauf ich mich nachfolgend fokussiere, nämlich auf die Aufnahme seines Medizinstudiums, seine Schweizreise in den Semesterferien 1898, sein soziales Engagement, seine Lehrtätigkeit und seine Publikationen im vierten Lebensjahrsiebt. Henryk Goldszmit, der Medizinstudent Die „Kaiserliche Universität“ zu Warschau stand zu Henryk Goldszmits Studienzeit unter russischer Verwaltung und genoss nicht gerade den Ruf einer Elite-Universität. Auch wenn die Professorenschaft in fachlicher Hinsicht (noch) als tüchtig galt, war die Weite ihres geistigen Horizontes beschränkt. Die Universität war 1816 gegründet worden und in der kurzen Geschichte ihres Bestehens im Zuge der politischen Aufstände der Jahre 1830 / 31 und 1863 / 64 zwei Mal für längere Zeit geschlossen worden. Eine Fachkultur im Sinne von Praktiken, Habitus, Traditionen und Ritualen hat sich unter diesen Umständen kaum herausbilden können. Die Universität war zu einem Verbannungsort für missliebige Professoren geworden, die gering qualifiziert oder wegen politischer Unzuverlässigkeit nach Warschau versetzt worden waren (vgl. SW Bd. 16: 28). Seinen geistigen Horizont erweiterte der Medizinstudent auf anderen Wegen: Henryk Goldszmit besuchte um 1900 neben der offiziellen Universität auch eine im Untergrund. Henryk Goldszmit, der Schweizreisende (1898) Das erste Semester an der Medizinischen Fakultät diente Henryk Goldszmit zur Orientierung an der Universität und in seinem Studiengang. Es verlangte von ihm sehr viel Arbeit ab, so dass er in seinen ersten Semesterferien in die Schweiz reiste, um Abstand zu gewinnen. Er interessierte sich vor allem für das Wirken des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827). Der Pädagoge aus der Schweiz gilt als Vordenker der Anschauungspädagogik und vertrat aus heutiger Sicht einen ganzheitlichen Ansatz. Er gilt als Begründer der modernen Volksschule und wurde durch die Sammlung der Briefe „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) bekannt. In ihr stellt er seine ‚Methode‘ als Grundlage der Erziehung zum guten Menschen dar (vgl. Osterwalder 2003: 104). Seine Erziehungslehre hat er in einer Armenanstalt auf dem Neuhof und in einem Waisenhaus in Stans entwickelt und schließlich in mehreren Schulen modifiziert. Es war Henryk Goldszmits erste Reise ins Ausland und er gewährt den Lesern und Leserinnen in „Die Schweizreise – Reisemosaik“ (1899) einen Einblick. Das „Reisemosaik“ wurde in der Zeitschrift „Czytelnia dla Wszystkich“ (dt. „Leihbibliothek für alle“) veröffentlicht (sieben Teile, erschienen im August bis Oktober 1899, alle mit „Janusz“ unterzeichnet), außerdem erschien im Jahre 1901 „Eine Handvoll Erinnerungen“ (mit „H.“ unterschrieben).

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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Henryk Goldszmit war mit dem Zug durch die Schweiz gereist. Er ging in den Alpen wandern und fuhr nach Luzern, Basel73 und Zürich, wo er neben der Universität und einigen Schulen auch Pestalozzi-Anstalten und Spitäler für Kinder besichtigte. Außerdem besuchte er eine pädagogische Ausstellung, die in einem Raum auch Pestalozzi gedachte (vgl. SW Bd. 6: 359). In Zürich hat er Bekanntschaft mit Witold Gądzikiewicz gemacht. Er studierte wie Henryk Goldszmit Medizin und erinnerte sich noch Jahre später daran, wie er mit ihm darüber gesprochen hat, dass es die Kinder in der Schweiz im Vergleich zu denen in Warschau sehr viel besser hatten (vgl. Gądzikiewicz 1999: 417). Henryk Goldszmit, der sich sozial Engagierende Die Ausflüge in die Elendsviertel konfrontierten Henryk Goldszmit mit den teils prekären Lebenswelten der armen Kinder in Warschau. Was er in diesen Jahren beobachtete, verstärkte sein sozialpädagogisches Interesse. Er wurde nicht nur zum Schreiben angeregt, sondern wollte selbst tätig werden. Sein Engagement hat in den Sommerkolonien ihren Anfang genommen. Der bekannte Arzt, Hygieniker und Sozialreformer Stanisław Markiewicz (1839–1911) gilt in Polen als Initiator der Ferienkoloniebewegung.74 Er hat die Idee 73 Dort nahm er am II. Zionistenkongress teil (28. bis 31.08.1898). Aus allen Ländern reisten Vertreter nach Basel, um sich kennen zu lernen und auszutauschen. Theodor Herzl (1860–1904) übernahm den Vorsitz und David Farbstein (1868–1953) die Organisation. Ziel des Treffens war es, dass die „Zionistische Weltorganisation“ und der Zionismus in den jüdischen Gemeinden anerkannt wurden. Es war ein Teil der Judenfrage und Herzl proklamierte, dass es nur zwei Wege gab: Entweder die Schaffung eines eigenen Nationalstaates oder die vollständige Assimilation an die jeweils dominante Kultur (vgl. Hertzberg 1998: 259). 74 Die Ferienkoloniebewegung geht auf den Schweizer Pfarrer Hermann Walter Bion (1830–1909) zurück, auch wenn die Idee im Werk Jean-Jaques Rousseau wurzelt. In seinem „Emile“ hat er gefordert: „Schickt eure Kinder auf das Land, damit sie sich dort gewissermaßen selber erneuern und inmitten der Felder die Kräfte holen, die man in der ungesunden Stadtluft verliert“ (Rousseau 1762 / 1985: 31). Etwa 30 Jahre später entstanden die ersten westeuropäischen Institutionen, die der Erholung von Kindern auf dem Lande dienen sollten („Kinderheilstätten“, „Ragged Schools“ und die „Landwoche“ bzw. das „Kopenhagener Modell“). Bion schuf eine zweite Kategorie der Kindererholungsfürsorge und organisierte 1876 zum ersten Mal einen zweiwöchigen Erholungsaufenthalt für arme, kränkliche Kinder aus Zürich in seinem Heimatkanton Appenzell. Er hat beobachtet, wie seine eigenen fünf Kinder nach einem sommerlichen Landaufenthalt körperlich und geistig frischer in die Stadt zurückgekehrt waren. Mit seiner Arbeit schloss er an den traditionellen philanthropischen Geist der Strukturen des damaligen Volksschulsystems an (vgl. Rauch 1992: 45). Er wollte ernährungsfürsorgerische und gesundheitliche mit erzieherischen Aspekten verbinden. Seine Arbeit 79

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der Sommerkolonien erstmals in einem Vortrag über „Schule und Gesundheit“ (1879) verbreitet. Auf seine Initiative verbrachten 1882 die ersten 500 Kinder aus Warschau ihre Ferien auf dem Land. Offiziell ist die „Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau“ aber erst fünfzehn Jahre später gegründet worden. Markiewicz hat als ihr Vorsitzender (1898 bis 1911) die ersten Geldsammlungen vorgenommen, denn die Gesellschaft finanzierte ihre Arbeit überwiegend durch Spenden und Schenkungen. Henryk Goldszmit war der Gesellschaft als Mitglied im Jahre 1900 beigetreten und betreute in den Jahren 1904, 1907 und 1908 Jungengruppen bei ihren Landaufenthalten. Dort begegnete er zum ersten Mal „dem jüdischen Kind“ (SW Bd. 15: 214). Er war aber auch an der öffentlichen Debatte um die Arbeit in den Sommerkolonien beteiligt. Im Zuge dessen hat er bspw. in einem Beitrag in der Głos75 mit dem Titel „Sommerkolonien“ einen 1904 von Julian Gawroński gehaltenen Vortrag kritisiert, der zu oberflächlich über die Anstrengungen der Gesellschaft gesprochen habe. Zwar hätten die Hörer und Hörerinnen des Vortrages erfahren, dass „solche Kolonien bereits auf allen Erdteilen existier[t]en, sogar in Australien“ (SW Bd. 9: 143), aber über ihr Konzept hätten sie kaum etwas erfahren. Die „Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau“ sorgte sich um die Gesundheit schwächlicher Kinder aus der armen Bevölkerungsschicht. Vor der Reise hatten die Eltern einen „Antrag auf Aufnahme in eine Ferienkolonie“ zu stellen. Daraufhin wurden die Kinder zu einer Qualifikationsuntersuchung eingeladen. Die Verantwortlichen erlaubten Kindern im Grundschulalter (zwischen acht und dreizehn Jahren) mitzureisen, deren häusliche Situation schwierig und deren Befinden nicht hervorragend war (ausgenommen Unsauberkeit und ansteckende Krankheiten). Es gab mehr „qualifizierte“ also schwache und arme Kinder, als es Plätze in den Ferienkolonien gab, so dass Anträge auch abgelehnt werden mussten. Die Ferienkolonien fanden in den Sommermonaten in vier Durchgängen für jeweils vier Wochen und insgesamt 3.000 Kinder pro Turnus statt. Es gab eine Kolonie für jüdische Jungen (Michałówka), christliche Jungen (Wilhelmówka) und Mädchen (Zofiówka). Die Sommerkolonieaufenthalte wurden nach folgenden Grundsätzen ausgestaltet:

war auch außerhalb der Schweiz bekannt geworden. In Deutschland war der Arzt Georg Varrentrapp (1809–1886) auf das „Züricher Modell“ aufmerksam geworden und hat 1878 das „Komitee für Ferienkolonien“ in Frankfurt am Main gegründet. Die Geschichte ist in Thilo Rauchs Studie zur Ferienkoloniebewegung im Detail nachzulesen (und mit stärkerem Bezug zu Janusz Korczak auch in Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018). 75 Unter der Rubrik: „Am Rednerpult“, Nr. 21 (21.05.1904).

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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• Durch tägliche Frischluftzufuhr, ausgiebige Bewegung und Nahrungsaufnahme sollten sich die von Krankheit gezeichneten Kinder erholen können. • Die Erziehung sollte nach religiösen Maßstäben erfolgen. • Die Kinder sollten die Vorzüge des Landlebens zu schätzen lernen (vgl. ebd.: 301). Henryk Goldszmit, der Lehrende und Bildungsaktivist Der Medizinstudent engagierte sich nicht nur in der „Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau“, sondern setzte sich wie schon sein Vater auch für die Mädchenbildung ein. Parallel zur „Fliegenden Universität“ war ein konspiratives Erziehungsinstitut für Mädchen entstanden, das von Stefania Sempołowska (1869–1944) geleitet wurde. Auch wenn das Institut 1904 durch die zaristische Regierung geschlossen wurde, weil Sempołowska nach der Revolution nach Galizien deportiert worden war, unterstützte sie Henryk Goldszmit seit 1901 / 02 bei der Lehrtätigkeit (vgl. SW Bd. 16: 36). Außerdem engagierte er sich als Bildungshelfer in den kostenlosen Lesesälen der „Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft“. Die größte soziale Organisation Kongresspolens war bereits im Jahre 1814 gegründet worden und vor allem um Alte, Waisen und notleidende Kinder bemüht. Neben den Lesesälen organisierte die „Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft“ auch die Einrichtung und Arbeit von Krippen, Kindergärten, Nähstuben, Billigküchen und Volksbädern (vgl. ebd.: 37). Henryk Goldszmit, der publizierende Medizinstudent und eine Zusammenfassung des Jahrsiebts Der Bericht über seine Reise in die Schweiz war nicht das einzige, was Henryk Goldszmit im Jahrsiebt seines Medizinstudiums veröffentlichte. Um einen Eindruck von seiner publizistischen Tätigkeit zu erhalten, werden nun einige Veröffentlichungen im Überblick aufgeführt: Publizistik in der „Kolce“ (1898–1904) unterzeichnet mit Hen.Ryk, Hen-Ryk, Hen und Ryk, Hagot76 und Go.

Er veröffentlichte im satirischen Wochenblatt „Kolce“ (dt. „Stacheln“) Humoresken, Satiren und Bagatellen. Anfangs schrieb er seltener, seit 1900 häufiger und ab 1902 wöchentlich, weil er alleiniger Autor des Feuilletons geworden war. In den Sämtlichen Werken füllen diese Beiträge einen einzelnen Band von etwa 700 Seiten.

76 Ein nephitischer Schiffbauer im Buch Mormon. 81

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„Bildung für alle“ (1898–1901) etwa 200 Artikel unterzeichnet mit unterschiedlichen Kryptonymen wie j., G., Hagot, H. G., Hen.Ryk, … t, J.K, Ryk und H.77 „Kinder und Erziehung“ (1900) 7 Abschnitte

„Warschauer Elend“ (1901)

„Theater in der Kritik“ (1901–1902)

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„Bildung für alle“ umfasst die ersten sozialmedizinischen Aufsätze in der Zeitschrift „Leihbibliothek für alle“. Henryk Goldszmit brachte seinen Lesern und Leserinnen die Themenfelder Volksbildung und Gesundheitserziehung mit Fallbeispielen und programmatischen Studien nahe. In der 52. Nummer des Jahres 1899 formulierte er auch zum ersten Mal sein pädagogisches Credo, das mit seinem Namen bis heute in Verbindung steht: „Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind schon welche“ (SW Bd. 1: 475). Der Zyklus erschien in sieben Teilen in der Wochenschrift „Wȩdrowiec“ (dt. „Der Wanderer“) und übt schonungslos Kritik an der lebensfernen Schule Polens und proklamiert eine partnerschaftlich-soziale Erziehung (vgl. SW Bd. 16: 33). Es ist das erste Mal, dass Henryk Goldszmit einen Beitrag mit seinem vollen Pseudonym „Janusz Korczak“ unterzeichnete. Die literarischen Reportagen wurden in der Monatsschrift des „Miesiȩcznik Kuriera Polskiego“ (dt. „Polnischer Kurier“) publiziert und dokumentieren, wie sich Henryk Goldszmit den Notleidenden in den Armenvierteln angenähert hat und was er aus diesen Begegnungen schloss. Seine sozialkritische Reportage sollte einer weiteren Verelendung entgegenwirken und ein Plädoyer für ein nüchternes Sozialengagement abgeben (vgl. SW Bd. 7: 480). „Theater in der Kritik“ war eine Artikelsammlung im „Kurier Teatralny“ (dt. „Theaterkurier“) und brachte die Bedeutung des Theaters für Erwachsene und Kinder zum Ausdruck.

77 Die Kryptonyme erscheinen zahlreich. Es handelt sich um Pseudonyme, Initialen der Vor- und Nachnamen (Henryk Goldszmit und Janusz Korczak), Paraphen und Kürzungen. Womöglich war Henryk Goldszmit noch auf der Suche nach einem passenden Namen, unter dem er publizieren konnte und wollte. Es war im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Schicht der polnischen Intelligencja nicht ungewöhnlich, den eigenen Namen zu anonymisieren oder zu verschleiern. Bspw. verbarg sich hinter Bolesław Prus > Aleksander Głowacki, Litwos > Henryk Sienkiewicz, Władysław Okoński > Aleksander Świętochowski, Jan Sawa > Maria Konopnicka und auch Autoren der Zeitschrift Kolce wählten Pseudonyme (vgl. SW Bd. 2: 753). Ein kritischer Journalismus im Dienste der Bloßstellung erforderte ein solches Mittel, um die Autoren zu schützen, die der Zensur unterstellt waren.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

„Kinder der Straße“ (1901)

„Lebensläufe“ (1902)

„Eindrücke und Notizen aus Sommerkolonien“ (1904)

Publizistik in der Zeitschrift „Głos“ (1904–05) über 50 Texte ein Roman

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Es ist die erste Erzählung mit Romancharakter und vereint die Wesenszüge eines Trivialromans mit einer naturalistischen Milieuschilderung und pädagogischen Träumen (vgl. SW Bd. 1: 427). Mit „Kinder der Straße“ war Henryk Goldszmit als Janusz Korczak in ganz Polen als Schriftsteller bekannt geworden. Der Aufsatz war in „Przegląd Pedagogiczny“ (dt. „Pädagogische Rundschau“) veröffentlicht worden. Er forderte in ihm der nachwachsenden Generation „vorbildliche Biographien“ (SW Bd. 16: 37) nahe zu bringen und das Leseangebot für Jugendliche zu verbessern (vgl. SW Bd. 9: 134). In „Michałowka“ schildert er in 40 kurzen Kapiteln, was er bei seinem ersten Ferienkolonieaufenthalt beobachtet und erlebt hat. Er beschreibt wahrgenommene Stimmungen, Gefühle und scheinbar nebensächliche Details. Der Roman ist der Versuch, durch die Beobachtung kindlichen Verhaltens Diagnosen auf die Kinder selbst zu stellen. Henryk Goldszmit arbeitete zwei Jahre für die „Głos“ (dt. „Stimme“), eine literarisch-gesellschaftlich-politische Wochenschrift. In seinen Artikeln rückte er soziale Fragen (Armut und Arbeitslosigkeit, Ausbeutung und Ausgrenzung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit) aus einer moralischen Perspektive heraus in den Mittelpunkt (vgl. SW Bd. 7: 487 und 492).

Die Übersicht rahmt nicht nur das publizistische Schaffen des Medizinstudenten, sondern bildet auch seine unterschiedlichen Interessensfelder ab und regt mich dazu an, sein viertes Jahrsiebt zusammenzufassen. Henryk Goldszmit hatte das „Bedürfnis, wirksam tätig zu sein“ (SW Bd. 15: 345). Er wollte können, wissen, sich nicht irren, keinen falschen Weg gehen (vgl. ebd.: 345) und ein guter Arzt werden. Sein medizinisches Fachwissen erwarb er an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau, seinen geistigen Horizont und sein (soziales) Netzwerk erweiterte er an der „Fliegenden Universität“. Dort wurde er mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Studenten und Studentinnen persönlich bekannt, die er sonst vermutlich nicht getroffen oder kennen gelernt hätte. Der Medizinstudent bewegte sich wie schon sein Vater in den Kreisen der Warschauer Intelligencja, der jedoch das bildungsadministrative Rückgrat fehlte, so dass man ihr nicht qua formeller Bildung angehörte (vgl. Sdvižkov 2006: 119). Seit die Russifizierung zu Beginn der 1860er Jahre eingesetzt hat, waren vor allem die polnischen Gelehrten von Restriktionen betroffen. Sie wurden entweder aus dem 83

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staatlichen Leben ausgeschlossen oder verdingten sich mit einer Beamtenexistenz ohne inneres Engagement am Rande (vgl. ebd.: 119). Das konspirative Umfeld der „Fliegenden Universität“ bot ein Wissen dar, das offiziell nicht erworben werden konnte und ermutigte zu einem Austausch, der nicht auf den institutionellen Rahmen beschränkt blieb. Er wurde dann ein Teil der öffentlichen Debatte, wenn Dozenten und Dozentinnen, Studenten und Studentinnen in sozial-kritischen oder satirischen Zeitschriften publizierten. Henryk Goldszmit war auf seinen „Streifzügen“ durch die Elendsviertel Warschaus ein teilnehmender Beobachter und Ethnograph des Alltagslebens. Am Abend zog es ihn in die Gaststätten von schlechtem Ruf, wo er mit Alkoholismus und Prostitution konfrontiert wurde. Seine besondere Aufmerksamkeit galt aber den armen Kindern von bzw. auf der Straße. Seine Beobachtungen versuchte er zu verstehen und in seinen zahlreichen Publikationen zu beschreiben. „Kinder der Straße“ kann als Milieustudie und „Eindrücke und Notizen aus den Sommerkolonien“ als pädagogischer Erfahrungsbericht gelesen werden. Daneben trieben ihn aber auch sozialmedizinische, bildungs- und sozialpolitische Fragen um, die er in den öffentlichen Diskurs einbrachte. Es ist bemerkenswert, dass Henryk Goldszmit nur sieben Jahre an der „Kaiserlichen Universität“ studiert hat.78 Ein Medizinstudium verlangt von den Studenten und Studentinnen bis heute einen hohen Zeitaufwand und ein umfangreiches Lernpensum ab. Durch die Fortschritte im Bereich der Naturwissenschaften hat sich die Medizin im 19. Jahrhundert in der Diagnose und Therapie bereits enorm weiterentwickelt. Das Kindbettfieber war bspw. durch Hygienemaßnahmen zurückgegangen, die Kenntnisse der Bakteriologie haben die Sterblichkeit infolge von Wundinfektionen reduziert, bei Operationen war die Narkose eingeführt worden und die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) und Radioaktivität (1898) haben die Radiologie als Teilgebiet der Medizin hervorgebracht. In Anbetracht der Vielzahl der Publikationen, der „Feldforschung“ und des sozialen Engagements im Bereich der (Mädchen-)Bildung und sozialpädagogischen Betreuung von Jungengruppen in den Sommerkolonien ist es beachtlich, dass Henryk Goldszmit sein Studium in nur einem Jahrsiebt mit seiner Promotion erfolgreich abgeschlossen hat. Sein Arztdiplom hat er am 23. März 1905 erhalten. 78 Nach heutigen Maßstäben hat er sein Studium im zeitlichen Rahmen abgeschlossen. In den Mitgliedsländern der Europäischen Union umfasst die ärztliche Grundausbildung nach Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und Europäischen Rates mindestens sechs Jahre und 5.500 Stunden Theorie und Praxis an einer Universität oder unter Aufsicht einer Universität. Das Diplom wurde Henryk Goldszmit im März des Jahres 1905 ausgestellt. Es bestätigte ihm, dass er die volle wissenschaftliche Ausbildung in fünf Kursen der medizinischen Fakultät abgeschlossen hat.

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5x7 – Henryk Goldszmit bleibt umtriebig Henryk Goldszmit wurde 1905 für ein Jahrsiebt Stationsarzt im Berson-Bauman-Spital. Es war ein kleines Spital an der Ecke Sliska-Straße 51 und Sienna-Straße 6179, das durch das Vermächtnis der Ehepaare Berson und Bauman und eine Spende von Mathias und Jan Berson finanziert wurde80. Es deckte einmal zwanzig Prozent des allgemeinen medizinischen Bedarfs der Stadt, obwohl das Spital weder von der Stadt Warschau noch von der jüdischen Gemeinde finanzielle Unterstützung erhalten hat. Es ist in den Jahren 1876 bis 1878 unter der Leitung des polnischen Architekten Arthur Goebels erbaut worden und verfügte über eine Abteilung für Innere Medizin, Ansteckende Krankheiten und Chirurgie mit einem Operationssaal. Seine Bedeutung für die Juden und Jüdinnen Warschaus erschließt sich vor allem im Hinblick auf die Situation der jüdischen Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert. In den 1840ern lebten etwa 35.000 Juden und Jüdinnen in Warschau, von denen sich bis 1862 nur elf Familien wohltätig engagiert haben (vgl. Schwara 2003: 167). Ein Kinderspital, das eine Vielzahl von Kindern kostenlos versorgte, war keine Selbstverständlichkeit und half die große Not des jüdischen Proletariats ein Stück weit zu lindern. Ein Blick in das Krankenhausstatut vermag zu erklären, warum sich Henryk Goldszmit für eine Anstellung an diesem Spital entschieden hat: „§ 1: Das Spital ist bestimmt für die Versorgung von Kindern beiderlei Geschlechts, mosaischen Glaubens, nicht älter als 13 Lebensjahre. § 19: Die Behandlung und Versorgung geschieht auf Kosten des Spitals. Anmerkung. In der Ambulanz werden ärztliche Beratungen erteilt; sofern notwendig, finden im Spital auch Operationen an sich meldenden Kindern statt sowie unentgeltliche Konsultationen ohne Konfessionsunterschied. Die unentgeltliche Ausgabe von Medikamenten aus der Krankenhausambulanz steht dagegen im Ermessen des Krankenhausvorstandes“ (vgl. „Krankenhausstatut“ in der „Warschauer Polizeizeitung“ 1876 in SW Bd. 7: 470).

Das Ärzteteam war überwiegend jung, weiterbildungsaffin und an der Durchführung eigener wissenschaftlicher Studien interessiert. Die Kinder wurden im ersten Stock stationär aufgenommen und behandelt, im Erdgeschoss wurden medizinische 79 Die Sienna-Straße galt neben der Chłodna als eine der besten Straßen des jüdischen Bezirks. Vor dem Krieg wohnten dort vor allem die Reichen, unter ihnen viele Akademiker. Die Wohnungen in diesen Straßen waren geräumiger, weshalb dort auch weniger Epidemien drohten (vgl. Sznajderman 2018: 74). 80 Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zwar stark beschädigt, doch bis heute beherbergen die Mauern ein Kinderspital. Das Berson-Bauman-Spital wurde in „Spital der Kinder Warschaus“ umbenannt. 85

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Notfälle ambulant versorgt. Außerdem verfügte das Spital über eine Bibliothek mit über 1.400 Büchern. Neben den Ärzten leisteten Wärterinnen 24-Stunden-Dienste. Sie wurden von wohltätigen Juden des Nachts unterstützt, die den Kindern auch Wein (zur Stärkung) und Bonbons (zum Trost) mitbrachten (vgl. SW Bd. 8: 68). Zu Henryk Goldszmits Lehrmeistern zählten neben dem Nihilisten und Ironiker Koral auch der joviale Kramsztyk81, der ernsthafte Gantz, Sliżewski – der Feldscher82 in der Chirurgie, die aufopfernde Krankenschwester Łaja und der hervorragende Diagnostiker Eliasberg (vgl. SW Bd. 15: 213). Mit Doktor Izaak Eliasberg (1860–1929) freundete er sich auch an. Er förderte die unentgeltliche Kinderversorgung und war Präsident der „Gesellschaft für Waisenhilfe“. Henryk Goldszmit oblag als Stationsarzt die Betreuung der kleinen Patienten und Patientinnen auf der Krankenstation. Die Jahre zwischen 1905 und 1912 ließen ihn nicht zur Ruhe kommen und er unternahm drei Studienreisen nach Berlin, Paris und London. Nach einem Jahrsiebt als Pädiater entschied er sich schließlich, das Spital zu verlassen. Er bedauerte, dass es nach der Schließung der Infektionsstation kaum noch existiert habe (vgl. SW Bd. 8: 189), so dass er nur noch mit „Resignation, Ironie [und] Beschämung“ seine Dienste ableistete. Schließlich hatte er in den Kliniken von Berlin und Paris erfahren, „wie es sein sollte, daß es anderswo anders ist“ und „daß es [die moderne Medizin] auch in Zukunft, vielleicht in einhundert Jahren“ erst nach Polen komme. In dem jungen Arzt gärte „die Demütigung der Desertion“. 1925 erinnert er sich zurück, dass er „rausgelaufen – entflohen – abgehauen“ ist, denn er „konnte nicht länger“ (ebd.: 69). Unzufrieden mit der Gesamtsituation bzw. den Möglichkeiten der Pädiatrie vor Ort [im Warschauer Spital], wandte er sich einem neuen Wirkungsfeld zu: der Waisenhauserziehung. Wie genau es dazu gekommen ist, wird sich in der weiteren Beschreibung des fünften Jahrsiebts noch zeigen. Henryk Goldszmit wurde im Juli 1905 erstmals zum Militärdienst eingezogen. Der Russisch-Japanische Krieg wurzelte in der Rivalität um den Einfluss auf Korea 81 Kramsztyk war ein Enkel von Issak Kramsztyk (1814–1889), der wiederum ein bekannter Rabbi Warschaus und Reformer war. Kramsztyk verfügte über ein beträchtliches Wissen in den Naturwissenschaften und hat viele Schriften veröffentlicht, die sich mit den philosophischen Konsequenzen der Biologie und Physik auseinandersetzten. Er stand dem Warschauer Positivismus sehr nahe und zählt zu den Pionieren der polnischen Medizinphilosophie (vgl. Woleński 2011:75). 82 Die Geschichte der Feldscher reicht bis in das Mittelalter zurück, als je einer von ihnen für die Versorgung von Kranken und Verwundeten pro Militärkompanie verantwortlich war. Feldscher sind Wundärzte im Sinne von medizinischen Hilfskräften. Um Feldscher zu werden, war kein Medizinstudium notwendig und erst im 20. Jahrhundert hat man sie (zumindest in Russland) an Fachhochschulen ausgebildet.

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und die Mandschurei. Der Krieg brach aus, als das Japanische Kaiserreich im Februar des Jahres 1904 den Hafen von Port Arthur angegriffen hat. Der kurze Krieg endete mit einer Niederlage des Russischen Kaiserreiches. Henryk Goldszmit war begleitender Oberarzt eines Sanitätszuges, der ihn bis in die Mandschurei geführt hat. Im März 1906 wurde er aus der Armee entlassen. Er kehrte nach Warschau zurück und nahm seine Tätigkeit im Spital wieder auf. Weil er als Schriftsteller immer bekannter wurde, wünschten nun auch Privatpersonen, dass er ihre Kinder behandelte: „Die Śliska-, die Pańska-, die Mariańska-, die Kometetowa-Straße. Erinnerungen – Erinnerungen – Erinnerungen. Jedes Haus, jeder Hof. Hier waren meine Hausbesuche für einen halben Rubel, hauptsächlich nachts. Für die Konsultationen am Tage bei den Reichen in den reichen Straßen ließ ich mir bis zu drei und fünf Rubel zahlen. Eine Dreistigkeit – soviel wie Anders, mehr als Kramszyk, Bączkiewicz – Professorenhonorare. Ich, der Spitalsarzt, das Mädchen für alles, das Aschenputtel des Berson-Spitals“ (SW Bd. 15: 336 f.).

Es war keine Selbstverständlichkeit, als jüdischer Arzt zu römisch-katholischen bzw. polnischen Patienten und Patientinnen in die Hauptstraßen Warschaus gerufen zu werden. Besonders den Reichen seiner Privatpatienten und -patientinnen begegnete er nicht immer zuvorkommend und mit dem gewohnten Respekt.83 Er behandelte dagegen unentgeltlich die Kinder „fortschrittlicher Leute“, darunter Sozialisten, Lehrer, Journalisten, junge Rechtsanwälte und Ärzte (vgl. ebd.: 338). Nachts machte er Hausbesuche in den Elendsvierteln Warschaus, weil „sich die alten Ärzte in der Nacht nur ungern die Mühe mach[t]en und gewiß nicht zu den armen Leuten“ (ebd.: 338) gingen. Er fühlte sich als junger Arzt dazu berufen, gerade den Armen zu jeder Tages- bzw. Nachtzeit (unentgeltlich) zu Hilfe zu eilen. Auch in den Sommermonaten der Jahre 1907 und 1908 nahm sich Henryk Goldszmit frei, um noch ein zweites und drittes Mal als Betreuer für Jungengruppen in den Sommerkolonien zu arbeiten. Er machte sich wieder Notizen und wurde durch sie zum Schreiben angeregt. „Die Mojscheks, Jascheks und Sruleks“ (1909) ist eine literarische Reportage und das erste Buch, das Henryk Goldszmit unter seinem Pseudonym „Janusz Korczak“ für Kinder veröffentlicht hat. Es bezieht sich auf den Kolonieaufenthalt im Jahre 1907. „Die Józeks, Jasieks und Franeks“ (1909 / 10) ist sowohl eine literarische Reportage als auch ein Kinderbuch, das von seinem dritten

83 Als Spitalarzt bekam er eine Wohnung gestellt und jährlich vier Raten á 50 Rubel ausgezahlt. Seine Hausbesuche waren ein guter Zuverdienst, weil er monatlich etwa 100 Rubel zusätzlich für die Behandlung von Privat-Patienten und -patientinnen einnahm (vgl. SW Bd. 15: 336). 87

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Aufenthalt und der Betreuung christlicher Jungen erzählt. Außerdem erschien in der Zeitschrift „Społeczeństwo“ (dt. „Gesellschaft“) „Sorgenkinder“ – ein Vortragszyklus, den er parallel zu den Geschichten aus den Sommerkolonien verfasst hat. Er berichtet in ihm nicht nur über seine Arbeit in den Ferienkolonien, sondern auch über seinen Aufenthalt und seine Beobachtungen in Berlin. „Sorgenkinder“ sind Teil der sozialmedizinischen Schriften, die im achten Band der „Gesammelten Werke“ vereint sind. Sie umfassen (1) Eindrücke und Erfahrungen eines jungen Arztes, (2) Pädiatrische Arbeiten zur Säuglingspflege, (3) Beiträge zur Gesundheitspolitik und (4) Ärztliches Denken und Handeln.84

84 Im achten Band der „Sämtlichen Werke“ sind unter (5) Pädologische Arbeiten vereint, die aber erst in den 1920er und 1930er Jahren erschienen sind. In diesem Zuge ist darauf zu verweisen, dass auch nicht alle unter (1) bis (4) aufgeführten Arbeiten aus dem Jahrsiebt „5x7“ sind, sondern teils davor und danach publiziert wurden. Die sozialmedizinischen Schriften waren nicht das einzige, was Henryk Goldszmit in diesem Jahrsiebt veröffentlicht hat. Neben mehreren Artikeln, in denen er Kritik an der Gesellschaft übte (1906), erschienen außerdem: „Die Schule der Gegenwart“ Bereits im Mai ist die Analyse zum Einfluss der Schul(1905) gesetzgebung einzelner europäischer Staaten auf die Schulbildung und Erziehung der Kinder (also kurz nach seiner Promotion) erschienen. „Zur Judenfrage“ (1905) Die Judenfrage wurde nicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutiert, sondern hat in Polen eine lange Tradition. Henryk Goldszmit fühlte sich nach dem Erscheinen von Michał Muttermilchs Roman „Juden“ zu einer Stellungnahme herausgefordert. Er vertrat eine progressive Position und verwies auf die zwei Lager der Juden und Jüdinnen in der polnischen Gesellschaft. Das zahlenmäßig sehr kleine Lager der Kleinbürger und Großbourgeoisie stand dem großen Lager des Proletariats aus hungernden und herumgestoßenen Juden und Jüdinnen gegenüber (vgl. SW Bd. 7: 204 ff.). „Drei Strömungen“ (1910)

Fünf Jahre später nahm Henryk Goldszmit erneut Stellung zu diesem Thema. Er beschrieb drei mögliche Einstellungen für „fortschrittliche Juden [und Jüdinnen]“ in Polen und seine eigene gesellschaftspolitische Position.

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Die „Idee vom Dienst am Kind“ Henryk Goldszmit unternahm während seiner Anstellung im Kinderspital insgesamt drei Studienreisen85, die er auch mit seinem pädagogischen Interesse verband. Die erste Studienreise führte ihn 1907 nach Berlin, die zweite 1909 nach Paris und die dritte 1911 nach London. Dort hat er die folgenreiche Entscheidung gefällt, die seinen ganzen weiteren Lebensverlauf bestimmen sollte. In einem Brief an Mieczysław Zylbertal schreibt er: „Ich erinnere mich, wie ich beschloß, keine Familie zu gründen. Ach, wie feierlich und wie naiv. Das war in Hagen bei London: ‚Ein Sklave hat kein Recht auf ein Kind: ein polnischer Jude unter russischer Fremdherrschaft.‘ Und sofort danach empfand ich es als Selbstmord. Ich erlegte mir ein Leben auf, das scheinbar ungeregelt war – ein Einsamer und ein Fremder. Ich habe versucht, für die Idee vom Dienst am Kind und seiner Sache zu arbeiten. Dem Scheine nach habe ich verspielt. Ihr habt die Macht, und ich habe recht; ihr habt die Kraft, und euch gehört der heutige Tag“ (SW Bd. 15: 54).

Er war auf der Suche nach einer Berufung und einem Ziel. Henryk Goldszmit war knapp über dreißig Jahre alt, als er sich für die „Idee vom Dienst am Kind“ entschied und die Entscheidung, der sozial und gesellschaftlich vernachlässigten „Sache des Kindes“ zu dienen, kann als grundlegender Ausgangspunkt seiner pädagogischen Passion und Wirksamkeit gedeutet werden (vgl. Beiner 2008: 17). Wehmut liegt in seinen Zeilen, wenn er schreibt, dass er es als Selbstmord empfand, als er beschloss, keine eigene Familie zu gründen. Stattdessen übernahm er die Verantwortung für mehrere Generationen Heranwachsender und stellte seine eigenen (privaten) Bedürfnisse für die (öffentliche) „Sache des Kindes“ [im Sinne

„Kind des Salons“ (1906)

Mit „Kind des Salons“ gelang dem jungen Arzt endgültig der literarische Durchbruch als Schriftsteller. Er beschritt mit seinem Roman einen neuen und eigenen Weg des kulturellen Umgangs mit dem sozialen Leid (vgl. SW Bd. 16: 53). Der Roman ist nicht nur eine Kritik an der Gesellschaft, sondern auch eine Fürsprache für das rechtlose Kind. „Die Schule des Lebens“ „Die Schule des Lebens“ ist eine Programmschrift und (1907) phantastische Erzählung. In seiner Schul-Utopie beschreibt Henryk Goldszmit eine „Schule des Volkes“ (SW Bd. 7: 336) (wie er sie sich wünscht und vorstellt) und übt sogleich Kritik an der bestehenden Schule. 85 An dieser Stelle möchte ich auf das dritte Kapitel „Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik“ verweisen. In ihm werde ich noch detaillierter auf die Studienreisen eingehen. 89

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

seines sozialen Engagements und der öffentlichen Erziehung im Waisenhaus] zurück. Er gibt die russische Besatzerpolitik als Grund für seine Entscheidung an, denn er bezeichnet sich als einen „Sklaven“, der „kein Recht auf ein eigenes Kind“ gehabt habe. Zwar konnten sich die Juden und Jüdinnen im Verlauf des 19. Jahrhunderts emanzipieren und ihnen wurden nationale Minderheitsrechte zugesprochen, doch war der Antisemitismus in Polen seit Jahrhunderten zu einer gesellschaftlichen Praxis geworden, die sie zu Fremden in der Mehrheitsgesellschaft stilisierte und diskriminierte. Es gab in Kongresspolen zu jener Zeit aber weder gesetzliche Eheverbote noch Geburtenbeschränkungen. Henryk Goldszmit muss sehr empfindsam für seine Gegenwart gewesen sein, als er sich vor dem Ersten Weltkrieg für ein Leben ohne eine eigene Familie entschieden hat. Er wurde mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August des Jahres 1914 erneut zum Wehrdienst in die russische Armee eingezogen. Es war der russische Besatzer, der ihn dazu bewegt hat, sich gegen eine eigene Familie zu entscheiden und für ihn zog er nun zum zweiten Mal als Lazarettarzt in den Krieg. Er, der sich selbst als Sklave bezeichnete und sich als „polnischer Jude unter russischer Fremdherrschaft“ einsam fühlte, „kämpfte“ erneut für seinen „Herren“. Isaac Bashevis Singer beschreibt in seinen Romanen häufiger das Konfliktpotential (junger) Ostjuden, die sich als Polen fühlten, aber nicht für ihr eigenes Land, sondern für die Russen (also einen Dritten) in den Krieg ziehen mussten. Der Wehrdienst konfrontierte sie mit Identitätsfragen in Bezug auf ihre Fremdheit gegenüber den polnischen Katholiken, auch wenn die (assimilierten) Juden mit ihnen einen polnischen Nationalismus teilten.86

86 Ein Auszug aus „Die Familie Moschkat“ zur Illustration: Euser Heschel Bannett verbringt gerade seine ersten Tage in der Kaserne und begibt sich bald darauf auf seinen ersten Marsch: „Er hatte die jungen Burschen, die, um dem Militärdienst zu entgehen, sich eigenhändig verstümmelten oder desertierten oder Ärzte bestachen, immer schief angesehen. Damit lieferten sie den Feinden der Juden einen Vorwand für die Behauptung, sich irgendwelche Privilegien zu verschaffen. Aber so sehr er sich auch bemühte – er konnte einfach nicht mit den anderen Soldaten zusammenleben. […] Von dem ordinären Soldatenjargon war er angewidert. […] Was hatte er bei diesen Leuten zu suchen? Er war Jude, die meisten von ihnen waren Christen. Er war der geborene Intellektuelle, sie waren Ignoranten. Sie glaubten an Gott, an den Zaren, an Familie, Vaterland und Heimaterde. Er dagegen zweifelte an allem“ (Singer 1984: 463). In Singers Werken klingt immer wieder an, dass die christlichen den jüdischen Soldaten gegenüber Vorurteile hatten und sie deshalb von ihnen anders behandelt wurden. Außerdem unterstellte man ihnen regelmäßig Spione für feindliche Lager zu sein oder drohte ihnen damit, sie vor das Kriegsgericht zu stellen.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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Henryk Goldszmit musste für den Wehrdienst das „Dom Sierot“ verlassen und übergab die Leitung derweil an Stefania Wilczyńska (1886–1942)87, die ihn während seiner Abwesenheit vertrat und das Waisenhaus in der schwierigen Zeit des Krieges zu leiten wusste. Der Militärdienst führte ihn in die Ukraine. Fern des „Dom Sierots“ dachte er über die Frage „wie man ein Kind liebe“ nach, so dass er während des Ersten Weltkrieges sein erstes großes Erziehungsbuch schrieb, das aus vier Teilen besteht (I. „Das Kind in der Familie“, II. „Das Internat“, III. „Sommerkolonien“ und IV. „Das Waisenhaus“). Der erste Teil erschien noch im Dezember des Jahres 1918, die anderen Teile als Tetralogie 1920. Außerdem entstand „Erziehungsdiagnostik“ (1919). An dieser Stelle ist an eine Anekdote zu erinnern, die Igor Newerly in seinem Nachwort für junge Leser und Leserinnen des König Macius niedergeschrieben hat: Eines Abends wurde Henryk Goldszmit im Feldlazarett gefragt, worüber er die ganze Zeit schreibe. Er antwortete, dass er an „seiner Gertrud“ arbeite, denn „es gab einmal vor hundert Jahren einen Erzieher in der Schweiz, der hieß Pestalozzi. Er hat ein Buch geschrieben >Wie Gertrud ihre Kinder lehrtdiverse< Angelegenheiten, zahlreich und beschwerlich“ (SW Bd. 16: 213).

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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9x7 – Vom Ghetto in den Tod Das neunte Jahrsiebt war auch das Letzte seines Lebens. Es brachte Henryk Goldszmit mangelnde Kraft, Gesundheit, Tatkraft und letztlich den Tod. Die Arbeit fiel ihm schwerer als noch in jüngeren Jahren, aber er war auch in seinen Sechzigern. Was er in seinen letzten Jahren trotz seiner körperlichen Verfasstheit noch zu leisten imstande war, ist bemerkenswert. Das „Dom Sierot“ hat eine Zeit lang ohne ihn und Stefania Wilczyńska auskommen müssen. Auch sie hat überlegt, nach Palästina auszuwandern. Sie kehrte im Mai 1939 nach Warschau zurück und die „Heimeltern“ waren wieder vereint. Als am 01. September die Wehrmacht Polen überfallen hat, begann die Okkupationszeit durch Nazi-Deutschland. Das Waisenhaus sah sich zu jener Zeit mit einer finanziellen Krise konfrontiert, so dass im täglichen Leben Sparsamkeit, Bescheidenheit und eine Beschränkung auf die allernotwendigsten Ausgaben erforderlich wurden (vgl. Lewin 1998: 12). Noch im selben Jahr hat sich Henryk Goldszmit eine polnische Offiziersuniform bei einem Schneider in der Nowy-Swiat-Straße für 300 Złoty nähen lassen, denn aufgrund seiner Teilnahme am Japanisch-russischen Krieg stand ihm der Offiziersrang zu. Er wollte Polen auch im Zweiten Weltkrieg seine Dienste als Militärarzt anbieten (vgl. Tarnowski 1981: 19). Ein Jahr später (im November 194095) musste das Waisenhaus von der Krochmalna-Straße 92 in das „Warschauer Ghetto“ umziehen. Hier trug er die Uniform, doch diente er im Ghetto nicht dem polnischen Vaterland, sondern dem jüdischen Kind. Bemerkenswert ist der Umstand, dass das Erziehungssystem mit den Institutionen der Selbstverwaltung96 und die Sauberkeit selbst dann noch aufrechterhalten werden konnten, als das „Dom Sierot“ nach der Verkleinerung des Ghettos im Oktober 1941 in ein anderes Gebäude ziehen musste. Der Sommer des Jahres 1942 war heiß und im August musste sich Henryk Goldszmit mit seinen Mitarbeitern, Mitarbeiterinnen und den Waisenkindern97 95 In diesem Jahr wurde Henryk Goldszmit mehrere Wochen von den Deutschen gefangen genommen und im Pawiak inhaftiert. Der Pawiak war ein Gefängnis für politische Häftlinge und zwischen den Jahren 1829 bis 1835 als russische Haftanstalt gebaut worden. Hier saßen vor allem Polen und Polinnen [und seltener Juden und Jüdinnen] ein (vgl. Sznajderman 2018: 193). Es war nicht Henryk Goldszmits erste Inhaftierung. Er war schon einmal im Jahre 1909 verhaftet worden, als er mit den Aktivitäten der „Gesellschaft für polnische Kultur“ in Verbindung gebracht worden war. 96 Auf sie werde ich im weiteren Verlauf meiner Dissertationsschrift noch einmal zurückkommen. 97 Eine traurige Bilanz: In Polen hat es vor dem Zweiten Weltkrieg etwa eine Million jüdische Kinder gegeben. Ihn haben nach vorsichtigen Schätzungen ungefähr dreißig- bis vierzigtausend Kinder überlebt. Den meisten von ihnen war eine Flucht auf das Gebiet der Sowjetunion gelungen, die anderen hatten das „Glück“, in Klöstern, bei polnischen 99

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am Umschlagplatz versammeln. Sie bestiegen gemeinsam die Waggons. Sie wurden in das Vernichtungslager Treblinka gebracht und getötet. „Mein Leben ist schwierig, aber interessant gewesen. Um so eines hatte ich Gott in meiner Jugend gebeten. ‚Gib mir, oh Herr, ein schweres, aber schönes, reiches, würdiges Leben‘“ (SW Bd. 14: 360).

2.3.2 Ein Leben wie ein Partiturspiel – Brücken bauen als soziales Erbe der Familie Janusz Korczaks „Persönlichkeit ist nicht in ein Schema zu pressen; sie ist voller Paradoxe und überrascht“ (Tarnowski 1981: 17). Die Frage, warum Henryk Goldszmit seine kinderärztliche Tätigkeit im Berson-Bauman-Spital aufgegeben hat, um eine sozialpädagogische Arbeit aufzunehmen, kann – wenn überhaupt – nur noch hypothetisch beantwortet werden. An die Genogrammanalyse anschließend, werde ich im weiteren Verlauf versuchen, eine Hypothese zu formulieren, welche über die bisherigen Erklärungsansätze der Korczak-Forscher und -Forscherinnen hinaus ausgeht. Deren Mutmaßungen reichen: • von der Annahme, dass Henryk Goldszmit seine Praxis unter dem Vorgefühl einer herannahenden Krise seiner Beziehungen zu Patienten, Kollegen und Apothekern aufgegeben hat98, • bis hin zu der These, dass seine Pädagogik aus der Sorge um das Schicksal der Welt und des Kindes entsprungen ist99, • die Medizin nicht mehr seinem reformatorischen Eifer genügen konnte und er sich dem Kinde auch in Momenten der Gesundheit zuwenden wollte100

Familien, in Erdlöchern oder anderen Verstecken und in Arbeitslagern „unterzukommen“ oder die Konzentrations- und Vernichtungslager zu überleben (vgl. Sznajderman 2018: 229). Doch „aus der Hölle des Krieges waren alle [Überlebenden] versengt hervorgegangen“ (ebd.). Ich möchte an dieser Stelle nicht nur an die Waisenkinder des „Dom Sierots“, sondern auch an die übrigen 930.000 bis 940.000 jüdischen Kinder erinnern, die der NS-Diktatur zumeist namenlos zum Opfer gefallen sind. 98 Kurzweil, E. (1974). Vorläufer progressiver Erziehung. Ratingen: Henn. 99 Lewin, A. (1998). So war es wirklich. Die letzten Lebensjahre und das Vermächtnis Janusz Korczaks. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 100 Lifton, B. J. (1990). Der König der Kinder. Das Leben von Janusz Korczak. Stuttgart: Klett-Cotta.

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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• oder seine Erfahrungen als Erzieher in den Sommerkolonien besonderen Einfluss auf ihn ausgeübt haben101. • Einen Schritt weiter ging Michael Langhanky102, der seine pädagogische Praxis auch anhand seiner Identitäts- und Professionalitätslinien darstellt. Wie René Görtzen103, Marc Silverman104, Michael Kirchner105 und Gérard Kahn106 arbeitet auch er die jüdische Tradition und Kultur als einen bestimmenden Faktor in seinem Leben (und seiner Praxis als Pädagoge) heraus. Ihre Annahmen sind zwar nachvollziehbar, aber treffen nicht den Kern, so dass – aus meiner Sicht – noch immer erklärungsbedürftig ist, warum Henryk Goldszmit erst den Arztberuf ergreift, publiziert und sich später scheinbar fast vollends dem „Dom Sierot“ (und „Nasz Dom“) zuwendet. Bisher habe ich den Lebensweg Henryk Goldszmits (Janusz Korczaks) im Detail nachvollzogen. Sein beruflicher Werdegang kreiste stets um die Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik und deutet auf eine (berufliche) Tripolarität hin. Der Arztberuf ist rückwärtsgewandt (kurativ), weil es dem Arzt / der Ärztin darum geht, etwas wiederherzustellen, was verloren gegangen ist – die Gesundheit. Henryk Goldszmit hat sich selbst in das Kinderspital „versetzt“, weil ihm auf diese Weise die kranken Kinder „wie Muscheln zugespült“ wurden, zu denen er „nichts weiter als gut“ (vgl. SW Bd. 15: 322) sein musste. Es liegt nahe, dass ihm das Kinderspital nach einem Jahrsiebt nicht (mehr) die volle Satisfaktion gewährte, weil hier der Kontakt zum erkrankten Kind nur vorübergehend war und in der Regel mit der Gesundung des Kindes endete (vgl. Tarnowski 1981: 26). Der Pädagoge / die Pädagogin handelt dagegen zukunftsorientiert und möchte Kinder so bilden und erziehen, dass sie sich nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft bewähren können, wobei Henryk Goldszmit eine Ausnahmeerscheinung darstellt, weil seine Erziehungsarbeit im Gegensatz zu anderen Pädagogen und Pädagoginnen vor allem auf das Jetzt abzielte. Der Kontakt zum armen Kind konnte im „Dom 101 Pelzer, W. (2012). Janusz Korczak. Reinbeck bei Hamburg: Rowolt. 102 Langhanky, M. (1993). Die Pädagogik von Janusz Korczak. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand. 103 Görtzen, R. (2004). Janusz Korczak als unbehauster Gläubiger. In S. Ungermann und K. Brendler (Hrsg.), Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 104 Silverman, M. (2004). Korczaks Weltanschauung und Gottesbild. In S. Ungermann und K. Brendler (Hrsg.), Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 105 Kirchner, M. (2004). Über Trauer, Einsamkeit und Tragik im Lebenswerk Janusz Korczaks. In S. Ungermann und K. Brendler (Hrsg.), Janusz Korczak in Theorie und Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 106 Kahn, G. (1992). Janusz Korczak und die jüdische Erziehung. Weinheim: Deutscher Studienverlag. 101

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Sierot“ (und „Nasz Dom“) bis zu sieben Jahre andauern und verlängerte sich, wenn der Zögling nach Beendigung der Grundschule in die Burse aufgenommen wurde. Henryk Goldszmit hat sich, wie die Zusammenfassung seiner Jahrsiebte bereits zeigte, bis zu seinem Tode nicht strikt für oder gegen die medizinische Profession entschieden. Ich wähle die Metapher des Partiturspiels, um auszudrücken, dass er keine „Metamorphose“ von einem schreibenden Mediziner zu einem schreibenden Pädagogen vollzogen hat. Er war sein Leben lang Mediziner, Schriftsteller und Pädagoge. Hier unterscheidet sich mein Erklärungsansatz von denen anderer Korczak-Forscher und -Forscherinnen, die sich vor mir mit dem vermeintlichen Berufswechsel auseinandergesetzt haben. Es ist eben keine Frage des „entweder … oder“, sondern „sowohl … als auch“. Er führte sein Leben107 mehrstimmig und als Spieler der Partitur beherrschte er das gleichzeitige Spiel aller drei Stimmen108. Er reduzierte den Notentext109 immer dann auf das Wesentliche, wenn es die Lebensumstände von ihm erforderten. Es war demnach keine Entscheidung gegen die Schriftstellerei, als er sich an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau als Medizinstudent eingeschrieben hat, im Gegenteil. Es wird sich im nächsten Kapitel auch weiter zeigen, dass die Entscheidung, Leiter des „Dom Sierots“ zu werden, auch keine Entscheidung gegen die Medizin war. Damit möchte ich auf das folgende Zitat zurückkommen, weil es die persönliche Ebene (die Berufs- und Werkbiographie als eine Erzählperspektive) überwindet und abermals an die familienbezogene Generationenthematik anschließt: „Meinem Vater müßte ich viel Platz einräumen: Ich verwirkliche im Leben das, wonach er gestrebt hat, wonach Großvater so viele Jahre strebte. Und meine Mutter. – Später einmal. – Ich bin sowohl Mutter wie Vater. Das weiß ich, und dank dessen begreife ich viel“ (SW Bd. 15: 368).

Henryk Goldszmit zählt in diesen wenigen Sätzen die drei Menschen auf, die in seinem Leben eine bedeutende Rolle gespielt haben. Er erinnert sich kurz vor seinem Tod an den Großvater (väterlicherseits), den Vater und die Mutter. Andere Personen sind ihm zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) wichtig, obwohl er in seinem Leben viele (bedeutende) Menschen in unterschiedlichen Ländern und Städten getroffen und kennen gelernt hat. Das Zitat hat etwas Versöhnliches, auch wenn es nicht darüber aufklärt, wonach die Männer in seiner Familie genau gestrebt haben. Die Frage nach dem „wonach“ soll im Hinblick auf die Rekonstruktion der Familiengeschichte und 107 Sein Leben wird an dieser Stelle analog als Partitur verstanden. 108 Eine Stimme steht für jede Profession, die er ausübte. 109 Der Notentext dient als Metapher für eine mitunter stärkere Fokussierung auf die eine oder andere Profession.

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den Nachvollzug seiner Lebensgeschichte in Jahrsiebten noch einmal aufgegriffen werden, um an die Metapher der Brücke bzw. des Brückenbaus anzuschließen. Es ist bemerkenswert, dass die Juden als Kulturvolk durch den Holocaust vernichtet werden sollten, sie gleichzeitig aber als Beispiel dienen, um in die Problematik interkultureller Beziehungen im Neben-, Gegen- und Miteinander von Bildungsvorstellungen und Bildungspraxis in der Gegenwart einzuführen (vgl. Jouhy Bd. I 1988: 220). Die Juden und Jüdinnen waren im Verlauf der Weltgeschichte häufiger „Draußen“ [im Sinne einer Minderheit in der Gesamtgesellschaft ihrer Gastländer] als „Drinnen“ [im Sinne von gleichwertigen Gesellschaftsmitgliedern oder gar Herrschenden]. Zwar gab es Zeiten friedlicher Koexistenz, doch der Antisemitismus versiegte nie. Deshalb betont Ernest Jouhy (1913–1988) auch die Ausbildung und Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Identität über fast dreitausend Jahre als das herausragende Merkmal ihrer Geschichte. Kulturelle Identität und Bildung sind in der Historie dieses Volkes so innig miteinander verknüpft, dass es das historische Gesetz der klassengebundenen Bildung als einziges durchbrechen konnte. Die Thora wurde das Allgemeingut aller Juden und Jüdinnen und vermittelt sinngebendes Wissen und Gesetz, nach dem sich das Leben in der Gemeinschaft vollziehen soll (vgl. ebd.: 221 f.). Das jüdische Volk einte trotz der Spaltung in Orthodoxe, Chassidim, Maskilim und Zionisten immer ein gemeinsamer Kern, Richtungskämpfen zum Trotze. Der kleinste gemeinsame Nenner war die umfassende Bildung, die radikal von gesellschaftlicher Macht geschieden blieb (ebd.: 226). Henryk Goldszmit studierte Medizin wie sein Urgroßvater mütterlicherseits und Großvater väterlicherseits. Ärzte spielen in der Geschichte der Juden eine besondere Rolle, weil die Heilkunde häufig die einzige Möglichkeit war, sich überhaupt akademisch ausbilden zu lassen (vgl. Landau 1895: 9) oder ein „Brotstudium“ zu beginnen (vgl. Scherbel 1995: 5). Die Medizin als Profession und Disziplin wie auch die jüdischen Ärzte gelten als Träger des kulturellen Wandels, der durch die Haskalah angestoßen worden war. Dass gerade die Mediziner dazu neigten, sich der Aufklärungsbewegung anzuschließen, ist eng mit ihrem Zugang zu einer säkularen Bildung verknüpft. Die jungen Männer verließen für das Studium in der Regel ihr jüdisches Elternhaus und erhielten eine weltliche Bildung in einer außerjüdischen Lebenswelt. Hier scheinen zwei Bereiche auf, der Glaube auf der einen Seite und die Medizin auf der anderen Seite. Bereits an den Großvätern Maurycy Gebicki und Hirsz Goldszmit deutet sich an, dass sie als jüdische Ärzte ein variables Verständnis vom Jüdisch-sein und eine kontroverse jüdische Identität entwickelt haben, auch wenn sie noch nicht vollständig (also ethnisch, kulturell und religiös) in der polnischen Gesamtgesellschaft aufgegangen waren. Ihr Medizinstudium ließ sie die Brücke von der jüdischen Welt mit ihrer Religion und ihren Traditionen zur säkularen bzw. polnischen Welt schlagen. In der Großeltern- und Elterngeneration zeigt sich 103

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dabei eine Haltung, die bewusst zwischen der jüdischen und beruflichen Identität unterschied. Józef und Jakub Goldszmit etablierten sich im Vergleich zu ihrem Vater Hirsz aber noch stärker als säkulare Experten des Jüdischen. Sie entwickelten nicht nur ein kulturelles Verständnis des Jüdisch-seins, sondern versuchten auch zwischen den Kulturen (der jüdischen und der polnischen) zu vermitteln. Während Hirsz Goldszmit sein „Jude-sein“ modernisierte und dabei an den religiösen Traditionen und ihrer Pflege festhielt, entfernte sich Józef Goldszmit immer weiter von ihnen. Er ging in der christlichen Mehrheitsgesellschaft Kongresspolens auf und seine jüdische Identität wurde im historischen Wandel überformt. Um das Kapitel abzuschließen, hier nun meine Lesart, die ich unter der Fragestellung des vermeintlichen Wechsels von der Medizin zur Pädagogik entwickelt habe: Henryk Goldszmit stellte die Verbindung zu den Generationen des Großvaters und Vaters weniger über die Blutsverwandtschaft als über das gemeinsame Streben im Sinne „eines geistigen Erbes“ her, das durch hohe Bildungsambitionen zum Ausdruck kommt. Auf der einen Seite waren die männlichen Familienmitglieder durch die Hinwendung zu den klassischen, hoch angesehenen Professionen miteinander verbunden. Auf der anderen Seite war es ihr soziales Engagement für die jüdische Gemeinde, weil Wohltätigkeit in allen Generationenlinien bei allen Männern sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits verankert ist. So etwas konnte man sich aber nur erlauben, wenn man einigermaßen konsolidiert war. Während sich die Großväter und der Vater noch ehrenamtlich engagierten, wurde das soziale Engagement für Henryk Goldszmit drei Jahrzehnte zur hauptberuflichen Tätigkeit – und die Medizin und Schriftstellerei zu einem „vermeintlichen Nebenbei“. „Ich habe den Mangel an Fürsorge und die Unzulänglichkeit der Hilfsmaßnahmen gesehen. […] – Heute haben wir Fürsorgeeinrichtungen, Kinderkrippen in den Fabriken, Ferienkolonien, Kuranstalten, Gesundheitsaufsicht in den Schulen, Krankenkassen. Noch herrscht Unordnung, und es gibt Mängel, aber wir haben doch etwas erreicht, wir sehen einen Anfang. – Heute darf man den Stärkepräparaten und Arzneimitteln vertrauen; ihre Aufgabe ist es, Hilfestellung zu leisten, nicht aber die Hygiene und soziale Fürsorge für das Kind zu ersetzen“ (SW Bd. 4: 31).

Henryk Goldszmit wollte durch den vermeintlichen „Scheidungsprozess“ (ebd.: 31) von der Medizin, den Mangel an Fürsorge und die Unzulänglichkeit der Hilfsmaßnahmen beseitigen. Aber auch wenn in den Waisenhäusern „Dom Sierot“ und „Nasz Dom“ der Hygiene, sozialen Fürsorge und Erziehung der Kinder eine bedeutende Rolle zukam, spielte die Medizin mindestens eine Nebenrolle. Es ist bemerkenswert, dass Henryk Goldszmit beide Professionen noch im Warschauer Ghetto vereinen konnte. Die Barbarei war allgegenwärtig, aber die tägliche Verrohung vermochte nicht in ihn einzudringen oder ihn gleichgültig werden zu lassen. Er hatte keinen

2.3 Erlebte Lebensgeschichte(n)

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Zweifel daran, den Zenit seiner Selbstverwirklichung [im Sinne seines Lebensplanes] bereits erreicht und das geistige Erbe seiner Ahnen eingelöst zu haben. Henryk Goldszmits Glaubenskenntnis ist wie seine Nationalität ein kompliziertes Dilemma (vgl. Tarnowski 1981: 19). Zwar war er Jude, weil seine Mutter Jüdin war, doch am Ende seines Lebens (im Ghetto) hat er nicht nur die Thora, sondern auch das römische Messbuch studiert. Er war „sowohl dem jüdischen als auch dem christlichen Glauben sehr nahe“. Er war „wie Pfarrer Bernard Ignera schrieb – weder ein Katholik noch ein Christ und auch kein Bekenner der jüdischen Religion … Er stand über allen Glaubensrichtungen“ (Ignera 1979: 87 in Tarnoswski 1981: 21). Henryk Goldszmit war im Sinne Paul Tillichs, der Religiosität als eine normale Veranlagung des Menschen versteht, dank derer er tiefer die absoluten und transzendenten Ausmaße der Wirklichkeit versteht, bestimmt religiös (vgl. ebd.: 21). Und es steht auch außer Frage, dass er den Ausstrahlungen des Chassidismus begegnet ist (Heschel 1985 in Kirchner 1987: 219), auch wenn er in einem aufgeklärten jüdischen Elternhaus aufgewachsen ist. Der Artikel „Drei Strömungen“ ist 1910 im Feuilleton von „Społeczeństwo“ (dt. „Gesellschaft“) erschienen, weil am 05. Oktober von der „Polnischen Vereinigung für den Fortschritt“ beschlossen wurde, dass der faktischen Gleichberechtigung der Juden und Jüdinnen ihre politische wie kulturelle Assimilation vorausgehen sollte. Der Beschluss wollte sie nicht (länger) als „auserwähltes Volk mit ausgeprägtem Nationalbewusstsein behandeln und Jiddisch nicht als jüdische Nationalsprache anerkennen“ (ebd.: 269). Henryk Goldszmit schreibt in seinem Beitrag in der „Gesellschaft“ von drei Lagern, die sich in den jüdischen Kreisen seinerzeit herausgebildet haben. Die „Polnische Vereinigung für den Fortschritt“ hatte sich in zwei Lager aufgespaltet und trug ihren Konflikt nunmehr in der Öffentlichkeit aus: • Das erste Lager stand hinter dem Beschluss vom 05. Oktober und wurde von polnischen Katholiken gebildet, „deren Namen auf -wski und -icz“ (ebd.: 270) endeten. Sie wollten in der Tradition eines polnischen Nationalismus für den Fortschritt eintreten, aber nicht Hand in Hand mit den jüdischen Polen und Polinnen bzw. polnischen Juden und Jüdinnen, sondern getrennt, „um erfolgreicher zu arbeiten“ (ebd.: 271) und sich danach wieder zu treffen. Deshalb sollten die „-bergs, die -sohns und die -steins“ in die Franciszkańska-Straße pilgern, um ihresgleichen vom Fortschritt zu überzeugen und mit ihnen teilzuhaben. • (2) Das zweite Lager (gewissermaßen die Opposition) sprach sich für den Fortschritt aus, respektierte gleichzeitig aber auch die nationalen und kulturellen Besonderheiten der Juden und Jüdinnen. Ihnen sollten die gleichen Rechte zuerkannt werden, auch wenn sie „ihre eigene, erneuerte Kulturtradition bewahren wollten“ (ebd.: 271). Zu jener Gruppe zählten die Erben und Erbinnen 105

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der Haskalah, die sich zusammen – als „eine Einheit“ – „mit großer Mühe vom mittelalterlichen Gedankengut losgerissen“ haben und „auf die freudvolle Wiese der modernen Erkenntnisse übergewechselt“ (ebd.: 271) sind. • (3) Henryk Goldszmit erweiterte die Diskussion um eine dritte Strömung – die Stimme der sozialistischen Linken. Dieses Lager unterschied nicht zwischen Polen / Polinnen und Juden / Jüdinnen, sondern konstatierte, dass alle „Brüder [und Schwestern] eines Landes“ waren, die „Jahrhunderte gemeinsamen Glücks und Unglücks“ (ebd.: 272) verband. Sie wollte den Fortschritt nicht getrennt nach Straßenzügen, sondern als eine gemeinsame Sache der Polen / Polinnen und Juden / Jüdinnen angehen. Und Henryk Goldszmit über sich selbst? Er schreibt: „Als polnischer Jude stehe ich mit meinem eigenen Herzen gerade dieser letzten Stimme am nächsten, aber ich kann nicht umhin, auch die beiden ersten zu verstehen […]“ (ebd.: 273).

Sein Selbstverständnis ist aus einer Trias unterschiedlicher Bezugssysteme erwachsen: Als Sohn assimilierter Eltern ist er in Warschau als polnischer Jude unter russischer Fremdherrschaft aufgewachsen. Seine polnische und jüdische Identität konstituierten sich aus einem Wechselspiel zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Über das „geistige Erbe“ seiner Vorfahren in Gestalt hoher Bildungsambitionen konnte er sowohl in der jüdischen als auch in der polnischen Lebenswelt als Akteur handlungsfähig bleiben. Hier deutet sich die Hypothese vom „Abarbeiten eines Vermächtnisses des Vaters“ an, den Henryk Goldszmit aber verleugnete, als er seinen Namen als Publizist komplett änderte. Sein ganzes Leben war ein „Hin und Her“. Her heißt weg von der Familie, ihren Namen teilweise ablegen und sich von ihr abgrenzen; Hin heißt Medizin studieren wie der Ur- und Großvater, publizieren wie der Vater und Onkel (unter anderem in jüdischen Zeitschriften) und sich (innerhalb jüdischer Lebenswelten) sozial zu engagieren wie die Großväter, der Vater und der Onkel.110 So gedeutet, war sein Alltag bis zu seinem Lebensende von 110 Dazu Igor Newerly: „Manchmal verschwindet Henryk von der Universität und aus der Redaktion, und dann erscheint Janusz in der Altstadt. In den dämmrigen schmalen Straßen, in den blinden Sackgassen hallen seine Schritte dumpf aus dem ausgetretenen Pflaster, wenn er die Elendsbehausungen des Lumpenproletariats, die Zuhälterquartiere und die Diebeskneipen streift“ (vgl. Newerly 1967: XIII). Diese Episode verweist darauf, dass es eine Zeit gab, als beide Identitäten deutlich – und voneinander abgegrenzt – nebeneinander her lebten (etwa 1899 bis 1902). „[B]is im Zusammenleben mit dieser Welt der Armen, in der Arbeit für sie, in der ersten unguten Liebe (denn auch das macht er hier durch) der bisherige ‚schwankende schmähliche Weltschmerz‘ umschlägt in die

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jüdischen Elementen geprägt, die seine Zugehörigkeit zum Judentum offenbarten. Doch was heißt es eigentlich, Jüdin oder Jude zu sein? Das Jüdisch-sein ist eine Daseinsform, die man sich nicht aussuchen kann: „Wenn man es ist, dann ist man es. Man kann nichts daran ändern. […] [S]elbst wenn man nur ‚ansatzweise jüdisch‘ ist, dann genügt das, um sich damit zu identifizieren, wenn man will“ (Alderman 2007: 238).

Jüdisch-sein ist per se erst einmal nicht sichtbar: „Und das macht die Sache interessant. Denn man kann sich nicht aussuchen, was man ist, aber man kann sich aussuchen, was man zeigt. Man kann immer wählen, ob man sich ‚outet‘. […] Man kann sich immer entscheiden, ob man praktizieren will. Praktizieren bedeutet natürlich vieles, vermutlich für jeden etwas anderes. […] Wenn man nicht praktiziert, kann man die Identität wahrscheinlich nur mit unbehaglichem Gefühl für sich beanspruchen: Wenn sie in deinem Leben keine Rolle spielt, wieso überhaupt erwähnen? Sie ist dann natürlich trotzdem noch da. Sie geht ja nicht weg“ (ebd.: 238).

Henryk Goldszmit trug letztlich sein Schicksal und blieb bei seinem Volk, dem jüdischen. Es war eine Stellungnahme gegen die polnische Nation. Er blieb in Warschau, als sich ihm die Gelegenheit geboten hat, auszuwandern, denn dort fand er eine konkrete Idee und Praxis vor. Palästina dagegen war ein abstrakter Entschluss und eine Emigration wäre einer Flucht gleich gekommen. Auf diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum sich Henryk Goldszmit dem Kinderzug aus dem Warschauer Ghetto Richtung Vernichtungslager angeschlossen hat. Er wollte das Oszillieren seiner Familie über die Grenzen hinweg rückgängig machen und bekannte sich offen zum geistigen Erbe seiner jüdischen Ahnen. Oder mit den Worten Shimon Sachs: „Seinen Bund mit dem Judentum schließt er […] endgültig, als er mit seinen Zöglingen den Weg geht, den alle Juden [und Jüdinnen] gegangen wären, wenn es Hitler mit seinen Schergen gelungen wäre, seinen diabolischen Plan zu vollenden“ (Sachs 1981: 104). Und in der Erinnerung eines Zeitzeugen: „Er [Henryk Goldszmit] hat die Kinder antreten lassen und ist mit ihnen ins Krematorium marschiert. Dabei war der Marsch mit den Kindern zum Umschlagplatz das Resultat seiner Lebenshaltung und Persönlichkeit, die Fortsetzung seines ganzen bisherigen Wirkens. Hätte er anders handeln können? Er verließ die Kinder bis zum Schluß nicht. So lange er lebte, kämpfte er um die

Glut der Selbstkritik, bis er seine Forderungen, Vorwürfe nicht mehr an Menschen, Institutionen und an die düstere Wirklichkeit, sondern sich selbst richtet“ (ebd.: XV). 107

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Existenz des Waisenhauses. Er kämpfte mit den Reichen im Ghetto um jedes Stück Brot, um jede Kartoffel“ (Nutkiewisz 1999a: 120).

2.4

Exkurs: Familie als Ort des Wandels

2.4

Exkurs: Familie als Ort des Wandels

„Die Familie ist der Uterus des gesellschaftlichen Werdegangs der Erben.“ (Bourdieu 2002: 652)

Familie ist in eine Gemeinschaft eingebettet. Sie entwickelt ihre Regeln, Überzeugungen und Rituale nicht in einem luftleeren Raum (vgl. McGoldrick 2013: 309), sondern in Abhängigkeit vom Gemeinwesen und seiner Kultur. Die Gedanken der Familie, ihr Handeln und die Art, wie sie sich ausdrückt, werden ihr durch einen breiteren kulturellen Kontext vermittelt, der neben der Schichtzugehörigkeit auch die Nationalität, Ethnie, Religion und Region (den geographischen Hintergrund) umfasst. Die Zahl der Juden und Jüdinnen war bis zum Jahre 1925 in der ganzen Welt auf etwa 14.800.000 angewachsen. Davon lebten über die Hälfte (nämlich 7.618.000, also 51,2 Prozent) in Osteuropa111 (vgl. Ruppin 1930: 89). Ihre Zahl begründet, warum ich den Fokus abschließend auf die ostjüdische Familie in der Geschichte richte. Er verengt sich ein weiteres Mal, weil die Goldszmits in Polen lebten und als assimiliert erinnert werden. „Assimilation“ ist das Stichwort, das Familie als einen „Ort des Wandels“ erscheinen lässt. Auch in Polen hatte die Aufklärung unter den Juden und Jüdinnen Anhänger und Anhängerinnen gefunden. Der Assimilationsprozess brachte einen Wandel mit sich, der durch die Veränderung in Sprache (Jiddisch vs. Polnisch), Bildung (religiös vs. säkular), Tradition (befolgen vs. nicht befolgen) und äußerer Erscheinung (Kaftan, Bart und Pejot bzw. Perücke und Tuch vs. Ablegen der jüdischen Tracht und Abrasieren des Bartes und der Schläfenlocken bzw. Nicht-Bedecken der Haare) zum Ausdruck gekommen ist. Auf diese Weise konnten das Judentum und das Christentum, aber auch das Religiöse und Säkulare nicht mehr strikt voneinander getrennt werden. Lang tradierte Wahrnehmungs111 Europa wird vorwiegend als differenziertes Ganzes betrachtet, aber unweigerlich durch Westeuropa präsentiert (vgl. Plakans und Wetherell 1997: 302). Ostmitteleuropa (einschließlich Polen) gerät als geographischer Rahmen für die Historische Familienforschung ebenso wie Henryk Goldszmit für die Erziehungswissenschaft häufig aus dem Blickfeld. Erschwerend kommt hinzu, dass Ostmitteleuropa aufgrund seiner historischen Entwicklung per definitionem als geografische Region nur schwer zu fassen ist.

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und Bewertungsmuster der Gesellschaft wurden in Frage gestellt, so dass sich die Judenschaft und mit ihr die polnisch-jüdische(n) Familie(n) wandelten. Solche Wandlungsprozesse lassen sich auch bei den Familien Goldszmit und Gebicki von Generation zu Generation nachvollziehen. Sie setzten ein, als auch die Emanzipation der Juden und Jüdinnen in Polen ihren Anfang nahm und umspannen etwa 150 Jahre. Die Familienmitglieder, die im 19. und 20. Jahrhundert ihren Lebensverlauf gestalteten, nahmen an einem äußerst komplexen Prozess teil, der stetig zwischen der Annäherung zu den Polen und Polinnen („Hin“) bzw. ihrer Kultur und deren Infragestellung („Her“) oszillierte. Die intergenerationale Struktur und Praxis der Familie ist in eine kulturelle Generationenlinie, in gesellschaftliche Generationenverhältnisse und Genealogien eingebettet, weshalb eine intergenerationale Familienforschung implizit oder explizit auch die Analyse des Kulturellen und Gesellschaftlichen erfordert (vgl. King 2017: 14). Eine Historische Familienforschung nimmt auch die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Lage von Familie als gesellschaftliche Instanz von Erziehung, Bildung und Sozialisation Heranwachsender in den Blick. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Familie in Polen im Allgemeinen und der polnisch-jüdischen und assimilierten Familie im Speziellen ist aus historischer Perspektive im deutschen Sprachraum eher ein Desiderat als ein fester Bestandteil der Familienforschung. Eine als Überblick angelegte Synthese vermag die Merkmale und Familienstrukturen offenzulegen, die nicht allein auf die Goldszmits und Gebickis zutreffen. Über sie wird eine Annäherung an die polnisch-jüdische Familie im Assimilationsprozess als das Unbekannte (Fremde) in der historischen Familienforschung möglich, die folgende Themenschwerpunkte umfassen soll: „Familie und Ehe“, „Familiengröße“, „Geschlechter und die familiale Arbeitsteilung“, „Lebens- und Familienformen“, „Generationenverhältnis“, „Religion“, „Bildungschancen“ und „Krankheit“.

Familie und Ehe Die Familie bildet seit jeher das Zentrum des jüdischen Lebens, weil in ihrem Schoß die Traditionen und Werte vermittelt werden und am stärksten ausgeprägt sind. Ein Merkmal der traditionellen Familie (übrigens nicht nur im (Ost-)Judentum) ist die konstitutive Verbindung von Familie und Ehe. Auch wenn der Talmud die Polygamie erlaubt, ist sie seit talmudischen Zeiten kein allgemeiner Brauch mehr (vgl. Solomon 1996: 120 f.). Die Juden und Jüdinnen haben in den meisten christlichen Ländern (und so auch im überwiegend römisch-katholischen Polen) rasch das Verbot der Polygamie übernommen und lebten in monogamen Partnerschaften. Zudem war die Ehelosigkeit im Judentum zu allen Zeiten verpönt. Während ein unverheirateter Mann bis in die Neuzeit als Gefahr für die weibliche Tugend 109

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galt, mussten unverheiratete Frauen eine Marginalexistenz meist im Hause von Verwandten führen (vgl. Keil 2001: 90). Die Ehe ist unter den Juden und Jüdinnen eine auf Dauer geschlossene Beziehung der gegenseitigen Liebe, Achtung und Hilfe (vgl. Solomon 1996: 121). In vielen jüdischen Gemeinden ist sie nicht nur eine religiöse Handlung oder eine gesetzliche Bindung, sondern auch ein Initiationsritus, der den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter symbolisiert. Oder mit anderen Worten: „Wer nicht heiratet, wird nicht erwachsen“ (Alderman 2007: 132). Eine Heirat besteht aus zwei Akten: Vor der eigentlichen Eheschließung wird die Braut dem Bräutigam bei der „Kidduschin“ angelobt. Bei der eigentlichen Vermählung („Nissuin“) erwirbt der Mann die Frau einseitig (vgl. Keil 2001: 98). Dabei stehen die Eheschließenden unter der „Chuppa“ (dem Traubaldachin) und werden als Paar gesegnet. Bei den Reformjuden und -jüdinnen sind Braut und Bräutigam einander gleichgestellt. Die Feier findet bei ihnen aber nur noch am Hochzeitstag statt und währt nicht mehr sieben Tage und Nächte (vgl. Alderman 2007: 125). Eine Scheidung ist nicht verboten, aber eine nach jüdischem Recht geschlossene Ehe kann nur vor einem rabbinischen Gericht wieder geschieden und auf Ansuchen des Ehemannes vollzogen werden. 1925 wurden in Warschau 360 Ehen geschieden, davon waren 143, also 39,7 Prozent jüdisch (vgl. Ruppin 1930: 235). In Anbetracht der geringeren Zahl der Juden und Jüdinnen unter den Warschauern und Warschauerinnen scheint die Zahl hoch, doch war die römisch-katholische Kirche hier auch sehr einflussreich. Die Ehescheidung war in jüdischen Familien nicht ungewöhnlich, aber in den Familien Goldszmit und Gebicki keine Praxis. Von der Urgroßeltern- bis zur Elterngeneration ist aus den Paaren erst dann eine Familie mit Kindern geworden, als sie die Ehe eingegangen sind. Es entspricht dem gesellschaftlichen Milieu und dem Zeitgeist der jeweiligen Generation, dass sie vorher nicht dem Konkubinat nachgegangen und sich ihre sexuellen Beziehungen erst nach der Eheschließung angebahnt haben. Ein (nichteheliches) Zusammenleben unter den Juden und Jüdinnen war im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert genau so ungewöhnlich, wie Kinder unehelich zu zeugen und zu gebären oder eine Liebesheirat einzugehen. Erst unter den Reformjuden und -jüdinnen hat die Zahl der Liebesheiraten zugenommen, weil nicht mehr allein die Herkunft und die Gelehrsamkeit des Bräutigams für eine Eheschließung Ausschlag gebend waren. Weil das Alter der Eheschließenden unter den Juden und Jüdinnen im Vergleich zu den Polen und Polinnen höher war (Juden heirateten in Warschau in der Regel zwischen dem 26. und 30. Lebensjahr), wurden jüdische Männer und Frauen auch später Eltern. Das Heiratsalter war nämlich von der Bildungsbiographie der Männer abhängig. Bis auf Józef Adolf Gebicki und seinen Sohn haben alle männlichen Nachkommen der Goldszmits und Gebickis ein Studium absolviert.

2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels

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Bei der Geburt ihres ersten Kindes waren (1) Hirsz und Chana Goldszmit 1831 27 und 24 Jahre, (2) Józef Adolf und Mina Gebicki 1854 28 und 24 (25) Jahre und (3) Józef und Cécylia Goldszmit 1875 31 und 22 Jahre alt. Auch hier entsprachen die Eheleute jeweils dem Durchschnitt.

Die Größe der Familie Es zeigt sich am Beispiel der Familien Goldszmit und Gebicki, dass die Zahl der Familienmitglieder von Generation zu Generation abgenommen hat, weil die Kinderzahl schrumpfte. Ich habe herausgearbeitet, dass die männlichen und weiblichen Familienmitglieder, sofern die Geburtsjahre vorliegen, weder ungewöhnlich spät (mit Ausnahme Maurycy Gebickis) noch früh geheiratet (mit Ausnahme Cécylia Gebickas) und eine Familie gegründet haben. Weil Hirsz Goldszmit einem orthodoxen Elternhaus entstammte, deutet sich beim Großvater väterlicherseits eine hohe Geschwisterzahl an, auch wenn er als einziger Sohn erinnert wird. Józef Adolf Gebickis Eltern waren bei seiner Geburt 46 und 30 Jahre alt. Es ist möglich, dass der Urgroßvater schon einmal verheiratet war. Ansonsten ist er relativ spät zum ersten Mal Vater geworden. Während Hirsz Goldszmit mit Chana noch in einer Familie mit fünf Kindern lebte, haben sich Józef Adolf Gebicki und Mina Gebicka bereits für eine Kleinfamilie mit nur zwei Kindern entschieden – ein Merkmal für die Modernisierung der (jüdischen) Familie. Da es in Osteuropa für die Juden und Jüdinnen weder gesetzliche Eheverbote noch Ehebeschränkungen gab, muss der Rückgang der Geburtenziffer andere Ursachen haben. Grundsätzlich ist der Geburtenrückgang ein Phänomen der Neuzeit und der Wendepunkt der Geburtenhäufigkeit hat in Polen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eingesetzt, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des geteilten Landes stetig verbesserten. Bei den Gebickis ist dieser Prozess schon früher in Gang gekommen. Da sie spätestens seit der Großelterngeneration der dünnen Schicht reicher(er) Stadtjuden und -jüdinnen angehörten, waren sie in zeitlicher Perspektive wirtschaftlich früher besser gestellt. Ein weiteres Indiz ist das Wissen um den Zusammenhang von Hygiene und Kindersterblichkeit. Sowohl Maurycy Gebicki als auch Hirsz Goldszmit waren als Ärzte in der Lage, mögliche Krankheiten ihrer Kinder zu behandeln. Alle fünf Kinder Hirsz Goldszmits erreichten das Erwachsenenalter, was im 19. Jahrhundert (noch) keine Selbstverständlichkeit war. Die wirtschaftlichen Verhältnisse und das medizinische Wissen sind aber nur zwei Aspekte und können ebenso für christliche Familien als Ursache für den Geburtenrückgang angeführt werden. Traditionell bedeutete ein Haus voller Kinder einen Segen für jüdische Familien und Kinder galten als eine langfristige Investition (vgl. Holbok 1999: 123). Die Kontrazeption wurde kaum praktiziert, weil sie verboten war. Vor allem unter den 111

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orthodoxen Juden und Jüdinnen bzw. Chassidim diente der Geschlechtsverkehr ausschließlich der Fortpflanzung und seltener dem reinen körperlichen Vergnügen. Dabei müssen sich die strenggläubigen unter den jüdischen Eheleuten bis heute an strikte Vorschriften halten. Es ist ihnen bspw. nicht erlaubt, das Bett während der „Nidda“ zu teilen. In vielen Familien wird bis heute das Ehebett auseinandergeschoben, so dass die Eheleute getrennt voneinander schlafen (können). Nach der Zeit der „Unreinheit“ (die Tage während der Menstruation und sieben darauf folgende) war und ist die Ehefrau verpflichtet, in der Mikwe (dem Tauchbad) unterzutauchen, um gereinigt wieder aufzutauchen. Meine Forschungen zur Familie Goldszmit zeigen wie Sándor Holboks, dass assimilierte Juden und Jüdinnen sehr rasch vom Kinderreichtum orthodoxer Familien zur modernen Familie mit wenigen Kindern gelangt sind (ebd.: 123).

Über die Geschlechter und die familiale Arbeitsteilung Die Tradierung des Familiengedächtnisses weist bei den Familien Goldszmit und Gebicki eine stark maskuline bzw. patriarchalische Zentrierung auf. Erinnert werden zwar die Berufe (und das soziale Engagement) der Urgroßväter, der Großväter, des Vaters und der Onkel, aber nicht die Geschichten ihrer Frauen, Tanten und Töchter. Dabei sollte man meinen, dass die Frauen im Hinblick auf das „Mutterprinzip“ des Judentums eine bedeutendere Rolle spiel(t)en. Schließlich geht die jüdische Identität von der Mutter auf das Kind über und Jude bzw. Jüdin ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wird. Die Matrilinerarität entstammt der Thora und es scheint die Ansicht leitend, dass eine Mutter im Gegensatz zum Vater immer bekannt ist. In der traditionellen jüdischen Familie kamen den Geschlechtern innerhalb der Familie unterschiedliche Aufgaben zu. Der Ehemann und Vater ging in der Regel einer Erwerbstätigkeit oder dem Studium der Thora nach; der Ehefrau und Mutter oblag die Sorge für die ganze Familie (vgl. Haumann 1990: 121). Von außen betrachtet, nahmen die Frauen den Männern gegenüber eine minderwertigere Stellung ein, weil die Väter die offizielle Autorität innehatten und den Mittelpunkt der Familie bildeten. Trotz des herrschenden Patriarchats kam den Müttern aus religiöser Perspektive aber vor allem bei der Erziehung der Kinder eine besondere Rolle zu. Sie pflegten die Einhaltung der Religionsgesetze und gaben diese im Rahmen der häuslichen Erziehung an ihre Kinder weiter (vgl. Holbok 1999: 131). Sie hatten so viel Autorität, dass ein kindlicher Widerspruch gegen sie nicht geduldet wurde, denn sie vertraten den Vater, wenn er nicht im Hause war. Es ist nicht viel über die Rollenverteilung der Geschlechter innerhalb der Familien Goldszmit und Gebicki bekannt. Die Väter und Mütter nahmen wohl jeweils ergänzende Rollen innerhalb der Familieneinheit ein. Das „Ernährermo-

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dell“ bzw. „Einverdienermodell“ hat sich als Modell der familialen Arbeitsteilung durchgesetzt. Die Frauen hatten den Haushaltsvorstand inne und ihren Ehemännern kam die Ernährerrolle zu. Sie waren dabei so erfolgreich, dass die Familien mindestens seit der Großelterngeneration der kleinen Gruppe wohlhabender(er) Stadtjuden und -jüdinnen angehörten. Die Haus- und Familienarbeit waren von der Erwerbsarbeit getrennt und wurden traditionell geschlechtsspezifisch verteilt. Außerdem arbeiteten die Väter außerhalb des Wohnhauses. Seit der Urgroßelterngeneration ist bei ihnen das Erwerbs- vom Familienleben durch die Spezifik ihrer Berufe getrennt. Weil es sich bei den Goldszmits und Gebickis um Familien handelt, die sich an der jüdischen Aufklärung orientierten, konnten sich die Geschlechterverhältnisse aber mit der Kindergeneration wandeln, wobei hier auch die bürgerliche Orientierung der Familie eine wesentliche Rolle gespielt hat. Das zeigt sich vor allem an der säkularen Bildung Anna Goldszmits, die staatlich anerkannte Übersetzerin wurde. Sie hat als eine der ersten Frauen ihrer Familie eine Bildung außerhalb des Elternhauses erwerben und einen Beruf ergreifen können, der sie als Erwachsene finanziell absicherte bzw. sie ein unabhängiges Leben als Witwe führen ließ.112 112 Über die Veränderung der familialen Arbeitsteilung bzw. die Metamorphose der Frau schrieb Henryk Goldszmit in „Leihbibliothek für alle“ den Beitrag „Drei Generationen“ (1900). Im Wesentlichen sind sie auch auf die Generationen seiner Großmütter, Mutter und Tanten, seiner Schwester und Cousinen übertragbar: In erster Generation sei die „einzige wichtige Funktion“ im Leben der Frau gewesen, „ihrem Mann Nachkommen zu geben“ (SW Bd. 7: 50). Die Mutter sei „Hausfrau“ gewesen und habe den Kindern ausschließlich Gebete beigebracht, denn sogar Kleider und Schuhe wären eine Pflicht des Ehemanns gewesen. Als die zweite Generation hervortrat, sei aus der „Hausfrau“ der „Typ der Frau als Freundin, als Gehilfin des Mannes“ hervorgegangen, denn nun „nahm die Mutter einen Teil der männlichen Pflichten auf ihre Schultern, sie begann sich mit seinen Angelegenheiten vertraut zu machen wollte einen Teil seines Wissens, seiner Bildung, seiner Kenntnisse auch haben“ (ebd.: 50). Wenn man meint, dass Henryk Goldszmit dieser Entwicklung etwas Positives abgewinnen konnte, der irrt, denn „das Klavier und die französische Manie“ (ebd.: 50) wären die zwei Unglücke der Frauenbildung gewesen und verwandelten „Hausfrauen“ in Schmetterlinge – Schmetterlinge, die Klavier spielten, französische und polnische Romane lasen, bunt und entzückend, aber leer – „Frau[en] als Null[en]“ (ebd.: 50), die zwar dem Haushalt vorstanden, aber die anfallenden Aufgaben an Bedienstete delegierten und auslagerten. Selbst die Verantwortung für die Kinder(-erziehung) hätten sie an Kindertagesstätten, Schulen, Pensionate und Gemeinschaftsstunden abgegeben (vgl. ebd.: 51). In der dritten Generation beschwichtigt er, denn er betont, dass weder die Großmütter („Hausfrauen“) noch die Mütter („Frauen als Nullen“) den Töchtern als Ideal vorgeführt werden müssten. Stattdessen gebe es zwei weitere Typen: „die Frau als Arbeiterin und die Frau als Mutter“, denn die Frau müsse „für den Fall, daß sie nicht heiratet oder daß der Mann sie vor der Zeit verläßt, daran denken, eine unabhängige Stellung zu haben, sie 113

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Spezielle Lebens- und Familienformen Bei den Familien Goldszmit und Gebicki handelt es sich um Vorläufer der modernen Familie. Die Erwerbsarbeit und der Haushalt waren bereits voneinander getrennt, die Ehefrau verblieb im Haushalt und die Kinder waren von einem Beitrag zum Lebensunterhalt befreit (vgl. Rosenbaum 1982: 21 f.). In jeder Generation lebten die Ehepaare mit ihren Kindern in einem Haushalt zusammen. Soweit bekannt ist, waren die Ehen sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits stabil und nicht auf Wunsch der Eheleute geschieden worden. Die Trennung erfolgte immer durch den Tod eines Ehepartners, was zu einer Konsolidierung einer neuen Lebensform bzw. einer anderen Familienform führte: In der Großelterngeneration findet sich eine „Stieffamilie“. Als Hirsz Goldszmit zum Witwer wurde, heiratete er erneut und wurde noch einmal Vater eines Sohnes. Die fünf Goldszmit-Geschwister bekamen mit der Heirat des Vaters eine Stiefmutter und einen Stiefbruder. In der Elterngeneration ist bekannt, dass sich der Familienzusammenhang erweitert hat. Józef Adolf Gebicki und Mina Gebicka waren ihrer verheirateten Tochter nach Warschau gefolgt und die Großmutter lebte als Witwe bis zu ihrem Tod mit im Haushalt der Tochter. Das Modell der Großfamilie wird heute als Mehrgenerationenhaushalt bezeichnet und im Falle der Goldszmits war dieser noch um eine Küchen- und Putzfrau sowie mehrere Kinderfrauen erweitert, so dass die Haushaltsgröße die Familiengröße überstieg. Durch die soziale Erweiterung der Familie wurde Henryk Goldszmit nicht nur die Großmutter zu einer engen Vertrauten und Bezugsperson, sondern auch die Küchenfrau, die ihm häufig Märchen erzählte. Nach der Eheschließung mit Cécylia wurde eine „neue“ Familie gegründet, die mit Józef Goldszmits nicht viel zu tun hatte. Während die Romane der Singer-Brüder trotz möglicher Meinungsverschiedenheiten, Streitigkeiten und Intrigen stets eine enge Verbundenheit aller Generationen und Familienmitglieder mit der eigenen und angeheirateten Familie aufzeigen, scheint sich bei den Goldszmits in Warschau die räumliche Trennung auch auf die Beziehungen und Nähe zur väterlichen Linie ausgewirkt zu haben. Józef Goldszmit hat seine Heimatstadt verlassen und sich von seiner Herkunftsfamilie räumlich distanziert. Er kehrte nicht wie sein Vater nach seinem Studium in den Schoß der Familie zurück, sondern fing fern seiner Herkunftsfamilie mit seiner „Schwiegerfamilie“ ein familiäres Leben an.

muß daran denken, daß sie die Kinder erziehen muß, wenn sie Mutter wird; sie muß sich allgemein und speziell bilden“ (ebd.: 51). Henryk Goldszmits Frauenbild ist sperrig und erscheint nicht mehr passend (veraltet), gerade weil er den Typus der Mutter höher schätzt (vgl. SW Bd. 9: 53f.).

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Außerdem findet sich noch das Beispiel einer „Ein-Eltern-Familie“, die im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert kein neues Phänomen mehr war. Seit der vorindustriellen Zeit finden sich in den Personenregistern häufiger Witwen oder ledige Frauen mit Kindern. Cécylia (Henryk Goldszmits Mutter) war keine Ausnahme. Er war noch nicht erwachsen, als Józef Goldszmit verstorben ist und sie zur Witwe wurde. Es ist nicht bekannt, dass sie sich wiederverheiratete und alles deutet darauf hin, dass sie bis zu ihrem Lebensende einen eigenen Haushalt führte und allein lebte. Ein Indiz dafür ist, dass sie sich um eine Genehmigung bemüht hat, Schüler und Schülerinnen in Pension aufnehmen zu dürfen, um ihr Auskommen abzusichern. Ihre Kinder Anna und Henryk Goldszmit blieben beide kinderlos. Als Anna Goldszmit 1909 durch den Selbstmord ihres Mannes im Alter von 34 Jahren verwitwete, blickte sie auf eine kinderlose Ehe zurück. Ihre Kinderlosigkeit war im Gegensatz zu ihrem Bruder aber vermutlich keine bewusste Entscheidung. Ihr Mann litt bis zu seinem Tod an einer ansteckenden Krankheit und sie hätte sich beim Geschlechtsverkehr mit Syphilis infizieren und das Bakterium während der Schwangerschaft auf das Ungeborene übertragen können. Sie lebte danach wahrscheinlich nicht wiederverheiratet in einem Einpersonenhaushalt. Über die Generationen zeichnet sich eine Pluralisierung familialer Lebensformen bzw. die Instabilität von Familie und Ehe ab. Das traditionelle Modell der Großfamilie ist von der bürgerlichen Kleinfamilie abgelöst und schließlich durch die Kindergeneration ganz aufgehoben worden, weil Anna und Henryk Goldszmit kinderlos blieben und ohne Ehepartner verstarben.

Über die Generationen und ihr Verhältnis zueinander Das Generationenkonzept hat eine lange Tradition und fungiert als Deutungsmuster. Die Generation dient als zyklisches Zeitmodell und Berechnungsgröße des Menschenalters; und ist eine Kategorie vormoderner Verwandtschaftsformen und symbolische Form der Kulturgeschichte, psychoanalytische Instanz, familiale Kategorie und ein erbrechtlicher Begriff, aber auch eine zentrale Kategorie von Vererbungslehren und Zeugungstheorien sowie ein Terminus technicus wissenschaftlicher Experimentalkultur (Parnes / Vedder und Willer 2008: 10). Bisher diente der Generationenbegriff auf der Grundlage des genealogischen Familienbegriffs dazu, die Abstammungsfolge innerhalb der Familien Goldszmit und Gebicki zu unterscheiden. Wenn ich wie Gabriele Gloger-Tippelt und Sabine Walper davon ausgehe, dass die Beziehungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Generationen das „Herzstück von Familie“ sind (vgl. Gloger-Tippelt und Walper 2011: 113), komme ich nicht umhin, auch nach den Generationenbeziehungen und dem Wandel ihres Verhältnisses zu fragen. Trotz semantischer Dopplung des Begriffes 115

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sind nun nicht die „Generationen gesellschaftlicher Gleichzeitigkeit“, sondern ausschließlich „Generationen familialer Abstammung“ (vgl. Parnes / Vedder und Willer 2008: 11) von Bedeutung. Der pädagogische Generationenbegriff fasst unter dem Generationenverhältnis eine pädagogisch-anthropologische Grundkategorie, in der es um ein Grundverhältnis der Erziehung und das Verhältnis zwischen vermittelnder und aneignender Generation geht (vgl. Liebau 1997: 20). Das Genogramm (siehe Abbildung vier) verdeutlicht, dass auf der linearen Dimension zwar die objektiven Daten nahezu lückenlos vorliegen, aber auf der lateralen Achse vor allem die Geschichte(n) um die weiblichen Familienmitglieder aus dem Familiengedächtnis ausgelöscht sind. Weil sie zu Leerstellen wurden, erscheint die Abstammungsgeschichte der Goldszmits und Gebickis eingeschlechtlich und ihre Genealogie rein männlich konnotiert. Die Erzählung der Familiengeschichte(n) beginnt beim Urgroßvater, der Glaser war und endet beim letzten männlichen Nachkommen: Henryk Goldszmit (Janusz Korczak). Zwei Aspekte sollen und können nun in Bezug auf die Quellenlage diskutiert werden: Zum einen (1) „die Generation als Modus ethnischer Identität“, um zu zeigen, dass sich die Entscheidung zur Assimilation nicht nur auf eine Generation ausgewirkt hat; und zum anderen (2) „der Junggeselle und die generationale Ordnung“, weil sich Henryk Goldszmit dagegen entschieden hat, eine eigene Familie zu gründen. (1) Die Goldszmits werden als assimilierte Familie erinnert. Assimilation ist prozesshaft und vollzieht sich in einer unbestimmten Anzahl von Generationen. In der Regel wird vom Schema eines abstrahierten Drei-Generationen-Modells ausgegangen (vgl. Aumüller 2009: 76), das die Großväter-, Eltern- und Enkelgeneration umspannt:

Abb. 9 Drei-Generationen-Modell (I) nach Aumüller 2009: 76

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Das Modell ist einfach und gesteht mehreren Generationen den Erhalt kultureller Eigenheiten zu, doch wurde ihm (zu Recht) auch widersprochen (vgl. ebd.: 76). In Aumüllers Drei-Generationen-Modell gelten die Großväter als „Gründer“, die Eltern als „Zwischen-den-Kulturen-Stehende“ und die Enkel als diejenigen, die ihre Herkunftskultur durch die Orientierung an der Kultur der Aufnahmegesellschaft endgültig aufgeben. Kritisch sehe ich, dass Aumüller in dritter Generation von einer „endgültigen“ Aufgabe ausgeht und mit der Enkelgeneration die Assimilation abgeschlossen scheint. Dagegen ist unter der „Hansen-These“ das „Prinzip der dritten Generation“ (vgl. Parnes / Vedder und Willer 2008: 268) bekannt geworden. Marcus Lee Hansen beschreibt in seiner Monographie „Der Einwanderer in der Geschichte Amerikas“ (1938) die historische Rolle des Auswanderers in den USA. Hansen hebt in seiner Deskription die spezifische Rolle der dritten Generation hervor, welche ein erneutes Bewusstsein für das kulturelle Erbe der ersten Generation entwickelte, von dem sich die zweite Generation (noch) gänzlich zu distanzieren versuchte. Die Herkunftskultur wird durch die Enkelgeneration „wiederentdeckt“. Auf diese Weise beschreibt er das Universalphänomen, dass „das, was der Sohn vergessen, der Enkel erinnern will“ (Hansen 1996: 206). Sein Drei-Generationen-Modell geht von einem Assimilationsprozess aus, der durch Migration (als besonderer Fall von Mobilität) ausgelöst wird. Auch wenn die Goldszmits nicht der klassischen Vorstellung einer Familie mit Migrationshintergrund entsprechen, soll Hansens Perspektive auf die Generationen aufgegriffen werden, um den Wandel des Generationenverhältnisses zu erklären. Dass sich die männlichen Familienmitglieder mit jeder Generation (scheinbar) immer stärker von ihrem Jüdisch-sein entfernten, geht bei den Goldszmits explizit auf die jüdische Aufklärungs- bzw. Emanzipationsbewegung zurück und wird in Abbildung zehn graphisch veranschaulicht:

Abb. 10 Drei-Generationen-Modell (II) – angewendet auf die Goldszmits (eigene Darstellung) 117

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Bereits an Hirsz Goldszmit, dem Sohn eines strenggläubigen Glasers, zeigt sich die Entfaltung individueller Ressourcen. Er beherrschte die polnische Sprache, weil ihm neben der religiösen Bildung auch ein säkularer Bildungsweg offen stand, so dass er einen akademischen Grad erlangen konnte. Er lebte kein Leben zurückgezogen im Schtetl und scheute sich auch nicht vor Begegnungen mit den Mitgliedern der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Er regte seine Glaubensgenossen und -genossinnen sogar dazu an, wie er die kulturelle Distanz zwischen der jüdischen Religion und polnischen Nation zu überwinden. Es zeugt von einem hohen Grad an Autonomie und Handlungsfähigkeit, dass er aus seinem strenggläubigen Elternhaus heraustreten und zu einem „Neuerer“ seiner Gemeinde werden konnte. Er galt zu Hause und in der Gemeinde als Jude, doch war er auf der Straße als Pole zu identifizieren. Während er noch die religiösen Traditionen des Judentums pflegte, negierte sie sein Sohn Józef Goldszmit gänzlich aus dem Leben seiner Familie. Wie sein Vater integrierte er sich und nahm am sozialen Leben der christlichen Mehrheitsgesellschaft teil. Er konnte sogar ein Teil der Warschauer Intelligencja werden und trat zusammen mit seinem Bruder in einen kulturellen Dialog ein, um zwischen dem Judentum und der polnischen Nation zu vermitteln. Das, was er vergessen hat, wollte sein Sohn – Henryk Goldszmit – erinnern: Er wuchs zwar ohne religiöse Traditionen auf, aber er war sich seiner jüdischen Herkunft seit dem Kindesalter bewusst, weil ihn seine Umwelt mit seinem „Anders-sein“ in verschiedenen Situationen konfrontiert hat. Im Rahmen meiner Genogrammanalyse habe ich die Lesart entwickelt, welche die Verbindung der Generationen über das gemeinsame Streben im Sinne eines geistigen Erbes herstellt, das durch Bildungsambitionen und ein soziales Engagement zum Ausdruck kam. Eine säkulare Bildung und Wohltätigkeit ist seit der Großelterngeneration bei allen Männern väterlicherseits und mütterlicherseits verankert. Das soziale Engagement für die jüdische Gemeinde wirkte konstitutiv und wurde von Generation zu Generation aufrechterhalten. Zweifellos waren die Goldszmits kein Einzelfall. Die Entscheidung eines Individuums, sich der Aufklärung zuzuwenden und damit der polnischen Kultur zu öffnen, konnte sich auch auf nachfolgende Generationen auswirken, die stetig zwischen einer Identitätserhaltung und Neugewinnung zirkulierten: Die „Vergangenheit stellt die Zukunft jeder neuen Generation dar; ihre Leben liefern die Grundlagen“ (Parnes / Vedder und Willer 2008: 273). Es hat sich in Bezug auf die Generationen und ihr Verhältnis zueinander gezeigt, dass die männlichen Familienmitglieder durch ein geistiges Band miteinander verbunden waren, das ihnen eine religiöse wie nationale Identität stiftete und bewahrte, auch wenn jede Generation zwischen einem Hin und Her schwankte. (2) Im Familiengeflecht der vier Generationen haben sich alle – bis auf Anna und Henryk Goldszmit – dazu entschieden, eine Familie zu gründen bzw. eine neue

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Generation hervorzubringen. Auch wenn die Zahl der Kinder von Generation zu Generation abnahm, hat Elternschaft nicht an Bedeutung verloren, so dass von der Urgroßelterngeneration bis zur Elterngeneration Kinder ein Bestandteil der Paarbeziehung und Ehe waren. Neben der Ernährung, Betreuung und Pflege war vor allem ihre Enkulturation von Bedeutung, durch die das soziale Erbe der Familie tradiert und weitergegeben werden konnte. Im 19. Jahrhundert hat sich die „Figur des Junggesellen“ etabliert. Das Junggesellentum war ein Alternativmodell zur durch die Ehe gestifteten „bürgerlichen Familie“. Der Junggeselle ist aber kein Inbegriff von Unfruchtbarkeit, nur weil er sich nicht familial geschlechtlich reproduziert. Vielmehr bleibt er in Familien- und Generationenfolgen eingebunden, so dass er – wenn auch nicht in direkter Linie – auf Umwegen seine(n) Erben findet (vgl. Parnes / Vedder und Willer 2008: 164). In London hat Henryk Goldszmit bewusst die Entscheidung getroffen, keine eigenen Kinder zu zeugen. Er hatte keine Erben, die im Sinne von Söhnen und Töchtern oder Nichten und Neffen mit ihm verwandt waren, doch hat er für drei Jahrzehnte die Sorge und Pflege mehrerer Generationen jüdischer Halb-, Voll- und Sozialwaisen übernommen. Durch seine Erziehung vermittelte er seinen Zöglingen Werte und Normen, und wenn sie das „Dom Sierot“ verließen, trugen sie Henryk Goldszmits Ideale mit hinaus in die Welt und erinnerten ihn als die soziale Vaterfigur, der er für sie war.

Das Judentum ist dort lebendig, wo es weitergegeben wird Die (Ur-)Großeltern lebten in einer Epoche, als sich die Welt – nicht nur für die Juden und Jüdinnen – tiefgreifend veränderte. Ende des 18. Jahrhunderts ist es zu einem der bedeutendsten Ereignisse in der neuzeitlichen Geschichte Europas gekommen: Der Kampf für bürgerliche Freiheitsrechte schloss auch die Juden und Jüdinnen nicht länger aus. In Frankreich wurden sie den übrigen Bürgern und Bürgerinnen im Jahre 1791 gleichgestellt und die Französische Revolution wirkte sich auf ganz Europa aus. Auch unter den Juden und Jüdinnen kam es mancherorts zu dramatischen Auseinandersetzungen zwischen dem alten Glauben und den neuen Ideen der jüdischen Aufklärung. Die geistig-religiösen Kämpfe hatten auch für die Nachkommen der Urgroßelterngeneration eine tiefere Bedeutung, weil sich die nach ihnen geborenen Familienmitglieder (scheinbar) immer mehr von ihrem jüdischen Glauben und seinen Traditionen entfernten. In der Familiengeschichte der Goldszmits und Gebickis kommt in der sozialen Praxis der Männer ein religiöser Wandel zum Ausdruck, von dem viele ostjüdische Familien ergriffen worden waren. Im Handeln der männlichen Familienmitglieder kommen nicht nur Reaktionen auf ökonomische, sozialstrukturelle, kulturelle und rechtliche Veränderungen der Gesellschaft in Kongresspolen zum Tragen, 119

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sondern als religiöse Akteure waren sie selbst auch aktiv an gesellschaftlichen Wandlungsprozessen beteiligt. Besonders deutlich wird dies an der Person Hirsz Goldszmits, der seiner liberalen Einstellung nicht nur äußerlich und durch seine Sprache Ausdruck verliehen hat, sondern als bekennender und aktiver Maskil auch seine Glaubensgenossen zur Emanzipation ermutigt hat. Daneben sind seine Söhne Józef und Jakub zu erinnern, die durch ihre schriftstellerische Tätigkeit den Dialog zwischen den Juden / Jüdinnen und Polen / Polinnen anregen bzw. verbessern wollten und damit einen aktiven Beitrag zur „Völkerverständigung“ geleistet haben. Ein religiöses Elternhaus bildete bis ins 20. Jahrhundert hinein den Mittelpunkt des jüdischen Daseins und konnte den Ostjuden und -jüdinnen auch als Ersatz für ein fehlendes Nationalbewusstsein dienen (vgl. Barta 1975: 107). Das Ostjudentum zeichnete sich neben eigenen literarischen und künstlerischen Erzeugnissen sowie Rechtsnormen vor allem durch die jiddische Sprache aus (vgl. Haumann 2001: 238). Das Ostjiddische – die „mame loschen“ (Muttersprache) – wurde im täglichen Umgang miteinander gesprochen und hat sich als eigenständige Form durchgesetzt. Dabei blieb Hebräisch die Sprache des religiös-kultischen Bereiches und der Gelehrsamkeit, und es war nicht ausgeschlossen, dass sich Juden und Jüdinnen auch der jeweiligen Landessprache bedienten (vgl. ebd.: 238). Den orthodoxen Familien war zudem an einer Sicherung ihrer jüdischen Tradition(en) gelegen, weil sie auch einen mehr oder minder starren Rahmen jüdischer Familienerziehung vorgaben. Das Bewahren ihrer Traditionen gab ihnen eine religiöse Identität und war Sinn stiftend für die Ausgestaltung ihres Lebens. Hier zeigt sich ein Zusammenhang von Religion und Nation, wobei das Verhältnis von Religion und Nationalismus nicht einfach zu bestimmen ist, weil es hier um die Ausprägungen von religiösen und nationalen Identitäten geht. Während die Maskilim im Hause Juden blieben und auf der Straße ihre kulturelle Assimilationsbereitschaft an die polnische Umwelt zur Schau trugen, kapselten sich die orthodoxen Juden / Jüdinnen und Chassidim ab. Sie lebten ein von der polnischen Gesamtgesellschaft überwiegend isoliertes Dasein. In der Eltern- und Kindergeneration führten die Assimilationsbestrebungen der Familien Goldszmit und Gebicki schließlich zu einer Aufgabe religiöser Traditionen bei Aufrechterhaltung der jüdischen Ethik, was u. a. durch das soziale Engagement der männlichen Familienmitglieder zum Ausdruck kam. Der Anpassungswille konnte mit dem Traditionsbewusstsein kollidieren und zu Konflikten führen. Die Goldszmits wurden allesamt Mitglieder der polnischen (und jüdischen) Intelligencja und waren als Gelehrte anerkannt. Die Festigkeit und Beharrlichkeit ihrer jüdischen Traditionen nahm von Generation zu Generation ab und ihre religiöse Verarmung zu.

2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels

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Familie und Bildungschancen Nachfolgend soll es um den Zusammenhang von Familie und Bildungschancen gehen. Im Hinblick auf die Lebensgeschichte „kommt der Familie als Ort, an dem im Leben eines Menschen wichtige Bildungsprozesse stattfinden, eine Schlüsselrolle zu: Bildung vollzieht sich im Familienalltag über die Reziprozität der gelebten familialen Generationenbeziehungen und die Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens befördert die Aneignung der Grundvoraussetzungen für den Zugang zur sozialen und kulturellen Welt“ (Büchner 2006b: 41). Es besteht auch kein Zweifel daran, dass die Herkunftsfamilie die ungleiche Verteilung von Macht, Status und Privilegien erhalten und reproduzieren kann. Der berufliche und soziale Status wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert sogar noch stärker von der sozialen Herkunft als von der Leistung während organisierter Bildungsprozesse bestimmt. Bei den Goldszmits und Gebickis zeigt sich in allen Generationen eine hohe Bildungsaspiration, die seit der Urgroßelterngeneration nachweisbar ist. Als Bildungsaspirationen werden vorweggenommene Bildungsentscheidungen verstanden, welche die Lernbiographien der Kinder entscheidend mitbeeinflusst haben. Die Männer im Familiensystem verfügten scheinbar über (ausreichende) materielle Ressourcen und eine gute wirtschaftliche Absicherung, so dass sie ein hohes kulturelles (intellektuelles) Kapital erwarben, das sie an die nachfolgenden Generationen weiter geben konnten. Im dreigeteilten Polen waren die jüdischen Männer in der Mehrzahl Kleinhändler, Schankwirte, Vermittler und Handwerker, teilweise auch Geldverleiher, Kaufmänner und industrielle Unternehmer. Nur zehn Prozent übten einen freien Beruf aus (vgl. Ruppin 1930: 316, 317 und 331). Auch wenn sie gemessen an der Gesamtbevölkerung im Beruf des Arztes, Rechtsanwaltes und Schriftstellers seit dem 19. Jahrhundert weit über dem Prozentsatz vertreten waren (vgl. ebd.: 488), war ein akademischer Beruf eher die Ausnahme als die Regel. In Kongresspolen war ihr Zugang zu den Universitäten noch lange Zeit beschränkt. Der Bildungshintergrund der männlichen Familienmitglieder der Goldszmits und Gebickis war bis auf den des Urgroßvaters väterlicherseits, den des Großvaters mütterlicherseits und seines Sohnes akademisch. Ihr Wissen war durch eine säkulare Bildung genährt und ihre Erwartungsorientierungen hoch. Innerhalb der Familie zeigen sich längere Bildungs- und Berufstraditionen. Die schrittweise Abkehr von einer traditionellen (religiösen) Bildung der Kinder in den Chedern hatte dazu geführt, dass die säkulare Bildung seit der Großelterngeneration einen höheren Stellenwert einnahm. Hirsz Goldszmit (der Maskil) hatte auch für seine Söhne eine Bildung mit universalem Charakter angestrebt und sie deshalb auf höhere staatliche Schulen geschickt. Józef Goldszmit hat dieses Streben übernommen und erweitert, so dass nicht nur sein 121

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

Sohn das Gymnasium besuchte und später studierte, sondern auch seiner Tochter eine säkulare Bildung zuteilwurde. Außerdem zählten Józef und Jakub Goldszmit zum kleinen Kreis der Warschauer Intelligencja. Die polnische Intelligenz ist das Stichwort, welches aufgegriffen und den Zusammenhang von Familie und Bildungschancen für polnisch-jüdische Familien noch einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten soll: Mit dem Ende der polnischen Adelsrepublik und der Verbreitung aufklärerischer Gedanken hat sich überhaupt erst eine polnische Intelligenz herausbilden können, welche im Vergleich zu anderen Intelligenzen Europas besondere Züge annahm. Die Teilungen, die immer wieder zu Aufständen und Kriegen geführt haben, veränderten die (bildungspolitischen) Rahmenbedingungen stetig und führten zu einem Hin und Her zwischen liberaler(er) Politik und immer strikteren Restriktionen. Im 18. Jahrhundert war eine „neue Pädagogik der polnischen Aufklärung“ entstanden, die von der „Nationalen Erziehungskommission“ (1773) getragen wurde (Sdviźkov 2006: 109). Sie hat ihre Infrastruktur von den Jesuitenorden erhalten, die vom Papst aufgelöst wurden. In den Folgejahren wurde ein einheitliches Bildungssystem eingeführt, welches nicht nur die Gemeinde-, sondern auch die Mittel- und Hochschulen umfasste. Es wurden mehr als 170 Schulen gegründet, in denen über 17.000 Schüler lernen konnten (ebd.: 109). Auch der Schulbuchdruck begann zu florieren. Zwischen 1764 und 1795 wurden mehr als sechzig Zeitschriften herausgegeben und die ersten (öffentlichen) Bibliotheken gegründet. In dieser Zeit wuchs auch der 1780 geborene Urgroßvater mütterlicherseits heran. Er profitierte von den Auswirkungen des Wiener Kongresses, so dass er in Erfurt Medizin studieren und seine Promotion abschließen konnte. Auch auf der Ebene der Großelterngeneration wurde ein Medizinstudium abgeschlossen. Hirsz Goldszmit wurde im Jahre 1804 und Józef Adolf Gebicki im Jahre 1826 geboren. Während es 1812 in Kongresspolen noch 900 Schulen gab, hatte sich ihre Zahl bis zum Jahre 1833 auf 540 verringert. Nach dem Aufstand des Jahres 1831 wurden viele Schulen geschlossen, so dass sich die Zahl der Gymnasien von 15 auf 11 verringerte und das Schulgeld stetig erhöht wurde (vgl. ebd.: 116). Eine (höhere) Schuldbildung war keine Selbstverständlichkeit, denn sie bedurfte der notwendigen finanziellen Mittel bei zahlenmäßig zu wenigen Schulplätzen. Außerdem wurden die Universitäten in Warschau und Wilna (Vilnius) geschlossen. Vielleicht sind diese Informationen ein Hinweis darauf, warum Józef Adolf Gebicki „nur“ Kaufmann wurde und nicht auch wie sein Vater studierte. Erst nach dem Tod des Zaren Nikolaus I. Pawlowitsch (1796–1855) setzte wieder eine Zeit vorsichtiger Reformen ein. Die Jahre nach 1856 betreffen die Elterngeneration – insbesondere Józef Goldszmit und seinen Bruder Jakub. Unter Alexander II. entstand ein erweitertes Netz von Bildungsanstalten und das Unter-

2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels

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richtsgeld wurde gesenkt. Im Jahrsiebt zwischen den Jahren 1862 bis 1869 konnte die „Hauptschule“ wiedereröffnen, die Universität an der Józef Goldszmit sein Jurastudium abgeschlossen hat. Die Reformepoche währte aber nur kurz, weil ein neuer Aufstand zwischen den Jahren 1863 / 1864 die Russifizierung in Gang setzte, die sogar noch Auswirkungen auf die Kindergeneration hatte. Henryk Goldszmit besuchte Schulen, in denen selbst der Polnischunterricht in russischer Sprache abgehalten wurde. Während das Zarenreich die polnische Sprache und den polnischen Geist aus den staatlichen Schulen verbannte, konnten bis zum Jahre 1905 etwa 550 private Schulen entstehen, welche in einem halb- und illegalen System vor allem der Mädchenbildung dienten. Alternative Unterrichtsformen blieben dabei nicht nur auf die Schulbildung beschränkt, sondern dehnten sich bis in akademische Welten hinein aus. Zwar wurde die „Fliegende Universität“ auch „Weiberuniversität“ genannt, doch versammelten sich hier die Enthusiasten der polnischen Wissenschaft, um an geheimen Orten Wissen und Bildung zu vermitteln (vgl. ebd.: 121 f.). Zu diesem elitären Kreis gehörte auch Henryk Goldszmit, der sein Studium nicht allein an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau absolvierte. Dass im Jahre 1897 in Warschau nur 1,8 Prozent der Männer und 0,4 Prozent der Frauen (vgl. ebd. 121) einen akademischen Bildungshintergrund hatten, spricht für eine nur kleine Gruppe der Intelligencja, welcher die männlichen Nachkommen der Goldszmits seit der Elterngeneration angehörten. Die Gebrüder Goldszmit (Józef und Jakub) wurden ein Teil von ihr, obwohl viele Mitglieder der Intelligencja aus dem Milieu von Politik und Kultur einen traditionellen Antisemitismus pflegten und antijüdische Stereotype verbreiteten. Die polnische Intelligenz hatte sich jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geöffnet und den Zustrom assimilierter Juden als eine Rekrutierungsquelle gebraucht (vgl. ebd.: 132). Viele Juden gehörten dem Sektor freier Berufe (etwa der Medizin und dem Recht) an, Professionen, die allesamt für einen hohen Bildungsgrad stehen. Józef Goldszmit verdiente mit seiner Tätigkeit als Anwalt das Geld für den Lebensunterhalt seiner Familie und nutzte vermutlich häufig die Nachtstunden, den Sabbat und die Feiertage, um nebenher zu schreiben und zu publizieren. Die Presse bot zwar Verdienstmöglichkeiten, doch konnten in Warschau nur wenige Gelehrte ausschließlich von den Einnahmen ihrer Publikationen leben. Auch von seinem Sohn ist bekannt, dass er häufig in den Nachtstunden, ja sogar während der Ruhezeiten im Krieg, geschrieben hat. Anders als noch sein Vater bestritt er aber weder mit seiner Tätigkeit als Arzt im Kinderspital noch mit der Leitung des Waisenhauses seinen gesamten Lebensunterhalt. Diese Anstellungen deckten sein Grundauskommen (Kost und Logis) und mit Honoraren für die Behandlung gut situierter Privatpersonen und dem Publizieren verdiente er etwas dazu. 123

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

• In diesem Abschnitt wurde deutlich, dass Bildungsambitionen eng mit der Familie verwoben sind. Die Goldszmits bildeten als Familie „bildungsbiographische Möglichkeitsräume“, welche „die Aufgabe, Bildung und Kultur über Austauschbeziehungen zwischen den Generationen so weiterzugeben und anzueignen, dass allen Familienmitgliedern eine anschlussfähige soziale und kulturelle Teilhabe in Familie und Gesellschaft ermöglicht wird“ (Büchner 2006a: 7 und 12), meisterten. Von Generation zu Generation wurden familiale Bildungswelten tradiert, die eine hohe Affinität zum geschriebenen Wort hatten. An dieser Stelle ist es möglich, den Begriff „Familienhabitus“ einzuführen, weil die in ihm erworbenen Kompetenzen über die Schule und die Verteilung von Bildungstiteln eine soziale Struktur erhielten (vgl. Ecarius und Wahl 2009: 30). Die männlichen Nachkommen der Goldszmits werden jedenfalls seit Hirsz als Gelehrte erinnert. Bis auf Józef Adolf und seinen Sohn verfügten alle über eine Hochschulausbildung. Da seit Beginn des 19. Jahrhunderts etwa Dreiviertel aller Söhne von polnischen Gebildeten den Beruf ihrer Väter wählten (vgl. Sdviźkov 2006: 131), stellten die Goldszmits als Familie ein (bildungs-)biographisches Referenzsystem dar, das ein „familiales Bildungserbe“ bzw. „kulturelles Familienerbe“ weitergab (vgl. Büchner 2006a: 14). • Es zeigte sich außerdem, dass die bildungspolitische Situation im dreigeteilten Polen Bildungsmöglichkeiten und -chancen durch Reformen und Schulgründungen voranbringen, aber auch einschränken konnte, indem öffentliche Schulen und Universitäten geschlossen wurden. Lernbiographien entfalteten sich im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert nicht frei, sondern unterlagen den Veränderungen des Bildungswesens im Zusammenhang mit dem sozialhistorischen Wandel. Private Bildung musste man sich leisten können. Außerdem agierte die polnische Intelligencja nicht in der Öffentlichkeit, sondern entfaltete ihr Geistesleben in einem halböffentlichen Raum, zu dem nur ein kleiner und elitärer Kreis Zugang hatte.

Krankheit und Familie Erst zu Beginn der 1950er Jahre avancierte „Krankheit“ in der Familiensoziologie überhaupt zu einem Thema. Sie stellte (wie auch die Familientherapie) die Frage, ob die Entstehung psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen mit der Familie in Verbindung gebracht werden könne. Talcott Parsons war einer der ersten, der die moderne, in der Stadt lebende Kleinfamilie als krankmachend und krankheitsfördernd erkannt hat (vgl. Gerhardt 1989: 561). Es soll an dieser Stelle aber nicht der Diskurs über Krankheit und Familie nachgezeichnet, sondern nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch die Goldszmits als Familie mit dem spezifischen sozialen Problem der Krankheit konfrontiert waren.

2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels

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In der Elterngeneration ist eine Erkrankung bekannt, auf die ich schon näher eingegangen bin. Józef Goldszmits Spielsucht und sein „Wahnsinn“ können als Symptome einer manisch-depressiven Erkrankung gedeutet werden. Seine seelische Erkrankung habe letztlich zum Suizid geführt. Seine Krankheit betraf dabei nicht nur ihn als Person, sondern wirkte sich auch auf den Alltag und den Lebensvollzug seiner Frau und Kinder aus. Seine Spielsucht hat zur finanziellen Notlage der Familie geführt, so dass Cécylia Goldszmit die Habseligkeiten von Wert versetzen musste, um sowohl die Haushaltsausgaben als auch die Klinikaufenthalte ihres Mannes finanzieren zu können. Die Familie musste mit der Verschlechterung der materiellen Situation umzugehen lernen. Die Erfahrungen, die Henryk Goldszmit durch den Krankheitsverlauf des Vaters gemacht hat, löste bei ihm noch viele Jahre später die Sorge aus, selbst psychisch erkranken zu können. Auch, wenn er im Ghetto schrieb: „Ich liebe meine Tollheiten zu sehr, als dass mich der Gedanke nicht entsetzte, jemand könnte versuchen, mich gegen meinen Willen zu heilen“ (SW Bd. 14: 360).

Die Furcht vor einer vermeintlichen Vererbbarkeit psychischer Erkrankungen innerhalb der Familie war im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert stark verbreitet. Wie Henryk Goldszmit, so fürchtete sich bspw. auch Edvard Munch (1863–1944) vor dem Wahnsinn seines Vaters und verspürte die Angst, wie er erkranken zu können. Beide verfolgten ihre Erfahrungen innerhalb der Familie wie eine Last. Edvard Munch malte, um seine „Melancholie“ (manisch-depressiven Phasen) ertragen zu können und auch für Henryk Goldszmit war die Arbeit mit den Kindern und die theoretische Reflexion ein Ausweg, um mit seiner Sorge umzugehen. Direkte nach dem Tod des Vaters hat Henryk Goldszmit Selbstmordgedanken gehegt113, erlag ihnen aber nicht. Er integrierte sein Traumata in sein schrift113  Den Wunsch, Suizid zu begehen, hat er in seinem Leben mehrmals verspürt. „Als ich meiner Schwester nach ihrer Rückkehr aus Paris den gemeinsamen Selbstmord vorschlug, war das kein Gedanke oder Programm, das einem Bankrott entsprang. Ich hatte nur keinen eigenen Platz auf der Welt und im Leben. Cui bono [Hervorhebung im Original] noch ein Dutzend weitere Jahre? Meine Schuld war es vielleicht, daß ich das Angebot später nicht wiederholte. Der Handel kam nicht zustande wegen Meinungsverschiedenheiten“ (ebd.: 358). Später schrieb er: „Es gab Jahre, da ich das Quecksilber und die Morphiumpillen in der hintersten Ecke des Schubfaches versteckt hielt. Ich nahm sie nur an mich, wenn ich zum Grab meiner Mutter auf den Friedhof ging. Erst seit dem Krieg habe ich sie ständig in der Tasche […] Es gibt kein abstoßenderes Ereignis (Abenteuer) als einen misslungenen Selbstmord. So ein Plan muss vollständig ausgereift sein, damit der Erfolg absolut sicher ist. Wenn ich meinen Plan, den ich bis in letzte durchdacht hatte, immer wieder aufschob, dann, weil mir stets in letzter Minute ein neuer Traum in den Sinn kam, den ich nicht unbearbeitet fallen lassen konnte“ (ebd.: 321). 125

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2 Brücken bauen als soziales Erbe der Familie

stellerisches Schaffen. Mit siebzehn Jahren hatte er einen Roman mit dem Titel „Selbstmord“ begonnen. „Dem Helden war das Leben aus Furcht, dem Wahnsinn verfallen zu können, verleidet“ (ebd.: 365). So vermochte er im Übrigen nicht nur den Tod des Vaters, sondern – wie ich bereits angemerkt habe – auch den Tod der Mutter zu verarbeiten. Henryk Goldszmit konnte ein Praxismuster im Umgang mit der Angst zu erkranken entfalten, weshalb er sich bis zu seinem Lebensende voll der Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik widmete. Statt sich in der eigenen Depression zu verlieren, gestaltete er sein Leben arbeitsintensiv und verlieh ihm dadurch einen Sinn. In der Kindergeneration ist es die Krankheit Józef Luis, die sich auf das Leben Annas (Henryk Goldszmits Schwester) auswirkte. Seine Syphilis-Erkrankung war vermutlich die Ursache für die Kinderlosigkeit der Ehe und der Grund, weshalb er früh verstorben ist und Anna zur Witwe wurde. Krankheit und Familie müssen einander nicht bedingen, doch die Krankheit eines Familienmitgliedes kann sich auf das Familienleben und einzelne Familienmitglieder auswirken. Es wäre falsch, die Kernfamilie durch die Erkrankung eines Familienmitglieds in jedem Falle zu pathologisieren und zu stigmatisieren, doch ist bei den Goldszmits eine überlastende und unbewusste Rollenzumutung durch den kranken Vater Józef Goldszmit wie auch den kranken Ehemann Józef Lui nachweisbar; und deshalb eine Sensibilisierung für dieses Thema angezeigt (gewesen).

Resümierend Es gibt nur wenige wissenschaftliche Beiträge zum Leben jüdischer Familien in Polen vor der Shoah. Die Vergangenheit polnisch jüdischer Familien ist zwar in Romanen allgegenwärtig, aber sie ist in der deutschsprachigen historischen Familienforschung ein Desiderat. Ausgehend von der Untersuchung des Einzelfalles (der Familiengeschichte der Goldszmits über vier Generationen) konnten allgemeinere Aussagen über die polnisch jüdische Familie im Assimilationsprozess getroffen werden. Der Exkurs als historische Interpretation zeigte, dass polnisch-jüdische Familien in der Geschichte einem Wandel unterlagen, der sich in Abhängigkeit von der Region, Religion und Schicht vollzog. Der Wandel hat mit den Assimilationstendenzen des Urgroßvaters mütterlicherseits und des Großvaters väterlicherseits begonnen und sich noch auf die nachfolgenden Generationen ausgewirkt. Familie stiftet Identität und ist nicht nur ein Teil der (gemeinsamen) Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und Zukunft. Die Mehrgenerationen-Perspektive erlaubte sowohl einen Einblick in die Familienstruktur(en) als auch in die (Berufs-)Rollen, die einzelne Familienmitglieder eingenommen und wie sich diese im Laufe der Zeit gewandelt haben. Die Familienbiographie der Goldszmits wurde als Einzelfall geschildert. Da im Hinblick auf zugrunde liegende Muster alle

2.4 Exkurs: Familie als Ort des Wandels

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Familien einander ähnlich sind, habe ich die Ergebnisse der Genogrammanalyse weiter gedacht, um abschließend allgemeinere Aussagen über die polnisch-jüdische Familie im Assimilationsprozess zu formulieren. Es zeigte sich in Bezug auf: • „Familie und Ehe“, dass die Ehe ein konstitutives Element von Familie und der sozialen Reproduktion war; • die „Familiengröße“, dass diese mit der Generationenfolge kleiner geworden ist bzw. in Bezug auf die Kinderzahl abgenommen hat; • „Geschlechter und die familiale Arbeitsteilung“, dass sich die Geschlechterrollen ergänzten, wobei die Frauen überwiegend im Haus und die Männer in ihrem Berufsfeld (außerhalb des Wohnhauses) agierten, und eine Veränderung der Rollenverteilung erst mit der Kindergeneration eingesetzt hat, • die „Lebens- und Familienformen“, dass eine Pluralisierung erfolgt ist; • das „Generationenverhältnis“, dass die männlichen Familienmitglieder durch ein gemeinsames Streben im Sinne eines geistigen Erbes miteinander verbunden waren, das durch säkulare Bildungsambitionen und das soziale Engagement für die jüdische Gemeinde materialisiert wurde; • die „Religion“, dass die religiöse Praxis mit Voranschreiten des Assimilationsprozesses schrittweise in den Hintergrund getreten ist, • die „Bildungschancen“, dass diese sowohl vom bildungspolitischen System, als auch von den Bildungsambitionen der Familie abhängig waren und • „Krankheit“, dass Krankheit und Familie sich nicht bedingen müssen, aber sich die Krankheit eines Familienmitgliedes auf das Familienleben und den Lebensverlauf einzelner Familienmitglieder auswirken konnte. Die sozialhistorischen Verweise lieferten kulturwissenschaftliche Ansatzpunkte für die Erforschung der jüdischen Geschichte in Polen. Der Exkurs über Familie als Ort des Wandels machte außerdem deutlich, dass Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit nicht nur mit den vorangegangenen Generationen, sondern auch der (Mehrheits-)Gesellschaft verflochten ist.

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Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik 3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Professionalisiertes Handeln ist der gesellschaftliche Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter den Bedingungen der wissenschaftlich zu begründenden Problemlösung in der Praxis (vgl. Oevermann 1996: 80). Die Frage nach dem professionellen Handeln gründet sich auf eine Konzeption von Professionalität, „in der wissenschaftliches Wissen und praktisches Können als Einheit verstanden werden, wobei die Praxis der Bezugspunkt der Wissenschaft ist“ (Becker-Lenz und Müller 2009: 196). Keine andere Disziplin tut sich mit dem vermeintlichen Problem von Theorie und Praxis bzw. den gültigen Vermittlungsvorstellungen so schwer wie die Pädagogik, und erzählt so vielfältige Geschichten über dieses „prekäre Verhältnis“ (vgl. Dewe und Radtke 1991: 143). Alfred Langewand weist in der Einführung seines Eintrages „Theorie und Praxis“ im „Historischen Wörterbuch der Pädagogik“ (2004) darauf hin, dass „die als Begriff gemeinte Zusammenstellung von ‚Theorie und Praxis‘ […] ein pädagogischer Ausdruck vor allem seit dem späten 18. Jahrhundert“ (Langewand 2004: 1016) ist, die insbesondere von den Gedanken der Aufklärung geprägt war. Das 18. Jahrhundert markiert nicht nur den Beginn der europäischen Moderne, sondern verschränkt im Hinblick auf den pädagogischen Diskurs auch die Begriffe „Theorie“ und „Praxis“ stärker miteinander, obwohl die Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar bis in die Antike zurückreicht. Die Diskussion um ihr Verhältnis wurde auch im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und im Hinblick auf die Disziplingeschichte weiter geführt. Es ist zu einer Verwissenschaftlichung und Internationalisierung der pädagogischen Theorie gekommen, was sich nicht nur am Beispiel des Herbartianismus, sondern auch in der Sozialpädagogik oder Historiographie zeigen lässt (vgl. Oelkers 2003: 17). Jürgen Oelkers verweist zudem auf eine wechselseitige Kommunikation zentraler Modelle der Schulentwicklung und den Aufbau internationaler Forschung, die gleichzeitig sowohl Kooperation als auch Wettbewerb war (ebd.: 17). Vorhandene Spannungen zwischen einer wissenschaftlichen Forschung und den Bedürfnissen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Schierbaum, Janusz Korczak, der Brückenbauer, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30623-6_3

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

der Praxis konnten erst im Laufe der Zeit durch eine Arbeitsteilung überwunden werden (vgl. Oelkers 1990: 7) und die Erziehungswissenschaft „funktionier[t heute] wie eine normale Wissenschaft, betrachtet man die Forschungssituation, das Publikationsverhalten oder die Berufungslage. Alle Larmoyanz kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach den turbulenten siebziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] eine Normalisierung eingetreten ist, die es verbietet, von einer herausgehobenen Sonderdisziplin zu sprechen“ (ebd.: 7). Die Kontroverse um das Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. dessen Problematisierung ist nunmehr obsolet, auch wenn sie einer interessanten Dauerthematisierung unterliegt. Auch Janusz Korczak hat sich in den Diskurs um die Theorie und Praxis (der Erziehung) eingebracht, der in seinem Falle auch das Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik tangiert. Sein (akademisches) Berufsprofil hat in den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern [Kinderspital und Waisenhaus] nicht nur spezifisches, sondern auch erklärendes Wissen erfordert. Theoretisches Wissen wird erst dann in der Praxis wirksam, wenn es sich Akteure und Akteurinnen durch Prozesse der Interpretation und Reinterpretation für die Behandlung konkreter Handlungsprobleme aneignen und modifizieren (vgl. Altrichter et al.: 2005: 22). Herbert Altrichter, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler haben drei Momente herausgearbeitet, die Professionalität herstellen bzw. professionelles Handeln befördern können: • Die Fähigkeit interpretativ zu deuten, • die Weiterentwicklung von Impulsen, die durch das interpretative Deuten allgemeinerer Wissensangebote in signifikanten Bezugsrahmen hergestellt werden und zu „kontextualisiertem, bereichsspezifischem oder fallbezogenem Wissen“ führen, • sowie die Beobachtung und Evaluation des professionellen Handelns, um auf der Erfahrungsgrundlage nicht nur die Handlung, sondern auch die Konzeptualisierung voranzutreiben, was der „Forschung im Kontext“ der Praxis entspricht (vgl. ebd.: 33). Die Vermittlung von Theorie und Praxis gelingt dort am besten, „wo das Wissen dem praktischen Handeln und seiner Rationalität nicht äußerlich bleibt, sondern in der ganzen Person des Professionellen inkorporiert und habitualisiert“ und „durch soziale Kontexte gestützt“ (ebd.: 34) ist, wodurch die Rezeption und Verwendung von wissenschaftlichem Wissen zu einem Lernvorgang des Professionellen wird (vgl. ebd.: 34). Bisher habe ich herausgearbeitet, dass Janusz Korczak nicht nur Mediziner, sondern auch Schriftsteller und Pädagoge war. Er gestaltete sein Leben als ein

3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

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Partiturspiel, weil sich seine Biographie durch die Übernahme multipler Identitäten (Berufsrollen) auszeichnet, die auch als „Teilzeitidentitäten“ (Heisler 1990) bezeichnet werden können. Es wurde deutlich, dass das Identitätsfeld seiner Person seit jeher fremdbestimmt wird, denn es sind seine Zeitgenossen / Zeitgenossinnen und Rezipienten / Rezipientinnen, die ihn jeweils einer Berufsgruppe zugewiesen haben. Während er seinerzeit häufig von einer spezifischen Berufsgruppe als fremd wahrgenommen und dadurch einer anderen zugeordnet wurde; wird heute die Dreiheit von Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik zwar nicht mehr ausgeklammert, aber eher als ein Nebeneinander und weniger als ein Miteinander gedacht. Dieses Miteinander (als Lernvorgang Janusz Korczaks) bestimmte aber nicht nur die Rezeption und Verwendung seines wissenschaftlichen Wissens, sondern auch sein professionelles Handeln in der Praxis. Janusz Korczaks beruflicher Habitus beruhte sowohl auf einer identitären Vielfalt (als Mediziner, Schriftsteller und Pädagoge) als auch auf einer Dichotomie, allerdings weniger im Sinne eines Dualismus als einer Zweiheit von Medizin und Pädagogik in Personalunion. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er als Facharzt für Pädiatrie und veröffentlichte als Sozialpädiater sozialmedizinische Schriften. Als Kinderarzt ausgebildet, wurde er 1904 zum ersten Mal als Erzieher in den Sommerkolonien tätig. 1912 wurde er Leiter des „Dom Sierots“. Aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen in der medizinischen und pädagogischen Praxis speiste er die Geschichten seiner Romanhelden, die er als Schriftsteller für seine Leser und Leserinnen publizierte. An diesem Punkt soll meine zweite Relektüre anschließen, denn als blinder Fleck in der Forschung über Janusz Korczak erscheint noch immer das Spannungsverhältnis von Medizin und Pädagogik, das – meines Erachtens – auch wesentlich vom Verhältnis von Theorie und Praxis beeinflusst wurde. Denn unterschiedliche Denkformen bereichern seit jeher die Heimerziehung als Handlungsfeld Sozialer Arbeit, das auch von den Naturwissenschaften [und insbesondere der Medizin] beeinflusst wurde. Michael Winkler bezeichnet die kaum vorhandene Auseinandersetzung mit der systemischen Theoriebildung in Janusz Korczaks Werk als ein Defizit (vgl. Winkler 2016: 117). Ich möchte dieses Defizit als ein erziehungswissenschaftliches Forschungsdesiderat fassen, weil eine positive Konnotation auf eine Erwünschtheit verweist, die begründet, warum es sich lohnt, sich intensiver als nur beschreibend (also deutend) mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis in Janusz Korczaks Werk auseinanderzusetzen. Weil er keinen geschlossenen Entwurf einer Theorie niedergeschrieben hat, die „einfach so“ oder „nebenbei“ rezipiert werden kann, haben sich bisher nur wenige Korczak-Forscher und -Forscherinnen an diese Fragestellung heran gewagt. Wie die Rezeptionsgeschichte zeigen konnte, besteht sein Werk aus vielen kleineren Texten, die unterschiedlichen Textgattungen und 131

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

vielfältigen Genres zugeordnet werden können. Hier werden die „Gesammelten Werke“ und ihr fragmentarischer Charakter für den Rezipienten und die Rezipientin unbequem, denn Janusz Korczak gibt zwar Anstöße zum (Nach-)Denken, wirft Fragen auf, beschreibt seine Beobachtungen im Detail, eröffnet Perspektiven und klärt auf; aber er lässt den Leser und die Leserin auch häufig mit sich allein, verunsichert, stellt Denkgewohnheiten in Frage und verpflichtet zum selbst (weiter-) denken, weil er kaum Lösungen für Probleme vorgibt (vgl. ebd.: 118). Denn er war – und das betont auch Winkler – kein Systematiker, auch wenn er eine „moderne, wissenschaftliche Kindheitsforschung eingeführt“ hat, „die nicht von vornherein durch pädagogische Absichten kontaminiert“ (ebd.: 119) war. Janusz Korczak war jemand, der mit seinem medizinischen Blick bemerkte und beobachtete, aber nicht sofort klassifizierte und kategorisierte. Auf diese Weise entstanden Einzelfallstudien, die sich nicht auf eine einzelne Methode beschränkten, sondern sich durch einen Methodenmix den Tatsachen und Tatbeständen annäherten. Im weiteren Verlauf werde ich zuerst methodologische Überlegungen anstellen, um in die Rekonstruktion und Analyse von Theorie(n) einzuführen (3.1). Um der „Theorie als Wissen“ auf die Spur zu kommen, werde ich mich intensiver mit Janusz Korczaks Reflexionen pädagogischen Handelns auseinandersetzen (3.2). Hier geht es vor allem darum, wie Janusz Korczak über das Kind nachdachte (3.2.1), aus welchen Disziplinen sich sein Wissen speiste (3.2.2), wie sich Medizin und Pädiatrie als Disziplinen im historischen Kontext entwickelt haben (3.2.3), auf welche Weise sich die „Neue Erziehung“ in Polen durchsetzen konnte (3.2.4), wie Medizin und Pädagogik (miteinander) in einen Dialog eintraten (3.2.5) und in welcher Form sich Janusz Korczak zur Dreiheit von Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik geäußert hat (3.2.6). Unter der Überschrift „Praxis als Können“ werde ich mich der Medikalisierung von Kindheit annähern (3.3). Zu Beginn erfolgt eine Bestandsaufnahme zur Sozialen Arbeit bzw. Heimerziehung in Polen (3.3.1.), um in einem nächsten Schritt herauszuarbeiten, wie Janusz Korczak als Akteur im Schwellenraum zwischen Medizin und Pädagogik agierte (3.3.2). Neben der „Erziehungsklinik“ als Forschungssubjekt und Konzept von Praxis (3.3.3) soll es um die „Erziehungsdiagnostik“ als Methode gehen (3.3.4). Letztlich – resümierend – versuche ich die Frage zu beantworten, ob Janusz Korczak in einem Diskurs um „Doing Health“ verortet werden kann (3.3.5). Das Kapitel „Relektüre: Das Verhältnis von Theorie Praxis“ (3.4) nähert sich dem pädagogischen Ausdruck über die „Gesammelten Werke“ an und greift die Stellen auf, in denen sich Janusz Korczak zum Verhältnis von Theorie und Praxis geäußert hat (3.4.1). Daraufhin werden die Arbeiten anderer Korczak-Forscher und -Forscherinnen einer Relektüre unterzogen, um herauszustellen, zu welchen Erkenntnissen sie gekommen sind (3.4.2). Abschließend werden die Punkte 3.4.1 und 3.4.2 zusammengedacht. Vor

3.1 Rekonstruktion und Analyse von Theorie

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dem Resümee, das vor allem die Frage beantworten soll, ob Janusz Korczak eine Theorie des forschenden Praktikers hinterlassen hat (3.6), möchte ich mich aber noch einmal intensiver mit der Burse als dem Ort der Weitergabe von Wissen (Theorie) und Können (Praxis) an auszubildende Erzieher und Erzieherinnen (3.6) beschäftigen.

3.1

Rekonstruktion und Analyse von Theorie – Methodologische Überlegungen

3.1

Rekonstruktion und Analyse von Theorie

„Forschung lässt sich nicht von Theorie trennen“ (Winkler 2005: 23) und jede Forschung möchte einen Beitrag zur Theoriebildung leisten, um den Horizont der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erweitern. Theorien, das sind Konstruktionen, Modelle eines Gegenstandsbereichs und Annahmen über die Wirklichkeit, die sich ihr nur annähern können. Theorien dienen einerseits der Welterschließung und sollen begründet, überprüfbar und reflexiv sein; andererseits fungieren sie als Rahmen der Betrachtung von Welt und beleuchten jeweils spezifische Aspekte der Wirklichkeit (vgl. Friebertshäuser / Richter und Boller 2010: 380 und 382). Michael Winkler nennt acht Dimensionen von Forschung, in welche die theoretische Arbeit in der Sozialpädagogik eingebunden ist: (1) Empirie und Phänomenologie, (2) Geschichte, (3) Evaluation, (4) Kritik der Institutionen und Apparate, (5) Rezeption von aktueller Theorie, (6) Organisation von Daten, (7) Ideologiekritik und (8) Textanalyse und -kritik (Klassiker), die jeweils ihren eigenen Stellenwert besitzen und in unterschiedlicher Weise miteinander verbunden werden (vgl. Winkler 2005: 24). Ich möchte mich auf die zuletzt genannte Dimension fokussieren, also „auf die Rekonstruktion dessen, was an Erkenntnis, an kategorialem Wissen und Reflexionsfiguren“ (ebd.: 25) in Janusz Korczaks Texten wichtig geworden ist. Heinz-Elmar Tenorth versteht die Arbeit an der Theorie als wissenschaftliche Praxis (vgl. Tenorth 2010: 89) und unterscheidet in der Praxis theorieorientierter Forschung vier Formen: • Die Kritik bezeichnet er als die beliebtere Praxis im Umgang mit der Theorie, weil sie eine Bewertung für den Ertrag der theoretischen Praxis vornimmt. • Die Analyse klammert die wertende Beschreibung aus und beschränkt sich entweder auf die Wissenschaftslogik [bspw. Strukturanalysen] oder auf die empirische Analyse der Wissenschaft [Wissenschaftsforschung]. • Die Konstruktion versucht eine eigene Theorie zu entwickeln. Die Dekonstruktion bzw. Rekonstruktion hat dagegen zum Ziel, eine Theorie bzw. einen 133

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Wissensbestand in ihrem ursprünglichen Gehalt, ihrer Entwicklung und ihrem theoretischen Anspruch für die aktuelle Diskussion wiederherzustellen. • Die Exegese ist ein spezifischer Umgang mit der Theorie, der ein für gültig gehaltenes Theorie-System oder eine Erziehungs- oder Sozialphilosophie immer neu auslegt (vgl. ebd.: 91 ff.). Im Kapitel zu den Spannungsfeldern von Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik möchte ich an und mit der Theorie Janusz Korczaks arbeiten, denn die „alltägliche wissenschaftliche Praxis ist immer methodenorientiert und selbstverständlich immer, explizit oder implizit, theoriegeleitet. Insofern ist diese Praxis immer auch Arbeit an der jeweiligen Theorie, denn sie prüft ihr Erkenntnispotential, klärt ihre Leistungen und fragt, wie bewährt oder problematisch die Theorie ist“ (ebd.: 89). Weil Janusz Korczaks Praxis nicht nur als praktisches Tun und Handeln eines Erziehers zu verstehen ist, sondern auch seine Praxis als Forschenden betrifft, kann seine Forschungspraxis auch darüber Auskunft geben, wie er zu seinen theoretischen Überlegungen gekommen ist. Durch die zweite Relektüre werde ich mich Janusz Korczaks Beitrag zur Theoriebildung in der Erziehungswissenschaft annähern. Ich habe bereits herausgestellt, dass er auf den ersten Blick keine pädagogische Theorie hinterlassen hat, die problemlos rezipiert werden kann, weil es an seiner systematischen Darstellung einer Erziehungstheorie fehlt. Ich muss mich mit Janusz Korczaks Texten auf eine Spurensuche begeben und mich dabei auf unterschiedlichstes Textmaterial einlassen, um Fragmente eines Entwurfes einer Theorie auszuspüren, wo auf den ersten Blick keine ist. Die Arbeit mit und an der Theorie wird theorieorientiert und innerhalb einer Analyse und Rekonstruktion erfolgen. Heinz-Elmar Tenorth betont, dass in der jüngeren Zeit die empirische Analyse in der Erziehungswissenschaft intensiver geworden ist, weil dem ‚practical turn‘ der Wissenschaftstheorie in der Wissenschaftsforschung sowohl historisch als auch sozialwissenschaftlich und statistisch gefolgt wird (vgl. ebd.: 94). Durch die Analyse soll herausgearbeitet werden, dass sich die Theorie, aber auch Argumentationsmuster und Methoden zeitlich, zwischen (Fach-)Kulturen und bei bestimmten Themen(-feldern), Theoretikern / Theoretikerinnen oder Fachvertretern / Fachvertreterinnen ausgebildet und voneinander unterschieden haben. Dies wird auch über Janusz Korczaks Positionierung in den Spannungsfeldern von Medizin und Pädagogik zu zeigen sein. Zuletzt ist noch auf den Import von Konstrukten – also von Teil-Theorien bzw. Hypothesen – und Methoden einzugehen [Stichworte: Diagnose (Medizin) – „Erziehungsdiagnostik“ (Pädagogik)], was auch Fragen nach „einheimischen Begriffen“ (ebd.: 97) der Erziehungswissenschaft aufwirft. Über die „Relektüre des Verhältnisses von Theorie und Praxis“ soll schließlich der Versuch gewagt werden, Janusz Korczaks Theorie – mit Rückgriff auf die Arbeiten anderer Korczak-Forscher

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und -Forscherinnen zur Chiffre von Theorie und Praxis – zu rekonstruieren, um seinen Wissensbestand an die aktuelle Diskussion in der Erziehungswissenschaft anzuschließen.

3.2

Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

3.2

Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

Es genügt nicht, sich allein mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und bei Janusz Korczak im Speziellen zu beschäftigen. Es bedarf auch einer Analyse des (pädagogischen) Wissens, das ihm im Rahmen seiner Auseinandersetzungen zur Verfügung [oder eben nicht zur Verfügung] stand. Jürgen Oelkers und Heinz-Elmar Tenorth bezeichnen als pädagogisches Wissen „jene nach Themen und Fokus von anderen Wissen unterscheidbaren, symbolisch repräsentierbaren Sinnstrukturen, die Erziehungs- und Bildungsverhältnisse jeder Art implizit oder explizit organisieren, [und] dabei eine zeitliche, sachliche und soziale Schematisierung einer Praxis erzeugen, die als ‚pädagogisch‘ selbst bezeichnet wird und so auch durch Beobachter beschreibbar ist; über pädagogisches Wissen läßt sich der Sinn dieser Praxis gemäß der ihr eigenen Rationalität verstehen und auch im Blick auf Funktionen und Effekte analysieren; das Ergebnis solcher Anstrengungen läßt sich zugleich von dieser Praxis ablösen, als Text kodifizieren und selbständig tradieren und erörtern“ (Oelkers und Tenorth 1991: 29).

Ein wissenschaftliches Wissen ist für die Berufspraxis Sozialer Arbeit von entscheidender Bedeutung. Eine professionstheoretische Perspektive vorausgesetzt, lässt sich Soziale Arbeit in die Bereiche der Disziplin und Profession aufteilen, sofern analog zu den klassischen Professionen Medizin, Jurisprudenz und Theologie verfahren wird. Die Disziplin ist der Bereich der Wissenschaft und für die Theoriebildung verantwortlich. Sie misst sich an der Richtigkeit und Widerspruchsfreiheit ihrer Erkenntnisse. Die Profession dagegen betrifft die Berufspraxis, in der sich das berufspraktische Handeln vollzieht. Ihr geht es um die Wirksamkeit und Angemessenheit ihrer praktischen Handlungsvollzüge (vgl. Becker-Lenz und Müller 2009: 195). Weil Janusz Korczak nicht nur Mediziner, sondern auch Pädagoge war, ist im Folgenden sein medizinisches von seinem pädagogischen Wissen abzugrenzen bzw. das Verhältnis des Wissens aus beiden Professionen zu beschreiben.

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

3.2.1 Dreißig Jahre Nachdenken über das Kind 1934 erschien „6x5“ in „Dos Kind“ (dt. „Das Kind“), ein Rückblick auf „Dreißig Jahre Nachdenken über das Kind“. Janusz Korczak schildert in Fünfjahresetappen, deren Aufteilung eine freie und künstliche ist, wie seine Anschauungen, Gefühle und die Beziehungen zu Mensch und Umwelt beeinflusst wurden (vgl. SW 9: 424 f.).

Abb. 11 30 Jahre Nachdenken über das Kind nach SW Bd. 9: 424 f.

1904 bis 1909: „Ich strebe nach Aufklärung, Erleichterung, Lernen und Genießen. Ich sehe liebe und gute Kinder. Ich bin stark und selbstbewusst. Ich suche nach Rezepten in Büchern. Ich glaube, daß es leicht ist, mit einem Wort zu überzeugen.“

Janusz Korczak hat während seines Medizinstudiums zum ersten Mal den „Zauber der erzieherischen Tätigkeit“ in den Sommerkolonien erfahren. Noch bevor er seine Promotion abschloss, hat er sich auf die Suche nach seinem pädagogischen Weg begeben. Sie begann in den Büchern und ging schnell über die bloße Lektüre hinaus. Im Berson-Bauman-Spital ließ er sich als Pädiater ausbilden und nahm eine Tätigkeit als Kinderarzt auf. Eine erste Studienreise führte ihn in das Berlin des Kaiserreiches (1907), wo er sich nicht nur an der Medizinischen Fakultät und in Bibliotheken aufhielt, sondern auch Institutionen erzieherischer Praxis aufsuchte. 1909 bis 1914: „Neben dem Erfolg zahlreiche Niederlagen. Ich bin oft wütend und beleidigt. Die Müdigkeit bremst die Kraft. Ich irre in mir umher. Ich werde zum Silberstecher des kindlichen Wesens. Ich übe Kritik am Buch, an der Theorie, welche mich verführt hat.“

Janusz Korczak setzte seine Suche auf seinen Studienreisen nach Paris (1909) und London (1911) fort, wo er verschiedene Institutionen und Konzepte Sozialer Arbeit kennen lernte. In London hat er sich schließlich für den „Dienst an der Sache des Kindes“ entschieden. Er gab seine Stelle im Kinderspital auf und trat 1912 die Leitung

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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des „Dom Sierots“ an. Er bewies Mut und Experimentierfreude, so dass mit viel „Arbeitsmühe“ seine pädagogische Tätigkeit eine unverwechselbare Kontur erhielt. 1914 bis 1919: „Man muss die Wahrheit erkennen und fragen: Warum ist es so, und wie macht man es anders? Ich mache mir noch vor, dass man voraussehen kann und verhindern, auf lange Zeit oder auf ewig versichern kann. Äußerlich im Gleichgewicht, verbiete und befehle ich. Ich werfe das Buch weg und suche den eigenen Weg.“

Während seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg beginnt Janusz Korczak die Arbeit an der Tetralogie „Wie liebt man ein Kind“. Indem er seine Praxis beschreibt und reflektiert, erklärt er die Konturen seines Erziehungsmodells. Das „Dom Sierot“ wurde ihm zu einem pädagogischen Untersuchungsfeld, dem er mit „Neugierde“ begegnet ist. Aber auch außerhalb Warschaus – immer dort, wo er gerade stationiert war, suchte er nach pädagogischen Settings – selbst im Krieg. Er entfernte sich von bekannten Theorien und strebte in seiner Erziehungsarbeit einen Gleichklang von Theorie und Praxis an. 1919 bis 1924: „Das Leben ist stärker als ich. Ich sammle schwerwiegende Probleme, schwere Situationen und schwierige Kinder. Geizig mit Worten, werde ich jetzt schweigsam. Ich wache und beobachte. Ich will mich vergewissern, wie es mit einem Kind ist, zu einer Abmachung kommen, Erleichterung bringen, wenigstens für heute. Voller Argwohn suche ich wieder fremde Erfahrungen.“

Janusz Korczak setzte nach der Rückkehr aus dem Lazarett die Leitung des „Dom Sierots“ fort. Die Situation war schwierig, weil die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges immer noch zu spüren waren. Das dreigeteilte Polen wurde in die Lage versetzt, sich als unabhängige Nation bis zur Okkupation durch Nazi-Deutschland zu behaupten. Diese Entwicklung wirkte sich auch auf das Feld der Sozialen Arbeit aus, die sich nun als universitäre Disziplin herausbilden konnte. 1920 verstarb Janusz Korczaks Mutter, die er mit Fleckfieber angesteckt hat. Aus Trauer um die Verstorbene verspürte er eine „Unruhe“. Er beteiligte sich wieder an der Erziehung der Waisenkinder und gründete zusammen mit Maryna Falska das „Nasz Dom“. Erleichterung bzw. Erholung sollte den Kindern die Eröffnung der Sommerkolonie „Röschen“ bringen und er regte die Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen in der Burse an. 1924 bis 1929: „Ich kenne die Macht der Zeit. Ich verstehe Grenzen und Maße. Ich kann geduldig warten. Ich leite freundschaftlich, nicht belästigend, von der Seite und aus der Ferne.“

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Janusz Korczak hatte alles „unter Kontrolle“. 1926 wurde er Leiter der „Kleinen Rundschau“. Er verlieh den Kindern durch seine Zurückhaltung in der Redaktion eine Stimme, weil sie hier im wahrsten Sinne des Wortes Feder führend den Ton angaben. Ebenso gestaltete er die Arbeit in den Waisenhäusern „Dom Sierot“ und „Nasz Dom“, die als kleine Kinderrepubliken ein System der Selbstverwaltung hervorbringen konnten. Die Erzieher und Erzieherinnen waren anwesend, mussten sich aber nicht ständig einmischen, weil die Partizipation der Kinder groß und gewollt war. 1929 bis 1934: „Ich resigniere zugunsten des Lebens. Ich gebe nach. Die Zukunft behält alle Möglichkeiten. Jetzt ist nicht mehr das Kind das Observationsobjekt, sondern der Mensch. Das Gefühl, daß Zeit vergeht. Ich schaue mich um, wem ich die Arbeit übergeben kann. Ich protestiere nicht gegen das Buch, das nicht weiß, und ich mache mir keine Vorwürfe, daß ich nicht weiß.“

1932 wurde in der „Sozialen Rundschau“ öffentlich von Dr. M. Sobel angezweifelt, ob das Selbstverwaltungssystem ein Interesse bei den Kindern finde. Es begann für Janusz Korczak eine Zeit des Zweifelns. Er übergab die Leitung der „Kleinen Rundschau“ an seinen Sekretär Igor Newerly, zog vorübergehend aus dem „Dom Sierot“ aus und reiste ein erstes Mal nach Palästina, um den Kibbuz „Ein Harod“ zu besuchen.

3.2.2 Janusz Korczaks Wissen – Ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen Das „Jahrhundert des Kindes“ war die Zeit, als sich auch Janusz Korczak dem Phänomen „Kindheit“ zugewandt und vollkommen gewidmet hat. Sein Denken und Handeln war wie das Ellen Keys (1849–1926) durch naturwissenschaftliche Debatten beeinflusst worden, auch wenn sich die Schwedin vor allem auf einen popularisierten Darwinismus bezog. Sie gründete den pädagogischen Einfluss auf die Ausstattung des Menschen darauf, „das Kindliche durch Erziehung in seinen natürlichen Anlagen zur Entfaltung kommen zu lassen“ (Behnisch und Winkler 2000: 17). Ich werde im weiteren Verlauf diskutieren, wie sich Janusz Korczak mit den durch die Naturwissenschaften entfachten Diskursen um Entwicklung, Erziehung und Bildung auseinandersetzte. Als Pädiater und Pädagoge [bzw. Pädologe] entwickelte er sich zu einem Kinder- bzw. Kindheitsforscher, der nicht nur in der „Schule des Lebens“ lernte, sondern sein Wissen über das Kind auch durch sein Medizinstudium an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau, den Besuch der „Fliegenden Universität“ und seine Studienreisen in die Metropolen Westeuropas

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mehrte. Es gilt nun, die Institutionen bzw. Lernorte aufzuspüren, in denen Janusz Korczak sein Wissen nährte und zu überlegen, wie naturwissenschaftliche Debatten als Reflexionsbestand auch das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik beeinflusst haben.

Das Studium an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau Die wirtschaftliche Entwicklung des Weichsellandes hatte 1880 zwar im Vergleich zu anderen russischen Provinzen die höchste Entwicklungsstufe erreicht, doch die Möglichkeiten ein Studium zu beginnen, waren vergleichsweise niedrig. Janusz Korczak studierte Medizin an der „Kaiserlichen Universität“. Sie war 1896 aus der „Warschauer Hauptschule“ hervorgegangen und neben dem „Polytechnischen Institut“ die einzige Einrichtung höherer Bildung in Warschau. Durch die russische Fremdherrschaft hat die „Kaiserliche Universität“ ein spezielles Profil erhalten. Die Professorenschaft war überwiegend russisch und orthodox, die Studentenschaft bis 1905 mehrheitlich polnisch und römisch-katholisch geprägt (vgl. Rolf 2015: 313 f.), was zu Konflikten aufgrund unterschiedlicher politischer Standpunkte führen konnte. Der Geisteshorizont der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau war von slawischen Topoi und Wissenstheorien geprägt, weil eine russische Leitkultur im Vordergrund stand. Die Lehrenden pflegten häufig Kontakte zur slawophilen Bewegung in Moskau und St. Petersburg, so dass sich unter ihnen ein starkes Gruppengefühl herausgebildet hat und die Professorenschaft ein „stabiles Referenzmilieu“ (ebd.: 315) darstellte, das sowohl dem städtischen als auch dem gesellschaftlichen Umfeld fremd blieb. Obwohl Janusz Korczak ein Medizinstudent von vielen Tausenden war, war die Hochschule für die Studenten eine ungeliebte Bildungsinstanz (ebd.: 314 f.) ohne gute Reputation. Die wissenschaftliche Qualität der Hochschullehrer habe von Jahr zu Jahr abgenommen und sei schließlich auf ein Niveau gesunken, dass „ein Professor der Warschauer Universität nicht nur im Land, sondern auch im Zarenreich als Ignorant“ (SW Bd. 8: 214) galt. Der schlechte Ruf der Hochschule und ihrer Professorenschaft (bzw. die Qualität ihrer Lehre) trugen vermutlich dazu bei, dass sich Janusz Korczak nach Westen orientierte und diverse Studienreisen unternahm (auf die im weiteren Verlauf noch einzugehen sein wird).114 114 Es steht auch aktuell (2019) nicht gut um die Ausbildungsbedingungen polnischer Ärzte und Ärztinnen, die aufgrund der Gesamtsituation und niedriger Verdienste häufig direkt nach ihrem Studium auswandern. Assistenzärzte und -ärztinnen verdienen während ihrer Ausbildung auf einer Stelle umgerechnet etwa 600 bis 700 Euro monatlich. Viele arbeiten deshalb in mehreren Krankenhäusern gleichzeitig, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ein Tod durch Überarbeitung wird durch mehrere Hundert Stunden Arbeit im Monat zu einer ernstzunehmenden Gefahr – für Ärzte, Ärztinnen wie Patienten und 139

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Die medizinische Fakultät bestand seit Gründung der Hochschule, doch gab es noch keinen Lehrstuhl für Pädiatrie115, auch wenn die Kinderheilkunde in Russland bereits ein hohes Niveau erreicht hatte. 1834 wurde in Moskau die zweite Kinderklinik überhaupt eröffnet, Vorreiter war Paris (vgl. ebd.: 296). Außerdem war die Mehrzahl der theoretischen Lehrstühle ohne Assistenten, in den Kliniken arbeiteten nur die Jungen, die sich keine private Praxis leisten konnten und in den Laboratorien arbeitete gar niemand (vgl. ebd.: 214). Über das Wissen, das Janusz Korczak an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau erwerben konnte und sein Studium, ist sonst nicht viel überliefert. Einen Einblick gewährt nur der Artikel „Über ärztliche Philanthropie“ (1907), der in „Krytyka Lekarska“ (dt. „Ärztliche Kritik“) erschienen ist. In ihm erinnert er sich, dass er als Student der unteren Semester u. a. Władysław Biegańskis (1857–1917) „Gedanken und Aphorismen über ärztliche Ethik“ gelesen hat. Biegański war der Autor des ersten polnischen Handbuchs für Innere Medizin und hat Lehrbücher zur Logik, Erkenntnistheorie und Ethik verfasst (vgl. SW Bd. 4: 227). Einige seiner Gedanken hat der Medizinstudent „sogar mit Pietät“ in sein Notizbuch geschrieben: „‚Vergessen wir nicht, die Medizin ist aus dem Unglück geboren, und ihre Taufpaten sind: Barmherzigkeit und Mitgefühl. Ohne ein philanthropisches Element wäre die Medizin das allergewöhnlichste, ja, vielleicht sogar das widerwärtigste Handwerk‘“ (ebd.: 227).

Nach der Promotion vertrat Janusz Korczak die Ansicht, dass „zwischen dem Arzt als Philanthropen und dem Handwerker – auch noch Platz für den Arzt als Naturwissenschaftler sein müßte“ (ebd.: 227). Als junger Arzt hat er befürchtet, dass man sich mit dem Eintritt in das Berufsleben an menschliches Leid gewöhnen und gleichgültig werden könne. Er strebte stattdessen danach, dass „sich das Verhältnis zwischen dem Forscher zum Objekt seiner Forschung […] nicht zu ungunsten des Kranken verändern, sondern ganz im Gegenteil: das Interesse an den Kranken sich

Patientinnen gleichermaßen. Das polnische Gesundheitssystem ist marode und es sieht nicht danach aus, als würden demnächst erfolgreiche Reformen durchgeführt. Dabei schrieb Janusz Korczak schon 1906: „Ich versuche zu glauben, daß man mit Hilfe vieler Millionen Fördermittel und Anleihen eine Menge neuer Spitäler bauen und entsprechend ausstatten kann; ich möchte gern glauben, daß neue Gesetze das Wohl der arbeitenden Bevölkerungen berücksichtigen werden; ich glaube schließlich sogar, daß die polnische Universität ihrer Aufgabe gewachsen ist“ (SW Bd. 8: 214). Polen wird zwar nicht mehr fremdbeherrscht, doch es scheint, als ob sich die Geschichte wiederholen würde. 115 Es fehlte aber auch ein Lehrstuhl für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden bzw. Oto-Rhino-Laryngologie.

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bei wachsender Fülle des Materials und der Erfahrungen zunehmend vertiefen und erweitern“ (ebd.: 228) würde.

3.2.3 Medizin – Janusz Korczak und die Pädiatrie Die Medizin ist ein „moralisches Unternehmen“ und als solches bestimmt sie zwangsläufig den Inhalt der Worte „gut“ und „schlecht“, so dass sie – wie auch das Gesetz und die Religion – in jeder Gesellschaft definiert, was normal, angebracht oder erstrebenswert ist (vgl. Illich 2007: 35). Die Medizin in ihrer Gestalt, wie sie sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert herausgebildet hat, gilt als Prototyp einer Profession, deren Wirken sich durch eine verhältnismäßig hohe Autonomie gegenüber staatlichen Instanzen und Patienten auszeichnet (vgl. Lachmund 1987: 354). Erst die professionelle Autonomie brachte ein medizinisches Wissen hervor, das nicht nur eine gegebene Wirklichkeit abbildete, sondern auch auf einem konstruktiven Realitätsbezug beruhte. „Es enthält Deutungsmuster, mit denen ‚Krankheit‘ überhaupt erst identifiziert und als Objekt konstituiert wird“ (ebd.: 355). Ärzte sollen im Diskurs der jeweiligen Medizin wissen, unter welchen Voraussetzungen ein Mensch als krank und behandlungswürdig gilt, weil eine Krankheit als gottgesandte Strafe, Wirkung mikroskopischer Erregerorganismen oder Ausdruck einer ungesunden Lebensweise gedeutet werden kann. Stets handelt es sich bei einer Krankheit aber um eine soziale Praxis, in der überlieferte Deutungsmuster eingesetzt und reproduziert werden, die zum medizinischen Wissen einer Gesellschaft beitragen (vgl. Wright / Treacher 1982 und Foucault 1977 in ebd.: 355). Zunächst wage ich den Versuch, die Schlaglichter der Medizingeschichte in aller Kürze darzustellen, wobei ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, weil der Abriss lediglich Janusz Korczaks Medizinstudium und die Ausübung des Arztberufes in einem historischen Kontext verorten soll: Die westliche Tradition der Medizin wurzelt in der Antike und wurde von den Griechen begründet. Der medizinische Diskurs wurde vor allem durch Hippokrates (460–370 v. Chr.) beeinflusst, der als Gründervater für Heiler jeder Art gilt (vgl. Bynum 2010: 13). Den „Eid des Hippokrates“ schwören Mediziner und Medizinerinnen bis heute. Sein Ansatz hatte erstmals den ganzen Patienten / die ganze Patientin im Blick und den Arzt am Krankenbett dazu aufgefordert, den Patienten / die Patientin (wie auch seinen / ihren sozialen, ökonomischen und familiären Status) (vgl. ebd.: 14 f.) in die Anamnese mit einzubeziehen. Bis in das Mittelalter folgten Heiler der Vier-Säftelehre. Die Humoralpathologie wurde als Krankheitskonzept entwickelt, mit dem auch allgemeine Körpervorgänge 141

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

zu erklären waren. Neben ihr bestimmte die Klostermedizin116 den Umgang mit Krankheit und Gesundheit, dem Sterben und dem Tod. In jener Zeit wurden auch die ersten medizinischen (Hoch-)Schulen des Westens gegründet. Die „Schule von Salerno“ ist im 11. Jahrhundert aus einem Hospital für erkrankte Ordensbrüder hervorgegangen und zu einer Ausbildungsstätte für Ärzte geworden. Die ersten Universitäten mit einer medizinischen Fakultät eröffneten um 1180 in Bologna, 1200 in Paris / Oxford und 1218 in Salamanca. Hier konnte sich die Medizin als wissenschaftliche Disziplin und das Konzept von einem an einer Universität ausgebildeten Arzt entwickeln (vgl. ebd.: 43): „Die Universitätsmedizin bildete die Quintessenz der ‚Bibliotheksmedizin‘, denn die Lehre beruhte von Anfang an auf dem Studium klassischer und islamischer Autoren. Über den Studienerfolg entschieden Disputationen und nicht praktisches Training oder Experimente“ (ebd.: 43 f.). In der frühen Neuzeit wurden die strenge scholastische Methode überwunden und Autoritäten wie Galenos von Pergamon (129 / 131–205 / 215, Arzt und Astronom), Aulus Cornelius Celsus (14 v. Chr. – 50 n. Chr., Medizinschriftsteller), Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā / Avicenna (980–1037, persischer Arzt), Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyā ar-Rāzī / Rhazes (854–925, persischer Arzt) und Hippokrates kritisch(er) gelesen. Mediziner trauten sich nun vermehrt (wenn auch häufig nur / noch im Geheimen) selbst zu beobachten, zu experimentieren und zu Erkenntnissen zu gelangen, so dass neue Entdeckungen in der Anatomie und Physiologie gemacht wurden. Es zeigten sich auch erste Tendenzen hin zur Etablierung eines Arztberufes. Die Verwissenschaftlichung führte schrittweise zu einer Verdrängung des Heilberufes (Bader) und der traditionell Heilenden (Hebammen, Laienheiler und religiöse Heiler) durch studierte Ärzte. Erst Ende des 18. Jahrhunderts konnte die autonome medizinische Wissensproduktion mit den ersten Spitälern das System der Patronage ablösen. Die „Hospitalmedizin“ (Jewson) hat die Verwissenschaftlichung der Medizin eingeleitet und wurde in der „Laboratoriumsmedizin“ fortgesetzt, die mit der „bakteriologischen Revolution“ an den Universitäten entstanden ist (vgl. Lachmund 1987: 355). Das medizinische Ausbildungssystem wurde weiter verwissenschaftlicht, professionalisiert und vereinheitlicht. Eine damit verbundene und höhere Problemlösekompetenz trat allerdings noch immer hinter den berufspolitischen Ambitionen der Ärzteschaft zurück, sich denselben „transzendenten kognitiven Normen“ (Larson 1977: 36 in ebd.: 356) unterwerfen zu wollen, auch wenn der fulminante Zuwachs von medizinischem Wissen (bedingt auch durch den Vorstoß der Naturwissenschaften) positive Auswirkungen auf Diagnose- und Therapiemöglichkeiten in der Praxis hatte. 116 Die Heilkunde, die zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert überwiegend durch Mönche ausgeübt wurde.

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Zur gleichen Zeit etwa – in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – begann sich auch eine moderne wissenschaftliche und institutionelle Kinderheilkunde zu formieren. Sie wollte zum Wohle der Kindergesundheit Diagnostik und Therapie verbessern, weil die therapeutischen Möglichkeiten häufig noch auf die Gabe brechreizender oder abführender Mittel beschränkt waren. Die Heilkunde bei Kindern ist jedoch keine Entdeckung der Neuzeit, weil ihre Wurzeln bis in das 16. Jahrhundert vor Christus zurückreichen, die auf einem ägyptischen Papyrus nachweisbar sind. Der Begriff „Pädiatrie“ wurde erstmals im Jahre 1722 verwendet. Er setzt sich aus den griechischen Wörtern „pais“ (dt. „Kind“) und „iatros“ (dt. „Arzt“) zusammen und geht auf den Schweizer Arzt Theodor Zwinger (1658–1724) zurück, der sich um die Kinderheilkunde mit seiner Monographie „Kopf bis Fuß“ (1722) verdient gemacht hat (vgl. Hesse 2012: 10). Daraufhin erschienen weitere (wegweisende) Bücher zur Kinderheilkunde, darunter z. B. Dr. Johannes Storchs vierbändiges Werk „Theoretische und praktische Abhandlungen von Kinderkrankheiten“ (1750 / 1751), Nils Roséns „Anweisungen zur Kenntnis und Chur der Kinderkrankheiten“ (1765) oder Christoph Wilhelm Hufelands „Von den Krankheiten der Ungeborenen“ (1827). Die Vorväter der Kinderheilkunde haben die Weichen für die Entwicklung pädiatrischer Organisationsstrukturen hin zu einer akademischen Kinderheilkunde gelegt. Die eigenständige wissenschaftliche Ära begann mit der stationären Versorgung kranker Kinder in Kinderabteilungen, Krankenstuben oder Kinderhospitälern, die zum Forschungsfeld für Pädiater wurden, die u. a. versuchten, die kindliche Entwicklung durch klinische Beobachtungen und Befunde wissenschaftlich zu erfassen. Die Krankenbettperspektive bzw. der „klinische Blick“ hat sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickeln können, als Ärzte die Hospitäler besuchten, um sich mehrere Fälle der gleichen Krankheit herauszugreifen (vgl. Illich 2007: 117). Pädiater untersuchten bspw. das kindliche Wachstum in auxologischen Doktorarbeiten (vgl. Hesse 2012: 15), in deren Tradition auch Janusz Korczaks Überlegungen, die Kinder täglich zu messen und zu wiegen, stehen [auch wenn er nicht dazu gekommen ist die Daten, die er in seinen Waisenhäusern über Jahre akribisch gesammelt hat, auszuwerten]. Als fachlich-wissenschaftlicher Meilenstein gilt die Herausgabe des „Handbuches der Kinderheilkunde“ (1. Auflage 1877) durch Carl Gerhardt (1833–1902), an dem der Pädiatrie verbundene Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Ungarn, Russland und den USA beteiligt waren (vgl. ebd.: 14). Daraufhin wurde die erste „Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde“ in Freiburg gegründet (1883). Die Kinderheilkunde konnte sich im deutschen Sprachraum als universitäre Disziplin zuerst in Wien und Berlin etablieren. Hermann Widerhöfer (1832–1901) wurde 1884 erster ordentlicher Professor für Kinderheilkunde in Wien und ein Jahrzehnt später hat Otto Heubner (1843–1926) den ersten deutschen Lehrstuhl 143

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erhalten, dessen Nachfolger Adalbert Czerny (1963–1941) wurde. Den pädiatrischen Diskurs bestimmten seinerzeit auch Meinhard von Pfaundler (1872–1947) und Theodor Escherich (1857–1911). Als wissenschaftliche Pioniere der Kinderheilkunde beeinflussten und lehrten sie eine Riege von Nachwuchswissenschaftlern, die sich in der Theorie und Praxis der Kinderheilkunde verdient machten. Demnach war die frühe Neuzeit im Übergang zur Moderne für die Medizingeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der Pädiatrie im Speziellen sehr bedeutsam. Hier wurden die Weichen für ein ärztliches Handeln gelegt, das bis heute den Arztberuf prägt. Die Abkehr von der Scholastik (und einer Hörigkeit gegenüber den altgriechischen Medizinern) eröffnete neue Horizonte, welche in den Universitäten weiterverfolgt wurden und dazu beitrugen, dass in der Diagnose und Therapie vieler (Kinder-)Krankheiten enorme Fortschritte gemacht wurden. Der Rückblick in die Medizingeschichte verdeutlicht aber auch, wie jung die Kinderheilkunde als universitäre Disziplin und Profession noch ist, denn erst in den 1880ern war sie zu einem eigenständigen Fach an den (deutschsprachigen) Hochschulen geworden. Michael Kirchner hat in seinem Beitrag „Der diagnostische Blick Janusz Korczaks“ (1987) drei Erkenntnisse der Kinderheilkunde angeführt. Sie dienen mir als Überleitung von einer eher allgemeinen Betrachtung der Geschichte der Kinderheilkunde zu Janusz Korczak, dem Pädiater: • Dass das Kind kein „verkleinerter Erwachsener“, sondern in jeder Hinsicht einen Selbststand besitzt, war eine erste wichtige Erkenntnis der Kinderheilkunde. Kinderärztliche Beobachtungen haben bewiesen, dass das Kind in physischer wie psychischer Hinsicht nicht dem Erwachsenen gleichzustellen ist. • Die zweite wichtige Erkenntnis war, das Kind als Ganzes zum Objekt der Medizin zu machen. Die ganzheitliche Betrachtungsweise hat es mit sich gebracht, dass es von Anfang an zu einer Integration von außermedizinischen Fragestellungen und Therapie-Ansätzen gekommen ist. • Die dritte wichtige Erkenntnis war schließlich, dass der diagnostische Blick und die Therapie der Ärzte dem Kind „mit all seinen Nöten und Problemen“ zu gelten hat (vgl. Kirchner 1987: 67 ff.). Als sich Janusz Korczak als Pädiater im Berson-Bauman-Spital ausbilden ließ und während seinen Studienreisen in Berlin, Paris und London fortbildete, steckte die Kinderheilkunde noch in ihren „Kinderschuhen“ bzw. war noch eine „junge Disziplin“ (ebd.: 67). Der Kinderarzt wurde sowohl zum Zeugen als auch zum Mit-Gestaltenden der Pädiatrie als universitäre Disziplin und Profession. Seine „Pädiatrischen Arbeiten zur Säuglingspflege“ (SW Bd. 8), die er zwischen den Jahren

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1904 und 1911 verfasst hat, geben einen Ein- und Überblick über seine Belesenheit im Bereich der Kinderheilkunde. Auch wenn es in seinem Werk selten ist, bezieht sich Janusz Korczak in Beiträgen wie „Ein Tropfen Milch“ (1904), „Kleinkindwaage in der privaten Praxis“ (1909), „Über die Bedeutung des Stillens von Kleinkindern“ (1910) oder „Die Wandlung in den Auffassungen der natürlichen Ernährung im Verlauf von vier Jahren“ (1910) auf viele Kliniker, um Diskurse über das Wiegen, Stillen und die kindliche Ernährung nachzuzeichnen. Die Namen, Lebensdaten, Arbeiten und Verdienste der Kliniker, Wissenschaftler und Mediziner117 werde ich nachfolgend aufzählen: Janusz Korczak waren die Arbeiten118 (1) Léon Dufurs (1856–1928) – Pädiater und Begründer der „Milchtropfen-Bewegung“, (2) Johann Friedrich Ahlfelds (1843– 1929) – Professor für Gynäkologie, er wog sein eigenes Kind nach dem Gestillt werden sechs Monate und notierte das Gewicht, (3) Hermann Haehners (1851–n. 1906) – Pädiater, (4) Julius Uffelmanns (1837–1894) – Professor für Hygiene, der den Nutzen des Wiegens proklamierte, (5) Otto Heubners (1843–1926) – Professor für Kinderheilkunde und Begründer der ersten deutschen pädiatrischen Schule, (6) Adalbert Czernys (1863–1941) – Professor für Kinderheilkunde und Herausgeber des Buches „Der Arzt als Erzieher des Kindes“ (1908), (7) Heinrich Finkelsteins (1865–1942) – Professor für Kinderheilkunde und u. a. Mitarbeiter am „Handbuch / Lehrbuch für Kinderheilkunde“, (8) Friedrich Prinzings (1858–1935) – Arzt und Medizin-Statistiker, Verfasser des „Handbuchs der medizinischen Statistik“ (1906), (9) Nil Feodorovich Filatows (1847–1902) – Professor für Kinderheilkunde, der das „Lehrbuch der Infektionskrankheiten im Kindesalter“ (1885–1887) veröffentlichte, (10) Adolf Baginskys (1843–1918) – Professor für Kinderheilkunde, (11) Arthur Schlossmanns (1867–1932) – Professor für Kinderheilkunde und Mitbegründer der Sozialpädiatrie, (12) Arthur Kellers (1868–1934) – Professor für Kinderheilkunde und Begründer der „Monatszeitschrift für Kinderheilkunde“ (1903), (13) Alois Montis (1839–1909) – Kinderarzt in Wien, Arbeiten zum Stoffwechsel im Säuglingsalter und Nervenleiden im Kindesalter, (14) Gustav von Bunges (1844–1920) – Professor für Physiologie, auch er äußerte sich zum Stillen, (15) Eduard Dietrichs (1860–1947) – Professor für Medizinal- und Sanitätswesen und Mitherausgeber der „Zeitschrift für Säuglings- und Kinderkrankheiten“, (16) Adolphe P. Pinards (1844–1934) – Frauenarzt, Geburtshelfer und Kinderarzt, der in Paris eine Schule für Kinderpflege gegründet hat, (17) Joseph Jules Marie Parrots (1839–1888) – Kinderarzt und Leiter der Pariser Findelanstalt, (18) Armand Trousseaus (1801–1867) – Internist und u. a. Entdecker des T-Phänomens (Pfötchenstellung der Hand bei Kompression des Oberarms), (19) Pierre Emile Duclax´s (1840–1904) – Professor für Biologische Chemie und Mitbegründer der „Volkshochschulen“, (20) Bernard Jean Antonin Marfans (1858–1941) 117 Ich verzichte auf die weiblichen Formen, weil Janusz Korczak nur auf eine Frau Bezug genommen hat. 118 Einige Namen wurden bereits genannt, sollen aber im Literaturkanon vollständigkeitshalber mit aufgeführt werden. 145

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

– Professor für Innere Medizin und Kinderheilkunde, (21) Charles Félix Michel Peters (1824–1893) – Professor für Klinische Medizin und Bekämpfer von Infektionskrankheiten, (22) Alois Epsteins (1849–1918) – Professor für Kinderheilkunde und Verfechter der rigorosen Antisepsis, (23) Jaques Joseph Granchers (1843–1907) – Pädiater, der den Lehrstuhl für Kinderkrankheiten nach Parrot inne hatte, (24) Eugéne Terriens (?–1943) – Professor für Kinderheilkunde und Leiter einer Kinderklinik, (25) Pierre Constant Budins (1846–1907) – Professor für Gynäkologie und Initiator der „Mütterschulen“, (26) Johann Christian Reils (1759–1813) – Anatom und Hauptvertreter des „Vitalismus“, (27) Samuel Thomas von Soemmerings (1755–1830) – Anatom, (28) Max Stumphs (1852–1925) – Professor für Gynäkologie und Entdecker des Coli-Bakteriums, (29) Theodor Escherichs (1857–1911) – Professor für Anatomie und Entdecker der „A-Protoplasmatheorie“, (30) Francis Bullers (1844–1905) – Anatom und Assistent Virchows im Berliner Militärspital, (31) Sir Arthur Hardens (1865–1940) – Professor für Biochemie in London, (32) Josef von Kerschensteiners (1831–1909) – Referent für das Bayerische Medizinalwesen im Ministerium des Innern, (33) Otto von Bollingers (1852–1909) – Professor für Pathologie, (34) Bronisława Dłuskas (1865–1939) – Ärztin, Schwester Marie Curies und Begründerin einer Lungenheilstätte in Zakopane, (35) Alfred Hegars (1830–1914) – Professor für Gynäkologie, der zur frühesten Schwangerschaftsperiode arbeitete, (36) Franz Karl Ludwig Winckels (1837–1911) – Professor für Gynäkologie, (37) Jean Marie Jacquemiers (1806–1879) – Geburtshelfer und Frauenarzt, Herausgeber des „Handbuchs der Geburtshilfe für Hebammen“ (1853), (38) Louis Odiers (1836–1879) – Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie, (39) Natalis Guillots (1804–1866) – Professor für Pathologie, (40) Eduard Kasper Jakob von Siebolds (1801–1861) – Geburtshelfer, der die zwei Bände „Versuch einer Geschichte der Geburtshilfe“ (1839 bis 1845) veröffentlichte, (41) Lambert A. J. Quételets (1796–1874) – Anthropologe, der den „Q-Index“ (Quotient aus Körpergewicht und Körperlänge als Körperbauindex) bestimmt hatte, (42) François Chaussiers (1746–1828) – Anatom, (43) Clemens Johannes von Pirquets (1874–1929), Professor für Pädiatrie, der auf dem Gebiet der Allergologie forschte, (44) Max Runges (1849–1909) – Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie, der „Die Krankheiten der ersten Lebenstage“ (1885) publizierte, (45) Léon Petits (1869–?) – ein Schüler Pinards, (46) Giovanni Battista Morgagnis (1682–1771) – Anatomieprofessor, (47) Charles Michel Billards (1800–1832) – Mitbegründer der französischen Pädiatrie, (48) Edourd Hervieux´s (1818–1905) – Professor für Kinderheilkunde, (49) Auguste Adrien Olliviers (1833–1883) – Mediziner, (50) Jean Baptiste Vioctor Théophile Roussels (1816–1903) – Mediziner, der im Jahre 1873 der Pariser „Medizinischen Akademie“ den ersten Gesetzesentwurf über den Säuglingsschutz vorlegte, (51) François Joseph Hergotts (1814/1815–1907) – Professor für Chirurgie und Leiter einer Hebammenschule, (52) Alfred Louis Becquerels (1814–1866) – Mediziner, der sich ausführlichen Studien der Analyse des Harns zu Zwecken der Diagnose widmete, (53) Eugéne Bouchuts (1818–1891) – Professor für Kinderheilkunde, der das „Handbuch der Kinderkrankheiten“ verfasste und (54) William Preyers (1841–1897) – Professor für Entwicklungspsychologie, bekannt.

Die Aufzählung zeigt, dass sich Janusz Korczak vor allem mit den Werken deutscher und französischer Kliniker wie Wissenschaftler und Mediziner auseinandergesetzt

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hat. Da nicht alle Werke ins Polnische übersetzt waren, profitierte er von seinen Fremdsprachenkenntnissen, die ihm einen breiteren Zugang zum modernen medizinischen Wissen ermöglichten bzw. ihn den bereits bekannten Literaturkanon erweitern ließen. Dabei kamen ihm vor allem seine Aufenthalte in Berlin und Paris zu Gute, wo er in den großen Bibliotheken Zugang zu Handbüchern, Lehrbüchern und Zeitschriften hatte, auch wenn er darauf hinwies, dass man imstande sein müsse, „die Hieroglyphen des Laboratoriums und das Esperanto der Klinik in die Muttersprache zu übersetzen und auf den authentischen Einzelfall zu beziehen“ (SW Bd. 8: 100). Weil er die unter Laboratoriums-Bedingungen gewonnenen Erkenntnisse der französischen und deutschen Kliniker nicht immer in den Warschauer Vierteln anwenden konnte, war ihm der Transfer der Theorie in die Praxis des Einzelfalls zum obersten Grundsatz geworden.

Janusz Korczak in Berlin oder Nachdenken darüber, was er bereits wusste Janusz Korczak verdankte sein wissenschaftliches Denken seiner medizinischen Ausbildung zum Mediziner und Pädiater. Um seinen Bildungskanon zu erweitern, begab er sich nach dem Studium an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau auf die Suche nach alternativen Bildungsorten fern der nationalisierten Bildungspolitik der russischen Besatzungsmacht. Während seiner Anstellung im Kinderspital unternahm der junge Arzt insgesamt drei (medizinische) Studienreisen, die er auch mit seinem pädagogischen Interesse verband. Seine erste Studienreise führte ihn 1907 nach Berlin. Auch wenn die französische Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftlichen Erkenntnisse und klinische Praxis in besonderem Maße geprägt hat, konnte die deutsche Medizin im Allgemeinen und die Pädiatrie im Speziellen durch zahlreiche Klinikgrundlagen aufholen und der medizinischen Arbeit eine andere organisatorische Basis geben (vgl. Peter 2013: 263). Nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin wurde Medizingeschichte geschrieben. Das älteste Krankenhaus (die Charité) war 1709 gegründet worden und hat in den Jahren zwischen 1870 und 1918 ein hohes Ansehen erlangt. Das Engagement vieler Ärzte hat zum medizinischen Fortschritt und zur internationalen Bekanntheit der Klinik beigetragen. Zu nennen bzw. zu erinnern sind Rudolf Virchow (1821–1902, Begründer der modernen Pathologie), Hermann von Helmholtz (1821–1894, u. a. Erfinder des Augenspiegels und Ophtalmeters), Robert Koch (1843–1910, Begründer der Bakteriologie und Entdecker des Tuberkuloseerregers), Paul Ehrlich (1854–1915, erster Entwickler einer medikamentösen Behandlung der Syphilis und Begründer der Chemotherapie) und Emil Adolf von Behring (1854–1917, Immunologe und Serologe, der u. a. ein Heilmittel gegen Diphterie und Tetanus gefunden hat). 147

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Außerdem galt Berlin als Zentrum der neu aufkommenden Heilpädagogik (vgl. Göppel 2004: 138). Ein Grund, warum es Janusz Korczak wohl auch zuerst nach Berlin gezogen hat, auch wenn seine Biographin Betty Jean Lifton meint, in Janusz Korczaks Berlinreise die Fortsetzung der Tradition Jan Władysław Davids und anderer polnischer Intellektueller zu erkennen, die sich von Deutschland Erleuchtung und Wissen erhofften (vgl. Lifton 1990: 76).119 Tatsächlich gab es unter den Warschauer Ärzten eine Debatte darüber, welchen Wert medizinische Studien an ausländischen Kliniken hatten. Während das eine „Lager“ eine Spezialisierung im Ausland forcierte, weil „hausgemachte“ Spezialisten nur Halbgebildete seien; befand das andere einen Auslandsaufenthalt als gesellschaftsschädigende Modeerscheinung, wie auch Zeit- und Geldverschwendung (vgl. SW Bd. 8: 30). Janusz Korczak war jemand, der beide Standpunkte in der öffentlichen Debatte (mit) diskutierte. Er traf schließlich die Entscheidung, sich von den gesellschaftlichen, kollegialen und familiären Verpflichtungen in Warschau für etwa ein Jahr zu befreien. Berlin erschien ihm als geeigneter Ort, um einen Einblick in die Arbeitsweise diverser Kinderkliniken und das Wesen karitativer Arbeit zu erhalten. Im Stadtgebiet Berlins lebten 1907 / 08 etwa 2,7 Millionen Menschen. Darunter waren 3.538 Ärzte, so dass auf etwa 756 Einwohner ein Arzt kam. Es gab mehr als 78 allgemeine Heilanstalten mit insgesamt 10.356 Betten und 94 Privatkrankenanstalten. Die Charité wurde in den Jahren zwischen 1897 und 1916 erneuert und die Medizinische Fakultät ist aufgeblüht. Zu diesem Zeitpunkt lehrten neben 72 Professoren 118 Privatdozenten die etwa 1.200 immatrikulierten Medizinstudenten. Janusz Korczak war einer von ihnen und nutzte als Gasthörer die Zeit in Berlin, um sich theoretisch fortzubilden, praktische Erfahrungen zu sammeln und unterschiedliche psychiatrische wie pädagogische Einrichtungen kennen zu lernen. Er besuchte die „Ferienkurse für praktische Ärzte“ der „Dozenten-Vereinigung zu Berlin“ (vier Wochen vom 30. September bis 26. Oktober), die im Gegensatz zu den Weiterbildungsvorträgen auch für ausländische Ärzte zugänglich waren. Zwei bis dreimal wöchentlich hörte er für eine Stunde Referenten unterschiedlichen Ranges, mit und ohne Vorführungen, mit praktischen Übungen an Patienten / Patientinnen und anatomischen Modellen, die er als einen großen „Jahrmarkt des Wissens“ (SW 119 Seit der Antike ist das Reisen ein kulturgeschichtliches Phänomen, das sich durch ein vorübergehendes Verlassen des Wohnortes auszeichnet. Als anthropologische Konstante fördert es die Identitätsbildung der Reisenden. Das europäische Reisen entfaltete seine Blüte im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert, als die konfessionellen Schranken innerhalb des Adels gefallen sind und sich eine Kulturform des Reisens in Kontrast zur Zweckreise herausbilden konnte. Es erhielt seinen sozialen und kulturellen Mehrwert durch einen Zugewinn von Qualifikationen oder ideellen Werten. Neben der Kavalierstour (eine Form der Adelsreise) konnte sich vor allem die Bildungsreise etablieren.

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Bd. 8: 34) beschrieben hat. Janusz Korczak stand diesem „Verkauf von Wissen nach Taxwert“ (ebd.: 35) sehr kritisch gegenüber. Namenhafte Professoren wie Gustav Brühl (1871–1939, Professor für HNO), Richard Oestreich (1864–1922, Professor für Pathologie) und Erich Müller (1868–1952, Professor für Kinderheilkunde) boten ihr Wissen für viel Geld feil. Weil es in Warschau kein Geld, sondern „nur Nächstenliebe und reine unbefleckte Liebe zur Wissenschaft“ (ebd.: 35) gegeben habe, war den polnischen Medizinern zu Hause nur die sorgfältige Pflege ihrer Sentimentalität geblieben. Dass Ärzte für die Behandlung von Patienten und Patientinnen Honorare nahmen, war üblich. Aber von einem Kollegen Geld dafür zu verlangen, dass er sein Wissen weitergab, war für Janusz Korczak nur schwer nachvollziehbar. Er hieß eine „Wissenschaft für die Reichen“ (ebd.: 42) nicht gut, so dass er von der Vielzahl privater Vorträge nur einen besuchte bzw. „erkaufte“, um in der Klinik als Schüler bevorzugt behandelt zu werden. Er wollte bei Otto Heubner (Begründer der pädiatrischen Physiologie) in der Charité hospitieren, doch gibt es keine Hinweise darauf, dass er einen der Väter der deutschen Kinderheilkunde auch tatsächlich getroffen hat bzw. sein Hospitant war. Stattdessen hat er mit großer Wahrscheinlichkeit die Arbeit der deutsch-jüdischen Kinderärzte Adolf Baginsky (1843–1918) und Heinrich Finkelstein (1865–1942) kennen gelernt. Baginsky war von 1890 bis 1918 Direktor des „Kaiser und Kaiserin Friedrich-Krankenhauses“, das hauptsächlich infektiöse Kinderkrankheiten behandelte. Nach seinem Tod wurde er von Finkelstein abgelöst, der bis dahin leitender Oberarzt des „Kinderasyls“ und „Städtischen Waisenhauses“ war. In seiner Arbeit verband er wie Janusz Korczak sein medizinisches Können mit einem sozialen Engagement. Beide – Baginsky wie Finkelstein – profilierten sich bezüglich der Diagnostik und Therapie durch präzise und geduldige Beobachtungen und Beschreibungen des erkrankten und jeweils einzigartigen Kindes (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 74). Janusz Korczak begleitete während der Wintermonate die Aufnahme von ambulanten Krankheitsfällen im Kinderkrankenhaus. Hier interessierte sich der junge Arzt vor allem für das Verhältnis der hygienisch-diätischen Beratungen zur Zahl der ausgestellten Rezepte. Daneben galt sein Interesse auch dem differenzierten Berliner Fürsorge-, Anstalts- und Hilfsschulwesen (vgl. Göppel 2004: 137). Er besuchte das „Ambulatorium der psychiatrischen Klinik“ an der Charité, die seinerzeit von Theodor Ziehen (1862–1950), einem Professor für Psychiatrie und Neurologie, geleitet wurde und das „Zentralinstitut für alle Spitäler und Anlaufstelle für erblich belastete Kinder“ (SW Bd. 8: 59). Darüber hinaus nahm Janusz Korczak an Kontrollbesuchen in einer „Hilfsschule im Spital für geistig Behinderte“ in Dalldorf teil, auf dessen Gelände auch eine „Internatsschule für idiotische Kinder“ untergebracht war und lernte die Arbeitsweise der „Zwangserziehungsanstalt für verwahrloste Knaben“ in Lichtenberg kennen, die später als „Lindenhof“ von Karl Wilker (1885–1980) 149

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ein neues pädagogisches Profil verliehen bekam. In „Sorgenkinder“ (1909) erwähnt er zudem die „Städtische Anstalt für Epileptiker“ in Berlin-Wuhlgarten und das Erziehungsheim in Berlin-Zehlendorf, das vom „Verein zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder“ geführt wurde (vgl. ebd.: 59). Es ist nicht bekannt, ob Janusz Korczak auch jüdische soziale Einrichtungen besucht hat, deren es in Berlin im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sehr viele gab. Vor allem im Berliner Norden waren Kinder- und Jugendheime auf Initiative der Jüdischen Gemeinde, eigenständiger Vereine oder privatem Engagement gegründet, geleitet und geführt worden. Sie haben das soziale Profil Pankows und Niederschönhausens mit geprägt (vgl. Lammel 2008: 115). Darunter war auch das „II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde in Berlin“, dessen Geschichte gut dokumentiert ist. Hier waren eine humanistische Erziehung und Ausbildung der Zöglinge im Kindes- und Lehrlingsalter maßgeblich. Anfangs ist der Umgang mit ihnen noch autoritär gewesen, doch nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Psyche des Kindes stärker in den Mittelpunkt der erzieherischen Arbeit gerückt. Spätestens mit der Übernahme des Hauses durch Isidor Grundwald (1925) ist ein freiheitlicherer Geist in der Erziehung eingezogen (vgl. ebd.: 126 f.). Wie im „Dom Sierot“ wurden demokratische Beschwerdemöglichkeiten und ein geheim gewähltes Lehrlingsgericht eingeführt (ebd.: 126). Erhaltene Fotos, die das Alltagsleben im II. Waisenhaus abbilden, ähneln jenen des „Dom Sierots“. Sie zeigen Zöglinge bei der Hausarbeit, beim Kartoffelschälen, im Garten oder beim Theaterspiel und Musizieren (ebd.: 126 ff.). Außerdem wurden ihnen im Sommer Ferien an der Ostsee oder im Riesengebirge ermöglicht, vergleichbar mit den Fahrten in die Sommerkolonie „Röschen“, die ebenso der Erholung der Kinder dienen sollten. Zwar wurden die Neuerungen des II. Waisenhauses überwiegend nach Janusz Korczaks Aufenthalt in Berlin eingeführt, doch zeigen sich Parallelen bzw. Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Leitung und Gestaltung des Alltags der Zöglinge. Abbildung 12 soll abschließend die Personen und Institutionen noch einmal zusammenfassen, auf die Janusz Korczak während seines Berlin-Aufenthaltes getroffen ist. Sie orientiert sich im Wesentlichen an Bernd Graubners Beitrag „Korczaks Aufenthalt in Berlin (1907 / 08)“ (1982), in dem er den Hinweisen in Janusz Korczaks Schriften nachgegangen ist:

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Abb. 12 Janusz Korczak in Berlin nach Graubner 1982: 148 ff.

Das Berliner Heute, das Janusz Korczak kennen lernte, wünschte er sich auch für das Warschauer Morgen. Er sehnte sich nicht nur ein Ende der Ära der Klosterspitäler unter den Patronaten von Heiligen und Philanthropen herbei, sondern auch dass die Ärztevereinigungen nicht mehr illegal im Untergrund agieren mussten. Ihm war auch positiv aufgefallen, wie im Deutschen Reich mit ansteckenden Krankheiten umgegangen wurde. Außerdem war bereits die Schulpflicht eingeführt und selbst die Kinder armer Eltern besuchten täglich den schulgeldfreien Unterricht, was der junge Arzt als einen ersten Schritt zur Sozialisierung der Erziehung erachtet hat (vgl. ebd.: 43). Durch seinen Studienaufenthalt in Berlin wurde Janusz Korczak nochmals vor Augen geführt, dass Polen dem Westen Europas in seiner sozialpolitischen und (sozial-)medizinischen Entwicklung hinterher war. Der Stand des staatlichen Gesundheits- bzw. Spitalwesens und der allgemeinen öffentlichen Hygiene war durch die russische Bürokratie im Königreich Polen über viele Jahre gehemmt worden. Im Jahre 1861 hat es auf 10.000 Warschauer und Warschauerinnen 82,9 und 1902 151

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nur noch 39 Spitalbetten gegeben; 1852 hat man in Warschauer Spitälern 28.349 und 1901 29.859 Kranke versorgen können, obwohl sich die Einwohnerzahl mehr als verdreifacht hat (vgl. SW Bd. 8: 212). Daneben fehlte es in den Spitälern an Platz, der allgemeine Verpflegungssatz war gering, der Zustand der Desinfektion in beklagenswertem Zustand und das (niedere) Pflegepersonal unausgebildet und schmutzig (vgl. ebd.: 212). Ungeachtet der besseren zeitlichen Bedingungen (in ihrer Quantität), weil Janusz Korczak in Berlin keine weiteren Verpflichtungen hatte, waren auch die Möglichkeiten für Medizinstudenten und Mediziner (in ihrer Qualität) in vielen Punkten besser. Es war im Deutschen Reich bspw. möglich, ein Mikroskop120 auf Ratenzahlung zu erwerben, während man in Warschau dafür ein paar hundert Rubel aufwenden musste. Janusz Korczak machte den Handel und die Industrie dafür verantwortlich, dass es solche Annehmlichkeiten gab, die ihm sein Heimatland nicht bieten konnte. Außerdem war der Zugang zum aktuellen Stand diverser Wissensgebiete leichter, weil die zugehörigen Publikationen kostenlos oder gegen ein nur geringes Entgelt in einer Leihbibliothek zugänglich waren (vgl. Graubner 1982: 34). Man darf vermuten, dass die schriftliche Dokumentation zum „Kongress für Kinderforschung“, der 1907 erschienen ist, zu diesem Korpus gehörte (vgl. Göppel 2007: 23). Zu den Initiatoren des Kongresses gehörten Theodor Ziehen (1862–1950, Neurologe, Psychiater, Psychologe und Philosoph) und die Herausgeber der „Zeitschrift für Kinderforschung“ Johannes Trüper (1855–1921, Pädagoge und Mitbegründer der Heilpädagogik) und Wilhelm Münch (1843–1912, Pädagoge und Regierungsrat). Der Kongress war interdisziplinär ausgerichtet und versammelte neben Pädiatern auch (Heil-)Pädagogen, Kinderpsychologen und Kinderpsychiater. Adolf Baginsky hielt einen der Plenarvorträge über „Die Impressionabilität des Kindes unter dem Einfluss des Milieus“. Ernst Meumann (1862–1915, Experimentalpsychologe und Begründer der Experimentellen Pädagogik in Deutschland) sprach über „Die wissenschaftliche Untersuchung der Begabungsunterschiede der Kinder und ihre praktische Bedeutung“ und William Stern (1871–1938, Psychologe und Begründer der Differentiellen Psychologie) über „Die Grundlagen der Psychogenesis“. Rolf Göppel bringt in seinem Beitrag „Kindheitsforschung damals und heute“ (2007) den Horizont der pädiatrischen, kinderpsychologischen und heilpädagogischen Kindheitsforschung, dem Janusz Korczak sehr wahrscheinlich begegnet ist, auf den Punkt. Seine pointierte Darstellung möchte ich aufgreifen und zusammenfassen:

120 Mikroskope gehörten zu den Werkzeugen früher medizinischer Arbeitsstätten und waren im 19. Jahrhundert zum Symbol des medizinischen Forschers geworden (vgl. Bynum 2010: 131 f.).

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• Ein Grundsatz der deutschen Kindheitsforschung war die Forcierung einer angemessenen Betreuung, Erziehung, Fürsorge, Ernährung und Hygiene der Kinder. • Dabei engagierten sich die Kindheitsforscher für „die Sache des Kindes“, wobei das Nachdenken über das Generationenverhältnis noch immer unhinterfragt von einer Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Erwachsenen für die Kinder ausging. • Außerdem begeisterten sich die Kindheitsforscher zunehmend für die körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungsprozesse des Menschen, so dass sie Erkenntnisse über die „Psychologie des Kindes“ vorantrieben. • Die Kindheitsforschung bildete einen Kontrast zur Reformpädagogik, weil sie ein „nüchternes ‚wissenschaftliches‘ Interesse für die Natur des Kindes“ und ein „pragmatisch-sozialreformatorisches Interesse an der Verbesserung ganz konkreter Aspekte kindlicher Lebenswelten“ hegte, das eine „religiöse oder mythologische Verklärung des Kindes“ und die „sozialreformatorische Utopie, durch eine neue Erziehung einen neuen Menschen schaffen zu wollen“ (Ellen Key 1900 / 1902) in den Hintergrund treten ließ. • Die Kindheitsforscher handelten mit dem Anspruch „strenger Wissenschaftlichkeit“ und nutzten das „psychologische Laboratorium“, um sich auf bestimmte Einzelfunktionen zu konzentrieren. • Methodisch folgten sie dabei einer „Tradition genauer und subtiler Beobachtungen und Aufzeichnungen aus dem familiären Alltagsleben mit Kindern“121. • Das Interesse der Kindheitsforscher richtete sich neben den „kreativen Hervorbringungen des kindlichen Geistes“ (wie Kindersprache, Kinderspiel und Kinderzeichnung) auch auf die „Vielfalt der Kindesnaturen“ (wie interindividuelle Differenzen, kindliche Typen, Charaktere, Temperamente und Begabungen). • Deren Unterschiede sollten systematisch erfasst und geordnet werden, wobei die „Faszination für seelische „Auffälligkeiten“, „Abweichungen“, „Abnormalitäten“ und die Problematik der Diagnostik und „Behandlung“ dieser Phänomene“ vorherrschend war. • Auch wenn sich bereits ein „Bewusstsein von den schädlichen Milieueinwirkungen“ herausgebildet hatte, war ein „psychiatrisches Denken“, das von „erblichen Dispositionen“ ausging, leitend. Kinder als „psychopathisch“, „neurasthenisch“ oder „nervös“ zu bezeichnen, galt als Fortschritt gegenüber ihrer Einschätzung als „bösartig“, „sittlich verfehlt“ oder mit „mangelnder Willensschwäche“ ausgestattet. 121 Zu erinnern sind z. B. die Aufzeichnungen des Ehepaars Clara und William Stern. Ihre Tagebücher versammeln dichte Beschreibungen von Beobachtungen, wie sie später nicht wieder erreicht wurden. 153

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• Die Kindheitsforscher stellten deshalb sozialhygienische Forderungen, die auf eine Verbesserung der Wohn-, Arbeits-, Erziehungs- und Ernährungsverhältnisse gerade in den unterprivilegierten Schichten abzielten, deren Elendszustände drastisch geschildert wurden, um Verbesserungen herbei führen zu können. • Dabei verstanden die Kindheitsforscher Kindheit als Lebensphase und durchgängig naturhaftes Phänomen, das weder historisch relativ noch veränderbar war (vgl. Göppel 2007: 26 ff.). Rolf Göppels Beitrag umspannt den Stand der Kindheitsforschung im Berlin nach der Jahrhundertwende. Er zeigt, dass das Kind im 20. Jahrhundert in den Fokus eines interdisziplinären Forschungsfeldes gerückt ist, an dem sich neben Pädiatern und Kinderpsychologen auch Heilpädagogen beteiligt haben. Im Vergleich zur Medizin waren die Kinderpsychologie und die Heilpädagogik noch jüngere, wissenschaftliche Forschungsgebiete, die sich erst im 19. Jahrhundert als anerkannte Wissenschaften etabliert haben, auch wenn ihre Geschichte länger zurückreicht. Zwar wurde nun das Kind von den Kindheitsforschern als Ganzes be- und erforscht, doch eine defizitäre Perspektive bestimmte weiterhin den Blick auf das Kind und seine Lebensverhältnisse. Von Interesse waren Abnormitäten und deren Erklärung; oder wenn die Kinder in einem Milieu aufwuchsen, das als schädlich galt, so dass ihre Gesundheit tangiert wurde. Die beteiligten Disziplinen bestimmten den Blick auf das Kind und erst die Sozialhygiene bzw. Sozialmedizin schlugen eine Brücke zum Nachdenken darüber, was Kinder brauchen, um unter verbesserten Wohn-, Arbeits-, Erziehungs- und Ernährungsverhältnissen aufwachsen zu können. Und Janusz Korczak? Er schreibt resümierend über seinen Aufenthalt im deutschen Kaiserreich: „Das Berliner Krankenhaus und die deutsche medizinische Literatur lehrten mich, über das nachzudenken, was wir wissen, und langsam und systematisch vorzugehen. […] Berlin, das war ein Arbeitstag voller kleiner Sorgen und Bemühungen […]. Die Technik der Vereinfachung, die Erfindungsgabe im Kleinsten, die Ordnung der Details – brachte ich aus Berlin mit“ (SW Bd. 4: 201).

Von dort reiste er weiter in die Schweiz, wo er einen Monat in einer neurologischen Klinik mitarbeitete. Er setzte sich auch weiter mit dem Werk Pestalozzis auseinander und kehrte schließlich nach Warschau in das Berson-Bauman-Spital zurück.

Janusz Korczak in Paris oder „Der Traum von der großen Synthese des Kindes“ Die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ wurde 1908 gegründet. Janusz Korczak ist ihr noch im selben Jahr als aktives Mitglied beigetreten und beteiligte sich maßgeblich

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an ihrer Profilbildung. Er setzte sich dafür ein, dass auch ein Fokus auf die Organisation betreuerischer und erzieherischer Arbeit und nicht allein auf die karitative Unterstützung der Allerärmsten gelegt wurde (vgl. Lewin 1998: 13). Die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ engagierte sich zu jener Zeit für ein Kinderheim in der Dzika-Straße 5. Wegen seiner schlechten Führung fanden seine kleinen Bewohner und Bewohnerinnen auf Initiative der Gesellschaft in den Räumen des Vorstandes ein provisorisches zu Hause. Es war die Geburtsstunde des „Dom Sierots“, als die Gesellschaft im Jahre 1909 Räumlichkeiten in der Franciszkańka-Straße 2 anmieten und nach europäischem Standard einrichten (vgl. SW Bd. 16: 69) konnte. Noch im selben Jahr ging Janusz Korczak erneut auf Reisen, um sich fortzubilden. Seine zweite Studienreise führte ihn nach Frankreich. Die französische Hauptstadt war zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848 zum „Mittelpunkt der medizinischen Welt“ (Bynum 2010: 65) geworden, deren direktes Zentrum von den Pariser Hospitälern gebildet wurde (vgl. ebd.: 65). Die Hilfsmittel und Einstellungen der medizinischen Ausbildung und Praxis verbreiteten sich von dort in die gesamte westliche Welt. In den Ärzteschulen trat die Theorie allmählich hinter der Praxis zurück und das chirurgische Denken hielt in die eigentliche Medizin Einzug. Die französische Hospitalmedizin begründete eine neue Sichtweise auf Krankheit und ruhte im Wesentlichen auf drei Säulen. Die physische Diagnose, die Korrelation von Klink und Pathologie wie auch der Einsatz einer großen Fallzahl, um diagnostische Kategorien zu entwickeln und Therapien zu bewerten, sind noch heute grundlegende Kriterien der medizinischen Praxis (vgl. ebd.: 68). Janusz Korczak fand auch in Paris eine moderne medizinische Landschaft vor, die sich deutlich von der Warschaus unterschied. Im deutschen Kaiserreich und in Frankreich hat die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Medizin stark zugenommen. Die medizinische Arbeit im Labor war neben die Medizin am Krankenbett getreten und im „Pantheon der Medizin“ genoss vor allem der „heilige Louis“ (ebd.: 138) sehr viel Anerkennung. Louis Pasteur (1822–1895, im Übrigen gar kein Mediziner, sondern Physiker und Chemiker) war wie Robert Koch darum bemüht, zu beweisen, dass epidemische Krankheiten auf Mikroorganismen zurückgeführt werden könnten. Pasteur war weder der Entdecker der Bakterien (und anderen Mikroorganismen) noch hat er den Begriff „Krankheitserreger“ eingeführt, aber „seine ab den 1850er Jahren angestellten Forschungen zeigen eine wunderbare inhärente Logik“ (ebd.: 139). „Was für eine großartige Gestalt, was für ein wunderbares Leben um die Wahrheit“ (SW Bd. 13: 13).122 122 Janusz Korczak hat 1938 eine Biographie über Pasteur angekündigt. Die Faszination für das Leben Pasteurs wurzelte in seiner Studienzeit, so dass er in Paris auch seine Wirkungsstätte aufsuchte (vgl. SW Bd. 16: 224). 155

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Janusz Korczak ist in Paris mit Antoine Bernard-Jean Marfan (1858–1942), der ab 1914 den ersten Lehrstuhl für kindliche Hygiene inne hatte und Victor Henri Hutinel (1849–1933), der unter anderem vier Bände über Kinderkrankheiten (1907) publiziert hat und Gründer der „Association Internationale de Pédiatrie“ war, bekannt geworden. Beide erwähnt er in seinem „Tagebuch – Erinnerungen“. Von ihnen lernte er, Kindern mit rheumatischen Erkrankungen Salicyl123 zu verabreichen (vgl. SW 15: 319). Die französische Hauptstadt lehrte ihn außerdem, „über das nachzudenken, was wir nicht wissen, aber wissen wollen, müssen und werden. Paris, das war der Feiertag eines künftigen Morgens mit seinem glänzenden Vorgefühl, seiner machtvollen Hoffnung und seinem unerwarteten Triumph“ (SW Bd. 4: 201). Die Stadt schenkte ihm „Willenskraft, den Schmerz der Unwissenheit [und] die Lust des Forschens“ (ebd.: 201). In Paris las er die Werke der klassischen französischen Kliniker, besuchte regelmäßig die Bibliothek und träumte von „der großen Synthese des Kindes“ (ebd.: 201). Außerdem lernte er Besserungsanstalten und Waisenhäuser kennen. In einem der Pariser Kinderheime hat ihn besonders beeindruckt, dass es zweierlei Treppengeländer gegeben hat, ein höheres für die Erwachsenen und ein niedrigeres für die Kinder (vgl. SW Bd. 4: 76).

Janusz Korczak in London oder die Entscheidung für „die Sache des Kindes“ „Alle zwei Minuten ein Automobil-Omnibus nach Bank – ein Penny, von Bank mit der Untergrundbahn zur Station Victoria – zwei Penny. Vom Bahnhof Victoria mit der elektrischen Straßenbahn nach Forest Hill.“ (SW Bd. 7: 305)

1911 trat Janusz Korczak seine dritte (Bildungs-)Reise an, die ihn in den Sommermonaten vier Wochen nach London führte. Neben Berlin und Paris bot ihm auch die britische Hauptstadt sehr viel: Großbritannien hatte seinerzeit in Bezug auf die Hygiene- und Gesundheitsbewegung viele Erfolge zu verzeichnen. Ein Produkt der Industrialisierung und Verstädterung war u. a. das wachsende Interesse an der Volksgesundheit (vgl. Bynum 2010: 121). Die Medizin ist durch statistische Erhebungen, Überwachung und die statistische Signifikanz quantifiziert worden. Die „Poor Law Commission“ hat 1832 die erste landesweite Erhebung durchgeführt und einen detaillierten Fragebogen an jede Gemeindeverwaltung geschickt, die mit der Armenpflege betraut war (vgl. ebd.: 121). Das „British Health Movement“ war 123 Salicyl(-säure) dient zur Herstellung der Acetylsalicylsäure, auch bekannt unter dem Markennamen Aspirin. Es wird zur Schmerzstillung, Entzündungshemmung und Gerinnungshemmung verordnet. Mit ihm war 1899 eine Ära der neuen Drogen angebrochen (vgl. Illich 2007: 53).

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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bemüht, einen Zusammenhang zwischen Armut, Überfüllung und epidemischen Krankheiten durch „die Macht der Zahlen“ (ebd.: 122) nachzuweisen. Auf diese Weise wurden auch gesellschaftliche Fragen von medizinischer Relevanz gestellt und beantwortet. Es „galt Daten zu evaluieren: im Krankenhaus, in der Gemeinschaft, im Labor. Die mathematischen und statistischen Werkzeuge, um dies zu erreichen, gewannen in der modernen Forschung zu Gesundheitsfragen und Krankheitsprävention immer stärker an Bedeutung“ (ebd.: 128). An dieser Stelle lässt sich eine Brücke zu Janusz Korczak schlagen, denn auch er bediente sich statistischer Werkzeuge, nur setzte er sich als Sozialmediziner eher mit medizinischen Fragen von gesellschaftlicher Relevanz auseinander. Janusz Korczak berichtet von seinem Aufenthalt in London in der Zeitschrift „Światło“ (dt. „Licht“). Der Artikel erschien im Januar 1912. In ihm schildert er seine Begeisterung für den Vorort Forest Hill. Dort gab es eine Schule, die über Beete, einen kleinen botanischen Garten, ein Aquarium, ein Vivarium124 und eine Werkstatt unter freiem Himmel verfügte (vgl. ebd.: 306). Neben der Schule stand ein kleines Museum, „gerade so viel, wie man für eine Schule braucht“ (ebd.: 306). Außerdem gab es ein Waisenhaus. „Zwei einstöckige Häuschen, einander ähnlich wie Zwillinge. In jedem [waren] dreißig Kinder. Die Mädchen [hatten] eine Wäscherei, eine Nähstube und Stickerei, die Jungen – Werkstätten. Außerdem [gingen] sie zur Schule“ (ebd.: 307). Es ist wahrscheinlich, dass er das „Shaftesbury House“ und das „Louise House“ besucht hat (vgl. Veerman in SW Bd. 16: 81). Diese Einrichtungen gehörten zu den frühen reformpädagogischen Arbeitsschulen („Industrial Schools“). Janusz Korczak war von seinem Besuch in London sehr angetan, denn hier fand sich keine „Spur von deutscher Arroganz und französischer Steifheit“ (SW Bd. 7: 307). Seine Reise sollte die Wartezeit, bis das „Dom Sierot“ in der Krochmalna Straße 92 bezugsfertig war, überbrücken. Der Verein „Hilfe für Waisen“ hat 1910 die Entscheidung getroffen, für die Kinder aus der Franciszkańka-Straße 2 ein neues Haus zu bauen. Der Verein hat zu diesem Zwecke ein Grundstück in der Krochmalna Straße erworben und als Vorstandsmitglied war auch Janusz Korczak an der Planung beteiligt, der für die Leitung des „Dom Sierots“ gewonnen wurde. Es scheint, als habe er sich mit seinen Reisen nicht nur medizinisch weitergebildet, sondern sich auch auf die Suche nach alternativen Modellen erzieherischer Praxis begeben.

124 In Vivarien leben überwiegend wechselwarme Kleintiere wie etwa Reptilien. 157

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

3.2.4 Polens „Neue Erziehung“: Janusz Korczak und die Wissenschaft vom Menschen „Es ist einer der schlimmsten Fehler zu meinen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind und nicht – vom Menschen.“ (SW Bd. 4: 147)

Um den roten Faden wieder aufzunehmen, sei auf ein interessantes Paradox verwiesen: Trotz Janusz Korczaks jüdischer Wurzeln und dem Zweifel an seiner polnischen Identität [respektive Nationalität] wird er als berühmtester polnischer Pädagoge und ein Aushängeschild der polnischen Pädagogik wahrgenommen (vgl. Fetzki 2014: 155). Wenn man sich intensiver mit dem Pädagogen Janusz Korczak und seiner Rezeption beschäftigt, gibt es einen Hang zum „Pankorczakismus“ (Lewin 1987: 55). Dieser verbindet zwar das Gute, Edle und Schöne in der Pädagogik mit seiner Person, lässt aber seine pädagogische Arbeit in den Hintergrund treten. Dieser Pankorczakismus täuscht darüber hinweg, dass viele seiner grundlegenden Denk- und Handlungselemente dem Zeitgeist entsprungen sind. Die Ideen von der „Kinderselbstverwaltung“ und dem „Erzieher als einem Betreuer und Beschützer der Kinder“ sind nicht allein von Janusz Korczak erdacht, sondern vielmehr von ihm aufgegriffen und verarbeitet worden (vgl. ebd.: 55). Janusz Korczaks beruflicher bzw. pädagogischer Werdegang beginnt zu einer Zeit, als sich unterschiedliche Wissenschaften dem Phänomen Kindheit stärker angenähert haben und in der Pädagogik eine neue Epoche ihren Anfang nahm. Das 20. Jahrhundert war als „Jahrhundert des Kindes“ ausgerufen worden und die „Neue Erziehung“ auf das pädagogische Tableau getreten.

Eine kurze Bestandsaufnahme zum „Jahrhundert des Kindes“ Die Schwedin Ellen Key hat das 20. Jahrhundert zum ersten Mal in der Öffentlichkeit als das des Kindes ausgerufen und mit ihrem gleichnamigen Werk („Das Jahrhundert des Kindes“, Original 1900 / dt. Übersetzung 1902) die „Alten“ in Angst und ihre junge Leserschaft in Begeisterung versetzt: „Dieses Buch, in seiner stillen, eindringlichen Art, ist ein Ereignis, ein Dokument, über das man nicht wird hinweggehen können. Man wird im Verlaufe dieses begonnenen Jahrhunderts [gemeint ist das 20. Jhd.] immer wieder auf dieses Buch zurückkommen, man wird es zitieren, widerlegen, sich darauf stützen und sich dagegen wehren, aber man wird auf alle Fälle damit rechnen müssen. Dieses Buch wird Bücher hervorrufen; denn es ist so geschrieben, daß man es nach allen Seiten ausbauen und fortsetzen kann. Ja, ich glaube sogar nicht zuviel zu sagen, wenn ich behaupte, dass es Menschen hervorrufen wird, die danach leben werden; denn es ist von lauter Wirklichkeiten

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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erfüllt, und Wirklichkeiten – mögen sie auch überraschend sein, drängen immer danach, gelebt zu werden“ (Rilke 1902, o. S.).

Rainer Maria Rilke (1875–1926) sollte mit seiner Rezension Recht behalten, denn „Das Jahrhundert des Kindes“ wurde im Verlauf der Zeit zitiert, widerlegt, kritisiert; es wurde sich darauf berufen; es brachte Bücher über Ellen Key und ihr Denken hervor und sein Titel wird bis heute schlagwortartig und als Chiffre verwendet, um den historischen Wandel hin zum Kinde zu benennen. Das Buch erreichte eine hohe Auflagenzahl (22.000 Exemplare in der deutschen Ausgabe bis 1907) und war in den Leihbibliotheken eines der am meisten gelesenen Bücher (vgl. Dräbing 1990: 399). Die darin enthaltene Forderung, die Entwicklung des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt von Erziehung zu stellen und eine demokratische Erziehung zu forcieren, ging als wesentlicher Bestandteil in diverse Konzepte der Reformpädagogik ein und beeinflusste die Generation jener Eltern, „die hofften im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden“ (Key 2000: 8). Neben Rainer Maria Rilke erinnert sich auch Karl Wilker an die Lektüre der Key´schen Essays in seinem Jugendalter: „Es mutete uns an wie Revolution. Es machte uns, die wir in uns den Keim der Unzufriedenheit mit einer Kirche, die uns belog, mit einer Schule, die uns betrog, mit einem Elternhaus, das uns bog nach seinem traditionell-bürgerlichen Verstehen und Wollen – die wir in uns den Keim der Unzufriedenheit mit der Welt in uns trugen, froh unsres eignen Wollens und Wissen gewisser, daß eine Frau weit fort von uns, ein solches Buch schreiben konnte. Was in uns haften blieb, das war: hier bekam auch das Kind, der junge Mensch sein Recht“ (Wilker zitiert in Dräbing 1990: 400).

Ellen Key macht in acht Essays die Frauensache und -arbeit, den Klassenkampf und Mutterschutz, das Familienleben und die Elternschaft, den Kinderschutz und die Prügelstrafe, aber auch die Kritik an der aktuellen Schule und ihre eigene Vision von einer anderen bzw. besseren zum Gegenstand ihrer Überlegungen. Sie setzt dort an, was Meike Sophia Baader als eine Entwicklungstendenz von der Familienkindheit hin zu einer Kindheit in Bildungsinstitutionen beschreibt (vgl. Baader 2013: 233). Auch Schweden wies den Trend auf, die Pflichtschulzeiten einzuführen bzw. zu verlängern, weshalb sich die These von der „zunehmenden Institutionenkindheit“ (ebd.: 233) auch in Ellen Keys Essays findet. Sie bezeichnet die Familie als natürliche Gemeinschaft und siedelt ihre Utopie in dieser Sozialform an und das Heim setzte sie in Kontrast zur zunehmenden Heimatlosigkeit in der modernisierten Gesellschaft (vgl. Andresen und Baader 1998: 103). Ihr erscheint die Erziehung außerhalb der Familie als Massenerziehung und weniger als Funktionsentlastung. Institutionen formten sich gleichendes Menschenmaterial statt Individuen und unterdrückten das Kind. Die erste Erziehung (die Familienerziehung) sollte deshalb die Individu159

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

alität der Kinder stärken und die am besten so spät wie nur möglich beginnende Gesellschaftserziehung ein gesellschaftsintegrierendes Moment darstellen. Ihr Maßstab ist das Konstrukt der altnordischen Familie (vgl. ebd.: 104), weshalb die Kinder gerade die Jahre der frühen Kindheit in ihren Familien und im Elternhaus verbringen sollten. Die Bestandsaufnahme zeigt skizzenhaft, dass Ellen Key der modernen Gesellschaft nicht ihre Bildungsinstitutionen absprach, aber sie sich ihre Veränderung zum Wohle der Kinder als Individuen wünschte. Ihr Denken ist ein Beispiel dafür, was die neue Epoche der Pädagogik auszeichnen sollte: Kindheit manifestierte sich als Lebens- und Entwicklungsphase und das Kind wurde nicht nur als Individuum, sondern auch als Akteur wahrgenommen, was zu unterschiedlichen Formen der Ausgestaltung in der (pädagogischen) Praxis führte. Die schwedische Sozialreformerin war eine Zeiterscheinung und kreierte einen Jahrhunderttitel, mit dem sie nicht nur der reformpädagogischen Diskussion, sondern auch dem pädagogischen Selbstverständigungsprozess im 20. Jahrhundert entscheidende Stichworte zur Verfügung gestellt hat (vgl. Baader / Jacobi und Andresen 2000: 9). Was von Ellen Keys Beschreibung der Modernisierungsprozesse und deren Folgen bleibt, ist das Denken der Erziehungsverhältnisse als Beziehungsverhältnisse und die Betrachtung des Generationenverhältnisses im Zusammenhang mit dem Geschlechterverhältnis (vgl. ebd.: 11). Dass sie aber nicht die einzige mit einer reformpädagogischen Vision war, wird der nächste Abschnitt zeigen, wobei das „Jahrhundert des Kindes“ nicht ausschließlich Visionäre und Visionärinnen, sondern vor allem Gestaltende der Gegenwart hervorgebracht hat.

Zwischen Reformpädagogik und Polens „Neuer Erziehung“ Die „Semantik der fundamentalen Krise“ (Oelkers 2003: 14) hat während des „Jahrhunderts des Kindes“ dazu geführt, dass nicht nur Kritik an der traditionellen Lernschule geübt, sondern auch nach alternativen Modellen der Erziehung und Bildung gesucht wurde. Pädagogische Postulate sind zum ersten Mal durch die Berliner Schulkonferenz öffentlichkeitswirksamer geworden, weshalb das Jahr 1890 auch gemeinhin als reformpädagogischer Beginn in Anspruch genommen wird (vgl. Oelkers 1989: 27 f.). Jürgen Oelkers betont, dass neben der medizinischen auch eine politisch-kulturelle Dekadenz entworfen wurde, deren Deutung als Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft zu Gemengelagen einer Erziehungstheorie geführt hat, die neben einem „neuen Menschen“ auch auf einen radikalen Umbau von Kultur und Gesellschaft abzielte (vgl. Oelkers 2003: 14). In diesem Kontext trat die „Neue Erziehung“ in Gestalt der Reformpädagogik als historische Epoche auf das Tableau. Sie blieb (trotz des deutschen Ausdrucks) aber nicht auf das Kaiserreich beschränkt. In anderen Ländern werden Ansätze von Reformbewegungen dieser

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Art als „éducation nouvelle“, „nuova educazione“ oder „progressive and radical education“ bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen neben der Bildungskritik als immanentes Moment (vgl. Röhrs 2001: 22) und einer weitreichenden Erneuerung der Theorie und Praxis von Erziehung auch ein Kern gemeinsamer Überzeugungen, der die Einheit des Konzepts besorgte (vgl. Oelkers 2004: 783). Osteuropa Osteuropa war zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder eine politische noch eine kulturelle Einheit. Eine große Vielfalt ist durch Migrationsbewegungen, Kriege und Revolutionen hervorgegangen, deren Ursprünge bis in das Mittelalter zurückreichen und häufig durch konfessionelle Unterschiede ausgelöst wurden. Es konnte sich keine „osteuropäische“ Bildungsgeschichte per se entwickeln, weil sich ungeachtet des zaristischen Einflusses nationalstaatliche Tendenzen herausgebildet haben (vgl. Anweiler 1994: 127). Das reformpädagogische Gedankengut Zentraleuropas und Nordamerikas konnte bis nach Moskau vordringen, auch wenn seine Wirkung (ideologische) Grenzen hatte und zu nationalen Besonderheiten aufgrund spezifischer historischer Gegebenheiten geführt hat. Deshalb gab es auch deutliche Unterschiede in der literarischen Rezeption amerikanischer und westeuropäischer Literatur. In der Pädagogik überwog die Meinung, dass nur eine freie Erziehung und zurückhaltende Anwendung erzieherischer Mittel die Voraussetzung für eine Entwicklung der Kinder zu freien, eigenständigen und leistungsfähigen Menschen seien (vgl. Kobelt 1996: 61). In Sowjetrussland war die pädagogische Doktrin nach der Oktoberrevolution allerdings mehr und mehr von der politischen Ideologie durchdrungen. Als die russische Intelligenz noch in geistiger Opposition zum Zarenregime stand und an eine Bewegung vom Volke aus glaubte, konnten reformpädagogische Ideen aufkeimen. Später nahmen die Bestrebungen ganz eigene Formen an und wurden teilweise als „bürgerlich reaktionäre Richtung“ bekämpft (vgl. Anweiler 1994: 127). Als die Intelligencja wieder auf Parteilinie gebracht war, setzte sich die marxistisch-leninistische Pädagogik als Staatspädagogik in der Ukraine und in Russland durch. Polen oder: Wo es anders war Die polnische Pädagogik unterlag zwar im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen außerordentlichen Schwankungen und gerade in Zeiten der Unfreiheit und des ausländischen Drucks wurde die integrative Aktivität der Bildung gehemmt; doch gab es immer Pädagogen und Pädagoginnen, die sich den Repressalien der Mächtigen oder der politischen Ideologie widersetzten und sich auf die Suche nach der erzieherischen Wahrheit begaben, um sie zu verkünden und teils auch in der Bildungspraxis auszugestalten (vgl. Okoń 1999: 12). Nach der Ausrufung 161

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der zweiten Republik (1918 bis 1939) wurde konstant über die „Neue Erziehung“ geschrieben (vgl. Anweiler 1994: 128). Die reformpädagogische Bewegung ist (auch) in Polen bekannt(er) geworden, so dass sich zu ihren Fragestellungen annähernd alle bedeutenden polnischen Pädagogen und Pädagoginnen geäußert haben, auch wenn der Begriff „Reformpädagogik“ ausschließlich mit Bezug auf Deutschland verwendet wurde. „In Polen wehen die Winde vor allem aus dem Westen. Und auch in der polnischen pädagogischen Ideenwelt herrschte seit Jahrhunderten der Westwind. Im 16. Jahrhundert kam er aus Italien und den protestantischen Zentren in Deutschland und der Schweiz, im 17. und 18. Jahrhundert vor allem aus Frankreich, und im 20. Jahrhundert aus Deutschland, England, der Schweiz, Belgien und den Vereinigten Staaten“ (Nawroczynski 1938: 275 zit. nach Anweiler 1994: 133).

Der Fokus soll sich im Folgenden auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg richten. Das pädagogische Denken und Handeln im Polen der Zwischenkriegszeit erfolgte nicht nach dem deutschen (kulturkritischen) Muster, sondern in Anlehnung an die frankophone „education nouvelle“ und amerikanische „new education“. Die „Neue Erziehung“ ist gewissermaßen das „polnische Pendent“ zur Reformpädagogik und umfasste etwa zwanzig Jahre. Der Terminus wird häufig mit dem Wort „Bewegung“ verbunden, was darauf hindeutet, dass eine breitere Öffentlichkeit von den Reformbestrebungen im Feld der Bildung und Erziehung erfasst worden und die konkrete Praxis wichtiger als die abstrakte Theorie und die Klarheit der Programme war (vgl. Szymański 2002: 44). Polens „Neue Erziehung“ lässt sich retrospektiv in drei Phasen einteilen:

Polens „Neue Erziehung“ 1918 bis 1926 „Aneignung“ Rezeption der westlichen reformpädagogischen Ideen

1926 bis 1935 „Realisierung“ Durchführung von Teilreformen im Bereich der Bildung und Erziehung

1935 bis 1939 „Untergang“ Anfang und zugleich Ende der „Neuen Erziehung“

Abb. 13 „Neue Erziehung“ in Polen nach Szymański 2002: 45 ff.

1918 bis 1926: In der ersten Phase wurde die Rezeption der westlichen reformpädagogischen Ideen in besonderem Maße gefördert. So konnten zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die Werke der bekanntesten Vertreter und Vertreterinnen der Reformpädagogik (bspw. John Dewey, Georg Kerschensteiner, Ellen Key, Helen

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Parkhurst und Jean Piaget) in polnischer Übersetzung erscheinen. Ziel war es, alle bedeutenden reformpädagogischen Richtungen in allgemein verständlichen Publikationen einzuführen und zu kommentieren; und auf dem Gebiet der Pädagogik mit Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika gleichzuziehen. Dabei ging es weniger um eine rein passive Übernahme als um den Aufbau eines eigenen nationalstaatlichen Schulwesens bei paralleler Entwicklung der polnischen Erziehungswissenschaft. 1926 bis 1935: Die zweite Phase zeichnete sich durch innere Teilreformen der Erziehung und Bildung in der alltäglichen, konkreten pädagogischen Praxis aus. Seltener waren Schulversuche, die fremde reformpädagogische Ideen mit einheimischen zu verknüpfen suchten. Dabei schlug der Enthusiasmus der Reformer und Reformerinnen häufig in Enttäuschung und Verbitterung um, weil die Schulbehörden innere Schulreformen nur duldeten und nicht förderten. Die Rezeption ausländischer Publikationen schritt weiter voran und es erschienen polnische Werke, die eine Nähe zur Reformpädagogik aufwiesen. Als „polnische Reformpädagogen und -pädagoginnen“ sind u. a. Maria Grzegorzewska (1888–1967), Sergiuz Hessen (1887–1950), Bogdan Nawrocyzński (1882–1974), Helena Radlińska (1874–1954), Henryk Rowid (1871 / 1877–1944) und Władysław Spsowski (1877–1941) zu erinnern. Sergiusz Hessen wurde im Norden Russlands geboren, weil sein Vater (Józef Hessen) nach Ust´ Sysolsk verbannt worden war. Hessen hat das Gymnasium in St. Petersburg besucht und in Heidelberg wie Freiburg studiert, wo er später bei Heinrich Rickert promovierte. Er ist aufgrund finanzieller Sorgen und familiärer Wechselfälle im Herbst 1935 nach Polen gekommen, um den Lehrstuhl für Philosophie und Erziehung an der „Freien Polnischen Universität“ zu übernehmen (vgl. Okoń 1999: 112). Dort fand er die nötige Ruhe, um u. a. seine „Grundlagen der Pädagogik“ in tschechischer Sprache zu überarbeiten (1923 / 1936) und brachte neben „Schule und Demokratie“ (1938) auch „Über die Widersprüche und die Einheit der Erziehung“ heraus. Hessen verortete die Pädagogik in den Kulturwissenschaften, die auch über ihren methodologischen Status bestimmten. Er bezeichnete die Pädagogik als ideographische Wissenschaft, deren Erkenntnisgegenstand die Werte mit den individuellen und einzigartigen Gütern seien (vgl. ebd.: 121). Als zwei Arten der Pädagogik unterschied er die „erlebte Pädagogik“ (Werke, die pädagogische Erfahrungen darlegen, wie bspw. die Schriften Pestalozzis oder Tolstois) von der „wissenschaftlichen Pädagogik“(Werke, die Anschauungen in Gestalt einer wissenschaftlichen Doktrin annehmen, wie etwa „Die große Didaktik“ von Comenius oder Natorps „Sozialpädagogik), deren Positionen er mit seiner Weltanschauung in einer Form angewandter Philosophie konfrontierte (vgl. ebd.: 123). Bogdan Nawroczyński zählt neben Zygmunt Mysłakowski (1890–1971) und Kasimierz Sośnicki (1883–1976) zu den „echten“ Pädagogen Polens, die den Wechsel eines Gesellschaftssystems begleitetet haben (vgl. ebd.: 15). Nawroczyński hat sich nicht nur um die Bildung und nationale Kultur verdient gemacht, sondern war auch um die Hebung des Niveaus der pädagogischen Literatur Polens bemüht. Nach seiner 163

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Studienzeit im In- und Ausland (er hat erst Architektur und Jura, später Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Polonistik studiert) arbeitete er als Lehrer und avancierte 1917 zum ministeriellen Visiator in der Lehrplanabteilung für das höhere Schulwesen (vgl. ebd.: 242). Er hat erkannt, dass sich die pädagogische Wissenschaft „in einer völlig neuen Entwicklungsphase“ befand, die sich durch (1) die immer breitere Anwendung exakter Untersuchungsmethoden, (2) die monographische Darstellung der Ergebnisgewinnung, (3) die schnelle Entwicklung von auf die Individualpsychologie gestützten Untersuchungen und (4) das Entstehen der Sozialpsychologie und pädagogischen Soziologie ausgezeichnet habe (Nawroczyński „Der Schüler und die Klasse“ 1931: 11 zit. nach Okoń 1999: 243 f.). Henryk Rowid hatte jüdische Wurzeln, ließ sich aber taufen und änderte seinen Nachnamen im Jahre 1912. Nachdem er 1910 seine Promotion im Fach Philosophie abgeschlossen hat, reiste er erst nach Belgien und hielt sich dann in Leipzig auf, wo er auf Wilhelm Wundt traf. Rowid fokussierte sich vor allem auf die Lehrerbildung und die Verbesserung der Lehrerseminare. Er war nicht nur Chefredakteur der „Ruch Pegagiczny“ (dt. „Pädagogischen Bewegung“, 1918 bis 1933) und „Chowanna“ (1934 bis 1939), sondern schrieb auch das erste polnische „Handbuch der pädagogischen Psychologie“ (1928). Er starb im Vernichtungslager von Auschwitz (vgl. Fetzki 2014: 159 f.).

1935 bis 1939: Die dritte Phase besiegelte zugleich auch das Ende der „Neuen Erziehung“ in Polen. Der Wandel des pädagogischen Klimas hat mit der Verabschiedung einer antidemokratischen Verfassung im Jahre 1935 eingesetzt und erreichte seinen Höhepunkt mit dem Einmarsch der deutschen Truppen (1938). Somit sind reformpädagogische Ideen in Theorie und Praxis zugunsten einer autoritären Erziehung wieder in den Hintergrund getreten (vgl. ebd.: 44–47). Auch wenn die Ära der „Neuen Erziehung“ in Polen aufgrund der politischen Lage nur kurz währte, hat sie im Wesentlichen drei Richtungen hervorgebracht, die den pädagogischen Diskurs entscheidend geprägt haben. Mirosław Szymański betont vor allem den Einfluss aus Belgien, den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland: (1) Die Pädologie und der Naturalismus wurzelten in den Ideen des Belgiers Ovide Decroly (1871–1932). Er hat wie Janusz Korczak erst als Arzt praktiziert und später als Professor für Hygiene die Richtung einer positivistisch orientierten Pädagogik entwickelt, die sich an der Erkenntnis der Experimentalwissenschaften orientierte (vgl. ebd.: 48). Decroly forderte wie sein polnischer Kollege „zuerst genau die physischen und psychischen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und Tätigkeit des Kindes“ (ebd.: 48 f.) zu erforschen, um Bildungs- und Erziehungsgrundsätze aus der Kenntnis der kindlichen Natur abzuleiten. Seine Mitarbeiterin Józefa Joteyko (1866–1928) trug seine Ideen von Belgien nach Polen und ergänzte sie durch kinderpsychologische wie kindermedizinische Forschungen „im Geiste des

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positivistischen Wissenschaftskonzepts durch Anschauungen im Geiste von Ellen Keys“ (ebd.: 49) vom Kinde aus125. „Wir möchten für die Lehrer der Zukunft eine doppelte Rolle entwerfen: die des Wissens und der Suche nach neuen Wahrheiten. […] Wir würden gern sehen, daß sich im Kind schöpferische Begabungen, ein schöpferischer Geist entwickeln, doch nicht allein im Kind, sondern stärker noch im Erzieher, dessen Rolle nicht nur der Unterricht, sondern auch das Studium der menschlichen Natur, der Natur des Kindes ist“ (Joteyko zit. nach Okón 1999: 89).

Joteykos pädagogische Grundanschauung verweist mit der Zentrierung auf das Kind nicht nur auf eine experimentell-theoretische, sondern auch auf eine praktische Ausrichtung. Letztlich schlug sie mit ihren Schülern und Schülerinnen die Richtung der Pädologie und des Naturalismus ein. Darunter war auch Maria Grzegorzewska, die „Schöpferin der polnischen Sonderpädagogik“126. Sie handelte unter dem Motto „Es gibt keinen Krüppel – nur einen Menschen“ (Szymański 2002: 49) und entwickelte die „La méthode de Decroly“ (Decrolys Methode) zu einer „Methode der Arbeitszentren“ (ebd.: 49) weiter, die in Polen zu einer Grundlage der Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen an Sonderschulen wurde und eine breite Anwendung in der sonderpädagogischen Bildung und Erziehung / Rehabilitationstätigkeit fand. (2) In den Vereinigten Staaten von Amerika hat John Dewey (1859–1952) in Chicago die „laboratory school“ während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründet und geleitet. Er hat dort das Modell einer auf das Kind zentrierten Schule erprobt, die sich durch das Gemeinschaftsleben, die Gruppenarbeit, den Wissenserwerb anstelle von Wissensvermittlung und entdeckendes Lernen durch die selbständige Tätigkeit und Lösung von Problemen auszeichnete (vgl. ebd.: 50). Eines seiner zentralen Ziele war die voran schreitende Demokratisierung von Gesellschaft und Lebensform (vgl. Bohnsack 2003: 55). Deweys Grundgedanken wurden von William Heard Kilpatrick (1871–1965) und Helen Parkhurst (1886–1973) in eigenen Konzepten von Schule fortgeführt und erprobt. Kilpatricks „Projekt-Methode“127 war aber in Polen erst 1930 bekannt 125 Das Schlagwort diente als sehr allgemeine Formel, um auszudrücken, „was damals an Unzufriedenheit, an Erneuerungswünschen, auch an Projektion von Gesellschaftsproblemen auf die Kindheit zu lesen und zu hören war“ (Flitner 1992: 30). 126 Sie war 1921 auch die erste Direktorin des „Staatlichen Instituts für Sonderpädagogik“. 127 Bei der „Projekt-Methode“ geht es um die Anwendung zweckvollen Handelns im pädagogischen Prozess. Das planvolle Handeln wurde von William Heard Kilpatrick zur typischen Einheit des wertvollen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft und des Schulverfahrens erklärt (vgl. Kilpatrick 1982: 91). 165

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geworden, als das Buch „The Project Method Teaching“ seines Doktoranden John Stevenson (1886–1949) übersetzt und verlegt worden war. Als weitere Konzepte sind zu nennen: Der „Dalton-Plan“, der unter dem Einfluss Deweys und Maria Montessoris (1870–1952) entwickelt wurde und in der Zweiten Republik Polen unter der Bezeichnung „Facharbeitsräume-System“ (ebd.: 50) bekannt geworden war; und Alfred Lawrence Hall-Quests (1879-1971) „supervised study“, die in unterschiedlichen Unterrichtsfächern angewendet wurde, um den Schülern und Schülerinnen die Fähigkeit des selbständigen Lernens zu vermitteln. Alle drei Konzepte hoben die Erziehung zu Demokratie und politischer Verantwortung hervor, was in Polen auf fruchtbaren Boden fiel, weil die kurze Phase der politischen Unabhängigkeit zu einer Erziehung mündiger Bürger und Bürgerinnen aufgefordert hat (vgl. ebd.: 51). Daraus resultierte der „Progressivismus“ bzw. die „Fortschrittliche Erziehung“ als weitere (bzw. eine zweite) Richtung der polnischen „Neuen Erziehung“. (3) Als letzte der drei Richtungen ist die „Schöpferische Schule“ zu nennen, die in der (deutschen) Arbeitsschulbewegung wurzelte. Georg Kerschensteiners (1854–1932) „Begriff der Arbeitsschule“ war zwei Mal (1926 und 1934) ins Polnische übersetzt worden. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich die Überzeugung von der Notwendigkeit der Arbeit als wesentliche Voraussetzung für das Bestehen und die Entfaltung des Volkes durchgesetzt und alle politischen Programme beeinflusst (vgl. ebd.: 52). Der Begriff der „schöpferischen Schule“ ging auf Henryk Rowid zurück, der 1926 das gleichnamige Buch mit dem Untertitel „Theoretische Grundlagen und Wege zur Realisierung der neuen Schule“ veröffentlicht hat. Sein Werk „stellt eine geschickte Kombination einer Vielzahl von pädagogischen Elementen dar, die auch in verschiedene (nicht nur deutsche) Quellen aufgenommen wurden; es bildet ein Gemisch aus vielfältigen Ideen zur Arbeitsschule in ihrer geschichtlichen Entwicklung“ (ebd.: 53). Grundsätzlich wurde eine Verbindung von Unterricht und Arbeit angestrebt, um die Generation der Heranwachsenden in der freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen und sie auf ein aktives, produktives wie schöpferisches Leben im Dienste der Nation und / oder des Staates vorzubereiten (vgl. ebd.: 53). Durch die breite Fassung des Begriffs konnte er sich sowohl in politischen als auch weltanschaulichen Lagern etablieren. Es bedurfte dem Ende der russischen Fremdherrschaft, um die (westlichen) reformpädagogischen Gedanken auch den Polen und Polinnen zugänglich zu machen. In der Zweiten Republik (Zwischenkriegszeit) wurden sie nicht nur rezipiert, sondern auch (kritisch) diskutiert und innerhalb der drei Strömungen („Pädologie“ oder „Naturalismus“, „Progressivismus“ und „Schöpferische Schule“) mit Bezug auf die konkrete Situation in Polen übertragen und weiter entwickelt.

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

167

In den 1980er Jahren war breit(er) diskutiert worden, ob Janusz Korczak der Reformpädagogik zugeordnet werden kann. Jürgen Oelkers klagte 1982 zwar nicht (mehr) über seine Nichtrezeption, fragte aber, weshalb er lange nicht als pädagogischer Denker wahrgenommen wurde. Oelkers führte diesen Umstand darauf zurück, dass Janusz Korczaks Pädagogik der neuzeitlichen Erziehungstheorie fundamental widersprochen habe (vgl. Oelkers 1982: 44). Er hat durch seine Forderung, dass Erziehung neben dem Guten auch das Schlechte umfassen solle, um das Kind auf das Leben vorzubereiten (vgl. ebd.: 48), mit der pädagogischen Tradition gebrochen. Dass auch das Negative eine Bedeutung für den erzieherischen Prozess habe, hätte nicht dem Zeitgeist entsprochen, der zudem vom Werden und nicht vom Sein der Kinder ausgegangen sei. Janusz Korczak schloss zwar eine Handlung des Pädagogen über den Tag hinaus nicht aus, eine Verfügung über seine Wirkungen allerdings schon (vgl. ebd.: 47). Die Reformpädagogik hat ein verschiedenartig interpretiertes Bild vom Kind und unterschiedliche Konsequenzen im Umgang mit Kindern in der pädagogischen Praxis hervorgebracht. Janusz Korczaks pädagogisches Credo steht dabei im Kontrast zu anderen Vertretern und Vertreterinnen reformorientierter Ansätze, weist aber auch Gemeinsamkeiten mit ihnen auf: Eine erste ist die Anerkennung des Wertes von Kindheit als eine eigenständige Entwicklungsphase, in der das Kind nicht als kleiner Erwachsener, sondern als Individuum respektiert und behandelt wird (vgl. Wompel 1982: 62). Die Pädagogik ging zunehmend vom Kinde aus und die Vorstellung von der Natur des Kindes wies ihm nicht nur eine eigenständige Stellung in der Gesellschaft, sondern auch im Erziehungsgeschehen zu. Das Kind wurde zum Subjekt und Mittelpunkt der Erziehung. Janusz Korczak mystifizierte und romantisierte das Kind aber nicht länger, sondern setzte dessen ambivalente Eigenschaften (z. B. Gut und Böse) voraus und postulierte: „Kinder werden nicht erst zu Menschen – sie sind bereits welche“ (SW Bd. 5: 25). Ein weiteres gemeinsames Prinzip ist das der Selbstverantwortung (vgl. Wompel 1982: 70). Das Kind sollte sich als freie Persönlichkeit verantwortlich fühlen und aus dieser Verantwortung heraus Aufgaben erfüllen. Das freie Gemeinschaftsleben findet sich aber nicht nur bei Janusz Korczak, sondern auch innerhalb der Arbeitsschulbewegung und in der Fürsorgeerziehung wieder. „Die von fast allen Vertretern [und Vertreterinnen] der reformpädagogischen Bewegung angesprochenen Rechte des Kindes sind für die Jahrhundertwende symptomatisch“ (ebd.: 63). Die Kinderzentriertheit führte auch zu einem neuen Verhältnis von Erzieher / Erzieherin und Zögling. Mit dem Subjektstatus wurde dem Mündel Mündigkeit zugesprochen. Das Kind, wie es war und dessen Situation standen im Erziehungsprozess im Vordergrund, nicht wie es durch Zwang und Willkür sein würde, könnte oder sollte. 167

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Janusz Korczaks „Magna Charta Libertatis“ als Grundgesetz für das Kind wies ihm eigene Rechte zu. „Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ und das „Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist“ (SW Bd. 4: 45) finden sich aber nicht nur bei Janusz Korczak, sondern ähnlich formuliert auch bei Alexander Neill, Maria Montessori oder Ellen Key. Niemand arbeitete aber die Anerkennung kindlicher Individualität so heraus wie er, der das Kind als Menschen erforschte und sich methodisch an der Hermeneutik orientierte (vgl. Ungermann 2006: 363). Diesem Umstand ist vermutlich auch geschuldet, dass Janusz Korczak als Reformpädagoge verkannt wurde. Sein Kindbild resultiert schließlich aus der Beobachtung je einzigartiger Kinder in je spezifischen Settings, so dass aus seiner Hinterlassenschaft kein übertragbares sozialpädagogisches System entwickelt werden kann und an der schwierigen Übertragbarkeit hat sich bis heute nichts geändert. Aus der internationalen Bewegung der Reformpädagogik bzw. der (polnischen) „Neuen Erziehung“ ist Janusz Korczak aus heutiger Sicht (vor allem als Pädologe) nicht (mehr) wegzudenken: „Korczaks aus heutiger Sicht möglicherweise etwas romantisch-naiv anmutenden Ausführungen zu einer neuen Schule und Gesellschaft müssen zum einen gesehen werden als ein literarisches Experiment eines jungen Schriftstellers, zum anderen als ein struktureller Entwurf des Reformpädagogen Janusz Korczak in einer auf Reformen gestimmten historischen Situation“ (SW Bd. 16: 60).

Janusz Korczaks Studium an der „Konspirativen Universität“ Warschaus „Konspirative Universität“ ist 1885 aus dem Zusammenschluss mehrerer Selbstbildungszirkel für Frauen hervor gegangen. Jadwiga Szczawinska (1864–1910) gilt als ihre Begründerin, sie war die Ehefrau Davids. Mit der „Fliegenden Universität“ war ein alternativer Raum für gelehrte Kommunikation entstanden, die Weiblichkeit nicht länger ausschloss. Das Studium war offiziell noch nicht genderneutral, denn die polnische Hochschulbildung trug durch ihre Homosozialität einen geschlechtlichen Index. Frauen waren – jedenfalls bis zur Unabhängigkeit – noch von einem Studium an den (staatlichen) Universitäten ausgeschlossen. Die Universität im Untergrund ermöglichte jenen Polinnen eine höhere Bildung, denen ein Studium im Ausland verwehrt blieb. Anfänglich wurden vor allem (Arbeiter-) Frauen in historisch-philologischen Fächern wie Geschichte, polnischer Sprache und Literatur unterrichtet. Später konnte der Bildungskanon um diverse Naturwissenschaften (Botanik, Zoologie, Geologie, Chemie, Physik, Mathematik, Bakteriologie, Anatomie und Geographie) sowie Pädagogik und Gesellschaftswissenschaften (Soziologie, Philosophie, Politische Ökonomie, Ästhetik, Psychologie und Jura) erweitert werden (vgl. Stegmann 2000: 75). Eine der bekanntesten Schülerinnen

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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ihrer Gründerzeit ist die Nobelpreisträgerin Marie Skłodowsk Curie (1867–1934), die sogar später an der „Fliegenden Universität“ ehrenamtlich Vorlesungen hielt. Die Hörerinnen zahlten vor jeder Vorlesung ihren finanziellen Anteil an die Kassiererinnen. Diese gaben die Beiträge an die Verwaltung, welche die Dozenten / Dozentinnen bezahlte, die mit dem geheimen Unterricht zum Teil ihren Lebensunterhalt bestritten. Ein Nachteil war, dass die Absolventinnen ihre Qualifikationen nicht nachweisen konnten, weil es keine Zertifikate gab und ihnen bestimmte Berufszweige trotz ihrer Kenntnisse und Ausbildung verschlossen blieben. Janusz Korczaks Freund – Leon Rygier128 – hat ihn zu seinem ersten Seminar dorthin mitgenommen. Die „Fliegende Universität“ hat sich zu jener Zeit bereits zu einem Phänomen im Kampf um mehr geistige Freiheiten entwickelt und diente nicht mehr „nur“ der Frauenbildung. Sie hatte die geschlechtliche Segregation überwunden, so dass die Gemeinschaft der Gelehrten und Studierenden nun beide Geschlechter umfasste. Die bekanntesten Natur- und Sozialwissenschaftler Polens gaben an geheimen wechselnden Orten und unter Lebensgefahr Unterricht, denn sie sabotierten die vom Zaren verordnete Russifizierung der Hochschulen. Dass die „Konspirative Universität“ wachsen konnte, lag vermutlich daran, dass sie aus einer Fraueninitiative hervorgegangen ist. Die illegale Frauenbildung war gesellschaftlich akzeptiert und in Mode gekommen. Außerdem vertraten die russischen Behörden bei der Frage um die Bildung der Frauen keine klare Linie, so dass die russische Gendarmerie die Veranstaltungen in höherem Maße duldete. Eine analoge Institution rein für Männer hätte sie womöglich mit einer ganz anderen Schärfe verfolgt (vgl. ebd.: 76). Ab 1905 / 06 konnten die ersten Kurse legal durchgeführt werden und nach dem Ersten Weltkrieg hat sich die „Fliegende Universität“ als private „Freie Polnische Universität“ (poln. „Wolna Wszechnica Polska“) etablieren können. In den Vorlesungen und Seminaren im Untergrund traf Janusz Korczak auf seine „Sozialerzieher“, die ihn zur Sozialarbeit erzogen haben. Darunter waren: • Jan Wladyslaw David129 (Herausgeber der „Stimme“ und Polens erster experimenteller Psychologe, er hat in Leipzig und Halle studiert und wurde u. a. von 128 Leon Rygier war ein Schulkamerad Janusz Korczaks. Sie haben sich auf dem achtklassigen humanistischen Gymnasium in Praga kennen gelernt und in der letzten Klasse angefreundet. Es waren ihre literarischen Neigungen, welche die Schüler einander näher gebracht haben. 129 Zu seinen größten Verdiensten zählt die Durchführung experimenteller Studien an Grundschulkindern mit eigens entwickelten Forschungsinstrumenten. Meist ging er in fünf formalen Schritten vor: (1) Vorbereitung der Apperzeption, (2) Präsentation des spezifischen Materials, (3) Vergleich, (4) Generalisierung (Konzepte, Definitionen, Gesetze, Regeln und (5) Anwendung. Dabei fokussierte er sich auf ihre Welt, Ideen und 169

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Wilhelm Dilthey, Alfred Lichtwark, William Thierry Preyer und Wilhelm Rein beeinflusst), Waclaw Nałkowski (Sozialaktivist und Entwickler der modernen Geographie), Ludwik Krzywicki (bedeutendster polnischer Soziologe, der erstmals das „Kapital“ von Karl Marx und ausgewählte Werke von Friedrich Engels ins Polnische übersetzt hat), Stefania Sempolowska (sie engagierte sich für die Bildung der untersten Klassen), Adolf Dygasiński (Journalist und Erzieher, einer der wichtigsten Vertreter des polnischen Naturalismus), Bolesław Prus (Schriftsteller und Publizist), Adam Asnyk (Lyriker und Dramatiker, Politiker und Doktor der Philosophie), Józef Piludski (Militär und Politiker), Stefan Straszewicz (Mathematiker), der Philosoph Mahrburg und der Orientalist Radlinski (vgl. Newerly 1967: XII und SW Bd. 15: 214).

Überliefert ist außerdem, dass Janusz Korczak Anatomie und Bakteriologie bei Professor Edward Przewóski, Biologie bei Professor Nikolak Nasonow (Zoologe) und Psychiatrie bei Professor Aleksander Szerbakow gehört hat (vgl. SW Bd. 15: 213). In dieser Zeit knüpfte er teils enge Beziehungen zu seinen Dozenten und freundete sich auch mit einigen anderen Hörern der „Fliegenden Universität“ an. Unter ihnen war auch der Ethnograph und Sozialkritiker Ludwik Stanisław Liciński (vgl. SW Bd. 16: 30). Mit ihm zog es den Medizinstudenten immer wieder in die Elendsviertel Warschaus. Das Leben der Einwohner und Einwohnerinnen von Powiśle (im 19. Jahrhundert als „Hafenviertel“ bekannt), Stare Miasto (die Altstadt bzw. das historische Zentrum) und Ochota (am linken Ufer der Stadt gelegen) war von Armut, Hunger und Kriminalität gezeichnet. Hier wurden die Freunde mit einer Realität von Kindheit konfrontiert, die zeigte, unter welchen materiellen und moralischen Bedingungen die unterprivilegierten Kinder Warschaus aufwachsen mussten (vgl. ebd.: 30). Ihre Beobachtungen ließen sie gemeinsam über Perspektiven für soziale Veränderungen nachdenken.

Konzepte, auf ihr Denken und ihre Intelligenz aber auch auf die Entwicklung ihres Willens und ihrer Handlungsfähigkeit. Seine Forschung war systematisch und erfolgte in Zusammenarbeit mit anderen Forschern. Auch sein Name wurde wie der Janusz Korczaks vom „International Bureau of Education“ auf die Liste der „100 most famous educators“ gesetzt.

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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3.2.5 Medizin und Pädagogik im Dialog In der terminologischen Entwicklung lassen sich zwischen den Naturwissenschaften und der Pädagogik frühe Referenzen nachzeichnen. Nachdem Jean-Jaques Rousseau im 19. Jahrhundert das Motiv „gemäß der Natur“ populär gemacht hat, konnten anthropologische Denkfiguren naturromantische und christliche Vorstellungen überwinden. Die Naturwissenschaften haben im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen rasanten Aufstieg innerhalb einer sich entwickelnden industriell-technischen Moderne erlebt, was sich auch auf die Soziale Arbeit ausgewirkt hat. Auf wissenstheoretischer Ebene entfaltete sich bei Wilhelm Dilthey (1833–1911; noch vorsichtig abgemildert), Wilhelm Windelband (1858–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936; bereits zugespitzt) eine methodologische Differenz zwischen den Naturund Geisteswissenschaften, die zunehmend in einer „Kultur der Sprachlosigkeit“ gemündet ist (vgl. Behnisch und Winkler 2000: 15). Soziale Arbeit entwickelte sich als wohlfahrtsstaatliche Institutionalisierung und rechtliche Administration, die immer stärker in ein durch die Naturwissenschaften gedeutetes Verständnis von Welt gesetzt wurde (ebd.: 16). Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Bezug auf den Körper und den Geist des Menschen in seiner Auswirkung auf die Soziale Arbeit im Wesentlichen durch zwei Entwicklungen konkretisiert: • Es wurde auf die Naturwissenschaften durch die auf Hygiene und Ernährung der Bevölkerung gerichteten Stränge der Fürsorge zurückgegriffen und die Physis wurde zum Gegenstand einer präventiv gedachten Gesundheitsfürsorge. • Ein naturwissenschaftlicher Bezug wurde außerdem im Zusammenhang von pädagogischen Krisenerfahrungen bzw. in Fürsorgemaßnahmen deutlich (vgl. ebd.: 16). Sowohl die Naturwissenschaften als auch die Wohlfahrt kreisten als epochal aufstrebende Verbesserungsprojekte um die Entwicklung der menschlichen Natur und Kulturalität (ebd.: 17). Parallel lässt sich auch jene erste Rezeptionswelle seitens der Pädagogik datieren, „die nicht primär auf (theologisch inspirierte) Fragen des Bilde(n)s menschlicher Natur abhob, sondern auf die tatsächlichen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer Bedeutung für pädagogisches Handeln und Denken Bezug nahm“ (ebd.: 18). Auch die Arbeiten Janusz Korczaks können für solch eine integrative Sichtweise herangezogen werden, weil für sein Denken eine biologische Anthropologie bzw. ein medizinischer (und damit naturwissenschaftlicher Blick) auf das Kind bzw. auf dessen Entwicklung, Erziehung und Bildung konstitutiv war. 171

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

In ihrer Gründungszeit verstand sich die Pädiatrie noch als „soziale Wissenschaft vom Kind“, die natur- und sozialwissenschaftliches Wissen vereinte (vgl. Peter 2013: 259). Im Hinblick auf die Entwicklung des Medizinbetriebes zeigt sich eine Verbindung zu einer gleichförmigen Versorgung von Mittellosen und Pflegebedürftigen, weshalb der Armenarzt lange Zeit als die einzige fachliche Instanz für die Lebensbedingungen der unteren Schichten galt (vgl. Wendt 1990: 99). Der Umgang mit kranken Kindern hat aber nicht nur in der Kinderheilkunde (Pädiatrie), sondern auch in der Fürsorge bzw. Sozialen Arbeit eine lange Tradition. Das Feld ist weder trennscharf noch mit klaren Abgrenzungen zu benachbarten Bereichen wie dem Medizinalwesen zu definieren (vgl. Münchmeier 1997: 273), weil die Sorge um uneheliche Kinder, Waisen und arme Kinder auch die Kranken unter ihnen nicht ausgeschlossen hat. Die Pädiatrie (hervorgegangen aus der Inneren Medizin) und die Pädagogik teilen demnach nicht nur die Zentrierung auf das Kind, sondern konnten sich beide als Profession und universitäre Disziplin etablieren (vgl. Peter 2013: 260). Auch wenn streitbar ist, ob die wissenschaftliche Pädagogik im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert dort, wo sie sich neue Wirkungsbereiche (wie etwa im Feld von Heilpädagogik oder Pädagogischer Diagnostik) erschloss und beanspruchte, als Kooperationspartnerin in Erscheinung trat oder nicht eher in eine Abhängigkeit von Medizin und Psychiatrie versetzt wurde (vgl. Ralser 2010: 147). An dieser Stelle sei noch darauf verwiesen, dass die Zeiten pädagogischer Zucht gegenüber Armen, Vaganten, psychisch Erkrankter („Irrer“), Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, Straftätern und (verwaisten) Kindern in Zucht- und Tollhäusern wie auch in Anstalten und Heimen zu ihrer Absonderung noch nicht lange überwunden waren. Erst die Beobachtung, fachliche Analyse und empirisch begründete Heilverfahren haben Chancen für Menschen (Kinder) eröffnet, denen vorher (bei ihren Beeinträchtigungen) noch jegliche Hilfe versagt geblieben war (vgl. Wendt 1990: 100). Ende des 18. Jahrhunderts entstanden in diesem Zuge erste Schulen für Taubstumme und Blinde, es gab Versuche, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung („Blödsinnige“ / „Idioten“) in Heil- und Pflegeanstalten „zu heilen“130 oder „schwachsinnige Kinder“ in Rettungsanstalten zu unterrichten. Dabei wurde von der genauen Beobachtung bis zu Behandlungsverfahren in einer 130 Als Exempel dienen Kinder mit Kretinismus: Die angeborene Schilddrüsenunterfunktion verzögert das körperliche Wachstum und die geistige Entwicklung von Kindern. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Kretinismus im Alpenraum erstmals naturwissenschaftlich untersucht (vgl. Wendt 1990: 101) und man ist zu der Überzeugung gekommen, ihn heilen zu können. Bei der „Heilung“ wurde auf Erziehung und eine möglichst umfassende Eliminierung von Ursachen gesetzt, die mit der Änderung von klimatischen Bedingungen ihren Anfang nahm und häufig bei einer physischen und moralischen Behandlung der Betroffenen endete (vgl. Gstach 2015: 283).

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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Mischung aus Medizin und Pädagogik verfahren, aus der später auch die Heilpädagogik hervorgegangen ist (vgl. ebd.: 101). Wolf Rainer Wendt verweist außerdem auf die Brauchbarkeit der Disposition der differenzierten Behandlung überall dort, wo die Humanwissenschaft auf den einzelnen Menschen angewandt wurde, weil sich das medizinische Modell in den Ansätzen Sozialer Arbeit über die von der ärztlichen Diagnostik zum Bereich sozialer Tatsachen geschlagenen Brücken verbreiten konnte (vgl. ebd.: 101). Außerdem hat die Politisierung der Pädiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Konstitution einer Sozialmedizin geführt, die entweder als naturwissenschaftlich orientierte Sozialhygiene oder als sozialkritisch denkende Sozialpädiatrie in Erscheinung getreten ist (vgl. Peter 2013: 266). Als Vater der Sozialpädiatrie (Sozialmedizin) und Begründer der medizinischen Soziologie als Wissenschaft gilt Johann Peter Frank (1745–1821). Er war der erste, der pathophysiologische Erscheinungen mit den prekären Lebenslagen breiter Bevölkerungsschichten in Verbindung gebracht und vom Staat einen umfassenden Schutz für schwangere Frauen gefordert hat (1780). Daneben beschäftigte er sich auch mit Fragen der Schulhygiene und setzte sich für die Erziehung und Bildung „schwachsinniger“ und behinderter Kinder ein (vgl. Hesse 2012: 12). Auch Janusz Korczak war ein Sozialpädiater, weil er bei der praktischen Krankenversorgung (insbesondere der proletarischen Kinder) armutsbedingte Gesundheitsprobleme beobachten konnte, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen er miteinander in Beziehung setzte. In seinen sozialmedizinischen Schriften hat er sich vermehrt mit den öffentlichen Fürsorge- und Präventionsmaßnahmen auseinandergesetzt. Sein Engagement in den Sommerkolonien dient hier als Beispiel, weil dort die von Armut betroffenen Kinder von den Erziehern und Erzieherinnen mit dem Ziel betreut wurden, ihr körperliches (und seelisches) Wohlbefinden während der Ferien auf dem Lande zu steigern. Die Sozialhygiene war eine Herausforderung für die Wissenschaft und Politik gleichermaßen. Es ging nicht nur um die Bekämpfung ansteckender Krankheiten, sondern auch um die grundsätzliche Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, was zu einer „Medikalisierung des sozialen Sektors“ (Hering 2006: 67) geführt hat. In der Sozialhygiene vereinigte sich medizinisches Wissen (und Können) mit intensiver Aufklärung und Anleitung (vgl. ebd.: 67). Soziale Arbeit hatte in Polen vor allem das Ziel, auf Armut und deren Auswirkungen zu reagieren (ihre jüdischen Wurzeln reichen bis in das 16. Jahrhundert zurück). Eine Professionalisierung konnte erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzen, die mit der Entstehung der Pädagogik als eigene Disziplin an den Hochschulen und der Verberuflichung Sozialer Arbeit einhergegangen ist. Im Hinblick auf die historische Entwicklung Sozialer Arbeit, Sozialpolitik, Fürsorge, 173

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Wohlfahrt und Gesundheitserziehung konnte in den 1920ern vieles eingelöst werden, was vorher (noch) undenkbar oder nur in Gedankenexperimenten möglich war. Ein solches Gedankenexperiment ist beispielsweise auch die Sozial-Utopie „Schule des Lebens“ (1907 / 08). Mit der „Schule des Lebens“ beschreibt Janusz Korczak eine Institution, die nahezu autark bestehen und wo die Ideale einer demokratischen, ökonomischen und sozialen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden konnten (siehe auch Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018).

3.2.6 Die Dreiheit von Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik Leon Rygier erinnert sich im Zeitzeugenband an eine Episode, als er Janusz Korczak in den Ferien einmal im Sächsischen Garten getroffen hat. Sie kamen miteinander ins Gespräch und er wollte wissen, warum sein Freund Medizin studierte, obwohl er ihm häufiger erzählt hat, Schriftsteller werden zu wollen. „‚Und Cechoy?‘, gab er ihm zur Antwort. ‚Er war doch auch Arzt, was ihn nicht daran gehindert hat, einer der berühmtesten Satiriker Rußlands zu werden. Ich glaube sogar‘, fuhr er fort, ‚dass die Medizin zu seinem schriftstellerischen Werk beigetragen hat […], um etwas Bedeutendes zu schreiben, muß man ein guter Diagnostiker sein. Mit anderen Worten – man muß den Menschen und seine Krankheiten durch und durch kennen. Aber der Mensch ist leider bis heute ein völlig unbekanntes Wesen geblieben. Wir kennen weder die physiologischen noch die psychologischen Faktoren, die Einfluß auf die jeweilige Gestaltung des Individuums haben. Wir werden oft mit Gegebenheiten eines menschlichen Lebens konfrontiert, deren Genese uns verborgen bleibt. Und der Schriftsteller soll, meiner Ansicht nach, den Ehrgeiz haben, die menschliche Seele nicht nur zu kennen, sondern sie auch zu heilen. Er sollte bestrebt sein, ein Erzieher zu werden, wie beispielsweise unser Prus. Ich wiederhole es, um Erzieher zu werden, muß man Diagnostiker sein. Die Medizin hat hier eine Menge zu sagen.‘ Darauf, dass Prus kein Arzt gewesen sei, entgegnete er: ‚Dann ist er eben ein genialer Quacksalber‘, begann zu lachen und fügte hinzu: ‚Das kommt auch vor. Manchmal werden so seltsame Menschen geboren, die einen Schatz intuitiven Wissens mit auf die Welt bringen. Normalerweise muß man dafür im Schweiße seines Angesichts arbeiten‘“ (Rygier 1999: 404).

Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904), ein Zeitgenosse und Bekannter Maxim Gorkis und Leo Tolstois, hat in seiner Jugend wie Janusz Korczak mit dem Schreiben begonnen und sich im September 1879 für ein Studium der Medizin an der Moskauer „Lomonossow-Universität“ eingeschrieben. Sein Arztdiplom hat er innerhalb von fünf Jahren erlangt, den Arztberuf aber nur ehrenamtlich ausgeübt. Hauptberuflich hat er sich seit den 1880er Jahren vermehrt seinem schriftstellerischen Schaffen gewidmet und bis zu seinem Tode mehr als 600 Werke publiziert. Janusz Korczak

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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verweist im Gespräch auf einen der bedeutendsten Autoren der russischen Literatur, in dessen Lebensverlauf er Parallelen zu seiner eigenen Biographie entdeckte. Neben Tschechow, dem „genialen Diagnostiker und Kliniker der Gesellschaft“ (SW Bd. 15: 214) erwähnt er auch Bolesław Prus, einen der wichtigsten Vertreter der polnischen Literatur seiner Zeit. Janusz Korczak hat Prus zum ersten Mal mit zehn Jahren in einem Park getroffen, als er mit seinem Vater ein paar Wochen des Sommers im Kurort Nałȩczów (in der Nähe von Lublin) verbrachte. Er hat nie vergessen, wie der Schriftsteller seine Hand gedrückt und wenige Worte mit ihm gewechselt hat (vgl. SW 11: 440), denn es war (s)ein Kinderwunsch, dem großen Schriftsteller einmal zu begegnen. „Früher, später, immer – Prus …“ (ebd.: 407) – er ward ihm nicht nur zum Vorbild, sondern später auch zu einem Lehrer geworden. Beide (Tschechow wie Prus) waren in die Literaturgeschichte ihrer Herkunftsländer eingegangen und Vorbilder des jungen Janusz Korczak. Tschechow erinnert er als Schriftsteller und Arzt, Prus als Schriftsteller und Erzieher. Auch wenn er kein Mediziner war, so verfügte er doch über einen Schatz intuitiven Wissens. „Jeder Mensch ist ein Erzieher: Er erzieht Kinder, seine Dienstboten, Untergebene, Bekannte – mit einem Wort, die Umgebung, alle, mit denen er zusammenlebt, mit denen er spricht, umgeht.[…] Der Journalist, der Literat, der Dichter – er erzieht nicht nur seine nächste Umgebung. Er spricht nicht nur, er schreibt auch und druckt, seine Bücher gehen um die ganze Welt, werden in andere Sprachen übersetzt, nehmen Einfluß auf das Denken von Tausenden, ja Millionen Menschen“ (SW Bd. 9: 552).

So würden hervorragende Literaten zu Erziehern anderer und ihrer eigenen Völker. Aus dieser Analogie erwächst der Schluss, dass es zwischen der Medizin, Erziehung (Pädagogik) und Schriftstellerei einen Zusammenhang gibt. Wenn ich die Episode bzw. das Gespräch mit dem Freund im Park unter der Fragestellung der Verortung Janusz Korczaks in den Feldern von Medizin, Schriftstellerei und Pädagogik deute, so zeigt sich, dass er sich weder entscheiden konnte noch wollte. Er hielt seinem Freund im Sächsischen Garten ein Plädoyer für die Dreiheit, denn sein Analogieschluss gründet in der Annahme, dass der Schriftsteller ein guter Diagnostiker sein müsse, um etwas Bedeutendes schreiben zu können. Außerdem solle er bestrebt sein, ein Erzieher zu werden, der wiederum ein guter Diagnostiker sein müsse. Die Diagnostik eine schließlich den Mediziner, Schriftsteller und Pädagogen. Janusz Korczak markiert den Beginn seines Studiums aber nicht mit der Immatrikulation, sondern unabhängig von einer Bildungsinstitution. Indem er Kinder beobachtete und bemüht war, Diagnosen zu stellen, ließ er sein Studium im Park, also im Leben beginnen. Seinem Freund verdeutlicht er es am Beispiel spielender Kinder, wobei ein jedes anders spiele: 175

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

„‚Ich möchte wissen, warum. Ich weiß, daß die Suche nach der Antwort auf diese Frage mich viele Jahre meines Lebens beschäftigen wird. Wer weiß? … Vielleicht mein ganzes Leben lang … Und vielleicht finde ich gar keine Antwort. Aber je mehr man beobachtet, um so näher kommt man der Wahrheit … Der Wahrheit über den Menschen, den wir bis jetzt überhaupt nicht kennen.‘ ‚Und deine Schriftstellerei?‘ ‚Wird sicherlich auch eine Suche nach dieser Wahrheit sein‘“ (SW Bd. 15: 405).

Janusz Korczak kam mit der gleichzeitigen Ausübung mehrerer Professionen der Wahrheit näher und hielt zeit seines Lebens auch an dieser Überzeugung fest, wie Abbildung vierzehn „Zusammenhang Medizin – Pädagogik – Schriftstellerei“ noch einmal hervorhebt:

Abb. 14 Zusammenhang Medizin – Pädagogik – Schriftstellerei (eigene Darstellung)

Nur über die Taten [in Gestalt der Medizin und Pädagogik] konnte Janusz Korczak zum Wort [der Schriftstellerei] gelangen. Doch wie er persönlich zur Diagnostik stand, ist nur ein Aspekt. Ein anderer ist, dass in der Geschichte (und Praxis) der Pädiatrie auch den Ideen von Erziehung stets eine Bedeutung zukam.

Resümierend Abbildung fünfzehn „Janusz Korczaks Wissen – Ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen“ verdeutlicht noch einmal, dass sein Wissen ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen ist:

3.2 Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns

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Abb. 15 Janusz Korczaks Wissen – Ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen (eigene Darstellung)

Das tripolare Berufsprofil Janusz Korczaks war das Ergebnis seiner Entwicklung, die nicht in einem Vakuum, sondern im Austausch mit seiner Umwelt erfolgt ist. Seine berufliche Sozialisation ging über Fach- und Landesgrenzen hinaus, was auch durch die Retrospektive auf seine Studienreisen nach Berlin, Paris und London deutlich geworden ist. Janusz Korczak hat sich mehreren Professionen zugewandt, was aber keine Besonderheit darstellt, weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele jüdische Ärzte ihr medizinisches Können mit einem sozialen Engagement verbunden haben. Dies zeigt sich bspw. auch an der Person Heinrich Finkelsteins, der einer der medizinischen Lehrmeister131 Janusz Korczaks wurde und sich nicht nur als Pädiater, sondern auch als Leiter des Berliner Kinderasyls132 in der Kürassierstraße und des Städtischen Waisenhauses einen Namen gemacht hat. Es soll an dieser Stelle aber nicht um einen Vergleich einzelner Institutionen und ihrer Erfolge gehen, weil diese häufig auch von der Persönlichkeit ihrer Leiter abhängig waren. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass Janusz Korczak in Bezug auf seine Tätigkeitsfelder keine Sonderrolle einnimmt, sondern die Wirkungsfelder vieler (jüdischer) Kinderärzte im 19. und 20. Jahrhundert nicht allein auf die Medizin beschränkt blieben133. 131 Auch er war Jude und hat auf eine eigene Familie und Kinder verzichtet. Er lebte zusammen mit seiner Schwester in Berlin ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben. 132 Das Kinderasyl wurde 1901 als Säuglingsheim gegründet und stand unter der Verwaltung des Städtischen Waisenhauses. Die Säuglingssterberate in der Heimunterbringung war zu jener Zeit noch sehr hoch, doch war ein Ziel der Schmidt-Gallisch-Stiftung den Spitalsmarasmus zu überwinden (vgl. Stöckel 1996: 182). Aufgenommen wurden Kinder, die unehelich geboren wurden oder der öffentlichen Fürsorge unterstanden. Als Heinrich Finkelstein dort Chefarzt wurde (1902), zeichnete sich bereits ab, dass durch das Kinderasyl ein Durchbruch zu einer hygienischen Säuglingspflege gelungen war. 133 Auch Heinrich Finkelstein engagierte sich über das Kinderasyl hinaus, nämlich sozialpolitisch auf kommunaler Ebene, so dass er sich unter anderem einer Gruppe anschloss, 177

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Janusz Korczaks professionsgebundenes und wissenschaftlich bzw. disziplinär gebundenes Wissen entstand zeitversetzt und teils parallel, doch in der Zweiheit von Medizin und Pädagogik zeig(t)en sich gemeinsame Rezeptionen, Funktionen und Transformationen von Wissen. Das Spektrum war breit und stammte anfangs vor allem aus naturwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen. Er schätzte vor allem die klassischen Merkmale einer naturwissenschaftlichen (Er-)Forschung, denn diese lässt sich von Hypothesen leiten und generiert Wissen in kontrollierten bzw. experimentellen Settings.

3.3

Praxis als Können – Die Medikalisierung von Kindheit als Brückenschlag von der Medizin zur Pädagogik

3.3

Praxis als Können

Janusz Korczak war niemand, der die Welt draußen am Schreibtisch sitzend betrachtete. Für seine genauen Beobachtungen ging er hinaus [in das pädagogische Feld]. Seine Erfahrungen hielt er in der ihm sehr eigenen Art und Weise fest, häufig mit Bleistift auf dem Papier, am Schreibtisch, aber auch im Eisenbahnwaggon, in Kriegszeiten im Lazarett, nachts und sogar im Gefängnis (vgl. Tarnowski 1981: 24). Ihm war es gelungen, die eigene Praxis mit einem „fremden“, geradezu „ethnographischen“ Blick durch seine Beobachtungen als „Tatsachenforscher“ zu betrachten. Gerhard Riemann nennt es die „Befremdung der eigenen Praxis“ mit Bezug zu Stefan Hirschauers und Klaus Amanns Sammelband „Die Befremdung der eigenen Kultur“ (1997). Zwar geht es beiden eher um die „Befremdung von etwas Eigenem, also zur eigenen Gesellschaft Gehörenden“, doch würden immer noch eine klare Trennung von soziologischem Feldforscher und seinem Forschungsgegenstand mitgedacht (Hirschauer / Amann 1997: 12). Riemann merkt an, dass eine solche Trennung verschwimme, „wenn die Untersuchung der eigenen Praxis und des entsprechenden professionellen Handlungsfeldes und des eigenen Kompetenzerwerbs ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken“ (Riemann 2004: 190). Janusz Korczak wurde häufig zum Ethnographen und Sozialforscher in eigener Sache, weil seine Fremdheits-Haltung auf ein Verstehen der sozialen Realität zielte. In diesem Sinne hat er eine „metatheoretische und metamethodische Haltung, die eine prinzipielle Phänomenoffenheit und eine verfremdende Perspektive auf die zu erkundenden Phänomene impliziert[e]. Sie muss[te] sowohl Tendenzen zur Einvernahme (Nostrifizierung) als auch solche zur verdinglichenden Fremdmachung die sich mit Fragen der geschlossenen und offenen Säuglingspflege auseinandersetzte (vgl. ebd.: 183).

3.3 Praxis als Können

179

abwehren. Die ethnographische Sichtweise kann durch alle Verfahrensweisen der interpretativ-qualitativen Sozialforschung realisiert werden“ (Schütze 1994: 189 f.). Die Elemente seiner Pädagogik werden vor allem in den Deskriptionen seines Handelns [seiner pädagogischen Handlungsfelder] sichtbar und nachvollziehbar. Auch wenn Janusz Korczaks Beschreibungen gemeinhin [oder in vielen Teilen] der Literatur zugerechnet werden, versprechen seine Darstellungen in deskriptiver wie analytischer Hinsicht einen Ertrag, der [zumindest in Ansätzen] beispielhaft eine Theorie entschlüsseln kann.

3.3.1 Soziale Arbeit bzw. Heimerziehung (in Polen) Die Sorge um das (arme) Kind – Reminiszenz an eine Geschichte der Institutionalisierung öffentlicher Sorge und Erziehung Sich der eigenen Geschichte zu vergewissern, hat in der Tradition der Erziehungswissenschaft einen (Nischen-)Platz eingenommen. Das Interesse an ihr ist gewachsen und Geschichten (auch der Sozialen Arbeit) wurden niedergeschrieben. Individuelle soziale Probleme wurden in den letzten zweihundert Jahren zunehmend zu gesellschaftlichen Angelegenheiten in öffentlichen Diskursen und tangierten auch eine Praxis, die sie zu bearbeiten versprach bzw. lösen wollte (vgl. Wendt 1990: 1). Die Bestandsaufnahme zur Sozialen Arbeit / Heimerziehung richtet ihren Fokus in einem ersten Schritt auf die allgemeine Geschichte der Institutionalisierung öffentlicher Sorge und Erziehung und grenzt bewusst den deutschen Sprachraum nicht aus. Ich habe bereits herausgearbeitet, dass Janusz Korczak deutsche Literatur und Einrichtungen des Kaiserreichs kannte; und auch die Fremdherrschenden Einfluss auf das Wohlfahrtssystem im dreigeteilten Polen genommen haben. Deshalb werde ich erst in einem zweiten Schritt auf Polen (vor, während und nach der 123-jährigen Fremdherrschaft) eingehen.

Bis zum Mittelalter Die Berufsgeschichte Sozialer Arbeit beginnt häufig mit der praktischen Nächstenliebe und dem Verweis auf die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter im Lukas-Evangelium (vgl. Müller 1999: 9). Seit der Entstehung des Christentums haben sich Mönche den verlassenen, ausgesetzten, elternlosen und armen Kindern in Klöstern und Spitälern angenommen. Durch Quellen lassen sich die ideengeschichtlichen Erscheinungen eines institutionellen Umgangs mit ihnen bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Öffentliche Erziehung begann sich im Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert zu institutionalisieren, als die ersten Findel- und 179

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Waisenhäuser134 von der Kirche gegründet wurden. Kinder wurden dort so lange „bewahrt“135, bis sie eigenständig ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten. Wenn sie schon älter waren und ihre Armut „selbstverschuldet“, also ein Resultat von Arbeitsversagen oder Arbeitsverweigerung war (Hartwig et al 1999: 394), brachte man sie in spezifischen Waisen- und Armenkinderanstalten unter. Vorausgesetzt die Städte hatten bereits begonnen, solche zu gründen und das Armenwesen planmäßig zu organisieren. Die Fürsorge- und Heimerziehung war (im Hinblick auf die vergangenen Jahrhunderte) von verschiedenen Gründen und Motiven geleitet. Bis aber die Vulnerabilität von Kindern (an-)erkannt und ihre Schutzbedürftigkeit zu einem Movens wurden, versuchte die öffentliche Erziehung vor allem der Elternlosigkeit, Armut, Arbeitsunfähigkeit und mangelnden Arbeitsbereitschaft etwas entgegenzusetzen.

17. Jahrhundert Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) und der aufkommenden pietistischen Bewegung136 im ausgehenden 17. Jahrhundert kam es zu einer religiösen Überformung (vgl. Pankofer 1997: 21), die „den Menschen durch Beten und Arbeiten von der Sünde zu bewahren“ (Heitkamp 1984: 27) suchte. Armut galt im Vergleich zum Mittelalter als selbstverschuldet, weshalb arme Menschen zur Disziplinierung und Sanktionierung in Arbeits-, Armen- und Zuchthäusern für alle Altersgruppen untergebracht wurden. Von bürgerlichen und christlich-protestantischen Idealen geleitet, wurde der Eingriff in arme Familien zur Praxis, was auch als „bürgerliche Familialisierung der sozialen Unterschichten“ und „Überwachung der Familie und der Durchsetzung ihrer inneren Ordnung“ (Cobus-Schwertner 1984: 12) gedeutet werden kann. Erst Ende des 17. Jahrhunderts wurden gesonderte Einrichtungen für Kinder und Jugendliche gegründet, die nicht mehr reine Bewahranstalten waren. Zum Vorbild avancierte August Hermann Franckes (1663–1727) „Hallisches Waisenhaus“, wo die Seelen „verwahrloster“ und „verlassener“ Kinder durch planvolle und gezielte 134 Die Versorgung von Mädchen und Jungen war zu einem sozialen Problem geworden, weshalb sich die Armen- und Waisenfürsorge ihrer angenommen hat. Bereits vor mehr als 300 Jahren waren z. B. die ersten „Drehladen“ entstanden, die eine namenlose Abgabe von Kindern ohne persönlichen Kontakt in Klöstern und Findelhäusern ermöglichten und den „Babyklappen“ unserer Zeit entsprechen. 135 Der Umgang mit den Kindern war sehr streng. Sie erhielten zwar ein Obdach und wurden mit Nahrung versorgt, aber sie wurden weder erzogen noch wurde ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen gewährt. 136 Der Pietismus richtete sich gegen die Aufklärung, Rationalisierung und Industrialisierung.

3.3 Praxis als Können

181

(religiöse) Bildung, pädagogische Maßnahmen und Arbeit „gerettet werden“ sollten. Francke war einer der ersten, der mit seiner Einrichtung in Halle an der Saale auch einen Erziehungsgedanken verfolgte und darum bemüht war, die Heranwachsenden auf ein Berufsleben nach dem Aufenthalt im Waisenhaus vorzubereiten.

18. Jahrhundert „Verwahrloste“ Kinder sind kein Phänomen der Moderne. Ihre Fremderziehung wurde aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts breiter in der Öffentlichkeit diskutiert: Die einst religiösen Motive traten zugunsten wirtschaftlicher in den Hintergrund und Produktionsstätten wurden an die Anstalten angeschlossen (vgl. Pankofer 1997: 22). Es wurde kritisiert, dass Kinder und Jugendliche bei mangelhafter Verpflegung und Betreuung durch schlecht qualifizierte Betreuer akkordmäßig in der Fabrik mitarbeiten mussten. Erzieherische Gesichtspunkte und der Schulunterricht fielen so einer brutalen Arbeitszucht und Profitgier vieler Anstaltsleiter zum Opfer (vgl. Heckes und Schrapper 1988: 12). Erst Mitte des 18. Jahrhunderts führten die humanistischen Ideen der Philanthropen im Geiste der Aufklärung eine Wende herbei, die auch auf Erziehungskonzepte und Institutionen wirken konnte. Dem philanthropischen Ideal entsprach „der körperlich und geistig frische, urteilsfähige, unternehmende, fleißige, klug wirtschaftende, den Gemeinnutz patriotisch mehrende Mensch“ (Wendt 1990: 17). Statt arme Kinder nur zu „bewahren“ und sie für ihre Unkosten (mit-)arbeiten zu lassen, konnte nun wirkliche Hilfe zum Beweggrund werden, um eine „individuelle, kindgerechte, fröhliche und natürliche Erziehung“ (vgl. Pankofer 1997: 22) umzusetzen. Die wichtigsten Vertreter der „neuen“ Waisenhauserziehung waren: • Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811), der nach der Mitarbeit am von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) gegründeten „Philanthropinum“ (in Dessau) eine eigene philanthropische Einrichtung in Schnepfenthal leitete. • Und Johann Heinrich Pestalozzi, der auf dem Neuhof eine Armenerziehungsanstalt für Jungen (1774 bis 1780) und in Stans ein Waisenhaus (1799) eröffnet hat. Über seine fürsorgepädagogische Arbeit entwickelte er137 pädagogische Grundsätze im Umgang mit „verwahrlosten“ Kindern, die bis heute für die Heimerziehung von Bedeutung sind, weil sie sich erstmals an der Erziehung in der Familie orientiert haben. Er stiftete eine sozialpädagogische Tradition 137 An dieser Stelle ein Zitat Janusz Korczaks: „Die Namen Pestalozzi, Fröbel und Spencer strahlen in nicht minderem Licht als die Namen der größten Erfinder des 19. Jahrhunderts. Sie haben mehr entdeckt als die unbekannten Kräfte der Natur, sie haben eine unbekannte Hälfte der Menschheit entdeckt: die Kinder“ (SW Bd. 9: 51). 181

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

in Theorie und Praxis, indem er die häuslichen Verhältnisse zu den ersten und natürlichen des Menschen erklärt hat; und nach denen er die gesellschaftlichen bilden wollte (vgl. Wendt 1990: 21). Das Plädoyer der Philanthropen für eine kindgemäße und natürliche Erziehung in ländlichen Pflegefamilien einzustehen, hat positive Gegenentwürfe zur Anstaltserziehung hervorgebracht und letztlich den „Waisenhausstreit“ entfacht. Bis zum Ausbruch der Befreiungskriege (1813 bis 1815) konnte das Pflegekinderwesen durch eine Systematisierung und Effektivierung der Auswahl, Betreuung und Überwachung der Pflegestellen reformiert werden. Der Waisenhausstreit hatte aber auch positive Auswirkungen auf die Anstaltserziehung. Hier stand neben der Verbesserung der hygienischen und wirtschaftlichen Betreuung und Versorgung insbesondere die Reform der Schulausbildung, Einführung beruflicher Bildung, Reduktion der Kinderarbeit und Umstrukturierung der Organisationsformen im Vordergrund (vgl. Heckes und Schrapper 1988: 14).

19. Jahrhundert Die Armen- und Waisenkinderfürsorge war bis zum 19. Jahrhundert die Antwort auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Missstände, die sich durch die napoleonischen Freiheitskriege verschlimmert haben. Die Situation der in Armut lebenden Kinder blieb prekär, weil sie noch immer als das Besitztum ihrer Eltern galten und sie mit ihrer Arbeitskraft zum Lebensunterhalt der Familie beitragen mussten. Ihr Aufwachsen zeichnete sich durch einen auffallenden Mangel an Aufsicht, Versorgung und Zuwendung aus. Zu jener Zeit wurde die staatliche Kinderfürsorge weder vom Staat überwacht noch beschützt; und mit der Begründung sogar deutlich reduziert, dass dem Staat im Zuge eines politischen und ökonomischen Liberalismus nicht mehr das Recht zustehe, in das Leben von Familien einzugreifen (Pankofer 1997: 26). Der bisherige Hauptträger der öffentlichen Fürsorgeleistungen zog sich aus seiner Verantwortung zurück, weshalb neben christlichen Ordensgründungen zur Betreuung „verwahrloster“ Kinder auch vermehrt private Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen unterhalten wurden, um das Notleiden der Heranwachsenden zu lindern. Die „Rettungshausbewegung“ wurde zu einer echten Alternative gegenüber staatlichen Zucht- und Besserungshäusern, weil sie die Kinder und Jugendlichen mit dem Einverständnis der Erziehungsberechtigten in Obhut nahmen und auch den Aspekt der Erfordernis einer pädagogisch verantwortlichen Erziehung als wesentlichen Grundsatz ihrer Arbeit nicht mehr außer Acht ließen (vgl. ebd.: 25). Die Bewegung entstand, als die Industrialisierung (Mitte des 19. Jahrhunderts) die ohnehin schon armen Massen in noch misslichere Lebenslagen gebracht hat. Die Rettungshausbewegung, die

3.3 Praxis als Können

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sich auf die „Erweckungsbewegung“ gründete und keine homogene Bewegung war, hat ihre regionalen Wurzeln in der Schweiz und dem süddeutschen Raum. Zu ihren drei bekanntesten Vertretern zählen Johannes Daniel Falk (1768–1826, er gilt als Begründer der Rettungshausbewegung / Jugendsozialarbeit und brachte Kinder in Pflegefamilien oder in den Jahren zwischen 1821 und 1826 auf seinem „Lutherhof“ unter), Graf Adelbert von der Recke-Volmerstein (1791–1878, er nahm sich beeinflusst von der Erweckungsbewegung heimatlosen Kindern an und gilt mit seiner westfälischen Rettungsanstalt „Overdyck“ bzw. „Düsselthal“ als Begründer des ersten deutschen Rettungshauses) und Johann Hinrich Wichern (1806–1881, Theologe, Pädagoge und Gründer des heute noch bestehenden „Rauhen Hauses“ in Hamburg im Jahre 1833). Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich sukzessive eine Kinderschutzgesetzgebung durchsetzen können, die Zweifel daran aufkommen ließ, dass Kinderarbeit von Kindern aus Bauern- und Handwerkerfamilien der Norm entsprach. Es sollten weitere 50 Jahre vergehen, bis der Staat seine Schutz- und Sorgefunktion gegenüber Kindern wahrnahm (vgl. Baader 2014: 162 f.). Allerdings hat die Fürsorgeerziehung mit ihrem Kernbegriff der „eingetretenen oder drohenden Verwahrlosung“ seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein machtvolles System zur Inspektion benachteiligter Familien geschaffen. Sie konnte den Eltern Erziehungsschwäche attestieren und den als gefährdet bzw. gefährlich geltenden Kindern eine Ersatzerziehung zur „bürgerlichen Brauchbarkeit“ in teils konfessionellen Fesseln verordnen (vgl. Ralser et al. 2017: 17).

20. Jahrhundert Die öffentliche Ersatzerziehung wurde vom Zwang zur Fürsorge. Indem die Pädagogik als Disziplin hervortat, wurde der institutionelle Umgang mit Kindern und Jugendlichen wieder zu einer bedeutsameren öffentlichen Aufgabe. Als wesentliche Entwicklungstendenzen bestimmten neben (1) einer zunehmenden Verrechtlichung und strukturellen Absicherung der Fürsorgeerziehung (wie dem „Preußischen Fürsorgegesetz“ von 1900), (2) pädagogisch-konzeptionelle Grundlegungen (Herausbildung fachwissenschaftlicher Disziplinen) auch (3) eine fachlich-berufsständische Durchdringung (Gründung von Trägerorganisationen, Fachverbänden und Ausbildungsstätten) die ersten drei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts (vgl. Heckes und Schrapper 1988: 17). Es war notwendiger denn je, dem Erziehungssystem neue Instrumente hinzuzufügen, weil die bisherigen nicht mehr ausreichten, um eine fehlende Familienerziehung auszugleichen (vgl. Möckel 1988: 71). Nicht nur die Geschichte der Institution Schule und die Einführung der Schulpflicht haben ihren Lauf genommen, sondern auch der Erzieherberuf erste Konturen hin zu mehr Ernsthaftigkeit, Profilierung und Professionalität erfahren. 183

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Profil-bildend wirkten neben den Reformpädagogen auch der Arbeiterbewegung nahestehende sozialistische Pädagogen (z. B. Siegfried Bernfeld und Edwin Hoernle), Theoretiker und Praktiker der sozialpädagogischen Bewegung (z. B. Herman Nohl, Karl Wilker und Erich Weniger) oder konservative Anstaltspädagogen (z. B. Georg Wolff und Helmut Schreiner). Auch wenn es zu ihrer Zeit noch keine Theorie der Heimerziehung gab, leisteten sie einen Beitrag zum disziplinären Diskurs. Sei es, indem sie wissenschaftlich über das Praxis-Feld schrieben oder die eigene Praxis in Berichten schilderten.

Fokussierung: Zur Geschichte Sozialer Arbeit in Polen als einer Geschichte von Armut und Mitleid Weil es unterschiedliche nationale Geschichten Sozialer Arbeit gibt, die ihre jeweils spezifischen Eigenschaften hervorbrachten, kann es die oder eine (gemeinsame) Geschichte der Wohlfahrtspflege nicht geben. Soziale Arbeit als ein Bereich der Gesellschaft, der sowohl von zentralen politischen als auch kulturellen Entwicklungen tangiert wird, schließt auch die wirtschaftliche Organisation und die religiöse Vielfalt nicht aus – allesamt Faktoren, welche Nation(en)-spezifisch sind, auch wenn Ideen und Konzepte der Heimerziehung über nationale Grenzen hinaus bekannt werden und wirken konnten. Ich richte meinen Blick im Folgenden auf Polen, weil sich der historische Abriss bisher eher auf den deutschen Sprachraum konzentriert hat. In Bezug auf Polen sind nur wenige umfassende Darstellungen zur Geschichte der Wohlfahrtspflege in deutscher Sprache veröffentlicht, auch wenn die Palette der Publikationen vor allem im Hinblick auf die thematischen Verästelungen in Richtung der Stichworte „Sozialpolitik“ und „Gesundheitswesen“ eine breite ist (vgl. Schilde 2006: 157). Sprache stellt neben der Unüberschaubarkeit des Themenfeldes im deutschen Sprachraum überhaupt ein Problem dar, um die historische Entwicklung in Polen nachzuvollziehen. Zwar werden englisch-sprachige Publikationen berücksichtigt, doch wird es nicht möglich sein, auch polnisch-sprachige Texte in den Kanon miteinzubeziehen. Interessant erscheinen neben den Akteuren und Akteurinnen Sozialer Arbeit (wie namentlich Janusz Korczak) vor allem ihre Organisationen, Handlungsfelder und Formen der Intervention im Feld der Wohlfahrtspflege. Ich versuche anschließend das Wirken und Werk Janusz Korczaks in ein größeres Ganzes im Allgemeinen und der Disziplingeschichte im Speziellen einzuordnen. Denn eines ist bereits offensichtlich geworden und muss weiter ausgeführt werden: Der Pädagoge Janusz Korczak agierte weder in einem Vakuum noch war er der einzige, der sich seinerzeit „der Sache des Kindes“ angenommen hat. In Polen wurzelt die Vorgeschichte der Sozialen Arbeit in der säkularen Hilfe und Pflege, die durch Könige und Intellektuelle unterstützt wurde. Im Verlauf des Mittelalters konnte die karitative bzw. konfessionelle Hilfe vonseiten der Kirche

3.3 Praxis als Können

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Zahlen-mäßig zunehmen, weil sie als Institution und ihr Einfluss auf die polnischen Massen immer stärker geworden war. Sie unterhielt nicht nur wohltätige Gesellschaften und Institutionen, sondern hat auch Konvente für beide Geschlechter eingeführt und Wohlfahrt auf der Gemeindeebene organisiert (vgl. Schulte 2006: 127). Die polnische Gesetzgebung griff bereits seit Ende des 15. Jahrhunderts in das Armenwesen ein, das zuvor ganz in privater Hand lag. Die Legislative wollte aber nicht unterstützen, sondern der „Plage des Bettelwesens“ in einer Zeit entgegenwirken, als in ganz Europa „Armenpolizeien“ eingesetzt wurden, um zum Betteln befugte „wahrhaftig“ Arme von „Müßiggängern“ zu trennen (vgl. Schwara 2003: 157).

123 Jahre Fremdherrschaft – Soziale Arbeit während der Dreiteilung Mit der Entwicklung des Kapitalismus gingen Prozesse der Verarmung und soziale Konflikte einher, die Gelehrte wie Politiker mit dem Problem des Elends als sozialem Phänomen konfrontiert haben (Geremek 1988: 7). Es ist ein Merkmal der Neuzeit, den Grad von Armut einzuschätzen und darüber nachzudenken, ob sie selbst- oder fremdverschuldet ist. Gesellschaftliche Angelegenheiten sind zu einem festen Bestandteil öffentlicher Debatten geworden, die auch soziale Fragen nicht länger ausschließen. Durch Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse ist es auch in Polen zu wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen gekommen, die nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze gesellschaftliche Gruppen mit Versorgungs- und Lebensproblemen belasteten, die sie allein nicht (mehr) lösen konnten. Nachdem der Prozess der modernen Verstädterung auch in Polen / Warschau eingesetzt hat, wuchs die Großindustrie, die das Verkehrswesen, den Handel und den Dienstleistungssektor beeinflusste. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die Einwohnerzahl Warschaus in einem „atemberaubenden Tempo“ vergrößert. Sie ist zwischen 1866 und 1914 um mehr als das Zweieinhalbfache angestiegen (vgl. Żarnowska 2006: 41). Viele Menschen sind aus proletarischen Bauernfamilien oder verarmten Grundbesitzerfamilien zugezogen, die hofften, ihren Lebensunterhalt im industriellen Sektor verdienen zu können, um nicht sozial oder materiell abzusteigen (vgl. ebd.: 41). Der Wechsel vom ländlichen in den urbanen Raum ist vor allem dann zu einer Herausforderung geworden, wenn die großstädtischen Bedingungen im Vorfeld unterschätzt wurden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fehlte es in Warschau vor allem an bezahlbarem Wohnraum. Eine durchschnittliche Arbeiterfamilie verfügte über ein nur bescheidenes Haushaltsgeld und die Mieten der Mietshausneubauten waren häufig zu hoch. Außerdem kam erschwerend hinzu, dass die russische Teilungsmacht die Investition in das kommunale Bauwesen oder den Ausbau der Infrastruktur lange unterbunden hat. Der Arbeiterwohnungsbau wurde vernachlässigt und es konnten in Warschau bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur einige wenige Arbeiterhäuser 185

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

im Stadtteil Wola errichtet werden (vgl. ebd.: 43). Die Wohnungssituation war vielmehr ein Wohnungselend. In den 1880er Jahren wurde überhaupt erst mit dem Bau von Wasserleitungen und Kanalisationsanlagen begonnen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren gerade einmal 68 Prozent der Gebäude an das Wasserleitungsnetz und 47 Prozent an die Kanalisation angeschlossen. Bis zum Kriegsausbruch waren noch 56 Prozent der Häuser ohne Gasanschluss und ähnlich verhält es sich auch mit dem Anschluss an das elektronische Stromnetz, denn 1919 verfügten nur 38 Prozent der Bauten über Strom (vgl. ebd.: 42 f.). Die Mehrheit der Arbeiterfamilien (Proletarierfamilien) lebte in Einzimmerwohnungen ohne Wasser, Gas und Strom in deutlicher Überlegung. Am billigsten waren (die häufig feuchten) Kellerwohnungen und (kleinen) Dachstuben (in den Hinterhäusern). Dementsprechend niedrig war der Wohnstandard. In den Wohnräumen wurde der Haushalt geführt und die existentiellen Grundbedürfnisse (essen und schlafen und ein Minimum an Körperpflege) befriedigt, wenn nicht der Ehemann / Vater und die Ehefrau / Mutter die ohnehin beengten Verhältnisse auch noch für den Verdienst des Lebensunterhaltes nutzten. Es war die Zeit, als Soziale Arbeit in den Großstädten immer notwendiger wurde. In diesem Kontext soll sie als „das Insgesamt der in der Gesellschaft vorkommenden Aktivitäten mit dem Ziel, die Lebensverhältnisse innerhalb des Gemeinwesens für die ihm angehörenden Menschen zu verbessern“ (Wendt 1990: 1) bezeichnet sowie als Verknüpfung zwischen sozialer Realität und dem Kontext für soziale Aktivitäten und dem theoretischen Feld sozialer Ausbildung (vgl. Szczepaniak-Wiecha 2009: 79) verstanden werden. Der Begriff ist erst nach 1890 gefunden worden, aber bereits mit Beginn der 123-jährigen Fremdherrschaft (1795 bis 1918) hat sich in Polen das Bewusstsein und die Haltung, den Armen und Kranken zu helfen, verstärkt und zu einer sozialen Verantwortung gemahnt. Es wurden unterschiedliche Lösungsversuche im Bereich des privaten Engagements gefunden und teils religiös fundierte Organisationen gegründet. Durch die Dreiteilung war auch das Sozialversicherungssystem divergent. Während Preußen und Österreich ihr System versuchten, auf dem fremden Territorium zu adaptieren, fehlte im russischen Kongresspolen eine soziale Absicherung gänzlich. Die Bedeutung der kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen138 nahm zu, auch wenn die Spannungen von Staat und römisch-katholischer Kirche nicht

138 Im preußischen Teil waren alle kirchlichen Organisationen unter dem „Dachverband der polnisch-katholischen Gesellschaften“ zusammengeschlossen. In Kongresspolen war die „Polnisch Christliche Gesellschaft für Inlanddienste“ für Versicherungsfragen zuständig, betrieb Arbeitsvermittlungen und förderte neben der Ausbildung auch die Einrichtung von Büchereien und Lesestuben (vgl. Schulte 2006: 127).

3.3 Praxis als Können

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abnahmen. Beide wurden zu Gegenmächten. Heute ist sie Staatskirche, aber während der Dreiteilung war sie eine Kirche des Volkes, weil nur die Habsburger den Katholizismus anerkannt haben (vgl. Hering 2006: 54). Die Polen und Polinnen mit einem römisch-katholischen Glaubensbekenntnis waren im preußischen und russischen Teil eine Minderheit. Russland führte sogar einen offenen Kampf gegen den Katholizismus. Unter dem Primat der orthodoxen Kirche wurden römisch-katholische Geistliche ins Exil geschickt, die Regierung mischte sich in Fragen des Gottesdienstes ein und es wurden nicht nur religiöse Orden unterdrückt, sondern auch Kirchen geschlossen. Als Folge des „Kulturkampfes“ unter Otto von Bismarck (1815 bis 1898) nahm im preußischen Teil das politische wie soziale Engagement der polnischen Geistlichen zu, die sich an der polnischen Nationalbewegung beteiligten (vgl. Schulte 2006: 127). Es ist eine polnische Besonderheit, dass Soziale Arbeit in diesen Jahren (vor allem mit dem Bestreben erziehen und bilden zu wollen) auch ein Ausdruck eines gelebten Patriotismus war. Es war die Zeit der Sozialaktivisten und -aktivistinnen, die an vorderster Front zu Gestaltern und Gestalterinnen der polnischen Zivilgesellschaft wurden. Während der Sozialaktivismus in anderen europäischen Ländern eine Möglichkeit für Frauen war, (finanziell) unabhängig, selbstbestimmt und mobil zu sein, waren junge Polinnen aus gutem Hause mit dem Lehrbuch unter dem Arm zur Symbolfigur eines polnischen Patriotismus geworden (Davis 1984: 268 zit. n. Deller und Brainerd 2001: 20). Weil die Besatzer (Preußen, Österreich und Russland) in den Teilungsgebieten bestrebt waren, die polnische Kultur zu überformen, blühten geheime patriotische Organisationen im Untergrund auf. Vor allem die Polinnen spielten eine Hauptrolle in der Schlacht gegen die Unterdrücker, weil sie die Weitergabe von polnischer Geschichte und Kultur als Waffe in einer Zeit wählten, als die Besatzer auch über den Bildungskanon bestimmten. In Warschau gab es zu jener Zeit nur wenige Organisationen, deren Arbeit von der russischen Obrigkeit geduldet wurde. Pressierende soziale Probleme wurden auf dem Wege der Philanthropie gelöst, weil die soziale Fürsorge noch nicht (wie in den westlichen Ländern Europas) zu den Aufgaben des Staates gehörte: „Bei uns [in Polen] hat die soziale Fürsorge das Leben des Menschen noch nicht in dem Maße ergriffen wie im Ausland, und darin muß man die Ursache für die Kriminalität unter den Kindern suchen. Im Westen leidet nur derjenige Hunger und Not, der außergewöhnlich benachteiligt ist. Bei uns unterdrückt das Elend ganze Scharen redlicher Familien, sei es aus Gründen völliger Arbeitslosigkeit, sei es wegen lächerlich niedriger Verdienste. Die Atmosphäre in diesen Familien ist mörderisch für die Kinder. Not, Hunger und der absolute Mangel an Betreuung […]“ (SW Bd. 9: 576).

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Die größte soziale Organisation im Königreich Polen war die „Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft“ (poln. „Warszawaskie Towarzystwo Dobroczynności“, WTD). Sie wurde 1814 gegründet; adressierte Alte, Waisen und Kinder von Notleidenden; richtete Krippen, Kindergärten, Nähstuben für Mädchen, Billigküchen und Volksbäder ein und unterhielt mehrere kostenlose öffentliche Bibliotheken (vgl. SW Bd. 7: 467). Ihre Arbeit stand trotz der Russifizierung der Bildung und Androhung von Strafmaßnahmen von Seiten des Besatzers in der polnischen Tradition, durch Alphabetisierung, Mathematikunterricht und das Erlernen eines Handwerks soziale Not und Verwahrlosung verhindern zu wollen. Wie ich bereits heraus gearbeitet habe, war auch Janusz Korczak für die WTD tätig. Er hat seit 1902 in den kostenlosen Lesesälen mitgearbeitet und als freiwilliger Helfer die autodidaktischen Arbeiten der Leser und Leserinnen unterstützt. Daneben ist die „Warschauer Hygienegesellschaft“ (poln. „Warszawaskie Towarzystwo Higieniczne“, WTH)139zu nennen; eine klerikale, aristokratische wie plutokratische Vereinigung, die 1898 auf Anregung einer mit der Zeitschrift „Zdrowie“ (dt. „Gesundheit“) zusammenarbeitenden Forschergruppe gegründet wurde und sich der Volkshygiene widmete. Zu ihren Mitgliedern zählten u. a. Ärzte, Pädagogen, Vertreter der Warschauer Intelligenz und Priester. Janusz Korczak ist der WTH als ordentliches Mitglied 1902 beigetreten (vgl. ebd.: 127). Sie hat die Abteilungen „Hygiene der Städte“, „Krankenhäuser und Kurorte“, „Volks- und Industriehygiene“, „Alkoholgenussbekämpfung“, „Tuberkulosebekämpfung“ und „Erziehungshygiene“ einschließlich „Sommerkoloniefragen“ (ebd.: 468) gegründet. Von einer loyalen und konservativen Ideologie geleitet, führte sie zahlreiche Fürsorge-Initiativen durch. Die Wohltätigkeitsgesellschaft unterhielt u. a. kostenlose Ambulanzen, Leihbibliotheken, einige Kinderhorte und Waisenhäuser. Sie leistete außerdem eine umfassende hygienische und sozialpädagogische Arbeit. Sie organisierte öffentliche Vorlesungen, Hygiene-Ausstellungen und ermöglichte ihren Mitgliedern die Teilnahme an internationalen Kongressen (vgl. Sobecki 2008: 49 f.). Die „polnische Hygienebewegung“ (an der sich seit 1902 auch der Medizinstudent Janusz Korczak beteiligte) zeichnete sich vor allem durch „die Hervorhebung der pädagogischen Arbeit“ aus, „die unter dem Deckmantel der legalen hygienischen Initiativen ausschließlich im Untergrund realisiert wurde“, weshalb eine Erziehungssektion als „aktivste und bedeutsamste Gruppe“ (ebd.: 50) eingerichtet wurde.

139 Janusz Korczak schätzte die (Aufklärungs-)Arbeit der Gesellschaft: „‚Warschau, ich liebe dich.‘ ‚Und wofür?‘ ‚Dafür, daß du dir Gedanken über die Sauberkeit des Volkes machst […].‘ ‚Hygiene-Gesellschaft, ich liebe dich!‘ ‚Und wofür?‘ ‚Dafür, daß du nach dem Vorbild von Łodź und Kalisz auch in Warschau populärwissenschaftliche Fünf-Kopeken-Vorträge organisieren willst.‘“ (SW Bd. 7: 129).

3.3 Praxis als Können

189

Die Sektion organisierte Spiele für Kinder, Unterricht in polnischer Sprache, die medizinische Fürsorge für die Kinder aus den ärmsten Milieus und war auch an der Ausrichtung der Sommerkolonien beteiligt. Malgorzata Sobecki betont die besondere Bedeutung der „Warschauer Hygienegesellschaft“, weil sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum „Asyl der pädagogischen Gedanken Polens“ (ebd.: 50) avanciert war. Zum Schluss möchte ich noch einmal an die „Gesellschaft für Sommerkolonien in Warschau“ (poln. „Towarzystwo Kolonii Letnich w Warszawie“, TKL) erinnern, auch wenn sie unter dem Punkt „Henryk Goldszmit, der sich sozial Engagierende“ bereits eingeführt wurde. Sie hat ihre Tätigkeit im Jahre 1882 aufgenommen und wollte die Gesundheit schwächlicher Kinder verbessern. Als Janusz Korczak ihr 1900 als Mitglied beitrat, verfügte die TKL über drei eigene Anlagen, die von Kindern christlichen und mosaischen Glaubens im Sommer für ihre Ferienaufenthalte auf dem Land genutzt werden konnten.

Die Zwischenkriegszeit – Der Krieg als Katalysator der Wohlfahrt Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich in Polen ein modernes Wohlfahrtssystem etablieren und das Helfen zu einem Beruf (mit Ausbildung) werden. Die Restriktionen der Fremdherrschenden haben mit der vorübergehenden Unabhängigkeit der polnischen Nation ein Ende gefunden. Die Formen der Wohlfahrtspflege mussten sich nicht mehr an den Vorgaben der Besatzermächte orientieren, auch wenn ihre Vorbilder noch immer in die Praxis Sozialer Arbeit wirkten. Auf galizischem Gebiet ist bspw. der „Gemeindepfleger“ nach österreichischem Vorbild zum Inbegriff des Sozialarbeiters geworden, jedenfalls bis die Trennung von Sozialpädagogik und Sozialer Arbeit und eine erste Welle der Professionalisierung wie in Deutschland eingesetzt hat. Die neu gegründete polnische Nation sah sich mit der Aufgabe konfrontiert, nicht nur die Kriegsfolgen zu beseitigen, sondern auch die Auswirkungen der Dreiteilung zu überwinden. Die Wirtschaft wurde in eine Krise gestürzt und ging mit einer hohen Inflation einher, die Massenarbeitslosigkeit führte zur Verarmung und Marginalisierung vieler Bevölkerungsgruppen, es ist zu einer agrarwirtschaftlichen Überbevölkerung und einem Anstieg der Analphabetismus-Rate gekommen (vgl. Szczepaniak-Wiecha 2009: 79). Die 123-jährige Fremdherrschaft hatte wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Konsequenzen und konnte in fünf Etappen überwunden werden: • 1918 bis 1923: Wiederaufbau und mit den Konsequenzen des Krieges umzugehen lernen, • 1923 bis 1926: Destabilisierung nach der Wirtschaftskrise, 189

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

• 1926 bis 1929: ökonomische Erneuerung vom Agrarsektor und der Industrie, • 1929 bis 1935: große Wirtschaftskrise und staatliche Interventionen, um sie zu überwinden und • 1935 bis 1939: Aufschwung (vgl. Landau und Tomaszewski 1999 in ebd.: 79 f.). In Anlehnung an Dagmar Schultes Beitrag zu Polen in der „Geschichte der Sozialarbeit in acht europäischen Ländern zwischen 1900 und 1960“ (Schulte 2006: 128 f.), werden nachfolgend die Neuerungen auf sozialpolitischer Ebene skizzenhaft auf den Punkt gebracht: 1918 1919

1920

1923

1924

1925 1927/28

• Weil die Zahl der Arbeitslosen auf über eine Million angestiegen war, wurde von örtlichen Komitees Beihilfe geleistet. • Es wurde ein „Gesetz zur Unterstützung Arbeitsloser“ erlassen und Arbeitsvermittlungen waren nicht länger nicht nur in staatlicher Trägerschaft, sondern wurden auch von Gewerkschaften und durch Wohlfahrtsgesellschaften gegründet. • Es wurden die Krankenversicherungspflicht etabliert, kommunale Gesundheitsfonds gegründet und Beihilfe bei Krankheit, Niederkunft, Kindern und für Bestattungen geleistet. • Das „Sozialökonomische Institut“ wurde durch Sozialaktivisten, -aktvistinnen und Gelehrte als Forschungsinstitut begründet, das zu den Themen Arbeitslosigkeit, Arbeitsbedingungen, Armut, Arbeitsmigration und Problemlagen der Landbevölkerung arbeitete. • Außerdem wurde das „Amt für Migration“ eingerichtet. • Durch den „Erlass des Parlamentsbeschlusses zur Sozialfürsorge“ wurde die Rechtsgrundlage vereinheitlicht und eine Grundlage für die Sozialfürsorge geschaffen. Dem Staat oblag nun die Sorge um Bedürftige, die Adoption (durch Pflegefamilien) wurde vereinfacht und Mutterschaft unter den Schutz des Staates gestellt. • Die „Polnische Gesellschaft für Sozialpolitik“ wurde gegründet, die nicht nur zu Sozialpolitik und sozialen Bewegungen forschte, sondern auch die Öffentlichkeit über die Sozialgesetzgebung informierte und an internationalen Sozialpolitik-Kongressen teilnahm. • Es wurde das „Gesetz zur Arbeitslosenversicherung“ verabschiedet und der Arbeitslosenfonds beim Arbeits- und Sozialministerium errichtet. • Außerdem traten Erlasse zum Arbeitsschutz für Frauen und Jugendliche in Kraft. • Der „Rat für Sozialfürsorge“ wurde als beratendes Gremium eingerichtet und durch die Vertreter und Vertreterinnen der Lokalverwaltung, Wohlfahrtseinrichtungen und beteiligten Ministerien gebildet. • Es wurden Standards für Sozialzentren erlassen, was auch die Qualifika­ tion der dort Beschäftigten auf ein höheres Niveau hob.

3.3 Praxis als Können

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• Es wurde das „Institut für Soziale Fragen“ durch Mitglieder der Versicherungsgesellschaften gegründet, das sich mit verschiedenen Fragen der Arbeitssicherheit und Hygiene, Migration, Arbeitslosigkeit, öffentlichen Fürsorge, Ausbildung von Angestellten in sozialen Einrichtungen und der Zusammenstellung von Datenmaterial auseinandersetzte. • Das Bildungssystem wurde von Grund auf reformiert. Es bestand nun aus Kindergärten, einer siebenjährigen Grundschule, einem vierjährigen Gymnasium und einem zweijährigen Lyzeum. • Die Hochschulausbildung wurde gesetzlich geregelt. • Es wurde die „Sozialversicherungsgesellschaft“ gegründet. • Die „Arbeits- und Arbeitslosenfonds“ wurden zusammengelegt.

Die Jahre bis zur Okkupation durch Nazi-Deutschland boten genügend Freiräume und Freiheiten, damit sich die Soziale Arbeit auch in Polen als wissenschaftliche bzw. universitäre Disziplin etablieren konnte. Sie trat aus dem Schatten des Untergrundes heraus und ihre offizielle Geschichte als Wissenschaft beginnt, als Helena Radlińska140 (1879–1954) – eine der Mitbegründerinnen der polnischen Sozialpädagogik – die „Freie Polnische Universität“ Warschaus eröffnete, die auch als „Schule für Erwachsenenbildung und Soziale Arbeit“ bekannt war. Ihre theoretische Orientierung gründete sich auf der Sozialpädagogik und als wissenschaftliche Disziplin setzte sie sich mit der menschlichen Entwicklung und ihrer sozialen Umgebung auseinander. Radlińska und die Schule wurden international bekannt(er), weil ihr Wirkradius nicht auf Warschau bzw. Polen beschränkt blieb. Als eines von fünfzehn Mitgliedern des Komitees, das die erste internationale Konferenz der „National Conference of Social Work“ (1928) organisiert hat, wurde sie u. a. mit Alice Salomon (1872–1948, deutsche Sozialreformerin und eine der Wegbereiterinnen der Sozialen Arbeit als Wissenschaft) bekannt. Das Treffen in Paris hatte das Ziel, eine Bilanz der Modernisierung der Wohlfahrtspflege nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu ziehen. Es war das erste Mal, dass auch südund osteuropäische Staaten stärker an solch einem internationalen Treffen Präsenz zeigten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde von den westlichen Ländern wahrgenommen, dass die Wohlfahrtspflege auch in Polen von Bedeutung war. Folgekonferenzen fanden 1932 in Frankfurt und 1936 in London statt. Radlińska nahm auch an den internationalen Kongressen der Sittlichkeitsbewegung in Genf

140 Radlińksa entstammte einer jüdischen Familie, die zur Elite Warschaus gehörte. Ihr Vater Alexander Rajchman hat die Nationale Philharmonie mitbegründet und ihre Mutter Melania (geb. Hirszfeld) war Journalistin. 191

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

(1922), Montreaux (1924), Dänemark (1929), Paris (1930) und Frankfurt (1932) teil. (vgl. Lepalczyk und Marynowicz-Hetka 2002: 66).

Zwischenresümee In Polen hat sich die Soziale Arbeit als humanistische Disziplin unter dem Dach einer pädagogischen Theorie neben der Psychologie und Soziologie entwickelt und einte die Subdisziplinen Theorie, Teleologie und Methodik (vgl. Olubinski 2004 in Pawelek 2006 / 07: o. S.). Die öffentliche Ersatzerziehung wurde wie in Westeuropa anfangs noch vermehrt von kirchlichen Trägern wahrgenommen, doch die Dreiteilung und der Erste Weltkrieg haben die Existenz breiter Bevölkerungsschichten bedroht und gefährdet. Kinder aus Handwerker-, Landarbeiter- und Industriearbeiterfamilien unterschiedlichen Glaubens lebten in prekären Lebenslagen und ihre Not konnte häufig nur durch Hilfe von außen (außerhalb der Familie) gelindert werden. Die gesellschaftliche Aufgabe der Fürsorge für Kinder (und Jugendliche) wurde in der europäischen Vormoderne kooperativ organisiert (vgl. Ralser 2017: 77). Zwar waren auch in Polen vornehmlich Staat und Kirche Träger der öffentlichen Erziehung, doch gingen mit dem Einzug der Pädagogik bzw. der Disziplingeschichte Sozialer Arbeit auch die Gründung privater Erziehungs- und Fürsorgeanstalten einher. Der Bereich der Wohltätigkeit, sozialen Fürsorge bzw. öffentlichen Wohlfahrt erfuhr nicht nur eine Professionalisierung und Verwissenschaftlichung (vgl. ebd.: 99), sondern hat sich zunehmend auch zu einem interdisziplinären Feld entwickelt, mit dem sich neben Pädagogen / Pädagoginnen nunmehr auch Mediziner, Psychiater und Juristen auseinandersetzten. Wie Soziale Arbeit speziell in den jüdischen Gemeinden organisiert wurde, soll nachfolgend in einem Schwerpunkt herausgearbeitet werden.

Schwerpunkt: Organisationen Sozialer Arbeit in der jüdischen Gemeinde „Zedakah“ leitet sich vom hebräischen Wort „Gerechtigkeit“ ab und wird in der Regel als „Wohltätigkeit“ übersetzt. Es ist ein Gebot, das in der Thora grundrisshaft niedergeschrieben ist und dem jüdische Männer wie Frauen in derselben Weise verpflichtet sind. Es gebietet gläubigen Juden / Jüdinnen von dem abzugeben, was Gott ihnen überlassen hat, um es zu teilen und die Ungleichheit unter den Menschen zu mildern. Ein Gebot der Thora ist außerdem, dass man seinen Nächsten wie sich selbst lieben solle. Es steht im Levitikus 19, Vers 18 geschrieben. In der polnischen Geschichte der Sozialen Arbeit scheint in Bezug auf ihre Organisation neben der römisch-katholischen Kirche vor allem die „jüdische Selbsthilfe“ auf: Als die gesamte Medizin die Gesundheitspflege stärker einschloss und sich auf den Weg der Prophylaxe begab, haben sich Wohlfahrtspflege und Hygiene eng mit-

3.3 Praxis als Können

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einander verschwistert. Es setzte sich der Ansatz durch, dass die Bekämpfung der Armut auch eine Bekämpfung der Volkskrankheiten, unhygienischen Verhältnisse, die sie hervorriefen und seelischer Folgen, die sie begünstigten, erforderte. Dabei war der Monotheismus nicht nur eine religiöse Triebkraft der jüdischen Kultur, sondern auch zur Aufgabe geworden, Differenzen für heute in ihrer Wirkung abzumildern und für morgen auszugleichen, weil alle Menschen vor Gott gleich [im Sinne von gleichwertig] sind (vgl. Simon 1926: 366). Jüdische Gemeinden [in der Einzahl auch „Kehillah“ oder „Kahal“] führten, bedingt durch die jüdische Kultur [den jüdischen Glauben] und das Gebot der Zedakah, häufig ein ethisches, soziales, historisches und intellektuelles Eigenleben. In Folge des Antisemitismus, der sowohl durch diskriminierende Gesetze als auch in Pogromen von Seiten der Polen und Polinnen sichtbar wurde, waren eigene soziale und kulturelle Strukturen notwendig geworden (vgl. Hering 2006: 55). Viele jüdische Gemeinden haben sich eine spezifisch jüdische Sozial-, Bildungs-, Armen- und Krankenfürsorge aufgebaut, der neben Schulen (z. B. die Cheder), Kranken- und Waisenhäusern sowie später auch zionistische Organisationen und Bildungswerke, jüdische Internate und Ausbildungsstätten, rabbinische Lehranstalten und jüdische Hochschulen angegliedert waren. Die ersten jüdischen Organisationen sind bereits im 16. Jahrhundert entstanden, so dass die jüdische Wohlfahrt auf eine lange Tradition zurückblickt. Ihr Wandel wurde in den 1850ern sowohl von der Umwelt als auch von westeuropäischen Impulsen geprägt. Gerade die assimilierten Kreise orientierten sich nicht mehr unbedingt an jüdischen Formen der Wohltätigkeit, weil die individuelle Hilfe Einzelner an Einzelne von organisierter Wohltätigkeit abgelöst wurde. Wohltätige Organisationen fungierten als „Vermittler“, so dass sich Gebende und Nehmende nicht mehr direkt gegenüber standen (vgl. Schwara 2003: 159). Außerdem bemühten sie sich, einen Übergang von reiner Wohltätigkeit zur „Sozialpolitik“ zu finden (vgl. ebd.: 163). Die Motivation der jüdischen Fürsorge wurzelte nicht bloß in reiner Nächstenliebe, sondern auch in der Überzeugung, dass die zukünftige jüdische Gemeinschaft durch die Sorge um die Kinder und die Verbesserung ihrer Lebensumstände in der Gegenwart stabiler und erfolgreicher werden könne. Die Kinderfürsorge war also nicht nur ein „Dienst an der Sache des Kindes“, sondern auch an der Gesundheit der ganzen Gemeinschaft. Zwar markiert das Ende des Ersten Weltkrieges eine Wende, weil die Zeit der Unabhängigkeit positiv auf die Professionalisierung Sozialer Arbeit in Polen wirkte; doch schon während der Okkupation durch Preußen, Österreich und Russland gab es soziale Probleme, die (mehr oder weniger) professionell vermieden, gelöst oder bearbeitet werden mussten. Dass (jüdische) Kinder als Voll-, Halb- oder Sozialwaisen aufwuchsen, war kein Phänomen, das als Folge des Ersten Weltkrieges gedeutet werden kann. Er war schon sehr viel früher in Erscheinung getreten und 193

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

zeigt sich auch im Leben und Werk Janusz Korczaks. Er widmete sich der „Sache des Kindes“ nicht erst seit der Rückkehr aus der Ukraine, sondern engagierte sich bereits während seines Medizinstudiums für die armen (jüdischen) Kinder Warschaus. Sein Engagement war aber nicht das eines „Einzelkämpfers“, sondern in ein Netz von (wohltätigen und nicht-staatlichen) Organisationen eingeflochten, wie sich im weiteren Verlauf auch noch deutlicher zeigen wird. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die Not vieler jüdischer Familien sehr groß. Die Industrialisierung hat auch in Polen eingesetzt und die Erwerbsarbeit verändert. Männer, Frauen und Kinder drängten in die Fabriken und die Heimarbeit in den Hintergrund. Sie lebten in Souterrains141, die schon lange „zum Inbegriff des Elends, zum Wohnort der Verlierer des Fortschrittes“ (Augustynowicz 2017: 111) geworden sind. Auch wenn viele jüdische (Groß-)Familien in den Kellerwohnungen und Hinterhöfen mit (selbständigen) Handwerksberufen ihren Lebensunterhalt verdienten, spitzte sich ihre Situation immer weiter zu. Erzeugnisse aus den umliegenden Fabriken und der immer wieder aufkeimende Judenhass, der Boykotte auslösen und in Pogromen gipfeln konnte, führten zu Problemlagen, die sich dann noch verstärkten, wenn ein Elternteil verletzt wurde, erkrankte oder verstarb. In jener Zeit wurde Janusz Korczak zu einer führenden Figur in der Geschichte der polnischen Kinderfürsorge. In seiner Rolle als Leiter des „Dom Sierots“ suchte er nach Möglichkeiten, die Kinder zu Gleichheit und Gerechtigkeit zu führen, weil er glaubte, es gelte vor allem, die Armut unter ihnen zu beseitigen. Er bot mit seiner Kollegin Stefania Wilczyńska vielen jüdischen Kindern ein Heim. Das „Dom Sierot“ ist nach seiner Eröffnung im Jahre 1912 zu einer der effizientesten Einrichtungen Warschaus avanciert und konnte als Vorbild dienen. Hier wurden Kinder nicht nur erzogen und 24 Stunden am Tag (mit Ausnahme des Schulbesuchs) betreut, sondern auch medizinisch versorgt, so dass sich ihr Gesundheitszustand bereits innerhalb der ersten Wochen ihres Aufenthaltes verbessern konnte. Sie wurden bspw. beim Einzug in ihr neues Heim von Parasiten (Läusen) befreit und nahmen durch regelmäßige (und ausgewogenere) Mahlzeiten an Gewicht zu. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Zahl der jüdischen Waisenkinder auf rund 60.000 angestiegen (vgl. Martin 2015: 28). Der Krieg hat seinen Tribut gezollt:

141 Wer sich heute keine (visuelle) Vorstellung mehr vom Leben der Ostjuden und -jüdinnen machen kann, den möchte ich an Roman Vishniacs (1897–1990) Fotografien verweisen. Bildbände wie „Wo Menschen und Bücher lebten – Bilder aus der ostjüdischen Vergangenheit“ (1993), „Verschwundene Welt“ (1996) oder „Kinder einer verschwundenen Welt – Bilder aus dem Schtetl“ (2000) haben die Vergangenheit festgehalten und machen das, was ich in meiner Monographie nur beschreiben kann, sichtbar.

3.3 Praxis als Können

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• Väter sind gefallen, verstört oder verwundert aus dem Krieg heimgekehrt, • Mütter sind zu Pflegerinnen ihrer Männer oder zu Witwen geworden, deren Lage als Alleinernäherinnen oder -erziehende schwierig war oder • ein wenn nicht gar beide Elternteile sind den Pogromen z. B. in Galizien zum Opfer gefallen oder durch Krankheiten ums Leben gekommen. Prekäre Lebensumstände haben in bisher noch nicht gekanntem Ausmaß zu Leid, Armut und Bedürftigkeit von Familien und Kindern geführt. In den Jahren 1914 bis 1923 (während des Ersten Weltkrieges und fünf Jahre danach) gab es auf polnischem Gebiet – ungeachtet der Konfession oder Nationalität der Kinder – keine staatlichen Organisationen, die sich Waisenkindern angenommen haben. Es fehlte eine (zentrale und staatliche) Behörde, bei der sich Fürsorgeorganisationen registrieren konnten und unter deren Schirmherrschaft sie sich hätten organisieren können. Zwar wandten sie sich seit 1918 verstärkt an den Staat, um finanzielle Unterstützung zu erhalten, doch wurde die Waisenfürsorge erst mit der Gründung des „Minsiterwo Pracy i Opieki Społecznej“ (dt. „Ministerium für Arbeit und Soziales“) staatlich reglementiert. Der Staat aber limitierte in Bezug auf die Kinder seine Zuständigkeit, so dass er zwar Verantwortung für Kriegswaisen übernahm; aber die Zahl der Adoptionen jüdischer Kinder in Polen oder darüber hinaus so gering war, dass von einem Lösungsansatz nicht die Rede sein kann. Um während der Krise jüdische Kinder zu beschützen, wurden in den jüdischen Gemeinden Vereine und Gesellschaften gegründet. In ihnen engagierten sich vor allem Lehrer, Ärzte und Rechtsanwälte – Privatpersonen, die über die nötigen (finanziellen) Ressourcen verfügten und als Teil der zivilen Gesellschaft (aktiv) an der freien sozialen und politischen Entwicklung Polens teilhaben wollten. In den Zwischenkriegsjahren wurde in den jüdischen Gemeinden die Soziale Arbeit von zwei Pfeilern getragen – der privaten und der institutionellen Fürsorge. Die Unterbringung von Halb-, Voll- und Sozialwaisen in „Pflegefamilien“ hat sich als eine praktikable Form der Hilfe und schnelle Antwort auf die dringende Frage, wie den Kindern geholfen werden konnte, erwiesen. Sie hatte den Vorteil, institutionell unabhängig und finanziell weniger aufwändig zu sein. Außerdem konnten die Kinder in ihrem gewohnten (sozialen) Umfeld verbleiben, wenn sie bspw. von nahen oder ferneren Verwandten aufgenommen wurden. Dass sich dadurch ihre Lebensumstände nicht immer verbesserten, liegt auf der Hand, weil die Familien, die sich der Waisen annahmen, zumeist selbst in Armut lebten. Hinzu kommt, dass es nicht unüblich war, dass eine Familie mehr als ein Waisenkind zu sich nahm. Die finanzielle Unterstützung [im Sinne von Sozialleistungen] der Sozialfürsorge war dann zwar höher, aber Hunger, Kälte und beengter Wohnraum noch immer ein „Problem“, das durch diese Form der Fürsorge nicht gelöst werden konnte. 195

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Lokale nicht-staatliche Organisationen förderten auch weiterhin Institutionen wie das „Dom Sierot“, um Waisenkindern bessere Bedingungen für ihr Aufwachsen zu gewähren. Als Pioniere auf dem Gebiet der Sozialen Arbeit sind auch Kazimierz Jeżewski (1877–1948), der Begründer der „Nestidee“ (wo Kinder aufwachsen und lernen sollten) und Czesław Babicki (1880–1952), der als Mitarbeiter des „Ministeriums für Arbeit und Soziales“ das „Familiensystem“142 etabliert und 1926 eine „Vereinigung für Erzieher“ gegründet hat, zu nennen. Beide Pfeiler (sowohl die private als auch die institutionelle Kinderfürsorge) waren ein Akt der Wohltätigkeit und in den Waisenhäusern ein Ausdruck professionellen Handelns im Feld der Sozialen Arbeit. Es wurde ein öffentlicher Diskurs über ihre Vor- und Nachteile geführt und die Befürworter der privaten und institutionellen Fürsorge regten eine größere Beaufsichtigung im Sinne einer Begleitung und Steuerung derer an, die sich um das Wohl der Kinder sorgten. Die Debatten wurden vor dem Hintergrund geführt, dass die jüdischen Kinder zu produktiven und verantwortungsvollen Erwachsenen heranwachsen sollten (vgl. ebd.: 28). Die wohl bekanntesten Organisationen dieser Zeit waren die „Centralny Związek Towarzystw dla Opieki nad Żydowskimi Sierotami“, kurz CENTOS (dt. „Zentrale Vereinigung von Gesellschaften für die Betreuung jüdischer Waisenkinder“) und „Towarzystwo Ochrony Zdrowia Ludności Żydowskiej“, kurz TOZ (dt. „Gesellschaft für Sicherung der Gesundheit der jüdischen Gesellschaft“). CENTOS war seit Anfang der 1920er Jahre aktiv und wurde durch Experten und Inspektoren aus den Reihen führender Psychologen und Wohltäter unterstützt (vgl. Lewin 1998: 25). TOZ hat am 12.03.1915 eine Abteilung in Warschau gegründet und betreute nicht nur Kinder aus Religions- und Volksschulen, sondern organisierte auch Kolonien zur Erholung und Förderung der Gesundheit, Halbkolonien und regte den Bau von Spielplätzen an (vgl. SW Bd. 9: 222). CENTOS wie TOZ wurden vor allem durch private Spenden finanziert und arbeiteten als nicht-staatliche Organisationen unabhängig. Noch während des Holocaust waren sie vielen Juden und Jüdinnen nützlich und halfen, wo sie (nur) konnten. CENTOS wurde neben Spenden auch von Hilfsgeldern des JDC („Joint Distribution Committe“ oder „American Jewish Joint Distribution Committe“) unterstützt. Die Hilfsorganisation JDC (kurz „Joint“) wurde 1914 von US-amerikanischen Juden und Jüdinnen gegründet, um jüdischen Glaubensgenossen in Europa zu helfen, 142 Das „Familiensystem“ beschreibt eine Form der Gruppenunterbringung und -erziehung. Zehn bis zwölf Kinder bzw. Jugendliche eines Geschlechts lebten in einer geräumigen Wohnung mit je genügend individuellem Raum [Privatsphäre] wie eine Familie zusammen, wobei das älteste Kind von den anderen „Mutter“ oder „Vater“ genannt wurde. Der Erzieher / die Erzieherin erfüllte in Babicks Modell lediglich die Aufgabe der Kontrolle und hielt sich mit Eingriffen zurück.

3.3 Praxis als Können

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die zu den Opfern des Ersten Weltkrieges zählten. Zwar hatte Joint zu Beginn der 1920er geplant, die Arbeit in Polen zu beenden, aber sie nie aufgegeben. Noch während der Okkupation durch Nazi-Deutschland linderte die Hilfsorganisation die wirtschaftliche Not der polnischen Juden und Jüdinnen. Neben Geld wurden Nahrungsmittel in besetzte Gebiete versandt. Daneben verfolgte Joint seit 1921 eine Politik der Hilfe zur Selbsthilfe und wurde auch als Kontrollinstanz tätig. Offizielle des JDC inspizierten nicht nur Waisenhäuser, sondern auch Pflegefamilien, sofern diese durch finanzielle Hilfen des Joints unterstützt wurden. Auf diese Weise versicherten sie sich, ob die Hilfe ankam und die Kindeswohlgefährdung abgewendet werden konnte. Begehungen bzw. die Inaugenscheinnahme waren wichtig, weil es gerade unter den Angestellten [Erziehern und Erzieherinnen] in den Waisenhäusern gravierende Unterschiede gab, die ihre Ausbildung und Arbeitserfahrung betrafen. Eine der bekanntesten Inspektorinnen von CENTOS war im Übrigen Stefania Wilczyńska, die seit 1937 im Auftrag des Komitees verschiedene Waisenhäuser besucht und deren Arbeit sie eingeschätzt hat. Mit der (finanziellen) Hilfe von Joint ist es CENTOS in den 1930ern gelungen, die Kinderfürsorge zu zentralisieren, die von regionalen und lokalen Vereinen getragen wurde. 1926 arbeiteten in 335 Städten 349 lokale Vereine und 1937 waren es immerhin noch 276 in 201 Städten. Ihre Arbeit wurde im Hinblick auf die Finanzen vor allem durch jährliche Spenden der Mitglieder getragen. Ihre Zahl sank in der Zwischenkriegszeit nie unter 40.000 und war 1931 sogar auf 54.000 angestiegen. Ihre Vielzahl ermöglichte es CENTOS, bspw. noch im Jahre 1937 29.648 Kinder zu unterstützen. Dabei beschränkte sich die Hilfe nicht nur auf Kleidung und Nahrung, sondern umfasste auch die Fahrten in Sommerkolonien und die Unterbringung in privater Pflege oder Fürsorgeeinrichtungen. Während 1926 noch 11.108 Kinder in privater Pflege untergebracht waren, sank ihre Zahl 1934 auf 3.470 und stieg 1938 wieder auf 6.592 an. Die Zahl der Kinder in den Waisenhäusern war dagegen zwischen 1936 und 1938 stetig angestiegen. 1926 waren 4.671 Kinder in 115 Institutionen untergebracht und 1938 waren es bereits 9.799 in 205 Institutionen (vgl. ebd.: 30). Außerdem unterhielt CENTOS im Sommer 1940 noch dreizehn Internate, in denen 1.719 Kinder untergebracht waren, auch wenn die finanziellen Unterstützungsleistungen immer knapper wurden. Abbildung sechzehn führt alle von CENTOS finanzierten Einrichtungen auf, verweist auf ihre Adresse und auch die Zahl der untergebrachten Kinder:

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Einrichtung

Adresse

Jungeninternat143 Internat für Kleinkinder Mädcheninternat Heim für Waisenkinder Waisenhaus „Dom Sierot“ Jüdisches Jugendheim für Waisen Orthodoxes Hauptwohnheim Internat „Unser Bienenstock“ Kindersanatorium Heim für Flüchtlingskinder Medizinisch-Pädagogische Anstalt Internat für obdachlose Kinder Kinderabteilung in der Anstalt „Zofiȯwka“

Gȩsia 6–8 Graniczna 10 Mylna 18 Twarda 7 Krochmalna 92 Twarda 27 Leszno 127 Miedzesyn Miedzesyn Otwock, Glieniecka 5 Otwock, Glieniecka 5 Zatrezebie bei Falencia Otwock

Kinderzahl 75 56 93 46 150144 70 511 78 160 50 202 163 65

Abb. 16 Heime, die im Jahre 1940 von CENTOS unterhalten wurden nach Lewin 1998: 37

In den 1930ern wurde die Heimunterbringung vorübergehend favorisiert, weil hier (öffentlich) sichtbar wurde, wem die finanziellen Spenden zu Gute kamen. Der Fluss des Geldes war kontrollierter, also leichter nachvollziehbar und zu überblicken. Außerdem war es möglich, den Kindern im Heim einen Lebensstandard der Mittelklasse zu bieten, auch wenn diese Form der Unterbringung teurer als in Pflegefamilien war. Die Zahlen deuten auf einen großen Wirkradius von CENTOS hin. Neben Hilfeleistungen, die durch eine Vielzahl nicht-staatlicher Organisationen geleistet wurden, beteiligte sich CENTOS auch am öffentlichen Diskurs. Zu ihren Publikationsorganen zählte neben „Dos Kind“ (dt. „Das Kind“) auch „Dos shutzlose kind“ (dt. „Das schutzlose Kind“) und „Przegląd Społezny“ (dt. „Soziale Rundschau“). Sie boten Mitgliedern von CENTOS die Möglichkeit zum Informationsaustausch und eine Plattform zur Diskussion. Neben Janusz Korczak beteiligte sich auch Stefania Wilczyńska an den Debatten um die Pflege der Kinder. Sie war schon länger eine aktive Mitarbeiterin von CENTOS, Janusz Korczak dagegen wandte sich erst in den Jahren der Okkupation immer häufiger mit seinen Anliegen an die Zentrale. Das „Dom Sierot“ wurde wohl bevorzugt, doch waren die Verhandlungen mit Stefania Wilczyńska einfacher, weil ihre Wünsche maßvoller gewesen seien (vgl. Lewin 1998: 79). 143 Auch wenn heute von Schulen geführte Institutionen für Kinder und Jugendliche als Internate verstanden werden, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch geschlossene Erziehungsanstalten bzw. Waisenhäuser als solche bezeichnet (vgl. SW Bd. 4: 143). 144 Vor dem Krieg waren durchschnittlich 107 Kinder im „Dom Sierot“ untergebracht. Im Laufe der drei Okkupationsjahre ist ihre Zahl auf 200 angestiegen (vgl. Lewin 1998: 87).

3.3 Praxis als Können

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Neben CENTOS und TOZ war auch die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ (poln. „Pomoc dla Sierot“) eine wichtige Organisation, auf die ich abschließend noch einmal näher eingehen möchte. Im Jahr 1933, zum 25. Jubiläum des „Dom Sierots“, blickte Janusz Korczak in mehreren Artikeln auf ihre Arbeit zurück. Die Gesellschaft ist 1908 aus der Abteilung „Hilfe für Waisen“ hervorgegangen (vgl. SW Bd. 13: 334) und ihre Ziele wurden in den ersten drei Paragrafen ihrer Satzung festgehalten: „§ 1: Die Gesellschaft […] bezweckt das Aufbringen von Mitteln zum Unterhalt unmündiger Waisen und deren Fürsorge sowie, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, auch der in Warschau wohnenden armen Kinder mosaischer Konfession, ohne Unterschied von Geschlecht, Alter und Herkunft. § 2: Die Hilfe der Gesellschaft beruht […] auf der Versorgung der Waisen und, soweit möglich, weiterer armer Kinder mit Kleidung, Nahrung und Unterkunft, wie auch mit finanzieller Unterstützung. § 3: Im Zusammenhang mit der Vergrößerung ihrer finanziellen Mittel steht der Gesellschaft das Gründungsrecht von folgenden Einrichtung[en] zu: billige Speisewirtschaften, Teestuben, Wohnungen, Versorgungsanstalten, Schutz-Verdienst-Häuser, Werkstätten, Handwerkerschulen mit Grundkursen, Bibliotheken, Nachtherbergen, Krippen und Tagesheime für Kinder ab zwei Jahren mit Gebetsunterricht, Lesen und Schreiben, in welchen sie für ihr Alter geeignete Beschäftigungen und Unterhaltung finden“ („Satzung des Vereins ‚Pomoc dla Sierot‘ in Warschau“ in SW Bd. 7: 471 f.).

Janusz Korczak ist der Gesellschaft noch in ihrem Gründungsjahr als Mitglied beigetreten. Am 06.06.1909 wurde er in den Vorstand gewählt und gab den entscheidenden Impuls, neben der physischen Sicherung des Lebens der Kinder auch sozialpädagogische Ziele zu verfolgen (vgl. SW Bd. 13: 334). Die Zahl der Gesellschaftsmitglieder schrumpfte145 über die Jahre ihres Bestehens proportional zur Bilanz, auch wenn der Hilfebedarf angestiegen ist. Sowohl die Zahl der Schenkungen als auch die Menge und Höhe der (einmaligen) Spenden in Geld und Naturalien sank stetig. Anfangs leistete die Gesellschaft vor allem obdachlosen Greisen, Krämern, Handwerkern, Kranken, Wöchnerinnen und Kindern „brüderliche Hilfe“, denn „der Gedanke an soziale ARBEIT war erwacht und die HOFFNUNG“ (SW Bd. 9: 215). Die Abteilung „Hilfe für Waisen“ wurde der Gesellschaft durch den Verein „Brüderliche Hilfen“ am 29.12.1907 übertragen und widmete ihre Arbeit bis in die 1930er Jahre hinein vier Generationen von Zöglingen. 21 der 25 Jahre bestand auch das „Dom Sierot“, das „weiße Haus“. Die soziale Betreuung ging dort über Philanthropie146 und Pri145 Die sinkende Mitgliederzahl hatte wiederum Auswirkungen auf die Mitgliedsbeiträge, die in der Summe auch kleiner wurden. 146 Im vierten Teil von „Wie liebt man ein Kind“ – „Dom Sierot (Haus der Waisen)“ klärt Janusz Korczak über die Aufgaben der Philanthropie auf. Sie heile weder die sozialen Wunden noch befriedige sie die dringendsten Bedürfnisse. Stattdessen decke sie Miss199

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vatinitiative hinaus. Das Waisenhaus war aber nur ein Unterstützungsangebot der Gesellschaft „Hilfe für Waisen“, die ein vielfältiges, sozialfürsorgerisches Setting zur Begegnung von familiären Problemlagen geschaffen hat. Das „Dom Sierot“ war ausschließlich auf philanthropische Hilfe angewiesen, weil die Stadt Warschau nur eine minimale und eher symbolische Zuwendung aufbrachte (vgl. Bertisch 1999: 279). Das Waisenhaus wurde durch Spenden aus der jüdischen Bourgeoisie an die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ getragen, deren Mitglieder seinem Leiter eine große Handlungsfreiheit gestatteten. Sie finanzierten das Waisenhaus, waren aber nicht die Hausherren. Sie pflegten keinen direkten Kontakt zu den Kindern und durften ohne die Erlaubnis von Janusz Korczak oder seiner Stellvertreterin Stefania Wilczyńska nicht das Haus betreten. Die Kinder waren Halb-, Voll- oder Sozialwaisen. Wenn Eltern, Angehörige oder Pflegende eine Aufnahme in das „Dom Sierot“ wünschten, reichten sie in der Kanzlei der Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ ein Gesuch ein. Anträge wurden täglich entgegen genommen und nach Ablauf eines halben Jahres geprüft. Die in Frage kommenden Kinder wurden zu einem zentralen Termin einbestellt und bzgl. ihrer Gesundheit, Intelligenz, dem Grad ihrer Armut und Vernachlässigung in drei Kategorien (sehr, weniger und am wenigsten aufnahmebedürftig) eingestuft. Sehr aufnahmebedürftig waren all jene, die arm, ohne ausreichende Pflege und keine „Krüppel“, krank oder unterentwickelt waren. Daraufhin besuchten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Vormundschaftskommission die Familien zu Hause und auf einer Sitzung erfolgte der Beschluss über ihre Aufnahme (SW Bd. 4: 251 f.). Die Unterbringung im „Dom Sierot“ war keine Fremdunterbringung als Ultima Ratio im Zuge einer Kindeswohlgefährdung, wie sie heute von Seiten der Jugendämter im deutschen Sprachraum Praxis ist, sondern erfolgte freiwillig.

Janusz Korczak über Wohltätigkeit im Allgemeinen Janusz Korczak war jemand, der die Idee von der Nächstenliebe im 19. und 20. Jahrhundert beförderte. Er liebte und achtete die Kinder und vor allem die Armen unter ihnen mit Wort und Tat. 1901 äußerte er sich in der „Pädagogischen Rundschau“ über die Entwicklung der Wohltätigkeit. Er beschränkte sich dabei nicht nur auf seinen eigenen Wirkradius (Warschau – Polen), sondern versuchte sich an

stände auf, die der Staat noch nicht wahrgenommen oder nicht richtig eingeschätzt habe; stelle Untersuchungen an, ergreife Initiativen und fordere Unterstützung, wenn sie erkennt, dass sie machtlos sei und gebe die Verantwortung an die Gemeinde oder den Staat ab, die in vollem Umfang Hilfe leisten könnten. Außerdem führe sie Neuerungen ein und könne neue Wege in den Bereichen einschlagen, wo sich der Staat nur schematisch, routinemäßig oder möglichst billig betätige (vgl. SW Bd. 4: 250 f.).

3.3 Praxis als Können

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einem globaleren Blick auf das Phänomen und zeigte Möglichkeiten auf, das Engagement der Menschen in den Wohltätigkeitsinstitutionen (noch) zu steigern. Es habe seinerzeit das Sprichwort gegeben, dass von dem Rubel, der in die Kasse gelegt würde, kaum eine Kopeke ihr Ziel erreiche, also nicht in die Hände der wirklich Bedürftigen fiele. Janusz Korczak hat beobachtet, dass die altruistischen Gefühle immer weitere Kreise zogen und „die Spendenbereitschaft der Allgemeinheit mit jedem Tag größer“ wurde, was sich durch: • • • •

täglich neu entstehende Wohltätigkeitsorganisationen, immer neue Namen auf der Liste der großzügigen Spender und Spenderinnen, bedeutende Hinterlassenschaften zu wohltätigem Zwecke und ansteigende Mitgliederzahlen der Gesellschaften zur Hilfe der Armen gezeigt habe.

Seit das Spenden durch wohltätige Veranstaltungen (z. B. Bälle) und Konzerte zu einem gesellschaftlichen Ereignis avanciert war, ist es en vogue geworden „ein paar Rubel zusammenzulegen“ (SW Bd. 9: 126). Es wäre ungewöhnlich, wenn Janusz Korczak diese Entwicklung nicht kritisch(er) hinterfragt hätte. Er gab zu bedenken, dass man sich die Arbeit der Institutionen näher anschauen müsse, um abzuschätzen, ob die Resultate den Anstrengungen entsprächen, die Spenden Nutzen brächten und unter welchen Umständen er nicht noch gesteigert werden könne. Er resümiert, dass viel von dem besten Willen verschwendet würde und man im Handeln vor große Hindernisse gestellt sei, die aber weniger auf den Mangel von Geld (Gold) als auf einen Mangel von Menschen zurückzuführen wären. Kritikwürdig erschien ihm das Ungleichgewicht von finanzieller Hilfe und tatkräftiger bzw. tatsächlich geleisteter Hilfe und Unterstützung. Er gab auch zu bedenken, dass die bezahlten Angestellten der Wohltätigkeitsvereine nicht immer ehrlich wären, also zu Unterschlagung neigten und sich nur selten ihrer großen Verantwortung bewusst seien; und dass es viele Familien gebe, die sich durch Sozialbetrug bereicherten, auch wenn sie gar nicht bedürftig wären (vgl. ebd.: 124). Der Bestandsaufnahme schließt sich die Frage an, wie sich unter diesen Umständen das Gefühl der Nächstenliebe bei Kindern und Jugendlichen herausbilden könne. Die Liebe zum Nächsten wurzele zwar in der Religion, weshalb sie in Gebeten und Büchern beschrieben wird, sei aber häufig nicht im Leben zu beobachten. Mitgefühl zu haben, reiche nicht aus, um die Not und ihre Ursache(n) zu erkennen und zu lindern, weshalb Erziehung sie nicht idealisieren und als etwas Fernes oder Fremdes zeigen dürfe (vgl. ebd.: 126). Die Not bliebe etwas Abstraktes, wenn sie nicht erfahren würde. Janusz Korczak rief deshalb dazu auf, sich vom Informationsbüro für außergewöhnliche Notfälle Familien empfehlen und die Kinder die Spenden persönlich 201

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

übergeben zu lassen (vgl. ebd.: 126 f.). Am besten lebten die ausgewählten Familien außerhalb der Stadt und die Mädchen und Jungen legten den Weg zu ihnen zu Fuß zurück, um nicht nur die Familie, sondern auch die fremde Umgebung besser kennen zu lernen. Hier zeigt sich, dass Janusz Korczak „eine starke Abneigung vor der Wohltätigkeit ‚auf Gummirädern‘“ (ebd.: 126) hatte. Des Weiteren empfahl er den Besuch von Krankenhaussälen, Horten und Werkstätten oder das Beobachten des Abreisetages zu den Sommerkolonien oder von Arbeitswegen am frühen Morgen. In seinem Artikel „Das Wort und das Leben“ schlussfolgert er, dass es in der Kindheit wichtig sei, Wohltätigkeit im Leben zu erfahren und nicht aus „Buch- und Papiergefühlen“ kennen zu lernen. Erst durch die konkrete Beobachtung (Begegnung der Not) und die Teilhabe an ihrer Linderung könne das Bestreben auch als Erwachsener noch wohltätig zu handeln, gefördert werden. Denn oft mangele es nicht an den (finanziellen) Mitteln oder am guten Willen, sondern an den Menschen, die zum Handeln bereit wären, sich (ehrenamtlich) zu engagieren. Kurz: „aus den Kindern, die unmittelbar mit der Not bekannt gemacht worden sind, werden Menschen …“ (ebd.: 127), die nicht nur Vermögen, sondern auch Zeit und Taten für die Armen und Notleidenden opfern.

3.3.2 Janusz Korczak im Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik Janusz Korczak, Kindheitsforscher und Pädologe Janusz Korczaks Wissen war ein Konglomerat aus verschiedenen Disziplinen, das nicht allein aus (s)einem Selbststudium erwachsen ist. Zu seiner Studienzeit war er [scheinbar] immer zur „richtigen“ Zeit an den „richtigen“ Orten, um die „richtigen“ Menschen zu treffen, die ihm zu Lehrern und Vorbildern werden konnten. Er bewegte sich in einem sozialen Netzwerk, das sogar über die Landesgrenzen Polens hinausging und Vertreter / Vertreterinnen unterschiedlicher Disziplinen einschloss, die sein Erkenntnisinteresse wecken, anregen und stillen konnten. In der gelebten Triplizität der Disziplinen kommt eine Interdisziplinarität zum Tragen, die in der Kindheitsforschung ihren finalen (materiellen) Ausdruck findet. Als interdisziplinäres Forschungsfeld vereint sie das Wissen der Pädiatrie, Kinderpsychologie und Heilpädagogik. Auch Janusz Korczak hat mit seiner Arbeit einen Beitrag zur Kindheitsforschung seiner Zeit geleistet. In der Kindheitsforschung verschränken sich Naturwissenschaft (Medizin) und Soziale Arbeit. Als thematische Pfeiler müssen:

3.3 Praxis als Können

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• die Förderung von Lernen und Entwicklung – z. B. Janusz Korczaks Experimente als Schnittfelder von Pädagogik und Wissenschaft (siehe Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 128 ff.), • die Gesundheitsvorbeugung und Prävention (Janusz Korczaks Beiträge zur Sozialmedizin, aber auch die Leitung des „Dom Sierots“ als „Erziehungsklinik“) und • seine Erziehungsphilosophie bzw. sein Menschenbild (das im vierten Kapitel noch stärker in den Fokus rückt) genannt werden. Janusz Korczak verkörpert „die exemplarische Symbiose von Arzt und Pädagoge“ (Kirchner 1987: 81), weil er im Schwellenraum von Medizin und Pädagogik agierte. Seine Aufgabe als Arzt war es, zu heilen, also „Linderung zu bringen, wenn [er] nicht helfen [konnte] den Verlauf der Krankheit aufzuhalten, wenn [er] sie nicht heilen [konnte], Symptome zu bekämpfen, alle – einige, wenn es nicht anders [ging] – ein paar“ (SW Bd. 9: 241). Als Erzieher im Internat [im Waisenhaus] „besserte“ er den Zögling [ohne Anwendung von Gewalt] und stellte ein Gleichgewicht nur in dem Grade her, dass das Kind unter günstigeren Umständen den Weg des Nützlichen statt den des sozialen Schadens einschlagen konnte (vgl. ebd.: 279). Im „Dom Sierot“ sollte das Kind mehr als nur ernährt, beherbergt, bekleidet und oberflächlich betreut, sondern auch von seinen moralischen Leiden geheilt werden. Außerdem wollte Janusz Korczak als Hygieniker Bedingungen schaffen, die ihre Genesung begünstigten – viel Licht, Wärme, Freiheit und Freude (vgl. ebd.: 251). Janusz Korczaks Werk ist somit „die seltene Fusion“ (Oelkers 1987: 85) eines medizinischen und pädagogischen Interesses. Bevor ich fortfahren kann, sollte ich mich noch dem Begriff der Medikalisierung annähern, einem medizinhistorischen Grundbegriff, der auf die von der Annales-Schule147 beeinflusste Medizingeschichtsschreibung in Frankreich zurückgeht. Der französische Historiker Jeanne-Pierre Goubert (1915–2012) verstand unter Medikalisierung einen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts einsetzenden Prozess der Erweiterung des medizinischen Marktes, der Heiler (wie Empiriker, Hebammen und Wundärzte) ausschloss und Ärzte privilegierte. Indem die Mediziner Menschen zu Patienten / Patientinnen erklärten, verlor ein Teil der Bevölkerung ihre Autonomie an die Ärzte. Die intensive Medikalisierung war im Gegensatz zur Ritualisierung einzelner Lebensstadien etwas Neues und machte das Leben „zu einer ununterbrochenen Folge gefährlicher Altersstufen, von denen jede ihre eigene Form der Bevormundung“ brauchte. Von der Wiege bis ins Leichen147 Um die Zeitschrift „Annales“ waren im 20. Jahrhundert mehrere Generationen französischer Historiker gruppiert, die eine neue Methodologie und Praxis in der Geschichtswissenschaft geprägt haben. 203

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

schauhaus wurde „jede Alterskohorte durch ein Milieu konditioniert, das definiert, was für die einzelnen Altersgruppen als Gesundheit zu gelten hat“ (Illich 2007: 56 f.). In der deutschen Forschung hat sich dagegen der Medikalisierungsbegriff, wie ihn die Sozialhistorikerin Ute Frevert zu Beginn der 1980er geprägt hat, bewährt: „Unter Medikalisierung verstehen wir nicht nur die Einbeziehung tendenziell aller Menschen in ein immer dichteres, von akademischen Experten kontrolliertes Netz medizinischer Versorgung. Die Medikalisierung der Gesellschaft fand vielmehr auch auf der Ebene von Normen und Deutungsmustern statt, die die Mentalität sozialer Schichten und Klassen prägten und ihr alltägliches Verhalten strukturierten. Mit der Propagierung von Verhaltensregeln grenzten Ärzte und Gesundheitsadministration zugleich solche Verhaltensweisen aus, die sie als krankheitsfördernd und gesundheitsschädlich bezeichneten“ (Frevert 1985: 42 in Eckart und Jütte 2007: 312 f.).

Freverts Forschungen setzen um 1770 an, als die medizinische Aufklärung mit der Problematisierung von Krankheit durch die Politik ihren Anfang genommen hat148. Im Widerstreit unterschiedlicher medikaler Kulturen gingen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die Ärzte als Sieger hervor (vgl. ebd.: 313). Sie bezeichnet Medikalisierung als einen Wandlungsprozess, der entweder einen Konflikt zwischen zwei medikalen Kulturen [Berufsgruppen – Heiler vs. Ärzte] oder Gesundheitsbürokratien [im Sinne einer Aufklärung oder Hygieneerziehung] und der Bevölkerung oder gar „Elite“ und einem „Volk“ beschreibt (vgl. ebd.: 313). Die Transformation der ärztlichen Kunst zu einer wissenschaftlichen Disziplin hat im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert eingesetzt. Vorher war es üblich, Spitäler mit Pesthöhlen gleichzusetzen, denn bis zum Spätmittelalter galten sie als christliche Hospize. Erst in der Zeit der Kreuzzüge (1095 bis 1221) haben Ärzte nach arabischem Beispiel begonnen, Hospitäler aufzusuchen. Das älteste Spital Polens geht auf das Jahr 1170 zurück und wurde als Zufluchtsstätte für arme Greise gegründet (vgl. Schwara 2003: 157). Der Gedanke, in Hospitälern auch Kranke zu heilen, war Mitte des 17. Jahrhunderts aufgekommen. Im Zuge dessen war bspw. in Warschau das erste Spital gegründet worden, das ausschließlich für Kranke bestimmt (Grotowski 1907 in Schwara 2003: 157) und nicht mehr nur Zufluchtsort, Herberge oder Schutzstätte für Gesunde war. Im 18. Jahrhundert war der Gang ins Hospital auch kein Weg ohne Hoffnung auf Wiederkehr mehr (vgl. Illich 2007: 118), denn das Medizinalwesen wurde mit der Restauration durch eine Bürokratisierung und Modernisierung massiv ausgebaut und erfuhr einen strukturellen Wandel (vgl. Eckart und Jütte 2007: 312 f.). Nach 148 „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Großen“ (Virchow 1879: 34 zit. n. Wendt 1990: 108).

3.3 Praxis als Können

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dem Wiener Kongress (1814 bis 1815) stieg die Zahl der Hospitäler rasch an und die medizinischen Hochschulen erlebten einen Aufschwung. In einem System medizinischer „polizey“ wurde die ärztliche Kunst sukzessive anerkannt und nutzbar gemacht, weil das Wohlbefinden des Volkes durch sanitäre Maßnahmen aller Art zu einem politisch-ökonomischem Zwecke gefördert wurde (vgl. Wendt 1990: 99). Die ärztlichen wie staatlichen Bemühungen zielten auf eine Verbesserung des Gesundheitsverhaltens der Bevölkerung, was u. a. an der Einführung der Pockenschutzimpfung (zu Beginn des 19. Jahrhunderts), an der Geschichte der Geburtshilfe oder dem Anstieg von Hospital-Eröffnungen exemplifiziert werden kann. Durch das ärztliche Wissen um die Natur des Menschen wurde der Arzt „zu einem geeigneten Experten in der Wohlfahrtspolitik und der Hygiene des sozialen Lebens“ (ebd.: 99).149

3.3.3 Die „Erziehungsklinik“ als Forschungssubjekt und Konzept von Praxis Die Heimerziehung zeichnet sich als ein klassisches sozialpädagogisches Arbeitsfeld durch eine hohe Komplexität aus. Als „Prototyp institutionalisierter Erziehung“ (Kupffer und Martin 1994: 48) schafft sie Erziehungsbedingungen, um die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch eine Verbindung von Alltags(er)leben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten während einer Fremdunterbringung zu fördern. Gegenwärtig sind Heime differenzierte Erziehungshilfeeinrichtungen mit einem hohen professionellen Anspruch, die mit den Waisenhäusern, Zucht- und Fürsorgeanstalten des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr viel gemeinsam haben. Trotzdem richtet sich mein Blick nun auf ein Waisenhaus, das seit dem Jahre 1912 kostenfrei und ausnahmslos die Fürsorge für mehr als vier Generationen jüdischer Voll-, Halb- und Sozialwaisen sichergestellt hat. Das „Dom Sierot“ konnte sich während seines dreißigjährigen Bestehens in Warschau zu einer Kerninstitution sozialpädagogischer Arbeit entwickeln. Es befriedigte nicht nur den erzieherischen Bedarf für eine Vielzahl von Zöglingen, sondern war auch das Arbeits- und Forschungsfeld des Praktikers Janusz Korczak. 149 Dieser Medikalisierung „von oben“ sei noch eine „von unten“ zur Seite gestellt: Sie geht auf Eberhard Wollf zurück, der in seinen Studien zu anderen Kernfeldern der Medikalisierungstheorie (Seuchenprophylaxe / Außenseitermedizin) auch auf die aktive Rolle der Zielgruppen medizinischer Aufklärung verwiesen hat (Wolff 1989, 1998 und 2003 in Eckart und Jütte 2007: 314). Die Bevölkerung ließ sich nicht ohne Weiteres medikalisieren, weil sie auf die Maßnahmen der Wohlfahrts- und Hygienepolitik reagierte. Die Impfkritik ist bspw. keine Erfindung der 2010er Jahre, sondern so alt wie die ersten Immunisierungsversuche gegen Krankheitserreger. 205

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Es gilt nun das zeitübergreifend bedeutsame Wissen herauszuarbeiten, welches aus der Institutionengeschichte und der Beschreibung seines praktischen Erziehungsmodells gewonnen werden kann. Janusz Korczak schrieb 1909 in der „Nowa Gazeta“ (dt. „Neue Zeitung“), dass „die Schaffung irgendwelcher dauerhafter Institutionen außer der von Spitälern hierzulande [in Polen] sehr riskant“ (SW Bd. 8: 194) war, es dem Baudouin150-Institut aber gelungen sei, sich zu einem großen Spital und Erziehungsheim zu entwickeln, das • von ihren Eltern ausgesetzte Kinder vor dem sofortigen Tod bewahrte, • ledige Mütter bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützte und • mittels einer angemessenen Erziehung, Kinder zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft machen wollte (vgl. ebd.: 213). Es scheint, als habe der junge Arzt aus dem positiven Beispiel den Mut und die Hoffnung geschöpft, dass so etwas auch ihm gelingen konnte. In der Fusion von öffentlicher Erziehung und klinischem Setting sah er eine Möglichkeit, um ein Waisenhaus als Institution von Bestand zu führen und dem Recht des Kindes auf Fürsorge, gegründet auf seine Würde als Menschen (nicht nur im Sinne des Allgemeinwohls), zu entsprechen. Der „Arzt-Pädagoge“ (SW Bd. 4: 202) entwickelte sein „Warschauer Erziehungsmodell“ in einer „Erziehungsklinik“. Es wurden schon viele Monographien und Aufsätze darüber verfasst, wie Janusz Korczak das „Dom Sierot“ geleitet, und wie er sein pädagogisches System in der Praxis umgesetzt, hat. Die Relektüre soll an dieser Stelle nicht an die bekannten Deskriptionen anschließen, sondern im Werk von Janusz Korczak ihren Anfang nehmen. Er medikalisierte bzw. „medizinisierte“ Kindheit in seiner Erziehungspraxis, weil er sein „Warschauer Erziehungsmodell“ in einer „Erziehungsklinik“ umgesetzt hat. Dieser Umstand soll aufgegriffen und näher untersucht werden: Die Klinik – das Spital – war bereits dreißig Jahre zuvor (1876) von Bołesław Prus als Möglichkeit zur Sozialisierung der jüdischen Massen angeführt worden. In der Monatschronik „Ateneum“ hat er im elften Heft dazu aufgefordert, für die Juden

150 Gabriel Pierre Baudouin (1689–1768) war Priester und Missionar. Er lebte seit 1717 in Warschau, wo er ein „Findlingsheim“ gegründet hat. Janusz Korczak erinnert ihn in „Über das Baudouin Denkmal“ (1901) als „großen Philanthropen und großartigen Verfechter des Grundsatzes ‚Nichts für mich, alles für andere‘“ (vgl. SW Bd. 7: 62). Sein „Haus für Findlinge“ (1736) wurde später „Baudouin-Institut“ genannt (vgl. SW Bd. 8: 213, aber 1732 in SW Bd. 9: 78), das sich im Übergang zum 20. Jahrhundert als „Kindlein-Jesu-Spital“ zu einer führenden europäischen Kinderklinik entwickelt hat (vgl. SW Bd. 8: 62 f.).

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und Jüdinnen Spitäler und Schulen zu bauen. Beide – Prus wie Korczak – schrieben den Spitälern eine kulturelle Bedeutung zu. Janusz Korczak bedauerte es, dass sich seinerzeit die Anstrengungen der jüdischen Gemeinde vor allem auf das Schulwesen konzentrierten und darüber hinaus das Spitalwesen vernachlässigt wurde. Er teilte weder die Auffassung, dass jüdische Eltern ohnehin zu viele Kinder hätten und es gut wäre, wenn die schwachen und anfälligen stürben, denn dort, „wo die meisten Kinder sterben, ist auch die Bevölkerung am schwächsten, da die gleichen schädlichen Bedingungen alle Kinder beeinflussen. Während sie die Schwächsten töten, machen sie Gesündere krank und die Gesündesten kränklich“ (ebd.: 191). Noch machte es für ihn Sinn, dass sich das finanzielle Budget der Familie beim Tod eines Kindes verbessern würde, weil eine Krankheit fatale Folgen haben konnte, wenn sie nicht schnell zum Tode führte. Das Kind könne als Arbeitskraft ausfallen und sich der Unterhalt der Familie schmälern; es bestünde die Möglichkeit, dass es Geschwister ansteckte; die Mutter könne die Arbeitsstelle verlieren, wenn sie das Kind längere Zeit pflegte und zu guter Letzt kosteten auch die Behandlung der Feldscher und Ärzte sehr viel Geld, was die Familie in den (finanziellen) Ruin treiben könne. Kinderspitäler, die wie das Berson-Bauman-Spital die Kinder kostenlos behandelten, wären dagegen in der Lage gewesen, Tausende von armen Familien vor dem materiellen Ruin zu bewahren, als Bildungs- und Erziehungsinstitution zu wirken151 und den sanitären Zustand einer Stadt zu kontrollieren152. „Einem Erzieher, der nicht die Disziplin der klinischen Arbeit im Spital durchlaufen hat – fehlen viele Brennpunkte im Denken und Fühlen“ (SW Bd. 9: 241).

Was machte die Leitung des „Dom Sierots“ als „Erziehungsklinik“ aus? Hier wurden Kinder vor Krankheit und dem Tod (z. B. durch Mangelernährung und deren Folgen) bewahrt und erfuhren gleichzeitig eine angemessene Erziehung, wenn ihre Eltern nicht mehr die soziale und materielle Sorge für sie tragen konnten. Im Erziehungsheim als „Erziehungsklinik“ rückte das gesunde Kind in den Mittelpunkt, für das die Fürsorge übernommen wurde, um mit präventiven Praktiken und nicht medizinischen Interventionen Krankheit zu verhindern und dauerhaft ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen. Hier wurde dem Kind Gesundheit geboten. – „Das einzige Kapital derer, die ohne Erbe, mit eigener Kraft, ins Leben 151 „Gut durchlüftete Krankenzimmer, vorbildliche Bäder, saubere Wäsche, Diät, Isolierung von Kranken beseitigen Vorurteile, vermitteln vernünftige Ansichten – nicht durch Worte, sondern durch Taten“ (ebd.: 192). 152 Im Spital seien die Auswirkungen von Bedingungen in Keller- und Souterrain-Wohnungen zu beobachten, die gesunde Kinder krank machten. 207

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gehen“ (ebd.: 229). Gesundheit ist als Prozess der Anpassung ein Ergebnis autonomer und kulturell geprägter Reaktionen auf eine sozial geschaffene Realität (vgl. Illich 2007: 201). Mit Bezug auf das „Dom Sierot“ bezeichnet sie die Fähigkeit, sich auf ein wechselndes Milieu einzustellen bzw. darin heranzuwachsen. Janusz Korczak gestand den Kindern den Willen zu, ebenso wie die Erwachsenen gesund und stark sein zu wollen, weshalb Erklärungen genügen sollten, dass sie sich in Acht nahmen (vgl. SW Bd. 3: 330). An anderer Stelle, nämlich in „Gesundheit“ (1898) schreibt er: „Kraft brauchen wir im Leben dringend, und Gesundheit wird im Kampf ums Leben oft stark verschlissen. […] Die Kraft, die das Kind in den ersten zwei Jahrzehnten als wertvolles Kapital mitkriegt, bleibt ihm als Reservoir für den Notfall erhalten. Die Gesundheit, die wir ihm mitgeben, wird ihm Jahrzehnte dienen“ (SW Bd. 8: 198).

Es wird durch das Herausarbeiten der Bedeutung der Gesundheit für das Kind offenbar, warum Janusz Korczak der physischen Erziehung des Kindes einen so hohen Stellenwert beimaß. Nicht nur bei Krankheit, sondern auch in Gesundheit sollten sie Pflege erfahren: „Saubere Kleidung, saubere Hände, sauberer Mund, saubere Augen, ein sauberes Zimmer, saubere Luft – das sind die Grundvoraussetzungen. […] Gymnastik ist eine der wichtigsten hygienischen Körperübungen. […] Das Reiben mit Kaltwasser, Duschen, Bäder und das Barfußlaufen machen den Organismus widerstandsfähig gegen jegliche Erkältungen und stärken ihn aufs Beste“ (ebd.: 197).

Janusz Korczak nennt Sauberkeit und körperliche Abhärtung als Grundlagen der körperlichen Erziehung der Kinder. Das Waisenhaus bot durch die stationäre Betreuung in Form von öffentlicher Erziehung als soziale Intervention dem Kind eine Lebenswelt, die es erst nach dem Abschluss der Volksschule wieder verlassen musste. Nicht die „Erziehung“ stand im Vordergrund, sondern das „Bewahren“, denn Janusz Korczak betont gerade den Unterschied zwischen dem polnischen Wort „wychowywać“ (erziehen) und „chować“ (bewahren). „Nicht das deutsche Wort: erziehen153 – ziehen, schleppen, herausziehen. Chować, das ist schützen, beschirmen, vor Hunger, Mißhandlung und Leiden in Sicherheit bringen“ (SW Bd. 9: 229). Die Bedeutung von „chować“ steht nicht nur im Kontrast zur Fürsorgeerziehung seiner Zeit, sondern auch für das Selbstverständnis seiner erzieherischen Praxis, die das Wohl des Kindes und seine Gesundheit zum Ziel hatte. Durch den Führungsstil des „Dom Sierots“ öffnete sich ein therapeutischer Raum, in dem Janusz Korczak seinen Erziehungsidealen durch die Erziehung der Kinder Geltung verschaffen konnte. So 153 Hervorhebung im Original.

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gesehen, leistete er im „Dom Sierot“ ärztliche Arbeit im gesellschaftlichen Maßstab, weil er nicht nur ein einzelnes Individuum [das Kind], sondern eine größere soziale Einheit [die Kindergesellschaft] behandelte, um die Wahrscheinlichkeit einer spezifischen Krankheit innerhalb der ganzen Kindergruppe zu reduzieren, statt nur einen spezifischen Patienten / eine spezifische Patientin [ein Kind] zu heilen (vgl. Goffman 1973: 326). Ein ähnliches Anliegen – nur in größerem Maßstab – hat bspw. auch die Epidemiologie verfolgt, denn parallel nahm die Geschichte der Schutzimpfung(en) ihren Lauf. Forscher wie Louis Pasteur, Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich arbeiteten (angeregt durch die Fortschritte der neuen Wissenschaft der Bakteriologie) emsig an der Weiterentwicklung von Impfstoffen, die zum Schutze der breiten Bevölkerung eingesetzt werden sollten. Im urbanen Raum Warschau ist die Schicht der industriellen Lohnarbeiter rasch angestiegen, was soziale Probleme beförderte, so dass der soziale Gradient die polnische Gesellschaft in eine gesündere Oberschicht und morbidere Mittelund Unterschicht spaltete. In den Elendsquartieren lebten die meisten Familien noch ohne Versicherungsschutz zur Miete, die sie nur so lange begleichen konnten, wie die Eltern (und Kinder) einer Erwerbsarbeit nachgingen. Finanzielle Armut führte häufig zu schlechter(er) Gesundheit und zwang Mädchen und Jungen, unter Bedingungen zu leben, die sie krank machen konnten. Dazu zählten das Fehlen eines festen Wohnsitzes oder sehr beengte Lebensbedingungen (in z. T. feuchten Kellerwohnungen oder kleinen Dachkammern), kein fließendes oder mitunter unsauberes Wasser, nicht vorhandene oder nur unzureichende Sanitäranlagen, Mangelernährung und eine schlechte oder nicht existierende Gesundheitsversorgung. Dagegen bot ihnen das „Dom Sierot“ durch die „stationäre Betreuung“ in Form von öffentlicher Erziehung als soziale Intervention eine Lebenswelt, welche sie erst dann wieder verlassen mussten, wenn sie die Grundschule abgeschlossen haben. Das klinische Setting war Janusz Korczaks Forschungsterrain. Aufgrund der „nicht besonders reichhaltigen Literatur“ (SW Bd. 4: 144), die sich in der Regel auf hygienische Gesichtspunkte oder auf die „leidenschaftliche, grundsätzliche Kritik an der Erziehung von Kindern in der Gemeinschaft“ (ebd.: 144) beschränkte, wurde ihm das „Dom Sierot“ zum Studienobjekt und Laboratorium. Mit „Das Internat“ (als Teil der Tetralogie „Wie liebt man ein Kind“) beteiligte er sich am Diskurs um die Heimerziehung (Internatserziehung) und leistete einen Beitrag, um die Literatur reichhaltiger zu machen. Er gab durch die Deskription seines eigenen Weges einen Einblick in seine pädagogische Praxis, die davon geprägt war, „die farblosen und düsteren Geheimnisse des Internats in der Rolle des Erziehers“ (ebd.: 143) bereits kennen gelernt zu haben und zwar im Schlafsaal, Waschraum, Aufenthaltsraum, Hof und Klosett. Ihm waren die Kinder nicht nur in „ihren Galauniformen der einzelnen Schulklassen, sondern im Negligé des alltäglichen Lebens“ (ebd.: 143) 209

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begegnet. Der Kontakt mit ihnen beschränkte sich nicht allein auf den Unterricht, sondern die Sorge um die Kinder und ihre Pflege umfasste auch jene Zeit, in der sie nicht in der Schule, sondern in der Obhut des Waisenhauses waren. Janusz Korczak führte das Internat nicht als „kaserniertes Gefängnis“ (ebd.: 143), sondern als ein „Haus der Waisen“, wie es auch der polnischen Übersetzung von „Dom Sierot“ entspricht. Das Waisenhaus ist ihm in zweierlei Hinsicht zum „Studienobjekt“ geworden: (1) Auf der einen Seite lebte dort das Kind, das Janusz Korczak beforschen wollte, (2) auf der anderen Seite erprobte er dort auch sein pädagogisches System, das durch stetiges Hinterfragen und Anpassungen im Dialog mit den Kindern (als Forschungssubjekte) die Kontur erhielt, die bis heute als erinnerungswürdiges Erziehungsmodell nachwirkt. (1) Janusz Korczak schrieb zur Eröffnung des Waisenhauses: „Wir kennen das Kind, wenn es krank ist, wenn es sich im Zustand gestörten Gleichgewichts befindet, wir müssen es in seiner stabilen Entwicklung kennenlernen. Wir kennen erhebliche Störungen, aber wir kennen nicht die geringen Abweichungen. Wir kennen das Kind nur zu einem Bruchteil, nur einen Abschnitt seines Lebens, wir müssen aber die verschiedenen Typen und individuellen Unterschiede kennenlernen, über die erste, die zweite Kindheit und Reifezeit, anhand vieler Profile, physischer und geistiger Entwicklung“ (SW Bd. 9: 200).

Ärzte verfügten seiner Zeit über eine Vielzahl von Messdaten, welche über die physische Entwicklung des Kindes Auskunft gaben. Allerdings waren die Erfahrungen, die Ärzte im Spital sammelten, noch ungenügend und betrafen nur die Augenblicke der Krankheit. Das kranke Kind wurde gewissenhaft untersucht, während das gesunde Kind noch ein Desiderat (interdisziplinärer) Forschung war. Das Spital war längst ein Beobachtungsfeld der Ärzte und die Erziehungsanstalt hatte in diesem Punkt noch Nachhol- bzw. Aufholbedarf. Janusz Korczak hatte ihr Potential als Beobachtungsfeld erkannt, weil ein „tiefes Verständnis für die Anstrengungen des Organismus in der Entwicklung, im Kampf um Gleichgewicht und Gesundheit“ (SW Bd. 8: 239) nur das Internat [Waisenhaus] geben konnte. Hier zeigten sich normale Verläufe ebenso wie kleinere oder größere Abweichungen, wenn man sie nur beachtete und aufmerksam studierte. Er rang um eine Synthese klinischen und pädagogischen Wissens. Hygienevorschriften seien ohne Internatserfahrung naiv: „ein Kind soll schlafen, essen oder trinken, es soll an Gewicht zunehmen. Wo bleiben aber die Untersuchungen seines Schlafes, seines Appetits, seiner Entwicklung?“ (ebd.: 239). Die Ärzte hätten sich seinerzeit zwar der Säuglingskrippe angenommen, doch behandelten sie kranke Kinder noch immer ohne Kenntnis der „normalen“ Entwicklung gesunder Kinder im Vorschul- und Schulalter. Um

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die Synthese voranzutreiben, führte er das „Dom Sierot“ als „Erziehungsklinik“. Janusz Korczak konnte hier den normalen Verlauf und gewisse Abweichungen kindlicher Entwicklung systematisch beachten und beobachten. Es ward ihm ein Laboratorium, auch wenn er viele seiner Beobachtungen, Messwerte und Messkurven nicht auswerten konnte, um den „Hieroglyphen-Text Kind“ zu entschlüsseln. Janusz Korczak ging über ausschließlich hygienische Gesichtspunkte und die grundsätzliche Kritik an der Erziehung von Kindern in der Gemeinschaft hinaus, um ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen zu ermöglichen. Und das zu einer Zeit, als sowohl die Kinderheilkunde als auch die Soziale Arbeit bzw. eine Heimerziehung, die sich an den Bedürfnissen der einzelnen Kinder orientiert und ihre Erziehung zum Ziel hat, „noch in den Kinderschuhen“ ihrer Verwissenschaftlichung steckten. Das pädiatrische und pädagogische Wissen über das Kind war noch nicht „in Stein gemeißelt“ und wurde stetig erweitert und systematisiert. Deshalb war es wichtig, Orte zu schaffen, um das Kind „kennen zu lernen“ oder in Janusz Korczaks Sinne zu beforschen. Das „Dom Sierot“ bot einen solchen Ort, denn hier konnte Janusz Korczak verschiedene Kindertypen und ihre Unterschiede beobachten. Da das Haus modern ausgestattet war und die Leitung bemüht war, die Kinder auch materiell zu versorgen, waren die äußeren Umstände für eine stabile Entwicklung gegeben. Während im Kinderspital der Fokus auf der Behandlung der Kinder im Sinne einer Verbesserung ihres Gesundheitszustandes lag, sollten die Kinder in der „Erziehungsklink“ ein stabiles Umfeld geboten bekommen. Dem Kind begegnete Janusz Korczak hier in gesundem wie in krankem Zustand. Dazu bedurfte es neuer bzw. geeigneter(er) Methoden der Erziehung. Er erprobte und suchte diese in „klinischen Settings“ (seiner „Erziehungsklinik“ als „Forschungsterrain“). Die „Erziehungsdiagnostik“ erschien ihm als eine der Hauptaufgaben moderner pädagogischer Forschung (SW Bd. 4: 533) und wird im nächsten Gliederungspunkt noch einmal aufgegriffen. „Die Auseinandersetzung zwischen den Generationen der alten und neuen Grundsätze wird um so schärfer, je heftiger die einen verharren wollen, Altes bewahren, zu spät kommen, die anderen – leichtsinnig stürmen und vorauseilen wollen“ (SW Bd. 8: 210).

Ganz in der Manier der frühen Pädiater, die Fakten in der Klinik zusammentrugen und Dokumente sammelten, um ihr Wissen über kindliche Entwicklung in (ersten) Doktorarbeiten zu bündeln, wollte auch Janusz Korczak „die kleinen Phänomene nicht geringschätzen“, sondern „sie erforschen“ (ebd.: 210), weshalb er nicht Ansichten, sondern Tatsachen in Form von psychologischem, soziologischem, ethnographischem und linguistischem Material gesammelt hat.

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(2) Das „Dom Sierot“ bot aber auch die Möglichkeit, den pädagogischen Weg einzuschlagen, den Janusz Korczak als professionell handelnder Erzieher gehen wollte. Ich verwende den Begriff der Professionalität, weil er die Möglichkeiten der Entwicklung professioneller Handlungsqualitäten in der Sozialpädagogik [Sozialen Arbeit] in den Mittelpunkt rückt. Er steht hier für eine spezifische Qualität einer sozialpädagogischen Handlungspraxis, welche eine Steigerung von Handlungsoptionen, Chancenvervielfältigung und die Erweiterung von Teilhabe- und Zugangsmöglichkeiten der Zöglinge zum Ziel hat (vgl. Dewe et al 2011: 20). Für die professionellen Dimensionen sozialpädagogischen Handelns im „Haus der Waisen“ sind neben den räumlichen Rahmenbedingungen und Ausstattungsmerkmalen vor allem die strukturellen wie inhaltlichen Prinzipien und Arbeits- sowie Ausbildungsmöglichkeiten des pädagogischen Personals von Bedeutung. „Die Kunst, ein Internat zu führen, hängt in ihren kleinen, aber entscheidenden Details von dem Gebäude ab, in dem es sich befindet und von dem Gelände, auf dem es erbaut wurde“ (SW Bd. 4: 249).

Die Entscheidung der Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ ein Grundstück zu erwerben, wurde am 25.04.1911 auf einer „Sondersitzung in der Angelegenheit des Grundstückskaufs an der Krochmalna Straße 92“ getroffen. Es sind in kürzester Zeit genügend Spenden zusammen gekommen, um ein Grundstück zu erwerben, das genügend Platz für einen Neubau bot. Das neugebaute Waisenhaus konnte am 07.10.1912 für die kleinen Bewohner und Bewohnerinnen, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seine Pforten öffnen. 85 Zöglinge (Mädchen und Jungen) zogen von der Franciszkańskastraße 2 in das „Dom Sierot“ um (vgl. Lewin 1998: 11). Das Waisenhaus war auf einem Grundstück der Krochmalna Straße erbaut, die in den 1970er Jahren nach der Umbenennung eines Straßenabschnitts zur Jaktorowskastraße wurde. Janusz Korczak beschreibt die Beziehungen zur Umgebung über die Jahre sehr unterschiedlich: „Manchmal hat uns niemand belästigt, und es war ruhig. Aber manchmal haben die Buben aus der Nachbarschaft unsere Kinder geschlagen, mit Steinen geworfen und gerufen: ‚Bejlisy‘. – Das war sehr ärgerlich. – Sie haben nämlich die kleinen Kinder belästigt, die sich nicht wehren konnten“ (SW Bd. 13: 371).

Auseinandersetzungen und Vorurteile zwischen Juden / Jüdinnen und Polen / Polinnen waren nichts Ungewöhnliches und nicht einmal an Orten friedlicher Koexistenz zu vermeiden. Vor dem 19. Jahrhundert haben die unterschiedliche Religion und Lebensform, die negativen historischen Erfahrungen und die rechtliche Ungleichheit der Juden und Jüdinnen zu ihrer Absonderung in Ghettos bzw.

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rein jüdischen Straßenzügen geführt (vgl. Holbok 1999: 134 f.). Auch wenn die Entwicklungen eine Öffnung in die Außenwelt mit sich brachten, waren das „Dom Sierot“ bzw. seine kleinen Bewohner und Bewohnerinnen partiell von einem offenen Antisemitismus betroffen, der durch verbale und körperliche Übergriffe zum Ausdruck kam. „Beijlisy“ war ein Schimpf- und Schmähausdruck für Menschen jüdischen Glaubens, der auf Menachem Mendl Bejlis (1874–1934) zurückgeht. Er wurde 1913 in Kiew wegen eines Ritualmordes verurteilt und später freigesprochen; doch die „Bejlisangelegenheit“ ist zum Symbol für die antisemitische Politik der russischen Regierung geworden und hat sich als verächtliche Bezeichnung jüdischer Menschen auch in Kongresspolen durchgesetzt (vgl. ebd.: 371). Die jüdischen Jungen und Mädchen aus dem „Dom Sierot“ blieben in der Krochmalna Straße unter den Polen / Polinnen Fremde und wurden den polnischen Arbeiterkindern erst dann gleichgestellt, als der Krieg ausgebrochen ist und sie eingezogen wurden. Der vordere Hof war für Spiele und der Hinterhof für Gartenbeete der Kinder bestimmt. Die Krochmalna Straße begann am Żelazna Brama Platz in der Gnojna Straße (nach 1918 in Rynkowa Straße umbenannt) und führte nach Westen in das Gebiet um die heutige Towarowa Straße. Ihren Namen hat die Krochmalna 1770 erhalten, der auf eine dort ansässige Stärkefabrik zurückging. Ende des 18. Jahrhunderts bestand der Straßenzug aus etwa 40 Häusern und vier Brauereien. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Krochmalna hauptsächlich von der jüdischen Bevölkerung bewohnt. Acht Gebetshäuser und eine Mikwe zäumten den östlichen Teil der Straße. In der Zwischenkriegszeit war die Krochmalna eine der am meisten vernachlässigten Straßen der Warschauer Innenstadt. Im Jahr 1939 gab es 92 Vorderhäuser, darunter über 50 Mietshäuser mit zwei oder sechs Stockwerken. Außerdem gab es eine Vielzahl von Hinterhäusern. Die Straße war eng, die Häuser hoch. Dort lebten arme (jüdische) Ladenbesitzer oder Arbeiter, aber auch viele Gelehrte ebenso wie Tagediebe, Verbrecher und Leute aus der Unterwelt (vgl. Singer 2011: 9). Auch bei Stefan Żeromski (1864–1925) finden sich Beschreibungen der Krochmalna, der Gasse, die man Straße nannte (vgl. Żeromski 1954: 37). Dort hat es „von Juden wie in einem Ameisenhaufen“ (ebd.: 37) gewimmelt – Verkäufer schleppten umgehängte Sodawasserbehälter und Gläser; Frauen hielten gekochte Saubohnen, Bohnen, Erbsen und Melonenkörner feil; man sah Lastenträger; es gab kleine offene Läden, die aussahen „wie Schubläden, mit Papier ausgelegt“ (ebd.: 37), in ihnen konnten gekochte Eier, geräucherte Heringe, Schokoladentafeln, Pralinen, Käse, Gemüse, koschere Wurst und Zigaretten erworben werden; außerdem fanden sich Werkstätten und Perückenfabriken bzw. Friseurläden. Die Bewohner Wolas trugen selten Zylinder oder Hut, sondern Arbeitskleidung und abgerissene Kleidungsstücke; grünhäutige Melancholiker, ungekämmte und ungewaschene 213

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Menschen mit kranken, hageren, langnasigen, schmutziggelben Gesichtern mit blutunterlaufenen, triefenden, vom Unglück abgestumpfter Augen (vgl. ebd.: 38). Das frei stehende, moderne, vierstöckige Waisenhaus mit seiner weißen Fassade fiel nach seinem Bau sofort ins Auge, weshalb es auch hämisch „Palast“ und „Paradies-Oase“ (SW Bd. 9: 216) genannt wurde. Aleksander Lewin erinnert sich, dass die Zeitungen vom „Dom Sierot“ auch als einer „Zierde Polens“ geschrieben haben, das zu einem „Mekka der Pädagogik“ geworden ist (vgl. Lewin 1998: 11 f.). Es scheint, als habe das „Dom Sierot“ nicht in seine Zeit bzw. in die Krochmalna Straße gepasst, denn es war anders als die übrigen Häuser im Viertel und womöglich ein Gegenraum, eine „Heterotopie“ (Foucault 2014). Michel Foucault (1926–1984) bezeichnet als Heterotopien154 die vollkommen anderen Räume, welche aber lokalisierbar und real jenseits aller Orte sind (vgl. Foucault 2014: 11), was sie von Utopien155 (die keinen Ort haben) unterscheidet. Er geht außerdem davon aus, dass Heterotopien eine Konstante aller menschlichen Gruppen und die Orte sind, die sich „allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen“ (ebd.: 10). So gedeutet, ersetzte das „Haus der Waisen“ das Zuhause (die Familie) und reinigte in dem Sinne, als dass die Kinder von Schädlingen (wie bspw. Läusen) befreit und hygienische Standards eingehalten wurden. Das „Dom Sierot“ war eine „Abweichungsheterotopie“, denn als Waisenhaus war es ein Ort, den die Gesellschaft an ihrem Rande unterhielt (vgl. ebd.: 12). Nicht aber die Kinder als Menschen waren von der geforderten Norm abgewichen, weil sie in der Regel nicht verhaltensauffällig waren, sondern die Lebensumstände, in denen sie aufwuchsen, entsprachen nicht dem Durchschnitt und waren prekär. So wurde der „Palast“ bzw. die „paradiesische Oase“ zu einem Lebensraum für Kinder, der „im Gegensatz zur wirren Umgebung“ (im Sinne ihres Herkunftsmilieus) „eine vollkommene Ordnung“ (ebd.: 20) aufwies, die – wie sich im weiteren Verlauf noch zeigen wird – das Zusammenleben der Kinder nach einem Ideal (aus-)gestaltete, das sie als Akteure und Akteurinnen anerkannte und miteinbezog. Die ganze Frontlinie des „Dom Sierots“ war nach Süden ausgerichtet. Auf diese Weise waren alle Räume, in denen sich die Kinder die meiste Zeit des Tages aufhielten, mit viel Tageslicht erfüllt. Im hohen Souterrain befanden sich neben den Wirtschaftsräumen auch die Garderobe, ein Speiseraum sowie Bade- und 154 „Dennoch glaube ich, dass es – in allen Gesellschaften – Utopien gibt, die einen bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt“ (Foucault 2014: 9). 155 Jürgen Oelkers hat das „Haus der Waisen“ als „konkrete Utopie“ bezeichnet. Eine Institution, die weitestgehend das „Werk der Kinder“ war (vgl. Oelkers 1987: 94). Der Begriff der „Heterotopie“ erscheint mir aber angemessener.

3.3 Praxis als Können

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Duschräume, die bis zu einer Höhe von einem Meter achtzig mit Terrakotta oder Fliesen ausgekleidet waren. Das Erdgeschoss wurde von einem einhundertachtzig Quadratmeter großen Aufenthaltsraum mit Galerie dominiert. Im ersten Stock waren die Nähstube, ein Klassenzimmer, ein Museum, der allgemeine Baderaum und das Isolierzimmer für Kranke untergebracht. In der Zeit, als die Burse bestand, wohnten hier auch die Bursisten und Burstinnen. In der zweiten Etage gab es je einen Schlafsaal für die Jungen und einen für die Mädchen. Die Kinder schliefen in Metallbetten mit weißen Bettbezügen. Die Betten standen zwar dicht beieinander, doch war an ihnen seitlich ein Sichtschutz aus Holz angebracht, um ihnen ein Mindestmaß an Privatsphäre zu gewähren. Zudem gab es Waschräume, Toiletten, ein Zimmer für den Wachhabenden, ein Zimmer für die Hauswirtschafterin und im Dachgeschoss ein kleines Zimmer für den Leiter des Hauses (Janusz Korczak). Im „Dom Sierot“ gehörten eine Zentralheizung, Elektrizität und fließend Wasser zur Grundausstattung. Doch gab es nur „so viel Licht und Annehmlichkeiten, wie erforderlich waren, damit es nicht nur eine Unterkunft war, sondern – eine Erziehungsanstalt für das Kind“ (ebd.: 216). An der Planung des durch Spenden finanzierten Baus war Janusz Korczak auch selbst beteiligt. Aller Instabilität der materiellen Absicherung der Wohlfahrtsinstitutionen zum Trotze, war hier ein Gebäude entstanden, das den Zöglingen einen höheren Lebensstandard bot, als sie ihn in ihren Herkunftsfamilien gewohnt waren oder in anderen Waisenhäusern haben vorfinden können. Dem Mediziner Janusz Korczak lag die Gesundheit der Kinder besonders am Herzen. In ihr hat er das einzige Kapital derer erkannt, die ohne Erbe, sondern mit eigener Kraft ins Leben gehen mussten (vgl. Merżan 1967: 4). Diese Zielrichtung seiner pädagogischen Arbeit kam auch durch das Gebäude zum Ausdruck. Die scheinbar guten architektonischen Rahmenbedingungen und Ausstattungsmerkmale hinterfragte Janusz Korczak aber nicht unkritisch. Seine Überlegungen sind an moderne Diskurse anschlussfähig, auch wenn er noch nicht an familienähnliche, kleine Wohngruppen gedacht hat. Im Baustil des „Dom Sierots“ hat er Zeichen des Misstrauens gegenüber den Kindern und des Personals erkannt, weil die großen Räumlichkeiten durch eine aufmerksame Person mit nur einem Blick erfasst werden konnten und sie keine individuellen Rückzugsmöglichkeiten boten, um Ruhe vor der Gesellschaft und dem Lärm der anderen Kinder finden zu können. Deshalb plädierte er später für ein „Hotelsystem“ (SW Bd. 4: 249), um den Kindern ihre Privatsphäre zu gewähren. Von einem Flur sollten zu beiden Seiten kleine Zimmer abgehen, aber die Kosten und der Aufwand für einen solchen Umbau waren nach dem Ersten Weltkrieg zu immens. Sein Wunsch wurde mittlerweile aber umgesetzt. Die Kinder, die heute das Kinderheim bewohnen, schlafen nicht mehr in zwei großen Schlafsälen, sondern haben ein Zimmer für sich allein. 215

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Die Leitung des Waisenhauses erschien Janusz Korczak als eine der schwierigsten zu bewältigenden erzieherischen Aufgaben, denn sie umfasste die komplette Betreuung einer größeren Kinderzahl mit „fragwürdigem Erbe und fragwürdiger äußerer Beeinflussung“ (SW Bd. 9: 201). Das „Dom Sierot“ konnte sich dennoch zu einem Haus entwickeln, „wo das verlassene, durch das Schicksal benachteiligte und ausgehungerte Kind – Zuflucht, Erholung und die entsprechende pädagogische Richtung“ (ebd.: 214) finden konnte. Ein solches Kind war Ignacy Cukierman, er erinnert sich: „Meine Familie bestand aus meiner Mutter und vier Kindern (mein Vater starb, als ich zwei Jahre war). Ich war das dritte Kind. Wir wohnten […] im sogenannten jüdischen Viertel. […] Unsere Wohnung bestand aus einem Zimmer, das 3x3 Meter groß war, vielleicht ein wenig größer oder kleiner […]. Sie lag im Souterrain, hatte keinen Holzbelag, sondern nur festgetretene Erde als Fußboden, der jede Woche mit Sand aus der Kiesfabrik ausgestreut wurde. Unter solchen Bedingungen vermehrte sich jedes Ungeziefer, vor allem Wanzen […]. Wir hatten auch Ratten. […] Die Straße besaß keine Kanalisation. […] Das Zimmer wurde von einer Petroleumlampe oder von einer Kerze erhellt. […] Meine Mama nahm die verschiedensten Arbeiten an, um uns zu ernähren. […] Meine Mama strickte Handschuhe, Schals und Mützen aus der ihr von Kaufleuten anvertrauten Wolle oder anderem Garn. Ihr Verdienst war gering, es reichte kaum für eine bescheidene Mahlzeit, obwohl meine Schwestern bei einem Schneider arbeiteten. […] Als es noch kein Tabakmonopol gab, […] stellte meine Mutter Zigaretten her. […] Manchmal half auch ich, die Zigaretten in Schachteln zu packen und Etiketten aufzukleben. […] Um meiner Mutter zu helfen, nahm ich verschiedene Arbeiten an. Ich war als Laufbursche für ein Geschäft tätig und arbeitete in einer Werkstatt für Damenhüte. […] Jemand riet meiner Mutter, mich und meine jüngere Schwester in ein Internat zu schicken. […] Es war das Jahr 1925“ (vgl. Cukierman 1999: S.20 f.).

Das „Dom Sierot“ hat Kindern wie Ignacy Cukierman einen geschützten Lebensraum geboten. Sie kamen aus den Stadtvierteln Warschaus, die besonders durch materielle Armut, soziale Verelendung und Verwahrlosung geprägt waren. Die Kinder waren Dunkelheit, Schmutz und Raummangel, häufig aber auch Hunger, häusliche Gewalt und Mitarbeit gewohnt, um den Lebensunterhalt der Familie mit abzusichern. Janusz Korczaks Zöglinge waren Waisen. Er subsumierte unter diesen Begriff aber nicht nur Kinder, deren Eltern gestorben waren, sondern auch solche, denen noch kein geistiger Vater oder Betreuer geboren war (vgl. SW Bd. 9: 229). Nicht alle Zöglinge waren Halb- oder Vollwaisen, sondern auch Sozialwaisen. Bis zu einhundertzehn von ihnen konnten im Volksschulalter (sieben bis vierzehn Jahre) im „Dom Sierot“ aufgenommen werden. Die Zöglinge bildeten die Kindergesellschaft. Auf sie wandten Janusz Korczak, seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unge-

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wöhnliche wie innovative Methoden an. Die Kinder wurden als Wesen behandelt, die sich ihrer Bedürfnisse bewusst sein, aber auch verstehen sollten, dass Grenzen, also die Unterordnung unter ein Recht und die Entsagung im Sinne des Allgemeinwohls, notwendig waren (vgl. Falska 2007: 32). Der Führungsstil der Waisenhäuser [„Dom Sierot“ und „Nasz Dom“] entsprach dem Geist einer fürsorgeorientierten Sozialpädagogik, die neben der Absicherung der Gemeinschaft auch die individuellen Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen, die spezifische soziale Umwelt und den je eigenen Rhythmus des Zöglings beachten sollte (vgl. Lamp 2007: 51). Sozial- und Individualpädagogik wurden miteinander verschränkt, so dass der Zögling unter Wahrung seines Eigenrechts zur Gemeinschaft erzogen wurde. Das Zusammenleben der Kindergesellschaft baute auf einem System der Selbstverwaltung auf. In seinen Organisationsformen materialisierten sich die Handlungsoptionen und die Partizipationsmöglichkeiten der Kinder. Ich möchte mich nachfolgend auf seine wichtigsten Elemente beschränken. Im Zentrum der Selbstregierung standen das Peer Court (Kameradschaftsgericht), der Selbstverwaltungsrat, das Kinderparlament und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung: • Das Peer Court gewährleistete die Gleichberechtigung der Kinder untereinander und gegenüber den Erwachsenen. Es gab dem „Dom Sierot“ eine Verfassung und räumte den Zöglingen das Recht ein, dass ihre Angelegenheiten ernst genommen und durch die Anwendung unterschiedlicher Paragraphen gerecht verhandelt wurden. Das Gericht trat einmal wöchentlich zusammen. Die fünf Richter und Richterinnen wurden per Los bestimmt und durften selbst in der betreffenden Woche in keine Streitsache verwickelt gewesen sein. Ein Erzieher / eine Erzieherin wurde als Sekretär / Sekretärin eingesetzt, hatte aber kein Stimmrecht. Dem Gericht wurde zwar vorgeworfen, dass es zur Streitsucht erzöge, aber die Bilanz nach mehreren Jahren Praxis zeigte ein anderes Ergebnis. Das Kameradschaftsgericht steigerte vielmehr die Vorsicht, Mäßigung und die Tendenz zur persönlichen Einigung der zerstrittenen Parteien. • Der Selbstverwaltungsrat ist aus dem Gerichtsrat hervorgegangen. Neben der Bearbeitung von Normen und Gesetzen regelte er auch das Zusammenleben der Kinder in der Kindergesellschaft. Er konnte auf soziale Meinungen einwirken, zur Initiative herausfordern und die Handlungsfähigkeit stärken. Außerdem führte er regelmäßig das Plebiszit durch. Das Plebiszit war eine Abstimmung, die über den Status der Kinder bzw. über ihre Rehabilitation befand. Nach einem Jahr ihres Aufenthaltes im „Dom Sierot“ wurde den Neuankömmlingen (Novizen) eine bürgerliche Qualifikation zugewiesen. Die Kindergesellschaft bestand aus Genossen, Bewohnern, gleichgültigen und anstrengenden Mitbewohnern. Das Votum war geheim und wurde mit Hilfe von Plebiszitkärtchen (+ / – / 0) aus217

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

gezählt. Der Titel war aber nicht starr, sondern veränderbar. Am Anfang eines jeden Schuljahres wurde die Abstimmung über die Bürgerkategorien wiederholt und das Rehabilitationsgericht war danach in der Lage, die Rehabilitation von gleichgültigen und anstrengenden Mitbewohnern zu überprüfen. • Das Kinderparlament bildete den Höhepunkt der Möglichkeiten der Selbstverwaltung. Je fünf Kinder schlossen sich zu einem Wahlkreis zusammen und entsandten je einen Abgeordneten / eine Abgeordnete. Mitglied des Parlaments wurde, wer insgesamt vier Stimmen erhielt. Das Kinderparlament bestätigte oder lehnte die vom Selbstverwaltungsrat gegebenen Gesetze ab. Außerdem fasste es Beschlüsse für wichtige Ereignisse des Waisenhausalltags und entschied über die Zuerkennung von Erinnerungspostkarten (die höchste Anerkennung im „Dom Sierot“). • Die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung wurde den Zöglingen auf unterschiedliche Weise gewährt. Der Briefkasten ermutigte sie zur schriftlichen Verständigung mit den Erziehern und Erzieherinnen. Sie konnten ihnen auf diese Weise Fragen, Bitten, Klagen, Entschuldigungen und Geständnisse übermitteln. Die Kinder übten sich durch seine Nutzung in Geduld und lernten zwischen Relevantem und Nichtigem zu unterscheiden, nachzudenken, zu begründen und zwischen ihrem Wollen und Können abzuwägen. Darüber hinaus wurden die Kinder dazu angeregt, Tagebuch zu führen oder für die Zeitung des „Dom Sierots“ zu schreiben. Die Zeitung ist als Dokumentationsinstrument zur „lebendigen Chronik“ des Waisenhauses, aber gleichzeitig auch eine Möglichkeit zur Reflexion geworden. Sie wurde einmal in der Woche in Anwesenheit aller Kinder verlesen. Das System der Selbstverwaltung rückte das Verhältnis der jüngeren und älteren Generation in den Mittelpunkt. Der Erzieher und die Erzieherin bestimmten nicht über den Kopf der Zöglinge hinweg, sondern suchten mit ihnen gemeinsam nach Regeln und Formen des Zusammenlebens. Im „Dom Sierot“ formte sich auf diese Weise ein Erziehungsmodell, das in Warschauer Waisenhäusern einzigartig war. Sein langjähriges Bestehen und Funktionieren war allerdings eng an die Person Janusz Korczaks und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska gebunden. Die Organisation des „Dom Sierots“ baute aber auch auf die Mithilfe seiner Bewohner und Bewohnerinnen auf. Sie umfasste Dienste und die freiwillige Hilfe, verantwortungsvolle Arbeiten ebenso wie Schularbeiten und die Arbeit mit den Händen bzw. die Freizeitgestaltung: • Jedes Kind konnte seine Dienste selbst / frei wählen und sich um sie bewerben. Die Beurteilung der Dienste kam in Zahlen zum Ausdruck, weil die Kinder durch

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ihre Übernahme Arbeitseinheiten sammelten. Zu den Dienstarten zählten u. a. die Reinhaltung des ganzen Hauses, die Hilfe bei der persönlichen Sauberkeit der Kinder, Arbeiten in der Küche wie etwa das Spülen des Geschirrs oder die Essensverteilung, Hilfe in der Speisekammer, die Betreuung der Kranken, schriftliche Arbeiten wie das Schreiben der Monats- und Jahresberichte sowie Aufstellungen, Hilfe in der Bibliothek oder die Mitarbeit in der Buchbinderei. • Die verantwortungsvolleren Arbeiten wurden den Jugendlichen übertragen. Der Pädagogische Rat hat 1925 beschlossen, dass Kinder über ihr vierzehntes Lebensjahr hinaus bleiben durften, wenn sie sich bereit erklärten, gewisse festgelegte Arbeiten und Pflichten des Personals zu übernehmen. Sie umfassten täglich drei Stunden körperliche und zwei Stunden geistige Arbeit (wie etwa Nachhilfe). Neben dem realen Nutzen schaffte die Arbeit eine Grundlage für das Zusammenleben der Jugendlichen mit den Kindern, denn so bestand zwischen ihnen stets ein lebhafter Kontakt und sie erzogen sich gegenseitig. • Janusz Korczak überließ den formellen Unterricht den Warschauer Schulen. Er wollte eine solide Beziehung der Kinder zur schulischen Arbeit fördern, weil er in der Schule die berufliche Tätigkeit der Kinder sah (vgl. ebd.: 40). Er legte Wert auf ihre Zensuren, die Einträge im Schultagebuch, die Erledigung der Schulaufgaben, die Ordnung der Hefte und Bücher sowie die Beaufsichtigung des schulischen Lernens. • Die Arbeit mit den Händen war den Freizeitvergnügungen gleichgestellt und eng mit ihnen verbunden. Die Freizeit sollte mehr als Alltag und von individuellem Nutzen für die Entwicklung der Kinder sein. Im Dienstleistungssystem kam Janusz Korczaks Auffassung zum Ausdruck, dass handwerkliche und kognitive Arbeit gleichwertig sind. Es ersetzte aber nicht nur die bezahlte Arbeit des Personals, sondern war auch von erzieherischer und bildsamer Bedeutung. Zudem förderte es das Mitverantwortungsgefühl der Kinder gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft, das auch durch das Betreuungssystem begünstigt wurde. Es war Janusz Korczaks Antwort auf die Frage, wie sich neue Zöglinge in der neuen Umgebung des Waisenhauses einleben und zu Recht finden konnten. Den Novizen wurde drei Monate ein Betreuer / eine Betreuerin zur Seite gestellt. Sie leisteten Beistand in der meist schwierigen Phase des Eintrittes und der Eingewöhnung in die Heimgemeinschaft. Der Betreuer / die Betreuerin kommunizierte vorwiegend schriftlich mit dem Neuankömmling und notierte in einem Heft, was ihm / ihr für Schwierigkeiten, Vorkommnisse oder charakterliche Eigenschaften aufgefallen waren. Das Betreuungsverhältnis förderte das gegenseitige Verständnis und erleichterte dem Novizen / der Novizin das Einleben. 219

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Janusz Korczak ist es durch das Mittel der indirekten Erziehung gelungen, im „Dom Sierot“ ein System der Selbstverwaltung funktionsfähig zu etablieren. Er hat die in der damaligen Heimerziehung sonst übliche, direkte Einflussnahme der Erzieher / Erzieherinnen auf ein Minimum reduziert und auf diese Weise die Selbstbestimmung seiner Zöglinge gefördert. Mit dem Gericht erhielten die Kinder die Möglichkeit, ihr Recht auf Einspruch gegenüber den anderen Kindern und den Erwachsenen geltend zu machen. Sie entschieden gemeinsam über die Regeln ihres Zusammenlebens und wer mit ihnen zusammenlebte. Außerdem wurden sie auf unterschiedlichen Wegen dazu angeregt, sich schriftlich zu äußern. Die Zeitung wurde zu einem wichtigen Mittel zum Dialog zwischen den Erwachsenen und Kindern. Das Dienstleistungssystem verpflichtete sie, sich gemäß ihres Alters und ihrer Fähigkeiten einzubringen und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Waisenhäuser hatten zu Janusz Korczaks Lebzeiten einen schlechten Ruf. Man sah in ihnen Kinderaufbewahrungsstätten, in denen den Zöglingen häufig Leid widerfuhr. Ich möchte nun eine Diskussion über das „Dom Sierot“ als eine Mustereinrichtung anregen, in der ihr Leiter neue fachliche Standards geschaffen und die Qualität der Heimerziehung auf eine höhere Stufe gehoben hat. Dort zeigten sich frühe Anfänge von Professionalisierung durch die Architektur des Gebäudes aber auch durch ein Handeln, welches bei der Bewältigung sozialer und individueller Problemlagen half, die eine gesellschaftliche Relevanz aufwiesen. Ökonomische und gesellschaftliche Probleme haben zu einer Verschärfung der sozialen Verelendung geführt. Das „Dom Sierot“ war ein Unterstützungsangebot der Gesellschaft „Hilfe für Waisen“, welche ein vielfältiges, sozialfürsorgerisches Setting zur Begegnung von Problemlagen geschaffen hat – „eine Miniaturausgabe der heutigen Sozialfürsorge“ (Eliasbergowa 1999: 432). Sobald sie einen Aufnahmeantrag erhielt, leistete die Kommission aufsuchende Sozialarbeit. Nicht allein das Kind, sondern seine ganze Familie konnte von ihr in Obhut genommen werden. Betreuer und Betreuerinnen besuchten die Familien dann regelmäßig und unterstützten sie häufig auch mit Nahrungsmitteln, Zuschüssen zur Miete, medizinischer Versorgung und Eingliederungshilfen älterer Geschwister in Schulen, Werkstätten und bei Meistern (vgl. ebd.: 432). Die Kinder verloren bei der Aufnahme in das „Haus der Waisen“ aber nicht den Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie (sofern dieser noch vorhanden war). Sie blieben durch das Schreiben von Briefen oder die Besuche an den Samstagen in die lokalen Strukturen ihres Herkunftsmilieus eingebunden und konnten ihre jüdischen Traditionen weiter leben. Der Aufenthalt im „Dom Sierot“ schloss an die Lebensgeschichte der Zöglinge an und konnte eine biographische Kontinuität der Kinder erhalten. Dabei bot es seinen Zöglingen eine relativ stabile Lebenswelt, die sie mitgestalten konnten. Durch die Institutionen der Selbstverwaltung und

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das Dienstleistungssystem waren sie an der Mitgestaltung ihrer Kindergesellschaft beteiligt. Anfallende Arbeiten wurden von den Erwachsenen ebenso wie von den Kindern erledigt. Die Organisation der Arbeit war arbeitsteilig und auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen. Die Betonung lag auf der Gemeinschaft und jedes Mitglied wurde dazu angeregt, aktiv an ihr mitzuwirken. Traditionelle hierarchische Entscheidungsstrukturen waren aufgehoben und lagen stärker in der Verantwortung der Zöglinge. Weil sie bis zu sieben Jahren im „Dom Sierot“ verbleiben und ihren Aufenthalt als Bursisten und Bursistinnen verlängern konnten, gab es nur eine geringe Fluktuation der Bewohner / Bewohnerinnen und Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen, so dass die Beziehungen zwischen den Erwachsenen und Kindern durch ein hohes Maß an Kontinuität geprägt waren. Das „Dom Sierot“ war nicht wie andere Einrichtungen seiner Art ein Ort der Disziplinierung bzw. ein Instrument der Ordnungspolitik, sondern eine weitere Variante des Aufwachsens, welche als Alternative zur Familie (vgl. Kupffer 1994: 13) gewählt werden konnte. Das Waisenhaus in der Krochmalna Straße 92 berücksichtigte individuelle Lebens- und Problemlagen aber auch gesellschaftliche Widersprüche. Dabei ging es weniger um die Integration, Therapie oder Resozialisation „sozialauffälliger“ oder „verhaltensgestörter“ Kinder, sondern um die Unterstützung der Bedürftigsten bei ihrer Lebensbewältigung. Durch die Aufnahme in die „Erziehungsklinik“ veränderte sich die Lebenssituation der Kinder, deren Umwelt ein „pathogenes Agens“ (Goffman 1973: 326) war. Durch die Fokussierung sozialarbeiterischen (erzieherischen) Handelns auf die Gesundheit, wurden den Zöglingen Hilfen zur Behebung ihrer individuellen Notlage zur Seite gestellt, welche auf einer prinzipiellen Gleichbehandlung [im Sinne einer Milieu- und Fallneutralität] beruhte und eine Normalisierung anstrebte, um den Kindern ein Aufwachsen frei von materieller und sozialer Not zu gewähren.

3.3.4 „Erziehungsdiagnostik“ – Zur Methode in der „Erziehungsklinik“ Die experimentelle Psychologie und Pädagogik wurden im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert begründet und Janusz Korczaks Forderung nach einer „Erziehungsdiagnostik“ korrespondiert mit deren Vorstellungen. Es ging ihm wie seinen Zeitgenossen156 um das Aufdecken naturgesetzlicher Zusammenhänge wie auch um das Verstehen und die Förderung des Kindes als Subjekt seiner Handlungen. 156 Zu ihnen zählten u. a. William T. Preyer (1841–1897), Wilhelm August Lay (1862–1926), Ernst Meumann (1862–1926) und Jan Władysław Dawid. 221

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Im Unterschied zu den Empirikern, die experimentierten und mit standardisierten wie statistisch abgesicherten Forschungsmethoden arbeiteten, führte Janusz Korczak vor allem „teilnehmende Beobachtungen“ (SW Bd. 4: 538) durch. Auch wenn teilnehmende Beobachtungen heute als qualitative Forschungsmethode in der Erziehungswissenschaft etabliert sind, waren sie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert noch keine selbstverständliche Forschungskompetenz. Michael Kirchner hat daneben bereits die Nähe zu einer „deskriptiven Pädagogik“ á la Aloys Fischer (1880–1937) als eine neue Spielart des Tatsachenforschungsprogramms (neben der experimentellen Pädagogik) bei Janusz Korczak herausgearbeitet und ihn als einen „deskriptiven Tatsachenforscher“ (Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 98) eingeführt. Fischer hat die Tatsachenforschung als eine für die Erziehungswissenschaft spezifische Forschungsmethode vorgeschlagen und dazu aufgefordert, „mit Hilfe der phänomenologischen Betrachtung, Beschreibung und Deutung eine pädagogische Tatsachenwissenschaft zu betreiben“ (ebd.: 99). Auch Janusz Korczak näherte sich dem jeweiligen Kind als einem Phänomen an und versuchte das mit Worten anschaulich zu beschreiben, was er „wie eine im Vogelflug gemachte ‚Momentaufnahme‘ wahrgenommen“ (vgl. SW Bd. 4: 322) hat, um individuelle Symptome oder generelle Symptome einer Gruppe aufzuspüren. Die wesentliche Grundlage für das Stellen einer Diagnose war nicht die Anamnese [im Sinne einer professionellen Erfragung von medizinisch relevanten Informationen], sondern die unmittelbare Erfahrung von „Erziehungsmomenten“, die darüber Auskunft geben konnten, was dem Kind fehlte, wovon es zu viel hatte oder was es von sich aus geben konnte (ebd.: 321). Seine Schrift „Erziehungsmomente“ war keine Anweisung zur Beobachtung von Kindern, sondern „ein Dokument dafür, wie schwer es ist, mit Worten das anschaulich wiederzugeben, was man visuell erfaßt hat“ (ebd.: 321). Auf die Einleitung folgen „Momentaufnahmen“ und die Lektüre zeigt auf, wie schwierig und aufschlussreich es ist, ein Kind außerhalb des Spitals oder der Praxis zu beobachten, weshalb Janusz Korczak forderte, dass der gewissenhaftere Erzieher / die gewissenhaftere Erzieherin sowohl im Internat als auch in der Schule den Versuch unternehmen solle, Tagebuch zu führen. Die Technik des Notierens müsse aber [erlernt und] beherrscht werden, auch wenn sie im Lehrer-Seminar nicht ausgebildet wurde (vgl. ebd.: 322), weil sie im Lehrplan noch nicht verankert war. Aus der Gewohnheit des Protokollierens könne sich eine Chronik entwickeln, über die man sich mit Kollegen und Kolleginnen austauschen und auf Versammlungen oder Zusammenkünften besprechen könne. Auf diese Weise würden der Erzieher und die Erzieherin an sich selbst bzw. seinem / ihrem (pädagogischen) Handeln arbeiten. Denn Notizen ermöglichten es, Bilanz zu ziehen und das eigene Wachstum nachzuvollziehen (vgl. ebd.: 323).

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Der Schlaf des Kindes dient mir nachfolgend als Beispiel, um Janusz Korczaks „Erziehungsdiagnostik“ zu veranschaulichen. Der Schlaf war eines der Phänomene, die Janusz Korczak in seinem Laboratorium [der „Erziehungsklinik“] erforschte. Ihm war die Eunuresis nocturna als chronische Erkrankung eines Waisenhauses und weniger als Krankheitssymptom des einzelnen Kindes begegnet, denn er führte das nächtliche Bettnässen vor allem auf äußere Verhältnisse zurück. Durch seine vielen Beobachtungen war er zu dem Schluss gekommen, dass: • zwei von hundert Zöglingen im Schulalter täglich nässten, • die Zahl der nässenden Kinder wachse, wenn es im Schlafsaal kühler als zehn Grad sei, • mehr Kinder nässten, wenn die Toilette oder ein Kübel zu weit entfernt oder die Beleuchtung im Schlafsaal ungenügend sei, • aber auch wenn niemand darauf achte, ob die Kinder vor dem Zubettgehen ihre Notdurft verrichtet haben und • das Bettnässen auf 100 Prozent ansteigen könne, wenn die Kinder ohne Aufsicht blieben oder das Personal ratlos sei (vgl. SW Bd. 8: 260). Es wird deutlich, dass Janusz Korczak die Eunuresis nocturna als eine normale Erscheinung einordnet („zwei von hundert Kindern“), die erst dann zu einer Krankheit (der Institution) würde, wenn mehr als zwei von hundert Kindern vom nächtlichen Bettnässen betroffen sind. Er verurteilte deshalb Strategien, das Kind vom Bettnässen abzuhalten, die nicht zu seinem Wohle waren. Denn er wusste um die Praktiken anderer Waisenhäuser, wo nässende Kinder bspw. ohne Strohsack auf dem Fußboden schlafen mussten oder Jungen der Penis mit einer Schnur zugebunden wurde, „in der primitiven Überzeugung, daß ‚sich aus einem zugebundenen Penis nichts ausgießt‘“ (ebd.: 261). Er hielt auch wenig davon, nässende Kinder am Tage schlafen zu lassen, damit ihr Schlaf in der Nacht nicht zu tief war. Er schrieb stattdessen Lebertran eine heilende Wirkung zu und riet erst dann zu einer Begutachtung bzw. Behandlung durch Ärzte (im Spital), wenn das physiologische Nässen unter einen pathologischen Verdacht gestellt wurde. Seinen Kollegen und Kolleginnen in den Waisenhäusern empfahl er: • ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass es eine gewisse Zahl nässender Kinder geben müsse, • einen Vorrat von Stroh bzw. Spänen anzulegen und die Bereitschaft zu zeigen, öfter das Bettzeug und die Wäsche zu wechseln, • darauf zu achten, dass die Kinder ihre Notdurft vor der Nachtruhe verrichteten, • das Nachtgefäß an der für die meisten Kinder bequemsten Stelle zu positionieren, 223

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• den Schlafsaal bzw. die Stelle des Nachtgefäßes zu beleuchten, • häufig nässende Kinder ein bis zwei Mal in der Nacht (immer zur selben Zeit, aber nicht durch andere Zöglinge) zu wecken, • die Kinder gut zu ernähren, • die Temperatur des Schlafsaales normal zu halten und • die Getränke zum Abendessen zu verringern, dem Kind aber keinesfalls das Trinken zu verbieten oder gar zu versagen, • zudem seien Architekten darauf hinzuweisen, dass Nachttoiletten in weit gelegenen Fluren, Eingangsfluren und Dielen in Waisenhäusern Unsinn seien (ebd.: 265). Janusz Korczaks Blick auf und sein Umgang mit dem nächtlichen Nässen steht im Kontrast zum Denken und den „Behandlungsmethoden“ seiner Zeit. Er pathologisierte das Kind nicht, sondern nahm das Bettnässen erst einmal als Normalität an. Er empfahl bei der „Therapie“ die äußeren Umstände zu beachten und diese bei Bedarf zu verändern, bevor Maßnahmen ergriffen wurden, die direkt beim Kind ansetzten. Das regelmäßige Wecken war die „schärfste“ von ihm angeratene Intervention und es findet sich in seinen Schriften kein Hinweis auf die Empfehlung von Medikamenten (mit Ausnahme von Lebertran, den die Kinder im „Dom Sierot“ ohnehin täglich verabreicht bekamen). Außerdem ging Janusz Korczak der Frage auf den Grund, wie viele Stunden Schlaf ein Kind brauche? Er äußerte sich kritisch zu Handbüchern der Hygiene, die auf der Basis einer Tabelle zu den obligatorischen Schlafstunden (unbekannten Ursprungs) verkündeten, dass ein Kind umso weniger Schlaf brauche, je älter es sei. Eine Unwahrheit, weil es zwischen dem notwendigen Schlafbedarf und den Anforderungen der Erwachsenen keine Übereinstimmung gebe, denn „die Anzahl der Stunden schwankt je nach Entwicklungsabschnitt, in dem sich das Kind befindet, und oft gehen die Dreizehnjährigen mit den Kleinen schlafen, während die Zehnjährigen noch munter sind und sich nicht nach den Vorschriften der Bücher richten“ (SW Bd. 4: 204). Auch dem Schlaf versuchte er sich über teilnehmende Beobachtungen anzunähern. Einmal mit einer Uhr – jeweils für eine Woche im Juli und Dezember, um den Sommer mit dem Winter vergleichen zu können. Janusz Korczak wollte beobachten, um viel Uhr die Kinder im Bett lagen, einschliefen, aufwachten und ob sie gleich nach dem Aufwachen aufstanden. Alle fünfzehn Minuten ging er durch die Bettreihen und notierte sich, wie die Kinder im Bett lagen. Das Experiment zeigte, dass:

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• die Kinder im Durchschnitt acht Stunden schliefen, • die meisten nach fünf bis zehn Minuten einschliefen und andere zwanzig bis dreißig Minuten auf den Schlaf warteten, • die Lage beim Einschlafen von der Schlafsaaltemperatur abhing und • manche durch ein (extra) Signal geweckt oder zum Aufstehen bewegt werden müssten (vgl. SW Bd. 8: 269). Er kam zu dem Schluss: „Das Schlafen ist eine feine, kluge und wachsame Tätigkeit, die sich von selbst kontrolliert und reguliert. Wie indes lautet die Gesundheitsvorschrift: Das Kind soll im Alter von … bis … soundsoviele Stunden schlafen? Wer verordnet, wieviel Pulsschläge, Atmungen pro Minute es haben sollte, und wer befolgt eine solche Verordnung?“ (ebd.: 272). Häufig würde die Vergabe von Brompräparaten als Schlafmittel bevorzugt, statt den Schlafbedarf des individuellen Kindes zu ermitteln – ein Vorgehen, das er kritisierte. Janusz Korczak maß aber nicht nur geplanten Beobachtungen (in Form von Experimenten), sondern auch ungeplanten eine hohe Relevanz bei. Die folgende Episode soll der Veranschaulichung dienen: Beim Abendessen hat einmal ein älteres Mädchen ein Stück angebissenes Brot demonstrativ auf Janusz Korczaks Tisch geworfen und war „schleppenden Schrittes“ weiter gegangen. Er hat es daraufhin ins Bett geschickt. Als das Mädchen einige Tage später darum bat, zur selben Zeit wie die kleineren Kinder schlafen gehen zu dürfen, konnte er (nachträglich) seine Symptome deuten und eine Diagnose stellen. Das Mädchen hat seinen Zorn herauf beschworen, um einen Grund zu haben, früher schlafen zu gehen. Seine Müdigkeit und sein Gang waren typische Anzeichen für Kinder, die sich in raschem Wachstum befinden. An dieser Episode zeigt sich nicht nur der enge Zusammenhang zwischen der seelischen Erscheinungswelt und ihren physiologischen Grundlagen (vgl. SW Bd. 4: 200), sondern auch, dass Medikalisierung im Falle Janusz Korczaks tatsächlich als gelungener Dialog zwischen Medizin und Pädagogik zum Wohle des Kindes zum Ausdruck kam. Das Verhalten des Mädchens war ihm unverschämt erschienen und sein Gang hat auf ihn unnatürlich, hässlich und lächerlich gewirkt, doch mit Hilfe der von der Medizin inspirierten „Erziehungsdiagnostik“ fügte er scheinbar zerstreute Details und widersprüchliche Symptome zu einem logischen Bild der Diagnose zusammen. In der Konsequenz forderte er, den Kindern zu erlauben, entweder zu unterschiedlichen Zeiten schlafen zu gehen oder aufzustehen, wann sie es wollten (vgl. ebd.: 267). Es war zwar keine zu realisierende Lösung für ein Waisenhaus, das Kinder im schulpflichtigen Alter beherbergte, aber er war zumindest auf das Problem aufmerksam geworden und dachte über Lösungsstrategien nach. Die Medizin hat in ihrer Ausübung einen prozesshaften Charakter. Sie umfasst neben der Beobachtung des Patienten / der Patientin bei pathogenen Anzeichen 225

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

auch die Diagnose, Verschreibung und Behandlung. Die medizinische Diagnostik zielt naturgemäß auf die Therapie der Krankheit und spätestens hier erscheint eine Analogie von Medizin und Pädagogik als ein „heißes Eisen“, weil das Verständnis der Pädagogik als einer Therapie dem Bestreben Janusz Korczaks diametral entgegen läuft (vgl. Kirchner 1987: 78). Aus pädagogischer Sicht kann man sich mit dem Begriff der Diagnose durchaus schwer tun, denn die medizinische Bedeutung als Feststellung oder Bestimmung einer physischen oder psychischen Erkrankung schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Terminus. Dennoch hat der Ruf nach Diagnostik seit Jahrzehnten auch in pädagogischen Handlungsfeldern zugenommen (vgl. Kleber 2006: 116), so dass sie mittlerweile als Grundlage professionellen pädagogischen Handelns gilt. Eine festgestellte Erkrankung kann durch eine entsprechende Therapie geheilt werden, aber auch zum Tode führen. Symptome können in der Medizin als Hinweise auf oder Eigenschaften einer Krankheit; außerhalb der Medizin aber als Hinweise auf oder Eigenschaften einer (negativen bzw. Zeit verzögerten) Entwicklung verstanden werden. Auch hier verweist der Begriff auf einen Zustand, der von der Norm abweicht und zum Stigma werden kann. Der Begriff der Diagnose wird umgangssprachlich häufig synonym mit „Bewertung“ und „Beurteilung“ gebraucht; und in einem engeren Sinne bezeichnet sie „eine Bewertung aufgrund präziser, begründeter Fragestellung mit Hilfe kontrollierter und theoriegeleiteter Datenerhebung und im günstigsten Fall einer argumentativen Urteilsbildung unter Experten“ (ebd.: 117) und Expertinnen. Dabei ist es notwendig, den Standardzustand oder das Normalverhalten zu kennen, um Normabweichungen festzustellen und von einer systematisierenden Synthese zu klaren Zustandsbildern zu gelangen (vgl. ebd.: 117). Im pädagogischen Kontext sollte Diagnostik als systematische und zielorientierte Sammlung von Informationen zur Entwicklung eines Kindes durchgeführt werden und nicht nur das Ziel verfolgen, seinen aktuellen Leistungsstand zu beschreiben. Nur so ist es möglich, auch mögliche Auffälligkeiten zu erklären bzw. seinen weiteren Entwicklungsverlauf vorhersagen zu können. Diagnostische Verfahren sind im 21. Jahrhundert vor allem im Bereich des Übergangs von der Kindertagesstätte in die Schule und in der Schule nicht mehr wegzudenken. Sie liefern in Form von Befragungen, Beobachtungen, Tests und Screenings wichtige Informationen zu den Lernvoraussetzungen, dem aktuellen Lernstand, den Lernweisen und Lernmöglichkeiten eines Kindes. Dabei ist es mit Blick auf das individuelle Kind immer von Vorteil, die Defizitperspektive einer Selektionsdiagnostik zugunsten einer Förderdiagnostik zu überwinden. Hier ist auch am ehesten wieder an Janusz Korczak anzuschließen. Es hat sich gezeigt, dass er der Medizin die Technik der Untersuchung und die Disziplin wissenschaftlichen Denkens verdankte. Als Arzt hielt er sich an den diagnostischen Dreischritt: (1)

3.3 Praxis als Können

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Anamnese, (2) Diagnose und (3) Intervention / Therapie. Er konnte Ausschlag auf der Haut sehen, Husten hören, den Anstieg der Körpertemperatur fühlen oder bemerken, wenn ein Kind aus dem Mund roch. Auch als Erzieher begegnete er Symptomen, die es zu deuten galt, denn so wie es einen trockenen, feuchten oder erstickenden Husten gibt, so kann man ein Weinen mit Tränen, Schluchzen oder fast ohne Tränen unterscheiden (vgl. SW Bd. 8: 201). So wie sich der Arzt darum bemüht, Fieber zu senken, so vermindert der Erzieher oder die Erzieherin – nach Möglichkeit – die Spannung launischen Verhaltens. Nicht nur im Spital, sondern auch im „Dom Sierot“ hielt sich Janusz Korczak an einen Dreischritt: (1) Anamnese [Datensammlung bzw. die genaue Beobachtung des Kindes als Einzelfall], (2) (soziale) Diagnose [als Zusammenfassung, Verdichtung und Deutung] und (3) Pflege / Behandlung [im Sinne geeigneter Erziehungsmittel]. Sein pädagogisches Handeln war stets von dem Motiv, Gesundheit zu bewahren oder wieder herzustellen, und der Überzeugung, dass Gesundheit aus einer gesunden Lebensweise erwachse und durch Erziehung vermittelt werden könne, geleitet. Er selbst verstand sich als Pädologe. Die Pädologie kann als Schnittfeld von Medizin (Pädiatrie) und Pädagogik verstanden werden, in dem Janusz Korczak dem Kind als Arzt und Pädagoge [Arzt-Pädagoge] begegnete. Aus den Überschneidungsbereichen von Pädiatrie, Pädologie und Pädagogik hat Janusz Korczak: • die Beobachtung und Beschreibung des jeweils individuellen Kindes in Gesundheit oder Krankheit und nicht des „Kindes an sich“, • die Berücksichtigung des Herkunftsmilieus, • die Erprobung und Anwendung der Beobachtung und Beschreibung als Forschungsmethode innerhalb einer Tatsachenforschung und • die Einsicht, dass Interdisziplinarität notwendig und förderlich ist, in den Diskurs mit eingebracht (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 78). Ich habe außerdem gezeigt, dass medizinische und soziale Berufe gemeinsame Wurzeln haben. In ihrer Gründungszeit hat sich die Pädiatrie noch als „soziale Wissenschaft vom [ganzen] Kind“ verstanden, die natur- und sozialwissenschaftliches Wissen vereinte“ (Peter 2013: 259) und darum bemüht war, außermedizinische Fragestellungen und Therapien zu integrieren (vgl. SW Bd. 8: 327). Der Umgang mit dem kranken Kind hat aber auch in der Fürsorge bzw. Sozialen Arbeit eine lange Tradition, denn die Sorge um uneheliche Kinder, Waisen und arme Kinder schloss auch die Kranken unter ihnen nicht aus. Die Pädiatrie (hervorgegangen aus den Teilgebieten der Inneren Medizin und Geburtshilfe) und die Pädagogik teilen nicht nur die „Zentrierung auf das [ganze] Kind“, sondern konnten sich beide als Profession und universitäre Disziplin etablieren 227

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

(vgl. Peter 2013: 216). Dabei lässt sich das Verhältnis von Medizin und Pädagogik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als durch die zentrale Bedeutung der Medizin für die Legitimation der Pädagogik als Wissenschaft geprägt, beschreiben (vgl. Stroß 1995: 170). Direkte Beziehungen zwischen der medizinischen und pädagogischen Profession bzw. Wissenschaft werden in der Person Janusz Korczaks deutlich, der Medizin an der „Kaiserlichen Universität“ zu Warschau und Soziale Arbeit an der „Fliegenden Universität“ studiert hat. Außerdem zeigen sich interdisziplinäre Kooperationsformen von Pädiatrie und Sozialer Arbeit in der Führung des „Dom Sierots“ als „Erziehungsklinik“. Gesellschaftliche Missstände wurden seinerzeit aus der Perspektive von Medizinern aufgedeckt und führten zu einer politischen Stellungnahme, welche die allgemeine Gesundheitshygiene betraf. Die Politisierung der Pädiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat zur Konstitution einer Sozialmedizin geführt, die entweder als naturwissenschaftlich orientierte Sozialhygiene oder als sozialkritisch denkende Sozialpädiatrie in Erscheinung getreten ist (vgl. Peter 2013: 266). Janusz Korczak war nicht nur Pädologe, sondern auch Sozialpädiater / Sozialmediziner, weil er bei der praktischen Krankenversorgung insbesondere der proletarischen Kinder armutsbedingte Gesundheitsprobleme beobachtet hat, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen er miteinander in Beziehung setzte. In seinen sozialmedizinischen Schriften setzte er sich (wie andere Sozialpädiater seiner Zeit) vermehrt mit den öffentlichen Fürsorge- und Präventionsmaßnahmen auseinander. Weil Janusz Korczak eine beispielhafte Symbiose von einem Arzt und Pädagogen verkörperte, konnte er als Akteur im Spannungsfeld von Pädiatrie und Pädagogik die klinische Beobachtungsweise [der Medizin] in seine pädagogische Praxis übernehmen. Er forcierte (und lehrte) eine Diagnostik des Erziehens basierend auf teilnehmenden Beobachtungen, um „Erziehungsmomente“ erklären und auslegen zu können. Zu diesem Zwecke sammelte er bspw. Mess- und Wiegewerte, die er zu Diagrammen und Wachstumsprofilen verdichtete, behielt und klassifizierte Milchzähne, schaute sich die Taschentücher seiner Zöglinge genauer an oder analysierte deren Hosentascheninhalte. Sein Vorgehen mag im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vielleicht noch kühn erschienen sein, doch sind diagnostische Prozesse mittlerweile ein „unverzichtbarer Bestandteil pädagogischen Handelns“ (Carle 2013: 831), weil sie nicht nur Basisinformationen für die Beurteilung von Lernen und Leisten, sondern auch für die Einschätzung der psychosozialen Gesamtsituation liefern (vgl. ebd.: 831). Ursula Carle verweist darauf, dass die pädagogische Diagnostik das Zusammenwirken individueller Ausgangsbedingungen in einer aktuellen Situation und den Bedingungen, welche die reale Umwelt bietet, in den Blick nimmt (vgl. ebd.: 831). Auch Janusz Korczak richtete seinen Fokus auf den Einzelfall, mit dem Ziel, für das Kind [im Waisenhaus] die informatorische

3.3 Praxis als Können

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Grundlegung zur Verbesserung seiner Entwicklungsbedingungen zu erreichen, also „das Besondere des Kindes […] herauszufinden, Stärken, von denen ausgegangen werden“ (ebd.: 832) konnte. Durch die „Erziehungsdiagnostik“ lernte Janusz Korczak das einzelne Kind, mit der Motivation es zu verstehen und sich mit ihm verständigen zu können, kennen. Er wollte es weder kneten noch ummodeln (vgl. SW Bd. 9: 207 f.), was auch an der Darstellung der Erforschung des Schlafes exemplifiziert werden konnte. Sowohl die Ausführungen zur Eunuresis nocturna als auch die Frage, wieviel Schlaf ein Kind (überhaupt) brauche, zeigten, dass Janusz Korczak die seelische Erscheinungswelt mit physiologischen Grundlagen in Beziehung setzte, um Symptome wahrnehmen und erklären zu können. Selten pathologisierte er die Kinder, sondern bedachte zuerst die äußeren Verhältnisse. Auf diese Weise führte er den Dialog zwischen Medizin und Pädagogik zum Wohle des Kindes.

3.3.5 Grundsätze der Erziehung in Internaten Der Artikel „Grundsätze der Erziehung in Internaten“ ist in der Zeitung „Sonderschule“ unter der Rubrik „Vorlesungs- und Seminarreihe“ des „Staatlichen Instituts für Sonderpädagogik“ (1928 / 29) erschienen. Janusz Korczak versuchte in ihm den gegenwärtigen Wissensstand zu bündeln, der zugleich ein Protokoll klinischer Arbeit darstellt: „Mängel und Tugenden des Erziehers. Sein Verhältnis zum Kind, zum Arbeitskollegen. Der Chef, die Untergebenen. Der Dienst. Kontrolle und Öffentlichkeit. Befehl oder Verständigung. Aristokratie oder Demokratie. Die Methode der Beobachtung und des Nachdenkens über das Kind. Der Erzieher als Naturwissenschaftler (Arzt), als Soziologe, Ethnologe. Das persönliche Leben des Erziehers. Sein Optimismus oder Pessimismus im Verhältnis zum Leben und zum Menschen. Erfahrung. Berufliche Gefahren. Die Rechte des Kindes als eines Lebewesens, eines Menschen und eines unerfahrenen Mitarbeiters. Die Vergangenheit des Kindes (Erblichkeit, erzieherische Einflüsse, schlechte Gewohnheiten und Laster). Der Augenblick des heutigen Tages. Der sogenannte Mensch der Zukunft und das zukünftige Mitglied der Gesellschaft. Das Internat als – Familie, Kaserne, Kloster, Gefängnis, Sanatorium. Der Optimismus günstiger Bedingungen. Das Terrain, die Atmosphäre, die Werkstatt, das pädagogische Material. Die Einsicht in die Arbeitsbedingungen. Der junge, der neue Erzieher. Vorurteile und Illusionen. Die Liebe, die Dankbarkeit der Kinder. Die Kinder und das Kind kennenlernen.

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Der Arbeitsrhythmus: Der Rhythmus des Tages, der Woche, des Jahres. Pflichten kristallisieren sich heraus. Das Signal zum Aufstehen. Morgendliche Tätigkeiten des Erziehers. Schlafsaal. Zimmer des Erziehers. Das Gebet. Das religiöse und politische Credo des Erziehers. Das Frühstück. Die Diät im Internat. Die sogenannte rationale Ernährung. Unglücksfälle. Der Internatsarzt. Isolierung – die Krankenpflegerin. Die Dienste. Das Kind als Mitarbeiter. Arbeitsgeräte. Sauberkeit und Ordnung. Der sorgfältige Umgang mit dem Gebäude, den Geräten, der Kleidung, dem Geschirr, den Lernmitteln. Die Kleidung. Die Speisekammer, die Garderobe, die Nähstube. Das Schuhwerk, Kontrolle und Verteilung (gerecht). Das Lernen. Die Schule. Aufgaben machen. Lesen lernen. Die Bibliothek. Das Zimmer, stille Stunde. Werkstätten. Lehrlinge. Berufsvorbereitung. Die Burse. Berufsschulen. Die sogenannte Kunsterziehung. Das kulturelle Leben. Aufführungen. Spaziergänge und Ausflüge. Freie Stunden. Spiele. Spielzeug. Unterhaltung und Sport. Sonntage und Feiertage. Ferien. Abend und Nacht im Internat. Das Budget. Die Kanzlei. Formulare. Kanzleibücher. Die Erziehungskanzlei. Einteilung der Kinder nach Werten und bürgerliche Reife. Die sogenannte Individualisierung. Jüngere und ältere Kinder. Jungen und Mädchen. Neuankömmlinge (ihre Betreuung). Ehemalige Zöglinge. Das Halbinternat. Außergewöhnliche Individuen (positive und negative). Auszeichnung und Aufstieg. Belohnungen und Lob. Rechte und Sonderprivilegien. Geschenke. Das persönliche Budget des Erziehers. Übertretungen und kleine Verstöße. Strafen und Einschränkungen. Das Kameradschaftsgericht. Die Selbstverwaltung. Verpflichtende Rechte. Die Willkür des Erziehers. Mündliche Verständigung mit den Kindern, die sog. Sitzungen. Empfangsstunde. Ruf in die Kanzlei. Schriftliche Verständigung mit den Kindern. Rapporte, Briefkasten, Schwarzes Brett, Zeitung, Tagebücher. Berichte. Das Eigentum der Kinder. Geld und Gegenstände. Die Darlehenskasse. Das Notariatsbuch. Die Kiste mit Fundsachen. Klage und Dank als Ausdruck der Dankbarkeit. Versprechen und Entscheidung, sich zu bessern. Das intime Leben des Kindes. Geheimnis – sich jemandem anvertrauen. Die Überraschung. Geschichte und Kalender des Internats. Erinnerung und Andenken. Aufzeichnungen des Erziehers. Korrespondenzen, Zeitungsartikel, Konferenzen und Kongresse. Verband der Internatsmitarbeiter. Spezielle Zeitschriften und Spezialliteratur. Das Fürsorgeinternat, die Besserungsanstalt und die Strafanstalt. Dr. J. Korczak“ (SW Bd. 9: 273 ff.)

3.3 Praxis als Können

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Der Artikel wurde bewusst im Ganzen zitiert, weil er einen kurzen wie prägnanten Einblick in Janusz Korczaks Denkweise und Argumentationsstil gibt. „Grundsätze der Erziehung in Internaten“ weist einen fragmentarischen Charakter auf, denn meist sind es nur Ein- und Dreiwortsätze, die stichpunktartig aneinandergereiht sind. Es wird Janusz Korczaks spezifische Haltung in der Sozialen Arbeit und eine begrenzte Standardisierbarkeit sozialarbeiterischen Handelns deutlich, von der auch Ulrich Oevermann (1996) und Karl-Friedrich Bohler (2006) ausgehen. Inhaltlich bezieht sich Janusz Korczak auf die Organisation(-sformen), die das Leben in den Internaten [Waisenhäusern] regelten. Er beschreibt außerdem die Rolle(n) und Aufgaben der Erzieher [und Erzieherinnen] und die Kinder als Akteure und Akteurinnen in der Lebenswelt „Internat“ (Waisenhaus).

3.3.6 Resümierend: „Doing Health“? „Der Arzt hat das Kind dem Tod entrissen, die Aufgabe des Erziehers ist es, ihm das Leben zu gewährleisten, ihm das Recht zu verschaffen, Kind zu sein. Die Forscher haben erklärt, daß der erwachsene Mensch sich von Beweggründen leiten läßt, das Kind aber von Impulsen […]. Man erforscht das Kind nicht als einen andersartigen psychischen Organismus, sondern als einen niederen, schwächeren, ärmeren. – Als seien alle Erwachsenen – sozusagen gelehrte Professoren.“ (SW Bd. 4: 412)

Das Kapitel „Praxis als Können: Die Medikalisierung von Kindheit als Brückenschlag von der Medizin zur Pädagogik“ hatte Janusz Korczak als einen Akteur im Schwellenraum und mitunter auch Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik im Blick. Er war ein Kliniker. Obwohl „Pädagoge aus Berufung, hörte er dennoch nicht auf, Arzt und Forscher zu sein“ (Tarnowski 1981: 28). Auch wenn er sich häufig über die Unvollkommenheit der Medizin beklagte, „pflegte er stets zu sagen, daß die Medizin die Pädagogik überholt habe und die Pädagogik in ihrer Arbeit die von der Medizin erprobten und vervollkommneten Methoden nutzen sollte“ (Merżan 1999: 198). In seinen pädagogischen Bemühungen zeigte sich eine uneigennützige medizinische Seite, weil er keine anderen Gebote als die moralische und physische Gesundheit des Kindes in der Verbindung mit der Förderung all seiner positiven und der Zügelung seiner negativen Eigenschaften kannte (vgl. Newerly in Korczak 2012: XXII). Er beobachtete unermüdlich, stellte Diagnosen und therapierte ohne Illusion (vgl. Dauzenroth 1978: 57) – allesamt Eigenschaften, die er sich durch die Schule der Medizin angeeignet hat. 231

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Im Allgemeinen entspricht das Gesundheitsniveau einer Gesellschaft dem Grad der Verteilung von Mitteln und Verantwortung für die Bewältigung von Krankheit (vgl. Illich 2007: 202) oder deren Prävention. Es wurde deutlich, dass sich Janusz Korczak als Mediziner und Pädagoge [Sozialmediziner] mit gesundheitssoziologischen Fragen auseinandersetzte, die erst seit den 2000ern im wissenschaftlichen Diskurs um gesundheitliche Ungleichheit eine wesentliche Rolle spielen. Thomas Schübel und Katharina Seebass bezeichnen gesundheitliche Ungleichheit als ein Kernthema der Gesundheitssoziologie und arbeiten heraus, dass der Gesundheitsstatus von Kindern in besonderem Maße von individuellen Merkmalen und der Lebenslage der Eltern abhängt (vgl. Schübel und Seebass 2016: 2). Auch in Bezug auf die Herkunftsfamilien zeigte sich bei den Bewohnern und Bewohnerinnen des „Dom Sierots“ eine soziale Benachteiligung. Das Beispiel Ignacy Cukiermans macht ihre Betroffenheit von schlechten Wohnverhältnissen deutlich. Er lebte mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in einer Einzimmerwohnung, die etwa neun Quadratmeter groß und weder hell noch sauber war. Auch die Belastungen in der Umwelt waren groß, denn ein fehlender Anschluss an die Kanalisation konnte lebensgefährdend und sogar lebensgefährlich sein. Im jüdischen Viertel Warschaus und in vielen angrenzenden Dörfern gab es noch Sickergruben und bei starkem Regen liefen die Fäkalien häufig über. Im Kot und im Urin tummelten sich mitunter tödliche Krankheitserreger, darunter das Cholerabakterium, das zusammen mit ungeklärten Fäkalien in die Flüsse und das Grundwasser gelangen konnte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Cholerapandemien, die viele Todesopfer gefordert haben. Hinzu kam, dass sich unter diesen Umständen Ungeziefer in den Wohnungen einnisten und die Bewohner und Bewohnerinnen befallen konnte, weshalb die Kinder häufig auch Läuse mit in das „Dom Sierot“ brachten. Die schlechten Wohnverhältnisse gingen mit der Armut der Eltern(-teile) und Pflegepersonen einher, in deren Obhut sich die Kinder vor ihrem Aufenthalt in der Krochmalna Straße 92 befanden. Die wirtschaftliche Notlage bestimmte nicht nur über die Wahl des Wohnraumes [die Lage und seine Ausstattung], sondern auch darüber, wie es um die Hygiene und die Ernährung bestellt war. Wenn [sofern noch vorhanden] die Väter und Mütter einer Erwerbsarbeit nachgingen, waren die Löhne in den Fabriken niedrig oder das, was zum Leben blieb, wenn der Vater einem Handwerk nachging oder die Mutter bspw. Zigaretten stopfte und verkaufte, nicht üppig. Vielen Familien fehlte es an finanziellen Mitteln, um die Vorratskammer zu füllen und den Hunger aller Familienmitglieder zu stillen. Eine Mangelernährung (Malnutrition) im quantitativen Sinne, dass dem Körper langfristig weniger Nahrung zugeführt wird, als er benötigt oder im qualitativen Sinne, dass die Nahrung nicht genügend Proteine oder Nährstoffe enthält, kann gerade im Kindesalter zu schwerwiegenden Veränderungen der Körperfunktionen

3.3 Praxis als Können

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führen und das Risiko steigern, zu erkranken oder gar zu sterben. Hier zeigt sich deutlich, inwiefern der sozioökonomische Status mit der physischen Gesundheit korreliert und sich die physische Gesundheit – im Umkehrschluss – auch auf den sozioökonomischen Status auswirken kann. Die Gesundheit von Kindern ist demnach nicht nur von den emotionalen und sozialen, sondern auch von den finanziellen Ressourcen einer Familie abhängig, weil eine Wechselwirkung zwischen dem elterlichen Einkommen und der Gesundheit aller Familienmitglieder wie auch den finanziellen Ressourcen und dem Familienklima besteht. Janusz Korczak hat erkannt, dass das Herkunftsmilieu der Kinder in diesen vier Punkten prägend ist und gesundheitliche Nachteile von den Eltern auf die Kinder übergehen und weitergegeben werden, was sich wiederum ungünstig auf kognitive wie emotionale Entwicklungsprozesse auswirken kann (vgl. ebd.: 15). Seine Position, die Gesundheit seiner Zöglinge als „einziges Kapital“ zu bezeichnen, das ihnen während ihres Aufwachsens mitgegeben werden und den Rest ihres Lebens als Reserve dienen könne (vgl. SW Bd. 8: 198), lässt sich mit Brady et al. im Sinne einer „sociology of child health“ in die Perspektive „Kindergesundheit als Politikum“ (Brady et al 2015: 4) einordnen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts galt Gesundheit in der Kindheit als Vorbedingung von Gesundheit im Erwachsenalter und Risikofaktor für die Gesundheit der Nation (ebd.: 4). Die Gesundheit der Zöglinge lässt sich somit als kontrollbedürftige Voraussetzung der künftigen sozialen Ordnung fassen. Wobei im Lichte einer „sociology of diagnosis“ (vgl. McGann und Hutson 2011 in Schübel und Seebass 2016: 17), die Diagnosen als Ergebnis sozialer Interaktionen versteht, nach den Konstruktionsbedingungen und -absichten von Kind-bezogenen Diagnosen zu fragen ist (vgl. ebd.: 17), die innerhalb der Medizin [Janusz Korczaks] und der Gesellschaft thematisiert wurden. Daneben ist Kindergesundheit als eine Praxis zu fassen, weil Gesundheit und Gesundheitsversorgung als soziale Prozesse zu verstehen sind, entlang derer politische Strategien in konkrete Interventionen übersetzt werden (vgl. ebd.: 17). Schorb und Schmidt-Semisch (2012) begreifen die Auseinandersetzung mit Kindergesundheit als „Doing Health“, also als soziale Konstruktionsprozesse in der Hervorbringung dessen, was als Gesundheit von Kindern gilt. Aussagen über die Gesundheit von Kindern wären in diesem Sinne als „Verantwortungszuschreibung“ zu verstehen und „die jeweils geforderten Interventionen mit den verwendeten Problematisierungen gleichzeitig aber auch mit den sie umgebenden Politik- und Moralvorstellungen“ (Schorb und Schmidt-Semisch 2012: 58) in einem Zusammenhang zu sehen. In diesem Kontext war auch die Gesundheit der Zöglinge im „Dom Sierot“ eine Praxis und Janusz Korczak in einen Diskurs von „Doing Health“ eingebunden. Er war davon überzeugt, dass Kinder, ebenso wie die Erwachsenen, gesund und stark sein möchten und es die Aufgabe der Erwachsenen sein sollte, 233

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

ihnen zu erklären, sich in acht zu nehmen, ohne ihnen unnötig Angst zu machen (vgl. SW Bd. 3: 330). Janusz Korczaks sozialmedizinisches Engagement ist – retrospektiv – an aktuelle Debatten um die Gesundheit von Kindern anschlussfähig, weil er an sozialen Konstruktionsprozessen von Kindergesundheit beteiligt war und diese in seiner Praxis bzw. in der Art und Weise, wie er das „Dom Sierot“ führte [nämlich als „Erziehungsklinik“], auch bewusst und aktiv (wieder-)herzustellen versuchte und forderte: „‚Brot und Gedanken vom Himmel‘ – für alle“ (SW Bd. 9: 48).

Er gab seinen Zöglingen „Brot“, unter das er alles fasste, „was für den Körper notwendig ist: Licht, Luft, Obdach, Nahrung, Kleidung, ärztliche Fürsorge“ (ebd.: 48). Licht und Luft – im Hof, im Garten oder in der Kolonie „Röschen“; eine Wohnstätte in der Krochmalna Straße 92 mit Wasserleitungen, Anschluss an die Kanalisation und einem Maß an Hygiene, ausreichend Essen, (zweckmäßige, saubere und intakte) Kleidungsstücke und medizinische Versorgung. Aus diesem Grund maß und wog er auch „seine“ Kinder, um nachzuvollziehen, dass sie in Gesundheit aufwuchsen, frei von allgemeiner Schwäche, Müdigkeit oder Antriebslosigkeit; ohne den Verlust von Muskelkraft, Störungen des Bewegungsablaufes, Herz- und Atemwegserkrankungen oder Schwächung des Immunsystems, das die Anfälligkeit von Infektionen erhöhen konnte. Außerdem „Gedanken vom Himmel“ – das sind [in seinem Sinne] Bildung, Wissenschaft, Künste“ (ebd.: 48), etwas für die Seele.

3.4

Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

3.4

Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

Janusz Korczak war ein praktischer Pädagoge, der sich auch mit den Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns auseinandergesetzt hat. Durch seine Reflexionen hat er an seiner Theorie gearbeitet. Theorie ist – so Michael Winkler – ein „Moment eines Forschungsprozesses; sie ist Forschung […]. Forschung nimmt unvermeidlich ihren Ausgang bei Theorien, mit welchen sie gegebenenfalls ihre Hypothesen erzeugt; Forschung mündet aber auch immer in Theorie, nämlich einen begründeten Zusammenhang von Aussagen, welche sich eines Gegenstandes und seiner inneren Bedingungen versichern“ (Winkler 2005: 16). Dieses Verhältnis zeigt sich auch bei Janusz Korczak, dem seine „Erziehungsklinik“ [das „Dom Sierot“] zum Arbeits- und Forschungsfeld geworden ist. Im Waisenhaus war der Arzt-Pädagoge nicht nur praktisch tätig, sondern begann auch seine Tatsachenforschung, die

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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sowohl von Theorien über das Kind und Erziehung ausging als auch in Theorie(n) über das Kind und Erziehung mündete. Das Kapitel „Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis“ soll einerseits direkt im Werk Janusz Korczaks ansetzen und heraus- bzw. wiederaufarbeiten, wie er die Beziehung von Wissen und Können beschrieben hat (3.4.1). Andererseits soll es auch darum gehen, frühere Interpretationen anderer Korczak-Forscher und -Forscherinnen noch einmal zu lesen und zusammenzufassen (3.4.2). Ziel ist es, über die Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven abschließend zu allgemeineren Aussagen über das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Janusz Korczak zu gelangen (3.4.3).

3.4.1 Janusz Korczak über das Verhältnis von Theorie und Praxis Das professionelle Handeln Janusz Korczaks im Kontext der Sozialen Arbeit / Heimerziehung setzte neben einem fundierten Wissen auch ein Handeln auf ethischer Grundlage voraus. Eine kategoriale Differenz von Theorie (Wissen) und Praxis (Handeln) ist in der Sozialen Arbeit immanent und zugleich Thema einer Theorie, die einerseits selbst theoretische Erkenntnisse produziert und andererseits in ein (handlungs-)praktisches Feld eingebunden ist, aus der sich sowohl spezifische erkenntnistheoretische als auch systematische Schwierigkeiten ergeben (vgl. Tenorth 1994; Dewe und Otto 1996; Merten 1997 in Füssenhäuser und Thiersch 2001: 1882). Ich möchte zu Beginn mit Janusz Korczak in einen fingierten Dialog eintreten, um zu zeigen, welche Vorstellung er vom Theorie / Praxis – Verhältnis hatte; und wie er zwischen dem Feld von Wissenschaft und der Praxis Sozialer Arbeit differenzierte bzw. vermittelte. „Herr Doktor Goldszmit, warum sind Sie Arzt im Internat [Waisenhaus] geworden?“ „Wenn ein Psychologe geistige Prozesse nur in Augenblicken der intensivsten Erschütterungen untersuchen und ihre Wurzeln, ihre Entwicklung, ihren normalen Verlauf sowie ihre gewissen Abweichungen nicht beachten würde, würde er einem Arzt ähneln, der seine Erfahrung im Spital sammelt, die Regeln der Kinderuntersuchung im Internat aber nicht kennt“ (SW Bd. 8: 239). „Sie haben als Arzt und Pädagoge sowohl Erfahrungen im Spital als auch im Waisenhaus gesammelt und gehen davon aus, dass das Kind nicht nur im Spital, 235

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

sondern auch im Internat untersucht werden kann. Wodurch unterscheiden sich diese beiden Institutionen?“ „Ein tiefes Verständnis für die Anstrengungen des Organismus in der Entwicklung, im Kampf um Gleichgewicht und Gesundheit, kann nur ein Internat geben“ (ebd.: 239). „Im Waisenhaus konnten Sie dem Kind in Gesundheit wie Krankheit begegnen. Können Sie exemplifizieren, was Sie meinen, wenn Sie sagen, nur im Internat den Kampf um Gleichgewicht und Gesundheit beobachten zu können?“ „Eine kleine Infektion trägt zum Nachdenken über Gemeinschaft bei: wieviel Abwehr- und Erfindungskraft sowie Umsicht hat der Organismus bei einer ansteckenden Krankheit. Mumps bei zehn von hundert Kindern – warum? Krätze bei allen Kindern bis auf drei – warum?“ (ebd: 239). „Warum, also wo sehen Sie Zusammenhänge?“ „Ein Kind übersteht Krankheiten entweder sorglos – wie ein Bergbewohner, der eine tiefe Kluft überwindet – oder es rennt blindlings in den Abgrund seiner Schwäche seiner Erkrankung. Hygienevorschriften sind ohne Internatserfahrung naiv: ein Kind soll schlafen, essen oder trinken, es soll an Gewicht zunehmen. Wo bleiben aber die Untersuchungen seines Schlafes, seines Appetits, seiner Entwicklung?“ (ebd.: 239). „Sie haben den Schlaf des Kindes untersucht, im Schlafsaal gewacht und sich Notizen gemacht. Sie haben eine Vielzahl von Gewichts- und Messkurven angefertigt, weil Sie die Kinder jede Woche gemessen und gewogen haben. Auf diese Weise konnten Sie zeitnah Schwankungen wahrnehmen, die mehr oder weniger auffällig waren?“ Ja – „hundert kleine und kleinste Flüstertöne, Warnungen, die noch keine Krankheiten sind, die zwar um Hilfe, um einen Hinweis, einen Ratschlag, aber nicht um eine Behandlung bitten“ (ebd.: 239). „Wie würden Sie die Arbeit im Waisenhaus charakterisieren?“ „Das Internat läßt lange warten; man soll die Bemühungen, in allem, was der Organismus selber tut, unterstützen. Ziemlich feuerwehrähnlich wirkt die Erziehung zu hygienischen Maßnahmen eines selbstgelehrten Kinderarztes

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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auf dem Gebiet, das vielmals wichtiger als die Behandlung selbst ist – nämlich beim Rat, wie man vorbeugt und unterstützt“ (ebd.: 239 f.). „Die Prävention hat demnach einen höheren Stellenwert, weil sie im besten Falle verhindert, dass eine Therapie notwendig wird? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Klinik noch an der Medizin ausgerichtet. Haben Sie befürchtet, dass sich die Pädagogik stattdessen an der Entwicklung und den Erfolgen der Laboratorien orientieren könnte? Indem Sie das Waisenhaus als ‚Erziehungsklinik‘ geführt haben, war die Verschränkung von Theorie und Praxis wie im Spital zu etwas Alltäglichem geworden, was auch Ihre Orientierung am Einzelfall zum Ausdruck brachte?“ „Das theoretische Wissen reißt sich im täglichen Leben los und entzieht sich unserer Überprüfung. [… Das] ist ein Fehler, der die Diagnose erschwert und die pädagogische Therapie unbrauchbar macht. In der psychiatrischen Klinik notiert ein Stenograph die Monologe und Gespräche der Patienten, so wird es auch in den künftigen pädologischen Kliniken sein. Heute haben wir nur das Material von Kinderfragen“ (SW Bd. 4: 102). „Das ist also Ihre Standortbestimmung zur Pädologie und der Grund, warum Sie geschrieben haben wie ein Fuhrknecht?“ „Der Erzieher als Praktiker schreibt nicht. Selten – ungern – weniger – kurz. Es ist schwer, ihm einen Artikel zu entlocken, noch schwieriger ein Buch“ (SW Bd. 8: 333). „Mit Blick auf Ihre ‚Gesammelten Werke‘ haben Sie als Praktiker häufig und ausführlich be- und geschrieben. Es gibt von Ihnen eine Vielzahl von Artikeln und ganze Bücher, in denen Sie ihre Erfahrungen zu Papier gebracht haben. Es wird deutlich, was sie wussten, auch wenn Sie sich mit Rezepten zurückgehalten haben. Inwiefern unterscheidet sich die Pädagogik von der Medizin?“ „Die Pädagogik kennt keine Diagnostik, Pathologie oder Therapie. Das ist eine sinnlose, schädigende und verbrecherische Phrase. So wird von einem Kind mit einem geistigen Gebrechen oder einem moralischen Makel verlangt, daß es vor Gesundheit strotzt. Das wird ihm befohlen (und es wird dabei mißhandelt)“ (SW Bd. 8: 240). „Was unterscheidet den Arzt vom Erzieher?“ 237

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

„Meine Aufgabe als Arzt ist, Linderung zu bringen, wenn ich nicht helfen kann, den Verlauf der Krankheit aufzuhalten, wenn ich sie nicht heilen kann, die Symptome zu bekämpfen […]. Der Arzt, der einen zum Tod Verurteilten behandelt, ist nicht lächerlich. Er erfüllt seine Pflicht. Für den ganzen Rest ist er nicht verantwortlich“ (ebd.: 241). „Und der Erzieher?“ „Der Erzieher ist nicht verpflichtet, die Verantwortung für eine Zukunft auf sich zu nehmen, aber er ist voll verantwortlich für den heutigen Tag“ (ebd.: 242). „Jetzt wird auch verständlich, warum Sie im ‚Dom Sierot‘ die ‚Erziehungsdiagnostik‘ als Methode eingeführt haben. Lassen Sie uns nun über das Verhältnis von Theorie und Praxis sprechen. Band 9 der ‚Gesammelten Werke‘ vereint mehrere Beiträge aus der Zeitschrift ‚Sonderschule‘, die zwischen den Jahren 1923 und 1939 erschienen sind. In Ihnen haben Sie sich zur Chiffre geäußert, inwiefern?“ „Dank der Theorie weiß ich, dank der Praxis fühle ich. Die Theorie bereichert den Intellekt, die Praxis verleiht dem Gefühl Farbe, trainiert den Willen“ (SW Bd. 9: 239). „Es scheint, als haben Sie die Wissenschaft (die Theorie) und Ihr Handeln (die Praxis) zueinander in Beziehung gesetzt und nicht gegeneinander ausgespielt. Auf welcher Grundlage haben Sie in der pädagogischen Praxis gehandelt?“ „Ich weiß – bedeutet nicht: Ich handle im Sinne dessen, was ich weiß. Fremde Anschauungen anderer Menschen müssen sich im eigenen, lebendigen Ich den Weg bahnen. Nicht ohne Auswahl entwickle ich meine Gedanken aus den theoretischen Grundlagen. […] Im Ergebnis habe ich eine eigene, bewußte oder unbewußte Theorie, die das Handeln steuert. […] Ich nehme oftmals von der Theorie Abstand, selten von mir selbst“ (ebd.: 239). „Eine eigene Theorie – ob nun bewusst oder unbewusst – steuert also Ihr Handeln. Wie stehen Sie der Praxis gegenüber?“ „Die Praxis – das ist meine Vergangenheit, mein Leben, die Summe subjektiver Erlebnisse, die Erinnerung an erfahrene Fehlschläge, Enttäuschungen, Niederlagen, Siege und Triumphe, negative und positive Empfindungen. Die Praxis kontrolliert mißtrauisch, zensiert, bemüht sich, die Theorie bei einer

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Lüge zu ertappen, bei einem Fehler. Er vielleicht, vielleicht dort, vielleicht unter seinen Arbeitsbedingungen, doch ich, in der eigenen Arbeit, in meiner Werkstatt … Es ist immer anders“ (ebd.: 239). „Ihre Ausführungen erinnern an dieser Stelle an das geflügelte Wort, keiner Statistik zu trauen, die man nicht selbst gefälscht hat. Sie standen Büchern kritisch gegenüber. Zwar könnten Autoren und Autorinnen mit zahlreichen Zitaten beweisen, dass sie belesen sind; aber Zitate seien auch nur Wiederholungen dessen, was bereits bekannt und gut in der Theorie ist. Aber das, was der Autor oder die Autorin am Schreibtisch zu Papier brächte, ist mit dem wirklichen Leben nicht in Berührung gekommen. Haben Sie deshalb einen eigenen Weg gesucht?“ Ja. Ich sage immer „[s]uche deinen eigenen Weg. Verlange nicht von dir selbst, bereits ein seriöser, abgeklärter Erzieher mit einer psychologischen Buchhaltung im Herzen und einem pädagogischen Kodex im Kopf zu sein. Du hast einen wunderbaren Bundesgenossen, einen Zaubergeist – deine Jugend, und rufst nach einem griesgrämigen Tölpel – nach der Erfahrung. […] Es ist ein Glück, daß die von der Theorie empfohlene Konsequenz sich in der Praxis nicht durchführen läßt. Wie wollt ihr das Kind ins Leben einführen mit der Überzeugung, daß alles richtig, gerecht, verständlich begründet und unabänderlich ist? In der pädagogischen Theorie vergessen wir, daß wir das Kind nicht lehren sollten, die Wahrheit hochzuhalten, sondern auch, die Lüge zu erkennen, nicht nur zu lieben, sondern auch zu hassen […]“ (SW Bd. 4: 148 und 114). „Sie haben zwischen moderner Theorie und Praxis keine Diskrepanz gesehen, weil die Theorie das verkündet, was der Erzieher in seiner Praxis fühlen kann. Die Theorie ist dann wahr, wenn sie vom Leben nicht widerlegt wird?“ „Man kann die Worte der Gesetze übernehmen, aber sie verstehen, all ihre Geheimnisse entdecken, das muß man selber tun. […] Jeder Mensch handelt so, wie er weiß, glaubt und will, und wie ihm die Bedingungen erlauben, die ich nicht kenne“ (SW Bd. 9: 473). „Ist es an dieser Stelle notwendig, auch die Begriffe Routine und Erfahrung noch einmal genauer zu betrachten?“ Ja. „Routine wird von einem gleichgültigen Willen entwickelt, in dem er Methoden und Methödchen sucht, um die Arbeit zu erleichtern, zu vereinfachen, zu mechanisieren, um zur Zeit- und Energieeinsparung den für sich bequemsten 239

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Weg zu finden. Die Routine gestattet es, sich gefühlsmäßig von der Arbeit zu entfernen, ein Zögern auszuschalten, ein Gleichgewicht herzustellen – du erfüllst eine Funktion […]. Für die Routine beginnt das Leben da, wo die Dienstzeit der Berufsarbeit endet“ (ebd.: 239). „Sehen Sie auch einen Zusammenhang von Theorie und Routine?“ „Meine Ansicht, mit dem Gesetz der Theorie zu stützen, meine Ansicht nie negieren, nie in Zweifel ziehen und mich nie verwirren lassen. Einmal habe ich in lustlosem Bemühen den Entwurf der Theorie in eine Anschauung, einen Plan, ein Programm umgestaltet. Irgendwie habe ich das zusammengebastelt, achtlos“ (ebd.: 239). „Was ist daran auszusetzen?“ „Da kann man nichts machen – so ist es geworden, ich werde nicht von vorne beginnen. Das Ideal der Routine – das ist Unerschütterlichkeit, die eigene Autorität von ad hoc157 gewählten, gesiebten Thesen“ (ebd.: 239 f.). „Und Erfahrung?“ „Ich beginne mit dem, was andere wissen, baue nach meinen Fähigkeiten auf. Ich möchte handeln – redlich und gründlich – nicht gemäß äußerer Anweisung, unter der Drohung fremder Kontrolle, sondern aus eigenem, ungezwungenem, gutem Willen unter der achtsamen Aufsicht des Gewissens. Nicht zu meiner Bequemlichkeit, sondern um mich zu bereichern. Nicht das, was leicht ist, sondern was am vielseitigsten wirksam ist“ (ebd.: 240). „Erfahrung ist – im Vergleich zur Routine – also die größere Herausforderung, aber auch ein Ansporn, vor allem dann, wenn Ihr Handeln nicht dazu führt, was Sie beabsichtigt haben?“ „Einen Mißerfolg bewerte ich nicht nach der Summe enttäuschter Ambitionen, sondern – nach der Summe der gewonnenen Dokumente. Jeder Mißerfolg ist auf seine Weise ein neuer Ansporn für die Gedankenarbeit. Jede für heute gültige Wahrheit ist nur eine Etappe“ (ebd.: 240).

157 Hervorhebung im Original.

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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„Ist das ein Grund, warum Sie zeit ihres Lebens nicht aufgehört haben, zu beobachten, zu notieren und zu publizieren?“ „Ich ahne durchaus nicht, welche die letzte sein wird; es ist gut, wenn ich das Bewußtsein der ersten Etappe der Arbeit habe. Was sagt sie aus, wie ist diese – erste Etappe der erzieherischen Arbeit? Ich schätze die Fakten ohne Illusion ein und denke – es sei am wichtigsten, daß der Erzieher [und die Erzieherin] in der Lage sein sollte: Jeden in jedem Fall völlig zu verzeihen. Alles verstehen – heißt alles verzeihen“ (ebd.: 240). „Also nicht nur eine Pädagogik der Achtung, sondern auch eine Pädagogik des Verzeihens?“ „Der ist kein Erzieher, der sich entrüstet und schmollt und der am Kind grollt, weil es das ist, was es ist, als was es geboren wurde oder wie die Erfahrungen es erzogen haben“ (ebd.: 240). „Ich denke, es ist klar geworden, worum es Ihnen bei der Chiffre geht. Wie möchten Sie unseren Prolog beenden? Ein letztes Statement von Ihnen, bitte.“ „Und dann, wenn der Mensch nach Jahren der Arbeit, in gedanklicher Anstrengung und mit schweren Erfahrungen endlich zu diesen Wahrheiten vordringt, entdeckt er mit Verwunderung, daß eigentlich nichts Neues darin vorhanden ist, daß all die Theorie schon lange verkündet, daß er es längst gelesen, gehört, gewußt hat, daß er es jetzt darüber hinaus – dank der Praxis – eben auch fühlt. Wer zwischen Theorie und Praxis eine Diskrepanz sieht, der ist gefühlsmäßig nicht auf das Niveau der modernen Theorie gelangt, der muß nicht noch mehr aus Büchern und Buchstaben lernen, sondern aus dem Leben, dem fehlt es nicht an Rezepten, sondern an der mit großen Mühe zu erringenden Kraft, die Wahrheit zu empfinden, sich mit der Wahrheit der Theorie zu verbrüdern“ (ebd.: 242). Der Dialog ist fingiert, aber Janusz Korczaks Antworten auf meine Fragen sind Zitate aus den „Gesammelten Werken“. Der Arzt-Pädagoge hatte zwar keinen Lehrstuhl für Soziale Arbeit inne, stellte aber trotzdem disziplinäres Wissen zur Verfügung, indem er sich auch mit den theoretischen Grundlagen von Erziehung und Bildung auseinandergesetzt hat. Zeit seines Lebens hat er sich auf die Suche nach seinem eigenen (pädagogischen) Weg begeben und fand ihn, als er begriffen hatte, daß alle Bücher, die er bis dahin „gelesen hatte, alle fremden Erfahrungen 241

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und Ansichten – zweifelhaft waren“ (SW Bd. 4: 143). Das Buch mit seinen fertigen Formeln hat seinen Blick getrübt und seine Gedanken träge gemacht. Mit der Distanz zum Buch gewann er sein Selbstvertrauen als Pädagoge zurück und setzte wieder mehr auf eigene Erfahrungen, Untersuchungen und Ansichten. Entweder „das Papier oder das Leben; das Gedruckte bedrückt, aber das Tun – das ist die Seele des Gesetzes / die Seele der Theorie“ (SW Bd. 9: 483). Pädagogik ist bei Janusz Korczak sowohl eine praktische Wissenschaft / Handlungswissenschaft vom Menschen [und nicht allein vom Kind] als auch eine forschende Disziplin, die sich nicht auf ein Wissen von etwas, sondern durch die Gestaltung menschlicher Praxis auszeichnet. Bei ihm ist das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungspraxis ein dialektisches: Seine Theorie stand weniger unter dem Primat einer Praxis, auch wenn Janusz Korczaks Empirie bzw. Praxis dazu beigetragen hat, seine Theoriebildung anzuregen. Pädagogik als praktische Handlungswissenschaft und forschende Disziplin vermochte in seinem Verständnis Theorie von Praxis und Theorie für die Praxis zu sein. Zu Beginn seiner erzieherischen Arbeit in den Sommerkolonien ist ihm die Theorie noch eine Anleitung und Orientierung in der Praxis gewesen. Später, als er über einen reicheren Erfahrungsschatz verfügte, war die Theorie nur noch eine Vorbedingung bzw. eine Ressource, um in der Praxis frei entscheiden zu können. Weil Janusz Korczak eine theoretische Vorstellung von einem Sachverhalt hatte, konnte er diesen im jeweils spezifischen Fall erkennen, auch wenn er um die Grenzen der pädagogischen Theorie in Bezug auf das je individuelle Kind wusste. Er war stets bemüht, sich dem Einzelfall nicht auf der Basis von Routine, sondern von Erfahrung anzunähern, um eine „Erziehungsdiagnose“ zu stellen [zu verstehen] und handlungsfähig zu sein [zu tun]. Janusz Korczak ging dabei nicht von fertigen Theorien aus, die er sich einmal während seines Studiums angeeignet hat, sondern hat seine Theorien aus der Praxis gewonnen und mit ihnen seine Wahrnehmungen und Urteile strukturiert. Auf diese Weise stellte er in seiner Erziehungspraxis ständig Theorien auf, operierte mit Annahmen, formulierte Hypothesen und analysierte bzw. prognostizierte mitunter auch. Worüber er als Praktiker reflektierte, war keine Forschung, sondern vielmehr ein Ausdruck seiner Professionalisierung. Es soll nachfolgend darum gehen, bestimmte Aspekte einer Theorie Sozialer Arbeit unter der Überschrift „Prinzipien praxisnaher Theoriebildung“ herauszuarbeiten.

Prinzipien praxisnaher Theoriebildung bei Janusz Korczak „Es ist einer der bösartigsten Fehler anzunehmen, die Pädagogik sei die Wissenschaft vom Kind – und nicht zuerst die Wissenschaft vom Menschen“ (SW Bd. 4: 147). So knapp Janusz Korczaks Definition von Pädagogik daher kommt und so trivial, wie sie sich liest, sein Verständnis von Pädagogik als „Wissenschaft vom

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Menschen“ beeinflusste den Kanon seines pädagogischen Wissens, an dem er sich als wissenschaftlich Tätiger [Tatsachenforscher] und interventionspraktischer Pädagoge [Erzieher im und Leiter des „Dom Sierots“] abgearbeitet hat. Dass Kinder nicht erst zu Menschen werden, sondern qua Geburt schon welche sind, ist ein Hinweis auf Janusz Korczaks theoretisches Verständnis der Personagenese. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik geht davon aus, dass die vermittelnde Instanz von pädagogischer Theorie und erzieherischer Praxis im Erzieher liegt, über den allein sie als Wissenschaft in Forschung und Lehre praktisch werden kann (vgl. Schmied-Kowarzik 2008: 29). Auch bei Janusz Korczak zeigt sich, dass er in seinen Aussagen methodisch der Reflexionsstruktur seines Praktisch-werdens zu folgen versuchte (vgl. ebd.: 29), was ihm über das (Be-)Schreiben und die daran gekoppelte Reflexion gelungen ist. Im Sinne einer „Theorie praktischer Pädagogik“ hat er praxisrelevante pädagogische Wissensbestände aufgearbeitet, um einen genuin pädagogischen Zugang zum Gegenstand der erzieherischen Bemühungen [dem Kind] zu ermöglichen (vgl. Ellinger und Hechler 2013: 11). Auf diese Weise gab er der Theorie und Praxis wichtige Impulse. Sein „Leben mit dem Kind [war] seine Erziehungslehre – im Hier und Jetzt des Alltags“ (Kirchner 1997: 24). Das Tun bzw. die Handlung verstand er als Lehre und das Dasein des Erziehers bereits als Einwirkung. Der Arzt-Pädagoge hat die Beobachtungshaltung der Pädiatrie übernommen und sich im Laufe seiner professionellen Sozialisation auf die „Erziehungsdiagnostik“ als Methode spezialisiert. Grundlage der „Erziehungsdiagnostik“ war die Erkenntnis bzw. ein Wissen darüber, was das Kind im Angesicht der Anforderungen seiner Lebenspraxis und vor dem Hintergrund seines Lebenslaufs bisher erworben hat und was es noch erwerben müsse. Von ihm hing es ab, über welche Erziehungsmittel letztlich entschieden wurde. Deshalb hat Janusz Korczak für seine pädologische Forschungsarbeit ausdrücklich pädologische Kliniken [„Erziehungskliniken“] wie das „Dom Sierot“ gefordert, in denen das einzelne Kind in seiner je speziellen Lebenswelt verstanden werden sollte (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 75). Im weiteren Verlauf möchte ich mich mit den zentralen Prinzipien praxisnaher Theoriebildung in Janusz Korczaks Werk auseinandersetzen und jene Punkte herausarbeiten, die in Bezug auf „Wissenschaftlichkeit und Reflexion“, „Vom Einzelfall zu allgemeineren Aussagen“, die „Generationelle Unterscheidung“, das „Zusammenleben und die Begleitung des Kindes“, das „Erziehungsmilieu“ und den „Gegenwartsbezug“ bei meiner Relektüre in Erscheinung getreten sind.

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Janusz Korczaks Prinzip von Wissenschaftlichkeit und Reflexion „‚Ich weiß nicht‘ – das ist in der Wissenschaft der Ur-Nebel, aus dem die sich neu formenden Gedanken auftauchen, und sie kommen der Wahrheit immer näher. ‚Ich weiß nicht‘, das ist für den mit dem wissenschaftlichen Denken nicht vertrauten Geist eine quälende Leere.“ (SW Bd. 4: 10)

Es ist ein Merkmal der europäischen Denktradition, dass dem Handeln Denkund Entscheidungsprozesse vorausgehen, die auf eine eigene wie bestimmbare Wissensbasis zurückzuführen sind (vgl. Dewe und Radtke 1991: 144). Um einen Gegenstand erklären zu können, braucht es Theorien und Forschung. Bei Janusz Korczak beginnt alle Wissenschaft mit dem Bewusstsein, etwas nicht zu wissen und durch die Überwindung des Nicht-Wissens der Wahrheit näher zu kommen. „Das schöpferische ‚Ich weiß nicht‘“ beschreibt er als Eigenschaft des modernen Wissens vom Kind (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 10) und weder Bücher noch Ärzte könnten die eigene Beobachtung des Kindes ersetzen. Es wird bereits in den einleitenden Worten seiner Tetralogie „Wie liebt man ein Kind“ deutlich, dass er nicht bestehende Theorien auf das (individuelle) Kind anzuwenden empfiehlt. Janusz Korczak fordert vielmehr dazu auf, sie außen vor zu lassen und stattdessen genau zu beobachten. Es gebe zwar „kleine Wahrheiten“, die für die meisten Kinder Gültigkeit besäßen, aber nicht alles, was aus Handbüchern abgeschrieben wurde, müsse auch auf das individuelle Kind zutreffen: „Wann sollte das Kind laufen und sprechen? Dann, wenn es läuft und spricht. Wann sollten die Zähne durchbrechen? Genau dann, wenn es geschieht. Und die Fontanelle [eine Lücke im Schädel des Babys] sollte dann zuwachsen, wann sie eben zuwächst. […] Denn es gibt Kinder, die mehr und welche, die weniger Schlaf brauchen; es gibt Zähne, die früh kommen und schon bei ihrem Durchbruch schadhaft sind; und es gibt Zähne, die spät durchbrechen; die Fontanelle wächst bei gesunden Kindern im neunten oder aber auch im vierzehnten Monat ihres Lebens zu; Dummerchen beginnen früh zu plappern, intelligente Kinder sprechen lange nicht“ (SW Bd. 4: 44).

Janusz Korczak war jemand, der in seinen Publikationen Fragen stellte, die noch nicht gestellt wurden; die zum Zweifeln anregten und Aufklärung erforderten. Seine Haltung „nicht zu wissen“ und „nicht wissen zu können“ hat seine Einstellung zur Wissenschaftlichkeit und Reflexion beeinflusst, vor allem in Bezug auf das Wissen, das in Büchern stand: „Das Buch mit seinen fertigen Formeln hat den Blick getrübt und zu Gedankenträgheit geführt. Man lebt so sehr mit fremden Erfahrungen, Untersuchungen, Ansichten, hat so weitgehend das Selbstvertrauen verloren, daß man den eigenen Augen nicht mehr

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trauen will. Als sei das bedruckte Papier eine Offenbarung, und nicht das Ergebnis von Untersuchungen, die irgendwer, nur nicht ich, irgendwann an irgendwem vorgenommen hat […]“ (SW Bd. 4: 24).

Gesetzmäßigkeiten, Vorschriften und Rezepte könnten in Büchen zwar gesucht werden, doch eines seiner Anliegen war, dass der Leser und die Leserin beginne, nicht allein auf das Buchwissen zu vertrauen, sondern sich eigene Gedanken zu machen und an das zu glauben, was beim (eigenen) Kind genau zu beobachten ist. Denn noch bevor das Kind durch Worte zu Sprechen lernt, kommuniziert es bereits durch „die Sprache der Tränen und des Lächelns, die Sprache der Augen und des Mündchenverziehens, die Sprache der Bewegungen und des Saugens“ (ebd.: 22). Einfachste Symptome sollten wahrgenommen und verstanden werden können, denn für „den Erzieher ist das Kind das Buch der Natur; indem er es liest, reift er“ (SW Bd. 9: 247). Zwar gebe es (erstbeste) Beispiele für „wohlgeratene Kinder“, doch die Forderung diesem Vorbild zu gleichen, wäre ein Ausdruck des Egoismus der Eltern, „nicht das Wohl des Einzelnen, sondern der Ehrgeiz der Masse, nicht die Suche nach einem Weg, sondern die Fesseln einer Schablone“ (SW Bd. 4: 18) umsetzen zu wollen, weil die ganze moderne Erziehung bestrebt ist, „ein bequemes Kind heranzubilden; […] alles einzuschläfern, zu unterdrücken, zu zerstören, was im Kind Wille und Freiheit, Seelenstärke und Unternehmungsgeist ausmacht“ (ebd.: 19). Janusz Korczak ging es darum, die Herausforderungen der Umwelt in seine eigenen Handlungsmöglichkeiten zu integrieren. Dabei wollte er nicht blind bzw. unreflektiert rezipieren, was von außen – durch Buchwissen – an ihn herangetragen wurde, sondern nach Maßgabe der Erziehung als zentrales Thema der Pädagogik und auf Grundlage einer „Erziehungsdiagnostik“ über geeignete Erziehungsmittel entscheiden. Erziehung war für ihn schließlich keine Kunst, sondern eine Wissenschaft und der Erzieher kein Zauberkünstler, sondern ein Fachmann (vgl. SW Bd. 9: 206).

Vom Einzelfall zu allgemein(er)en Aussagen „Ich habe interessante Bücher gelesen. Jetzt lese ich interessante Kinder. Sag nicht: Ich weiß schon. Ich lese einmal, zweimal, dreimal und zehnmal das gleiche Kind, und ich weiß immer noch nicht viel, weil ein Kind über eine eigene Welt verfügt, eine große Welt, die schon lange existiert und die noch lange bleiben wird. Ich weiß ein wenig, was war und was ist. Und wie wird es weitergehen?“ (SW Bd. 9: 473)

Indem sich Janusz Korczak von der / einer Wissenschaft und ihren Erkenntnissen distanzierte [die nicht seine eigenen, also fremde waren], setzte er sich intensiver mit 245

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seinen eigenen Erfahrungen und Ansichten auseinander. Seine empirischen bzw. praxeologischen Texte sind Erziehungsberichte, in denen er genau zu beschreiben versuchte, was er beobachtet oder wie er gehandelt hat. Im Kontext seiner „Erziehungsdiagnostik“ beobachtete er das Kind und interpretierte Phänomene der kindlichen Lebenspraxis, um etwas aus einem Inneren zu deuten, das für ihn als Beobachter als Äußeres oder Äußerung nur von einem Außen wahrnehmbar war (vgl. Nohl 1947: 9 in Ellinger und Hechler 2013: 14). Janusz Korczaks Vertrauen in die eigene Erfahrung der erzieherischen Praxis stieg parallel zur Erschütterung seines Glaubens in die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse, obgleich er in vielen Disziplinen bzw. Themenfeldern sehr belesen war. „Der Erzieher sollte … sollte … sollte. – Und letztlich muß er in allen unwichtigen und wichtigen Dingen selbst entscheiden, so wie er es eben weiß und wie er es kann und, was das Wichtigste ist – wie er es vermag“ (ebd.: 154).

Die Literatur gebe zwar Handlungsempfehlungen oder -muster vor, die theoretisch gut seien oder auf dem Papier Sinn ergäben, doch müsse der Erzieher in seiner Praxis (in der konkreten Situation) seine Entscheidung immer selbst verantworten. Denn dort wird er mit verschiedenen Handlungsoptionen konfrontiert und nicht (immer) in der Lage sein, die richtige unter ihnen auszuwählen oder Situations-adäquat zu handeln. Schließlich sei es einfacher, vom Schreibtisch aus Anweisungen zu diktieren, als unmittelbar mit Kindern in Berührung zu kommen (vgl. ebd.: 145). In der Literatur würden „Trugbilder einer großen Gelehrsamkeit, bedeutender Aufgaben, hochtrabender Ideale“ verbreitet, doch bliebe der Erzieher am Ende nur ein „Tagelöhner“ und ein „Aschenputtel“ (ebd.: 145). Darüber verlöre er die Begeisterung für seine Arbeit, die Energie, die Initiative und den Glauben an sich selbst, so dass er schließlich Groll gegen sich, seine Umgebung und die Kinder empfände (vgl. ebd.: 146): „Ich will, ich muß, ich sollte; dann wieder hoffnungslos: Lohnt es sich? Die theoretischen Grundsätze sind so mit der eigenen täglichen Erfahrung verquickt, daß er [der Erzieher] den Faden verloren hat – je länger er nachdenkt, um so weniger versteht er“ (ebd.: 146).

Das Nicht-verstehen bzw. Nicht-wissen-was-er-tun-soll sei aber ein Grund zur Freude, weil das „Nicht-Wissen“ Vorurteile und sentimentale Ansichten über das Kind abbaue und der Erzieher dann die Einsicht hätte, dass er nichts wisse (vgl. ebd.: 147). In Anlehnung an das geflügelte Wort [„Ich weiß, dass ich nichts weiß“] Ciceros (106–43 v.Chr.) verweist Janusz Korczak darauf, dass der Erzieher dann nach einem Weg suche, wenn er die Orientierung verloren habe (vgl. ebd.: 147).

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Er wollte dazu ermuntern, erst sich selbst und danach den Kindern zu begegnen, weil unter ihnen der Erzieher selbst ein Kind ist, das er kennen lernen, erziehen und formen müsse (vgl. ebd.: 147). Über seine umfangreiche Datensammlung schrieb Janusz Korczak einmal an das „Personalbüro des Judenrates“ im Warschauer Ghetto: „Statistik gibt Disziplin in logischem Denken und im objektiven Beurteilen von Tatsachen. Indem ich die Kinder während eines Vierteljahrhunderts jede Woche gewogen und gemessen habe, besitze ich eine unbezahlbare Sammlung von Diagrammen – Profilen des Wachstums der Kinder im Schulalter und der Pubertät“ (Bobrowska-Nowak 1982: 166 in Langhanky 1993: 124).

An anderer Stelle (im Vorwort zu Maria Falskas Buch über das „Nasz Dom“) heißt es über seine forschende Haltung: „Wer Fakten und Dokumente sammelt, der erwirbt den Stoff zur objektiven Diskussion, die keinen emotionalen Regungen unterliegt. Man soll die kleinen Erscheinungen untersuchen und nicht geringschätzen. ‚Nasz Dom‘ besitzt 195 Hefte – Zeitungen und Mitteilungen; 41 Hefte – Protokolle aus 227 Sitzungen des Selbstverwaltungsrates; 27500 Gerichtsberichte; 14100 Danksagungen; über 100 Hefte – Beschreibungen, Erzählungen und Erinnerungen der Kinder; einige Hundert Schaubilder und Diagramme. Jene Zahlen, Berichte, und Stenogramme geben ein Bild nicht von Ansichten, sondern von Tatsachen, die während der sieben Jahre geschahen. Es wäre zu voreilig, die Schlußfolgerungen zu ziehen, sogar die Beiträge zu beleuchten. Diese Sammlung wollen wir vergrößern, unabhängig davon, wann das Forscherauge – mit Methoden wissenschaftlicher Untersuchung ausgerüstet reinschaut“ (Falska 2007: 31).

Janusz Korczak war zeitlebens neugierig und skeptisch. Er hat empirische Daten [durch die exakte Beobachtung kleiner Einzelheiten des Alltags, ferner aber auch durch Experimente und ihre Kontrolle] erhoben, um theoretische Annahmen über die Welt zu entfalten, sie zu belegen oder ad absurdum zu führen. Er wollte mit seinen präzisen Deskriptionen sachliche Antworten geben. Er stützte sich dabei auf Untersuchungen, die in einem Setting normgemäßer und ordentlicher Bedingungen durchgeführt wurden. Sein scheinbar objektives Urteil beruhte aber nicht allein auf bewusst Erlebtem und aufbewahrtem Beobachtungsmaterial, sondern auch auf unklaren und verwischten Erinnerungen (vgl. SW Bd. 9: 348). Janusz Korczak war davon überzeugt, dass man nur zu Verallgemeinerungen kommen könne, wenn man die zahlreichen Beobachtungen gliedere, kasuistische Vorkommnisse zusammenstelle und gründlich abwäge (vgl. Ungermann 2006: 293). Deshalb waren eine kritische Reflexion und die schriftliche Fixierung seiner Beobachtungen unabdingbar. Er befürwortete und praktizierte die Kasuistik im Sinne einer Fallanalyse als Forschungsmethode für die Pädagogik (vgl. ebd.: 293). 247

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Die Grundidee seiner Fallanalyse beruhte darauf, dass er einen aus der Praxis bzw. Lebensumwelt gewonnenen Fall diskutierte und für die Fallsituation nach alternativen Lösungsmöglichkeiten suchte, die er mit der in der Realität getroffenen Entscheidung verglich. Janusz Korczak bildete auf diese Weise eine Realität ab, die eine Antwort auf seine Forschungsinteressen bzw. Forschungsfrage(n) geben konnte. Die Einzelfallorientierung / Fallstrukturiertheit war seiner Zeit ein (neues) Handlungsprinzip bzw. eine Arbeitsform (Methode), die ein Teil seines Erziehungsmodells geworden war und gilt heute als Merkmal der Lebenspraxis schlechthin.

Janusz Korczaks Prinzip der generationellen Unterscheidung „Arme Liliputaner im Reich der Riesen.“ (SW Bd. 4: 53) „Wenn wir die Menschheit in Erwachsene und Kinder einteilen und das Leben in Kindheit und Reife, so haben wir in beiden Fällen sehr, sehr viele Kinder.“ (ebd.: 75)

Ein pädagogischer Urgegensatz ist der Gegensatz der Generationen, der als die eigentliche pädagogische Antinomie bezeichnet wird (vgl. Nohl 1967: 42). Eine institutionalisierte Altershierarchie, in der das hierarchische Verhältnis [Machtverhältnis] zwischen Kindern und Erwachsenen begründet wird (vgl. Mierendorff 2010: 24), ist auch ein Merkmal moderner Kindheit. Dieses Machtverhältnis ist als dynamisches Spannungsverhältnis zwischen den beiden Altersgruppen im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang zu verstehen und stiftet zugleich ein Erziehungsverhältnis (vgl. Büchner 2006c: 255 und 253). Auch Janusz Korczak unterscheidet das Kind vom Erwachsenen, so dass erziehungstheoretisch wie -praktisch das Generationenverhältnis als Erziehungsverhältnis von besonderer Bedeutung ist, das ebenso scheitern kann. Er benennt im Wesentlichen folgende Unterschiede zwischen dem Kind und dem Erwachsenen: • Das Kind verfügt wie der Erwachsene über Instinkte, weil bestimmte Verhaltensmuster angeboren sind. Im Vergleich zum Erwachsenen ist das Sexualverhalten vorhanden, aber noch „uneinheitlich, wie eine Nebelwand erotischer Vorahnungen“ (SW Bd. 4: 77). • Das Kind ist im Bereich des Intellekts nicht schlechter als der Erwachsene gestellt, es fehlt ihm lediglich an Erfahrung. Der Erwachsene ist zwar wesentlich erfahrener als das Kind und er weiß sehr vieles, was ein Kind (noch) nicht weiß, aber was es denkt und fühlt, das weiß ein Kind [für sich] besser (vgl. ebd.: 238) als der Erwachsene.

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• Der restliche Unterschied besteht darin, dass das Kind nichts verdient und durch die finanzielle Abhängigkeit vom Erwachsenen, der für seinen Unterhalt aufkommt, gezwungen ist, klein beizugeben (vgl. ebd.: 77). Die Charakteristik der Altersstrukturierung zeigt sich in Bezug auf die lebensweltlichen Begrenzungen des kindlichen Horizonts bzw. seiner Wissensbestände. Das Kind unterscheidet sich nur im Hinblick auf seinen Sexualtrieb und seine Erfahrung vom Erwachsenen, was Janusz Korczak aber nicht als einen Mangel deutet. Nur weil es finanziell vom Erwachsenen abhängig ist, muss es sich ihm innerhalb einer Altershierarchie unterordnen. Der gesamte Fortschritt in Janusz Korczaks Perspektive auf das Generationenverhältnis liegt in der Erkenntnis, dass das Kind ein Eigenrecht hat, das von der Erziehungspraxis zu berücksichtigen ist. Die Korczaksche Pädagogik baute nicht mehr vom Standpunkt des Erziehers, sondern des Kinders her auf. „Das Kind ahmt die Erwachsenen nach. Nur durch Nachahmung lernt es sprechen und den meisten Umgangsformen zu genügen; und so erweckt es den Anschein, sich in die Welt der Erwachsenen eingelebt zu haben, die es nicht verstehen kann, und die ihm fremd und unbegreiflich ist. Den grundlegenden Irrtümern in der Beurteilung des Kindes erliegen wir gerade deshalb, weil seine wesentlichen Gedanken und Gefühle in Äußerungen verloren gehen, die es aber mit einem völlig anderen Inhalt füllt“ (ebd.: 80).

Auch wenn das Kind über weniger Erfahrung verfügt, ist es doch zu vernünftigen Urteilen fähig, was die Erwachsenen aber verkennen, weshalb die „Erfahrung einiger unangebrachter Fragen, unpassender Scherze, verratener Geheimnisse, unvorsichtiger Geständnisse“ (ebd.: 97) das Kind lehrt, der Welt der Erwachsenen mit Vorbehalt zu begegnen. Dabei ist die Seele des Kindes nicht weniger kompliziert als die der Erwachsenen. „Das Kind denkt nicht weniger, nicht armseliger, nicht schlechter als die Erwachsenen, es denkt anders. In unserem Denken sind die Bilder verblichen und ausgefranst, die Gefühle glanzlos und verstaubt. Das Kind denkt mit dem Gefühl, nicht mit dem Intellekt“ (ebd.: 270).

Janusz Korczaks „Lebensregeln“ (1930) waren ein Versuch, beratend zwischen den Generationen zu vermitteln. Er wandte sich mit ihnen direkt an die Kinder und teilte ihnen mit, dass sie wie die Erwachsenen Menschen sind. Die „Lebensregeln“ basieren auf empirischem Beobachtungsmaterial, das er in seiner erzieherischen Praxis sammeln konnte. Er gibt keine Anweisungen, sondern nur Erinnerungen, Erfahrungen und die Aufforderung, sich selbst und einen eigenen Weg zu erkennen, 249

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weiter (vgl. SW Bd. 3: 325). Die „Lebensregeln“ wurden von ihrem Autor als wissenschaftliches Buch über die Probleme und Möglichkeiten des Zusammenlebens der jüngeren und älteren Generation bezeichnet, das zum Nachdenken anregen sollte (vgl. ebd.: 280). Er versucht, Sozialisationsbedingungen in unterschiedlichen Lebensbereichen transparent zu machen und Möglichkeiten aufzuzeigen, sich besser in der Welt zurechtzufinden. Während erwachsene Leser und Leserinnen das Kind als Individuum kennen lernen, erfahren die jüngeren, dass jedes Kind in ein Milieu hinein geboren wird und materielle wie ideelle Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bereits vorhanden sind (vgl. Ungermann 2006: 323). Es muss diese grundsätzlichen Gegebenheiten verstehen lernen, wenn es an gesellschaftlichen Veränderungen mitwirken möchte (vgl. SW Bd. 3: 323). Durch die Lektüre entfaltet sich ein emanzipatorisches Potential und es wird deutlich, dass in den unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen können, die dazu herausfordern, den eigenen Standpunkt ggf. zu relativieren. Silvia Ungermann verweist in ihrer Interpretation auf die Terminologie des „Symbolischen Interaktionismus“ und erkennt Anregungen zum „role-taking“ und „role-making“ (vgl. Ungermann 2006: 323). Das Prinzip der generationalen Unterscheidung betont den absoluten Wert der Kindheit und impliziert die Forderung nach einer Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des Stadiums der Kindheit gegenüber dem Erwachsensein nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gesellschaft. Die Gleichberechtigung der Generationen kam in Janusz Korczaks Praxis der Heimerziehung durch die Selbstverwaltung zum Ausdruck, die nicht nur eine äußere Form der Organisation, sondern eine das ganze Leben des Waisenhauses durchdringende Idee war (vgl. Okoń 1974: 150). Das Verhältnis zwischen den Generationen zeichnete sich dadurch aus, dass das Kind einerseits auf Nähe, Fürsorge und „ein Minimum an unerlässlicher Ordnung“ wie auch Disziplin angewiesen war (vgl. SW Bd. 4: 21 f. und 166), andererseits aber auch eigene Rechte für sich erkämpfen wollte (ebd.: 143). Auch das Kind hat eine eigene Perspektive und spezifische Wünsche für die Gegenwart. Janusz Korczak erkannte im ambivalenten Verhältnis von Angewiesen-sein und Aktivität / Selbstbestimmung die Notwendigkeit, dass die jüngere Generation mit der älteren gemeinsam nach einem Weg zwischen Vergesellschaftung und Individuierung sucht, denn „‚Ich will nicht‘, das ist ein Aufschrei der kindlichen Seele, aber du mußt ihn nicht unterdrücken, weil der moderne Mensch nicht im Wald, sondern in der Gesellschaft lebt“ (ebd.: 165).

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

251

Janusz Korczaks Prinzip vom Zusammenleben und der Begleitung des Kindes „Ich möchte ein Übermaß an Aufsicht nicht gegen ihr völliges Fehlen austauschen. Ich weise nur darauf hin, daß das einjährige Kind auf dem Dorf schon lebt, während bei uns erst der reife junge Bursche zu leben anfängt.“ (SW Bd. 4: 53)

Das Prinzip vom Zusammenleben und der Begleitung des Kindes betrifft die Handlungsformen Janusz Korczaks in seiner Erziehungspraxis. Das „Dom Sierot“ war neben dem „Nasz Dom“ ein einzigartiger Versuch, an einer Methodik für die Gruppenerziehung zu arbeiten; und die Theorie mit der Praxis zu einer Einheit zu verschmelzen (vgl. SW Bd. 9: 206). Seinerzeit begann sich die Auffassung durchzusetzen, dass Erziehung nicht allein für die Gruppe, sondern auch für das einzelne Kind Sorge zu tragen habe. Erziehung sollte gesellschaftlich und individuell sein. Janusz Korczak erweiterte diese Forderung um die Verantwortlichkeit des Erziehers vor den Kindern für die Gesellschaft (vgl. ebd.: 207). Er wollte das Kind zu einem sozialen Wesen erziehen und ging davon aus, dass „es keine Erziehung ohne Mitwirkung des Kindes“ (vgl. SW Bd. 4: 17) gebe. Er initiierte eine Kindergesellschaft in Anlehnung an die Erwachsenengesellschaft, die auf die Bedürfnisse und Besonderheiten der Kinder zugeschnitten war. Sie wurzelte auf den Prinzipien von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit und stattete die Kinder mit gleichen Rechten wie Pflichten (auch gegenüber den Erwachsenen) aus. Ordnung sollte durch Disziplin, Zwang durch die freiwillige Anpassung des Individuums an die gemeinschaftlichen Lebensnormen und seelenlose Moral durch ein Streben nach Vervollkommnung und Selbstbeherrschung ersetzt werden (vgl. SW Bd. 9: 207). Es war die Aufgabe der Erwachsenen, im „Dom Sierot“ das Zusammenwirken mit den Kindern zu organisieren und alle Gedankenkräfte zu bündeln. Janusz Korczak hat aus professioneller Sicht einen Perspektivwechsel, weg von der Dominanz des Erziehers durch die Aufgabe seiner Autorität hin zu einer kommunikativen Abstimmung auf die Bedürfnisse des Kindes (auf Augenhöhe), vollzogen. Die gemeinsame Aushandlung ist zu einem grundlegenden Erfordernis seiner Erziehungsarbeit geworden, so dass das Kind im Erziehungsgeschehen nicht passiv, sondern aktiv war. Es gestaltete als Akteur den institutionellen Alltag mit und war nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten ausgestattet. Die Hinwendung zur Partizipation führte zu einer Relativierung des Machtverhältnisses zwischen dem Erzieher und dem Kind; und betraf sowohl die Teilnahme als auch die Teilhabe des Kindes am Erziehungsgeschehen. Auf diese Weise wurde das Kind nicht nur aus Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber den Erwachsenen befreit, sondern auch zur Selbständigkeit und Selbstverantwortung ermächtigt. 251

252

3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Im „Dom Sierot“ konnte es nicht den Weg des Erziehers, sondern nur den „jeweiligen Weg des Erziehers mit dem Kind“ (Kirchner 1997: 28) geben, wobei das Kind kein Partner für ein gemeinsames Handeln war, sondern für sich und sein Wachstum die Verantwortung trug, weil es den Weg der Selbsterziehung beschritt. „Ein Erzieher, der nicht hineinstopft, sondern herauslockt, nicht zerrt, sondern Halt gibt, nicht knetet, sondern gestaltet, nicht diktiert, sondern lehrt, nicht fordert, sondern fragt, erlebt mit dem Kind zusammen viele Augenblicke der Inspiration […]“ (SW Bd. 4: 99).

Die Forderung von Selbständigkeit und Selbstbestimmung schließt bei Janusz Korczak auch die Forderung nach einem Möglichkeitsraum für eigene Erfahrungen des Kindes mit ein. Es sollte dem Kind zugestanden werden, die Welt und sein Selbst zu entdecken; einen eigenen Willen zu entwickeln und ihn zu trainieren; selbst Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu machen und Misserfolge haben zu dürfen. Dieser Ansatz stellte die Autonomie des Kindes wieder her bzw. ließ das Kind sich überhaupt Autonomie aneignen. Die Beziehung des Erziehers zum Kind bzw. des Kindes zum Erzieher zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass der Erzieher auch durch das Kind erzogen werden kann. Der Erzieher (selbst, wenn er sich erwachsen, stabil und unwandelbar fühlt) unterliegt dem Einfluss des Milieus, der Umgebung und der Kinder, wenn er sie zu erziehen versucht (vgl. SW Bd. 9: 247). Durch das Kind sammelt der Erzieher Erfahrungen. Es hat sowohl Einfluss auf seine Anschauungen als auch Emotionen und es gibt dem Erzieher Anweisungen an sich selbst. Kurzum: Das „Kind lehrt und erzieht“ (ebd.: 247). „Ein Kind hat eine eigene große Welt und wichtige Welt. Zwei Kinder – haben drei große Welten. Drei Kinder – das ist nicht eins plus eins plus eins. Das ist viel mehr: das erste und das zweite Kind, das erste und das dritte Kind, das zweite und das dritte und alle drei zusammen. Sieben große Welten. Rechne selbst aus, über wie viele Welten 10, 20, 30 Kinder verfügen. Viele Welten und schwierige Welten. Alleine, ohne die Hilfe des Kindes, kannst du [der Erzieher] sie nicht erfassen“ (ebd.: 470).

In „Erziehungskunst“ (1938), einem (zeitlich gesehen) späten Beitrag aus „Hechaluc Hacair“ (dt. „Der junge Pionier“), wird noch einmal die Bedeutung seines individualpädagogischen Ansatzes und der genauen Beobachtung jedes einzelnen Kindes gewahr – und, dass der Erzieher nur mit Hilfe des Kindes seine Lebenswelt begreifen könne. Kinder sind für sich die besten Experten und kennen sich selbst am besten, weshalb man ihnen glauben sollte, statt auf die eigene Expertise [aus der Erwachsenensicht heraus] zu vertrauen. Jeder Erziehungstheorie entsprechend, fordere das Kind, dass der Erzieher ihm ein Vorbild mit Taten und nicht mit Worten gebe, so dass der Erzieher in der Praxis vor dem Dilemma stünde, entweder

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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„die beschwerliche mühsame und unendliche Arbeit an seiner eigenen Unvollkommenheit zu beginnen“ oder die Theorie zu verfluchen, weil das Leben nicht der Schreibtisch eines Gelehrten ist (vgl. ebd.: 248). Der Erzieher solle jedenfalls weniger vom Kind als von sich selbst verlangen: „Ein ambitionierter Politiker gibt Befehle, ein Erzieher – versucht und forscht“ (ebd.: 471).

Janusz Korczaks Prinzip vom Erziehungsmilieu „Sage mir, wer dich geboren hat, und ich sage dir, wer du bist. Aber nicht immer. Sage mir, wer dich erzogen hat, und ich sage dir, wer du bist – auch das stimmt nicht immer.“ (SW Bd. 4: 64)

Auch wenn seinerzeit die Forschungen auf dem Gebiet der Vererbung en vogue waren und Vererbung für die breite Allgemeinheit ein Faktum war, setzte sich Janusz Korczak auch für Untersuchungen des Erziehungsmilieus ein, das er als „Geist, der in einer Familie herrscht“ definierte, wobei die einzelnen Familienmitglieder hinsichtlich des Geistes keine beliebige Position einnehmen könnten (vgl. ebd.: 64). Janusz Korczak unterschied vier Milieus voneinander: • Das ‚dogmatische Milieu‘ erachtete er als fruchtbaren Boden für die Erziehung, wenn Selbstsicherheit nicht in Selbstherrlichkeit und Einfachheit nicht in Primitivität übergehe. In ihm kann ein wohlgestalteter Mensch heranwachsen, der seine Leitfiguren streng achtet, so lange dem Kind das Dogma nicht fremd werde und es zu den eher Passiven zähle. „Nicht an wen du glaubst, sondern wie du glaubst, ist entscheidend“ (ebd.: 65). • Das ‚idealistische Milieu‘ sei durch die Abwesenheit von Zwang, Dogmen und Abwarten geprägt. In ihm gebe es nur Bereitwilligkeit, Fragen und Schöpfertum. Es sei vor allem für die aktiven Kinder ein Nährboden, denen man sich mit einem „‚Was kannst du werden Mensch?‘“ (ebd.: 66) annähert. • Das ‚Milieu des heiteren Genusses‘ zeichne sich durch eine Zufriedenheit – zu haben, was man braucht – aus. „Es gibt weder Beharrlichkeit im Bewahren des Bestehenden, noch Hartnäckigkeit158 im Suchen und Streben“ (ebd.: 66). Eine bequeme Gewohnheit sorge stattdessen dafür, Vergangenes zu bewahren und sogleich moderne Richtungen zu tolerieren. • Im ‚Milieu des Scheins und der Karriere‘ würden Kinder weder geliebt noch erzogen, sondern nur taxiert, denn alles unterliege der Berechnung. Wenn hier positive Werte gedeihten, so zeige sich das Gesetz der Antithese, das neben dem

158 Hervorhebungen im Original. 253

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Gesetz des Einflusses der Erziehung bestünde und nicht mit der Vererbungslehre erklärt werden könne (vgl. ebd.: 67). Janusz Korczak machte darauf aufmerksam, dass die Vererbung alle Ausnahmen, denen man begegnen kann, verdecke. Es ist nicht ausgeschlossen, dass gesunde Eltern schwächliche Nachkommen zeugen oder durchschnittliche Familien einen bedeutenden Nachfahren erziehen könnten. Die vier Herkunftsmilieus verdeutlichen, dass der Familiengeist zwingend ist, denn wie sich das Kind entwickelt, ist nicht allein von positiven und negativen Dispositionen bzw. den Erbanlagen, sondern auch von der Einstellung der Eltern – bzw. dem Geist, der in der Familie herrscht – abhängig. Indem er Veranlagung und Erziehungsmilieu berücksichtigte, konnte er diese als bedeutsame Determinanten von Erziehung herausarbeiten.

Janusz Korczaks Prinzip des Gegenwartsbezuges Die normale Richtung pädagogischer Reflexion ist die Zukunft, nicht die Vergangenheit (vgl. Oelkers 1991: 393) oder die Gegenwart. Der explizite Gegenwartsbezug ist ein weiteres Merkmal der Korczakschen Pädagogik, weil sie nicht wie die traditionelle(n) Erziehungstheorie(n) starr auf die Zukunft fixiert war: „Selbst in der demoralisierenden, hilflosen Erwartung dessen, was kommen wird, aufgewachsen, rennen wir ständig der wundervollen Zukunft entgegen. Bequem, wie wir sind, möchten wir nicht das Schöne im heutigen Tag suchen, um uns auf den würdigen Empfang des morgigen Tages vorzubereiten: Das Morgen selbst soll uns die Inspiration bringen. Was ist jenes ‚Wenn es doch schon laufen würde, sprechen könnte‘ – anderes als die Hysterie der Erwartung? […] Warum sollte das Heute des Kindes schlechter und wertloser sein als sein Morgen? Wenn es um die Mühsal geht, wird das Morgen mühevoller sein. Wenn das Morgen dann endlich da ist, warten wir erneut. Denn die grundsätzliche Ansicht: Das Kind sei noch nichts, sondern werde erst etwas, es wisse noch nichts, sondern werde erst etwas wissen, es könne noch nichts, sondern werde erst etwas können – zwingt uns zu ständigem Warten“ (SW Bd. 4: 49).

Janusz Korczak argumentierte gegen eine Vernachlässigung des Heute zugunsten eines Morgens und forderte dazu auf, die Gegenwart des kindlichen Lebens zu achten. Der Erzieher ist in erster Linie für den heutigen Tag des Kindes verantwortlich, der idealerweise „heiter […], voller Anstrengungen, kindlich, sorglos, ohne eine Verpflichtung, die über das Alter und die Kräfte hinausgeht“ (SW Bd. 9: 250), sein sollte. Im Hinblick auf diese Erziehungsmaxime wird die zentrale Bedeutung des „heutigen Tages“ oder des „Augenblickes“ auch für die jüdische bzw. die chassidische Ethik deutlich (vgl. Kirchner 1997: 19). Janusz Korczak war sich dessen bewusst, dass seine Ansicht Missverständnisse hervorrufen oder als falsch eingeschätzt werden konnte, weil der Zeitgeist gerade umgekehrt dachte und

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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dem Erzieher die Verantwortung für eine ferne(re) Zukunft übertragen hat. Es sei zwar bequem, „den heutigen Tag des Kindes […] für morgen zu mißachten“ (ebd.: 242), aber der Erzieher ist vor seinem Zögling – so Janusz Korczak – nur indirekt auch für seine Zukunft verantwortlich. So gab er dem Augenblick den Vorrang, auch wenn er weder die Vergangenheit der Kinder ignorierte noch eine Zukunftsorientierung gänzlich ausschloss, was nachvollziehbar wird, wenn man sich vor Augen führt, dass der Arzt-Pädagoge in einer unsicheren Zeit wirkte. Die Jahre vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, in den Zwischenkriegsjahren, vor dem und im Zweiten Weltkrieg waren sehr unbeständig. Die Menschen (insbesondere die Juden und Jüdinnen) wussten nicht, was ihnen das Morgen brachte (vgl. SW Bd. 15: 331), weshalb das Heute immer wichtiger wurde. Denn damit das Kind morgen leben kann, muss es der Erwachsene heute bewusst und verantwortungsvoll leben lassen. Indem sich Janusz Korczak der Sozialen Arbeit zuwandte bzw. sich in die Soziale Arbeit flüchtete (vgl. ebd.: 331), gab er seinem Heute einen Sinn und seinem Erziehungsmodell eine zeitliche und spezifische Ausrichtung.

3.4.2 Korczak-Forscher und -Forscherinnen zum Verhältnis von Theorie und Praxis Im Anschluss soll es darum gehen, wie sich Korczak-Forscher und -Forscherinnen bisher zur Chiffre von Theorie und Praxis in seinem Werk geäußert haben. Die Relektüre beginnt mit einem „Streifzug“ durch die erziehungswissenschaftliche Fachliteratur und verweilt bei Beiträgen, die sich auch mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis auseinandergesetzt haben, um herauszuarbeiten, wo ich ansetzen kann und an welchen Stellen es möglich ist, weiterzudenken. Aleksander Lewin: „Die Synthese des Kindes als pädagogisches Testament“ Aleksander Lewin betont, dass sich Janusz Korczak auf die Suche nach einer Synthese begeben und letztlich eine Ansammlung vom Wissen über das Kind als „pädagogisches Testament“ hinterlassen habe (vgl. Lewin 1998: 140). Lewin nennt ihn in Bezug auf sein erzieherisches und fürsorgendes Wirken einen Empiriker, Experimentator, Praktiker, Kliniker und scharfen Beobachter der kleinsten Erscheinungen im Leben der Kinder (ebd.: 141). Er geht weniger auf die Theorie Janusz Korczaks (bzw. auf das Verhältnis von Theorie und Praxis) ein, sondern verweist auf das Wertesystem, auf dem seine erzieherische Praxis aufbaute und welches das beharrliche Streben nach Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit, wie auch die Sorge um das Schicksal der Welt und der Menschen – insbesondere der Kinder, die noch wehrlos waren – umfasste (vgl. ebd.: 148). 255

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Igor Newerly: „Janusz Korczaks Nähe zu den Wanderphilosophen des Weichsellandes“ Igor Newerly hat eine gewisse Affinität zwischen Janusz Korczak und einer für das Weichselland charakteristischen Kategorie von Wanderphilosophen [im Sinne von Gelehrten ohne Lehrstuhl] entdeckt. Sie zeichneten sich durch ein starkes Engagement in sozialen Fragen ihrer Gegenwart aus, auch wenn sie über keine wissenschaftlichen Arbeitsplätze mit modernen Forschungsmitteln und technischen Annehmlichkeiten verfügten (vgl. Newerly in Korczak 2012: XX). Die Wanderphilosophen [etwa Nałkowski159, Radliński160 oder Abramowski161] tendierten zur Philosophie und neigten dazu „auf einem weit gespannten Problemhintergrund ihre Fragen zu stellen, nicht zuletzt solche einer übergreifenden Deutung von Grenzbezirken verschiedener Disziplinen“. Sie waren „durchweg originell und suggestiv“ und hinterließen „Neuerungen, die eine längere Zeit hindurch beunruhigend wirk[t]en, jedoch nicht immer gründlich fundiert“ erschienen und „oft erst einen Anfang darstell[t]en“ (ebd.: XX). Newerly verweist auf den Umstand, dass die restriktive russische Bildungspolitik zwar (begabte) Gelehrte und Forschende hervorbrachte; sie aber nicht die Möglichkeit hatten, Lehrstühle zu besetzen, um an einer (staatlichen) Hochschule unter guten Bedingungen forschen, lehren und wirken zu können. Es war nicht mehr die Zeit der barocken Universalgelehrten, doch zeichneten sich die Wanderphilosophen durch eine hohe Interdisziplinarität aus. Sie waren in mehreren Disziplinen verwurzelt, weil die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen noch wenig ausgeprägt waren. Viele Fächer – wie bspw. die Pädiatrie und Pädagogik – standen erst am Anfang ihrer Verwissenschaftlichung und Spezialisierung. Es bedurfte der Fortschritte in den Naturwissenschaften (Pädiatrie) und einem Bewusstsein, sich von anderen Disziplinen deutlich abgrenzen zu wollen (Pädagogik). Die Wanderphilosophen trugen dazu bei, Grundlagen zu legen und Diskurse anzuregen. Vieles konnten sie aber nicht in unanfechtbarer Weise zu Ende führen, weil sie häufig noch im Geheimen agierten. Erst in der Zwischenkriegszeit war es ihnen möglich, aus dem Untergrund herauszutreten und offiziell die wissenschaftlichen Diskurse mitzugestalten – und diese Phase nutzte auch Janusz Korczak (für sich). 159 Zur Erinnerung: Er war Geograph, Pädagoge, Journalist und Sozialaktivist. Er nahm sich vor allem zeitgenössischen ideologischen Auseinandersetzungen an und setzte sich mit Frauenrechten, dem Darwinismus und Klerikalismus, der Fortschritt-Rückständigkeit, dem Proletariat und der sozialen Frage auseinander. 160 Er war Religionswissenschaftler, klassischer Philologe, Historiker und Kritiker der Bibel. 161 Er war Philosoph, Psychologe, Soziologe und Anarchist. In seinem wissenschaftlichen Werk war er darum bemüht, eine Brücke zwischen Psychologie und Soziologie zu schlagen.

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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Konrad Brendler: „Praxis als gelebtes Leben“ und „Zwei Formen der Theorie bei Janusz Korczak“ Konrad Brendler fragt nach der „Vorgängigkeit des gelebten Lebens für die pädagogische Theorie“ (1987). Er arbeitet in seinem Beitrag das Spezifische dessen heraus, was mit Praxis als gelebtem Leben gemeint ist, um das Besondere von Janusz Korczaks Erziehungstheorie zu beschreiben. Brendler beginnt seine Ausführungen mit einem Rekurs auf Erich Wenigers (1894–1961) Verständnis von Erziehungspraxis, die er als „konkrete Beziehung zwischen zwei Menschen zum Zwecke der bildenden Einwirkung des einen, des Erziehers, auf einen anderen, den Zögling“ (Weniger 1975: 30 in Brendler 1987: 119) definiert. Eine Theorie, die auf einer solchen Einwirkung beruhe, habe Weniger als „Theorie erzieherischen Verhaltens“ (ebd.: 40 in ebd.: 119) charakterisiert, welche über die analytische Erfassung der die Erziehungswirklichkeit beeinflussenden „Momente“ und „Faktoren“ entwickelt würde. „Praxis enthält Theorie als Bedingung ihres Tuns und wird vollendet zur ‚Erfahrung‘ durch Theorie als Folge ihres Tuns“ (ebd.: 38 in ebd.: 119) und weiter: „Jede Praxis, in unserem Falle also die erzieherische Einwirkung …, ist geladen mit Theorie, fließt heraus aus der Theorie, wird gerechtfertigt durch die Theorie – aber nur durch die Theorie des Praktikers, über die er verfügt, die er gewonnen und sich erarbeitet hat, die ihm aus seiner Umgebung zufließt, aus der Überlieferung seines Standes, der Schule seines Volkes usw. Der Praktiker handelt in Wahrheit ständig aus Theorien … Das Leiden ist nur, daß dem Ausübenden so oft das Bewußtsein seiner Theorie oder seiner Theorien fehlt, und daß sie unklar, verschwommen, aus heterogenen z. T. trüben Quellen ohne Besonnenheit zusammengesetzt sind“ (ebd.: 34 in ebd.: 119).

Brendler deutet Praxis bei Weniger als einer auf Wissen im Sinne der griechischen „techne“ beruhenden Herstellung von etwas. Erfahrung sei immer das Ergebnis einer Theorie und zugleich als Prototyp jener von Janusz Korczak abgelehnten ‚aristokratischen Theorie‘ der ‚Kaste der Autoritäten‘ zu verstehen, die mit ihren „Ziele(n), Richtungen, Parolen, (und) Verallgemeinerungen“ durch einen „Abgrund“ von der „mühseligen“ Praxis des Erziehers getrennt sei und als „bloßes Buchwissen“ sensible authentische Erfahrung mehr verstelle als eröffne (Korczak 1978: 11 in Brendler 1987: 122). Janusz Korczak habe sowohl eine Einwirkungstheorie als auch routiniertes Handeln abgelehnt und damit auf eine gegensätzliche Theorie und Praxis der Erziehung abgezielt. Erziehung habe er als „Zusammen-Leben“ und „Begleitung“ gefasst, die • durch die Wahrung des Rechtes des Kindes, so zu sein, wie es ist;

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

• den Schutz seines Rechtes auf das Risiko seiner selbstverantworteten und eigentlichen Existenz (Recht des Kindes auf den eigenen Tod); • die von Liebe getragene Begegnung mit dem Kind als empathischem Verstehen und Verstanden-werden (Recht des Kindes auf Achtung) und • den Eintritt in eine dialogische Beziehung, die ihren Sinn und Zweck im Hier und Jetzt des Daseins hat, und darüber die Gewährung des Rechtes auf den heutigen Tag zu charakterisieren ist (vgl. Brendler 1987: 122). Durch die Proklamation der Korczakschen Grundrechte im Sinne von Erziehungsmitteln würden Kinder in ihrer Entwicklung frei gelassen, da sie weder den Zugriff auf die Heranwachsenden perfektionierten noch die Kinder mit einer Didaktik manipulierten. Das erzieherische Verhältnis ließe dem Kind stattdessen Freiräume, um eigene Erfahrungen zu machen, Kompetenzen zu erwerben, den Willen zu stärken und Gefühle zu entfalten (vgl. ebd.: 123). Janusz Korczaks Sprechen über Erziehung sei nicht zu allgemeinen Begriffen und Gesetzen durchgedrungen, sondern habe beispielhafte Lebenssituationen des Kindes oder des Erziehers beschrieben und mit Kommentaren versehen, weshalb Brendler grundsätzlich die Frage stellt, ob er überhaupt eine Theorie vorgelegt habe. Janusz Korczak forderte nicht bestimmte „Techniken“ eines „professionalisierten Verhaltens“ (Grell 1975 in ebd.: 123), sondern eine spezielle Grundhaltung zum Zögling, die sich in der Gewährung der Kinderrechte realisierte, um eine gelingende Erziehungspraxis zu ermöglichen. Eine Theorie sei dem voranzugehen, weil man die Kinder kennen müsse, um bei der Umsetzung der Grundrechte möglichst wenige Fehler zu machen (vgl. Korczak 1967: 40 in ebd.: 123 f.). Das Kind zu kennen, verlange sowohl (ein Erkenntnis-)Interesse als auch Verständnis und Mitgefühl für das Kind, das auf einer Haltung der Liebe, Achtung und dem Vertrauen in das Kind gründe (vgl. ebd.: 124). Brendler arbeitet bei Janusz Korczak zwei Formen der Theorie heraus: • Es gebe eine überzeugende pädagogische Theorie, die das pädagogische Sehen und Denken verarbeite und als „Theorie der pädagogischen Beziehung“ den Extrakt seiner Erfahrung bilde. • Daneben stünde eine für die wissenschaftliche Pädagogik „systematisierbare Theorie“, die den Leser und die Leserin in den lebendigen Vollzug der Erfahrungsbewegung mit hinein nehme (vgl. ebd.: 124 f.)162.

162 Brendler weist aber auch den rein deskriptiven Passagen eine Form von Theorie zu.

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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Es sei in der Vollzugsweise seines Denkens charakteristisch, dass sich Janusz Korczak auf das Spezifische des menschlichen Lebens, also auf die Praxis als ein Handeln, das in sich selber sinnvoll ist, beziehe. Zudem ziele er auf ein Wissen, das nicht das verdinglichende Handeln leite, indem es sehen lasse, was in der spezifischen Situation gefordert würde, weil es darum ginge, was zu wählen sei. Ein solches Wissen müsse sich aus der Praxis selbst ergeben und sich auf sie zurückbeziehen (vgl. ebd.: 125). Das Verhältnis von Theorie und Praxis präzisiert Brendler abschließend wie folgt: • Janusz Korczak habe seine Erziehungstheorie auf der Basis empirischer Daten und nicht mit Rückbezug auf Buchwissen, in der Praxis wirksamen Alltagstheorien oder experimentellen Befunden und Beobachtungsrastern der Feldforschung entwickelt. Sein „Text“ sei die „Praxis“ – seine Vergangenheit, sein Leben, die Summe subjektiver Erlebnisse, die Erinnerung an erfahrene Misserfolge, Enttäuschungen, Niederlagen, Siege und Triumpfe, an negative und positive Empfindungen (vgl. Korczak 1978: 14 in ebd.: 126), kurzum: „die ungefilterte subjektiv erlebte Realität“ (ebd.: 126). • Um theorierelevante Erfahrungen zu sammeln, sei eine Grundhaltung zu Lebendigem nötig, die von Liebe, Achtung und Vertrauen getragen sei (vgl. ebd.: 126 f.). So gesehen, enthält das Sehen und Denken Janusz Korczaks „einen Ansatz für eine nicht verdinglichende pädagogische Theorie“ (ebd.: 130). Jürgen Oelkers: „Wer Kinderbücher schreibt, schreibt auch Erziehungstheorien163“ Jürgen Oelkers bezeichnet Janusz Korczak nicht als theoriefeindlich, weil man nicht „untheoretisch“ sein könne, wenn man über Erziehung nachdenke. Er sei aber theoriekritisch gewesen, weil er der Verwendung der Theorie als dogmatische Methode des Handelns etwas entgegenzusetzen hatte. In Janusz Korczaks Sinne sei die Theorie die „Legitimation schlechter Routine“ und die Praxis „das Leben in seiner ganzen Fülle und Widersprüchlichkeit“ (vgl. Oelkers 1983: 228). Er habe pädagogisches Handeln als „ein Handeln in einem strukturierten Feld unaufhörlicher Überraschungen“ verstanden (vgl. ebd.: 228), das er versuchte in immer neuem Zugriff zu begreifen. Er nannte Janusz Korczak deshalb „wie Pestalozzi ein[en] Theoretiker der eigenen Praxis“ (ebd.: 228). Oelkers arbeitet als zentrale Elemente seiner pädagogischen Theorie die Gegenwart als Fixpunkt und die Unterscheidung des Kindes vom Erwachsenen heraus:

163 Vgl. Oelkers 1983: 228. 259

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

• Ein Grunddilemma der klassischen pädagogischen Theorie sei die Erziehung als Festlegung und Verdichtung der Zukunft, weil die Vorstellung einer natürlichen Entwicklung des Kindes den Zeitbegriff in die Naturvorstellung einführt, um alle empirischen Erscheinungen im Erziehungsprozess mit der Natur des Kindes in Übereinstimmung zu bringen oder wieder zu verwerfen (vgl. ebd.: 230). Auch wenn der Lernbegriff den Naturbegriff Mitte des 20. Jahrhunderts abgelöst hat, wurde keine Korrektur der Erziehungsvorstellungen vorgenommen. Erziehung wurde und wird als „Verfügung über kindliche Zukunft gedacht“ (ebd.: 231), welche die kindlichen Fähigkeiten und Eigenschaften zu verbessern sucht. Janusz Korczaks pädagogische Theorie – und darauf verweist Oelkers ausdrücklich – „ist die einzige ausformulierte Antwort auf die Frage, ob man auch ohne Zukunftsfestlegung von ‚Erziehung‘ sprechen könne“ (ebd.: 232). Er hatte das Sein des Kindes und nicht sein Werden im Blick, denn er wählte die Gegenwart als Fixpunkt seiner Erziehungstheorie. Er forderte deshalb, dass der Pädagoge für die Gegenwart Sorge zu tragen habe und nicht für die Zukunft die Verantwortung übernähme. Sich auf die Gegenwart der Kinder einzulassen, sei schließlich die Voraussetzung, um sie zu verstehen und mit ihnen einen pädagogischen Umgang finden zu können (vgl. ebd.: 237). • Janusz Korczak habe in seiner pädagogischen Theorie außerdem versucht, Antworten auf die Fragen, was den Status der Kindheit ausmache und wie sich damit Erziehung begründen könne, zu finden. Er habe die Unterscheidung vom Kind und Erwachsenen geteilt, sie aber anders ausgelegt, weil er nicht von einem Mängelstatus, sondern von einer Erfahrungsdifferenz ausgegangen ist, die er nicht mit Minderwertigkeit gleichsetzte (vgl. ebd.: 233). Seine These, dass das Kind – obwohl es im Gegensatz zu den Erwachsenen erfahrungsmäßig eingeschränkt sei – über Vernunft verfüge und zu Urteilen fähig sei, war noch von keiner anderen Erwachsenenphilosophie zuvor gedacht worden (vgl. ebd.: 238). Das Kind war ihm als „Mitmensch“ bzw. ein für sich verantwortlich Handelnder erschienen, dem die gleichen Rechte wie dem Erwachsenen zuzubilligen seien (vgl. ebd.: 234). Er gestaltete das Generationenverhältnis anders als andere Pädagogen und forderte vom Erzieher, zu beschützen und verständnisvoll über das Kind zu wachen (vgl. ebd.: 235). Oelkers bezeichnet Janusz Korczaks Pädagogik als eine der Freiheit, die auf einer Entmystifizierung des Kindes beruhte und mit dem naiven reformpädagogischen Erziehungsoptimismus nichts gemein hatte (vgl. ebd.: 235). Durch seine Erfahrungen und Aufzeichnungen habe er das Erziehungsfeld theoretisch durchdrungen und mit einer präzisen Erziehungsphänomenologie seine Hauptthesen über Kindheit und Erziehung stützen können (vgl. ebd.: 235 f.).

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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Herwart Kemper: „Von der Neuaushandlung von Theorie und Praxis und der Neufassung des Generationenverhältnisses“ Herwart Kemper setzt sich mit der Chiffre über die Vermittlung von Theorie und Praxis als Aufgabe einer intergenerationellen Erziehung auseinander. Er beginnt mit einer Reminiszenz an Janusz Korczaks Erfahrung in den Sommerkolonien, wo er mit seinen eigenen Erziehungsvorstellungen und den ihm bekannten wissenschaftlichen Theorien an den praktischen Ordnungsaufgaben in der Jungengruppe scheiterte, weil sie eine angemessene Problemlösung verhindert haben (vgl. Kemper 1990: 124). Janusz Korczak wurde durch das Versagen allgemeingültiger Erziehungsgrundsätze in seiner Alltagspraxis angeregt, „das Verhältnis von wissenschaftlichem und praktischem Wissen neu zu bestimmen“. Er habe „seine Neubestimmung damit [begonnen], daß er das Scheitern der wissenschaftlichen Theorie in der erzieherischen Alltagspraxis mit dem Scheitern des Kindes an den Erwartungen der Erwachsenenwelt in Parallele setzt[e]“ (ebd.: 124 f.). Kemper arbeitet heraus, dass das Scheitern der wissenschaftlichen Theorie sowohl für den Erzieher als auch für das Kind zu einer Leidenserfahrung würde, die nur konstruktiv bewältigt werden könne, wenn sie in eine Beziehung zueinander gesetzt, neu begriffen und überwunden werde. Dabei komme es vor allem darauf an, „daß der Erzieher jeden Gedanken an einen direkten Anwendungsbezug wissenschaftlicher Theorien auf die erzieherische Alltagspraxis“ (ebd.: 125) aufgebe. An dieser Stelle würden die Grenzen wissenschaftlicher Theorien deutlich, die das erzieherische Handeln weder direkt beeinflussten noch im Sinne eines beständigen Fortschrittes verbessern könnten, weil sie immer an „die besonderen Bedingungen der konkreten Erziehungssituation, an die jeweiligen Adressaten der Erziehung bzw. an die Person des Erziehers und damit an die „Summe seiner subjektiven Erlebnisse gebunden“ (ebd.: 125) sei. Erziehung würde durch die wissenschaftliche Theorie zwar bewusster, könne aber hinsichtlich ihrer Abläufe nicht perfektioniert werden. Janusz Korczak habe deshalb als Pädiater gefordert, dass der Erzieher das Wohlbefinden der Kinder (als Forschungssubjekt, nicht -objekt) empirisch analysiere und genau diagnostiziere, um nicht unangemessenen pädagogischen Postulaten aufzusitzen und an ihnen zu scheitern (vgl. ebd.: 125). Die Wissenschaft könne dem Erzieher aber nicht abnehmen, das Verhältnis von Theorie und Praxis immer wieder neu auszuhandeln, weil routiniertes Erziehungshandeln nur dazu führe, die individuellen Möglichkeiten des Kindes und situativen Bedingungen der je spezifischen Erziehungssituation zu übersehen. Die einzige konstruktive Alternative sei eine Erziehungsreflexion, die nicht aus dem Movens der Bequemlichkeit heraus, sondern um sich selbst zu bereichern, gesucht (vgl. ebd.: 127) und zu einem Akt der Selbsterziehung würde. Es sei eine Einsicht in die Unabgeschlossenheit menschlichen Denkens und Handelns 261

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

unabdingbar, um sich von der (gemeinsamen) Suche (mit dem Heranwachsenden) nach dem „richtigen Weg“ (ebd.: 128) nicht abbringen zu lassen. Janusz Korczak bediente sich dabei einer „erzählenden Pädagogik“ (ebd.: 129). Er versuchte mit ihr, die falschen Vorstellungen von einem direkten Anwendungsbezug zwischen pädagogischer Theorie und erzieherischer Alltagspraxis zu überwinden und an alltäglichen Erziehungssituationen aufzuzeigen, „wie er selbst aus seinen persönlichen Schwierigkeiten als Erzieher allgemeine Schlüsse zu ziehen gelernt und wie er diese selbständig zu theoretischen Einsichten in die Erziehungsaufgabe verdichtet hat“ (ebd.: 129 f.). Kemper fasst schließlich zusammen, dass Janusz Korczaks Pädagogik auf zwei Grundpfeilern geruht habe: Nämlich auf „dem Theoretisieren-Lernen einerseits und der Selbsterziehung andererseits“ (ebd.: 131), wenn auch als gemeinsame Aufgabe der älteren und jüngeren Generation. Sein Weg, sich mit dem pädagogischen Paradox einer Theoriebildung auseinanderzusetzen, zeichnete sich dadurch aus, „unter Herrschaftsbedingungen zur Selbstbestimmung zu erziehen, und gleichzeitig mit der Differenz zwischen wissenschaftlicher Theorie und erzieherischer Praxis produktiv umzugehen“ (ebd.: 131 f.). Die Neufassung des Generationen- und Theorie-Praxis-Verhältnisses hätte zur Konsequenz, das eigene erzieherische Denken und Handeln (bevor es zu einer Einwirkung auf das Kind käme) zu verändern, um eine nicht-hierarchische Theoriebildung und Erziehungspraxis umzusetzen. Michael Langhanky: „Janusz Korczak auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Durchdringung der Pädagogik“ Michael Langhanky arbeitet heraus, dass sich Janusz Korczak auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Durchdringung der Pädagogik befunden habe. Ethik, Ideologie und Moral waren ihm nicht genug, um Konzepte der Erziehung zu bewerten, weshalb er dazu anregte, über die Erziehungswissenschaft als eine Erkenntniswissenschaft nachzudenken (vgl. Langhanky 1993: 121 f.). Langhanky bezeichnet Janusz Korczaks Herangehensweise als „medizinische Okkupation der Pädagogik“ (ebd.: 122) und geht ausführlich auf seine kreative Forschungshaltung ein, mit der systematischen164 oder auch unsystematischen165 Beobachtung individuelle Muster verstehen zu wollen. „Dabei entwickelte er die klinisch-medizinische Methode zu einer Methodik der pädagogischen Beobachtung und Forschung weiter“ (ebd.: 122), 164 Systematische Beobachtungen wären weniger frei in der Durchführung und sollten Fakten sammeln, die ausgewertet werden konnten. Janusz Korczaks Aufzeichnungen zum Wiegen (Gewicht) und Messen (Wachstum) dienen hier als Beispiel. 165 Zur unsystematischen Beobachtung zählt bei ihm das „freie Notieren“ und „Schlussfolgern aus Verhalten“: Sie geben den (Ver-)Lauf einer Situation wieder und sind noch nicht nach Rubriken geordnet.

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

263

die den Beobachter nicht länger aus-, sondern einschloss. Sein eigener Kommentar und seine eigenen Erlebnisse wurden ebenso wie Gedanken bei der Durchführung der Beobachtung mit aufgezeichnet und reflektiert. Das Zeitfenster der „klinischen Periode“ sollte dabei nicht zu kurz gewählt werden, denn es sei Vorsicht bei zu schnellen Synthesen, allgemeinen Formulierungen und Zusammenfassungen von Ergebnissen geboten. Bei Janusz Korczaks Ansatz sei das Besondere, „durch wissenschaftliche Kriterien sowohl eine objektive Frage nach den Ursachen und dem Befinden in die Pädagogik einzubringen als auch die permanente Reflexion zu verankern“ (ebd.: 125). Es sei ihm somit um „die planmäßige Bildung der objektiven Forscherhaltung und die Fähigkeit zur Selbstreflexion, ohne die kein Fortschritt in der Wissenschaft entsteht und ohne die keine Erfahrung wächst“ (Bobrowska-Nowak 1982: 163 in Langhanky 1993: 125) gegangen. So kommt Langhanky zu dem Schluss, dass Janusz Korczak: • einerseits davon ausgegangen war, dass man aus Datensammlungen objektive Schlussfolgerungen ziehen könne, die Grundlage neuer objektiver Auslegungen und Einsichten würden und • andererseits eine Praxis der Beobachtung und Reflexion über die aktive Haltung des Forschens entwickelt habe, die zwei Jahrzehnte später Kurt Lewin166 zur Handlungsforschung verdichtet hat (vgl. ebd.: 125). Silvia Ungermann: „Erziehungswissenschaftliche Theoriebildung mittels Reflexion durch den Praktiker“ Silvia Ungermann geht bei Janusz Korczak von einer „Auffassung von der Notwendigkeit erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung mittels Reflexion durch den in der Praxis tätigen Erzieher“ (Ungermann 2006: 455) aus. Sie bezieht sich in ihren Ausführungen auf Hans-Josef Wagners „Eine Theorie pädagogischer Professionalität“ (1998) und arbeitet mit Rekurs auf Friedrich Schleiermacher, Johann Friedrich Herbart und Erich Weniger drei Aspekte des Theorie-Praxis-Verhältnisses heraus. Nämlich, • dass die Theorie der (autonomen) Praxis nicht vorangeht, sondern diese rekonstruktiv hermeneutisch aufklärt, • die Vorstellungen von einer linearen Anwendung der Theorie auf die Praxis zu kurz greifen, weil eine Instanz erforderlich ist, die dem Praktiker ein zügiges

166 Der Pole Kurt Tsadek Lewin (1890–1947) gilt als einer der einflussreichsten Pioniere der Psychologie und Begründer der modernen experimentellen Sozialpsychologie. 263

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Urteilen und Handeln erlaubt, so dass Theorie und Praxis untrennbar miteinander verwoben sind. • Außerdem sind Entscheidungen allein Leistung des Praktikers, weil die Theorie die Praxis nie ausnahmslos erfassen kann (vgl. ebd.: 456). Bevor Ungermann die Aspekte mit den Ansichten Janusz Korczaks spiegelt, stellt sie die Positionen der drei Denker noch einmal in Kürze vor: • Schleiermacher forderte bei der Konzeptualisierung des pädagogischen Theorie-Praxis-Verhältnisses von der Praxis auszugehen (vgl. Wagner 1998: 10). Weil die Praxis der Theorie vorausgehe, sei es falsch, sie unter die Theorie zu subsumieren. Da die Theorie eine Rekonstruktion sei, habe sie die Praxis nach hermeneutischen Regeln aufzuklären „und die dabei gewonnenen Erkenntnisse an die Praxis rückzuvermitteln“ (ebd.: 11). • Bei Herbart war das Verhältnis bzw. die Beziehung zwischen Theorie und Praxis keine einfache Dyade (mehr), weil er ein „Mittelglied“ einschob, das er als (pädagogischen) Takt bezeichnete und als „eine im Handeln des Erziehers stets schnelle Beurteilung und Entscheidung“ (ebd.: 13) beschrieb. Auch wenn der Takt in der Praxis, also im Handeln des Erziehers, zu verorten sei, bliebe die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Theorie bestehen, wenn sich der Erzieher die Praxis rückblickend zu eigen machen möchte (vgl. ebd.: 12). Das Theorie-Praxis-Verhältnis dürfe nach Herbarts Ermessen also weder „von bloßer Praxis noch von einer linearen Anwendung von Theorie auf die Praxis“ (ebd.: 13) ausgehen, sondern Theorie wie Praxis müssten sich verschränken und könnten nicht getrennt voneinander gedacht werden. • Außerdem verweist Ungermann auf Weniger, der sich gegen Vorstellungen von einer Erziehungswissenschaft wandte, die den Anspruch erhöbe, Handlungsanweisungen für die Praxis geben zu können (vgl. ebd.: 456). Ungermann fasst zusammen, • dass sich Janusz Korczak wie Schleiermacher gegen jede Vorrangigkeit der Theorie gegenüber der Praxis ausgesprochen hat. Die Theorie könne und dürfe der Praxis keine normativen Vorgaben machen, weil sie nicht in der Lage sei, die konkrete Erziehungswirklichkeit im Ganzen zu erfassen. Die Theorie habe die Praxis vielmehr rekonstruktiv aufzuklären, was Janusz Korczak über die induktive Deutung von Beschreibungen konkreter Erziehungssituationen versucht habe. • Außerdem erfordere die Erziehungspraxis vom Erzieher die Fähigkeit, schnell handeln zu können. Eine reflexive Steuerung benötige allerdings eine spezifi-

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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sche Form von Theorie, die das Handeln steuere. Dabei könnten nur Elemente der wissenschaftlichen Theorie greifen; und der Praktiker sei auf eine Theorie angewiesen, die er im und durch das Handeln selbst gewonnen habe. • Schließlich lehnte Janusz Korczak Vorstellungen einer Theorie ab, die dem Praktiker Handlungsanweisungen gebe, weil die Theorie Entscheidungen nicht abnehmen, sondern nur Entscheidungshilfen geben könne, über deren Annahme und Anwendung allein der Erzieher zu entscheiden habe. Denn die pädagogische Theorie würde allein durch den Erzieher vor Ort praktisch werden (vgl. ebd.: 457). Ungermanns Argumentation kommt zu dem Schluss, dass Janusz Korczaks Denken bzw. Verständnis von pädagogischer Theoriebildung „heute unter dem Begriff ‚Professionswissen‘“ (ebd.: 457) im Sinne Bernd Dewes, Wilfried Ferchhoffs und Frank-Olaf Radtkes (1992) diskutiert würde und verdeutlicht einmal mehr, wie modern und anschlussfähig sein Ansatz ist. Malgorazata Sobecki: „Pädagogik der Achtung als Ausdruck pädagogischer Konzeption“ Auch Malgorazata Sobecki setzt sich mit der pädagogischen Konzeption in Theorie und Praxis auseinander. Sie führt an, dass Janusz Korczak die Kernaussage seiner Pädagogik in dem 1920 herausgegebenen ersten Teil seiner Tetralogie „Wie liebt man ein Kind“ formuliert habe, in dem er die „Magna Charta Libertatis“ als ein Grundgesetz für das Kind eingefordert hat (vgl. Sobecki 2008: 20). An gleicher Stelle verweist sie darauf, dass er seine Einsichten sowohl als sensibler Beobachter in jahrelanger ärztlicher Praxis als auch aus seinen Erfahrungen im Lazarett gewonnen habe (vgl. ebd.: 20). Die Entwicklung seiner pädagogischen Konzeption sei in der „gelebten Pädagogik der Achtung“ (ebd.: 19) zum Ausdruck gekommen. Im „Dom Sierot“ hatte die Institutionalisierung das Ziel, dem Kind seine Rechte zuzugestehen. Die Selbstverwaltung der Kinder ist zu ihrem Hauptprinzip geworden. Sie basierte auf der Überzeugung, „dass die Entwicklung der Fähigkeiten zu Kooperation, wechselseitiger Achtung, zu Gerechtigkeit und Verständnis sowie zur Autonomie der Kinder nicht auf dem Weg verbaler Belehrung bzw. durch die Autorität der Erwachsenen zu erreichen sei, sondern indem man den Kindern Raum schaffe für Eigeninitiative und für die Übernahme der Verantwortung, für authentische Interaktionen und Beziehungen untereinander“ (ebd.: 22). Auch wenn Sobecki darauf verweist, dass Janusz Korczak nicht nur ein Praktiker der Erziehung, sondern auch ein Theoretiker war, arbeitet sie sich mehr an der Deskription seiner Praxis ab, als fundierte(re) Aussagen über die Theorie bzw. das Verhältnis von Theorie und Praxis zu machen. Sie macht aber deutlich, dass 265

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

die Begriffe Theorie und Praxis nicht getrennt voneinander gedacht werden sollten und betont, dass Janusz Korczaks pädagogisches Konzept zum Teil auf Prinzipien basierte, die weit über zeitgenössische Tendenzen in der Erziehung hinausgegangen sind. Seit Mitte der 1920er Jahre habe er sich von den Mythen der Reformpädagogen und -pädagoginnen distanziert und sein Konzept in drastischer Opposition zu ihren gängigen Hoffnungen, dass die Veränderung der Welt in menschlicher Kraft läge, gestanden (vgl. ebd.: 27 f.). Ausgangspunkt seiner pädagogischen Ansichten sei dabei immer die unmittelbare Begegnung mit dem Kind gewesen. Michael Winkler: „Drei Schichten der Theorie Janusz Korczaks“ Die Relektüre soll bei Michael Winkler fortfahren, der sich mehrmals mit der Theorie der Pädagogik und Sozialen Arbeit bei Janusz Korczak auseinandergesetzt hat. In seinem Beitrag „Demokratie, Pädagogik und Soziale Arbeit – Irritationen bei der Lektüre von Janusz Korczak“ (2013) fragt Winkler nach Demokratie und Menschenrechten als Bezugsrahmen Sozialer Arbeit, Sozialpädagogik und Pädagogik, weil er ein Missverhältnis zwischen dem postulierten Selbstverständnis aller Bereiche pädagogischen Handelns und der subjektiven Motive der Akteure / Akteurinnen sowie der realen Praktiken erkannt hat. Er erahnt bei Janusz Korczak eine Sachbeschreibung Sozialer Arbeit und sozialpädagogischer Praxis im folgenden Zitat: „Achtung! Entweder wir verständigen uns jetzt oder trennen uns für immer. Jeder Gedanke, der sich wegschleichen und verstecken will, jedes Gefühl, das, sich selbst überlassen, umherschweifen will, müssen zur Ordnung gerufen und mit Willenskraft diszipliniert werden. Ich fordere die Magna Charta Libertatis als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch weitere, ich aber habe diese drei Grundrechte herausgefunden: 1. Das Recht des Kindes auf den Tod. 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag. 3. Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist. Man muss sich mit den Kindern vertraut machen, um bei der Verleihung dieser Rechte möglichst wenige Fehler zu machen. Irrtümer müssen sein. Wir sollten sie nicht fürchten: das Kind selbst wird sie mit erstaunlicher Wachsamkeit korrigieren, wenn wir nur diese wertvolle Gabe, seine starke Abwehrkraft nicht schwächen. […] Es ist eine leere Phrase, wenn ich sage: Welches Glück für die Menschheit, daß wir die Kinder nicht dazu zwingen können, den erzieherischen Einflüssen und didaktischen Angriffen auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre gesunde Willenskraft zu erliegen“ (SW Bd. 4: 45).

Winkler verweist mit dem Zitat auf den Skandal, Kindern einen Rechtsanspruch auf den Tod einzuräumen, auch wenn Janusz Korczak durch die „Magna Charta Libertatis“ zum ersten und eigentlichen Urheber der Kinderrechte geworden ist (vgl. Winkler 2013: 194). Er macht deutlich, dass Janusz Korczak in radikaler Weise das Denken über die Praxis des Miteinanders von Menschen verändert hat.

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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Dabei sei er stets ein nüchterner Naturwissenschaftler gewesen, der die pädagogische Praxis unvoreingenommen beobachtet und gleichzeitig nicht nur auf ihre systematischen Implikationen, sondern auch auf die Konsequenzen des Handelns untersucht hätte, die sich aus den jeweils genutzten Prämissen ergaben (vgl. ebd.: 195). Wenn Winkler ihn als Positivisten bezeichnet, „der die empirischen Befunde logischer Untersuchung unterwarf, um so eine Art Handlungsstrukturanalyse zu betreiben“ (ebd.: 195), wird der Leser / die Leserin sicherlich an Wolfgang Sünkels „Allgemeine Theorie der Erziehung“ (2011) erinnert. Janusz Korczak sei es auf diese Weise gelungen, nicht nur das „Ideologische vieler Erziehungstheorien“ zu entlarven, sondern auch das „emanzipatorische Potential pädagogischen Handelns“ freizulegen (ebd.: 195). Mit dem Hinweis auf die Rechte des Kindes habe er eine politische Anthropologie zum Ausdruck gebracht, die als Tatsachenfeststellung das Individuum in seiner politischen Stellung zum Ausgangspunkt jeder weiteren Überlegung gemacht habe. Die Selbstbestimmung bzw. das Verständnis menschlichen Handelns als Möglichkeitsraum der Praxis hat eine lange Tradition in der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. In der Neuzeit beginnend bei Giambattista Vico (1668–1744), weiter bei Georg W. F. Hegel (1770–1831), Karl Marx (1818–1883), Wilhelm Dilthey und Norbert Elias (1897–1990), findet sich auch bei Janusz Korczak der Ansatz, das Leben in Praxen zu denken. „Korczak verhandelt eine politische Anthropologie, welche begründet durch die Einsicht in die Wirklicht des Menschen die Sicht auf Menschen in ihren Handlungen und Entwicklungen frei legt“ (ebd.: 197).

Mit anderen Worten: Pädagogik wie Soziale Arbeit begründen Kooperationsverhältnisse, in denen gleiche Subjekte miteinander und bezüglich einer Welt agieren, auch wenn sie sich in Punkto Alter oder körperlicher Verfasstheit unterscheiden. Für Winkler richtet sich Janusz Korczaks Denken schließlich auf die in der Unterscheidung von „swoboda“ und „wolność“167 liegenden Spannung, die dem modernen Begriff von Erziehung entsprächen, nämlich die Entwicklung des Menschen zu ermöglichen, damit er in einem Lebenszusammenhang handeln könne, ohne den Forderungen anderer unterworfen zu sein (vgl. ebd.: 200). Es ginge dabei um das in der Welt wirksam werden – zu sehen, zu erkennen und zu begreifen. Deshalb verweist Winkler auch auf die Einsicht, dass Menschen Freiheit nur dann gewinnen könnten, wenn sie von Anbeginn in Freiheit und Demokratie lebten, was auch eine

167 SW Bd. 4: 47. 267

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

„Theorie, mit der sich einigermaßen angemessen (und wiederum empirisch gesättigt) die Strukturen und Prozesse der Praxis begreifen lassen“ (ebd.: 202) erfordere. Im Beitrag „Janusz Korczak und die Pädagogik der Nicht-Erziehung“ (2016) hat Winkler zuletzt drei Schichten der Theorie Janusz Korczaks herausgearbeitet: • Die erste Schicht werde dort sichtbar, wo Janusz Korczaks Pädagogik die Existenz eines Erziehers bejaht, denn er selbst sei als (auktorialer bzw. personaler) Ich-Erzähler bzw. Erzieher aufgetreten, so dass der (Alte) Doktor über allem gestanden und sich auf besseres Wissen berufen habe, das er aber nur indirekt geltend gemacht hat. • Die zweite Schicht trete dort zu Tage, wo Janusz Korczak prüfte und untersuchte, wie sich die menschliche Lebenspraxis und Entwicklung in gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen vollzogen hat. Hier zeige sich (s)eine „hoch realistische Bildungstheorie“, die „nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt, dass Menschen überhaupt existieren und aufwachsen“ (Winkler 2016: 125) könnten. Von Bedeutung sei demnach „die Erziehung vor der Erziehung, die Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt, sich in eine pädagogische Praxis mit dialogischen Momenten zu begeben“ (ebd.: 125). Oder mit anderen Worten: Janusz Korczak stellte die Frage, wie Bildsamkeit überhaupt ermöglicht und begründet würde und verortete deren Anfang bei den Gesundheitsbedingungen, also der Ernährung und den Wohnverhältnissen (vgl. ebd.: 125). • Die dritte Schicht betreffe die Frage nach der „strukturellen Organisation von Erziehungsfeldern“, also „ob und wie diese Erziehungsfelder (pädagogischen Orte) es zulassen, dass sich die Menschen selbst und selbst bestimmt in ihrer sozialen Praxis an diesen organisieren lassen“ (ebd.: 126). Hier verweist Winkler auf Janusz Korczaks Hauptwerk „Wie man ein Kind liebt“, das als pädagogische Orte die Familie, das Internat, die Sommerkolonien und das „Dom Sierot“ als „Erziehungsklinik“ einführte und beschrieb. Es tritt eine Pädagogik in Erscheinung, „die nicht auf Erziehung verzichtet, aber das Erziehungsgeschehen von der personalen Beziehung im Erzieher-Zögling-Verhältnis löst und in einer Weise den Kindern und Jugendlichen selbst übergibt, dass sie über das eigene Leben verfügen und es gestalten“ (ebd.: 126) können. Deshalb müsse das Kind durch die pädagogische Arbeit auch die physiologische, kulturelle und soziale Handlungsfreiheit erhalten (ebd.: 127). Silke Allmann: „Hineinversetzen-können als Voraussetzung für Wirksamkeit“ Silke Allmann verweist in „Demokratische Konstitution von Organisation: Kindliche Bildung bei Janusz Korczak“ (2015) auf seine Forderung an Erwachsene, sich bedingungslos mit dem Kind auseinanderzusetzen und es in seinen Äußerungen

3.4 Relektüre: Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis

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unvoreingenommen zu beobachten, wahrzunehmen und zu verstehen (vgl. Allmann 2015: 160). Das Alltägliche konstituiere das Besondere und Bedeutsame, denn es sei die Explikation der Eigenart des subjektiven Charakters eines Kindes und fordere die Erwachsenen zur Exploration, zum Fragen und zum Nachdenken darüber auf, weshalb das Kind in einer bestimmten Situation so gehandelt und welche Ursachen sein Verhalten habe. Sich in ein Kind hineinversetzen zu können, sei die Voraussetzung, um wirksam zu sein, wobei das Erzieherhandeln in einem klar abgesteckten Rahmen zu erfolgen habe, was auch in der Metapher des „konstitutionellen Pädagogen“ zum Ausdruck käme (vgl. ebd.: 161). Allmann vertritt die Sicht der „pädagogischen Organisationsforschung“ und bezeichnet Janusz Korczaks Anliegen, innerhalb seiner Waisenhauspädagogik Prozesse im Bildungsgeschehen zu demokratisieren, als Versuch einer „humanen Entwicklung“ von Organisation (Göhlich und Tippelt 2008 in ebd.: 162). Auf diese Weise habe er sich um die Kinder und ihr demokratisches Lernen wie auch ihre demokratische Bildung bemüht, was sie wiederum als Akteure gestärkt und ihnen Gleichheit wie auch Gleichberechtigung zugestanden habe. Durch die Reglementierungsinstanzen (wie das Peer Court, der Briefkasten, das Wetten oder die Dienste) sei das individuelle Verhalten an das der anderen Zöglinge rückgekoppelt gewesen, was die Kinder dazu aufgefordert habe, mit sich selbst ehrlich zu sein, eigene Stärken und Schwächen anzunehmen und an ihnen zu arbeiten. Auf diese Weise wurde die Waisenhauskultur in der Praxis von der Selbstreflexionsfähigkeit, der Kritikfähigkeit, dem Änderungswillen und dem Verantwortungswillen jeden einzelnen Akteurs auf Seiten der Kinder und Erwachsenen abhängig (vgl. ebd.: 162).

3.4.3 Zusammenfassend: Zum Verhältnis von Theorie und Praxis Meine Relektüre zum Verhältnis von Theorie und Praxis hat sich in einem ersten Schritt mit Janusz Korczaks Werk auseinandergesetzt. Auch wenn „man das Rad nicht neu erfinden kann“, habe ich versucht, zuerst eine eigene Lesart zu entwickeln bevor ich mich mit anderen Lesarten zum Verhältnis von Theorie und Praxis beschäftigt habe. Das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie Wissen und Können habe ich unter dem pädagogischen Theorem der Professionalisierung analysiert, weil es sowohl für die Herausbildung des wissenschaftsbezogenen als auch pädagogischen Berufsverständnisses in der Sozialen Arbeit ausschlaggebend war. Janusz Korczaks berufliches Selbstverständnis als Praktiker und Erzieher gründete nicht auf einer naiven Wissenschaftsgläubigkeit, sondern auf einem Misstrauen bzw. einer Vorsicht 269

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gegenüber dem Buchwissen, weshalb er dazu aufgefordert hat, nicht nur Bücher zu lesen, sondern das einzelne Kind genau zu beobachten, um es kennen zu lernen.

Janusz Korczaks doppelte Professionalisierung Die Kapitel „Theorie als Wissen – Über Reflexionen pädagogischen Handelns“ (3.2) und „Praxis als Können – Medikalisierung von Kindheit“ (3.3) haben sich der Theorie und Praxis im Leben und Werk Janusz Korczaks angenähert und bereits zeigen können, dass seine professionelle Sozialisation nicht nur zwei Professionen [die Medizin und die Pädagogik], sondern auch jeweils zwei diametral entgegen gesetzte Bereiche umfasste. Seine „professionelle Expertise“ (Oevermann 1996) resultierte aus einem wissenschaftlichen, gewissermaßen an der Theorie (3.2) und einem an der Praxis orientierten Bereich (3.3) [im Sinne einer interventionspraktischen Qualifizierung] mit je unterschiedlichen „Lernzielen“ und „Lernorten“. Ulrich Oevermann nennt diesen Prozess eine „doppelte Professionalisierung“ einzelner Professionen, weil sie hinsichtlich der Einübung in den wissenschaftlichen Diskurs und einer Einführung in eine Handlungs- und Kunstlehre, die für die Durchführung eines Arbeitsbündnisses notwendig sind, professionalisiert sind (Oevermann 1996: 125). Diesen Prozess hat Janusz Korczak in seiner professionellen Sozialisation doppelt durchlaufen – einmal als Arzt und einmal als Pädagoge. Die Einübung in den wissenschaftlichen Diskurs umfasst den „Lernort Hochschule“, wo der Habitus des Wissenschaftlers eingeübt wird (vgl. Garz und Raven 2015: 132). Im Falle Janusz Korczaks waren das die „Kaiserliche Universität“ zu Warschau, wo er sich im Wesentlichen den wissenschaftlichen Diskurs der Medizin angeeignet hat168; und die „Fliegende Universität“, wo er sich u. a. mit dem wissenschaftlichen Diskurs der Pädagogik vertraut gemacht hat. Er hat sowohl in der offiziellen Bildungseinrichtung Kongresspolens als auch im Untergrund fachliches und methodisches Wissen erworben, das die Voraussetzungen für sein späteres professionelles Handeln in der Praxis [dem Spital und seiner „Privatpraxis“] und im Internat [dem Waisenhaus] geschaffen hat. Dort hat er jeweils erlernt, sich mit Hilfe von Wissen vom konkreten Fall [ein Stück weit] zu distanzieren; (s)einen diagnostischen Blick zu schulen und auszuüben; und das Kalkül möglicher Diagnose- und Interventionstechniken zu beherrschen gelernt. Daneben ist auf den „Lernort Praxis“ zu verweisen, wo neben einer Handlungs- und Kunstlehre auch der Habitus des Praktikers eingeübt wird (vgl. ebd.: 132). Mit Bezug auf Janusz Korczak sind darunter vor allem das Berson-Bauman-Spital [Medizin] und 168 Wobei er sich auch auf seinen Reisen nach Berlin und Paris fortgebildet hat, als er die Bibliotheken vor Ort nutzte, um sein Wissen innerhalb eines Selbststudiums zu erweitern; und bspw. die „Ferienkurse für praktische Ärzte“ besucht hat.

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die Sommerkolonien wie auch die Waisenhäuser „Dom Sierot“ und „Nasz Dom“ [Pädagogik] zu subsumieren. In der Praxis lernte er das Verhältnis von Theorie und Praxis auszutarieren, also die am „Lernort Hochschule“ erworbene Distanz teilweise zu überwinden, um dem individuellen Kind als (Einzel-)Fall zu begegnen und gerecht zu werden. Außerdem pflegte Janusz Korczak kontrollierte weitläufige wie empathische Sozialbeziehungen zu seinen Patienten / Patientinnen im Spital, die eher von kurzer Dauer waren; und zu seinen Zöglingen in den Erziehungsinstitutionen, die – von den Sommerkolonien einmal abgesehen – über mehrere Jahre bestehen konnten. Für Janusz Korczak war im Prozess der doppelten Professionalisierung169 vor allem die Synthese des an der „Kaiserlichen Universität“ und „Fliegenden Universität“ eingeübten Habitus des Wissenschaftlers und dem im Spital und in den Erziehungsinstitutionen eingeübten Habitus des Praktikers eine Herausforderung, was Oevermann unter dem Begriff der „Charismatischen Kompetenz“ verhandelt. Dieser „allgemeine Strukturmechanismus zur systematischen Erzeugung des substantiell Neuen“ (Oevermann 1991: 331) hat den Arzt-Pädagogen erst in die Lage versetzt, die widersprüchlichen Einheiten seines medizinischen wie erzieherischen Handels in der Praxis aus- und durchzuhalten. Die Einübung in den Habitus des professionell erzieherisch Handelnden war allerdings nicht ohne einen „Praxisschock“ vonstattengegangen. Oevermann versteht unter einem Praxisschock die Unfähigkeit der Praxis, Novizen kollegial „on the job“ zu professionalisieren, weil „alte Hasen“ deren Berufseintritt zum Anlass einer säumigen Rache am eigenen, als Scheitern erfahrenen Hochschulstudiums nähmen, und gepaart mit dieser Häme zugleich die Schwierigkeiten für ein erfolgreiches pädagogisches Wirken verbunden wären (vgl. Oevermann 2002: 50). Janusz Korczak erlebte seinen Praxisschock in den Sommerkolonien, als er Jungengruppen mit aufs Land begleitet hat. Er sammelte dort seine ersten pädagogischen Erfahrungen, obwohl er sich als Professioneller noch nicht sicher war. Er trug die Verantwortung für dreißig Jungen und war im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Außerhalb Warschaus hat es keine „alten Hasen“ gegeben, die ihn hätten „on the job“ professionalisieren können, wie das bspw. Chef- und Oberärzte (im besten Falle) mit ihren Assistenz­ärzten und -ärztinnen während des Praktischen Jahres halten. Dennoch stammen viele seiner grundlegenden theoretischen Gedanken, frühe methodische Zugänge und

169 In Bezug auf Janusz Korczaks professionelle Sozialisation ist neben einer zweifachen doppelten Professionalisierung auch die Verschränkung zweier Professionen [Medizin und Pädagogik] eine Besonderheit. Dadurch war es ihm in der „Erziehungsklinik“ [dem „Dom Sierot“] gelungen, seine Methode der „Erziehungsdiagnostik“ zu entwickeln und in seiner erzieherischen Praxis zu etablieren. 271

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Elemente seines späteren Erziehungsmodells aus seiner Tätigkeit als Erzieher in den Sommerkolonien. Zu Beginn sei er naiv gewesen, weil er noch nicht abschätzen konnte, wie viel vorsichtigen Taktgefühls es bedurfte, um der Herausforderung gerecht zu werden, sich in einer Kindergruppe als Erzieher durchzusetzen. Seine anfängliche Unfähigkeit, erfolgreich pädagogisch zu wirken, soll anhand zweier Episoden exemplifiziert werden, in denen Janusz Korczak das Verhalten der Kindergruppe irritierte und es ihm nur schwer gelungen war, ihr widersprüchliches Verhalten auszuhalten: • Eine der größten Herausforderungen war zu Beginn der Fahrten, die Disziplin (vor allem im Schlafsaal) zu halten. Für viele Jungen war es das erste Mal, dass sie von ihren Familien bzw. Bezugspersonen getrennt waren und ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen haben. Der Alltag in der Sommerkolonie war ihnen in den ersten Tagen noch fremd und ungewohnt erschienen und es galt, sich mit allem vertraut zu machen und mitunter auch Grenzen auszuloten: Sie fanden ein ländliches Terrain, unbekannte Erwachsene, die den Jungen als Betreuer begegneten, Gleichaltrige, die zu Freunden (und Verbündeten) wurden und andere Regeln als zu Hause vor. „Jede Tageszeit, jede Tätigkeit in der Ferienkolonie [hatte] ihr eigenes ‚Ist nicht erlaubt‘, das mehr oder weniger konsequent befolgt“ (SW Bd. 10: 24) wurde. Eines dieser „Ist nicht erlaubt“ war der Radau zur Nachtruhe. Die Jungen sollten halb neun in ihren Betten liegen und ihre Gespräche über kurz oder lang verstummen, dass sie einschlafen und Schlaf finden konnten. Janusz Korczak erinnert sich an einen Durchgang, als an einem fünften oder sechsten Abend einige der Jungen zur Schlafenszeit begonnen haben, Lärm zu machen. Ihr Verhalten hat ihn herausgefordert und provoziert, so dass er denen Prügel androhte, die gepfiffen, gekräht, gebellt und geblökt haben. Als sich ein Junge durch das Verhalten der anderen dazu hinreißen ließ, ein erstes Mal zu pfeifen, wurde ausgerechnet er von Janusz Korczak an den Ohren gezogen. Außerdem hat er dem Jungen angedroht, ihn auf die Veranda hinauszuwerfen. Die Kinder haben ihm auf diese Weise die Lektion erteilt, dass der Sommer in der Kolonie für die Erzieher nicht reines Vergnügen, sondern Arbeit war (vgl. SW Bd. 4: 221). Am nächsten Tag sollte sich der Aufstand wiederholen, aber weil Janusz Korczak von einem Jungen gewarnt wurde, hat er ihn verhindern können. Mit seinem Verhalten erwies er sich als „taktvoller Sieger“ und kam zu der Einsicht, dass auch die Kinder eine Macht darstellten, die er zur Mitwirkung ermuntern und durch Missachtung gegen sich aufbringen konnte. Außerdem hat er verstanden, dass es besser war, nicht zu den Jungen, sondern mit ihnen zu sprechen, und dass sie ebenso ein Recht darauf hätten, Forderungen und Bedingungen (an ihn) zu stellen (vgl. ebd.: 222).

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• Eine weitere Herausforderung war, dass sich Janusz Korczak selbst eingestehen musste, nicht sehr weise zu sein, auch wenn er ein Autor von Büchern war (vgl. SW Bd. 10: 119). In der Sommerkolonie hätten dem jungen Erzieher erst Schafe Verstand beigebracht und diese Begebenheit erinnerte er sogar in einem Vortrag im Kibbuz noch viele Jahre später (1934). Ihm war es eines Nachmittages gelungen, eine Vielzahl der Jungen um sich zu versammeln, weil er angekündigt hat, eine sehr spannende Geschichte zu erzählen. Sie bildeten am Waldrand einen Halbkreis, aber in dem Moment, als er mit dem Erzählen beginnen wollte, lenkte ein Junge die Aufmerksamkeit aller auf eine Herde Schafe, die in der Ferne getrieben wurde. Sogleich standen alle auf und machten sich auf den Weg, die Schafherde von Nahem zu betrachten. Janusz Korczak blieb allein zurück. Die Situation war ihm unangenehm erschienen und hat ihn gelehrt, bescheidener und weiser zu sein (vgl. ebd.: 120 f.). Vor dem Spaziergang dachte er noch, ein Talent zu haben, spannende Geschichten zu erzählen, um die Kinder bis zum Schluss fesseln zu können. Die Schafherde hat ihn aber gelehrt, dass er nicht verlangen konnte, dass die Kinder bis zum Schluss zuhörten. Ablenkungen seien immer möglich, so dass sie die Aufmerksamkeit verlören. Durch die zwei Exempel werden unabsehbare, nahezu krisenhafte Situationen gewahr, die Janusz Korczak ein entschiedenes Handeln und ein für die Handlungsfolgen bestimmtes Einstehen erschwert haben, weil sie in ihm Irritationen hervorriefen. Der erste Aufstand der Kinder ließ den jungen Erzieher überreagieren. Statt besonnen zu reagieren, ist er handgreiflich geworden und hat Drohungen ausgesprochen. Er hatte erst in einem zweiten Versuch ein Einsehen, so dass der Aufstand gar nicht erst entstehen konnte. Die Begegnung mit der Schafherde hat ihn dagegen gelehrt, dass ein Erzähltalent kein Garant dafür ist, die Aufmerksamkeit einer Kinderschar von Erzählbeginn bis zum -ende aufrechtzuerhalten. Unvorhergesehenes kann den Ablauf stören und den Plan eines Erziehers zunichtemachen. Janusz Korczak versuchte nicht, die Schwierigkeiten für ein erfolgreiches pädagogisches Wirken in der Praxis zu kaschieren, sondern hat sich – öffentlich – mit den Tatsachen bzw. möglichen Ursachen seines scheinbaren Scheiterns reflexiv auseinandergesetzt. In seinen Berichten und literarischen Texten tritt (s)ein Wissen von Erziehung auf das Tableau. Das Erziehungswissen ist aber weder prospektives Wissen angereichert mit historischer Erfahrung noch ein Wissen aus dem engeren Korpus einer Wissenschaft oder einer theoretischen Reflexion (vgl. Oelkers 1991: 402). Gerade in der literarischen Wissensform zeigen sich bei Janusz Korczak negative Reflexionen, die mit abstrakten Enttäuschungen über pädagogische Versprechungen zusammenhängen. Als er zum ersten Mal als Betreuer mit aufs Land gefahren ist, hat er bereits mehr als zehn Jahre Nachhilfeunterricht gegeben und war in der pädagogischen Praxis kein 273

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

absoluter Novize mehr, auch wenn sich das Verhältnis von Nachhilfelehrer zu Nachhilfeschüler / Nachhilfeschülerin und Betreuer / Erzieher zu Sommerkolonist bspw. in Bezug auf das pädagogische Ziel und die zeitliche Dauer unterscheidet. Janusz Korczak hat zu diesem Zeitpunkt bereits Seminare an der „Fliegenden Universität“ besucht und viele Bücher über die Psychologie des Kindes gelesen. Die Pädagogik (als Wissenschaft und in der Theorie) war ihm nicht (mehr) fremd und trotzdem stand er hilflos vor dem „Geheimnis der kollektiven Seele einer Kindergemeinschaft“ (SW Bd. 4: 219), weil die Kinder auf sein pädagogisches Handeln und die ihnen gewährten Freiheiten anders reagierten, als er das vorhergesehen hat. Ihm fehlte noch das Vermögen, die Widersprüche der Praxis auszuhalten, weshalb ihm beide Erfahrungen die Augen für bislang verborgen gebliebene Zusammenhänge eröffnet haben, so dass er prägende pädagogische Impulse und entscheidende Korrekturen erfahren konnte (vgl. Kirchner, Andresen und Schierbaum 2018: 92). Er hat den Sommerkolonien viel zu verdanken, weil er dort „das erste Mal mit einer großen Schar von Kindern zusammen [getroffen ist] und […] in selbständiger Arbeit das Abc der pädagogischen Praxis“ (SW Bd. 4: 219) erlernt hat. In Bezug auf Janusz Korczak wurde deutlich, dass Pädagogik nur dann eine Wissenschaft von Erziehung ist, wenn sie zugleich Wissenschaft für die Erziehung ist. Seine Theorie war um einen Wissenschaftscharakter bemüht und er war nicht müde geworden, seine Position Sozialer Arbeit hinsichtlich ihrer Bezugswissenschaften zu erörtern. Durch seine Praxis hat seine Theorie neue Anregungen und Erkenntnisse gewonnen; und mit Hilfe der Theorie konnte er die Ergebnisse in der Praxis kritisch überprüfen. Der Arzt-Pädagoge forderte deshalb den Erwerb von (Grund-)Kenntnissen aus verschiedenen Wissenschaften [nicht nur der Pädagogik sondern bspw. auch der Medizin], sich die Methoden dieser Wissenschaften anzueignen [Beobachtung als Tatsachenforschung / Messen und Wiegen als Statistik] bzw. miteinander zu verbinden [„Erziehungsdiagnostik“] und deren Probleme nicht nur zu erkennen, sondern auch zu reflektieren und mit Bezug auf die Praxis zu lösen. Dabei war Janusz Korczak stets der Anwendungsorientierung verpflichtet und zu interdisziplinärem bzw. fächerübergreifendem Arbeiten bereit [, was u. a. in der Führung des „Dom Sierots“ als „Erziehungsklinik“ deutlich wurde].

3.5 Brückenschlag

3.5

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Brückenschlag: Die Burse als Ort der Weitergabe von Wissen (Theorie) und Können (Praxis)

3.5 Brückenschlag

Franz Hamburger definiert als Forschung „die theoretisch angeleitete und methodisch kontrollierte Erzeugung von Wissen“ (Hamburger 2005: 36), wobei gilt, dass der Erkenntnisprozess handlungsentlastet ist (also über die Richtigkeit eines Forschungsbefundes gestritten werden kann) und Forschungsergebnisse öffentlich zugänglich und kritisierbar sind. Neben den strukturellen und inhaltlichen Prinzipien erfordert die Professionalisierung sozialpädagogischer Arbeit auch Erzieher und Erzieherinnen mit einer eigenständigen Berufsausbildung. In Polen sind die ersten Formen der Institutionalisierung der Bildung und Professionalisierung Sozialer Arbeit mit der Sozialpädagogik und der im Jahre 1925 von Helena Radlińska organisierten Ausbildung der Sozialarbeiter und -arbeiterinnen auf Hochschulebene im Studium für Sozial- und Bildungsarbeit etabliert worden (vgl. Marynowicz-Hetka 2000: 57). Zwei Jahre zuvor (1923) wurde die Burse im „Dom Sierot“ eingerichtet (vgl. SW Bd. 9: 487), deren Konzeption eine Neuerung in Polen darstellte. Józef Arnon verweist auf drei Merkmale, welche Janusz Korczaks Engagement für die Burse charakterisieren: • Er habe sich an der Praxis der englischen „public schools“ orientiert, wo für die Kinder der Aristokratie das System einer Initiation der Jungen durch die Jungen geschaffen wurde. • Dieses System hat Janusz Korczak im „Dom Sierot“ angewandt [und findet sich auch im Ansatz, den Neulingen Betreuer und Betreuerinnen an die Seite zu stellen]. • Außerdem war es ihm gelungen, die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ zu überzeugen, die Burse finanziell mit zu tragen, weil es keine Unterstützung von staatlicher Seite gab (vgl. Arnon 1999: 229). Diejenigen, die älter als vierzehn Jahre alt waren und noch nicht die Schule oder eine Ausbildung beendet hatten, konnten ihren Aufenthalt im Waisenhaus verlängern, wenn sie sich dazu verpflichteten, drei bis vier Stunden täglich im „Dom Sierot“ mitzuarbeiten.170 Die Burse erfuhr 1925 (nach nur zwei Jahren ihres Bestehens)

170 Die verpflichtende Mitarbeit stellt den entscheidenden Unterschied zu den „public schools“ in England dar. Die Bursisten und Bursistinnen mussten kein Schulgeld zahlen, sondern erhielten freie Kost und Logis, sofern sie sich dazu verpflichtet haben, sich an den Diensten der Kinder zu beteiligen. 275

276

3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

eine Profiländerung, deren theoretische Voraussetzungen Janusz Korczak wie folgt begründet: „Das frühere Personal ist alt, es verbraucht sich und ist müde. Die Jugend hat einen unverwüstlichen Vorrat an Energie, den man zum Wohl der Kinder nutzen kann, und ihr Enthusiasmus kann der Organisation Gewinn bringen. […] Das Budget des Hauses erlaubt es uns nicht, zahlreiches und gut ausgebildetes Personal zu halten. […] Die Bursisten wären Hospitanten, die in alle Details des Internatlebens Einblick nehmen könnten, sie könnten die Technik der Führung einer Gruppe in den Grundzügen kennenlernen, und sie können hier gefahrlos und ohne starke Erschütterungen die Illusion und die Vorurteile der Jugend loswerden und sich auf eine zukünftige, selbständige Arbeit in der Schule oder im Internat vorbereiten“ (SW Bd. 9: 488).

Mit der Profiländerung ist auch eine Öffnung nach außen erfolgt. Seit 1925 wurden neben ehemaligen Zöglingen des „Dom Sierots“ auch unbegüterte Jugendliche – „Fremde, Unbekannte“ (ebd.: 488) – in die Burse aufgenommen. Sie nahmen entweder bereits an Lehrerseminaren oder Kursen für Erzieher teil, haben sich an der Universität zum Studieren eingeschrieben; und / oder hatten ein Interesse daran, ihr theoretisches Wissen über Erziehung und das Kind mit der pädagogischen Praxis zu verbinden. Auch sie arbeiteten für freie Kost und Logis drei bis fünf Stunden täglich im „Dom Sierot“ mit und sollten auf ihre künftige pädagogische Arbeit vorbereitet werden. Sowohl Janusz Korczak als auch Stefania Wilczyńska haben bei ihrer Auswahl strenge Kriterien angewandt. Beide bevorzugten Kandidaten bzw. Kandidatinnen mit „städtischen Manieren, einem ästhetischen Aussehen, die die polnische Sprache glänzend beherrschten“ (Merżan 1999: 193).171 Die ersten drei Jahre mit der Burse waren eine Herausforderung, weil im „Dom Sierot“ nun drei Generationen zusammen lebten und arbeiteten. Es gab etwa 20 Bursisten und Bursistinnen und dabei so viele männliche wie weibliche Jugendliche. Das Verhältnis von den Erwachsenen zu den Jugendlichen war anfangs noch schwierig, doch Janusz Korczak hat sich mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dafür ausgesprochen, ein Reglement von der Erfahrung schaffen zu lassen, damit die Kinder die Jugendlichen nicht länger bedienten (vgl. ebd.: 488). Die Burse wurde so zu einer Unterstützung bei den Diensten der Kinder und ihrer Betreuung / Erziehung. Der Dienst bei den Kindern umfasste gemäß ihrer Fähigkeiten Tätigkeiten in verschiedenen Arbeitsbereichen. In der Regel unterstützten die Jugendlichen die Zöglinge bei ihren Hausaufgaben, leiteten Selbstbildungszirkel, organisierten Veranstaltungen oder gestalteten ihren Zeitvertreib. Sie übernahmen 171 1927 wurde die finale Entscheidung über die Aufnahme in die Burse einmalig durch eine Art Plebiszit innerhalb einer Internatsschülerversammlung getroffen und lag nicht allein in der Hand der „Heimeltern“.

3.5 Brückenschlag

277

aber auch die Aufsicht bei den Mahlzeiten, die Verantwortung in den Schlafsälen, waren am Morgen beim Aufstehen und bei den Ordnungstätigkeiten anwesend oder schlichteten Streitigkeiten. Diese Form der Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen betraf aber nicht allein die Praxis, sondern sollte in hohem Maße auch das Nachdenken der Bursisten und Bursistinnen befördern. Janusz Korczaks Erziehungssystem wurzelte in der Beobachtung der Zöglinge als einem ersten Schritt zur Reflexion des pädagogischen Handelns. Was er von sich selbst abverlangte, forderte er ebenso von den Jugendlichen. Durch seine Arbeit im Waisenhaus reflektierte er stets auch die organisatorischen Rahmenbedingungen institutionalisierter Erziehung mit Rückbezug auf die Wissenschaft. Aus der Orientierung an den Werten und Regeln professionellen Handelns resultierte ein ihm eigener pädagogischer Habitus. Er hat auch die Bursisten und Bursistinnen zum Beobachten und Notieren angeregt. Sie haben in der Regel von Stefania Wilczyńska eine systematische und geordnete Anleitung in einem Heft für die eigenen Beobachtungen, Überlegungen, Fragen und Vorschläge erhalten. Die Jugendlichen blieben mit ihren Tagebuchaufzeichnungen aber nicht allein, sondern traten mit ihr in einen schriftlichen Dialog ein. Sie legten die Hefte am Abend in das Büro und am nächsten Morgen konnten sie „Frau Stefas“ Reaktion und Anmerkungen lesen (vgl. Kahana 1999: 365). Außerdem diskutierten sie ihre Aufzeichnungen mit Janusz Korczak bei den wöchentlichen Treffen und Seminaren. Dieser Termin (meist um 21:00 Uhr, wenn die Kinder in ihren Betten lagen) war für alle verbindlich. Indem er das Theorie- und Fallverstehen durch die Reflexion ihrer Praxis anregte, förderte er ihre Professionalität pädagogischen Handelns. Janusz Korczak „dozierte über Medizin und Pädagogik, verglich diese beiden Wissenschaftsbereiche“ (ebd.: 198) und entwickelte Gedanken aus den Grenzgebieten von Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaft (vgl. Arnon 1999: 230). Dabei berichtete er auch von seinen Erfahrungen und besprach mit den Jugendlichen nicht nur den Verlauf der Dienste bei den Kindern, sondern gab ihnen auch konkrete Aufgaben. Sie wurden von ihm dazu angehalten, ständig zu beobachten und sich Notizen zu machen, die während der Seminare vorgelesen und von Janusz Korczak mit kritischen Bemerkungen versehen wurden: „Ständig wiederholte er, daß das Führen einer pädagogischen Dokumentation eine unentbehrliche Sache sei. Soweit wie möglich sollten besondere Situationen aus dem Leben eines Kindes festgehalten werden, und zu diesem Zweck müßten wir Erzieher, wenn schon nicht stenographieren, so doch unsere Beobachtungen genau notieren lernen. Das Notieren zwingt den Erzieher, sich über das, was er beobachtet hat, Gedanken zu machen“ (Merżan 1999: 196).

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Durch die Anmerkungen lernten die Bursisten und Bursistinnen zu beobachten und die kleinen bzw. scheinbar unbedeutenden Fakten wahrzunehmen, die viel über das einzelne Kind aussagen konnten. Janusz Korczak gab seine Methode – die „Erziehungsdiagnostik“ – an sie weiter. Sie sollten den physischen und psychischen Zustand eines Kindes bspw. durch ihre Beobachtungen zu beschreiben lernen. Um das Kind kennen zu lernen, war u. a. die Art des Kindes zu gehen und sich zu bewegen, seine Verhaltensweise bei Streitigkeiten und Konflikten mit anderen Kindern (und das in unterschiedlichen Situationen) wie auch die Charakterisierung des Kindes durch die Gleichaltrigen von Bedeutung (vgl. ebd.: 196). Dabei herrschte das Primat der eigenen Erfahrungen, weil diese immer kostbarer als fremde waren. Daneben gab es all abendlich noch ein informelles Treffen, bei dem Janusz Korczak nur manchmal anwesend war. Bei einem zweiten Abendessen wurden der pädagogische Alltag und seine Probleme besprochen, so dass die Bursisten und Bursistinnen dazu angehalten waren, stets Schlüsse aus ihrer eigenen Erzieherpraxis zu ziehen und diese selbst zu theoretisieren. Auf der Handlungsebene verschränkten sich sowohl Wissen und Können als auch Theorie und Praxis, so dass sie ein eigenes pädagogisches Berufsverständnis herausbilden konnten. Dabei lernten sie auch das Erziehungssystem des „Dom Sierots“ kennen und trugen es nach dem Verlassen der Burse als Angestellte und Leiter / Leiterinnen verschiedener betreuender Institutionen in das ganze Land (vgl. Eliasbergowa 1999: 436) und in die Welt hinaus. Zusammenfassend: Die Burse war der Ort, an dem Janusz Korczak Wissen (Theorie) und Können (Praxis) an die Praktikanten / Praktikantinnen und Bursisten / Bursistinnen [Erzieher und Erzieherinnen in Ausbildung] weitergab. Auf diese Weise trafen Forschung, Theorie und Praxisbezug aufeinander. Ich möchte an dieser Stelle eine Analogie zum Hospital aufstellen. Es hat sich im frühen 19. Jahrhundert zu einer Stätte der Diagnose und der Lehre gewandelt. Als es schließlich zum Laboratorium entwickelte, wurde auch mit Behandlungsformen experimentiert. Erst im Übergang zum 20. Jahrhundert ist es zu einem Ort der Therapie [und Behandlung] geworden (vgl. Illich 2007: 117). Auch das „Dom Sierot“ als „Erziehungsklinik“ war sowohl eine Stätte der Lehre [der Ausbildung] als auch ein Laboratorium. Wie Lernschwestern gleichzeitig Kranke pflegten, wurde hier analog der Erzieher / die Erzieherin auf seine / ihre spätere pädagogische Arbeit vorbereitet (vgl. Arnon 1999: 229). Im Waisenhaus war es Janusz Korczak (dem Theoretiker und Praktiker) gelungen, eine Brücke zwischen dem Wissen und Können zu schlagen und die Jugendlichen gewissermaßen kollegial „on the job“ zu professionalisieren. Die Burse musste jedoch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten im Juni des Jahres 1937 geschlossen werden (vgl. Lewin 1997: 14) und ihr Bestehen hatte ein Ende.

3.6 Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers?

3.6

279

Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers? „Die Bedeutung eines Schriftstellers, ob Dichter, Philosoph oder Historiker … beruht nicht in erster Linie auf der bewußten Intention seines Werkes, sondern in der uns heute erkennbaren genauen Auffassung der Konflikte und imaginativen Unstimmigkeiten in ihm … Jede Form zivilisierten Lebens wird aufrechterhalten, um den Preis von Verleugnungen oder Verkehrungen des Fühlens, durch Selbsttäuschung und die Bildung von Mythen und spekulativen Hypothesen, die in den Augen eines völlig neutralen und wissenschaftlichen Beobachters einer späteren Zeit als eine Art von Wahnsinn oder Selbsttäuschung erscheinen … Im allgemeinen können wir nur rückblickend erkennen, warum ein Interesse, das zu seiner Zeit marginal, scholastisch oder akademisch im schlechten Sinne des Wortes schien, in Wirklichkeit an einem scheinbar befremdlichen oder gar trivialen Material auf exemplarische Weise einen Konflikt verarbeitete, der eine viel weitreichendere Bedeutung hatte.“ (Stuart Hampshire zitiert in Gombrich 2012: 27 f.)

3.6

Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers?

Was Stuart Hampshire für Schriftsteller, Dichter, Philosophen oder Historiker konstatiert, kann auch für Janusz Korczak (den Pädagogen) gelten. Auch er verarbeitete einen Konflikt, der eine weitreichendere Bedeutung hatte: Bis heute ist das Verhältnis von Theorie und Praxis im pädagogischen Diskurs ein Thema, ja bisweilen gar ein „Problem“ oder „Konflikt“, das aber keines / keiner (mehr) sein sollte. Das Kapitel „Im Spannungsfeld von Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik“ hat zu zeigen versucht, wie sich das wissenschaftliche Wissen und Erfahrungswissen einerseits und das berufspraktische Können andererseits im Feld der Waisenhauserziehung aufeinander beziehen lassen. Grundsätzlich wollte auch Janusz Korczaks Forschung zur Theoriebildung beitragen, um den Horizont der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erweitern. Indem er die (empirische) Frage stellte, „wie Erziehung und Bildung in dem ‚Habitus‘ der Institutionen und kulturellen Segmenten lokalisiert sind und welche Formationen und Transformationen im Verhältnis der Generationen zueinander zu beobachten sind“ (Mollenhauer 1996: 284), regte ihn seine Praxis im Sinne empirischer Methoden auch zu einer Theorie(-bildung) an. Seine Theorie hatte die bürgerliche Erziehungstheorie auf den Kopf gestellt (vgl. Oelkers 1983: 238), weil das Kind zwar im 18. Jahrhundert bereits entdeckt, aber noch nicht befreit worden war. „Je mehr Freiheit das Kind hat, um so weniger muß man Strafen anwenden. Je mehr Belohnungen, um so weniger Strafen“ (SW Bd. 9: 305).

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

Janusz Korczak hat eine Pädagogik der Freiheit angestrebt, weil er davon überzeugt war, dass er mit dem Kind auch jenseits von Gewalt, Zwang und Herrschaft verkehren könne. Es wurde dabei allerdings in einer qualitativen Dimension von Erziehung im Hinblick auf seine Freiheit beraubt, weil es in der Kindergesellschaft die Rolle eines kleinen Bürgers zugewiesen bekam. Zwar wurde das Kind mit Partizipationsrechten ausgestattet, die es mitbestimmen ließen, doch diese waren auch eine Bürde und übertrugen den Heranwachsenden ein Mehr an Verantwortung. Auch wenn Janusz Korczak die durch Beobachtung und Beschreibung abgebildete Realität nicht immer als Antwort auf ein Forschungsinteresse oder eine Forschungsfrage (aus-)formuliert hat, gab er seinen Lesern und Leserinnen Folgendes mit auf den Weg: „[…] Schwierigkeiten hat jeder, nur kann man sie auf verschiedene Weise bewältigen. – Es gibt keine ganz genaue Antwort. – Das Leben ist eben keine Sammlung von arithmetischen Aufgaben, wo es immer nur eine Lösung gibt und höchstens zwei Lösungswege“ (SW Bd. 4: 149).

Durch meine Relektüre habe ich im dritten Kapitel meiner Monographie kein pädagogisches Rezeptwissen, sondern einen Einblick in eine praxisnahe Theoriebildung bzw. in das Ringen Janusz Korczaks, ein guter Erzieher bzw. im Zwiegespräch mit sich selbst zu sein, gegeben. Im Hinblick auf seine Erfahrung(en) wies er immer wieder darauf hin, dass der Mensch in der Rolle des Erziehers fehlbar sei. Vielleicht ist dies die allgemeine Aussage, die es vermag eine pädagogische berufliche Identität zu stiften. „Der Erzieher sagt: ‚Meine Methode, meine Ansicht.‘ Wenn er auch nur eine unzureichende theoretische Vorbildung und nur eine kleine Anzahl von praktischer Arbeit hinter sich hätte, hätte er das Recht so zu reden. Aber er möge beweisen, daß ihm diese Methode oder die Antwort durch Erfahrung bei seiner Arbeit, unter diesen Umständen, auf diesem Gebiet, mit dieser Art von Kindern vermittelt wurde. Er möge seinen Standpunkt rechtfertigen, Beispiele nennen und sie im einzelnen belegen. […] Jedes Problem sollte unabhängig von der allgemeinen Auffassung betrachtet werden, ebenso jedes Faktum. Denn die Fakten widersprechen sich, und nur aus ihrer Quantität auf der einen oder anderen Seite kann man allgemeine Gesetze erahnen“ (SW Bd. 4: 206).

Es ist deutlich geworden, dass Janusz Korczak nicht nur einer Disziplin angehörte. Sein Denken war vor allem von der Medizin (den Naturwissenschaften) geprägt. Sein Zugang zur Theorie war stark Empirie-geleitet. Er hat viel empirisches Material erhoben und über Jahre gesammelt, aber weder zu Hypothesen verdichtet noch als Theorie(n) niedergeschrieben. Die Physis des Kindes war ein zentraler

3.6 Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers?

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Bezugspunkt seiner Theorie(n), weil Janusz Korczak seine Einsichten seiner medizinischen Ausbildung und Praxis verdankte. Die Gesundheit und Diätik (im Sinne eines geregelten Lebens, das zu einer physischen wie psychischen Lebensweise, Gesunderhaltung oder Verbesserung beitragen) waren zentrale Motive, die sein Verständnis von Erziehung konturiert haben. Janusz Korczak ging es darum, die Gesundheit des Kindes in der Gegenwart zu bewahren oder wiederherzustellen und für die Zukunft zu erhalten. Dieses Erziehungsdenken war vor allem durch die Medizin bestimmt, was auch begründet, warum er seine pädagogischen Debatten mit begrifflichen Grundvorstellungen der Pädologie geführt hat, die an einer physiologischen Perspektive auf das Kind festhielten. In seinen pädagogischen Handlungsfeldern verfügte der Arzt-Pädagoge über eine hohe Beobachtungs- und Reflexionskompetenz. Mit der Wissenschaft bzw. Theorie ist es ihm gelungen, die Welt bzw. die Praxis auf Distanz bzw. Abstand zu halten. Auf diese Weise konnte er „Henryk Goldszmit / Janusz Korczak“ bleiben und die Kinder immer in den Momenten aufmerksam beobachten und eine Diagnose stellen, in denen sie ihr Selbst auslebten (vgl. ebd.: 148). Durch die reine Beobachtung, die nichts (ein-)forderte, konnte er das Kind besser kennen lernen. Janusz Korczak beschäftigte sich aber nicht nur mit den klassischen pädagogischen Grundkategorien „Erziehung“ und „Bildung“, sondern auch mit Kategorien größerer Reichweite, was wiederum modern anmutet und nicht wirklich in seine Zeit passen mochte. Die Erweiterung des Tableaus traditioneller pädagogischer Themen trug der Ausdifferenzierung pädagogischer Handlungsfelder Rechnung. Damit löste er schon damals die Forderung ein, sich neu zu stellenden Aufgaben zu öffnen und eine Erziehungswissenschaft zu betreiben, die sich als „(sozialwissenschaftlich fundierte) Theorie der modernen Sozial- und Sozialisationsgesellschaft mit ihren vielfältigen Problemen der Lebensbewältigung und der Hilfen zur Lebensbewältigung“ (Thiersch 1994: 141) stellen konnte. Dabei gruppierte er seine Begriffe und Theorie(n) vor allem um das Generationenverhältnis. Unter dem Gesichtspunkt eines sorgenden Verhältnisses kann man sich Jürgen Zinneckers Formulierung, dass Pädagogik „alle sorgenden Verhältnisse zwischen allen zu einer Zeit lebenden Generationen, seien diese nun dominant auf Bildung / Unterrichtung, Erziehung oder soziale Hilfe fokussiert“ (Zinnecker 1997: 201) bezeichnet, anschließen. Es ist konstitutiv für pädagogische Sorgeverhältnisse zwischen Generationen, dass „dabei die eine Seite im Generationenverhältnis auf Zeit für die andere Seite eine stellvertretende Einbeziehung (Inklusion) in das gesellschaftliche System“ (ebd.: 201) übernimmt. Dabei hat sich die erziehende Tätigkeit in Janusz Korczaks Praxis über den Rahmen der Wissensvermittlung hinaus begeben, weil das Agieren in der „Erziehungsklinik“ neben der Erziehung und Bildung vor allem eine „Erziehungsdiagnostik“ samt Pflege, Prävention und Integration mit einschloss. Sein Handeln 281

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3. Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis

war „zu einer Art Lebensbegleitung geworden, deren leitendes Charakteristikum ein kuratives“ (Fischer 1997: 27) war. Die Sorge um die Kinder im „Dom Sierot“ war aber weniger Therapie, als das Bestreben, die Zöglinge vor den negativen Auswirkungen eines Lebens in Armut und sozialer Not zu bewahren. Auch Janusz Korczak reiht sich in die Linie derer ein, die eine neue Auffassung von Kindheit und dem Kinde vertraten, auch wenn er sie nicht heiligsprach, sondern ein Verständnis von Kindern als Menschen (vgl. Winkler 2016: 116) proklamierte. Er war ein Autor, der über Kindheit und Kindheitsbilder schrieb. Als Praktiker (Arzt und Pädagoge) war er aber auch ein Macher. Jemand, der die Institutionen der Kindheit (tatsächlich) veränderte und so zu einem Gestalter von Kindheit wurde. Nicht die Familie oder das familiäre Heim waren in seiner Praxis die entscheidenden Orte für Erziehung, sondern das „Haus der Waisen“, eine Einrichtung, die Kindern ein Heim bot, wenn die Familienerziehung die Sorge für sie nicht mehr tragen konnte. Das „Dom Sierot“ wurde unter Janusz Korczaks Leitung zu einem Ort der Gesellschaftserziehung, wo das Kind aber stets als Individuum im Mittelpunkt stand und mit Partizipationsrechten ausgestattet, die Kindergemeinschaft bzw. -gesellschaft mitgestalten konnte. Seine Pädagogik und sein pädagogisches Ideal wirkten in die Praxis bzw. wurden im pädagogischen Handeln seiner Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen und der Kinder umgesetzt. Explizit sei auch noch einmal auf die Einbeziehung empirischen Wissens in den theoretischen Diskurs Janusz Korczaks verwiesen. Indem er erziehungswissenschaftlich forschte und mit eigenen Erkenntnisansprüchen auftrat, beschrieb er „Erziehung nicht an sich, sondern in den Kontexten heutiger Erfahrungswirklichkeit“ (Oelkers 1990: 11). Seine Handlungskompetenz als Erzieher bestimmte er über konkrete sozialarbeiterische Formen der Praxis und die mehr empirische als theoretische Analyse der in ihnen vergegenständlichten Handlungskomponenten und Deutungsmustern, die ihn in die Lage versetzten, Grenz- und Konfliktsituationen des einzelnen Kindes und der Gruppe [der Kindergesellschaft] zu interpretieren. Ein (kritischer) O-Ton Janusz Korczaks zum Schluss: Im Waisenhaus „gibt es zu viele Kindermädchen, barmherzige Schwestern, Philanthropinnen aus der Gesellschaft, verkommene Menschen und Philosophen. Es stinkt nach Moral, man verstößt gegen das Verstehen eines Kindes. – ‚Eine Internatsreform‘ sagte jemand, ‚ist die Reform der Mauern und nicht des Geistes.‘ Es gibt mehr Glasur und Steingut, aber keinen einzigen Versuch, wie man Probleme des Kinderlebens löst.“ Und weiter: „Die Pädagogik kennt keine Diagnostik, Pathologie oder Therapie. Das ist eine sinnlose, schädigende und verbrecherische Phrase. So wird von einem Kind mit einem geistigen Gebrechen oder einem moralischen Makel verlangt, daß es vor Gesundheit strotzt. Das wird ihm befohlen (und es wird dabei mißhandelt)“ (SW Bd. 8: 240).

4

Eine Brücke zwischen den Generationen (Jüdische Heim-)Kindheit im Warschau des 20. Jahrhunderts 4 Eine Brücke zwischen den Generationen

Janusz Korczaks Leben und Werk waren der Kindheit bzw. dem Kind gewidmet und verpflichtet. In seiner Lebensgeschichte, aber auch in den Erzählungen um seine Zöglinge, deutet sich häufig der auf den im Zitat verwiesene Zwiespalt an, in dem sich die Kinder mit den Erwachsenen bis heute befinden. Ihre Gegenwart wird zu Lasten einer ferneren Zukunft beschränkt. Aus diesem Grund hat Janusz Korczak auch das Recht des Kindes auf den heutigen Tag in seiner „Magna Charta Libertatis“ eingefordert. Im vierten Kapitel wird es noch einmal um Janusz Korczak als (Mit-)Gestalter des Generationenverhältnisses gehen. Hier kann ich an das dritte Kapitel anschließen, in dem ich mich bereits mit dem Prinzip der generationellen Unterscheidung auseinandergesetzt habe. Weil Janusz Korczak den absoluten Wert von Kindheit proklamierte, und die Gleichwertigkeit bzw. Gleichberechtigung der Kindheit gegenüber dem Erwachsensein nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gesellschaft betonte und einforderte, setzte er sich für eine Gleichberechtigung der Generationen ein, die in den Waisenhäusern „Dom Sierot“ und „Nasz Dom“ durch die Selbstverwaltung umgesetzt und gelebt wurde. Zunächst soll Kindheit aber als Untersuchungsgegenstand und heuristisches Modell näher bestimmt werden, weil der Begriff in den Wissenschaftsdisziplinen unterschiedlich ausgelegt wird. Kindheit wird aus: • biographie- oder entwicklungspsychologischer Perspektive als Lebensabschnitt, der den individuellen Werdegang in besonderem Maße prägt, • erziehungswissenschaftlicher Perspektive als Lebensphase, in der bestimmte Kompetenzen, Qualifikationen und Eigenschaften erworben werden, die Einfluss auf den Lebenslauf als Ganzes haben, • juristischer Perspektive als Altersphase, der bestimmte juristische Attribute wie bspw. „Unmündigkeit“, „Geschäftsunfähigkeit“, „Religions-Unmündigkeit“ und „Schulpflicht“ zugesprochen werden oder © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Schierbaum, Janusz Korczak, der Brückenbauer, Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung 23, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30623-6_4

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4 Eine Brücke zwischen den Generationen

• soziologischer Perspektive als Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen, in denen Kinder leben (vgl. Mierendorff 2010: 15) und aufwachsen, verstanden. Jede Disziplin nimmt eine je spezifische Perspektive auf Kindheit ein, so dass ihre Bestimmung und Konstitution als Gegenstand von der historischen und kulturellen Entstehung und Prägung der jeweiligen Disziplin abhängt. Johanna Mierendorff hebt außerdem hervor, dass Erklärungsversuche und Modellbildungen eine Historizität aufweisen, die bspw. dadurch deutlich wird, dass Kinder erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts als handelnde Subjekte [Akteure und Akteurinnen] wahrgenommen wurden (vgl. ebd.: 16). Sie formuliert aus einer kindheitssoziologischen Perspektive drei theoretische Grundannahmen, die ihrem Kindheitsbegriff zugrunde liegen: • „Kindheit als historisch gewordenes soziales Konstrukt. • Kindheit als Ausdruck der generationalen Ordnung der Gesellschaft. • Kindheit als sozialstrukturelles Element in den modernen Gesellschaften“ (ebd.: 16). Das, was in der Neuzeit als normatives Kindheitsmuster in Erscheinung tritt, hat sich im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in einem langwierigen Prozess sozialwirtschaftlicher Transformationen herausgebildet. Es bestimmt nicht nur die kulturellen und politischen Diskurse über Kindheit und Kinder, sondern auch die Entwicklung der Institutionen, die mit der Realisierung kindbezogener Aufgaben der Gesellschaft betraut sind (vgl. ebd.: 22). Zu solchen Institutionen zählen neben der Familie und Schule auch Betreuungseinrichtungen wie das „Dom Sierot“ [und „Nasz Dom“], dem ich mich im vierten Kapitel als einem Ort jüdischer Heimkindheit im Warschau des 20. Jahrhunderts annähern möchte. Janusz Korczak begegnete dem Kind im „Dom Sierot“ in einer spezifischen Lebensphase, der Kindheit. Hier konnte er das Kind über einen längeren Zeitraum kennen lernen, erforschen und bei Bedarf therapieren, weil es ihm nicht nur ein Zögling, sondern auch Forschungssubjekt und (in Fällen von Krankheit) Patient und Patientin war. Er stattete es mit Kinderrechten aus und befähigte es zur Partizipation, so dass es die Kindergesellschaft im Waisenhaus mitgestalten konnte und an der Aufstellung allgemeingültiger Regeln für das Zusammenleben beteiligt wurde. Auf diese Weise erhielt Kindheit einen absoluten Wert, der sich in Janusz Korczaks Erziehungsmodell und in der Befähigung zur Selbsterziehung des Kindes widerspiegelte. „Das Kind, das im Heim lebt, ist ein Beispiel für die Situation oder die besonderen Probleme, die sich der jungen Generation heute stellen“ (Jouhy Bd. IV 1988: 136).

3.6 Resümierend: Eine Theorie des forschenden Praktikers?

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Janusz Korczak ist in seiner Gesellschaftskritik von ungleichen Lebensbedingungen verschiedener Bevölkerungsgruppen ausgegangen. Er war zwar nicht der Erste, der an der bestehenden Gesellschaftsordnung Kritik übte, aber er war einer der wenigen, der nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder in den Blick nahm. Salon vs. Straße: Er stellte dem Bürgertum bzw. der bürgerlichen Mittelschicht das Proletariat gegenüber. Die Kinder, die im „Dom Sierot“ lebten und aufwuchsen, sind ein Beispiel für die Besonderung der Lebenssituation und Herausforderungen, die sich der jungen (jüdischen) Generation aus dem Proletariat seiner Zeit stellen mussten. Ihre außerfamiliale Erziehung im Waisenhaus war ein Sonderfall der Erziehung jüdischer Sozial-, Halb- und Vollwaisen aus den armen Vierteln Warschaus und dem Einzugsgebiet der polnischen Hauptstadt. Ihre Herkunftsverhältnisse sind als prekär zu beschreiben, weil die Kinder von finanzieller und materieller Armut, Krankheit und mitunter auch familiärer Gewalt und Alkoholsucht der Eltern bzw. Pflegepersonen betroffen waren. Sie sollten durch die Aufnahme in das „Dom Sierot“ unter besseren Umständen aufwachsen können, also ein „Dach über dem Kopf“ haben, mit ausreichend Nahrung versorgt werden und die Möglichkeit zur geistigen und kulturellen Bildung erhalten. Um das vierte Kapitel zu rahmen, wird der Fokus an dieser Stelle noch einmal auf das Generationenverhältnis gerichtet. Es steht schließlich noch die Frage im Raum, wie die Metapher des Brückenbaus im Hinblick auf die heranwachsende und erwachsene Generation gedeutet werden kann. Janusz Korczak hat erkannt, dass das Kind den Repressionen der älteren Generation in besonderem Maße ausgesetzt war, nicht nur im Hinblick auf die Lebensbedingungen, sondern vor allem auch auf das soziale Miteinander. Weil das Kind in der Regel unmündig und vom Erwachsenen abhängig war, wollte er das Verhältnis zwischen der jüngeren und älteren Generation nicht zum Nachteil des Kindes ausgestalten. Es wurde zum Mittelpunkt seines Denkens und Handelns und auf diese Weise ist es ihm gelungen, eine Brücke zwischen den Generationen zu bauen. Er war überzeugt, dass der Brückenschlag nur durch ein Verständnis füreinander und eine Verständigung miteinander gelingen konnte. Deshalb sollten Jung und Alt im Erziehungsverhältnis die Gelegenheit erhalten, einander kennen zu lernen bzw. in einen Dialog miteinander einzutreten. Dabei standen sie sich als gleichberechtigte Partner / Partnerinnen gegenüber und wurden permanent in einen Handlungs-, Reflexions-, Lern- und Innovationsprozess eingebunden, um über Versuch und Irrtum das Erziehungsfeld gemeinsam zu gestalten (vgl. Ungermann 2006: 102). Janusz Korczak ist im „Dom Sierot“ gemeinsam mit dem Kind auf die Suche nach den Regeln des Zusammenlebens in einer Erziehungsgemeinschaft gegangen, um ein gerechteres Miteinander der Generationen zu begründen. Korczak-typisch und neu für die damalige Zeit 285

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4 Eine Brücke zwischen den Generationen

war, dass er sich im Umgang mit dem Kind auf einen Perspektivwechsel eingelassen hat. Er war davon überzeugt, dass spezifische Formen der Übernahme der Kinderperspektive zu einem Verständnis für das Denken, Fühlen und Handeln des Kindes führten, damit es die volle Gleichberechtigung erlangen konnte. Auf diese Weise wurde das Kind im Generationen- bzw. Erziehungsverhältnis zum gleichwertigen Partner und Mitgestaltenden des gemeinsamen Lebensraumes. Dabei gestand er dem Kind ein Mehr an Gefühlsreichtum und dem Erwachsenen ein Mehr an Erfahrung zu. Janusz Korczak war darum bemüht, dass das Kind sowohl als „Gleicher“ [Mensch wie der Erwachsene] als auch etwas „Besonderes“ [als der „Andere“] in der Gesellschaft anerkannt wurde (vgl. ebd.: 369), auch wenn er um die ihm entgegengebrachte Ungleichheit wusste. Im Verlauf des vierten Kapitels möchte ich mich auf das Kind als den Anderen fokussieren. Ziel ist es, das Spezifische in Bezug auf Kindheit des jüdischen Proletariats im Warschau des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. In einem ersten Schritt werde ich mich in „Über Kindheit“ (4.1) mit Janusz Korczaks Vorstellung vom Kind und Kindheit auseinandersetzen, denn bisher habe ich zwar darstellen können, wie Kindheit in der Psychologie, in der Erziehungswissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie definiert wird, Janusz Korczaks Definition steht aber noch aus. In einem zweiten Schritt werde ich O-Töne zum Kind als dem Anderen sammeln, um „Das Kind als Hieroglyphen-Text“ (4.1.2) zu hinterfragen. Der Theorie vom bzw. über das Kind wird sich das Kapitel zu „Erziehung und Kindheit im ‚Dom Sierot‘“ (4.2) anschließen, um eine Brücke von Janusz Korczak zu seinen Zöglingen zu schlagen und das Spannungsfeld der Generationen näher zu erörtern. In „Kindheit und Erziehung in der Erinnerung von ehemaligen Zöglingen“ (4.2.1) nehme ich bewusst einen Perspektivwechsel vor und versuche, mit Hilfe autobiographischer Erinnerungen (jüdische Heim-)Kindheit(en) im 20. Jahrhundert zu beschreiben. Daraufhin werde ich Überlegungen zu „Kindheit als Moratorium“ bzw. zum „Dom Sierot“ als Schutz- und Schonraum (4.2.2) anstellen. Um das vierte Kapitel abzuschließen, werde ich resümierend in Bezug auf Soziale Arbeit mit dem Kind als dem Anderen auch kritische Anmerkungen (4.3) formulieren, weil diese in der Rezeption bisher entweder gar nicht oder nur vorsichtig aufgegriffen wurden.

4.1

Über Kindheit

4.1

Über Kindheit

Im Folgenden soll nach Janusz Korczaks Begriff vom Kind und von Kindheit gefragt werden, denn die Stellung des Kindes in der Gesellschaft wie auch das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen zieht sich wie ein roter Faden durch

4.1 Über Kindheit

287

seine Schriften (vgl. Wompel-Thiel 2004: 75). In „Janusz Korczak und das Kind“ werde ich mich zuerst dem Status der Kindheit bzw. seinem Begriff vom Kind und Kindheit annähern, um anschließend dem „Kind als dem Anderen und Fremden“ auf den Grund zu gehen.

4.1.1

Janusz Korczak und das Kind

Janusz Korczaks Erziehungsmodell ging vom Kinde aus und kam nicht umhin, einen Begriff vom Kind zu entwickeln, weil sich die Vorstellung von dem, was das Kind ist, nicht nur auf die Beziehung zwischen ihm und dem Zögling, sondern auch auf die Gestaltung des Generationsverhältnisses auswirkte. Seine neue Sicht vom Kind basiert auf einer phänomenologischen Deutung seiner klinischen [wie teilnehmenden] Beobachtungen von Kindern als Individuen in unterschiedlichen Sozialisationsumwelten (vgl. Ungermann 2006: 364) wie der Familie, dem Internat (dem Waisenhaus), den Sommerkolonien und der Schule. Ich möchte im weiteren Verlauf versuchen, eine oder mehrere Antworten auf die Frage – was das / ein Kind sei – in Janusz Korczaks Werk zu finden. In der Tetralogie „Wie liebt man ein Kind“ schreibt er, was das Kind nicht ist: Nämlich „ein Lotterielos, auf das der Gewinn eines Portraits im Sitzungssaal des Magistrats oder einer Büste im Foyer des Theaters fallen kann“ (vgl. SW Bd. 4: 62). Es ist auch „nicht der durch Vererbung vorbereitete Acker für die Aussaat des Lebens“ (ebd.: 62) oder ein „überbeanspruchter Organismus“ (ebd.: 71). Das Kind ist vielmehr ein „dicht beschriebenes Pergament“ und „ein schon bestellter Ackerboden“ (ebd.: 63). Es ist ein auf Freiheit, Aktivität, Selbstbestimmung und Selbstwerdung angelegtes Wesen, das über einen (eigenen) Willen, Seelenstärke und Unternehmungsgeist verfügt (vgl. ebd.: 19) und bereits im Kleinkindalter die Welt entdecken und verarbeiten kann. Es ist ein lebendiges Gegenüber und kein Objekt, das nach den Regeln von Lehrbüchern erzogen werden soll. Aus einer biologischen bzw. medizinischen Perspektive heraus, betrachtet Janusz Korczak das Kind als einen „Organismus im Wachstum“ (ebd.: 69), auch wenn die Zunahme an Körpergewicht und -größe nur eines neben vielen Phänomen sei (vgl. ebd.: 69), die das Kind ausmachten. Ein neu geborenes Kind, das „sind acht Pfund Wasser und eine Handvoll Kohle, Kalk, Stickstoff, Schwefel, Phosphor, Pottasche, Eisen“ (ebd.: 12). Der kleine Organismus zeichnet sich bereits nach der Geburt durch rasche Veränderungen aus, denn von Tag zu Tag nimmt das Kind mehr wahr und lernt stetig Neues dazu. Die Entwicklung des Kindes ist ebenso sichtbar wie sein Wachstum systematisch zu vermessen ist. Janusz Korczak betrachtet das Wachstum des Kindes aber nicht iso287

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4 Eine Brücke zwischen den Generationen

liert, sondern als Ergebnis des Zusammenspiels von Anlage- und Umweltfaktoren, was am Beispiel der Gewichtszunahme bzw. -abnahme gut zu veranschaulichen ist. Sie wird nicht nur durch eine (ausreichende / mangelhafte) Ernährung und den allgemeinen Gesundheitszustand des Kindes, sondern auch durch psychische Faktoren („in Gesellschaft schmeckt es besser“ / Kummer o. ä.) beeinflusst (vgl. Ungermann 2006: 364). Bereits im dritten Kapitel „Brücken(-bau) zwischen Theorie und Praxis; Medizin und Pädagogik“ habe ich herausgearbeitet, dass Janusz Korczak diese Zusammenhänge nicht wie andere Pädagogen und Pädagoginnen seiner Zeit missachtete. Als Arzt-Pädagoge hat er vielmehr den medizinischen Dreischritt von Anamnese, Diagnostik und Therapie verinnerlicht und auf die Pädagogik angewandt, weshalb er u. a. berücksichtigte, dass ein Kind mit einem „geistigen Gebrechen“ oder „moralischen Makel“ nicht vor Gesundheit strotzen könne (vgl. SW Bd. 8: 240). Indem er den Körper [Leib] nicht vom Geist [Seele] des Kindes trennte, ging er von ihm als physischem und psychischem Wesen aus. Das Kind zeichne sich physisch vor allem durch „die Vitalität der Zellen“ und „ihre Anfälligkeit“ aus – einerseits „Aufgewecktheit, Durchhaltevermögen, Kraft, andererseits – Zerbrechlichkeit, Unausgeglichenheit, Erschöpfung“ (SW Bd. 4: 205 f.); aber auch psychische Erregungen wirkten sich auf seinen Organismus aus (vgl. Ungermann 2006: 367). Janusz Korczaks Interesse galt insbesondere dem armen (jüdischen) Kind, dem er als Medizinstudent in den Hinterhöfen, Dachkammern und Souterrainwohnungen des Weichselviertels begegnet war. Es wuchs als „Kind der Straße“ im Elend und nicht wie er als „Kind des Salons“ behütet von der Mutter, Großmutter, der Küchenfrau und dem Kindermädchen auf. Als er seine Promotion erfolgreich abgeschlossen und eine Stelle als Stationsarzt im Berson-Bauman-Spital angenommen hat (1905), war er bereits zu der Einsicht gekommen, dass „die unmenschlichste Ausbeutung, Unterdrückung, die niederträchtigste Ungerechtigkeit“ nicht eine Klasse oder ein Volk treffe, „sondern das Kind als Kind […], weil unmündig, abhängig, schwach, zur selbständigen Verteidigung seiner Lebensinteressen noch unfähig“, sei es „der schweren Not physischen und seelischen Leidens am unmittelbarsten ausgelieferte Teil der unterdrückten Menschheit“ (Jouhy Bd. I 1988: 236). Janusz Korczaks Bild vom Kind entstand aus seiner tiefen Überzeugung, dass Kinder nicht erst zu Menschen werden, sondern bereits welche sind: „ja sie sind Menschen und keine Puppen; man kann an ihren Verstand appellieren, sie antworten uns […]. Kinder sind Menschen, in ihren Seelen sind Keime aller Gedanken und Gefühle, die wir haben, angelegt. Deshalb muß man diese Keime entwickeln, ihr Wachstum einfühlsam lenken“ (SW Bd. 9: 50).

4.1 Über Kindheit

289

Indem Janusz Korczak das Kind als (Mit-)Menschen anerkannte und als Wesen wahrnahm, konnte er ihm in der Erziehung Liebe, Achtung und Vertrauen entgegen bringen. Er widmete sein Leben den (jüdischen) Kindern des Proletariats – jenen, die bei gesellschaftlichen Missständen immer zu den ersten Opfern zählen, weil Unruhen, Hungersnöte, Kriege, Vertreibungen, Epidemien oder Pandemien immer und zuerst auch die Kleinsten und scheinbar Schwächsten der Gesellschaft treffen. Shimon Sachs und Ida Merżan verweisen explizit darauf, dass Janusz Korczak das einzelne Kind im Fokus hatte, das ein Mensch war (vgl. Sachs 1981: 103) und nicht erst zum Menschen wurde. Sie betonen, dass er vielmehr davor gewarnt habe, das Wort „Kind“ in der Mehrzahl [„Kinder“] zu gebrauchen, weil er der Meinung war, dass der Erzieher, der in der Gruppe nicht das Individuum wahrnehme, nur die Gruppe sehe und nicht mit dem einzelnen Kind arbeiten könne (vgl. Merżan 1999: 198). Der Mediziner und Pädagoge habe die „echte Welt“ gesucht und „sie inmitten der Welt seiner Kinder [gefunden]. Es [ging] ihm um das wirkliche, integrative Tun des Menschen, der dadurch zum Erzieher [wurde], weil er im schmerzlichen Dialog mit seiner Umgebung [stand] und sie als Ganzes [anging]“ (Sachs 1981: 103). In der Kindheitsforschung seiner Zeit wurden Bilder über das Kind in der Regel aus der Perspektive von Erwachsenen gewonnen. Janusz Korczak aber wollte sich seinem Bild vom Kind aus der Sicht des Kindes und seinen je spezifischen Entwicklungsaufgaben annähern. Es war ihm gelungen, ein Erziehungsmodell mit experimentellem Charakter zu initiieren, das Erziehung durch eine demokratische Erziehung in Gruppen reformieren sollte. Dabei war sein Ziel, die Lebensbedingungen für das Kind dauerhaft zu verbessern und es dem Erwachsenen als gleichberechtigten Partner im Erziehungsverhältnis und Mitgestalter des gemeinsamen Lebensraumes zur Seite zu stellen.

4.1.2 O-Töne zum Kind als dem Anderen und Fremden Mit Janusz Korczak ist die Spannung im Verhältnis vom Kind zum Erwachsenen durch ein gleichwertiges Anders-Sein als Differenz und weniger im Sinne eines Noch-nicht oder Defizites zu fassen (vgl. Kirchner 2003: 288). Das Kind wird durch sein Anders-Sein zum Anderen und Janusz Korczak war sich (s)einer Verantwortung gegenüber der Anders- und Fremdheit des Kindes bewusst. Er hat aus der Wahrnehmung und Anerkennung des Kindes als einen Anderen und Fremden nicht nur für sein pädagogisches Denken und Handeln, sondern auch für seine pädagogische Verantwortung zentrale Konsequenzen gezogen (vgl. Kirchner 1997: 37). Das Kind als der Andere und Fremde war die Bedingung der Möglichkeit seines pädagogischen Wirkens im Spannungsfeld der Generationen. Indem Janusz 289

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4 Eine Brücke zwischen den Generationen

Korczak das Kind in seiner Fremdartigkeit nicht ignorierte, konnte es auch nicht mehr hinter „Kindermythen“ oder in der Wissenschaft verschwinden (vgl. ebd.: 49). Die Kategorie des Anderen wird in der zeitgenössischen Philosophie in Relation zum Individuum oder in Relation zur sozialen Ordnung und den Einzelpersonen innerhalb einer Kultur oder eines Staates breit diskutiert. Andersheit kommt in der Mehrheitsgesellschaft eines Nationalstaates vor allem durch das Sprechen einer anderen Muttersprache [als die Nationalsprache], ein anderes Herkunftsland und einen anderen Kulturkreis oder eine andere Religion [als die Staatsreligion] zum Ausdruck. Sie zeigt sich aber auch in einer Differenz von Werten, Gefühlen, Empfindsamkeit oder Mentalität. Um das Kind als den „Anderen“ in Janusz Korczaks Arbeiten zu analysieren, können die Arbeiten (1) Jaques Derridas (1930–2004; französischer Philosoph), (2) Emmanuel Lévinas (1906–1995; französisch-litauischer Philosoph und Autor) und (3) Paul Ricœurs (1913–2005; französischer Philosoph), wie es die Polin Hanna Stȩpniewska-Gȩbik in ihrem Beitrag „The Child as the Other in Janusz Korczak´s Works“ (2014) vorgeschlagen hat, herangezogen werden. Um mich mit dem Kind als dem Anderen bei Janusz Korczak auseinanderzusetzen, möchte ich mich an ihrem Vorgehen orientieren, weil Stȩpniewska-Gȩbiks Beitrag bisher im deutschen Sprachraum noch nicht rezipiert wurde und eine Relektüre lohnenswert erscheint.

(1) Mit Bezug zu Derrida Anders- und Fremdheit sind nicht allein auf einen Migrationshintergrund zurückzuführen, sondern entstehen unabhängig von der Herkunft bzw. Nationalität vor allem dann, wenn Kommunikations- und Verständnisprobleme nicht aufgelöst werden können. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, warum Janusz Korczak dem Kind im Generationenverhältnis den Status eines Anderen und Fremden zuweist. In Relation zum Erwachsenen hat es immer weniger Erfahrung, so dass es mitunter schwierig ist, sich zu verständigen. Zwar waren auch Erwachsene einmal Kinder, doch im Prozess des Aufwachsens und mit wachsendem „Erfahrungsvorsprung“ vergessen sie zumeist, wie es ist, klein [ein Kind] zu sein. Ein Phänomen, das Janusz Korczak u. a. in „Wenn ich wieder klein bin“ (1926) aufgreift, um die Geschichte eines wieder zum Kind gewordenen Lehrers zu erzählen, der erfahren muss, was es bedeutet, (wieder) klein zu sein und von den Erwachsenen nicht verstanden zu werden. In seiner Arbeit „Über Gastfreundschaft“ (2000) versucht Derrida eine Ethik der Dekonstruktion zu formulieren und verschiedene Figuren des Fremden zu skizzieren. Derrida fragt nach dem Recht des Fremden, fremd und anders zu bleiben. Bei ihm scheint die Frage des Fremden als eine Frage des Fragens [oder Zuerst-Fragens] auf. Ist es gastfreundlich, dem Ankömmling Fragen [wie bspw. „Wo kommst du her?“

4.1 Über Kindheit

291

und „Wie ist dein Name?“] zu stellen oder beginnt Gastfreundschaft damit, dass man dem Ankömmling ohne Fragen begegnet (vgl. Derrida 2000: 3) [und ihm die Möglichkeit gibt, selbst Fragen zu stellen]? In Janusz Korczaks Deskription nimmt das Kind die Position des Anderen durch eine explizite Zuschreibung als Fremden ein. Ihm wird die Möglichkeit eingeräumt, sowohl Fragen zu stellen, als auch Fragen gestellt zu bekommen, wobei die Tatsache anders zu sein und das Recht, anders sein zu dürfen, kein spezifisches Verhalten vom Kind einfordert (vgl. Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 107). Hier besteht ein Verweisungszusammenhang zu seiner „Pädagogik der Achtung“, denn wenn „wir [die Erwachsenen] zur Achtung vor dem Kind und zum Vertrauen zu ihm heranwachsen, wenn es selbst Vertrauen gewinnt und sein Recht artikuliert – wird es weniger Rätsel und Fehler geben“ (SW Bd. 4: 45). Anders- und Fremdheit zeichnet sich bei Derrida durch eine Form von Gastfreundschaft aus, die darüber bestimmt, mit welchem Grad von Offenheit dem Anderen und Fremden begegnet wird. Er unterscheidet vier Typen: • Der Ausländer als Fremder (xenos), zu dem auf Distanz gegangen und dem mit Verlegenheit begegnet wird, • der Fremde als Feind, der bedrohlich und mitunter gefährlich wirkt, • der Fremde als Parasit oder Schnorrer, dem unterstellt wird, dass er als Eindringling die ihm entgegen gebrachte Gastfreundschaft ausnutzt oder • der Fremde als Gast, dem mit Gastfreundschaft begegnet wird (vgl. Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 107 f.). Auch die Einstellung zum Kind kann durch Derridas Prisma der Gastfreundschaft betrachtet werden. Janusz Korczaks Forderung, den Kindern durch die „Magna Charta Libertatis“ eigene Rechte zu verleihen, erscheint im Kontext der im Sinne von (4) verstandenen Gastfreundschaft als ein Versuch, sowohl den Status des Kindes als Anderen und Fremden zu bestimmen, als auch die Gastfreundschaft in Bezug auf das Kind [als Mit-Menschen] zu erweitern. Die „Magna Charta Libertatis“ sollte das Kind als Anderen und Fremden gegen jede negative Auslegung schützen, ähnlich wie es Derrida in Bezug auf das Konzept des Fremden als Parasiten beschreibt (vgl. ebd.: 108). Der progressive Charakter seines [Janusz Korczaks] Denkens manifestiert sich in der Idee, dass sich die Art und Weise, wie das Kind behandelt wird, verändert, wenn ihm seine Rechte tatsächlich gewährt werden. Denn „das Kind ist ein Fremdling, es versteht die Sprache nicht, es kennt den Verlauf der Straßen nicht, es weiß nichts von den Gesetzen und Gebräuchen. Manchmal möchte es sich lieber selbst umschauen; wenn es schwierig wird, bittet es um einen Hinweis, um einen Rat. Es braucht einen Führer, der auf seine Fragen höflich antwortet. Laßt uns 291

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Achtung haben vor seiner Unwissenheit“ (SW Bd. 4: 402). Auch bei Janusz Korczak scheint – wie bei Derrida – die Frage des Fremden als eine Frage des Fragens [und Zuerst-Fragens] auf, weil dem Kind die Möglichkeit gewährt werden soll, selbst Fragen zu stellen, wenn es Hinweise oder Ratschläge braucht.

(2) Mit Bezug zu Lévinas Janusz Korczaks Kampf um die Anerkennung von Kinderrechten führt zu einer ethischen Dimension der Beziehung zum Kind als dem Anderen. An dieser Stelle kann ein Rekurs auf Lévinas unternommen werden, der das Anderssein dem Bereich der Ethik (und dort der Exteriotität) zuordnet und über eine rein phänomenologische Dimension hinausgeht. Er geht davon aus, dass eine direkte Begegnung mit dem Anderen über dessen Gesicht erfolge und der eigenen Identität einen Sinn gebe, auch wenn der Zugang dort abbreche, wo der Andere Verantwortung einfordere und fähig würde, selbst zu antworten (vgl. Lévinas 1998: 164 in Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 108). Der Andere kann demnach zur Fürsorge anrufen und wird durch seinen Anruf zu dem, für den man Sorge zu tragen habe (vgl. Kirchner 1997: 44). Eine Begegnung mit dem Kind ist für Janusz Korczak etwas, das einzigartig ist und zu inspirieren vermag. Sie gibt nicht nur ein Gefühl der Freude über seine Existenz, sondern zugleich auch der Existenz des Anderen einen Sinn: „Wer seid ihr, wunderbares Geheimnis, was tragt ihr in euch? Ich küsse euch in dem Bemühen: Womit kann ich euch helfen? Ich küsse euch, wie der Astronom den Stern küßt, der da war, der da ist, und der da sein wird“ (SW Bd. 4: 41).

Diese Art der Bewunderung kann auch in der Begegnung mit dem Anderen bei Lévinas gefunden werden. Der Philosoph geht davon aus, dass in dem Moment, in dem die Frage nach der Identität gestellt wird, eine nicht reduzierbare Beziehung mit dem Anderen eingegangen wird und er als ein anderer Mensch betrachtet wird. Die Frage nach dem Kind als dem Anderen gründet also auf einer grundsätzlichen Frage nach dem Anderen überhaupt. Für Lévinas ist der Andere ein anderer Mensch – also das Individuum, das ihm begegnet. Es wird aber nicht wegen seines Charakters, seiner Physiognomie oder Psychologie, sondern aufgrund der Alterität des Anderen zum anderen Menschen. Sofern bspw. der Schwache und Arme, die Witwe oder das Waisenkind dem Reiche[re]n oder Mächtige[re]n begegnet, ist der intersubjektive Raum nicht symmetrisch (vgl. Lévinas 1999: 93 in Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 109). Der Mangel an Symmetrie unterstreicht die dominierende Position einer Entität, die eine stärkere und privilegiertere Position einnimmt. Mit Bezug zu Lévinas geschieht dies, weil jede Entität auf ihre eigene Art in eine Beziehung mit dem Anderen eintritt, die keine symmetrische Reflexion der Existenz eines anderen

4.1 Über Kindheit

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Menschen aufweist. Diese Asymmetrie im Verhältnis zum Anderen und der aus ihm resultierende Unterschied bilden die Grundlage für die Selbsterkenntnis und sind für die Selbstwerdung unverzichtbar. Janusz Korczak hat eine Asymmetrie im Generationenverhältnis [in der Beziehung des Erwachsenen zum Kind] erkannt und ein Grundgesetz für das Kind formuliert. Die „Magna Charta Libertatis“ schlug eine bestimmte Ordnung vor und respondierte mit der Andersheit des Kindes. Es scheint, als habe er durch die Begegnung mit dem Kind für das Kind Verantwortung übernommen. Die Kinderrechte beruhen schließlich auf dem, was Janusz Korczak während seiner Arbeit mit dem Kind und seiner Umwelt erlebt hat. Er gestand dem Kind eine eigene Meinung zu und hegte die Erwartung, dass sich durch die Anerkennung der Kinderrechte auch die Beziehung des Kindes zum Erwachsenen verändern würde: „Es hatte sich in mir die Einsicht […] herauskristallisiert und bestätigt, daß es das erste und unbestreitbare Recht des Kindes ist, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen in Bezug auf seine Person zu nehmen. Wenn wir zur Achtung vor dem Kind und zum Vertrauen zu ihm heranwachsen, wenn es selbst Vertrauen gewinnt und sein Recht artikuliert – wird es weniger Rätsel und Fehler geben“ (SW Bd. 4: 45).

Lévinas betont wie Janusz Korczak die ethische Dimension in der Beziehung zum Anderen und erkennt in ihr das Element des Strebens nach dem Guten, dem Wissen über den Anderen und sich selbst. Man könnte sagen, dass Andersheit und der Andere irreduzibel und unentbehrlich werden und jeder Versuch, den Unterschied zwischen den Entitäten zu verwischen, zum Scheitern verurteilt ist, weil der Andere immer der Andere bleiben wird. Der Andere ist das, was man selbst nicht ist – ist man bspw. stark, ist der Andere schwach (vgl. Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 110). Auch Janusz Korczaks Pädagogik konzentriert sich auf die individuellen Merkmale eines Kindes und erkennt das einzelne Kind in seiner Individualität bzw. Einzigartigkeit an. Seine ethische Beziehung mit dem Kind als dem Anderen führte zu einer Verantwortlichkeit, die zur Grundlage für die Bildung sozialer Beziehungen wurde. In Bezug auf seine Arbeiten ist an dieser Stelle aber noch einmal anzumerken, dass sie vor dem Hintergrund der Zerrüttung und dem Unverständnis in Bezug auf das Kind entstanden sind. Janusz Korczak verfolgte das Ziel, die Rechte des Kindes mit den Rechten der Erwachsenen in Einklang zu bringen, statt ihm besondere Rechte einzuräumen (vgl. ebd.: 111).

(3) Mit Bezug zu Ricœur Den Abschluss bildet ein Rekurs auf Ricœur, denn der französische Philosoph gilt als Begründer einer hermeneutischen Phänomenologie und seine Schriften 293

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bieten auch für andere wissenschaftliche Disziplinen wie der meinen produktive Anknüpfungspunkte. Ricœur hat sich wie Lévinas mit der Andersheit des Anderen beschäftigt und in seiner Philosophie kann Alterität auf der Ebene des eigenen Körpers erfahren werden, der ein Körper unter anderen ist. Der Andere bleibt nicht der Fremde, sondern kann mir ähnlich sein, weil auch er spricht, denkt und Wünsche hegt (vgl. ebd.: 111). Janusz Korczaks Anerkennung der Ähnlichkeit zwischen dem Erwachsenen und dem Kind erzeugt eine Beziehung und vermindert, wenn auch nicht vollständig, die Asymmetrie, die sich aus der radikalen Alterität des Anderen ergibt (vgl. Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 112). Die Kategorien des Kindes unterscheiden sich von denen der Erwachsenen, so dass die Lebenswelt des Kindes mit Hieroglyphen vergleichbar ist – Schriftzeichen, die erst in die Sprache der Erwachsenen zu übersetzen sind: „Das Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, von denen du nur einen Teil zu entziffern vermagst; einige kannst du löschen oder nur durchstreichen und mit einem Inhalt füllen“ (SW Bd. 4: 13).

Janusz Korczak fordert deshalb vom Erzieher und der Erzieherin: „Sei du selbst – suche deinen eigenen Weg. – Lerne dich selbst kennen, ehe du Kinder zu erkennen trachtest. – Mache dir klar, wo deine Fähigkeiten liegen, ehe du anfängst, den Kindern den Bereich ihrer Rechte und Pflichten abzustecken. – Und unter ihnen allen bist du selbst ein Kind, das du vor allem kennenlernen, erziehen und formen musst“ (SW Bd. 4: 147).

Ricœurs Konzept des Anderen bezieht sich auf die Kategorie der Anerkennung, die dem Anderen eine spezifische Position einräumt (Ricœur 2004: 213 in Stȩpniewska-Gȩbik 2014: 112). Daran anschließend, kann von einem Kampf um Anerkennung spezifischer Forderungen bezüglich der Gleichbehandlung aller Arten von Andersartigkeit gesprochen werden, die innerhalb derselben institutionellen Struktur in Bezug auf soziale Bewegungen wie auch ethnische Gruppen oder Minderheiten funktionieren. Ricœur geht davon aus, dass Identifikation notwendig ist, um die Subjektivität des Anderen anzuerkennen. Sie ist ein Akt der Dankbarkeit für seine Subjektivität, die gegenwärtig gemacht wurde (vgl. ebd.: 112). Entität wird zuerst identifiziert und dann anerkannt. Der Prozess findet am Übergang von der asymmetrischen Beziehung zur gegenseitigen Anerkennung statt. Im Sinne Ricœurs nimmt die Frage der Konstitution des Phänomens des Anderen eine paradoxe Wendung, weil das Anderssein des Anderen wie jede andere Andersheit im Menschen angelegt ist und vom Menschen begründet wird. Der Andere konstituiert sich für sich selbst als das Ich, das Subjekt der Erfahrung. Der Prozess der Identifikation

4.1 Über Kindheit

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und der Anerkennung ist für den Anderen von Bedeutung, weil er es ermöglicht, sich selbst als jemanden in einer bestimmten Beziehung zu definieren. Ricœur verdeutlicht diesen Aspekt durch die Analyse von Familienbeziehungen, wobei die gegenseitige Anerkennung der Eltern in gewisser Weise die Identifikation des Kindes bestimmt und sie ein Gefühl der Selbsterkenntnis innerhalb der Familie definieren (vgl. ebd.: 112). Auch Janusz Korczak weist in „Das Kind in der Familie“ auf die Determinanten, die das „Funktionieren“ des Kindes in (s)einer Familie beeinflussen, hin. Sein Bestreben, dem Kind sein Recht zuzugestehen, und sein Wirken im Bereich der Bildungsberatung sollten eine Veränderung der pädagogischen Atmosphäre befördern, die es dem Kind ermöglichen sollte, als der Andere bzw. Fremde anerkannt zu werden (vgl. ebd.: 113). Die „Magna Charta Libertatis“ war ein Versuch der Definition, wie das Kind ist und was aus seiner Spezifik anders zu sein, folgen kann. Seine pädagogische Arbeit, die auf einem medizinischen Verständnis beruhte und durch eine bemerkenswerte Wahrnehmungs- und Kritikfähigkeit wie auch Neugier charakterisiert war, orientierte sich weitgehend an der Anerkennung des Kindes als einem Anderen und Fremden. Auf der einen Seite ist das Kind der Andere / Fremde, weil es sich vom Anderen [dem Erwachsenen] unterscheidet. Auf der anderen Seite ist es der Andere / Fremde, weil die Interaktion des Erwachsenen mit dem Kind durch vielfältige Barrieren, wie etwa Sprache oder Kognition, erschwert sein kann. Das Kind tritt als lernendes Subjekt in eine asymmetrische Beziehung zum Erwachsenen ein und die Art und Weise, wie das Kind wahrgenommen wird, hängt in hohem Maße von seinem Gegenüber ab. Seine Anerkennung bestimmt über die Rolle, die das Kind übernehmen kann und hilft ihm, ein eigenes Gefühl der Selbsterkenntnis zu entfalten (vgl. ebd.: 114).

Resümierend Es scheint lohnenswert, den Aspekt einer Asymmetrie im Generationenverhältnis noch einmal aufzugreifen und zu vertiefen. Sie beruht auf der Missachtung des Kindes, „weil es nichts weiß, nichts ahnt, nichts voraussieht“ (SW Bd. 4: 389). Erwachsene haben dem Kind gegenüber einen Vorsprung in Bezug auf Wissen und Erfahrung. Sie kennen bereits die Anforderungen, Erwartungen und Problemstellungen des Lebensvollzugs, die mit materiellen Sorgen, starken Versuchungen aber auch Erschütterungen verbunden sind. „Dieses Fremde da, das sich bewegt, ist ein Buch, das in der einzigen Sprache geschrieben ist, die er nicht versteht – der Sprache des Lebens. Aus fünf ihm bekannten Ausdrücken muß er eine ganze Seite entziffern; das würde er vielleicht noch schaffen, denn er hat ja Mathematik gelernt – also kann er Rätsel lösen. Aber von den zehn Ausdrücken, die er versteht – widersprechen drei einander“ (SW Bd. 7: 432). 295

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Der O-Ton Janusz Korczaks zum Kind als Fremden lässt das Kind als Rätsel in Erscheinung treten, vor dem die Erwachsenen stehen und das sie nur lösen können, wenn sie die „Sprache des Lebens“ (verstehen) lernen. Durch die Bezeichnung des Kindes als unbekannte Größe (vgl. SW Bd. 4: 202) wird deutlich, dass Kindheit und Kindsein im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert noch nicht in Gänze erforscht waren bzw. sich eine Kindheitsforschung als interdisziplinäres Forschungsgebiet noch nicht etabliert hat. Mit dem „Rätselhaften“ sind vor allem Ethnologen und Ethnologinnen konfrontiert. Sie setzen sich mit Fremdheit auseinander, die sie introspektiv verstehen wollen. Ihnen geht es vor allem um das Verständnis einer subjektiven Weltsicht, das nur über die Teilhabe an der Welt aufgebracht werden kann (Malinowski 1922 in Schrödter 2005: 64). In Bezug auf das Kind als „Hieroglyphen-Text“ (Kirchner 2003: 288) war auch Janusz Korczak ein Ethnograph. Dieser Gedanke ist nicht neu, sollte aber noch einmal geschärft werden, weil er als ein Erzieher in der ihm fremden Welt des Kindes agierte.

4.2

Kindheit und Erziehung im „Dom Sierot“

4.2

Kindheit und Erziehung im „Dom Sierot“

Das „Dom Sierot“ war ein Ort außerfamilialer Erziehung. Es ermöglichte dem Kind, in einem Personalverband aufzuwachsen, dessen Atmosphäre als familiär beschrieben wird. Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska werden als „Stiefeltern“ und die Zöglinge als „Geschwister“ erinnert. Das Waisenhaus bildete eine überschaubare Gemeinschaft, die von allen Seiten auf die Gegenwart hin offen war. Die mit den Bedingungen des Aufwachsens verbundenen Aufgaben, waren in eine Personalbeziehung zwischen dem Kind und den Erziehern und Erzieherinnen eingebettet (vgl. Jouhy Bd. IV 1988: 144). Hinzu kam, dass sich jedes Kind durch die vorgegebene Ordnung den Abläufen des täglichen Lebens verpflichtet fühlte (vgl. ebd.: 144). Kindheit ist ein generationell konstruiertes Ordnungsmuster und Bilder vom Kind erfüllen für die Erziehungswissenschaft Funktionen der Deutung, Einstellung, Handlung und Legitimation. Die historische Kindheitsforschung ist ein noch recht junges Forschungsfeld und Kindheit erscheint in ihrem Diskurs häufig als Utopie, Mythos, Erinnerung oder Forschungsgegenstand (Berg 2003 in Klika 2013: 688). Jüngere Studien beziehen sich vor allem auf das 20. Jahrhundert und folgen in ihrer theoretischen Konzeption (seit 1945) dem Verweisungszusammenhang von Individualisierung und Modernisierung. Dorle Klika betont, dass Kinder dabei als eigene sozialstrukturelle Bevölkerungsgruppe untersucht, zumindest konzeptionell

4.2 Kindheit und Erziehung im „Dom Sierot“

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als selbständige Akteure beschrieben und als gesellschaftliche Wesen wahrgenommen werden, die dazu in der Lage sind, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen (vgl. ebd.: 694). Indem sie Kinder als Akteure fasst, unterstellt sie ihnen gleichzeitig auch Handlungsfähigkeit. Es ist im Folgenden danach zu fragen, welche Möglichkeiten des Kindseins das „Dom Sierot“ geboten hat und wie Erziehung und Kindheit im Waisenhaus konkret ausgestaltet wurden. Die folgenden Ausführungen werden sich auf den Ergänzungsband „Janusz Korczak in der Erinnerung von Zeitzeugen“ (1999) beziehen, um Erziehung und Kindheit im Waisenhaus in einer Retrospektive zu beschreiben. Der „Zeitzeugenband“ wurde als Quelle bisher kaum in die erziehungswissenschaftliche Forschung einbezogen, auch wenn ihn Friedhelm Beiner [zu Recht] als „wichtiges und spannendes Zeitdokument mit Berichten rückblickender Zöglinge, Mitarbeiter und Zeitgenossen“ (Beiner 1999: 9) bezeichnet. Hinzu kommt, dass er die einzige Quellensammlung dieser Art ist, in der sich Janusz Korczaks ehemalige Zöglinge und Weggefährten / Weggefährtinnen an die Zeit mit ihm zurück erinnern. Das „Dom Sierot“ wird auch in ihm zum „Mnemotop“, einem Erinnerungsort, der die subjektive Wahrnehmung der Vergangenheit sowohl in individuellen als auch in Gruppenkontexten forciert und ihre je eigenen Memoiren aber auch Geschichtsbilder zum Ausdruck bringt. Im Zeitzeugenband führen die Erzählungen von Erwachsenen zum Verständnis von Kindheit. Die Textsammlung entstand in einem Prozess erzählter Geschichtsschreibung (Oral History), der von der Polnischen, Israelischen und Deutschen Korczak-Gesellschaft initiiert wurde. Die Erinnerungen an Janusz Korczak wurden entweder von Forschungsteams während eines Interviews oder von den Zeitzeugen und -zeuginnen selbst schriftlich festgehalten. In den Berichten über den Erziehungsalltag im „Dom Sierot“ kommen diejenigen zu Wort, die vom pädagogischen Experiment in der Krochmalna Straße „betroffen“ oder an ihm beteiligt [und zum Zeitpunkt des „Zeitzeugenprojektes“ noch am Leben] waren. Es ist an dieser Stelle nicht mehr seine – die „Vogelperspektive“ Janusz Korczaks – sondern die „Froschperspektive“ ehemaliger Zöglinge, Praktikanten und Praktikantinnen, von der aus ich mich dem Kindsein im „Dom Sierot“ annähern möchte. Die Oral History bringt als Methode Schwierigkeiten mit sich und eröffnet gleichzeitig Möglichkeiten für eine historische Kindheitsforschung. Manuela du Bois-Reymond betont, dass sich in Bezug auf die Rekonstruktion von Kindheit die Rekonstruktionsarbeit gewissermaßen verdoppelt, weil sich die Zeitzeugen und -zeuginnen als Erwachsene nicht nur an die vergangene Lebensphase, sondern auch an sich selbst als Kinder (Nicht-Erwachsene) und Jugendliche zurück erinnern, indem sie aufgefordert werden, eine Selbst- und Fremdperspektive auf ihr Leben einzunehmen (vgl. du Bois-Reymond 2001: 221). Die Aufforderung, 297

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sich an den Erziehungsalltag im „Dom Sierot“ zu erinnern, ließ die Zeitzeugen und -zeuginnen zwischen verschiedenen Erinnerungsfragmenten auswählen und Schwerpunkte setzen. Weil es unmöglich ist, sich an alles zu erinnern, beruhen ihre Erinnerungen auf dem, woran sie sich [noch] erinnern [wollten], so dass aus dem Zusammenspiel von Vergessen und Erinnern eine bestimmte Interpretation ihrer Vergangenheit erwuchs (vgl. ebd.: 221). Problemtisch ist außerdem, dass ich am Prozess des Erinnerns nicht teilhatte, sondern andere Forscher und Forscherinnen die erlebte(n) (Lebens-)Geschichte(n) erzählt oder geschrieben bekommen haben. Es geht aus den einzelnen Texten leider nicht hervor, welche Fragen im Detail gestellt wurden, auch wenn die Zeitzeugen und -zeuginnen auf einzelne Bezug nehmen. Originalerinnerungen und Eigeninterpretationen mit (m)einer Meta-Interpretation zu verbinden, ist schwierig, weil es nicht meine (Nach-)Fragen sind, die bestimmte Erinnerungskomplexe (nicht) auslösen konnten. Zudem hängen Erzählungen über Kindheit auch immer vom Geschlecht, dem später erlernten Beruf und dem Milieu ab. Über den weiteren Lebensverlauf der Zeitzeugen und -zeuginnen sind aber nur Eckdaten und wenige Details aufgenommen worden. Die Zöglinge, die sich im „Zeitzeugenband“ an das Waisenhaus zurück erinnern, haben alle den Holocaust überlebt und konnten auf eine bewegte Geschichte mit persönlichen Schicksalen zurückblicken: Shimon Agasi wanderte nach Israel aus; Ignacy Cukierman emigrierte nach Kanada; Adam Debiński floh nach Kriegsausbruch in die ehemalige UdSSR und wanderte anschließend mit seiner Frau Anna und seinem Bruder nach Israel aus; Jakub Dodiuk emigrierte nach Frankreich und arbeite als Täschner; auch Alina Edestin war nach Frankreich gegangen, wo sie als Choreographin für Kindertanzgruppen arbeitete; Samuel Gogol überlebte das Konzentrationslager Auschwitz und ließ sich in Israel als Künstler und Musiker nieder; auch Abram Hurman wanderte nach Israel aus und wurde Kaufmann; Mira Kaspi ging nach Israel und wurde Modeschöpferin; Sara Kremer emigrierte nach Palästina und wurde Schriftstellerin; Wolf Lejbman wurde Schlosser und lebte bis zu seinem Tod in Dänemark; Gerszon Mandelblat lebte bis zu seinem Tod in den USA; Shlomo Nadel emigrierte nach Israel und besaß ein eigenes Fotografiegeschäft; Seweryn Nutkiewicz verdiente in Israel seinen Unterhalt als Lohnarbeiter; Joseph Steinhart verstarb in den USA; Michał Tyler verbrachte seinen Ruhestand in Australien und Izrael Zyngman arbeitete in Tel-Aviv in einer Schlosser-Werkstatt. Keiner der ehemaligen Zöglinge verstarb in Polen, alle waren geflohen bzw. nach Amerika, Westeuropa, Israel oder Palästina ausgewandert. Sie verdienten bspw. als Kaufmann, Handwerker (Schlosser) oder im Gewerbe (Täschner) ihr Geld. Für den Beruf des Täschners benötigt man vor allem Hand- und Fingergeschicklichkeit und in gewisser Weise auch Kreativität – über die auch Modeschöpferinnen, Choreo-

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graphinnen, Schriftstellerinnen oder Künstler verfügen [müssen]. Die ehemaligen Zöglinge haben – soweit bekannt – achtbare oder künstlerisch-ästhetische Berufe ergriffen. Neben ihnen haben sich im „Zeitzeugenband“ auch ehemalige Bursisten und Bursistinnen bzw. Erzieher und Erzieherinnen an ihre Zeit im „Dom Sierot“ zurück erinnert: Józef Arnon ist nach Palästina ausgewandert und wurde Direktor einer Kibbuz-Schule, er stand noch lange mit Janusz Korczak in Briefkontakt; Roman Bertisch wurde aufgrund von Arbeitslosigkeit Praktikant im Waisenhaus und war bis zu seiner Pensionierung Direktor einer Schule in Israel; Łucia Gold überlebte Auschwitz und Dachau und war langjährige Mitarbeiterin in verschiedenen Waisenhäusern; Klara Maayan (Klara Münzberg) war 1937 bis 1939 Praktikantin im „Dom Sierot“ und wurde Lehrerin in Israel; Ida Merżan war Erzieherin und später Leiterin der Kolonie „Röschen“; Ada Posznańska-Hagari war die Tochter des Oberrabbiners von Warschau und Praktikantin in der Krochmalna Straße, sie emigrierte nach Israel und arbeitete als Psychologin in einem Kibbuz und Michael Wróblewski, der 1931 als Bursist im Waisenhaus angefangen hat, war bis 1942 als Erzieher im „Dom Sierot“ tätig. Später lebte er mit seiner Frau in der Schweiz und in Schweden. Janusz Korczak hat die Bursisten und Bursistinnen in der Burse tatsächlich auf eine bzw. ihre erzieherische Tätigkeit vorbereiten können, denn die Beispiele zeigen, dass ihre Berufsbiographien einen konstanten Weg beschritten. Sie waren zeit ihres Lebens in Bildungs- und Erziehungsinstitutionen tätig, so dass ihr beruflicher Werdegang keine Brüche aufzeigt. Die Darstellung von Kindheit im „Zeitzeugenband“ kann das Wissen über vergangene Kindheiten [der Vorkriegsjahrzehnte in Warschau] innerhalb einer subjektorientierten Alltagsgeschichte erweitern (vgl. du Bois-Reymond 2001: 231). In „Kindheit und Erziehung in der Erinnerung von ehemaligen Zöglingen“ (4.2.1) wird ein Wechsel von der Selbst- zur Fremdperspektive vollzogen. Als Quelle werden nicht mehr die „Gesammelten Werke“, sondern der „Zeitzeugenbericht“ herangezogen. Die Gliederung und Struktur des nächsten Kapitels wird sich an den Erinnerungsschwerpunkten der ehemaligen Zöglinge, Praktikanten und Praktikantinnen abarbeiten und zeigen, wie sie das pädagogische System in einer Retrospektive erinnerten und einschätzten (4.2.1). Außerdem werde ich analysieren, inwiefern Janusz Korczak Kindheit als Moratorium gestaltet hat und das „Dom Sierot“ als Schutz- und Schonraum (4.2.2) in Erscheinung getreten ist.

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4.2.1 Kindheit und Erziehung in der Erinnerung von ehemaligen Zöglingen Von der Familienkindheit zur Kindheit im „Dom Sierot“ Die Familie stellt im Selbstverständnis moderner europäischer Gesellschaften eine der bedeutendsten Lebensformen dar. Sie ist auf biologischer Ebene für die Reproduktion verantwortlich und nimmt auf sozialer Ebene als Sozialisationsinstanz eine Schlüsselfunktion in Bezug auf die Erziehung, Bildung und Fürsorge Heranwachsender ein. Die Familie bildet eine Kerneinheit des Verwandtschaftssystems, der die Aufgabe der Überdauerung des gesellschaftlichen Lebens in der Generationenfolge obliegt (vgl. Harney / Groppe und Honig 1997: 159). Im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung von Familie fällt auf, dass sie nicht als historisch homogenes Phänomen beschrieben wird, sondern seit der Antike einer immensen Wandlungsdynamik unterliegt (vgl. Ecarius / Köbel und Wahl 2011: 16). Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert hat sie sich vor allem durch die Reduktion der Familiengröße, die voranschreitende Ächtung der Prügelstrafe und die Möglichkeiten frühkindlicher Pädagogik außerhalb des Familienheimes verändert. Seit den 1920er Jahren nahm schließlich die Sorge um die Familie zu und die „bürgerliche Familie“ konnte sich als Familienleitbild durchsetzen, das die Epoche in besonderem Maße prägte. Familienkindheit ist das Stichwort, das als erforderliche Konsequenz gesellschaftlicher Modernisierung zum Ausdruck bringt, dass Heranwachsende in einem höherem Maße und in besonderer Weise auf ihre Familien verwiesen und angewiesen sind, um Kompetenzen erwerben, eine Identität entwickeln und einen eigenen Platz in der Gesellschaft finden zu können (vgl. Engelbert et al. 2000: 9). Deshalb ist es notwendig, dass das Kind in der Familie Zuwendung erfährt und nicht nur versorgt, sondern auch gefördert wird. Zudem stellt Familie gerade in den ersten Lebensjahren den wichtigsten Lebensort dar, weil dort das Kind grundlegende Bindungserfahrungen macht, diffuse Sozialbeziehungen eingeht und sich die Kultur wie auch die sozialen Praxen der Familie aneignen kann. In der industriellen Zeit zählt neben der Bürgerfamilie auch die Proletarierfamilie mit ihren weiteren Formen (Fabrikarbeiter-, Heimarbeiter- und Hausindustriefamilie) zu den Familienformen (in) der Stadt. Familie war im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert u. a. von einer zunehmenden Emotionalisierung und Intimisierung der familialen Binnenstruktur, der Individualisierung der Ehe (vgl. Nave-Herz 2013: 27), der Trennung von Arbeiten und Wohnen, aber auch von der Emanzipation der Frau, der Frauenarbeit, abwesenden Vätern (im Krieg) und der Emanzipation des Kindes in Folge bildungspolitischer Veränderungen geprägt.

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Nachfolgend möchte ich die Merkmale von Kindheit des jüdischen Proletariats [in Warschau] herausarbeiten, weil ausschließlich Kinder aus jüdischen Proletarierfamilien im „Dom Sierot“ aufgenommen wurden. Das jüdische Erziehungswesen war im 19. und 20. Jahrhundert im Wesentlichen von der Sozialstruktur der Juden und Jüdinnen geprägt. In Polen waren bis zu 40 Prozent im Handwerk beschäftigt und rund 35 Prozent im Handel tätig. Mit dem Wachstum der (Groß-)Industrie sind die Verdienstmöglichkeiten gesunken, weil die Konkurrenz zugenommen hat und die Waren jüdischer Händler / Händlerinnen regelmäßig von der christlichen Mehrheitsgesellschaft boykottiert wurden. Viele jüdische Familien gehörten in Warschau den armen (und ärmsten) Schichten an, denn es mangelte ihnen sowohl an Kapital als auch an Einkommen. Ihre Schichtzugehörigkeit bestimmte wiederum darüber, wo (in welchen Vierteln und Straßenzügen) und wie die Familien lebten. Die ungleiche Verteilung materieller wie immaterieller Ressourcen beeinflusste dann auch das Aufwachsen der Kinder und die Möglichkeiten ihres sozialen Aufstieges. Zu Beginn gehe ich auf sechs Beispiele näher ein. Mich interessiert dabei, aus welchen Familien die Zöglinge des „Dom Sierots“ stammten und, ob sie bis zu ihrer Unterbringung in der Krochmalna Straße 92 eine „Familienkindheit“ erlebt haben. Außerdem versuche ich die Möglichkeiten ihres Kindseins in ihren Familien zu beschreiben. Sara Kremer wurde in der Nähe von Warschau geboren und ihren Geburtsort beschreibt sie als klein und armselig (vgl. Kremer 1999: 13). Ihr Vater ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Er ließ fünf Kinder zurück, die ihre Mutter allein erziehen und versorgen musste. Sara kam mit sieben Jahren [in den 1920ern] in das „Dom Sierot“. Samuel Gogol war Halbwaise. Seine Mutter ist verstorben, als er dreieinhalb Jahre alt war. Sein Vater war Kommunist und hat als politischer Häftling im Lager „Bereza Kartuska“ (polnisch: „Miejsce Odosobnienia w Berezie Kartuskiej“172) gesessen. Samuel wuchs deshalb bei seiner Großmutter auf. Er wurde von seinen Onkeln verhätschelt (vgl. Gogol 1999: 15), von denen einer im „Dom Sierot“ beschäftigt war. Auch Ignacy Cukierman war Halbwaise. Sein Vater ist gestorben, als er zwei Jahre alt war. Er war das dritte von vier Kindern und im jüdischen Viertel in der Ostrowska-Straße in einer Souterrainwohnung in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen.173 Shlomo Nadel war Vollwaise und wuchs bei einer entfernten und kinderlosen Verwandten in Mszczonów174 auf. Er war zwar ihr „Augapfel“, wurde aber von 172 Das Lager diente der Isolation. Bereza Kartuska war bis 1940 der offizielle Name des Ortes, der heute zu Belarus (Weißrussland) gehört. 173 Auf seine Herkunft bin ich bereits im Kapitel 3.4.3 näher eingegangen. 174 Das Städtchen liegt etwa vierzig Kilometer südwestlich von Warschau. 301

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ihrem Mann (einem Schuster) häufig körperlich misshandelt. Shlomo galt als „schwerziehbares Kind“ (Nadel 1999: 62) und war von 1927 bis 1935 im „Dom Sierot“. Er ist der einzige Zeitzeuge, der von Gewalt bzw. Misshandlung in seiner (Pflege-)Familie berichtet. Michał [Motek] Tylers [Tylermans] jüngere Geschwister sind verstorben. Seine Kindertage beschreibt er als „schrecklich“, weil er in Wohnverhältnissen aufgewachsen ist, die man heute als „unmenschlich bezeichnen würde“ (Tyler 1999: 65). Sein Vater war Schachtelmacher und bewohnte mit seiner Familie eine Einzimmerwohnung in der Gȩsia-Straße 51. Er lebte 1929 bis 1936 im „Dom Sierot“. Wolf Leijbman war Halbweise. Er hatte drei Geschwister und eine kranke Mutter. Ihn habe die Straße erzogen und er sei ein lebhaftes, undiszipliniertes, nervöses und aufbrausendes Kind gewesen (vgl. Lejbman 1999: 91). Er war von 1927 bis 1934 in Janusz Korczaks Waisenhaus. Die sechs Beispiele zeigen, dass die Heimkinder aus Proletarierfamilien stammten, die als Heimarbeiter- und Hausindustriefamilien charakterisiert werden können. Motek Tylerman war der einzige, der noch Mutter und Vater hatte. Die anderen waren – mit Ausnahme von Shlomo Nadel – Halbwaisen. Ihre vererbten Lebenschancen resultierten aus sozialer Ungleichheit (qua Armut und ihrer jüdischen Religion). Ihre Wohnverhältnisse waren sehr bescheiden, mitunter sogar katastrophal in Bezug auf Platz, Komfort und Hygiene. Es war charakteristisch für Arbeiterfamilien, dass eine Trennung von Arbeits- und Wohnplatz erst dann erfolgen konnte, wenn die Väter für ihre Tätigkeit (bspw. in der Industrie) das Haus verlassen mussten. In Heimarbeiter- und Hausindustriefamilien war diese Trennung aufgrund von Wohnungsnot und Platzmangel noch nicht erfolgt. Wenn sich die Eltern, Alleinerziehenden oder Pflegepersonen nur eine Einzimmerwohnung leisten konnten, war der zur Verfügung stehende Raum sowohl Wohn-, Ess-, Schlaf- und Spielzimmer als auch Küche, Werkstatt und Arbeitsplatz in einem. Häufig mussten sich die Kinder mit mindestens einem ihrer Geschwister ein Bett teilen und der Raum, den sie bewohnen und für sich beanspruchen konnten, war sehr beengt und klein. Die Elendswohnungen verfügten nicht wie die Wohnungen der bürgerlichen Familien über Kinderstuben, die kindgerecht möbliert waren und allerlei Spielzeug vorhielten. Das proletarische Wohnungselend zwang die Kinder durch die Zusammenballung vieler Personen auf engstem Raum, sich die Straße als Kindheitsraum anzueignen, um Platz zum Spielen zu haben und sich bewegen zu können. Zudem blieb ihnen in den Wohnungen nicht viel Freizeit, weil die Verbindung von Wohnen und Arbeit sie zur Mitarbeit zwang und gleichzeitig ihre Kindheit verkürzte. Der Hinweis Wolf Leijbmans auf eine „Kindheit der Straße“ deutet einen Unterschied von einem „innen“ als „Haus“ [oder Salon] bzw. in der Familie und

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einem „außen“ als „Straße“ an. Die heterogenen Konnotationen des „innen“ und „außen“ verknüpfen die sozialräumliche Organisation von Kindheit und Jugend mit dem Prozess gesellschaftlicher Modernisierung, weil die „Straße“ mit dem Urbanisierungsschub im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Topos des pädagogischen Diskurses und einem Ort restaurativer / progressiver pädagogischer Projektionen geworden war (vgl. Zinnecker 1979: 728). „Straße“ bezeichnet aber nicht nur einen objektiven, primären Raum, der mit der Enge städtischer Wohnungen und ärmeren Bevölkerungsschichten kontrastiert, sondern auch einen „Möglichkeitsraum“, der den öffentlichen Raum erweitert (vgl. Harney / Groppe und Honig 1997: 177). Auch wenn sich im 20. Jahrhundert die Familialisierung als ein Kindheitsmuster durchsetzen konnte und sich das Leben der bürgerlichen Kinder weniger im öffentlichen Raum (der „Straße“) als vielmehr im Binnenraum oder in häuslichen Arrangements vollzogen hat (vgl. Mierendorff 2010: 29), waren die ehemaligen Zöglinge Janusz Korczaks von einer Ent-Familialisierung betroffen. Mit ihrem Um- bzw. Einzug in das „Dom Sierot“ ist die Verantwortung für ihre Pflege und Versorgung, Entwicklung, ihren Bildungsweg und Gesundheitszustand von den Eltern, nahen Verwandten und Pflegepersonen auf Zeit an Janusz Korczak und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen übergegangen. Die ehemaligen Zöglinge waren Voll-, Halb- oder Sozialwaisen. Den Status des Waisenkindes haben sie durch den Tod des Vaters, der Mutter oder beider Elternteile erhalten. Ihre Väter sind entweder als Soldaten im Ersten Weltkrieg oder im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1920 bis 1921) gefallen, wenn sie nicht gefangen genommen worden oder verwundet nach Hause zurückgekehrt sind.175 Mütter wurden zu Witwen, Alleinerziehenden und -ernährerinnen der Familie, wobei sie diese neuen Rollen nur so lange ausfüllen konnten, wie sie selbst nicht erkrankten. Wenn auch sie verstarben, wurden die Kinder häufig bei weiblichen und / oder fernen Verwandten untergebracht, selten auch bei Pflegepersonen außerhalb der Familie. Die ehemaligen Zöglinge des „Dom Sierots“ lebten, bevor sie in das Waisenhaus einzogen, in Familien bzw. Familien-ähnlichen Konstellationen. Alleinerziehenden-, Stief- und Pflegefamilien waren nicht mehr ungewöhnlich, so dass die Kinder weder auf der Straße hausten noch in anderen Institutionen der Kinderfürsorge untergebracht waren. Sie verfügten in der Regel über intakte emotionale Beziehungen und hatten ein Heim. Erst wenn die finanzielle und soziale Lage aussichtslos war, wurde von den Eltern, den pflegenden Angehörigen oder 175 Wobei nicht auszuschließen ist, dass auch die Väter an tödlich verlaufenden Krankheiten gestorben sind. Tuberkulose, Typhus oder Syphilis waren nicht nur Krankheiten, die Janusz Korczak im Berson-Bauman-Spital behandelte, an ihnen konnten auch Erwachsene erkranken und sterben. 303

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Pflegepersonen ein Aufnahmeantrag in das „Dom Sierot“ gestellt. Das Ersuchen nach öffentlicher Hilfeleistung im Kontext professionalisierter Hilfsangebote (vgl. Nölke 1996: 651) war freiwillig und nicht gegen den Willen der Betroffenen. In vielen Erinnerungen scheint auf, dass die Lebensumstände als „armselig“, „schrecklich“ und „unmenschlich“ beschrieben werden, weil die Familien verarmt oder arm waren und sich in prekären Lebenslagen befanden. Die jüdische Familie bzw. das jüdische Elternhaus galt in Osteuropa – und das habe ich bereits herausstellen können176 – als „Schnittpunkt jüdischen Daseins und somit als Ersatz für ein fehlendes Nationalbewusstsein“ (Barta 1975: 107). Die Erinnerungen der ehemaligen Zöglinge an ihr Herkunftsmilieu lassen vermuten, dass ihre Familien noch die ursprünglichen jüdischen Kulturwerte gelebt haben und sie weder ungläubig noch assimilatorisch / aufgeklärt (liberal) waren. Indizien dafür sind die Verortung der Familien im „jüdischen Proletariat“ und das „Jiddische“ als Familiensprache. Ob die Familien der Kinder als strenggläubig bzw. orthodox zu bezeichnen sind, lässt sich nicht (mehr) in Erfahrung bringen, doch dass die Eltern die geistige Strömung der Orthodoxie vertraten, ist nicht auszuschließen. Gerade weil die (streng-)gläubigen / orthodoxen Juden und Jüdinnen in der Gesamtgesellschaft häufig Fremde waren oder blieben, konnte ihnen auch die polnische Welt andersartig, nämlich als nicht jüdisch und in gewisser Weise fremd, erscheinen. Die familiale Erziehungssphäre war geschlossen und blieb dort weitgehend abgeschirmt, wo Familien in „jüdischen Siedlungen“ oder „jüdischen Vierteln und Straßenzügen“ unter sich blieben und die Konfrontationsmöglichkeiten mit der polnischen Welt selten(er) waren, so dass eine weltliche Erziehung von einer tradiert jüdischen übertroffen wurde (vgl. ebd.: 126). Dass die Erziehung in jüdischen Familien auf das zukünftige Leben der Kinder ausgerichtet war, hat seinen Ursprung im Alten Testament (vgl. ebd.: 107). Vater und Mutter erfüllten unterschiedliche Aufgaben, waren aber beide an der Erziehung der Kinder beteiligt, auch wenn die Mütter häufiger anwesend waren als die Väter, und sie die Kinder in größerem Umfang versorgten und pflegten. Die Väter galten als religiös-erzieherische Vorbilder und standen bei der Ausführung der zahlreichen religiösen und traditionellen Bräuche des Judentums vor (vgl. ebd.: 109). Sie sollten ihren Kindern ein (positives wie religiöses) Beispiel sein und die väterliche Erziehung „bewegte sich im ganz bescheidenen Rahmen ihres eigenen Milieus“ (ebd.: 110). Vielen der ehemaligen Zöglinge des „Dom Sierots“ fehlte eine 176 Der Exkurs „Familie als Ort des Wandels“ (2.4) hat sich mit dem Typus der jüdisch-liberalen Familie beschäftigt. Im Folgenden verschiebt sich der Fokus auf jüdische Familien, die den unteren Schichten angehörten und sich in der Regel noch nicht kulturell assimilieren konnten oder wollten.

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vorbildhafte Vaterfigur, wenn der Vater bereits verstorben (oder wie im Falle Samuel Gogols im Gefängnis) war. Sofern die Mutter noch lebte, war sie „auf Grund ihres keuschen Lebenswandels und als Hüterin eines gesitteten jüdischen Heimes […] im orthodox-jüdischen Osten eine hochgeachtete Persönlichkeit in der Familie“ (ebd.: 121). Jüdische Mütter hatten es besonders schwer, wenn sie vor die Vereinbarkeit von Mutter-sein und Beruf gestellt wurden, weil sie dann nicht nur für die Betreuung der Kinder, sondern auch mit eigener Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen mussten (im Übrigen unabhängig davon, ob sie Witwen waren oder nicht). Eine weltliche Bildung war ihnen in der Regel nicht zuteil geworden, so dass ihre Allgemeinbildung auf ein Minimum beschränkt blieb und die Erziehung ihrer Kinder nicht über das Religiöse hinausgehen konnte, das sie selbst von ihren Müttern vermittelt bekommen haben. Johannes Barta weist in seiner Monographie zur jüdischen Familienerziehung und dem jüdischen Erziehungswesen im 19. und 20. Jahrhundert darauf hin, dass in ostjüdischen [polnischen] Familien im Allgemeinen nach den strengen jüdischen Religionsgesetzen erzogen wurde, sofern nicht pädagogische Fähigkeiten der Eltern vorhanden waren. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Kinder körperlich gezüchtigt wurden, anstatt sie mehrmals mündlich zu ermahnen. Erziehung baute auf ein autoritäres Fundament. Ein Widerspruch gegen die elterliche Gewalt wurde nicht geduldet und alle erzieherischen Maßnahmen beruhten auf den „Weisungen alter Lehrmeister“ (vgl. ebd.: 118 f.). Hier erscheinen die Herkunftsfamilien der Zöglinge als Befehlshaushalt, in denen die Kinder zu Gehorsam und Disziplin erzogen werden sollten.

Der Übergang von der Familien- zur Institutionenkindheit Unterschiedliche Übergänge prägen den Lebenslauf menschlicher Existenz. Das Aufwachsen (jüdischer) Kinder [im Sinne von körperlichen Entwicklungen und biologischer Reifung] und kulturelle wie soziale Statuspassagen [bspw. die „Brit Mila“ (die Beschneidung), „das Abscheren“ (der erste Haarschnitt für jüdische Jungen im Alter von drei Jahren), das Eintreten in die Schule oder später die „Bar Mitzwa“, welche die Religionsmündigkeit markiert] standen und stehen für biographische Wandlungsprozesse, welche in zeitlich längeren und umfassenderen Entwicklungen zu verorten sind. Es ist ein besonders großer Schritt für ein Kind, von seiner Familie in eine pädagogische Institution einzutreten. Das Transitionsmodell von Wilfried Griebel und Renate Niesel (2004) zeigt Entwicklungsaufgaben auf individueller, interaktiver und kontextueller Ebene, deren Bewältigung sowohl von den Kindern als auch von ihren Eltern erwartet wird. Das Kind wird dabei vor die Herausforderung gestellt, starke Emotionen zu bewältigen, neue Kompetenzen zu erwerben, neue Beziehungen zu knüpfen, eine Rolle im Sozialgefüge zu finden und sich mit der neuen Lebensumwelt 305

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und ihrer Differenz zur familialen Umwelt auseinanderzusetzen (vgl. Griebel 2008: 247). Der Übergang von der Familien- zur Institutionenkindheit ging für Janusz Korczaks Zöglinge mit entscheidenden Veränderungen im Kindheitserleben einher, weil der Wechsel von der Familie in das Waisenhaus auch einen Wandel ihrer Identität nach sich zog. Die Berichte der ehemaligen Zöglinge haben gemeinsam, dass sie den Übergang von der Familie in das „Dom Sierot“ zum Thema machen. Sie erinnern die ersten Tage in der (noch) ungewohnten Umgebung sehr ähnlich: Für Sara Kremer war es anfangs schwer, denn sie fühlte sich verlassen, obwohl das Haus voller Kinder war. Ihr half Salunia, ein älteres Mädchen, das schon länger im „Dom Sierot“ lebte und ihr als „Beschützerin“ (Kremer 1999: 13) zur Seite gestellt wurde. Außerdem war ihr Janusz Korczaks verständnisvoller Umgang und Trost eine Hilfe zur Eingewöhnung. Alina Edestin lässt ihre Erinnerungen mit der ersten Nacht im Waisenhaus beginnen. Der Schlafsaal der Mädchen war ihr riesig erschienen, ganz in Weiß und mit vielen Betten, in denen sowohl jüngere als auch ältere Mädchen schliefen. Sie war ängstlich und hat weinen müssen, doch Janusz Korczak konnte auch sie beruhigen, weil er ihr mit Einfühlungsvermögen begegnete. Samuel Gogol hat am Tag seiner Ankunft einen „Pfleger und Beschützer“ (Gogol 1999: 15) erhalten, der bereits ein Bürger des Waisenhauses war und dem Neuankömmling sein Bett zeigte. Außerdem machte es ihm seine Erzieherin Rózia Lipiec leichter, die neue Umgebung und die anderen Kinder kennen zu lernen. Er hat die Nummer 21 bekommen und unter dieser Nummer seine Kleidung in ein Schränkchen gelegt. Samuel habe sich in der ersten Nacht „irgendwie seltsam“ (ebd.: 15) gefühlt, denn im großen Schlafsaal hatte er ein Bett für sich allein. Er fühlte sich erwachsen und war nicht mehr „Omis Szmulik“ (ebd.: 15). Auch er hat in der ersten Nacht geweint, denn das „Dom Sierot“ war für ihn „eine neue Welt, ein neues Leben“ (ebd.: 16). Ignacy Cukierman erinnert sich, dass er mit elf Jahren an einem Freitag im Juni von seiner Mutter in das „Dom Sierot“ gebracht worden war. Danach hat ihm Janusz Korczak die Haare geschnitten und ihm einen Betreuer zur Seite gestellt. Mit ihm konnte er Jiddisch sprechen, weil er selbst kaum Polnisch verstand und sprach. Ignacy Cuckierman hat die Nummer 20 erhalten. Izrael Zyngman wusste um die Tatsache, dass er im „Dom Sierot“ aufgenommen werden sollte. Das Waisenhaus war ihm vorher als „Besserungsanstalt“ (Zyngman 1999: 33) beschrieben worden, so dass er es mit der Angst zu tun bekommen hat. Er hat sich mit seiner Mutter an einem Freitag auf den Weg gemacht. Sie war während der Untersuchung anwesend und ist erst gegangen, als Izrael seinem Betreuer übergeben worden war. Er hat neben neuen Kleidern die Nummer 41 zugewiesen bekommen.

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Eine Zusammenschau der Berichte erweckt den Eindruck, dass die Aufnahme in das „Dom Sierot“ nach immer gleichem Muster erfolgt ist und sich die Kinder in der fremden Umgebung erst einmal verloren vorkamen. Die Mädchen und Jungen wurden nach der Bewilligung des Aufnahmeantrages zumeist von einem Elternteil (überwiegend der Mutter) in das „Haus der Waisen“ gebracht. Daraufhin wurden die Kinder zuerst von Janusz Korczak begrüßt (sofern er bereits im Hause war) und von ihm medizinisch untersucht, um auszuschließen, dass die Neuankömmlinge an ansteckenden Krankheiten oder unter schweren Erkrankungen litten. Wenn die Haare der Kinder von Läusen oder anderem Ungeziefer befallen waren, erhielten sie einen Kurzhaarschnitt. Die Kahlköpfigkeit diente der Hygiene und sollte die anderen Kinder davor schützen, dass das mitgebrachte Ungeziefer auch auf sie über ging. Den Neuankömmlingen wurde neue Kleidung ausgehändigt, die mit einer Nummer versehen war. Die Nummerierung war fortlaufend und immer, wenn ein Kind das „Dom Sierot“ verlassen hat, bekam das Kind, das als nächstes aufgenommen wurde, seine Nummer. Die Mädchen trugen Kleider177, Blusen und Schürzen, Zöpfe oder Pagenschnitte und manchmal sogar Schleifen im Haar; die Jungen im Sommer wie im Winter kurze Hosen178, Kniestrümpfe, Pullover und wenn es kühler war Jacken. Auch wenn sie gegen das Haareschneiden protestierten, wich Janusz Korczak nicht davon ab, dass die Jungen „bis auf die Kopfhaut geschoren sein mussten“ (Tarnowski 1981: 31). Das Gebot der Hygiene bedeutete ihm mehr, als das Bestreben der Jungen, sich untereinander nicht allzu sehr gleichen zu wollen, denn eine Frisur kann schließlich auch der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Geschmackes und der aktuellen Mode sein. Die Aufnahmeprozedur folgte einem Ritual, das als pädagogischer Neuanfang deutbar ist. Indem das Kind in die Krochmalna Straße 92 gebracht und Janusz Korczak zur Untersuchung anvertraut wurde, willigten die Eltern oder Pflegepersonen in die Aufnahme ihres (Pflege-)Kindes ein. Das Kind wurde danach räumlich und auf Zeit von seinen Bezugspersonen getrennt, was aber nicht unbedingt den Bruch mit dem Herkunftsmilieu und einen Kontaktverlust bedeuten musste. Doch dazu später mehr.

177 Die Kleider der Mädchen waren trist, aber Stefania Wilczyńska hatte sich dafür eingesetzt, dass sie mit Blumen bestickt wurden (vgl. Sachs 1987: 235). 178 In der bürgerlichen Gesellschaft galt die kurze Hose der Knaben sowohl als Zeichen der Kindheit als auch der verlängerten Abhängigkeit von den Eltern (vgl. Weber-Kellermann 1989: 162). Die kurze Hose war ein Symbol des bürgerlichen Standes und Janusz Korczak setzte sich über die Kleidungskonventionen der Stände hinweg, weil er mit den kurzen Hosen seine Zöglinge ausstattete, die – zumindest formal – nicht der bürgerlichen Gesellschaft angehörten. 307

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Zum Kennenlernen seines neuen Heims wurde dem Neuankömmling in der Regel ein älterer und erfahrenerer Zögling zur Seite gestellt, der schon länger im „Dom Sierot“ wohnte und die Heimregeln bereits gut kannte. Der Beschützer bzw. die Beschützerin zeigte ihm das Haus, erklärte die Regeln des Zusammenlebens und half dem Neuankömmling bei der Orientierung. Das Kind konnte sich seine neue Lebenswelt unter seinesgleichen erschließen. Der Beschützer und die Beschützerin war vor allem dann eine wahre Hilfe, wenn er oder sie auch Jiddisch sprechen konnte. Ignacy Cukierman fühlte sich in den ersten Tagen besonders verloren, weil er nicht verstehen konnte, was in polnischer Sprache gesprochen wurde. Seine Muttersprache war Jiddisch. Er hat zu Hause kein Polnisch gelernt, was ein Hinweis darauf ist, dass er bis zu seinem Einzug in das „Dom Sierot“ nicht mit der polnischen Welt in Kontakt getreten war. Die jiddische Sprache war im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert noch immer ein Bindeglied zwischen den Juden und Jüdinnen aller Länder. Die Sprache ist etwa 1.000 Jahre alt und war in Polen eine anerkannte Minderheitensprache, die trotz zahlreicher Eigenentwicklungen auf dem Deutschen basiert, aber auch verschiedene slawische und hebräische Einflüsse aufzeigt. Weil im „Dom Sierot“ nicht die Muttersprache der Kinder, sondern die Umgebungssprache bzw. Sprache der Mehrheitsgesellschaft und somit die Sprache Janusz Korczaks gesprochen wurde, werden in seinem Erziehungsmodell „patriotische Erziehungstendenzen“ (Barta 1975: 116) deutlich. In Bezug auf die Sprache zeigt sich, dass eine gemeinsame Zukunft bzw. eine Integration in der polnischen Gesamtgesellschaft (und nicht in der jiddisch-sprechenden Teilgesellschaft) forciert wurde. Die Neuankömmlinge standen in der ersten Nacht unter der besonderen Beobachtung von Janusz Korczak, der scheinbar immer dann zur Stelle war, wenn ihre Betreuer und Betreuerinnen bereits schliefen, die Kinder aber Trost suchten, um ihre Angst zu überwinden und Schlaf zu finden. Er handelte im Bewusstsein der Gefühle der neu aufgenommenen Kinder, weil er um die Verletzlichkeit der Kinderseele wusste und das Gefühl von Verlorenheit an einem noch unbekannten Ort nachvollziehen konnte (vgl. Ungermann 2006: 185). Janusz Korczak half auf diese Weise die Trennung von den Eltern (bzw. Pflegepersonen) zu verarbeiten und den Übergang der Kinder in die Institution zu erleichtern. Als Leiter des „Dom Sierots“ war er nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht für die Kinder da und gewann von Anbeginn ihr Vertrauen.

Wahrnehmung der „Hauseltern“ In der Regel ist die Familie der Ort, an dem die generationale Ordnung hergestellt und Kindheit gesellschaftlich organisiert wird. Als erste Sozialisationsinstanz vermittelt sie zwischen dem Kind und den gesellschaftlichen Normen, Anforde-

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rungen und Erwartungen. Das jüdische Elternhaus sollte im 20. Jahrhundert zum Gehorsam erziehen und ließ in der Regel keine Zweifel an der elterlichen Gewalt. Da aber nicht alle Eltern über ein pädagogisches Taktgefühl verfügten, wurde noch eine Hierarchie im Sinne einer Rangordnung gelebt. Die Kinder hatten sich den Eltern unterzuordnen und zu gehorchen. Ein autoritärer Erziehungsstil bedeutete aber nicht, dass die Heranwachsenden keine emotionale Zuneigung oder erzieherische Liebe und Anerkennung erfahren konnten und ihnen Hilfe im Sinne von Unterstützung oder Förderung versagt wurde. Dies zeigt sich u. a. an den Erinnerungen Samuel Gogols und Shlomo Nadels. Samuel Gogol wurde von seinen Onkeln verhätschelt und Shlomo Nadel war der Augapfel seiner Pflegemutter. Trotz der mitunter prekären Lebensbedingungen nahmen die Kinder eine besondere Position im jüdischen Heim ein. Der Glaube festigte ihre Erziehung und behütete sie im Rahmen der jüdischen Traditionen. Das „Dom Sierot“ war kein Eltern-, sondern ein Waisenhaus. Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska waren nicht die biologischen Eltern der Zöglinge, sondern ihre Hauseltern. Beide waren nicht in Liebe, sondern durch eine gemeinsame Idee vom Kind miteinander verbunden bzw. der Sache des Kindes verpflichtet. Im Folgenden möchte ich beschreiben, welche Rolle sie in der generationalen Ordnung eingenommen haben und wie sie als Hauseltern von den Heranwachsenden wahrgenommen wurden. Zwei Mädchen erinnern sich daran zurück, dass Janusz Korczak sie „mein Töchterchen“ (Kremer 1999: 13 und Edestin 1999: 38) genannt hat. Der Deminutiv, die grammatische Verkleinerungsform des Substantivs „Tochter“, stellte eine Nähe her, obwohl Janusz Korczak nicht ihr biologischer Vater war. Als soziale Vater-Figur baute er zu den Kindern auch über seine Sprache eine (emotionale) Beziehung auf und machte sie zu „seinen Kindern“. Samuel Gogol berichtet, dass die Kinder den Leiter des „Dom Sierots“ nicht fürchteten, sondern liebten. Dem Knaben, der allein unter Frauen aufgewachsen war, erschien Janusz Korczak nicht nur als Erzieher. Ihm hat eine Vaterfigur gefehlt, weil sein Vater im Gefängnis saß und es den Onkeln nicht gelungen war, ihn zu ersetzen. Zwar haben sie ihn verhätschelt, aber zu jener Zeit betüterten, verwöhnten oder verzogen Väter ihre Kinder nicht, sondern dienten vielmehr als Vorbilder und nahmen die Rolle geachteter Väter ein. Auch anderen Kindern war Janusz Korczak im Waisenhaus ein Vater geworden, obwohl sie ihn zugleich als „großes Kind“ (vgl. Gogol 1999: 19) und „Spielgefährten“ (Osińska 1999: 107) erinnerten. Adam Dembiński schreibt von Janusz Korczak dagegen als „Herr Doktor – ein zu uns sehr guter Doktor“ (Dembiński 1999: 61). Mit der Bezeichnung „Herr Doktor“ wird deutlich, dass sein Nachname – Korczak oder Goldszmit – für viele Kinder kaum eine Rolle gespielt hat und er als Arzt – weniger als Erzieher oder Waisen309

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hausleiter – in Erscheinung getreten ist. Er wurde mit seinem akademischen Grad angesprochen, wobei die Anrede mit dem Namenszusatz [Doktor] unter Verzicht des Nachnamens seinerzeit nicht ungewöhnlich war. Aus seinem persönlichen Leben haben die Kinder nur wenige Einzelheiten erfahren, was sie damit erklären, dass sie zu jung gewesen seien, um ihn besser kennen zu lernen oder verstehen zu können. In der Retrospektive der ehemaligen Zöglinge wird Janusz Korczak vor allem als außergewöhnlich ehrlicher, fortschrittlich gesinnter und toleranter Mensch beschrieben (vgl. ebd.: 61 f.). Stefania Wilczyńska wird von den Kindern anders erinnert: „Sie war eine besondere Gestalt, keine übliche ‚Hausmutter‘, sondern eine originelle Persönlichkeit. Sie redete nicht viel, doch man spürte überall ihr wachsames Auge. […] Ich denke, daß sie uns, streng genommen, sowohl Mutter als auch Vater ersetzt hat, denn einer mußte uns doch mit harter Hand führen“ (ebd.: 18). Ihr wird vor allem die Ordnung und Sauberkeit der Kinder und im Haus zugeschrieben. Die materiellen Dinge haben in ihrer Hand gelegen. Doch davon „wurde nicht gesprochen, das verstand sich von selbst“ (ebd.: 19), dass die Kinder Kleidung hatten oder Pantoffeln anzogen. Das „Dom Sierot“ hätte ohne sie „in keiner so guten Atmosphäre existieren können“ und „wenn man sich mit einzelnen Zöglingen unterhält, hat jeder einzelne mehr Erinnerungen an Stefania Wilczyńska als an Korczak“ (ebd.: 19). Shlomo Nadel hat sich anfangs noch vor ihr gefürchtet, denn „ihr Äußeres mit der großen Warze und der schwarzen Schürze wirkte nicht gerade einnehmend auf ein Kind, das frei aufgewachsen war und getan hatte, was es wollte“ (Nadel 1999: 62). Seine Furcht nahm mit der Zeit aber ab. Bis ins Erwachsenenalter konnte er nicht verstehen, wie es ihr gelungen war, immer dort zu sein, wo die Kinder gerade gegen die Hausordnung verstoßen haben. Sie mag im Schatten Janusz Korczaks gestanden haben, war aber kein Schatten, denn „Korczak war, wie man zu sagen pflegt, ein Symbol. Aber Korczak war nicht täglich im Waisenhaus, sie aber war vierundzwanzig Stunden anwesend. Jeden Tag. Die ganze Zeit über“ (Mandelblat 1999: 109). Eine der Bursistinnen – Ada Poznańska-Hagari – bezeichnet Stefania Wilczyńska sogar als „Brücke zu den täglichen Kleinigkeiten des Lebens. Sie war es, die seine [Janusz Korczaks] Ideen und pädagogischen Theorien in die Sprache der Praxis und Realität ‚übersetzen‘ konnte“ (Poznańska-Hagari 1999: 311). Das Aufwachsen der Kinder war besonders von den Hauseltern Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska geprägt. Sie verfügten während der Aufenthaltsdauer im „Dom Sierot“ anstelle der leiblichen Eltern bzw. Pflegepersonen über das Erziehungsmonopol. Die gegenseitigen Erwartungen und Zuschreibungen an ihre Rollen waren zwischen ihnen klar aufgeteilt und folgten dem klassischen Rollenverständnis bzw. -verhalten von Vätern und Müttern. Janusz Korczak übte die Rolle des sozialen Vaters und Ernährers aus. Er war für die materielle Versorgung der Kinder

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bzw. für das Budget des Waisenhauses verantwortlich. Als die Zuwendungen und Spenden an die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ immer weniger wurden, ging er sogar selbst von Tür zu Tür, um Spenden zu sammeln und den Hunger der Kinder (weiterhin) zu stillen. Im Gegensatz zu Stefania Wilczyńska war er aber nicht immer anwesend. Wenn er vor Ort war, war es etwas Besonderes, denn er verbrachte mit den Kindern ihre Freizeit und war ihnen ein Spielgefährte. Vielleicht war genau das aber Janusz Korczaks Geheimnis, um (s)einen Platz im Generationengefüge einzunehmen und von den Kindern nicht gefürchtet, sondern geliebt zu werden. Er war nicht nur eine Vaterfigur, sondern weil er selbst Kind geblieben ist und es verstand, mit den Kindern gemeinsam das soziale Miteinander zu gestalten, wurde er – zumindest zeitweise – zu einem ihresgleichen. Daneben trat er aber auch als „Herr Doktor“ in Erscheinung, der immer dann zur Stelle war, wenn die Kinder erkrankt waren oder Trost suchten. Stefania Wilczyńska verrichtete dagegen die typischen Arbeiten einer Mutter im Haus, Garten und in den Schlafsälen. Sie war dafür verantwortlich, dass die Kinder versorgt, also gewaschen, sauber gekleidet und satt waren. Das war mitunter viel Arbeit, weil viele von den Neuankömmlingen nicht einmal wussten, wie man eine Toilette benutzte, den Körper rein hielt oder sich bei Tisch benahm. Ihr oblagen scheinbar nebensächliche Tätigkeiten, die aber in einem Haus, das über hundert Kindern gleichzeitig zu einem Heim wurde, von besonderer Bedeutung waren, um den Heimalltag zu organisieren. Shimon Sachs erinnert sich, dass Stefania Wilczyńskas ganze Welt um die Krochmalna, die Kinder und Janusz Korczak kreiste. „Ihre Grundhaltung war durch eine offene, schlichte, bejahende Einstellung zum Leben, zu den Menschen, zum Kind bestimmt. […] Man könnte zusammenfassend sagen, dass Stefa eine Vorbildpädagogin des Tuns war, des alltäglichen Alltags, aus dem die wesentlichen Dinge herauswachsen, die für das Leben bestimmend sind. Sie vertrat eine ganzheitliche Pädagogik, eine integrative Pädagogik, in der kein Platz für esoterische Spezialisten ist, sondern in der jeder einzelne für alles, was er dem Kind gegenüber tut, verantwortlich ist. […] Dabei war Stefa von Erziehungsvorstellungen Fröbels und Montessoris beeinflusst worden, die ihr halfen, auf fast alles, was geschah, eine spontane pädagogische Antwort zu finden“ (Sachs 1987: 236 f.). Sie stand demnach nicht im Schatten, sondern vielmehr an der Seite Janusz Korczaks. Es ist bisher deutlich geworden, dass sie im Alltag der Kinder präsenter war und sich wie er für das Kind in allen Lebenslagen verantwortlich fühlte. Dabei scheint es, als habe sie das Erziehungskonzept von Janusz Korczak nicht nur übernommen, sondern es sogar mitgestaltet und auf ihre eigene Art umgesetzt. Schließlich war sie diejenige, die (scheinbar) omnipräsent war und ihren Kollegen immer dann vertrat, wenn er nicht vor Ort sein konnte. 311

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In Bezug auf die Interaktionsstile und die Beziehung zwischen den Kindern und den Hauseltern zeigt sich außerdem, dass der Umgang miteinander nicht auf einen „Befehlshaushalt“ schließen lässt. An die Stelle von Unterordnung und Gehorsam war eine Erziehung zu Selbständigkeit und einem freien Willen getreten, auch wenn darauf geachtet wurde, dass sich die Kinder an die Heimregeln hielten. Die Zöglinge erinnern weder körperliche Züchtigungen noch eine übermäßige Kontrolle von Seiten Janusz Korczaks oder Stefania Wilczyńskas. Entscheidungen über die Freizeitgestaltung, den Umgang mit Verletzungen der Heimordnung oder Streitigkeiten unter den Kindern wurden mit den Kindern gemeinsam besprochen oder allein von ihnen ausgehandelt. Zwar wird Janusz Korczak der Hang zur „Paidokratie“ vorgeworfen, doch verweist Janusz Tarnowski darauf, dass er das Dilemma der partnerschaftlichen Autorität gelöst habe (vgl. Tarnowski 1981: 29). Es war in den Waisenhäusern seinerzeit keine Selbstverständlichkeit, dass die Zöglinge mit Partizipationsrechten ausgestattet waren, die es ihnen erlaubten, auch offiziell über ihre Erzieher und Erzieherinnen zu richten. Janusz Korczak, Stefania Wilczyńska und die Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen haben den Kindern eine vernünftige Urteilsfähigkeit zugestanden. Sie waren keine Partner für ein gemeinsames Werk [die Erziehung], sondern trugen allein die Verantwortung für sich und ihr Wachstum, die mit den Erwachsenen nicht teilbar war (vgl. Oelkers 1983: 234).

Institutionenkindheit – Heim vs. Schule Die Kinder fanden in der Institution [dem „Dom Sierot“] ein Heim, also einen Ort an dem sie sich geborgen [also zu Hause] fühlen konnten. Das Waisenhaus erschien ihnen als eine andere Welt, die sie in der Regel nur verließen, während sie die Schule oder die (noch verbliebenen) Angehörigen besuchten, Ausflüge unternahmen oder im Sommer in die Kolonie „Röschen“ fuhren. Auch in der Schule fühlten sich die Kinder wohl, denn in der Klassengemeinschaft herrschte „immer Eintracht, Solidarität. Wenn man zusammen spielt, spürt man keinen Unterschied. Es waren die Älteren, die Lehrer, die uns wie Waisen behandelten. Von ihrer Seite erfuhren wir Mitleid, vermischt mit Verachtung“ (vgl. Dodiuk 1999: 46). Jakub Dodiuk fühlte sich durch das Verhalten der Erwachsenen gedemütigt, denn es stand im Kontrast zu dem, wie die Zöglinge im „Dom Sierot“ behandelt wurden. „Den ganzen Tag über lebten wir als gleiche unter gleichen; wir wuchsen unter guten Bedingungen auf […], in einer Atmosphäre der Disziplin, der Ordnung und Gerechtigkeit“ (ebd.: 46). Außerhalb des Hauses bestimmte ihr Status als „Waisenkinder“ über ihre Wahrnehmung. Waisen, ob nun Vollwaisen oder Halbwaisen, die den Verlust von einem oder beider Elternteile zu beklagen haben oder Sozialwaisen, deren Eltern aufgrund diverser sozialer, wirtschaftlicher, moralischer oder psychischer Ursachen nicht mehr die Sorge für ihre Kinder tragen können, erwecken Gefühle wie Mitgefühl

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oder Mitleid, weil sie als Hinterbliebene oder Verlassene wahrgenommen werden. Im Falle der Zöglinge des „Dom Sierots“ war es aber nicht nur Mitleid, sondern auch Verachtung, die ihnen entgegen gebracht wurde. Dabei unterschieden sich die Kinder von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen nicht unbedingt durch ihre Herkunft und vermutlich waren auch unter ihnen Voll-, Halb- oder Sozialwaisen, doch weil sie im „Dom Sierot“ lebten, erschienen sie den Erwachsenen nicht als „Gleiche unter Gleichen“. Der „Oase“ in der Krochmalna Straße 92 haftete etwas Besonderes an und die Kinder erfuhren durch ihre Unterbringung im Waisenhaus mitunter eine schlechtere Behandlung außerhalb des Waisenhauses.

Abschied vom „Dom Sierot“ Die Zeitzeugen und -zeuginnen machen auch den Zeitpunkt, als sie das „Dom Sierot“ wieder verlassen mussten, zum Erinnerungsthema. Im Zuge dessen schätzten sie auch die pädagogische Arbeit ein und berichteten, inwiefern sie weiterhin Unterstützung erfahren konnten, wenn es nach Beendigung der Grundschule Zeit wurde, das Waisenhaus zu verlassen: Sara Kremer musste das „Dom Sierot“ mit vierzehn Jahren verlassen. „Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich gespielt und gelernt. All das habe ich in dankbarer Erinnerung bewahrt“ (Kremer 1999: 14). Samuel Gogol betont, dass Janusz Korczak sich ihm angenommen habe. Bei ihm hätten die Kinder „eine gute Kinderstube“ erhalten, so dass ihnen eine mustergültige Erziehung zuteil geworden wäre. „Wir haben Korczak alle als Menschen verlassen“ (Gogol 1999: 20). Eine Aussage, die überrascht, weil sie Janusz Korczaks Credo, dass Kinder nicht erst zu Menschen werden, sondern bereits welche sind, widerspricht. Ignacy Cukierman fasst zusammen, dass das „Dom Sierot“ den Kindern gezeigt habe, dass die Menschen nicht im Elend leben müssten und es ein besseres wie wohlhabenderes Leben gebe. Durch das Leben im Waisenhaus war in ihnen das Streben nach besseren Lebensbedingungen für alle Menschen geweckt worden (vgl. Cukierman 1999: 32). Michał Wróblewski berichtet von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska. Während er sich darauf konzentrierte, dass „es den Kindern im Waisenhaus so gut wie möglich ging“ (Wróblewski 1999: 181) und er nicht wollte, dass sie sich mit vierzehn Jahren bereits für einen Beruf entscheiden mussten, sollten sie ungeachtet der Tatsache, dass sie Waisenkinder waren, die Möglichkeit erhalten, weiter zu lernen statt arbeiten gehen zu müssen. Sie war dagegen der Meinung, dass „man die Kinder nach der Beendigung der fünften Klasse zu irgendeinem Meister in eine Handwerkslehre geben sollte. Sie würden für weitere zwei Jahre im Waisenhaus wohnen, und wenn sie die Krochmalna verlassen, würde es für sie leichter sein, eine Arbeit zu finden“ (ebd.: 180). 313

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Janusz Korczak verfolgte auch in diesem Punkt seine erzieherischen Ideale, Stefania Wilczyńska dachte dagegen praktischer und in Bezug auf den weiteren Lebensweg der Kinder zukunftsorientierter. Die Heimregeln sahen es vor, dass die Zöglinge mit der Beendigung der Grundschule das Waisenhaus verlassen mussten. Diejenigen, die bereits mit vierzehn Jahren Abschied nehmen mussten, erwartete kein leichtes Leben, denn „die Bedingungen im damaligen Polen waren unerhört schwer, und für jüdische Kinder noch schwerer“ (ebd.: 181). Mit ihrem Auszug verloren die Zöglinge aber nicht ganz den Kontakt zum Haus und seinen Bewohnern / Bewohnerinnern, weil sie das Recht hatten, „jeden Sonnabend für einen ganzen Nachmittag in die Krochmalna zu kommen, sich mit den Kameraden, mit Frau Stefa, mit Korczak zu treffen“ (Dodiuk 1999: 42). Außerdem waren sie darum bemüht, eine Arbeit oder Lehrstelle zu finden, weil es üblich war, dass die Gesellen und Gesellinnen freie Kost und Logis von ihrem Ausbilder erhielten. Manchmal half „Frau Stefa“ und vermittelte einzelne als Lehrlinge bei Handwerkern oder in Geschäften (vgl. ebd.: 47), doch darauf vorbereitet, einen Beruf zu erlernen, wurden sie nicht (vgl. Dembiński 1999: 58). Es stellt sich an dieser Stelle allerdings die Frage, ob die leiblichen Eltern oder Pflegepersonen die Kinder anders oder besser auf einen Beruf hätten vorbereiten können. Vermutlich nicht. Auch Janusz Korczak empfahl einzelne Zöglinge. Auf diese Weise wurde Shlomo Nadel Lehrling in einem Fotogeschäft (vgl. Nadel 1999: 64) und als Erwachsener hat er sogar ein eigenes geführt. Daneben bestand die Möglichkeit, dass auch die Gesellschaft „Hilfe für Waisen“ dabei half, dass die Zöglinge eine (Lehr-)Stelle fanden, denn sie verfügte über Kontakte zu einem Tischler, Schuster, Schlosser, Schneider, Photographen und Friseur. Zu „arbeiten war einem Jugendlichen – laut Verfassung – [zwar] erst ab sechzehn Jahren erlaubt – vor Hunger zu verrecken, war [aber] an keine Altersgrenze gebunden“ (Wróblewski 1999: 181), so dass den meisten Jugendlichen nichts anderes übrig blieb, als nach dem Verlassen des „Dom Sierots“ zu arbeiten, um nicht zu verhungern. Die Burse war aufgrund von Platzmangel nicht für alle Zöglinge eine Option, um länger im „Dom Sierot“ zu bleiben und tatsächlich erst mit 16 Jahren – wie es vom Gesetz vorgesehen war oder von Stefania Wilczyńska gewünscht wurde – in ein Arbeitsverhältnis einzutreten bzw. eine Ausbildung zum Erzieher oder zur Erzieherin anzufangen.

Die Kinder in ihrer Sozialität Kinder werden nicht erst zu sozialen Wesen, sie sind bereits welche. Die soziale Praxis ihres Alltags vollzieht sich nicht nur im Verhältnis mit Erwachsenen, sondern auch mit Gleichaltrigen. Kinder besitzen die Fähigkeit zum kulturellen Lernen, weil sie über eine besondere Form der sozialen Kognition verfügen, die Michael

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Tomasello als das Vermögen „einzelner Organismen [beschreibt], ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst. Dieses Verständnis ermöglicht es, sich in die geistige Welt des anderen hineinzuversetzen. Dadurch können sie nicht nur vom anderen, sondern auch durch179 den anderen lernen“ (Tomasello 2002: 15). Das „Dom Sierot“ war neben der Familie und Schule ein zentraler Ort von Kindheit, der den Alltag der Kinder räumlich wie zeitlich vermaß. Dort lernten sie eine soziale Orientierung für ihr Verhalten und Handeln kennen. Neben den Beziehungen der Kinder zu ihren Herkunftsfamilien (oder Pflegepersonen), den Hauseltern und den Mitarbeitern / Mitarbeiterinnen des „Dom Sierots“ war auch das Miteinander der Kinder von Bedeutung. Denn in der Beziehung zu Gleichaltrigen konnten sich die Heranwachsenden selbst, aber auch ihre Fähigkeiten und Handlungskompetenzen entfalten. In der Retrospektive und den Selbstbeschreibungen scheint auf, dass die Kinder, die in der Krochmalna Straße 92 aufwuchsen, anders als andere Kinder waren. „Wir sind nicht so wie die anderen. Wir gebrauchen nicht die Ellenbogen, wir sind bescheiden, ohne übertriebenen Ehrgeiz, rechtschaffen“ (Dodiuk 1999: 46 f.). Und weiter: „Diejenigen, die ich kenne, haben eine sehr bescheidene Stellung; man kann nicht sagen, daß sie besonderen Erfolg im Leben gehabt hätten. Aus Korczaks Sicht haben sie es zu etwas gebracht, doch nach Ansicht ihrer Mitmenschen haben sie nicht viel im Leben erreicht“180 (ebd.: 48).

Das Verhältnis der Kinder untereinander ähnelte einer Geschwisterbeziehung. Im hierarchischen Gefüge der Kindergesellschaft standen die Kinder auf einer Ebene und nahmen gegenüber den Erziehern und Erzieherinnen die gleiche Position ein. Sie konnten sich voneinander Verhaltensweisen abschauen, aber auch lernen, miteinander zu streiten und Konflikte zu lösen. Die Kinder waren sich nah, weil sie sich aufgrund des beengten Raumes nicht aus dem Weg gehen konnten. Sie kamen nicht umhin, eine Beziehung miteinander einzugehen und diese zu gestalten. Die Zöglinge waren zwischen sieben und vierzehn Jahren alt. Die Heranwachsenden bildeten eine mehr oder weniger altershomogene Kindergesellschaft, weil sie – anders als im Verhältnis zu den Erwachsenen – nicht über ein dauerhaftes, nicht einholbares Übergewicht an Können, Erfahrung und Ressourcen verfügten (vgl. Krappmann 1996: 101). Weil Janusz Korczak dazu angeregt hat, dass sie sich absprachen, miteinander kooperierten und Streitigkeiten untereinander bzw. selbst 179 Hervorhebung im Original. 180 Sie haben es jeweils zu einer Stellung gebracht, mit der sie ihren Lebensunterhalt auf redliche Weise bestreiten konnten. 315

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lösten, forderte er den Kindern einzeln und den Kindern gegenseitig Kompetenzen ab (vgl. ebd.: 101). Auf diese Weise lernten sie die Prinzipien des Rollenhandelns (vgl. Abels 2008: 105) einzuüben, die später auch in der Erwachsenengesellschaft Gültigkeit hatten. Wie in jedem anderen Heim wurden unter den Kindern Freundschaften eingegangen oder wieder entzweit. Es gab Kinder, die sich lieber mochten; es gab Kinder, die aufgrund von äußerlichen Charakteristika gehänselt wurden; es gab Kinder, die hübscher als andere waren oder etwas besser konnten; es gab Fleißigere und solche, die sich in die Gemeinschaft und ihre Regeln nur schwer einleben konnten. Sie hatten alle gemeinsam, dass ihnen zu Beginn ein Beschützer oder eine Beschützerin an die Seite gestellt worden war, der bzw. die sie in ihre neue Lebenswelt [das Waisenhaus] einführte und half, sich zurechtzufinden, um ein Teil der Kindergesellschaft zu werden. Durch den Beschützer oder die Beschützerin wurden die Kleineren zu immer selbständigeren Menschen (vgl. Gogol 1999: 16).

Organisationsstrukturen Janusz Korczak hat in Kooperation mit den Kindern und dem Personal im „Dom Sierot“ ein eigenes Erziehungsmodell entwickelt und angewendet, das den Zöglingen viel Freiheit zugestand. Es zeichnete sich durch Erziehungsmittel und Institutionen der Selbstverwaltung aus, die im weiteren Verlauf näher erläutert werden. Die Kinder verbrachten auf dem Gelände des Waisenhauses die meiste Zeit. Dort konnten sie sich frei bewegen und selbst entscheiden, wie sie ihre Zeit (aus-)gestalten wollten. „Korczak ließ den Kindern gern bis zu einer gewissen Grenze ihre Freiheit. Die endete dort, wo ein anderer Schaden nehmen konnte. Hier fing die Disziplin an“ (Dodiuk 1999: 48). Das Regelsystem ließ den Zöglingen Spielräume und Möglichkeiten, sich frei zu entfalten, so lange die anderen Kinder dabei nicht eingeschränkt oder verletzt wurden. Janusz Korczaks Erziehungssystem hat einen „kleinen Kinderstaat“ (Dembiński 1999: 59) hervorgebracht. Teresa Osińska bezeichnet das „Dom Sierot“ sogar als „vorzüglich installierte Maschinerie einer kindlichen Gesellschaft, ein kleiner Musterstaat, in dem ideale Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, Ordnung und Harmonie herrschten“ (Osińska 1999: 105). Die Erzieher und Erzieherinnen bevorzugten „gewisse Kategorien von Kindern hinsichtlich der Sauberkeit und Ordnung – und auch bezüglich des Betragens“ (Dodiuk 1999: 43). Auf die Ordnung und persönliche Hygiene der Kinder wurde besonders geachtet, was sich an den vier eingeführten Kategorien für Sauberkeit und Ordnung, die von den Zeitzeugen und -zeuginnen erinnert werden, zeigt. Es gab die „sehr sauberen, sauberen, unordentlichen Kinder und Schmutzfinke“ (Dembiński 1999: 61). Den Kindern war bekannt, wer welcher Kategorie angehörte, denn wer als (sehr) sauber galt, erhielt die besseren Kleider zugeteilt. Über ihre Verteilung

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entscheid allein Stefania Wilczyńska, die sich in einem speziellen Heft über jedes Kind Notizen machte. Auf diese Weise konnte sie nachvollziehen, ob die Kinder in Bezug auf ihre Sauberkeit und Hygiene Fortschritte zeigten und sich bemühten. Wenn dem so war, konnten sie im Verlauf der Zeit in höhere Kategorien aufsteigen und von deren Vorteilen profitieren. Auch in Bezug auf das Betragen gab es drei Kategorien bzw. Bezeichnungen, um die Kinder einzuteilen. Der Status des Bewohners (Kameraden), gleichgültigen Bewohners und Genossen (gleichgültigen oder lästigen Bewohners) wurde den Kindern innerhalb des Plebiszits zugewiesen, das immer gleich ablief. Die Kinder erhielten drei Kärtchen mit einer Null, einem Plus und einem Minus darauf und je nach Ergebnis bekamen die (neu aufgenommenen) Kinder ihren Status mitgeteilt. Die Entscheidung oblag allein den Kindern, Janusz Korczak und Stefania Wilczyńska waren vom Plebiszit ausgeschlossen. Auch hier war es möglich, dass die Kinder innerhalb der Kategorien auf- und abstiegen, weil das Plebiszit jährlich wiederholt wurde. Die Hierarchie unter den Kindern bzw. der Hausbewohnerstatus diente dazu, materielle Ressourcen und Privilegien gerecht(er) zu verteilen. Ihr Status hatte nicht nur Einfluss auf ihre Kleidung oder die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, sondern entschied auch über die Partizipationsrechte innerhalb der Kindergesellschaft. Es durften bspw. nur diejenigen zu Richtern gewählt werden, die sich als Kameraden in der vorangegangenen Woche nichts zu Schulden haben kommen lassen. Jakub Dodiuk war der Ansicht, dass diese Unterteilung nicht richtig war, weil die „Kameraden“ (etwa ein Viertel aller Kinder) den anderen vorgezogen wurden (vgl. Dodiuk 1999: 44). Doch auch wenn sie bessere Kleider und Vorrang bei der Freizeitgestaltung hatten, gab es in Bezug „auf das Essen […] keinerlei Unterschiede. Alle bekamen dasselbe, sogar die >gleichgültigen Bewohner