Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook XIV/2015 9783666369445, 9783525369449


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Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook XIV/2015
 9783666369445, 9783525369449

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JAHRBUCH DES SIMON-DUBNOW-INSTITUTS (JBDI) SIMON DUBNOW INSTITUTE YEARBOOK (DIYB) 2015

Herausgeber Editor

Raphael Gross Redaktion Manuscript Editor Petra Klara Gamke-Breitschopf Redaktionsbeirat Editorial Advisory Board Marion Aptroot, Düsseldorf · Aleida Assmann, Konstanz · Jacob Barnai, Haifa · Israel Bartal, Jerusalem · Omer Bartov, Providence, N. J. · Esther Benbassa, Paris · Dominique Bourel, Paris · Michael Brenner, München/Washington, D. C. · Matti Bunzl, Urbana-Cham­ paign · Lois Dubin, Northampton, Mass. · Todd Endelman, Ann Arbor, Mich. · David Engel, New York · Shmuel Feiner, Ramat Gan · Norbert Frei, Jena · Sander L. Gilman, Atlanta, Ga. · Frank Golczewski, Hamburg · Michael Graetz, Heidelberg · Heiko Haumann, Basel · Susannah Heschel, Hanover, N. H. · Yosef Kaplan, Jerusalem · Cilly Kugelmann, Berlin · Mark Levene, Southampton · Leonid Luks, Eichstätt · Ezra Mendelsohn (1940– 2015), Jerusalem · Paul Mendes-Flohr, Jerusalem/Chicago, Ill. · Gabriel Motzkin, Jerusalem · David N. Myers, Los Angeles, Calif. · Jacques Picard, Basel · Gertrud Pickhan, Berlin · Anthony Polonsky, Waltham, Mass. · Renée Poznanski, Beer Sheva · Peter Pulzer, Oxford · Monika Richarz, Berlin · Manfred Rudersdorf, Leipzig · Rachel Salamander, München · Winfried Schulze, München · Hannes Siegrist, Leipzig · Gerald Stourzh, Wien · Stefan Troebst, Leipzig · Feliks Tych (1929–2015), Warschau · Yfaat Weiss, Jerusalem · Monika Wohlrab-Sahr, Leipzig · Moshe Zimmermann, Jerusalem · Steven J. Zipperstein, Stanford, Calif. Gastherausgeber der Schwerpunkte Guest Editors of the Special Issues Jörg Deventer Jörg Deventer/Stefan Hofmann Ehemaliger Herausgeber Editor Emeritus Dan Diner

JAHRBUCH DES SIMON-DUBNOW-INSTITUTS SIMON DUBNOW INSTITUTE YEARBOOK

XIV 2015

Vandenhoeck & Ruprecht

Redaktionsanschrift: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Goldschmidtstraße 28, 04103 Leipzig E-Mail: [email protected] www.dubnow.de Lektorat: Monika Heinker Übersetzungen: Markus Lemke (aus dem Hebräischen ins Deutsche), Liliane Meilinger (aus dem Englischen ins Deutsche), William Templer (aus dem Deutschen ins Englische) Bestellungen und Abonnementanfragen sind zu richten an: Vandenhoeck & Ruprecht Abteilung Vertrieb Robert-Bosch-Breite 6 D-37070 Göttingen Tel. +49 551 5084-40 Fax +49 551 5084-454 E-Mail: [email protected] / [email protected] www.v-r.de Mit 9 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36944-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Gesamtherstellung:

Hubert & Co, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Raphael Gross Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Allgemeiner Teil Joachim Kalka, Leipzig Im Allgemeinen oder im Besonderen? Proust und die Affaire Dreyfus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Svetlana Natkovich, Leipzig Questionable People: The Figure of the Criminal in the Literature of Russian-Jewish Authors, 1862–1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Yfaat Weiss, Jerusalem »Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist«: Die Hebräische Universität in der Skopusberg-Enklave . . . . . . . .

59

Michael Birnhack, Tel Aviv Rechts- und Sprachkulturen im Widerstreit: Der Copyright-Prozess um die Schriften Theodor Herzls in Israel . . .

91

Robert S. C. Gordon, Cambridge Gray Zones: The Heterodox Left and the Holocaust in Postwar Italian Culture . . . 111 C. K. Martin Chung, Hongkong Repentance: The Jewish Solution to the German Problem

. . . . . . . . . . . . . 129

Schwerpunkt Geschichte choreografieren: Zur Theatralisierung der Gedächtnisse nach 1945 Herausgegeben von Jörg Deventer und Stefan Hofmann Jörg Deventer/Stefan Hofmann, Leipzig Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

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Inhalt

Matthias Naumann, Berlin Krieg in der Gegenwart und Erinnerung an die Schoah: Verflechtungen und Fragmentierungen im israelischen Theater . . . . 167 Theresa Eisele, Leipzig Unerwünschte Uraufführungen: Das Deutsche Miserere und die Jüdische Chronik 1966 in Leipzig . . . 195 Hilla Lavie, Jerusalem An Ambivalent Relationship: Representations of Germany and Germans in Israeli Cinema, 1950–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Tobias Ebbrecht-Hartmann, Jerusalem The Missing Scene: Entebbe, Holocaust, and Echoes from the German Past . . . . . . . . 243 Hannah Maischein, München Das Vergessen der Augenzeugen: Schuld im polnischen Holocaust-Film . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Schwerpunkt Biografie und Erkenntnis – Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) oder die Konversionen des Wissens Herausgegeben von Jörg Deventer Jörg Deventer, Leipzig Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Martin Otto, Hagen »Habilitandenjahrgang 1912« – Wege und Wirkungen einer rechtshistorischen Generation . . . . . . . 297 Inka Sauter, Leipzig Dialogische Revisionen – Über die Versuchungen des Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . 325 Diether Döring, Frankfurt am Main Eine ambigue Berufung: Eugen Rosenstocks Lehrjahre an der Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main . . . . . . 349

Inhalt

Knut Martin Stünkel, Bochum Kybele oder Symblysma? Eugen Rosenstock und der Kreis um den Patmos-Verlag

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. . . . . . . 367

Gelehrtenporträt Samuel Joseph Kessler, Chapel Hill, N. C. Translating Judaism for Modernity: Adolf Jellinek in Leopoldstadt, 1857–1865 . . . . . . . . . . . . . . 393

Dubnowiana Arndt Engelhardt, Leipzig/Jerusalem Über Bewegung und Stillstand im öffentlichen Raum: Simon Dubnow und die russisch-jüdische Publizistik in den 1880er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Aus der Forschung Gal Hertz, Tel Aviv/Berlin Spiegelmenschen: Karl Kraus und Franz Werfel über Sprache und Identität

. . . . . . . 449

Literaturbericht Lukas Böckmann, Leipzig »An Gott glaube ich nicht mehr« – Katholische Tradition und politische Theologie innerhalb der argentinischen Guerilla der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 479

Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Contributors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

Editorial Im Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts werden traditionsgemäß sowohl Beiträge, die aus der laufenden Forschung des Instituts erwachsen, als auch viele Gastbeiträge publiziert. Dabei orientieren sich die inhaltlichen Schwer­ punkte des Jahrbuchs an denjenigen des Simon-Dubnow-Instituts. In räum­ licher Hinsicht bedeutet dies immer eine gesamteuropäische jüdische Geschichte, wobei besonderes Gewicht auf den mittel- und osteuropäischen Regionen liegt, in denen die numerisch größten jüdischen Gemeinschaften lebten. Dadurch fand in den vergangenen dreizehn Jahren hier im Jahrbuch und am Institut unter der Leitung von Dan Diner eine für die deutschspra­ chige Geschichtswissenschaft wichtige erkenntnistheoretische Verschiebung statt: die Durchbrechung der ansonsten überwiegenden Beschränkung auf deutsch-jüdische Geschichte sowie die Erweiterung um eine gesamteuro­ päische jüdische Perspektive und deren transnationale Bezüge, die auch Pa­ lästina/Israel und Amerika erfassen. Zeitlich umspannt die Arbeit am Dubnow-Institut, die sich im Jahrbuch spiegelt, die Epochen von der Aufklärung bis hin zur Gegenwart. Dabei spielte und spielt die europäische Zwischenkriegszeit der Jahre 1919 bis 1939 stets eine nochmals herausgehobene Rolle – eine Zeit also, die durch große politische Umbrüche, nicht zuletzt die Verwandlung von Imperien in Nationalstaaten, gekennzeichnet und für die jüdische und allgemeine Geschichte bis heute prägend ist. Auch künftig wird dieser Schwerpunkt beibehalten, jedoch durch eine zusätzliche Fokussierung auf die 1945 begin­ nende Nachkriegszeit erweitert werden. Drei thematische Blöcke lassen sich schon jetzt benennen, die sich in den kommenden Jahren, so hofft der Herausgeber, auch in den Beiträgen des Jahrbuchs abbilden werden. Zum einen wird das Verhältnis von Recht und Erfahrung, oder genauer: die historische Prägung jüdischer Juristen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick genommen werden. Zum anderen wird das Institut in der Erforschung der jüdischen Arbeiter- und Gewerkschafts­ bewegung und der mit ihr verbundenen Intellektuellen- und Bildungskultu­ ren einen besonderen Schwerpunkt setzen. Schließlich soll sich im Jahrbuch schrittweise eine stärkere Konzentration auf materielle und visuelle Quellen jüdischer Geschichte und Kultur niederschlagen. Die sechs Artikel des Allgemeinen Teils dieser Ausgabe spannen einen weiten Bogen, und dies sowohl hinsichtlich der Bandbreite der Themen wie auch der räumlichen Verortung sowohl der Texte als auch der Autoren: In JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 9–11.

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Raphael Gross

Leipzig, Jerusalem, Tel Aviv, Cambridge und Hongkong sind die Forschun­ gen, die in diesen Teil Eingang gefunden haben, entstanden. Sie beziehen sich auf ein klassisches Thema der französischen Kulturgeschichte (Joachim Kalka über Proust und die Affaire Dreyfus); auf die russisch-jüdische Lite­ raturgeschichte (Svetlana Natkovich über die Figur des Verbrechers bei russisch-jüdischen Autoren im zaristischen Russland); auf die israelische Wissenschaftsgeschichte (Yfaat Weiss über die Geschichte der Hebräischen Universität in Jerusalem inmitten militärischer Konflikte); auf kultur­ geschichtliche Konflikte im Kontext der Frage nach dem intellektuellen Eigentum (Michael Birnhack zum Urheberrechtsstreit um die Schriften von Theodor Herzel als zentraler Figur der zionistischen Bewegung in Israel); auf den Umgang mit dem Holocaust in der italienischen Nachkriegsge­ schichte (Robert S. C. Gordon über die Schwierigkeit der italienischen Linken, den Holocaust jenseits einer reinen Widerstandsgeschichte zu ver­ stehen); und last, but not least schließen sie einen Blick aus Hongkong auf die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte ein (C. K. Martin Chung über den Einfluss jüdischer theologischer Konzepte auf die nichtjüdische deut­ sche Erinnerung und »Wiedergutmachung« nach der Schoah). Auf den Allgemeinen Teil folgen zwei thematische Schwerpunkte, die den Kern dieser Jahrbuchausgabe bilden und beide aus Institutsveranstaltungen – dem Forschungskolloquium im Sommersemester 2014 und der Jahreskonfe­ renz 2013 – erwachsen sind. Der erste, für den Jörg Deventer (Leipzig) und Stefan Hofmann (Leipzig) als Herausgeber verantwortlich zeichnen, befasst sich mit der dokumentarischen und fiktionalen Darstellung von Geschichte nach dem Holocaust. Im Nachgang zum 100. Jahrestag seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs präsentiert wiederum Jörg Deventer den zweiten Schwer­ punkt zu Leben und Werk des Rechtshistorikers und Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), für den der »Große Krieg« zu einem epistemologischen Schlüsselerlebnis wurde. Beide Schwerpunkte werden von den Herausgebern jeweils separat eingeleitet. Den Abschluss dieses Jahrbuchs bilden die vier Rubriken mit jeweils einem Artikel: Das Gelehrtenporträt von Samuel Joseph Kessler (Chapel Hill, N. C.) zeichnet das Wirken Adolf Jellineks (1821–1893) in der Wiener Leopoldstadt nach. Arndt Engelhardt (Leipzig/Jerusalem) widmet sich in der Rubrik Dubnowiana der russisch-jüdischen Publizistik von Simon Dubnow in den 1880er Jahren. Gal Hertz (Tel Aviv/Berlin) berichtet in der Rubrik Aus der Forschung über die lang anhaltende literarische Kontroverse zwischen Karl Kraus (1874–1936) und Franz Werfel (1890–1945). Schließlich gibt Lukas Böckmann (Leipzig) in seinem Literaturbericht einen Überblick zur Frage der jüdisch-katholischen Dynamik innerhalb der eigentlich marxis­ tisch-atheistisch orientierten argentinischen Guerilleros der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts.

Editorial

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Am Ende dieses Vorwortes steht ein Dank, der sich an all diejenigen rich­ tet, die durch ihre Arbeit das Erscheinen dieses Bandes erst möglich gemacht haben: an die Beiträgerinnen und Beiträger; an Jörg Deventer und Stefan Hofmann für die Gestaltung der beiden Schwerpunkte; an Petra Klara Gamke-Breitschopf für die wissenschaftliche Redaktion und an Monika Heinker für das Gesamtlektorat dieses Bandes. Zum Gelingen haben außer­ dem beigetragen William Templer und Liliane Meilinger mit Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische beziehungsweise aus dem Englischen ins Deutsche sowie Markus Lemke mit Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche. Jana Duman und André Zimmermann haben ebenso wie Lud­ wig Decke und Theresa Eisele in verschiedenen Bereichen den Entstehungs­ prozess dieser Ausgabe kontinuierlich begleitet. Ihnen allen gilt der Dank des Herausgebers. Raphael Gross

Leipzig/Frankfurt am Main, Herbst 2015

Allgemeiner Teil

Joachim Kalka

Im Allgemeinen oder im Besonderen? Proust und die Affaire Dreyfus Das Thema dieses Vortrags, wie es der Untertitel formuliert, hat Dimensio­ nen, die eine notgedrungen knappe Befassung fast verstiegen erscheinen las­ sen.1 Die größte cause célèbre des endenden 19. Jahrhunderts, jenes Ereig­ nis, das Theodor Herzl, damals Berichterstatter in Paris, vis-à-vis des unbelehrbaren Antisemitismus zum Zionisten werden ließ, diese überaus verwickelte Geschichte – und dann eines der größten und komplexesten Romanwerke des letzten Jahrhunderts … Und dazu, nota bene, das kleine, tückische »und«, »Proust und die Affaire Dreyfus« … – Versuchen wir es im Bewusstsein der Absurdität des Unterfangens. Es ist im Grunde unmöglich, kurz zusammenzufassen, was in der Affaire Dreyfus geschah – nicht nur der Intrigen, Fälschungen, Verhüllungen wegen, die von Anbeginn die Untersuchungen und Gerichtsverfahren beglei­ teten, sondern auch deswegen, weil die Tragödie des Hauptmanns Dreyfus und schließlich seine Rehabilitation sich vor dem Hintergrund verwirrender politischer Wechselfälle abspielten, ständiger Regierungsumbildungen, immer neuer Koalitionen, Ministerstürze, Rücktritte – all dies im hitzigen Klima der innerfranzösischen Auseinandersetzungen nach dem gegen Deutschland verlorenen Krieg 1870/1871 und der reaktionären Agitation, welche die instabile Dritte Republik bedrohte: grundsätzlich als Staatsform bedrohte. Ganz kurz die Ausgangssituation: Im September 1894 findet die Spionageabwehr des französischen Militärs ein Schriftstück, den notori­ schen bordereau, welches darauf hindeutet, dass ein hoher französischer Offizier den deutschen Militärattaché mit geheimen Informationen versorgt. Im Dezember wird der aus einer jüdischen Familie des Elsass stammende Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der seit einiger Zeit dem Generalstab zugeteilt ist, als Verfasser identifiziert und vom Kriegsgericht als vaterlands­ verräterischer Spion zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 5. Januar 1895 wird Dreyfus förmlich degradiert, die Epauletten werden ihm abgerissen, der Säbel wird zerbrochen. Die Zeremonie findet im Innenhof der École Mili­ taire statt; eine Fotografie gibt es nicht, aber der Moment ist unzählige Male 1

Der Text wurde in seinem ursprünglichen Duktus belassen: dem eines Festvortrags – gehalten anlässlich der Verabschiedung von Professor Dan Diner im Simon-DubnowInstitut Leipzig im September 2014. Auf Wunsch der Redaktion wurde der Text der neuen deutschen Rechtschreibung angeglichen. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 15–27.

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Joachim Kalka

in der Bildpublizistik der Zeit, in Reporterzeichnungen und Karikaturen, imaginiert worden. Am 13. April des Jahres landet Dreyfus auf der Teufels­ insel vor Französisch-Guayana, dem Ort seiner Gefangenschaft, die sich unter folterähnlichen Bedingungen vollziehen wird. Die Öffentlichkeit beruhigt sich rasch wieder; langsam aber formiert sich eine Bewegung derjenigen, die von Dreyfus’ Unschuld überzeugt sind und einen Revisionsprozess fordern. Es gehört zu den wichtigsten Zügen von Léon Blums Bericht über die Affäre (auf den ich noch zu sprechen komme), dass er hervorhebt, in welchem Maße selbst für einen späteren leidenschaft­ lichen Parteigänger wie ihn selbst diese cause célèbre zunächst verschollen und vergessen war, als einzelne wenige den Kampf aufnahmen – Bernard Lazare, Lucien Herr, Dreyfus’ Familie. Inzwischen hatte der Chef des Nach­ richtenbüros beim Generalstab, Major Picquart, als den wahren Verfasser des ominösen bordereau und den wirklichen Spion einen Major Esterhazy entdeckt, eine singulär korrupte und skrupellose Figur. Picquart ist jedoch nach außen an seine Schweigepflicht gebunden. Die Spitzen des Militärs reagieren auf seine interne Enthüllung mit Drohungen und Fälschungen; Picquart wird durch eine Versetzung nach Algerien hastig abgeschoben. Während die dreyfusistische Agitation inzwischen an Breite und Tempo gewinnt, setzen führende Dreyfusards aber immer noch auf eine Bereitschaft der Regierung zur Aufklärung des Falles; doch die ist nicht vorhanden. Der schließlich offen als wahrer Spion angegriffene Esterhazy verlangt ein Kriegsgerichtsverfahren, um seine Ehre wiederherzustellen; in dem nun durchgeführten Prozess wird er im Januar 1898 freigesprochen. Unmittelbar auf diesen für die Dreyfusanhänger schier vernichtenden Schlag folgt jedoch Émile Zolas berühmter, zwingend auf die Unschuld von Dreyfus und die gänzliche Unsauberkeit des Verfahrens gegen diesen verweisender Artikel J’accuse in der Aurore von Georges Clemenceau; den spektakulären Titel hatte dieser selbst hinzugefügt. Die Nation spaltet sich immer schärfer und kompromissloser, bis tief hinein in die Familien und in alte Freundeskreise. Es kommt zu Pogromen in Algerien und in der französischen Provinz. Picquart wird aus der Armee entlassen und schließlich wegen Geheimnisver­ rats verhaftet. Zola wird wegen Verleumdung zu einem Jahr Haft verurteilt und flieht nach Abweisung der Berufung nach England. Im Juli 1898 verliest Cavaignac, der Kriegsminister der neu gewählten Regierung, die von hohen Militärs gefälschten Schriftstücke, welche die Schuld von Dreyfus beweisen sollen, in der Abgeordnetenkammer. Rechtsradikale Organisationen formie­ ren sich und planen den Staatsstreich. Das ist der Nadir der Dreyfusaffäre; langsam – immer noch quälend langsam – wendet sich nun das Blatt ange­ sichts komplizierter juristischer und politischer Interventionen und eines ste­ tig wachsenden Drucks der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit. Die im Juni 1899 gebildete Regierung Waldeck-Rousseau setzt auf einen

Im Allgemeinen oder im Besonderen

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Kompromiss, einen – wie man heute sagen würde – Deal: Ein neues Verfah­ ren in Rennes spricht Dreyfus abermals schuldig, billigt ihm jedoch mil­ dernde Umstände zu und reduziert das Strafmaß auf zehn Jahre; einige Wochen später nimmt Dreyfus dann die ihm angebotene (vom radikalen Flü­ gel seiner Anhänger vehement abgelehnte) Begnadigung an. Der überführte Fälscher der gegen Dreyfus verwendeten Dokumente, Major Hubert Henry, hat bereits im August 1898 in seiner Zelle mit dem Rasiermesser Selbstmord begangen. Der Kriegsminister erklärt den »Zwischenfall für beendet«. Drey­ fus hatte sich bei der Begnadigung jedoch vorbehalten, dass es ihm erlaubt sein müsse, an der Wiederherstellung seines Rufes zu arbeiten. Der von der Teufelsinsel Zurückgekehrte kommt um ein Wiederaufnahmeverfahren ein; im Juli 1906 hebt der Kassationshof endgültig das Urteil von Rennes auf und rehabilitiert Dreyfus, der am nächsten Tag mit Majorsrang reaktiviert wird. Der unbeugsame Picquart kehrt mit dem Rang eines Brigadegenerals in die Armee zurück; beides wird von weiten Teilen des unversöhnlichen Militärs als Provokation empfunden. Eine Woche später wird Dreyfus Ritter der Ehrenlegion. Was sich dem lückenhaften Gedächtnis der späteren Generationen als ein Triumph der guten Sache darstellt, bleibt etwas zutiefst Ambivalentes – die Wahrheit siegt, aber ihr Vormarsch wird immer wieder von Rückschritten unterbrochen, ist reich an grotesken Episoden und unerwarteten Hindernis­ sen, und am Ende hat sie für den Sieg einen überaus hohen Preis bezahlt. Der Sieg ist übrigens nicht zuletzt – was Léon Blum hervorhebt – dem gro­ ßen persönlichen Mut Zolas zu danken, dessen J’accuse in einem Augen­ blick erschien, am 13. Januar 1899, da die Hoffnungen auf Gerechtigkeit durch den Freispruch Esterhazys zwei Tage zuvor zutiefst enttäuscht worden waren. Die Rechte hat Zola nie verziehen; es sind denn auch nie die (der Plausibilität nicht ganz entbehrenden) Spekulationen verstummt, dass Zolas Tod 1902 – er erstickte an den Gasen, die sich eines verstopften Kamins wegen in seinem Schlafzimmer bildeten – kein Unfall war, sondern dass der Schriftsteller das Opfer eines chauvinistischen Komplotts wurde. Die unausdenkbare Barbarei des »Dritten Reiches« hat Europa vergessen lassen, dass neben dem zaristischen Russland Frankreich das klassische Land des Antisemitismus war. Die Nation spaltete sich hier in einer Weise, wie es vielleicht nie zuvor oder nachher zu beobachten war. Man stößt immer wieder in Biografien dieser Zeit auf diesen Umstand: Degas, der als leidenschaftlicher Bewunderer der französischen Armee zu den entschie­ densten Antidreyfusards gehörte (ebenso wie Cézanne und Renoir), über­ warf sich nicht nur mit Monet und Pissarro, er kehrte auch der jüdischen Familie Halévy den Rücken, deren berühmter Salon für ihn lange Jahre eine zweite Heimat gewesen war und deren Mitglieder er so viele Male porträ­ tiert hatte. (Zu den bemerkenswertesten Porträts von Degas aus der Zeit vor JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 17–27.

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Joachim Kalka

der Affäre gehört übrigens das Doppelbildnis des belgischen Großrabbiners Elie-Aristide Astruc und des französischen Generals Émile Mellinet, die bei der Belagerung von Paris gemeinsam beim Sanitätskorps gearbeitet hatten und den Maler um ein »Denkmal ihrer brüderlichen Anstrengung« gebeten hatten.) Hier ging nun eine Epoche zu Ende. Die Dreyfusaffäre war ein Ereignis von europäischer, ja, globaler Reso­ nanz, Tschechow und Mark Twain haben über sie geschrieben. Die Baronin Spitzemberg, die Witwe des württembergischen Gesandten in Berlin, notiert 1899 in Hemmingen in der schwäbischen Provinz nach Dreyfus’ zweiter Verurteilung in ihr berühmtes Tagebuch: »Es ist kaum glaublich, wie diese Frage bis in die untersten Schichten die Gemüter erregt: kamen doch die Bäuerlein vielfach am späten Abend noch an den Postschalter, ihr Käseblätt­ chen zu holen, das sie sonst erst tags darauf erhalten, um Neues über den Prozess zu hören.« Die Diskussionen in Deutschland und Österreich wären ein Thema für sich. Dass der Doyen der deutschen Sozialdemokratie, Wil­ helm Liebknecht, in der Fackel des jungen Karl Kraus – ein erstaunliches Schauspiel – eine Reihe scharf antidreyfusistischer Aufsätze veröffentlichte, erklärt sich wohl neben dem Misstrauen gegen die liberale Presse vor allem aus der Furcht, das Deutsche Reich könne die Affäre zum Anlass einer ver­ schärft gegen das diskreditierte Frankreich gerichteten Politik nehmen. Ein kleines, 1935 erschienenes Buch gibt vielleicht immer noch die beste Auskunft, was die Dreyfusaffäre war, wie sie sich anfühlte. Es heißt Souve­ nirs sur l’affaire. Sein Autor ist Léon Blum. Sie kennen ihn vielleicht als großen französischen Staatsmann, der in der Nachfolge von Jean Jaurès einer der Führer des französischen Sozialismus war und mit dessen Namen sich bis heute vor allem die Erinnerung an die Volksfrontregierungen der Jahre 1936 bis 1938 verbindet. Dem front populaire gelangen einige epo­ chale Sozialreformen, etwa die Einführung des bezahlten Urlaubs. Es gibt den Brief eines alten Arbeiters, der Léon Blum dankt, dass er ihm ermög­ licht habe, einmal in seinem Leben das Meer zu sehen. Nach der Niederlage Frankreichs im Zweiten Weltkrieg stellte sich Blum offen gegen die kollaborationistische Rechte und rief die Sozialisten zur Opposition auf; in dem Prozess, den ihm die Vichy-Regierung im Februar 1942 machte, gelang ihm und seinen Mitangeklagten eine so elegante und eindrucksvolle Verteidigung, dass das Verfahren schließlich abgebrochen wurde – ein denkwürdiges Seitenstück zum Reichstagsbrandprozess. Blum entging der Ermordung, weil man ihn wie einige andere Prominente bis zum Schluss des Krieges als Geisel hütete, als Faustpfand für eventuelle Ver­ handlungen mit den Alliierten. Der 1872 Geborene durchlebte als junger Jurist und Literat die Dreyfusaf­ färe; dieses Drama dürfte ihn – nächst seiner mit der Affäre in enger Verbin­ dung zu sehenden Begegnung mit Jean Jaurès – aufs Entschiedenste politi­

Im Allgemeinen oder im Besonderen

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siert haben. Zu den reizvollsten Zügen seiner Schilderung gehört die Unge­ wissheit der ersten Wochen und Monate nachdem die Affäre richtig begon­ nen hatte, wie sich wohl die bekanntesten Publizisten und »Intellektuellen« verhalten würden: Wer stellt sich auf die Seite von Dreyfus, wer weigert sich, wer zögert? Blum hat aus den tiefen Enttäuschungen und freudigen Überraschungen dieser Jugendwochen den Schluss gezogen, in einer wirkli­ chen Krisis könne man das Verhalten eines Menschen nie aus seinen bisheri­ gen Handlungen ableiten. Seine Schilderung der Affaire Dreyfus hat den Reiz der immer noch frischen, in energischer und naiver Unmittelbarkeit aufbewahrten Jugenderinnerung; dazu tritt jedoch die traurige Würde der Reflexion eines skeptisch gewordenen Mannes. Seine Souvenirs sind bei aller Strenge der Wahrheitsprüfung von großer Intimität; sie sind das Frag­ ment einer ungeschriebenen Autobiografie. Er schart die Gestalten seiner Jugend um sich, seiner Initiation in die Politik. Blums Text ist bewegend. Im Jahre 1935, angesichts der heraufziehenden größten Katastrophe Europas, meditiert ein Politiker und homme de lettres über das große Ereignis seiner jungen Jahre, das eine Zeit lang alle anderen Fragen, ja für die engagierten Verfechter der Unschuld Dreyfus’ selbst das ganze Alltagsleben völlig in den Hintergrund drängte. Der Anlass für die Niederschrift ist der Tod des mittlerweile längst rehabilitierten, in allen Ehren wieder in die Armee aufge­ nommenen Dreyfus, der im Ersten Weltkrieg als Oberstleutnant eine Artil­ lerieeinheit befehligte. Aber über diesen Anlass hinaus ist eine tiefere Beun­ ruhigung wirksam. Blum versenkt sich zwar in seine Erinnerungen, um sich an der eigenen Jugendfrische zu ergötzen und der verschwundenen Kampf­ genossen zu gedenken. Die eigentliche, verborgene Aufgabe aber, die in die­ ser Gedächtnisarbeit impliziert war, konnte er – wie er klar empfand – nicht bewältigen. Die Aufgabe scheint auch heute unlösbar: Es ginge nämlich darum, eine einleuchtende Begründung für den intransigenten, durch keine Vernunft und keine Einsicht auszulöschenden Hass zu finden, mit dem die Rechte Dreyfus verfolgte, auch nachdem seine Unschuld offensichtlich war. Blum schildert sehr eindringlich das fassungslose Erstaunen, die Betäubung der Dreyfusards, die sich schon früh am Ziel sahen und dachten, die Nation hole nun, da die Wahrheit auf dem Tisch lag, »den verlorenen Sohn« im Triumph aus der Verbannung zurück. Nichts dergleichen: Es erhob sich eine Mauer der kalten Weigerung. Vorsichtig formuliert Blum angesichts des unbändigen Vernichtungswillens der Antidreyfusards: »Was trieb sie an? Was lenkte sie? Selbst heute, im Abstand von fünfunddreißig Jahren, da ich diese Vergangenheit mit gereifter und kühler Vernunft betrachte, scheint es mir, als fehlten mir immer noch Elemente einer Lösung dieser Frage.« Und diese Frage stellte sich 1935 bereits im langen Schatten jener Katastrophe, als deren ferne Ouvertüre die Dreyfusaffäre sich erweisen sollte – sie gab mit finsterster Drohung erneut das schäbige, monströse, offenbare und uner­

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Joachim Kalka

gründliche Rätsel des nationalistischen Furors und des Antisemitismus auf. Nicht ohne ein Frösteln liest man die erste Erwähnung der Dreyfusaffäre in den Tagebüchern von Harry Graf Kessler. Die Eintragung vom 28. Januar 1898 notiert Bemerkungen des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe, und darunter jene: Die Affaire Dreyfus sei »ein praktischer Kursus der Staats­ wissenschaft extra für Juden.« »Sie wissen ja, warum man die Beweise für Dreyfus’ Verrat nicht offenle­ gen will. Er ist anscheinend der Liebhaber der Gattin des Kriegsministers, wie man hört.« – »Ah ja? Und ich dachte, von der Frau des Ministerpräsi­ denten.« Das ist ein Fetzchen Konversation, voll maliziöser Süffisance, aus Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit – aus der langen Szene im Salon der Herzogin von Guermantes, wo Dreyfus das Hauptthema abgibt. Die Leser der Recherche wissen, dass die Affäre dort eine nicht unerhebliche Rolle spielt, doch hat der Vorgang selbst den jungen Proust noch sehr viel stärker beschäftigt, als es sein monumentales Romanwerk erkennen ließe. In Blums Buch taucht Proust einen Augenblick lang auf, in der langen Reihe der engagierten jungen Leute, die sich täglich trafen und ihre Aktionen zur Erzwingung des Revisionsprozesses planten. Die beiden waren zusammen auf dem Lycée Condorcet gewesen; Proust spricht zu Céleste Albaret, wie diese in ihren berühmten Erinnerungen Monsieur Proust mitteilt, einmal nicht ohne Stolz von seiner Schulklasse, der viele später prominente Männer angehörten – wir waren, sagt er, »une jolie petite troupe«; hier nennt er auch Blum; an anderer Stelle spricht Céleste von Prousts großer Bewunderung für Intelligenz und Herz des Jugendfreundes. Über die Dreyfusaffäre finden sich auch in Monsieur Proust einige Abschnitte. »Es war schrecklich, sagte er zu mir. Ganz Frankreich war geteilt. Auf einer Seite die Mehrheit derer, die an die Lüge glauben wollten, auf der anderen Seite eine Handvoll, die kämpfte. Madame Straus zum Bei­ spiel war ebenso leidenschaftlich für Dreyfus wie ich, aber mit manchen Freunden habe ich mich überworfen. Sogar Papa war gegen Dreyfus; wir haben uns gestritten, ich habe acht Tage lang nicht mit ihm geredet. – Er« – also Proust, fährt Céleste fort – »hat mir nie gesagt, was seine Mutter, die Jüdin war, dabei dachte. Aber ich bin sicher, daß es nicht die jüdische Bluts­ hälfte war, die in ihm für Dreyfus sprach, es war einzig und allein die Menschlichkeit, mit seiner großen Wahrheitsliebe.« (C’était uniquement l’humanité, avec son grand amour de la verité.) An anderer Stelle heißt es: »Er, den man sich eher hätte ängstlich denken können und fern von diesen Kämpfen, hat mir erzählt, daß er sich Hals über Kopf in sie gestürzt hat und bei allen Verhandlungstagen des Prozesses dabei war.« Proust übernahm damals tatsächlich eine sehr wichtige Aufgabe für die Dreyfusards: Er ging zu dem zögernden Anatole France, dessen Stellung­ nahme wegen seiner Berühmtheit als Schriftsteller großes Gewicht haben

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würde, um ihn – schließlich erfolgreich – um seine Unterschrift unter das sogenannte Manifest der Intellektuellen zu bitten, das einen Tag nach dem J’accuse Zolas in der Aurore erschien. Die Bezeichnung »Manifest der Intel­ lektuellen« ist spöttisch von einem der entschiedensten Dreyfusgegner, Maurice Barrès, formuliert worden, wie ja überhaupt der uns vertraute Begriff des Intellektuellen nichts anderes ist als ein Produkt der Polemiken um die Affaire Dreyfus. Das riesenhafte Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die­ ses »verwirrend reiche und krause Gebilde«, wie Adorno in seinen hinge­ bungsvollen Kleinen Proust-Kommentaren geschrieben hat, diese cathédrale inachevée, wie Proust selbst meinte, baut – wie bekannt – unglaublich lange Spannungs- und Entfaltungsbögen, Aufstieg und Fall, Andeutung und Ent­ hüllung, Klärung und neue Verrätselung über Tausende von Seiten hinweg, alles reflexiv verdoppelt durch die Beschwörung von Erinnerung als der ent­ scheidenden Erkenntnisinstanz. Und dabei gibt es in der Recherche trotzdem eine irreduzible Bedeutung der Einzelheiten. Diese Konzentration auf die Details erscheint im Roman in ironischer Beleuchtung als Caprice des Schriftstellers Bergotte, der ein Werk, das er loben will, immer mit dem Bezug auf ein bestimmtes, meist ganz und gar marginales Detail charakter­ isiert. Er sagt, wenn die Rede auf ein bestimmtes Buch kommt: »Da kommt ein kleines Mädchen vor mit einem orangefarbenen Schal. Das ist gut, das ist gut!« Oder: »Ja, genau, da gibt es eine Stelle, wo ein Regiment durch eine Stadt marschiert, jawohl, das ist gut!« Das hat eine große ästhetische Plausi­ bilität – denn woran erinnern wir uns bei Romanen am Ende? Aber es ist sei­ nerseits als komisches Detail konzipiert. Doch wissen wir, wenn wir die Recherche gelesen haben: Ganz im Ernst wird Bergotte in einer Kunstaus­ stellung sterben vor Vermeers berühmtem Bild Gezicht op Delft – hingeris­ sen, fasziniert von einer ganz kleinen Einzelheit der Malerei, der »kleinen gelben Mauerecke«: »So hätte ich schreiben sollen …«, denkt er sterbend. Das Jüdische ist in der Recherche gleichzeitig Struktur und bedeutungs­ volles Detail. Der Roman enthält eine ganze Reihe von Figuren, bei denen die jüdische Herkunft ein entscheidender Zug der Darstellung ist – etwa die Bankiersfamilie Israël, und zwei Zentralgestalten sind vorwiegend von ihrem Judentum her charakterisiert: indirekt Swann, die neben dem Erzähler und der rätselhaft begehrenswerten Albertine wichtigste Figur überhaupt, und direkt Bloch. Bloch ist die interessanteste Figur in diesem Kontext, und ihr gilt vielleicht insgeheim die größte Zuneigung des Erzählers (der Swann als Vorbild bewundert). Bloch ist linkisch, er drängt sich vor, er hat leiden­ schaftliche Ansichten, er will es besonders gut machen, er tritt provozierend auf, er liebt die Musik, er ist enervierend. Seine erstes Erscheinen als Freund des Erzählers, der hier ja noch ein Schuljunge ist, fast zu Beginn in Combray gibt Anlass zu einer Vignette, die zum ersten Mal »das Jüdische« zum

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Thema macht. »Bloch wurde tatsächlich nicht wieder eingeladen« – das hängt mit seinem exzentrischen Auftreten zusammen. »Er war zuerst freundlich empfangen worden. Mein Großvater, das stimmt schon, behaup­ tete, jedesmal, wenn ich mich näher an einen Schulkameraden anschließe und ihn hierherbringe, sei es immer ein Jude, was ihn nicht grundsätzlich stören würde – selbst sein Freund Swann war ja jüdischer Herkunft – , müßte er nicht feststellen, daß ich für gewöhnlich meine Freunde nicht unter den besten Juden wählte. Und wenn ich einen neuen Freund anbrachte, war es selten genug, daß Großvater nicht ›O Gott unserer Väter‹ aus der Oper Die Jüdin vor sich hinsummte oder auch ›Israel, brich deine Kette‹. Dabei sang er natürlich nur die Melodie (di da da dadam dadim), doch fürchtete ich, mein Kamerad könne sie kennen und den Text ergänzen. – Ehe er sie sah, wenn er nur den Namen hörte, der im übrigen oft gar nichts besonders Israelitisches hatte, erriet er nicht nur die jüdische Herkunft meiner Freunde, sondern sogar das, was es gelegentlich an Unangenehmem in ihrer Familie gab. / ›Und wie heißt dein Freund, der heute abend kommt?‹ / ›Dumont, Großvater.‹ / ›Dumont! Oha! Aufgepaßt!‹ / Und er sang: ›Schützen, seid auf der Hut! […]‹ – Und nachdem er uns geschickt einige genauere Fragen gestellt hatte, rief er: ›Achtung! Gebt acht!‹, oder, falls es der Gast [der Pati­ ent – le patient] selbst war, der, schon angelangt, nun wider Willen einem verstohlenen Verhör unterzogen wurde und seine Herkunft preisgeben mußte, dann begnügte sich Großvater, um uns zu zeigen, daß er keinen Zweifel mehr hatte, damit, uns anzusehen und kaum hörbar zu summen: ›Dieses scheuen Israeliten / Schritte habt ihr hergelenkt! […]‹« (Das kleine Leitmotiv des, sagen wir, jovialen Antisemitismus der alten Zeit macht bei­ läufig klar, weshalb jemand wie Bloch brüsk und unbeholfen auftritt.) In einer recht berühmten komischen und doch irgendwie als Schilderung einer kleinen Beschämung auch bewegenden Szene unterläuft Bloch im Salon der Marquise de Villeparisis ein Missgeschick. »Bloch erhob sich einen Augenblick, um seinerseits die Blüten zu bewundern, die Mme. de Villeparisis malte. […] [Er] wollte eine Gebärde machen, um seine Bewun­ derung auszudrücken, doch mit dem Ellbogen stieß er die Vase mit dem Blü­ tenzweig um, und das ganze Wasser ergoß sich auf den Teppich. ›Sie haben wirklich die Finger einer Elfe‹, sagte zur Marquise der Historiker, der in die­ sem Augenblick den Rücken gekehrt und Blochs Ungeschicklichkeit gar nicht bemerkt hatte. Doch Bloch glaubte, die Worte gälten ihm, und sagte, um die Scham über sein Ungeschick hinter Dreistigkeit zu verbergen: ›Das spielt gar keine Rolle, ich bin ja nicht naß geworden.‹« Scham und die Dreistigkeit, welche die Scham zu verbergen sucht … Am Strand des mondän gewordenen Ferienortes Balbec hören der Erzähler und sein Freund Saint-Loup im Dahingehen aus dem Inneren eines Zeltes eine laute Stimme im Duktus des vulgärsten Antisemitismus und unter Heranzie­

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hung klassischer antisemitischer Phrasen (»Ich habe im Prinzip nichts gegen die Juden, aber hier sind es einfach zu viele«) gegen das »Gewimmel von Israeliten« wüten, das Balbec befallen hat. »Der Mann«, heißt es dann, »der derartig wider Israel donnerte, trat endlich aus dem Zelt und wir hoben den Blick zu diesem Antisemiten. Es war mein Freund – mon camarade – Bloch.« Bloch, leidenschaftlicher Dreyfusard, verfolgt – wie der Autor selbst – begierig alle Gerichtsverhandlungen der Affäre. Proust schreibt: »Er verließ das Gericht so vernarrt in alles, was während des Prozesses vorgefal­ len war, daß er, wenn er abends nach Hause kam, sich danach sehnte, aufs Neue in dieses erregende Drama einzutauchen, und er lief in ein Restaurant, das von beiden Parteien besucht wurde, suchte dort nach Freunden, mit denen er die Vorfälle des Tages endlos durchging, und hielt sich durch ein in gebieterischem Ton (der ihm die Illusion der Macht verlieh) bestelltes Abendessen schadlos für den Hunger und die Erschöpfung des Tages.« – Ich merke nur noch an, dass der antisemitische Hass, mit dem Charlus Bloch verfolgt, genährt scheint von der vagen Verliebtheit, die er für diesen emp­ findet. Die Affaire Dreyfus hat vielfältige Folgen in der Recherche. Odettes sozialer Aufstieg vollzieht sich mittels Einrichtung eines antidreyfusisti­ schen Salons. Der törichte Herzog von Guermantes ist ganz gegen Dreyfus, bis eine Zufallsbegegnung mit »drei klugen Damen« ihn zum entschiedenen Dreyfusard macht. Die neben Bloch energischste Parteigängerin für Dreyfus ist die opportunistische, leicht lächerliche, leicht sinistere Madame Verdurin, die ihre Parteinahme zur sorgfältigen strategischen Erweiterung ihres Ein­ flusses und wiederum ihres Salons verwendet. Von sich selbst sagt der Erzähler der Recherche einmal: »Ich, der ich ohne jede Angst mehrere Duelle ausgefochten habe, der Dreyfusaffäre wegen …« Das klingt sehr engagé, allerdings gehört es zu den charakteristischen Tech­ niken Prousts, dass diese Duelle vom Erzähler lediglich erwähnt werden, als es um seine notorische Angst vor der frisch-kalten Luft geht – der sich aus­ zusetzen er damals bei seinen frühmorgendlichen Duellen eben doch gewagt hat. Das erinnert an eine Bemerkung Prousts anlässlich seines einzigen eige­ nen Duells. Er traf sich auf Pistolen (weil keiner der Kombattanten ein Fech­ ter war) mit dem mondänen Literaten Jean Lorrain, der eine unverschämte und auch persönlich verletzende Kritik von Prousts erstem Buch Les plaisirs et les jours geschrieben hatte. In diesem Zusammenhang soll Proust gesagt haben, das Einzige, was ihn an dem Duell schrecke, sei die Angst, bei einem Termin so früh am Morgen vielleicht nicht rechtzeitig zu erscheinen. Das sind kleine Ironien. Die Behandlung der Dreyfusaffäre in der Recher­ che folgt jedoch diesem Prinzip des Ironischen in einem solchen Maße, dass sich daran die höhere Wahrheit des Kunstwerks ablesen lässt. Und eine bewusste Praxis des Autors. Nichts hätte – naiv gedacht – nähergelegen, als

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dass der einstige leidenschaftliche Dreyfusard Proust die Rollen in seinem Roman so verteilte, dass die Parteinahme der Figuren für oder gegen Drey­ fus den jeweils ihnen zugemessenen Grad von Sympathie anzeigte. Doch gilt hier par excellence der Satz von Karl Kraus: »Es kommt nicht darauf an, ob eine Meinung richtig ist, es kommt immer darauf an, wer sie vertritt.« Kein einzelner Satz der Recherche, könnte man hinzufügen, zeigt eine iso­ lierbare Wahrheit, alles ist nur in seinen Zusammenhängen wahr, und die sind von hoher Komplexität. Trotzdem kommt vielleicht keinem Begriff bei Proust eine solche Dignität zu wie dem der Wahrheit. Seine Ironie ist nicht isoliertes Kunstmittel, sondern ein Instrument, mit dem die Dialektik des Allgemeinen (der ethischen Wahrheit) und des Besonderen (des Menschen­ lebens und seiner Wahrheit) dargestellt wird. Die Berufung auf ein ganz besonderes Schicksal, das sich jedoch – im Bewusstsein des unabwendbar Besonderen – den universellen Werten wie Wahrheit und Gerechtigkeit verschrieben hat, taucht, wie Sie wohl wissen, oft als Signatur des Jüdischen in der Moderne auf, und immer wieder als Selbstbestimmung jüdischer Denker der Aufklärung; die Verteidigung die­ ser universellen Wahrheiten erscheint als besondere Aufgabe eines Juden­ tums, das gleichwohl an seiner Exzeptionalität festzuhalten gewillt ist. Die ruhige Weigerung, sich zum Christentum zu bekehren, wie Moses Mendels­ sohn sie mit großer Würde der aufgeregten Impertinenz Lavaters gegenüber bekräftigt hat, hält am Besonderen fest und gleichzeitig an der Verpflichtung auf die allgemeinen Wahrheiten der Aufklärung. In diesem Jüdischen, diesem, wenn ich so sagen darf, unentscheidbar der Wahrheit des Universellen und des Besonderen verpflichteten Jüdischen könnte man einen Augenblick lang eine Signatur der modernen Literatur erkennen. Das hört sich nach einer sehr ausgreifenden Behauptung an, doch möchte ich Sie einladen, einen Moment darüber nachzudenken. Es ist all­ gemeiner Konsensus, dass die drei unbezweifelbar kanonisch wichtigsten Schriftsteller der Weltliteratur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Proust, Joyce und Kafka sind (für die zweite Hälfte sind die Verhandlungen noch nicht abgeschlossen). Diese drei kanonischen chefs d’œuvre der Moderne sind im Übrigen – wenn ich Sie durch eine Abschweifung verblüffen darf – verbunden durch eine eigenartige Affinität zum Halbschlaf. Zu der Zone zwischen Traum und Wachen, die gleichzeitig von der Verwirrung der Sehn­ sucht und der Albträume und von einer nervösen Überwachheit bezeichnet wird. Man denke an den Beginn der Recherche, an den ersten, halluzinatori­ schen Satz, der gewiss nicht umsonst am Anfang dieses Riesenwerkes steht: »Longtemps, je me suis couché de bonne heure.« Diesem Früh-zu-BettGehen der Kindheit, das ein Warten auf die Mutter ist und auf den Schlaf, ein konzentriertes Nachdenken über den vergangenen Tag und ein Hinüber­ horchen in die Welt der Erwachsenen, entspricht am Ende des Ulysses der

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endlose innere Monolog der im Bett liegenden, halb wachenden und halb träumenden Molly Bloom, der Bewusstseinsstrom der ungetreuen Penelope, der Muttergottheit, der Menschheit im Halbschlaf (der sich in Finnegans Wake in die ungeheuerliche Schlafestiefe zurückziehen wird). Und bei Kafka wäre es nicht schwer, eine Anthologie aus Sätzen wie dem Beginn der Verwandlung zusammenzustellen: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Sammlung enthielte den Besuch des Landarztes beim Patienten, wo jener selbst (während der Schulchor des Dorfes auf »eine äußerst einfache Melodie« den Text singt: »Entkleidet ihn, so wird er heilen, und heilt er nicht, so tötet ihn! S’ist nur ein Arzt, s’ist nur ein Arzt«) ins Bett des Kranken gelegt wird. Der Bogen spannte sich bis zum Urteil, wo der Sohn den Vater zu Bett bringt und unmittelbar vor dem entsetzlichen Emporschnellen des alten Mannes, der dann dem Sohn das Todesurteil spricht, der schöne und unheimliche Satz fällt: »Bin ich gut zugedeckt?« All dies würde auch ein besonderes Licht auf den Beginn des Proceß-Romans werfen, wo die Diagnose »Jemand mußte Josef K. verleum­ det haben« die Szene eröffnet, wie K. »von seinem Kopfkissen aus« mor­ gens noch ein wenig in die Wohnung des Nachbarhauses blickt, als ein unbe­ kannter Mann in sein Zimmer tritt. »›Wer sind Sie?‹ fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett.« Diese kleine Abschweifung soll nicht so sehr demonstrieren, dass man zwischen disparaten Werken überraschende Verbindungen konstruieren kann, als daran erinnern, dass dieser ubiquitäre Halbschlaf genau zwischen der radikalen Individualität des Traumes und der Allgemeinverbindlichkeit der wachen Realität steht. Das Jüdische, das diese kanonischen Schriftsteller verbindet, scheint zunächst ebenfalls disparat. Bei Kafka zwar ist der starke Eindruck des Jüdischen so unabweisbar wie es schwierig ist, die einzelnen Bezüge bündig herzustellen; ist die Kafka-Philologie auch weit über das Nachkriegsstadium hinaus, wo das Werk des Autors eine einzige Allegorie des Judentums sein sollte, wird niemand leugnen, dass Kafka emphatisch als jüdischer Autor aufzufassen ist. Und Joyce? Nun, der Titelheld seines größ­ ten Werkes ist natürlich ein Jude, denn der Odysseus des Dubliner Weltenta­ ges im Ulysses ist ein kleiner Annoncenakquisiteur namens Leopold Bloom. Wolfgang Hildesheimer hat am Bloomsday 1984 eine schöne Rede auf ihn gehalten: »The Jewishness of Mr. Bloom«. Zwar beginnt das Buch mit einer Reinkarnation des autobiografisch inszenierten Protagonisten aus dem Bild­ nis des Künstlers als junger Mann, Stephen Dedalus, doch diese auktoriale irisch-katholisch-antikatholische Maskenfigur muss sich mit der Rolle des Telemach begnügen. Bei Proust ist die Frage nach dem »Jüdischen« des Werkes provokant. Er hat seine Mutter über alles geliebt; er hat dem Judentum in der Recherche

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eine strukturelle Funktion überantwortet, die es zu einer der großen leidvol­ len, produktiven, geheimnisvoll interessanten Verkörperungen des Außen­ seiterhaften macht wie die Homosexualität und wie die künstlerische Beru­ fung. Aber war er selbst nicht ein Christ? Ist die Bezeichnung, die er selbst für die Recherche gebraucht – sie sei »eine unvollendete Kathedrale« – über die Architekturfantasie hinaus nicht so etwas wie ein Bekenntnis? Die Frage ist außerordentlich schwierig. Ob das Ästhetische nicht lediglich kraft des Zaubers der Tradition und durch den bei aller sardonischen Gesellschafts­ skepsis tiefen Respekt vor dem Hergebrachten bei Proust so gerne eine religi­ öse Form annimmt, ist wahrscheinlich unmöglich ganz zu entscheiden. Wie soll man Prousts Brief an Jacques Rivière vom Februar 1914 interpretieren, in dem er seinen Roman als »dogmatisches Werk« im Dienste der »WAHR­ HEIT« bezeichnet? Was bedeutet es, wenn der Autor beim Nahen des Todes dem frommen Dichter Francis Jammes schreibt, dieser möge zum Heiligen Joseph beten, dass er ihm das Sterben leicht mache? Ist dies Evidenz eigener tiefer Frömmigkeit, ist es ein weiteres Zeugnis von Prousts großer, liebevol­ ler Freundeshöflichkeit, ist es eine demütige Metapher? Proust hatte gebe­ ten – am Ende vergaß das Céleste allerdings –, dass man ihm auf dem Toten­ bett einen Rosenkranz in die Hände legen sollte. Doch war es wiederum ein ganz bestimmter Rosenkranz, ein Erinnerungsobjekt, gesättigt mit Freund­ schaft, ein Geschenk der sarkastischen Lucie Faure. Was bedeutete ihm die­ ses Objekt? Was bedeuten die vom Erzähler so geliebten Kirchen in der Recherche? Wenn der Kirchturm von Saint-Hilaire als zartester Strich am Horizont sichtbar wird, ist es, als habe ein Fingernagel ihn an den Himmel geritzt, weil er der Landschaft, »diesem Bild aus nichts als Natur ein kleines Zeichen der Kunst einbeschreiben wollte, diese einzige Andeutung des Menschlichen …« Die Kunst und das Menschliche erscheinen als eigentli­ che Sinnformen der Religion. Stellt man die Recherche und das reale Erlebnis der Affaire Dreyfus nebeneinander, mag das künstlerische Insistieren auf dem Geheimnis der einzelnen Existenz wie ein Zurückweichen vor dem moralischen Ernst des öffentlichen Engagements erscheinen. Aber es ist wohl, wenn wir uns der Logik Prousts anvertrauen, das höhere »Engagement«. Die Treue zu den universellen Werten drückt sich in der radikalen Loyalität zur unbegreifli­ chen Einzigartigkeit des einzelnen Menschen aus. Während der Affäre hat Maurice Barrès die Dreyfusards beschuldigt, sie seien in Abstraktionen wie Wahrheit und Gerechtigkeit verliebte Metaphysi­ ker. »Die Affäre Dreyfus ist eine Orgie von Metaphysikern. Sie beurteilen alles abstrakt. Wir beurteilen alles im Hinblick auf Frankreich.« Wir leben in einer Zeit, in welcher die umstandslose Berufung auf die Interessen einer Nation – ihre Sicherheit, ihre Größe, ihre Einflusssphäre – das »abstrakte« Völkerrecht gegenstandslos werden lässt. (Man könnte hier im Übrigen aus

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gegebenem Anlass Hegels Frage Wer denkt abstrakt? wiederholen.) Dass in der literarischen Moderne, insbesondere bei Proust, ein beständiger verbor­ gener Diskurs über die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen abläuft, scheint mir unbestreitbar. Die Kunst Prousts erschafft ein unauflösliches Ineinander der beiden. Dass es keine einfache Auflösung dieser Dialektik gibt und dass der bewunderte Swann sich als sehr naiv erweist, da er nicht mehr vermag, irgendetwas anders als im Hinblick auf die Affaire Dreyfus zu beurteilen – das ist ein skeptisches Ergebnis, dessen Besonderheit aber wie­ derum in seiner Leidenschaft liegt.2

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Der vorliegende Text – und somit auch die Rede – greift auf zwei ältere Publikationen des Verfassers zurück: das Vorwort zu seiner Übersetzung von Léon Blums Souvenirs sur l᾿affaire (Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus, aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka, Berlin 2005) und die Rezension von Anita Albus’ Proust-Buch Im Licht der Finsternis (Auf der Suche nach der höchsten Wahrheit, FAZ, 18. März 2011, [15. Juli 2015]). Proust wird – in der Übersetzung des Verfassers – zitiert nach der Ausgabe À la recherche du temps perdu, Texte établi et présenté par Pierre Clarac et André Ferré, Paris 1954 (Bibliothèque de la Pléiade; 100); Celeste Albaret nach Monsieur Proust, Paris 1973. Kafka wird zitiert nach der Kritischen Ausgabe bei S. Fischer (KKA): Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von Ger­ hard Neumann, Jost Schillemeit, Sir Malcolm Pasley und Gerhard Kurz, Frankfurt a. M. 1982 ff. Für das Adorno-Zitat siehe ders., Kleine Proust-Kommentare, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 2003, 203–215.

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Questionable People: The Figure of the Criminal in the Literature of Russian-Jewish Authors, 1862–1884 In March 1879, the Jewish Community of St. Petersburg was shocked by the arrest of the venerated Hebrew poet Yehudah Leib Gordon (1830–1892) and his family. Beside his poetic credentials, Gordon was a journalist and critic writing in Russian and Hebrew, a secretary of the Society for the Promotion of Enlightenment among the Jews of Russia (Obshchestvo dlia rasprostrane­ niia prosvesheniia mezhdu evreiami v Rossii – OPE) and stalwart combatant for the modernization and “Russification” of the Jewry in the Tsarist Empire. It appeared later that the arrest was prompted by a false accusation of anti-governmental activities possibly instigated by Gordon’s Hassidic opponents.1 The official reason given for his imprisonment was the mistaken identification of Gordon with a Jewish insurgent who had the same family name. It took almost half a year – during which Gordon and his wife were incarcerated and exiled – and a high level of intervention before his inno­ cence was proven, but his social standing was never restored. At the end of the same year, the first stanzas of Gordon’s new poem Shnei Yossef ben Shi­ m’on (Two Yossef ben Shim’ons, 1879–1884) were published in the Hebrew journal Ha-shakhar (The Dawn). The central question of this poem is the position of the modern Jewish self vis-à-vis the forces shaping Jewish experience in nineteenth-century Russia. Its titular protagonist is an archetype of the Jewish maskil – a halakhic prod­ igy led to secular studies by an unbounded thirst for knowledge. Yossef tra­ vels to Padua to study medicine, but news of his mother’s illness brings him back to Russia, interrupting the optimistic Enlightenment trajectory of his life to that point. During his absence from home, Yossef’s identification papers have been sold by the corrupt treasurer of the Jewish Community to a local young man of the same age, a horse rustler, who murdered one of the policemen chasing him in the aftermath of a rustling episode that had gone awry. During his escape, the impostor Yossef ben Shim’on leaves his identi­ fication documents behind; and when the real Yossef comes home, he is 1

Saul Ginzburg, Ma’asaro ve-galuto shel yalag [Incarceration and Exile of Yehudah Leib Gordon], in: Moznaim [Scale] 31–32 (1930), 25–28; Michael Stanislawski, For Whom do I Toil? Judah Leib Gordon and the Crisis of Russian Jewry, New York et al. 1988, 129– 145. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 29–57.

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promptly arrested. All his efforts to prove his innocence fail. The leaders of the Community are loathe to expose the corruption in their midst and furthermore, they are glad to be rid of the threat represented by the maskil returning home. Yossef’s devout father takes no practical steps to save his son, putting all his trust in prayers and kabbalistic invocations. Even the mi­ raculous testimony of a “heavenly voice” is rejected by the strict officials of the Russian court, who demand tangible evidence of Yossef’s true identity. In the poem’s conclusion, he is sentenced to imprisonment at hard labor for a crime he did not commit. Gordon’s poem fully features the usual Enlightenment rhetoric against the corruption of the traditional Jewish Community and in favor of the enligh­ tened reformation of Jewish life. But it reconfigures the traditional proble­ matic of the Haskalah2 to include a new set of questions pertaining to the relationship between the individual Jewish intellectual and the various dis­ courses and narratives through which the modern Jewish subject had to define himself. In the course of the poem, the traditional rabbinic narrative is rejected due to its irrationality, conformism, and authoritarianism, which impede the subject’s self-development and self-realization. The optimistic narrative of the Haskalah that originated in eighteenth-century Berlin in Moses Mendelssohn’s circles is praised for its emphasis on universal ideals of reason and progress, yet rejected as a tangible existential model because of its detachment from the social and economic realities of Jews in Russia. But the most disappointing aspect – especially for Gordon as an advocate of “Russification” – is the failure of the Russian state system as a symbolic field in which modern Jewish subjectivity can be fashioned and contained. The Russian establishment refuses to “see” the individual Jew as a unique subject with a personal history and a will of his own, viewing him instead through the reductive prism of labels and stereotypes, one of which is the image of the Jew as a criminal and a crook. Gordon’s archetypal maskil finds himself in a no-man’s-land of discursive representations. Without narratives through which to shape his identity and associate his authentic self with his social environment, Yossef ben Shim’on is unable to function as an autono­ mous subject who controls his own destiny. Misidentification and the discrepancy between the authentic self and the roles imposed on the self by the available discourses was one of the para­ mount themes of literature written by Russian Jews between the 1860s and 1880s. It was the time of the so-called Great Reforms in Russian society that followed the ascension to the throne of Emperor Alexander II in 1856. In 2

Shmuel Feiner, The Jewish Enlightenment, trans. from the Hebrew by Chaya Naor, Phila­ delphia, Pa., 2004. On the revisionist approach to definition of the Haskalah, see Olga Lit­ vak, Haskalah. The Romantic Movement in Judaism, New Brunswick, N. J., 2012.

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this period, a new type of displaced Jewish intellectual crystallized and con­ solidated.3 Encouraged by the promises of reform and emancipation, these intellectuals detached themselves from the traditional Jewish Communities, their narratives, and modes of identification and headed toward the centers of Russian culture. Once arrived there, they had to realize that there was no place for them in the symbolic matrix of Russian society. Russian law did not presuppose the existence of an individual as a legal and administrative unit, but operated instead through the implementation of hereditary cate­ gories of classes and estates.4 Jewish subjects were doubly restricted – first, according to the prescription of their estates and second, through the addi­ tional regulations excluding Jews and other minorities. A Jewish subject striving to realize the Enlightenment vision of individual agency was poten­ tially branded by multiple labels of transgression – by the Jewish traditional society that perceived him as an apostate, by Russian authorities that wanted to transfix him into stable geographical and social positions, and by the Rus­ sian literary tradition that used the stereotypes of a Jewish malice as a foil against which to define the positive notions of being “Russian.”5 Unsurprisingly, the figure of the criminal, the outlaw – one who trans­ gresses the grid of the social matrix while preserving the autonomy of indi­ vidual will and agency – held a pivotal position in the literature of RussianJewish authors in Hebrew and Russian between the 1860s and 1880s. The formative experience of that generation was the growth and subsequent devastation of hope for Jewish emancipation prompted by the policy of the Great Reforms – from high hopes for inclusion and self-realization as loyal Russian subjects of Jewish origin to disappointment and alienation follow­ ing the wave of restrictive legislation and pogroms in the 1870s and 1880s. After the mid-1880s – when the institutionalization of Jewish nationalism had commenced with the foundation of the Hibbat Tzion movement6 – it became possible to distinguish between separate cultural and ideological currents of Jewish modernization. Generalizing, Hebrew literature became predominantly associated with the nationalist Palestinophilic (and later Zio­ 3

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Yehudah Slutsky, Tsmikhata shel ha-intelligentsia Yehudit-Rusit [Emergence of RussianJewish Intelligentsia], in: Ha-dat ve-ha-haim [Religion and Life], ed. by Emmanuel Etkes, Jerusalem 1993, 269–299. Gregory L. Freeze, The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, in: The American Historical Review 91 (1986), no. 1, 11–36. Gabriella Safran, Rewriting the Jew. Assimilation Narratives In the Russian Empire, Stan­ ford, Calif., 2000; Elena M. Katz, Neither with Them, nor without Them. The Russian Writer and the Jew in the Age of Realism, Syracuse, N. Y., 2008; Leonid Livak, The Jew­ ish Persona in the European Imagination. A Case of Russian Literature, Stanford, Calif., 2010. A proto-Zionist movement seeking to establish Jewish settlements in Palestine, whose proponents where known as Hovevei Tzion (Lovers of Zion).

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nist) movement; Yiddish literature was consolidated as an authentic voice of the broad Jewish masses and championed by Jewish socialist, Folkist, and autonomist movements; and a majority of Jewish writers in Russian were perceived as part of Russian intelligentsia circles fighting for liberalization and equal rights within the dominant culture. Rigid differentiation between these fields was impossible in the period of their inception, but despite the blurred borderlines, each ideological and cultural milieu mentioned above suggested its own route towards modernization as well as its own aesthetic and thematic sensibilities. This was not the situation between the 1860s and 1880s, when the lack of discursive tools for comprehension and conceptuali­ zation of the modern Jewish condition in the Russian Empire contributed to the production of a heterogeneous and non-standardized body of work in Russian, Hebrew, and Yiddish. Despite all the differences in the traditions of writing and its objectives, different authors who had tried to depict the experience of Jewish moderni­ zation between the 1860s and early 1880s were coping with the similar chal­ lenges of the existential conditions of the Jew in Imperial Russia. The figura of the criminal,7 which derived from the problematic legal status of the Jews in the Empire, embodied the core of these challenges. In the course of this essay, I will establish a link between the legal and social conditions of the Jews in Tsarist Russia, the models of identity and behavior associated with them in Russian public discourse as well as in Russian literature, and the models of subjectivity fashioned in the literature of Jewish authors in Hebrew and Russian, emphasizing the instrumental role of criminal charac­ ters and narratives in this process. Instead of polar dichotomies between Hebrew and Russian-Jewish literatures and between national and assimila­ tionist approaches that were traditionally adopted to describe the situation of the Jews in this period, I will present multiple positionings of the modern Jewish subject vis-à-vis the label of criminality and transgression. Among them – the aforementioned Hebrew poet Yehudah Leib Gordon, the “grand­ father” of Hebrew and Yiddish literatures, Sholem Yankev Abramovitch (Mendele Mojcher Sforim, 1835–1917), the Hebrew novelist and pioneer of Jewish nationalism Peretz Smolenskin (1842–1885), the Hebrew literary critic turned Russian critic, novelist, and later bank embezzler Abraham Uri Kovner (1842–1909), and the Jewish authors in Russian: Grigorii Bogrov (1825–1885) and Grigorii Lifshitz (1854–1921). All these authors were inte­ gral parts of what until the mid-1880s was a broader Jewish multilingual and

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The term “figura” is used here and later in the Auerbachian sense. See idem, Scenes from the Drama of European Literature, Minneapolis, Minn., 1984, chap. “Figura,” 11–78.

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scarcely ideologically differentiated milieu.8 While Hebrew or Russian was the mother tongue of virtually none of them, writing in these languages (unlike writing in Yiddish) was associated with prestige and respectability. In many cases, writing in Yiddish was apologetically explained away with the need to educate women and illiterates,9 whereas questions of modern Jewish self-fashioning and self-definition were predominantly addressed in Hebrew and Russian. On the one hand, the different representation modes of the figure of the criminal in Russian, Hebrew, and Yiddish reflected the similarities between aesthetic, thematic and ideological approaches in the literature of Jewish authors of this period; on the other, the different strate­ gies for coping with the issues of criminality in Jewish life revealed early demarcation lines between the various literary corpora. The significance of the affinity of the situation of transgression and the condition of modernity and its literary expressions are not by any means exclusive to Jewish modernization. However, I argue that transgression as a pivotal motif in literature of Russian-Jewish authors was conditioned not only by the intrinsic dynamics of the modernization process itself, by lit­ erary evolution, or by the influence of Russian legal and crime fiction,10 but also by the unique self-positioning of Russian-Jewish intellectuals towards the Jewish tradition on the one hand and Russian social structures and domi­ nant discourse on the other.

Transgression and the Condition of the Jewish Intellectuals in Nineteenth-Century Russia Situations of transgression and their narrative expressions are instrumental for the facilitation and understanding of processes of modernization and individualization.11 One way to recognize one’s own limits as an autono­ mous subject is to assume the possibility of their transgression. Moreover, transgression constitutes the fabric of the narrative itself. As Jurij Lotman 18 For the memoirs about the Russian-Jewish cultural milieu of the 1870s and the early 1880s, see Mordechai Ben Hillel Ha-Cohen, Mi-erev ad erev [From Evening till Evening], Vilna 1923, 133–185; Gershon ben Gershon [Grigorii Lifshitz], Sionistskoye dvizhenie sredi Evreev [The Zionist Movement among the Jews], Odessa 1900, 8–11. 19 Iris Parush, Reading Jewish Women. Marginality and Modernization in Nineteenth-Cen­ tury Eastern European Jewish Society, trans. by Saadya Sternberg, Waltham, Mass./Han­ over, N. H., 2004, 142–154. 10 Harriet Murav, Russia’s Legal Fictions, Ann Arbor, Mich., 1998. 11 Michel Foucault, A Preface to Transgression, in: idem, Aesthetics, Method, and Episte­ mology, ed. by James D. Faubion, New York 1998, 69–87, here 70; Julian Wolfreys, Transgression. Identity, Space, Time, Basingstoke/New York 2008.

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claimed: “For a man who thinks in terms of the categories of the criminal code, a[n] [narrative] event is an act of transgression.”12 Although the narrative as a sequence of transgressions and narratives of transgression are intrinsic to the history of storytelling itself, thinking in the “categories of the criminal code” became a symptomatic mode of modernity, together with the emergence of picaresque and criminal fiction as well as novelistic literature in general. As Hal Gladfelder notes, in a desacralized society “criminal narratives raise in its most aggravated form – at the point of rupture – the pro­ blem of the relations between the individual and a community which was coming to define itself more and more through the discourses and institutions of criminal law.”13

Changes in the techniques of power in early modern times were an integral part of the profound upheavals in the social and economic realities of Eu­ rope. Craig Dionne and Steve Mentz argued that in the light of these vicissi­ tudes, “images of the early modern rogue created a cultural trope for mobi­ lity, change, and social adaptation.”14 The dynamics of the relationships between literature and life, and between the outlaw or marginal protagonist and the respectable middle- and upper-class readership could be applied to Russia’s modernization processes in the nineteenth century. However, these processes unfolded in an utterly different legal and economic reality. In the case of Western European society, the transition from the pre-modern to the modern world could be described as a transition from the realm of sanctified absolute power of the sovereign to the realm of rational law. In the autocratic absolutist manorial Russian Empire, however, the processes of moderniza­ tion coincided with a systematic mistrust of the autonomous rational legal system. Richard Wortman has suggested that “seeking to institutionalize authority, the autocrat never abandoned his reliance on per­ sonal authority. On the one hand there was a movement toward order in the state; on the other, there was a resistance to order where it could constrain the exercise of the tsar’s personal will or whim.”15

As a result, the unsystematic, arbitrary, incoherent, and contradictory legal reality endured. The Russian legal system differentiated among separate social estates, among corporate bodies, as well as among religious and eth­ 12 Jurij M. Lotman, The Structure of the Artistic Text, trans. from the Russian by Gail Len­ hoff and Ronald Vroon, Ann Arbor, Mich., 1977, 236. 13 Hal Gladfelder, Criminality and Narrative in Eighteenth-Century England. Beyond the Law, Baltimore, Md., 2001, 5. 14 Craig Dionne/Steve Mentz (eds.), Rogues and Early Modern English Culture, Ann Arbor, Mich., 2004, 1. 15 Richard S. Wortman, The Development of a Russian Legal Consciousness, Chicago, Ill., 1976, 16.

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nic communities. Often contradictory, the legal frameworks differed for the various social, ethnic, and religious groups; some of the differences reflected actual variations in social conditions, but others were the products of the bureaucratic machine.16 Andreas Schönle has shown that even the processes of self-fashioning among Russian nobles from the eighteenth century on were influenced by the lack of established institutions “that would regulate public life clearly enough.”17 But in the absence of unified protocols of pub­ lic conduct, nobles could operate through their extensive network of perso­ nal connections and alliances, thus reaffirming their positioning as indivi­ dual (even though not autonomous) agents in the social field. For the representatives of less privileged classes and estates, however, similar condi­ tions of arbitrariness and highhandedness had dehumanizing implications and prompted impostor tactics and strategies.18 It is unclear to what extent the legal situation of the Jews in the Russian Empire was essentially unprecedented compared to other disenfranchised groups such as ethnic and religious minorities, as women, peasants, etc.19 However, three factors should be kept in mind: first, the intrinsic anti-Semit­ ism of the Russian state machine, which although not the prime motivation for policies towards Jews, was present in the legal and administrative deci­ sions carried out at different levels of the government and administration; second, the relatively high level of literacy and education among the Jewish cultural elite, especially in comparison to other minorities who were sub­ jected to similar legal restrictions; and finally, the motivation of the Jewish intellectual elite to become integrated and assimilated into Russian state sys­ tems. The restrictions imposed by the authorities on movement, education, city-dwelling, and state employment were especially burdensome for the ris­ ing class of urban Jewish intellectuals that started bursting out of the shtetl in the 1860s.

16 Freeze, The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, 11–36. 17 Andreas Schönle, The Scare of the Self. Sentimentalism, Privacy, and Private Life in Rus­ sian Culture, 1780–1820, in: Slavic Review 57 (1998), no. 4, 723–746, here 746. 18 On the adaptive practices of the Jews to restrictions on freedom of movement and citydwelling, see Eugene M. Avrutin, Jews and the Imperial State. Identification Politics in Tsarist Russia, Ithaca, N. Y., 2010, 116–146. 19 For challenges to the traditional narratives about the exceptional position of the Jews in the Russian Empire, see John D. Klier, The Ambiguous Legal Status of Russian Jewry in the Reign of Catherine II, in: Slavic Review 35 (1976), no. 3, 504–517, here 505; Benja­ min Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berke­ ley, Calif./Los Angeles, Calif., 2002, 23 f. For a review of the legal and social position of other minorities in the Russian Empire, see John W. Slocum, Who, and When, Were the “Inorodtsy”? The Evolution of the Category of “Aliens” in Imperial Russia, in: Russian Review 57 (1998), no. 2, 173–190; Robert D. Crews, For Prophet and Tsar. Islam and Empire in Russia and Central Asia, Cambridge, Mass., 2006.

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There is no doubt that in the eyes of this population, the legal situation of the Jews in the Empire was indeed unprecedented and anomalous. Benjamin Nathans suggested that one of the possible reasons for this outlook was the inclination of the Russian Jewish intellectuals to evaluate their condition not within the framework of the situation of other discriminated groups in the Empire but in comparison with the legal status of the Jews in the countries of Western Europe.20 Nathans sheds light on the discrepancy between the narrative of depriva­ tion and discrimination promulgated by the Jewish intellectuals and the tre­ mendous achievements of the Jewish population in the Russian Empire in terms of social and geographic mobility. These achievements were made possible through a policy of selective integration under the patronage of the newly established Jewish commercial elite. In the framework of this policy, the Russian government continued to deny Jews in general rights commen­ surate with those of the Russian Orthodox population, but awarded partial rights and privileges to organized pressure groups within the Jewish Com­ munity. Among those harmed by this policy were the diffuse and dispersed Jewish intellectuals, who lacked the relative power and leverage enjoyed by the more established Jewish Communities and by the rising class of moneyed Jews. Like other Jewish individuals unsupported by organized pressure groups, the intellectuals were invisible to Russian law, their exis­ tence defined only by way of negation, through restrictions on freedom of movement, prohibitions on city-dwelling and on membership in certain pro­ fessions and occupations. As has been mentioned by Foucault, in the condition of legal indetermi­ nacy of the pre-modern period, the dispossessed strata of society, even though devoid of privileges, “benefited, within the margins of what was imposed on them by law and custom, from a space of tolerance, gained by force or obstinacy.”21 Iris Parush and ChaeRan Freeze have shown that in the case of Imperial Russia as well, the legal and social indeterminacy provided the less privileged group in the Jewish population – women – the opportu­ nity to gain a certain degree of independence and control over their lives.22 For male maskilim, however, the situation was completely opposite. Their self-perception as a cultural elite was formed and continued to rely on Wes­ tern norms of citizenship and subjectivity that presupposed equal distribu­

20 Nathans, Beyond the Pale, 376. 21 Michel Foucault, Discipline and Punish. The Birth of the Prison, trans. from the French by Alan Sheridan, New York 1977, 82 (French original entitled Surveiller et punir). 22 Parush, Reading Jewish Women, 242; ChaeRan Y. Freeze, Jewish Marriage and Divorce in Imperial Russia, Hanover, N. H., 2002, 283.

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tion of purportedly rational and impersonal power. For them, the legal inde­ terminacy was seen only in negative terms. The clash between the maskilim’s steadfast belief in the power of the law to regulate social life and to provide the substratum for the formation of a true self, and the reality of discrimination in the midst of an inconsistent, contradictory, and whimsical legal system, placed them in an especially vul­ nerable position of being perceived as transgressors.23 As formulated in 1881 in one of the many outcries against Jewish lack of rights in the Russian Empire: “The negative legal status of the Jews [their definition and regulation through negation and prohibitions] and its practical realization allows us to contemplate its regrettable consequences. […] In order to obtain their legal rights, Jews are forced by the law itself to adopt [the practice of] evasions, judicial fictions, various dodges; as a result, the administration perceives the Jew as a being without legal rights, and the law [sees him] as a dodging rogue.”24

The author of this article described a circular tripartite system. The law con­ ditioned the set of behavioral tactics and strategies of the Jews, which in turn influenced the image of the Jew in the eyes of the authorities and the law. Between the symbolic order and the individual there was a discourse that not only mediated between them, but constructed and sustained the system of ethnic-confessional difference.25 Although the contradictory, vague, and negating laws conditioned the strategies of Jewish conduct in the Empire, the dominant discourse – systems of consensual beliefs, news, rumors, images, but primarily literature – was simultaneously fashioned by these laws and facilitated, reinforced, and perpetuated them. The figure of the Jew occupied a special role in Russian literature. As mentioned by Elena Katz, there were “more noteworthy Others for Russian identity discourse” in the literature. “Nevertheless, images of Jews proved convenient for promulgating Russian national characteristics. […] Jews were outsiders whose exotic characteristics became a useful foil for desig­ nating essential Russian traits.”26 Gabriella Safran has noted that contradic­

23 For more on the “enchanted circle” of an Imperial Russian policy that by the same legisla­ tive and administrative devices both produced the conditions for the initiation of moder­ nized Jewish individuals and denied them the possibility of individual agency, see Olga Litvak, Conscription and the Search for Modern Russian Jewry, Bloomington, Ind., 2006, 29–41. 24 G. Press, K kharakteristike sistem zakonopolozhenii o Evreiakh v Rossii [Toward a Char­ acterization of the Systems of Legislative Measures Concerning the Jews in Russia], in: Voskhod [Sunrise] 9 (1882), 227. 25 For more on the role of dominant discourse, see Kaja Silverman, Male Subjectivity at the Margins, New York 1992, 8. 26 Katz, Neither with Them, nor without Them, 26.

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tory portrayals of Jews in Russian literature and the public discourse as the representatives of both, “West and East, progress and backwardness, radical­ ism and conservatism,” reflected the conflicts in the definition of Russian national identity.27 To serve as a negative counterpart of Russian positive selves, the Jew was represented as a socially marginal figure, alternately abject and demonic, ludicrous and sophisticated, treacherous and obse­ quious, lustful and impotent.28 In his comparison of the Jews’ literary repre­ sentations in Russia and in Western Europe, Leonid Livak has written that Russian literature developed no positive tradition, “partly [due to] official censorship and partly [due to] the common unreadiness among Russian artists to be as liberal with the ‘jews’ as Lessing [in Nathan der Weise] or as Scott [in Ivanhoe].”29 As Livak has shown, even these more progressive works of European literature were hardly free of stereotypical representa­ tions. Some of their stereotypes, however, were relatively positive in the context of their respective societies, allowing Jewish readers to identify with active, honorable, self-respecting Jewish characters. Such identification could not have emerged among those Jews whose self was mediated by the Russian dominant discourse of the latter half of the nineteenth century. They were defined in terms of negation and exclusion, as the marginal bearers of negative characteristics, instrumental for the definition of “positive” Rus­ sianness in the literature.

Between Three Discursive Frameworks and Two Systems of Power As we have seen through the example of Yehudah Leib Gordon’s Yossef ben Shim’on, in the period under discussion, maskilic self-fashioning was imple­ mented by a constant negotiation between three parallel and sometimes rival frameworks of dominant discourse that conducted and shaped the consensus and ethos of a given society. The first framework was the discourse of Jew­ ish traditional society which outlined rigid definitions of true and false, proper and outrageous, godly and heretical. This discourse was enacted in both Yiddish (in the lower, everyday spheres of existence) and Hebrew (in the intellectual, spiritual, elitist, and ceremonial ones). It was determined by the norms and laws of the traditional communal authorities and maintained 27 Safran, Rewriting the Jew, 19. 28 For more on the contradictory symbolic function of the Jew in Russian discourse, see Laura Engelstein, The Keys to Happiness. Sex and the Search for Modernity in Fin-deSiècle Russia, Ithaca, N. Y., et al. 1992, 299 f. 29 Livak, The Jewish Persona in the European Imagination, 166.

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in turn the privileged status of these authorities. In this system of social posi­ tions and representations, the image of the maskil was traditionally asso­ ciated with transgression and criminality.30 The second framework of dominant discourse existed without the solid backing of authoritative power to provide a material infrastructure for its set of ideas and narratives. Traditionally the fiction of the Haskalah relied on the symbolic structure of the enlightened egalitarian state. Though the ideal state corresponding to the expectations cultivated by the fiction of the Has­ kalah hardly existed even in Western Europe, the political and legal realities of Russia proved to be completely incommensurable with the ethos of the traditional Jewish Enlightenment. Nevertheless, the Haskalah’s dominant discourse in Hebrew and German provided a powerful vehicle for the transi­ tion from traditional Jewish society to the modern world. It cultivated the ideal of Bildung – a combination of individuation and socialization – and promulgated values of rationalism, education, and integration into civil society. By the end of the 1860s, however, even the most optimistic of the maskilim could not help but acknowledge the irrelevance of these narratives to the realities of the Russian Empire. Finally, there was the framework of Russian dominant discourse. Several features should be emphasized in addition to the aforementioned proble­ matic positioning of the Jew in the Russian symbolic order and literature. First, the liberal stance of Russian literature and civil discourse on the eve of the reforms that attracted the maskilim and made them see Russian culture as a welcoming, productive site for integration and positive signification.31 Second, the privileged position of the literature as a bearer of national spirit and moral authority in the empire that provided a model for maskilic fash­ ioning of their own cultural space.32 But together with their fervor in adopt­ ing the aesthetic norms and social pathos of the Russian literary tradition, Jewish authors inevitably had to deal with its negative iconography of the portrayals of the Jew. 30 Israel Bartal, “Shim’on ha-Kofer.” Perek be-historiografyah ortodoksit [“Shim’on the Apostate.” Chapter in the Orthodox Historiography], in: idem/Chava Turniansky/Ezra Mendelssohn (eds.), Ke-minhag Ashkenaz ve-Polin. Sefer Yovel le-Khone Shmeruk [According to a Custom of Ashkenaz and Poland. Festschrift for Khone Shmeruk], Jeru­ salem 1993, 243–268. 31 John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question, 1855–1881, Cambridge 1995, 51–68. 32 For discussion of the place of literature and author in Russian social life, see Gregory Freidin, A Coat of Many Colors. Osip Mandelstam and his Mythologies of Self-Presenta­ tion, Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif., 1987, 11–19; Mikhail Berg, The Status of Rus­ sian Literature, in: Russian Studies in Literature 38 (2002), no. 2, 6–40; Pamela Davidson, The Validation of the Writer’s Prophetic Status in the Russian Literary Tradition. From Pushkin and Iazykov through Gogol to Dostoevsky, in: Russian Review 62 (2003), no. 4, 508–536.

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There was no organic evolutionary tradition for the representation of Jew­ ish modern experience in the Tsarist society. Jewish intellectuals of this pe­ riod found themselves, if not in a complete representational vacuum among the three discourses available, then in the situation of a severe deficiency of images, models, and positions of agency for positive self-fashioning, selfrecognition, and self-comprehension. Sander Gilman has pointed out two possible strategies in positioning oneself vis-à-vis the denigrating labels of the dominant culture: “Self-hating Jews respond either by claiming special abilities in the discourse of the reference group or by rejecting it completely and creating a new discourse, uncontaminated, they believe, by their exclu­ sion from it”33 – but which in fact duplicates these negative labels by the very act of their negation. Yet most of the Jewish writers in this period chose a different approach: they succumbed to the denigrating discourse, whether the Jewish traditional discourse of the apostate or the Russian discourse of the deceptive Jew, but reconfigured the restricted and one-dimensional posi­ tions allotted in these discourses to the modernized Jew and presented them as active positions of autonomous agency and desire. Foucault associated the transition from the pre-modern to the modern pe­ riod with the “shift from a criminality of blood to a criminality of fraud” which formed part of “a whole complex mechanism, embracing the develop­ ment of production, the increase of wealth, […] stricter methods of surveil­ lance, a tighter partitioning of the population, more efficient techniques of locating and obtaining information.”34 Even though the combination of tech­ niques of power implemented in the Russian Empire produced a less differ­ entiated shift from pre-modern to modern conditions, the number of identity and fraud crimes – which can be seen as the crimes of modernity par excel­ lence – did increase there throughout the nineteenth century.35 The figure of the Jew, paradoxically identified with both – backwardness and progress –, was associated in the popular imagination with accusations of both types of crimes as well: the primeval crimes of blood and the body (blood label and pimping) and the modern crimes of fraud and forgery. In this complex the trafficking in women was an eerie combination between crimes of the body and crimes of fraud. The statistical data about the actual involvement of the Jews in the criminal life of nineteenth-century Russia is incomplete and “impressionistic.”36 The incomplete statistical information, published mainly 33 Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore, Md., et al. 1986, 19. 34 Foucault, Discipline and Punish, 77. 35 Ivan Foinitskii, Moshennichestvo po Russkomu Pravu [Crimes of Fraud According to Russian Law], St. Petersburg 1871, III f. 36 John D. Klier, Art. “Crime and Criminals,” in: YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 3 August 2010, (30 July 2015). More detailed information available today refers to Jewish

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in apologetic articles in Russian-Jewish periodicals of the period, reveal that the relative number of Jewish criminals within the overall Jewish population was significantly lower than the rates for representatives of other confes­ sions: for every 100,000 Jews there were 49 Jewish convicts, while the rates for the Russian Orthodox and the Roman Catholic populations were, respec­ tively, 138 and 103 per 100,000.37 The only criminal activity where Jewish involvement was relatively greater than that of the Russian Orthodox popu­ lation was the crime of smuggling. Instances of this type of crime were men­ tioned in various Jewish texts, from the Hassidic tales to the maskilic auto­ biographies.38 The broad acknowledgment in Jewish sources of Jewish participation in smuggling activities might be explained by the community’s perception of this crime as not only less shameful and evil than others, but also as evidence of the valor and resourcefulness of its perpetrators. Returning to the Foucauldian dichotomy between crimes of blood and crimes of fraud, it is possible to assert that between the 1860s and 1880s, the works of maskilic authors showed a preoccupation predominantly with the latter type of crime, mainly associated with the modern condition. Maskilic education fashioned these authors as modern subjects, but their reality placed them in the pre-modern social field. The discrepancy between the modes of self-perception and the structure of the social order in which this self-perception took place, both, in Jewish-traditional and especially in Rus­ sian civil society, made them comprehend these social orders not as a nat­ ural, sole possible reality. Instead they were seen rather as complexes of arbitrary codes that could be suspended and manipulated. Therefore, the maskilim of the 1860s to 1880s used the figura of fraud and identity crime – crimes that presuppose the semiotic perception of reality as a nexus of potentially interchangeable signifiers – as an instrument to envision and con­ ceptualize their own existential situation.39 criminal activity in Odessa: Avrutin, Jews and the Imperial State, 130; Il’ia Gerasimov, My ubivaem tol’ko svoikh. Prestupnost’ kak marker mezh-etnicheskikh granits v Odesse nachala XX veka [We only Kill Ours. Criminality as the Marker of the Trans-Ethnic Boundaries in Odessa at the Beginning of the Twentieth Century], in: Ab Imperio 1 (2003), 209–260. However, Odessa’s crime rate is hardly representative of the general Jewish experience in the Empire. 37 A. F.-Mak, Prestupnyi li Evrei? [Are the Jews Criminal?], in: Russkii evrei [The Russian Jew] 22 (1880), 849 (according to the data from the statistical reports from 1837 until 1846). 38 Louis Newman (ed.), The Hasidic Anthology. Tales and Teachings of the Hasidim, trans. from the Hebrew, Yiddish and German, selected, comp. and arranged in collab. with Samuel Spitz, New York 1944, 310 (first publ. 1934); Abraham Baer Gottlober, Zikhronot ve-masa’ot [Memories and Travels], Jerusalem 1976, 287 f. 39 For the psychological analysis of scenarios of imposture as a paradigmatic moment in the Russian-Jewish condition, see Harriet Murav, Identity Theft. The Jew in Imperial Russia and the Case of Avraam Uri Kovner, Stanford, Calif., 2003, 99–103 and 129.

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Lacking models, traditions, a clear definition of audience or a system of cultural institutions to rely on, maskilic authors of the 1860s to 1880s pro­ duced a problematic body of work in terms of aesthetic and ideological coherency, psychological justification of their characters, and causative cred­ ibility of the plot. They were painfully aware of the handicap of their crea­ tive position and discussed it endlessly. To create their work, they tena­ ciously synthesized different elements from the traditions of all three dominant fictions available to them.

The Traditional Strategies of Rationalization of the Maskilic Transgression From the earliest stages of Jewish Enlightenment, maskilim had to deal with the brand of apostasy and transgression imprinted on them by the rabbinical authorities. A very complex and sophisticated rhetorical, theological, philo­ sophical and psychological apparatus was elaborated by them to formulate their response to this branding and to claim their role as the true moral and intellectual leaders of legitimate modern Judaism.40 Although the maskilim tended to portray the traditional Jewish Community as an incubator of moral vices and transgressions, the possibility of maskilic transgression was dis­ cussed as well, starting with the earliest texts of the Haskalah. The character­ istic approach of the maskilim was to adopt a clear moral stance and a sys­ tem of rationalizations not only to explain and justify questionable behavior of the character associated with maskilic experience, but also to distance their true selves from negative branding. One of the earliest examples can be found in the autobiography of Solo­ mon Maimon (1754–1800). When depicting his life as a child-husband and a victim of an arranged marriage, he emphasized the harsh living conditions in the house of his mother-in-law. To make her change her ways, one night young Shlomo hid himself under her bed, and mimicked the voice of his deceased mother, cursing her “in-law” for ill-treatment of her “beloved son.”41 In this scene a ruse was employed by an honest maskil taking advan­ tage of the prejudices of the traditional society which had deprived him of his basic needs. Similar motifs appeared in many other maskilic narratives, 40 For more on this apparatus, see Svetlana Natkovich, Ben Abuja, Spinoza ve-Acosta. Mi dmuyot liminaliot le-gibore mofet shel ha-Haskalah [Ben Abuja, Spinoza and Acosta. From Liminal Figures to the Exemplary Models of the Haskalah], in: Zehuyot [Identi­ ties] 2 (2012), 55–71. 41 Solomon Maimon, The Autobiography of Solomon Maimon. With an Essay on Maimon’s Philosophy by Hugo Bergman, trans. from the German with additions and notes by J. Clark Murray, London 1954, 61.

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in which the maskil resorted to deception only for his own survival, and the act of the deception itself took advantage of the ridiculous superstitions the Haskalah was combating.42 In the prevalent early maskilic response to the threat of transgression, tre­ mendous effort was invested in maintaining the distinction between ideal maskilic selves and the questionable moral positions associated with modern existence. Unsurprisingly, the first Yiddish novel, Yisroel Aksenfeld’s (1787–1868) Dos Sterntikhl (The Headband, written sometime in the 1840s, published in 1861) was the first to present a more complex depiction of the maskil’s stance on fraud and forgery. Mikhl, the protagonist of the novel, intentionally presents to his beloved a fake pearl headband. This enables him to win the heart of the vain maiden and a prominent status in the obscu­ rantist, backward community, while preserving his capital for actual commer­ cial enterprises. Mikhl’s act mimics the fraudulent behavior of his Hassidic opponents, but deploys it to achieve his rational maskilic goals. Dan Miron notes that Mikhl’s acts turn him into a “capitalist Zaddik” – a modern rein­ carnation of old communal models of leadership.43 What distinguishes Mikhl’s and his friends’ manipulations from the chicanery of the old genera­ tion is the awareness of the deceptive nature of their actions and the convic­ tion that their deeds are only taking advantage of the ignorant for the greater good of the community. The traditional demarcation between the positive and negative characters in the Haskalah literature calls for attention. In all three novels by Abraham Mapu (1808–1867), the first novelist of Hebrew literature, there is a clear differentiation not only between the positive and negative characters, but between their dynasties. Essentially good and essentially bad qualities are identified with different families, and their biological background dominates even when the descendent of the evil family is raised by “enlightened” par­ ents or patrons. Sholem Yankev Abramovitch’s novel Ha-avot ve-ha-banim (The Fathers and the Sons, 1868)44 was written only several years after Ayit tsavua (Hypo­ 42 Mordekhai Brandstetter, Mordekhai Kizewitch, in: idem/Ben Ami Feingold (eds.), Sipurim [Stories]. Selected Stories, Jerusalem 1974, 58; Mordekhai Brandstetter, Hanifla’ot me-ir Zhidatshovka [Wonders from the Town of Zhidatshovka], in: ibid., 102; Reuben Brodes, Ahava tekholel nifla’ot [Love Will Make Wonders], in: Zkenim im na’arim [Old People and Youngsters], Vienna 1886, 86; Gottlober, Zikhronot ve-masa’ot, 255 f. 43 Dan Miron, Shevis-ha-peniniyim. Ekron ha-metsi’ut ba-roman Dos shterntikhl le-Yisra’el Aksenfeld [The Pearl Headband. The Reality Principle in the Yisra’el Aksenfeld’s Novel “Dos shterntikhl”], in: idem, Bein hazon le-emet [Between Vision and Truth], Jerusalem 1979, 179–216, here 215. 44 An earlier version of the novel was published in 1862 under the title Limdu hetev (Learn to Do Good).

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crite Eagle, 1857), Mapu’s only novel depicting contemporary Jewish life.45 Nevertheless, Ha-avot ve-ha-banim presents a different balance of power between the maskilim and their opponents. Dan Miron has emphasized the changes in the economy of characters in Abramovitch’s work. Rather than reflecting the principle of heredity that highlighted “the eternal drama of the war between good and evil,” the conflict in Ha-avot ve-ha-banim explores a more realistic, historical confrontation between the generations.46 In Abra­ movitch’s novel, the personalities of the characters do not derive from their genetic heritage but from their deliberate moral stances. The motif of crime is crucial to the plot of the novel. Arie, a Robin Hoodlike character, is an impoverished Hassid betrayed by traditional society. When he finds himself without any means of subsistence he turns to robbery, channeling the extorted sums to subsidize the education of poor maskilim. In the course of the novel we learn that Arie is the father of the main charac­ ter – the ideal maskil David. With his assistance David breaks up the engagement of his beloved to the son of corrupt rich fanatic and marries the girl himself. The criminal sub-plot of Ha-avot ve-ha-banim was dismissed by later critics as a vestige of the sentimental novel.47 But the pivotal place of Arie in the narrative cannot be dismissed so easily. The lack of realism is compensated for by the dynamic nature of his character, its nodal position­ ing in the intersection of two central plotlines, and most importantly, by his figurative significance as the metonymical and metaphorical representative of modern Jewish existence. In 1869, immediately after the publication of the novel, the early critic of Hebrew literature Abraham Paperna discussed the qualities of the portrayal of Arie that made this figure, in his opinion, the focal point of readers’ empathy and identification. These included Abramovitch’s dexterity in describing Arie’s inner world and motivations and the dynamism of the char­ acter, who in the course of the novel experiences the most radical upheavals: from riches to poverty, from ignorance to awareness, from respectability to the life of an outcast. But Paperna’s most important observation focused on the relative positioning of the character in the narrative: “This man is not from the fathers and nor from the sons but rather a bridge between them; he

45 Mapu’s other novels were set in biblical times. Because of anti-maskilic persecution, the full version of Ayit tsavua was published only after his death in 1869. See Einat Baram Eshel, Milhemet ha-realism al nafsho. Yitsuge metsi’ut be-sifrut ha-Haskalah ha-Ivrit, 1857–1881 [The War of Realism. Representation of Reality in Haskalah Literature, 1857–1881], Bnei Brak n. d. [2011], 169. 46 Miron, Bein hazon le-emet, 260. 47 Ibid., 274–279.

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is the man that leaves the old ones but cannot join the new ones yet.”48 This comment draws attention to Arie’s role as a mediator, not only between the generations but between the social institutions in the changing world of the Pale. Paradoxically, in a corrupt society the criminal is one who ensures the fair redistribution of monetary, cultural, and erotic capital. Indeed, Arie’s own criminality is the outcome of an obsolete and corrupt traditional society, but his support for the new generation of maskilim metonymically signifies the enterprises of the Haskalah as products of transgression as well. Arie the noble robber bears the burden of the misdemeanors of a society that rene­ gotiates its own norms and moral standards. He is the outcast who actualizes and symbolizes the most profound qualities of the very community that has banished him. Similar to Arie’s role as a mediator between the old and new generation, the novel Ha-avot ve-ha-banim itself mediates between the traditional mas­ kilic and the new realistic modes of representation of the Russian-Jewish experience that were being consolidated in the 1860s, 1870s, and early 1880s. During this period, Abramovitch himself reinvented his authorial per­ sona as Mendele Mojcher Sforim – a Yiddish-speaking narrator of the peo­ ple, who revealed the drama of simple Jews on the verge of modernity. Unsurprisingly, in his quest for realistic modes of representation of Jewish life, Mendele distanced himself from the persona, the consciousness and the viewpoint of the Jewish intellectual (and thus his own biographic experi­ ence) and concentrated his creative forces on a description of the “people.” The situation of the maskilim on the fault line between tradition and moder­ nity left them estranged from the established discursive formations for sig­ nification and representation in the setting of Russian social realities. In these discursive conditions, to portray the experience of a Russian-Jewish intellectual as a dignified and active persona meant virtually to represent the unspeakable.

Me, Myself, and the Image of Criminal Between the two symbolic orders and three frameworks of dominant dis­ course that regulated, conceptualized, and signified the existence of the Rus­ sian-Jewish intellectuals, the choice of language placed the narrative into a specific setting of aesthetic devices and ideological and cultural accentua­ 48 Abraham Paperna, Ma’amarei bikkoret [Articles of Criticism], in: Ha-melits [The Advo­ cate], no. 16, 29 April 1869, 117 (emphasis in the original).

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tions. The texts written in both Hebrew and Russian, however, were preoc­ cupied with the positioning of the modernized subject vis-à-vis the label of criminality and transgression. Naturally, the Hebrew texts had a greater ten­ dency to address the question of the relations with traditional Jewish society and with its branding of the maskilic experience as a transgression; concur­ rently, the Russian-Jewish literature was mainly oriented towards the contestation of Russian labels and stereotypes of the Jews. Despite their dif­ ferences, the unequivocal differentiation of these two groups is impossible. Most of the Jewish authors of this time who refused to conform to the exist­ ing cultural modes were situated between the two extremes of more clearly defined renditions of the motif of criminality: through the Jewish national perspective (in the literature of Peretz Smolenskin) on the one hand and through the Russian assimilationist view (in the literature of Grigorii Bogrov and Abraham Uri Kovner) on the other. They elaborated complex, con­ flicted, and ambiguous positions and tried to situate themselves in relation to both frameworks of dominant fiction, refusing to give up either their Jew­ ish or Russian belonging. One of the most prominent representatives of this group was Yehuda Leib Gordon, with whose poem Shnei Yossef ben Shim’on I have opened this dis­ cussion. In his description of the destiny of the archetypical Jewish maskil in the cultural and legal reality of Imperial Russia, Gordon depicted a night­ marish vision of the total collapse of identity, communal solidarity, reason, faith, and culture. It is unclear whether Gordon conceived Shnei Yossef ben Shim’on before his arrest and incarceration or wrote it following this experi­ ence. Either sequence, however, exemplifies the shaky boundary between the personal narratives of the self, literature, and the actual life of RussianJewish intellectuals in nineteenth-century Russia. Gordon’s maskilic colleagues writing in Russian perceived similar exis­ tential situations of an essential lack of rights that were depicted in Shnei Yossef ben Shim’on not only as a tragic shattering of the self, but also as a reality demanding an adequate and pragmatic response. Instead of interpret­ ing their experience as a story of collapse, some chose to narrate the para­ doxes of Russian-Jewish existence through the modes of satirical representa­ tion. Journalist and novelist Grigorii Lifshitz, for example, described in his Ispoved᾿ prestupnika (A Felon’s Confession, 1881) the paradoxical strategies employed by Jews to overcome their legal exclusion and gain recognition as autonomous subjects. The process of maturation of the Russian-Jewish intel­ lectual was presented by Lifshitz as a sequence of unwilling felonies that his autobiographical narrator was coerced to employ in order to survive in a dehumanizing legal reality. In one unsettling scene, for instance, several Jewish characters try to resist their deportation from St. Petersburg, where Jews were forbidden to reside by law: someone suggests that the protagonist

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should go through a pretended marriage with a Jewish student who was registered with the municipal authorities as a prostitute to get permission to live in the city.49 Two other characters, both lawyers, stage a fistfight to be charged with disorderly conduct and stay in town as defendants. The same law that excludes them as Jews is prepared to assimilate them as criminals. By becoming a real criminal, at least during the time of the trial, the Jew is able to find his place in the matrix of the Russian social field that otherwise denies his very existence.50 In that way he is able to acquire a legal body, commensurate with an undeniable reality of his physical existence that otherwise cannot find a conceptual framework for its signification.51 Unlike Gordon, Russian-Jewish writers sought out legal, psychological and narra­ tive tactics to reconcile their existence with these annihilating circum­ stances. At the same time, however, like him, they protested against this situation, emphasizing and nurturing their true and respectable selves as well as cultivating their Russian cultural and political belonging. In contrast to this group of writers, Peretz Smolenskin, one of the first advocates of Jewish nationalism, sought to detach modern Jewish identity from its dependence on non-Jewish cultural and political paradigms and to establish an alternative discourse with its own centers, values, and authori­ ties. This kind of discourse was to allow the individual Jew to define himself as a dominant subject within a given symbolic field. But even Smolenskin’s literature was preoccupied with the motif of the misrecognition and fatal labeling that brings about destructive consequences for the individuals and society. The narrative collision of Smolenskin’s novel Kevurat hamor (A Don­ key’s Burial, 1873) exemplifies the power of the signifier to mold reality in an almost post-structural manner. In his case, however, the instability of the signified did not represent the universal existential condition, but the mal­ functioning of the Jewish Community of his time. Smolenskin’s protagonist, the mischievous maskil Ya’akov-Haim, com­ mits a prank in his childhood and steals the dessert during a gathering of the 49 On the incarnation of the narrative of the false prostitute in Jewish memoirs and fictions of this period, see Gabriella Safran, Isaak Babel’s El’ia Isaakovich as a New Jewish Type, in: Slavic Review 61 (2002), no. 2, 253–272, here 258–261. 50 Notably, after the trial, when the convict was sent to prison, the question of social identifi­ cation arose once again in its entirety. See Abraham Kovner’s prison memoirs: A. K. (Abraham Kovner), Tiuremnye vospominaniia [Prison Memoirs], in: Istoricheskii vestnik [Historical Herald] (January 1897), 161–189; February 1897, 556–573; March 1897, 875–899; April 1897, 105–130. 51 For more examples of this pattern, see Ya’akov Shtainberg, Prestupniki [Criminals], in: Voskhod 4 (1881), 159–162; Nikolai Pruzhanskii, Katorzhnik [i. e. Forced Laborer], in: Voskhod 7 (1903), 69–81. The works were identified thanks to Nathans, Beyond the Pale, 124 f. and 131.

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communal burial committee. The infuriated elders of the committee sen­ tence him to a donkey burial, a burial outside of the cemetery walls as pun­ ishment for an unforgiven apostasy. Their sentence pursues him even after he becomes a distinguished Torah scholar and marries the daughter of one of the community leaders. The chain of accusations, persecutions, and retalia­ tions leads to destructive consequences: trying to take revenge on the tradi­ tional community, Ya’akov-Haim informs the Russian authorities about its crimes; in turn the community punishes him by kidnapping, murdering, and burying him outside the cemetery walls, according to the initial branding that had been imprinted on his fate in his childhood. Unlike Gordon’s pessi­ mistic and Lifshitz’s satirical vision of the maskilic destiny, in Smolenskin’s rendition of a similar motif of misrecognitions, the figure of the maskil is also responsible for the chain of his own calamities.52 In his version of the drama of the maskilic identity, the inability to control one’s own fate is caused by a fatal maladjustment between the obsolete and fanatical commu­ nity and the insensitive, reckless, and inconsiderate maskilic individual. Whereas the original sin of the community in the novel is its strict and vola­ tile legislation and its detachment from a reality that led to disproportionate punishment, the ultimate sin of the maskil is his willingness to involve the Russian authorities in an internal Jewish dispute. Starting with his first novel, the partially picaresque Ha-toeh Be-darkhe ha-Haim (The Wanderer on the Paths of Life, 1868–1876), Smolenskin painted a panorama of Jewish transgressions from the epic and demonic ones to minor misdemeanors and pranks. Of all these crimes, informing the gentile authorities about Jewish affairs was the most severe and despicable. Even when the crimes of the traditional society were obvious and outra­ geous, the internal communal system of justice was the only authority in Smolenskin’s world that could legitimately provide a solution to the pro­ blem. Despite all his attempts to detach his narratives of Jewish life from Rus­ sian influences, Smolenskin was unable to envision the story of successful maskilic self-formation in a Russian setting. When the protagonist of Hatoeh Be-darkhe ha-Haim comes to maturity, Smolenskin transfers the narra­ tive to a European setting. Only by way of constant transition of the charac­ ter through the exotic and unfamiliar European metropolises can Smolenskin represent the “proper” maturation of a nationally oriented Jewish intellec­ tual. Whereas the proper coming-of-age process in the tradition of Enlighten­ ment presupposed the integration of individuation and socialization, the

52 For more on this, see Baram Eshel, Milhemet ha-realism al nafsho, 213–215.

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individuation of Smolenskin’s hero takes place through integration with an abstract “spirit of the nation” detached from a specific social setting. As opposed to Smolenskin, those Jewish authors who chose to affiliate them­ selves with the Russian symbolic system and to self-identify in the terms provided by the Russian dominant fiction faced another paradoxical task. They had to establish an autonomous individuality for their heroes within a discourse which precisely deprived them, as Jews, of such a position. Grigorii Bogrov was the first Russian Jew to publish a novel in an influen­ tial Russian journal, the Otechestvennye zapiski (National Annals) – the autobiographical Zapiski evreia (Notes of a Jew, 1871–1873). Gabriella Safran has described Bogrov’s attempts in some of his works to portray the Jewish subject as critical of Russian anti-Semitism by adopting the point of view of a criminal.53 In one of the fascinating essays analyzed by Safran, Bogrov reacted to the story Rakushanskii melamed (The Melamed of Rakushansk, 1878) by the popular Russian author Nikolai Leskov, whom many then considered a sympathizer with the Jews.54 In the story, a group of Russian soldiers sitting around the fire discusses Jews’ malicious meddling in global politics in the pursuit of profit and power. Their hateful comments are challenged, however, by the commanding officer, the aging Major Ples­ kunov, whom Leskov portrays as the ideal Russian – a kind, honest, moder­ ate God-fearing man. To illustrate the Jews’ harmlessness and helplessness, Pleskunov tells them of his time as the commander of a remote customs post on the western borders of Russia, where he met Zechariah, the local mel­ amed, who is emblematic of the scholarly and sanctified but also the cun­ ning qualities typical, in Pleskunov’s view, of the Jews. In Pleskunov’s story, the seemingly powerful Zechariah turns out to be incompetent, cowardly, and helpless. In response to Leskov’s story, Bogrov wrote a critical essay denouncing representations of the Jews, the Talmud, and the Kabbalah in Russian litera­ ture.55 For rhetorical effect, Bogrov incorporated into the essay a testimony of the fictional character he introduced into Leskov’s plot, the character of Pinkus, a smuggler and Pleskunov’s aide during his time as a customs offi­ cer. According to Pinkus/Bogrov, it was he who told Pleskunov the story of Zechariah with its wealth of ludicrous Jewish exotica, in order to divert the officer’s attention from a daring smuggling operation. Bogrov uses this fic­

53 Ibid., 52–62. 54 Engl.: Nikolai Leskov, The Jews in Russia. Some Notes on the Jewish Question, Prince­ ton, N. J., 1986. 55 Grigorii Bogrov, Talmud ve-Kabbala po “Russkomu vestniku” [Talmud and Kabbalah According to “Russian Herald”], in: Russkii evrei (1879), no. 9, 322–324; no. 11, 401– 403; no. 13, 488–490; no. 16, 606–608.

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tional device to undermine Leskov’s credibility as a chronicler of Jewish life. Even more interesting, however, is the narrative strategy he employs to this end. To fashion a credible Jewish character, on the one hand responsive to the conventions of Russian literature, yet on the other strong, active, selfrespecting and self-determining, he dons none other than the guise of the criminal – the same label assigned to Jewish characters in popular discourse in general, and in literary works by Leskov and other liberal authors in parti­ cular. Gabriella Safran has called attention to the ways in which Bogrov’s inno­ vative way of narrating and imagining the modern Jewish experience dif­ fered from the models of narration developed by the earlier Haskalah authors.56 Whereas the autobiographical narratives adopted by the latter stressed the ideas of the potency of reason and the subject’s capacity for self-determination and self-improvement, Bogrov’s narratives reflected a fatalist worldview and relied on models provided by popular romance and adventure literature.57 In the Hebrew novels by Mapu or Smolenskin, which were partially modeled as well after patterns of sentimental romance, the characters act in the narrative space governed by divine providence, repre­ senting both personal and national supervision. By contrast, Bogrov’s char­ acters act in a nihilistic and arbitrary universe, where the fittest and the most skillful were more likely to survive. In his short novel Poimannik (The Caught One, 1873), the positive maskilic hero adopts the guise of the crook in order to disrupt the actual Jewish criminals’ plot to catch him and turn him into the Russian authorities as a conscript. In doing so, he tricks and incriminates not only the criminals but also the corrupt Russian official who collaborates with them. At the end of the novel, the protagonist takes over all the possessions of his opponents, thus erasing the dividing line between the mask he has adopted and his true self. In Smolenskin’s novels, such trickster-like behavior is always punishable. But in Bogrov’s works it is only a matter of semiotic dexterity to manipulate the external world, as if it were merely a complex of arbitrary signifiers. This was in fact exactly the way he manipulated Leskov’s story, by rewriting it from the perspective of a Jewish criminal. The challenge facing Bogrov and other Jewish authors who followed his lead was how to produce the voice of an autonomous Jewish subject with views and desires of his own from within this dominant Russian discourse. To do so, they had, on the one hand, to accommodate the majority’s expecta­ tions concerning Jews – as otherwise they would not be able to represent themselves within the narrative conventions of Russian literature – and, on 56 Safran, Rewriting the Jew, 33. 57 Ibid., 47 and 50.

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the other, to undermine these same expectations. In his autobiographical Zapiski evreia, Bogrov commented directly on the crisis of Jewish represen­ tation and self-perception, interpreting that crisis as the result of the reduc­ tive labels assigned to the Jews in the dominant discourse: “However I tried to look at my life – […] – on all sides I was struck by an unanswerable question: Who is to blame? Of course, first of all, I am to blame: I am a Jew! To be a Jew – that is the most serious crime; it is a sin that cannot be redeemed; it is a blot that cannot be erased; it is a brand that Fate impresses at the moment of birth; it is a mustering call for all accusations; it is the mark of Cain on the forehead of an inno­ cent person whom everyone has already judged.”58

Gordon, Lifshitz, and other Russian-Jewish writers protested against the dis­ crepancy between, on the one hand, the self-identification of their characters and their autobiographical personas as decent, respectable members of society and, on the other, their labeling by the dominant discourse as born criminals. In contrast, Bogrov in some of his works opted to eliminate this discrepancy by embracing the figure of the criminal as his own subject-posi­ tion. This strategy was taken to even greater extremes by a most scandalous member of this group of Jewish authors, Abraham Uri Kovner. Kovner started his career as a radical critic of Hebrew letters in the early 1860s, but by the end of the decade had decided that there would be no future for Hebrew literature and switched to writing in Russian. Later, with the assistance of Grigorii Bogrov, Kovner was accepted for the position of a clerk in one of St. Petersburg’s banks, run by a Jewish magnate. It is there he found the opportunity to commit the scandalous attempt of self-engineering and reinvented himself as romantic bank robber. In 1875 he perpetrated bank embezzlement, was caught, tried and convicted and imprisoned. Already from the prison he contacted Dostoevskii and marshalling Raskolnikovian rhetoric, asked for understanding, forgiveness, and inclusion in the matrix of the great Russian author’s vision of Russian society.59 Kovner may have been the most odious representative of his generation of Russian-Jewish wri­ ters, but his radical ideological, aesthetic and personal decisions were reflec­ tions of the challenges posed by the very political and existential reality that molded the literature and the lives of other Jewish authors of his period. Kovner took on the guise of the criminal not only as a narrative strategy of self-representation, but also as a behavioral model in real life. Kovner’s crime was complexly motivated, of course, and stemmed above all from his 58 Cit. in ibid., 52. Original from: Grigorii Bogrov, Zapiski evreia [Notes of a Jew], St. Petersburg 1874, 407. 59 For an analysis of Kovner’s correspondence with Dostoevskii, see Murav, Identity Theft, 131–155.

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individual psychology and life circumstances. Yet, the particular expression given to these idiosyncrasies in his writing, as in his life, reflected not only the unique pathologies of his personality but also, and perhaps especially, the social and existential circumstances of the Russian-Jewish intellectuals in their quest for self-determination on the terms established by Russia’s dominant discourse. Kovner’s act of embezzlement was only the opening shot in a life-long succession of identity performances through which the author tried to stretch the limits of the Russian dominant discourse and to present himself as an individualist Jew using the tropes and narrative devices of that discourse. While the symbolic order denied modernized Jews a presence in its signify­ ing matrix in the position of distinguishable, dignified individuals, their insistence on representing themselves in these positions and their fatal mal­ adjustment to them revealed the fictitious and fantasmatic nature of this very order. Trying to overcome the coerced invisibility in Russian discourse, dis­ persed Jewish individuals were forced to amplify their presence, by externa­ lization of the discursive foundations of their selves. After exhausting the role of criminal, Kovner adopted yet another identity from the Russian inventory of Jewish stereotypes – that of the lustful, hyper­ sexual Jew. The only autobiographical text about his adult life is a porno­ graphic work modeled after the adventures of Casanova, which was recently discovered in a Russian archive.60 Here, the choice of a subject-position (of the lustful male) dictated the choice of the literary genre of pornographic autobiography. Only in the framework of the sub-canonic genres of crime fiction or pornography could socially marginal characters, generally asso­ ciated with the Jews – crooks, felons, lechers and later pimps – acquire cen­ tral roles and feature as active agents, and even as protagonists. In his unpublished short story Edinstvennaia (The Only One, 1901), Kov­ ner depicted the destructive consequences of his sexual adventures and his compulsive documentation of them on his family life. While describing the courting tactic his autobiographical protagonist employed to seduce women, Kovner emphasized his discursive prowess, the power of his sophisms and persuasion. Remarkably, two of the cynical sophisms Kovner cites as exam­ ples of his hero’s persuasion skills were in fact quotations from demonic characters’ speeches in Dostoevskii’s novels. The first one – “je prend[s] mon bien où je le trouve” (“I take my goods where I can find them”) – was taken from the detective Masloboev’s lines in Unizhennye i oskorblennye 60 Russian State Archive of Literature and Art (Rossiiskii Gosudarstvennyi Arkhiv Litera­ tury i Iskusstva – RGALI), f. 419, op. 1, ed. khr. 829. An academic edition of this text is forthcoming in my Hebrew translation: Kasanova me-vilno [Casanova from Wilno], BenGurion University.

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(Humiliated and Insulted)61 (originally from Molière); the second – “Ça lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine”62 (“It gives him so much pleasure and me so little pain”) – was part of the devil’s speech to Ivan in Brat᾿ia Ka­ ramazovy (The Brothers Karamazov).63 Here as well as with the Raskolniko­ vian rationalizations of his embezzlement in the letters to Dostoevskii, Kov­ ner accommodated his autobiographical persona to the most accessible positions in the dominant Russian discourse, contiguous with the demonic image of the Jew in this discourse itself. Only after he has seized a place in the discourse was he able to fill it with his own content, stories, perceptions, and existential questions. His conduct was both submissive and subversive. He succumbed to the denigrating labels of Russian discourse only in order to undermine this discourse and its refusal to grant the Jew presence, visibi­ lity, or agency as a discernable autonomous individual. To earn this position, within the limits of Russian reality, Kovner and Bogrov, unlike the Hebrew language writers, were ready to concede their respectability and propriety. Through this perspective, the whole history of differentiation between Hebrew and Russian-Jewish literature can be seen as the outcome of a con­ scious positioning vis-à-vis the label of criminality: Hebrew authors sought to establish an alternative discourse with its own centers, values, and autho­ rities, which would allow individual Jews to define themselves as dignified dominant subjects within a given symbolic field. Those who chose to affili­ ate themselves with the Russian symbolic order and to self-identify by means of the terms provided by the dominant Russian discourse were faced with the paradoxical task of self-representation through discursive annihila­ tion or denigration. Not surprisingly, Isaac Babel’s autobiographical narrator originated his genealogy as a storyteller from “Grandpa Levy-Itskhok, a rabbi chased out of his shtetl for forging Count Branitsky’s signature on pro­ missory notes,” and from people who “ran away with daughters of generals and then abandoned them before crossing the border.”64 Babel’s alternative genealogy was perceived as his conscious attempt to undermine the stereoty­ pical image of the Jew as weak and intellectual. But it may well also be a continuation of a marginal tradition in the history of Jewish literature: the tradition of self-representation through the adoption of transgressive posi­ tions in the social order. 61 Fyodor Dostoyevsky, Humiliated and Insulted. From the Notes of an Unsuccessful Author, trans. by Ignat Avsey, Richmond 2008, 126 (original edition from 1861). 62 RGALI, f. 419, op. 1, ed. khr. 828. 63 Fyodor Dostoyevsky, The Brothers Karamazov, trans. with an introduction by David Magarshak, 2 vols., here vol. 2, Harmondsworth 1964, 761 (original edition from 1880). 64 Isaac Babel, The Awakening, in: idem, The Complete Works of Isaac Babel, ed. by Natha­ lie Babel, trans. with notes by Peter Constantine, introd. by Cynthia Ozick, New York 2002, here 638.

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A striking example of the mechanism of subversion through submission and self-affirmation in the conditions of annihilation can be found in Kov­ ner’s respectable autobiography Iz zapisok evreia (From the Notes of a Jew, 1903), in which he described his early evolution as an adolescent maskil.65 The work is generally cast in the familiar narrative mold of the Haskalah autobiographies. One episode deviates, however, from the conventions of the maskilic autobiography and may seem unrelated to Kovner’s general narrative; only when interpreted in the context of tradition of the maskilic self-representation as a criminal do allegorical meanings emerge. In this episode, Kovner describes a scene of public flogging he once wit­ nessed as a boy in Kovno in the 1850s. The scene has nothing to do with Jewish life in the city, and the explicit rationalization of its inclusion in the text is to denounce the barbarism of corporal punishment in the pre-Reform era. It is the minutiae of Kovner’s account, however, that reveal what I believe may be its real concern. Kovner describes in excruciating detail the construction of the scaffold, the marching of the (non-Jewish) felon, and the reading of the verdict. He also describes the motley crowd flocking to the city square early in the morning to claim a good spot from which to view the spectacle – among them a group of young female aristocrats. He then turns to the early moments of the flogging itself. So savage is the flogging, so vio­ lent is the writhing of the shackled felon, that at one point the ropes holding him in place stretch out, just enough for him to turn over on the scaffold bench and lie on his back, his bare genitalia exposed for all to see. Dwelling on this agonizing moment, Kovner writes: “I could not watch this spectacle any more and turned away. I intended to leave alto­ gether, but, surrounded on all sides by a continuous crush of people, I had to stay to the end, and it was only at this point that I noticed the refined and elegant Polish ladies [in the original ‘panni,’ Pol. for noble maidens] actually standing up in their carriages, the better to see the torture of this man … [Even at the time] it seemed to me outrageous and beyond comprehension how these delicate ladies who were probably wont to swoon if their pet dog’s paw was accidentally nipped, who never of course allowed a single male stranger to remove his frock-coat in their presence, were here publicly looking with obvious pleasure at a naked criminal, whose back the flogger was turning into bloody beefsteak …”66

In his exploration of the formation of new techniques of power on the thresh­ old of modernity, Foucault outlined the transition from the power that was

65 A. K. (Abraham Kovner), Iz zapisok evreia [From the Notes of a Jew], in: Istoricheskii vestnik (1903), March, 977–1009; April, 126–137. 66 Ibid., 132 f. For an English translation by Brian Cooper, see Maxim D. Shrayer (ed.), An Anthology of Jewish-Russian Literature. Two Centuries of Dual Identity in Prose and Poetry, 2 vols., here vol. 1: 1801–1953, New York 2007, 108.

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executed and implemented through the spectacle, one of the facets of which was the spectacle of corporal punishment, to the “power of the Norm,” rea­ lized through classification, examination, and individuation. This modern mode of power “in order to be exercised […] had to be given the instrument of permanent, exhaustive, omnipresent surveillance […]. It had to be like a faceless gaze that transformed the whole social body into a field of percep­ tion.”67 When Kovner turns his head from the scaffold, he resuscitates his own transition from being one of the crowd, an undifferentiated observer of the spectacle of power, to a self-representing modern subject, equipped with the ethic of “enlightened” and dignified penalty. But this representation of a transformation uncovers the conflicted nature of Kovner’s consciousness as a modern individual misfit to the very system that is supposed to define and differentiate him. After turning his head and proclaiming his modernized consciousness that is critical of the feudal spectacle of punishment, Kovner fails to adopt a stable standpoint towards the situation, but rather simulta­ neously occupies several identifying positions. The first is the position of identification with the impersonal all-seeing gaze of an imagined modern authority that surveys, discerns, analyzes, and judges the crowd. The second is the position of the criminal, whose sufferings he depicts in exhaustive details, with horror and a certain degree of identification. Out of the array of horrific aspects of corporal punishment, Kovner chooses to single out the relation between the gazing representatives of authority (Polish noble young women) and the naked criminal with exposed genitalia. Through this reenactment Kovner acts out his – and Bogrov’s – strategy of self-fashioning and self-affirmation. It is precisely at the lowest point of his social existence, the nadir of his relation to others, beyond the borderline of shame, that the felon, as Kovner describes him, manages to transform his social positioning. In Kovner’s interpretation the situation of total submission and dehumanization is experi­ enced as an exhibitionist practice. Through his identification with this posi­ tion of the criminal’s, Kovner confronts the young ladies – the representa­ tives of the hegemony (the most disenfranchised group of the hegemony, it must be emphasized) – with the convict’s masculinity. With this interpreta­ tive maneuver, Kovner overturns the social hierarchy, thereby empowering the pariah and the outcast at the price of objectifying the noble female spec­ tators. Kovner’s imagination forces them not only to identify the criminal as an agent of masculinity, but also to perceive him as an object of desire – a position he would not have been able to occupy under any other circum­ stances. Because in other circumstances, he would not be able even “to take

67 Foucault, Discipline and Punish, 214.

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off his jacket in their presence.”68 It is important to emphasize that this shift in the relations of power does not take place in the real market square at the time of execution, but in Kovner’s imagination. Moreover, a similar model of power relations was partially reestablished in his erotic autobiography as well. Describing his sexual encounters, Kovner testifies that “Always the main attraction for me was […] not so much the act of copulation in itself (pleasant as can it be, by the way) as the sensation of victory over modesty, the aware­ ness that a woman belonging to decent society, one who behaves so strictly, who does not allow any familiarity, any closeness in the presence of others, – suddenly […] in front of my eyes […] reveals herself for my disposal …”69

Kovner’s later enactment of the opposition between a transgressor and a “decent woman” can be perceived as debased variation – a travesty – of the basic strategy that the radical anti-nationalist fraction of Russian-Jewish authors adopted, in order to challenge the Russian dominant fiction in which they wanted to be included – the strategy of masochistic surrendering of oneself to shameful branding (of the “Jew,” the “criminal,” or the “despic­ able lecher”), only to subvert this branding by the force of its own mechan­ ism. When Foucault extended the analysis of modern techniques of power in his Histoire de la sexualité (The History of Sexuality), he stated: “For millen­ nia, man remained what he was for Aristotle: a living animal with the addi­ tional capacity for political existence; modern man is an animal whose poli­ tics calls his existence as a living being into question.”70 In the social conditions of the Russian Empire, Jewish intellectuals were called into ques­ tion twice. First, together with the rest of the imperial subjects, as the part of the heterogeneous population regulated through a mixture of traditional authoritative techniques of power and a system of modern institutions of individuation, examination, education, and punishment. And second, as ready-made modern individuals who did not fit any of the existing patterns of discerning and signification. The clash between the certainty of their phy­ sical presence and the vagueness of their social positioning produced a series of contradictory practices of self-fashioning emphasizing either their bodily

68 Multiple discussions of the propriety of the public flogging of women were held in the Russian social discourse of that time. Kovner “translates” the rhetoric of moralistic out­ rage against the public display of the female naked body, thereby sexualizing the body of the flogged man. See Abby M. Schrader, Languages of the Lash. Corporal Punishment and Identity in Imperial Russia, DeKalb, Ill., 2002, 179–183. 69 RGALI, f. 419, op. 1, ed. khr. 829. 70 Michel Foucault, The History of Sexuality, trans. from the French by Robert Hurley, 3 vols., New York 1988–1990, here vol. 1, New York 1988, 143.

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function stripped of a coherent framework of signification, or a conscious­ ness uncoordinated with its physical receptacle. The project undertaken by the non-nationalist Russian-Jewish authors was to write themselves as subjects using the narrative devices of a discourse that denied their subjectivity. To do so, they had to embrace the invalidating position assigned to them in the hegemonic discourse, and, at the same time, to transform these positions – sometimes through violence or through victi­ mization of others – and reconfigure them as active stances of autonomous agency and desire.71

71 I wish to thank Taube Center for Jewish Studies, Stanford University, Calif., and Simon Dubnow Institute at Leipzig University for hosting me during the work on this article as well as Minerva Foundation (Max Plank Society) for the generous support provided in the concluding stages of this work. My special gratitude is given to Gabriella Safran, Dan Diner, and Christina Büchmann for an invaluable guidance and support.

Yfaat Weiss

»Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist«: Die Hebräische Universität in der Skopusberg-Enklave

Die Altstadt und der Skopusberg International sollte Jerusalem werden. So lautete die Empfehlung der UNSonderkommission für Palästina – des United Nations Special Committee on Palestine, kurz UNSCOP –, die im Mai 1947 eingesetzt wurde, nachdem die britische Regierung ihre Entscheidung verkündet hatte, das ihr noch vom Völkerbund erteilte Mandat an die Vereinten Nationen zurückzugeben.1 Ein­ stimmig empfahlen die Kommissionsmitglieder, das Mandat möglichst bald aufzuheben; hinsichtlich der weiteren Schritte konnte jedoch keine Einigkeit erzielt werden. Während die Vertreter Indiens, Irans und Jugoslawiens über­ zeugt waren, ein binationaler föderativer Staat sei die geeignete Lösung, votierten die übrigen acht in der Kommission vertretenen Staaten dafür, auf dem bisherigen Mandatsgebiet einen arabischen und einen jüdischen Staat entstehen zu lassen. Jerusalem sollte zu einer internationalen, neutralen und entmilitarisierten Stadt unter UN-Verwaltung werden. Die Fläche der entmi­ litarisierten Stadt sollte, so die Empfehlung der Kommission, das eigentliche Stadtgebiet sowie mehrere umliegende Ortschaften umfassen und sich von Shu’afat im Norden bis Bethlehem im Süden sowie von Abu Dir im Osten bis Ein Kerem im Westen erstrecken. Diese Lösung, argumentierten die Kommissionsmitglieder, würde dem besonderen Status Jerusalems gerecht, vor allem der Heiligkeit der Stadt für Christen, Muslime und Juden. Die Erfahrungen unter osmanischer Herrschaft und britischem Mandat hätten bewiesen, dass eine neutrale, nicht in die lokale Politik involvierte Verwal­ tung am besten geeignet sei, für Verständigung unter den Religionen zu sor­ gen. Diese sei Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden zwischen dem arabischen und dem jüdischen Staat. Dagegen warnte die Kommission, 1

The Question of Palestine, in: Yearbook of the United Nations 2 (1947–1948), New York 1949, 227–281; Michael J. Cohen, Palestine and the Great Powers, 1945–1948, Princeton, N. J., 1982, 260–276. Zu den Erwartungen Großbritanniens an die UN-Sonderkommis­ sion für Palästina siehe ebd., 270–276; William Roger Louis, British Imperialism and the End of the Palestine Mandate, in: ders./Robert W. Stookey (Hgg.), The End of the Pales­ tine Mandate, Austin, Tex., 1986, 1–31, hier 20 f. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 59–90.

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Unruhen in der Heiligen Stadt würden Auswirkungen weit über die Grenzen Palästinas hinaus haben. Am 29. November 1947 wurde der von der Kommission vorgelegte Ent­ wurf mit kleineren Abänderungen durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen als Resolution 181 (II) angenommen und ging als »UN-Teilungs­ plan« in die Geschichte ein. Darin hieß es: »Die Stadt Jerusalem soll als Corpus separatum unter spezielle internationale Treuhandschaft gestellt und durch die Vereinten Nationen verwaltet werden.«2 Dem Rat der Kommission folgend begnügten sich die Vereinten Nationen nicht mit einer Internationa­ lisierung der Heiligen Stätten, sprich mit einer funktionalen Internationali­ sierung, sondern wählten die Maximalformel einer territorialen Internatio­ nalisierung der gesamten Stadt und ihrer Umgebung.3 Während die arabischen Staaten den Teilungsplan ablehnten, der ihrer Ansicht nach arabisches Land zugunsten eines jüdischen Staates enteignete, entschied sich die zionistische Bewegung, diesem zuzustimmen. »Aus takti­ scher Sicht klug«, urteilte Tom Segev in seinem Buch Es war einmal ein Palästina, »obwohl schon damals allen Beteiligten klar war, dass der avisierte Teilungsplan geo­ graphisch und demographisch nicht verwirklicht werden konnte. Die Grenze zwischen den beiden Staaten war lang und gewunden, militärisch unmöglich zu verteidigen. […] Zudem gab es keinen Grund zu der Annahme, dass eine internationale Treuhandschaft über Jerusalem durchführbar war. Niemand glaubte an diesen Plan; jeder wusste, dass es Krieg geben musste.«4

Am Vorabend der Billigung des Teilungsplans durch die Vereinten Nationen lebten etwa 100 000 Juden in Jerusalem. Mit Ausbruch der Feindseligkeiten sahen sie sich vollkommen abhängig von einer einzigen Verkehrsader, die sie mit den jüdischen Bevölkerungszentren der Küstenebene verband. Diese Verbindung, die durch bergige, von arabischer Bevölkerung dicht besiedelte Gegenden verlief, erwies sich nun als Schwachpunkt. Wochenlang gelang es arabischen Einheiten, die Route zu blockieren, die Versorgung Jerusalems zu unterbinden und Nahrungsmittelknappheit in der Stadt auszulösen. »Die arabische Bedrohung des jüdischen Jerusalems wurde als eine von höchster

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The Question of Palestine, 254: »The City of Jerusalem shall be established as a corpus separatum under a special international regime and shall be administered by the United Nations.« Siehe Evan M. Wilson, The Internationalization of Jerusalem, in: Middle East Journal 23 (1969), H. 1, 1–13, hier 5 f.; Silvio Ferrari, The Holy See and the Postwar Palestine Issue. The Internationalization of Jerusalem and the Protection of the Holy Places, in: Interna­ tional Affairs 60 (1984), H. 2, 261–283, hier 264 f. Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005, 546.

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nationaler Bedeutung begriffen«, konstatiert etwa der Orientalist Avraham Sela: »Und dies, weil – abgesehen vom erheblichen Gewicht der Bevölkerung dort […] – die politisch-militärische Führung Israels die moralische und religiöse Bedeutung Jerusa­ lems als Herzstück der politischen Gemeinde der Juden im Lande nicht ignorieren konnte. Nach Ben Gurions Auffassung wog das hebräische Jerusalem de facto so schwer wie der gesamte restliche jüdische Jischuw, wurde die Verteidigung der Stadt als eine Frage von Leben oder Tod des jüdischen Staates verstanden.«5

Die Haganah, die zentrale paramilitärische Organisation des Jischuw, trat ohne britische Hilfe der Belagerung entgegen und brachte von Dezember 1947 bis Ende März 1948 insgesamt 224 Versorgungskonvois auf den Weg, von denen 216 Jerusalem erreichten.6 Das Beharren der Haganah auf einem – ungeachtet schwerer Verluste – von der Mandatsmacht unabhängigen Vorge­ hen erstaunte zwar die Briten, zeugte jedoch von erheblicher Weitsicht. Dies war einer von zahlreichen Schritten Israels, um seine Souveränität in dem von den Briten und der UN zurückgelassenen imperialen Vakuum zu etablieren.7 Innerhalb des von der allgemeinen Blockade betroffenen hebräischen Jerusalems gab es zwei jüdische Unterzentren, die isoliert inmitten einer dicht bevölkerten arabischen Umgebung lagen: das jüdische Viertel in der Altstadt zum einen, die Hebräische Universität und das Hadassah-Kranken­ haus auf dem Skopusberg zum anderen. In grober Kontradiktion und nicht frei von Klischees sollte John Glubb Pascha, der Befehlshaber der Arabi­ schen Legion, ein Jahrzehnt nach dem Krieg in seinen Lebenserinnerungen die beiden Schauplätze als vollkommen gegensätzliche Lebenswirklichkei­ ten beschreiben: »Die beiden jüdischen Viertel boten in friedlichen Zeiten zwei sehr kontrastreiche Bil­ der vom heutigen Judentum. Die massiven Häuserblocks des Hadassa-Hospitals auf dem Berge Scopus waren mit den neuesten Apparaten und Einrichtungen der modernen medizinischen Wissenschaft ausgestattet. Zweihundert Schritt jenseits des Hospitals strömten Scharen barhäuptiger Studenten in die Universitätsgebäude. Im jüdischen Viertel der Altstadt dagegen erfüllten vom Alter gebeugte Rabbis mit langen weißen Bärten noch streng das jüdische Gesetz und die von Moses überkommenen alten Bräu­ che. Bleiche junge Männer eilten, das Haar in Korkenzieherlocken beiderseits der hoh­ len Wangen herabhängend, schüchtern durch die engen Straßen.«8

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Avraham Sela, Yachassei ha-melech Abdallah u-memshelet Israel be-milchemet ha-atz­ ma’ut – bechina mechudeshet [König Abdallah und die politisch-militärische Führung Israels während des Unabhängigkeitskrieges: Eine andere Sichtweise (Teil 1)], in: Katedra 57 (1990), 120–162, hier 127 f. Motti Golani, The End of the British Mandate for Palestine, 1948. The Diary of Sir Henry Gurney, London 2009, 45 f. Ebd. 54. John B. Glubb Pascha, Jenseits vom Jordan. Soldat mit den Arabern, München 1958, 100.

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Die Bewohner des jüdischen Viertels im Herzen der Jerusalemer Altstadt waren vor allem strenggläubige Juden. Mit Verkündung des UN-Teilungsbe­ schlusses und dem Ausbruch der Kampfhandlungen wurden sie von der Haganah aufgefordert, in ihrem Viertel zu bleiben und dieses nicht aufzuge­ ben;9 sie standen unter Obhut der Haganah und ihres Bereichskommandeurs David Shaltiel, der einer jüdisch-portugiesischen Hamburger Familie ent­ stammte. Ebenso isoliert waren die Hebräische Universität und das Hadas­ sah-Krankenhaus im Norden der Stadt. Auf allen Seiten von arabischen Stadtvierteln und Dörfern umgeben, waren die beiden Einrichtungen abhän­ gig von der einzigen Verbindungsachse, die mitten durch das angrenzende arabische Viertel Scheich Djarach verlief. Aufgrund der ständigen Angriffe war eine Fahrt zum und vom Skopusberg nur in Konvois aus teilweise gepanzerten Fahrzeugen möglich. Alle Versuche der Haganah, die Kontrolle über diese Verbindungsachse zu erlangen, scheiterten am Widerstand der Briten, die planten, mit Ende des Mandats ihre eigenen Truppen über diese Route abzuziehen. Bei den ständigen Angriffen und Gegenangriffen von Juden und Arabern auf die Verkehrswege beschränkten sich die Briten daher auf punktuelle Abschreckungs- und Präventivmaßnahmen, um direkte Atta­ cken auf die eigenen Truppen zu verhindern. Zum einen war das Vermögen der britischen Mandatsmacht, die jüdische Seite zu schützen, zu jenem Zeit­ punkt sicher schon begrenzt, zugleich aber schwand auch die Bereitschaft dazu immer mehr. Dies verhielt sich so vor dem allgemeinen Hintergrund des jüdischen Terrors, vor allem aber nach dem Massaker an den Bewohnern des Dorfes Deir Jassin, das Einheiten des ETZEL und des LECHI, zweier jüdischer Untergrundorganisationen, die unabhängig von der Haganah agier­ ten, am 9. April 1948 verübt hatten.10 Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt erreichte ihren Kulminations­ punkt, als kurz vor Ablauf des Mandats, am 13. April 1948, arabische Ein­ heiten in Scheich Djarach einen Konvoi angriffen, der auf dem Weg zum Skopusberg war. Während die Briten tatenlos zusahen, scheiterten die ver­ zweifelten Rettungsversuche der jüdischen Verteidiger. Bei dem Ereignis, das als »Skopusberg-Konvoi« in die Geschichte eingegangen ist, wurden insgesamt 78 Angehörige des Konvois getötet, darunter der Direktor des Hadassah-Hospitals, Ärzte, Krankenschwestern, Professoren der Hebräi­ schen Universität und Studenten. In der Folgezeit stellte die Hebräische Uni­ 19 Sir Henry Gurney, letzter Chefsekretär der britischen Mandatsregierung über Palästina, war der Überzeugung, ein derartiger Bleibezwang für die Bewohner sei eine grausame Haltung. Eine interessantere Erörterung dieser Frage findet sich bei Golani, The End of the British Mandate for Palestine, 1948, 87–90, Anm. 6. 10 Eine umfassende historiografische Untersuchung der Ereignisse von Deir Jassin findet sich in Benny Morris, The Historiography of Deir Yassin, in: The Journal of Israeli History 24 (2005), H. 1, 79–107.

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versität ihren Betrieb faktisch ein.11 Als wenig später, nach dem Abzug der Briten Mitte Mai 1948, die transjordanische Arabische Legion, Protegé und Verbündete Großbritanniens, in das Kriegsgeschehen eingriff, war das Schicksal der beiden Einrichtungen militärisch besiegelt. Hier ist nicht der Ort, auf das Beziehungsgeflecht zwischen Israel und dem haschemitischen Transjordanien, dem späteren Jordanien, am Vorabend des Krieges von 1948 und in dessen Verlauf ausführlich einzugehen. Dieses Thema – und hauptsächlich das besondere Verhältnis zwischen dem (trans)jor­ danischen König Abdallah und der Führung der jüdischen Ansiedlung in Palästina – hat seither viele Forscher beschäftigt und stand vor etwa drei Jahrzehnten im Zentrum eines israelischen Historikerstreits. Dieses beson­ dere Verhältnis habe, so die These einer Gruppe seinerzeit junger Geschichtswissenschaftler, die als die »neuen Historiker« bekannt geworden sind, letztendlich dazu geführt, dass Israel und Transjordanien gemeinsam den Teilungsplan torpedierten, insbesondere die darin vorgesehene Errich­ tung eines arabisch-palästinensischen Staates auf der Westbank und die Internationalisierung Jerusalems. Ebenso ist es kaum möglich, das ganze Spektrum von Auslegungen zum Verlauf der Kämpfe aufzuzeigen und vor allem der Frage nachzugehen, ob der bewaffnete Konflikt zwischen den bei­ den Staaten zu vermeiden gewesen wäre und ob er gemäß oder entgegen vor­ her getroffener Absprachen stattfand. An dieser Stelle sei lediglich ange­ merkt, dass auf Druck Großbritanniens die Arabische Legion eine Zeit lang davon absah, in die Kampfhandlungen in Jerusalem einzugreifen, und nichts unternahm, was den UN-Plan zur Internationalisierung der Stadt durch­ kreuzt hätte. Ihr tatsächlicher Eintritt in die Kampfhandlungen erfolgte erst als Reaktion auf die Bemühungen der Haganah, Kontrolle über das jüdische Viertel der Altstadt zu erlangen, und unter dem Eindruck von Gerüchten, die jüdische Seite habe die Absicht, die gesamte Altstadt zu erobern, also auch jene dem Islam beziehungsweise dem Christentum heiligen Stätten. Zum Zwecke der Verteidigung und Prävention und mit dem Ziel, ein territorial zusammenhängendes Gebiet zwischen Ramallah im Norden und der Altstadt herzustellen, griff die Arabische Legion am 19. Mai 1948 im Gebiet von Scheich Djarach in die Kämpfe ein. Shaltiels Einheiten wurden zügig bezwungen, das jüdische Viertel der Altstadt erobert und der Skopusberg mit der Universität vom hebräischen Jerusalem abgetrennt. Infolge takti­ 11 UN-Archiv, S-0326-003-10, Mount Scopus – I. Background, 21 December 1957. Moshe Ehrnvald schildert in seinem Buch die Bemühungen, nach dem Angriff auf den Konvoi und unter wachsender Spannung zwischen den auf dem Skopusberg Verbliebenen und dem Oberkommando der Haganah (hinsichtlich der Verteidigung des Jischuws) die Tätig­ keit der beiden Institutionen fortzusetzen. Siehe ders., Matzor be-toch matzor. Har hazofim be-milchemet ha-atzma’ut [Zweifach belagert. Der Skopusberg zur Zeit des Unab­ hängigkeitskrieges], Jerusalem 2010, 191–205.

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scher Zwänge und da eine Einnahme nicht zwingend erforderlich war, um das primäre Ziel eines Korridors zur Altstadt zu realisieren, ignorierte die Arabische Legion vorerst den Skopusberg. Als die Legion schließlich das Gebiet um die Hebräische Universität und das Hadassah-Krankenhaus ein­ zunehmen beabsichtigte, drängten die Briten auf den Beginn einer Feuer­ pause. Mithin führten historische Zufälle, militärtaktische Erfordernisse und internationaler Druck zur Entstehung der Enklave.

Israel und Jordanien Während der UN-Plan zur Internationalisierung der gesamten Stadt Jerusa­ lem scheiterte, blieb der Skopusberg neben einigen Streifen Niemandsland die einzige Enklave auf dem Gebiet der Stadt, die als entmilitarisierte Zone der Obhut der Vereinten Nationen und zugleich deren Verfügungsgewalt unterstand. Es handle sich dabei um eine »temporäre Enklave« ähnlich der Westberlins, charakterisierte ein Fachaufsatz von 1959 die Situation auf dem Skopusberg. Beide seien entstanden, »als das, was vormals einen Staat ausmachte, durch eine erklärtermaßen vorüberge­ hende oder provisorische Linie geteilt wurde, etwa in Form einer Waffenstillstandslinie oder einer Besatzungszonengrenze, welche Inseln einer Zone in einer anderen hinter­ lassen hat«.12

Abgesehen von der Tatsache, dass beide Enklaven sich im Nachhinein tat­ sächlich als vorübergehend erweisen sollten, ist eine Ähnlichkeit zwischen beiden gleichwohl kaum feststellbar. Die Enklave auf dem Skopusberg ent­ stand nicht auf einem Gebiet, das vormals zu einem Staat gehörte, sondern auf einem Territorium, das bis dahin dem britischen Mandat unterstanden hatte. Aus diesem Grund ist es zutreffender, sie mit Enklaven zu verglei­ chen, die im Zuge der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg zustande kamen, etwa mit den rund zweihundert Enklaven, die unter ähnli­ chen Umständen während der Aufteilung Britisch-Indiens nach dem Abzug der Briten vom indischen Subkontinent im Jahr 1947 entstanden und von denen sich ein Teil heute in Indien und ein Teil in Bangladesch befindet, das 1971 die Unabhängigkeit von Pakistan erlangte.13 Im Unterschied jedoch zu 12 G. W. S. Robinson, Exclaves, in: Annals of the Association of American Geographers 49 (1959), H. 3, Teil 1, 283–295, hier 285–287 und 289. 13 Pradyumna P. Karan, The India-Pakistan Enclave Problem, in: The Professional Geogra­ pher 18 (1966), H. 1, 23–25; Reece Jones, Sovereignty and Statelessness in the Border Enclaves of India and Bangladesh, in: Political Geography 28 (2009), H. 6, 373–381; Wil­ lem van Schendel, Stateless in South Asia. The Making of the India-Bangladesh Enclaves, in: The Journal of Asian Studies 61 (2002), H. 1, 115–147.

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diesen Enklaven, die nur relativ schwach bevölkert waren, vor allem aber in einer Region lagen, die wenig oder gar keine internationale Aufmerksamkeit weckte, befand sich die Enklave auf dem Skopusberg mitten in Jerusalem. Die Forschung neigt dazu, Enklaven als zu vernachlässigendes historisches Phänomen zu übergehen,14 doch wird solches dem vorliegenden Fall nicht gerecht. Das Echo jedes noch so kleinen Zwischenfalls während der 19 Jahre, in denen die Enklave auf dem Skopusberg existierte, drang zu internationalen humanitären oder politischen Organisationen vor und beschäftigte gleichzeitig die diplomatischen Vertreter in der Region, die angespannt eine jede Verletzung des Status quo verfolgten aus Sorge, dies könne die regionale Stabilität und, daraus resultierend, die internationale Lage beeinträchtigen. Die Enklave auf dem Skopusberg maß lediglich zwei Kilometer in der Länge und hatte eine durchschnittliche Breite von nicht mehr als einem Kilometer.15 Diese Fläche war eiligst in dem Waffenstillstandsabkommen verfügt worden, das Israel, Transjordanien und die UN am 7. Juli 1948 im Verlauf der ersten Waffenruhe während des Krieges unterzeichneten. Nach­ dem diese Übereinkunft mit dem erneuten Aufflammen der Kämpfe fast vollständig obsolet war sowie angesichts der Versorgungsschwierigkeiten des entmilitarisierten jüdischen Gebiets wurde am 30. November 1948 ein Zusatzabkommen geschlossen, das Moshe Dayan als Distriktbefehlshaber des jüdischen Jerusalems und Abdallah el-Tell als arabischer Kommandeur unterzeichneten. Letztlich sollten mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 3. April 1949, das direkt zwischen Israel und Transjordanien geschlossen wurde, alle getroffenen Absprachen völkerrechtlich bestätigt werden.16 Die Eile, in der das Vertragswerk zustande gekommen war, vor allem aber der andauernde Konflikt führte zu unterschiedlichen, ja gegenläufigen Ausle­ gungen des Abkommens.17 So blieben beide Seiten uneins hinsichtlich des genauen Grenzverlaufs der Enklave, da man sich auf verschiedene Karten bezog. Die Israelis legten jene Karte zugrunde, die dem Vertrag über eine Feuerpause vom 7. Juli 1948 beigefügt war und in der die Fläche des entmi­ litarisierten israelischen Bereichs größer war, während sich die Jordanier auf eine Karte bezogen, die sie gemeinsam mit einem UN-Vertreter als Anhang 14 Evgeny Vinokurov, A Theory of Enclaves, Lanham, Md., 2007, 3. 15 UN-Archiv, S-0362-003-10, 1, The Demilitarized Zone of Mount Scopus. Geographical and Historical Summary. 16 Zum Status der Enklave auf dem Skopus nach internationalem Recht siehe Ludwig Kip­ pes, Der Skopus-Berg in Jerusalem. Ein Beitrag zur Lehre von den Exklaven (unveröf­ fentlichte Diss., Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Julius-Maximilians-Uni­ versität Würzburg, 1959), 68. 17 Siehe Theodor Meron, Demilitarization of Mount Scopus. A Regime that Was, in: Israel Law Review 3 (1968), 501–525.

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Abb. 1: Darstellung der Enklave auf dem Skopusberg in einer Karte des britischen Außenministeriums, Jerusalem (1948). © The National Archives.

zu einem weiteren Abkommen vom 21. Juli 1948 erstellt hatten, in dem es um Sicherheitsabsprachen und Patrouillen ging.18 Auf dem Gebiet, das beide Karten unterschiedlich, als inner- oder außerhalb der Gebietsgrenzen gele­ gen verzeichneten, im sogenannten Garten Shulamits, sollte Lieutenant Colonel George Flint, der UN-Kommandeur der Enklave, am 26. Mai 1958 sein Leben lassen – der gravierendste Zwischenfall, der sich in der Enklave in den Jahren ihres Bestehens ereignet hat.19 18 Zum »Kartenstreit« (the map controversy) siehe UN-Archiv, S-0326-003-10, Mount Sco­ pus – I., Background, 21 December 1957, und bes. Mount Scopus – II., Map Controversy. General Study by Mr. Sloan dated 8 October 1952. 19 Andrew Theobald, Incidents on Mount Scopus. UNTSO Effectiveness and the 1958 Death of Lieutenant Colonel George Flint, in: Middle Eastern Studies 42 (2006), H. 5, 803–817.

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Uneinigkeit herrschte auch in Bezug auf den Status des arabischen Dorfes Issawiya. Das Dorf war im Verlauf der Kämpfe von seinen Bewohnern geräumt worden, denen jedoch in einem außergewöhnlichen Schritt für einen gewissen Zeitraum gestattet wurde, in ihre Häuser zurückzukehren. Doch während die Israelis überzeugt waren, Issawiya befinde sich auf ent­ militarisiertem israelischem Gebiet, beharrten die Jordanier darauf, Issawiya genieße gemäß dem Abkommen vom 3. April 1949 einen unabhängigen Sta­ tus unter dem Schirm der UN, als viertes Gebiet neben der entmilitarisierten israelischen Zone, dem jordanischen Gebiet sowie einem zweihundert Meter breiten Streifen Niemandsland zwischen den beiden Seiten. Auch die Frage der Anzahl der Bewohner, die berechtigt waren, in dem Dorf zu wohnen, blieb strittig: Der israelische Standpunkt lautete, es seien 150 Personen ver­ einbart worden, während die Jordanier der Ansicht waren, man habe sich auf 150 Männer und ihre Familien geeinigt, faktisch etwa 1 000 Personen, eine Zahl, die etwa der Einwohnerstärke des Dorfes am Vorabend des Krie­ ges entsprach. Zudem bestimmte das Abkommen, dass in der entmilitarisier­ ten israelischen Zone die Zahl leicht bewaffneter Polizisten 85, die ziviler Arbeitskräfte 35 nicht übersteigen durfte, während im jordanischen Sektor die Zahl der Polizisten auf 46 beschränkt war. Die Israelis hintergingen die Jordanier, indem sie Soldaten in Polizeiuniform auf dem Skopusberg sta­ tionierten, während die Jordanier vertragswidrig das in ihrem Bereich gele­ gene Auguste-Viktoria-Krankenhaus umgehend wieder in Betrieb nahmen. Zwar räumten sie den Vertragsbruch ein, wiesen aber alle israelischen For­ derungen vehement zurück, um der Symmetrie willen das in der entmilitari­ sierten israelischen Zone gelegene Hadassah-Krankenhaus zu betreiben. Diese und andere strittige Fragen sollten laut Waffenstillstandsabkommen durch eine jordanisch-israelische Sonderkommission verhandelt werden, die, so bestimmte es Paragraf 8, jedes Thema erörtern sollte, das eine der beiden Seiten zur Diskussion stellte und über das in dem Abkommen bereits prinzipielle Übereinkunft erzielt worden war – so unter anderem hinsichtlich der »Wiederaufnahme einer geregelten Arbeit der auf dem Skopusberg befindlichen kulturellen und humanitären Institutionen und des freien Zugangs zu diesen«. Obwohl die Sonderkommission wiederholt tagte, wurde über die Rückkehr zum regulären Betrieb des Hadassah-Krankenhau­ ses und der Hebräischen Universität nicht einmal verhandelt, sodass deren Arbeit de facto ruhte.

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Heiliges und Profanes Die Versuchung ist groß, die Geschichte der Hebräischen Universität im Krieg von 1948 als das von vornherein bekannte Ende eines historischen Dramas zu lesen, in dem Zerstörung und Erlösung einander abwechseln. Von den ersten Vorstößen zur Errichtung einer Universität auf dem Skopus­ berg an war dieses Unterfangen mit einem theologisch-politischen Mehrwert belastet, der treffend in der Prophezeiung Jesajas zum Ausdruck kommt: »Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusa­ lem.«20 Von dem Augenblick an, da sich die zionistische Bewegung im Jahr 1913 aufmachte, die Vision von der Errichtung einer Universität in die Tat umzusetzen, offenbarte die in Gebrauch genommene Terminologie die Bri­ sanz, die in der Übersetzung eines abstrakten religiösen Verses in tätiges Handeln verborgen lag:21 in der Errichtung eines »Dritten Tempels«,22 wie Chaim Weizman, der vom 11. Zionistenkongress berufen wurde, der Initia­ tive zur Errichtung einer Universität vorzustehen, es in einem Brief an seine Frau Vera formulierte. Der Erwerb des ersten Grundstücks von dem wohl­ habenden englischen Rechtsanwalt Sir John Gray Hill, einem strenggläubi­ gen Christen, im Verlauf des Ersten Weltkriegs und die Realisierung des Kaufs 1920 hatten sich eher zufällig aus dem zum damaligen Zeitpunkt auf dem lokalen Grundstücksmarkt herrschenden Verhältnis von Angebot und Nachfrage ergeben, doch war der Ort selbst von Anfang an mit Symbolen der Heiligkeit befrachtet. Im Jahr 1912, also noch vor dem Verkauf seines Anwesens, beschrieb ihn Hill so: »Von unserem Haus aus bietet sich, so denke ich, der erhabenste und wunderbarste Blick auf der Welt. Zur einen Seite schauen wir herab auf die Heilige Stadt und das

20 Arthur A. Goren, Sanctifying Scopus. Locating the Hebrew University on Mount Scopus, in: Elisheva Carlebach/John M. Efron/David N. Myers (Hgg.), Jewish History and Jewish Memory, Hanover, N. H./London 1998, 330–347, hier 331. Judah Magnes zitierte diesen Satz aus Jes 2,3 in seiner Rede zur Eröffnung des Instituts für Judaistik am 22. Dezember 1924. Siehe Arthur A. Goren, The View from Scopus. Judah L. Magnes and the Early Years of the Hebrew University, in: Judaism. A Quarterly Journal of Jewish Life and Thought 45 (1996), H. 2, 203–224, hier 209. Siehe auch Reuven Gafni, Mikdash me’at be-hejchal ha-mada’. Ha-tfila ba-zibur u-mashma’uta ba-universita ha-ivrit be-reshita (1917–1948) [Das öffentliche Gebet und seine Bedeutung an der Hebräischen Universität (1917–1948)], in: Katedra 147 (März/April 2013), 150–168, hier bes. 150–155. 21 Yair Paz, Ha-universita ha-ivrit be-har ha-tzofim ke-mikdash [Die Hebräische Universität Jerusalem als säkularer Tempel], in: Shaul Katz/Michael Heyd (Hgg.), Toldot ha-univer­ sita ha-ivrit bi-rushalayim. Shorashim ve-hatchalot [Die Geschichte der Hebräischen Uni­ versität Jerusalem. Ursprünge und Anfänge], Jerusalem 1997, 281–308, hier 285 f. 22 Yehuda Reinhartz, Yessod le-universita ivrit bi-rushalayim – chelko shel Chaim Weizman (1913–1914) [Der Grundstein der Hebräischen Universität Jerusalem. Die Rolle von Chaim Weizmann (1913–1914)], in: Katedra 46 (Dezember 1987), 123–146, hier 126.

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große Areal, auf dem dereinst der Tempel stand […]. Und gen Norden sehen wir viele der Dörfer des Alten Testaments, Rama, Mizpah, Michmash und andere. Wir über­ schauen also ein Land, das allergrößtes menschliches Interesse weckt und tiefste menschliche Gefühle. Wir sind demnach ganz begeistert vom Heiligen Lande, Sie wer­ den verstehen, warum.«23

Tatsächlich macht es die Topografie dieser höchsten Erhebung der Umge­ bung möglich, zentrale biblische Schauplätze zu überschauen. Auf dem Sko­ pusberg hatten im Frühling des Jahres 70 zwei von Titus’ Legionen gelagert, von dort aus hatten die römischen Feldherren die Zerstörung Jerusalems ver­ folgt, den Brand des Tempels, das Blutbad unter den Einwohnern, am Ende die Versklavung und Exilierung des Volkes. Dieser Schauplatz, von dem aus die Klagemauer zu sehen ist, symbolisierte mehr als alles andere den Verlust jüdischer Souveränität. »Es war dieser Berg, von dem aus die römischen Zerstörer Jerusalems die Belagerung lenkten, die dem großen Kapitel des jüdischen Volkes ein Ende setzte. Könnte es einen historisch bedeutsameren Ort geben?«, fragte mit großem Pathos Lord Arthur James Balfour, ehemals britischer Außenminister und Verfasser der nach ihm benannten Deklara­ tion, bei der Grundsteinlegung der Universität im April 1925 und verwies damit auf die zentrale Verknüpfung zwischen dem Verlust staatlicher Souve­ ränität in den Tagen des Zweiten Tempels und der Hoffnung auf ihre Erneuerung mit der Gründung der Hebräischen Universität.24 Und Itamar Ben-Avi, der Sohn des Erneuerers der hebräischen Sprache Elieser BenJehuda, brachte die Essenz dieser Idee für die örtliche Tageszeitung Do’ar Ha-Jom (Tagespost) auf den Punkt: »Titus hat den biblischen Tempel zer­ stört, Balfour errichtet den neuen Tempel.«25 Während Weizman die Universität als »Dritten Tempel« und Achad Ha’am, einer der Hauptvertreter des später so bezeichneten Kulturzionis­ mus, sie als »drittes Heiligtum« bezeichnete, verglichen andere die Bil­ dungseinrichtung mit »Javne«, jener Stadt, in der Jochanan Ben-Sakai und seine Schüler der talmudischen Tradition zufolge nach der Zerstörung des Tempels den religiösen Ritus im Land Israel wieder hatten aufleben lassen.26 23 Yaakov Wahrman, Me-achusat Grey Hill le-»migrash ha-universita« be-har ha-zofim [Von Gray Hills Landgut zum Grundstück der Hebräischen Universität auf dem Skopus­ berg], in: Katz/Heyd (Hgg.), Toldot ha-universita ha-ivrit bi-rushalayim, 163–200, hier 167; J. G. Hill, The Jews of Jerusalem. Speech at the Opening of the Palestine Exhibition in Liverpool, 4. Juni 1912, 4. 24 Goren, Sanctifying Scopus, 334, Anm. 20. 25 Paz, Ha-universita ha-ivrit be-har ha-tzofim ke-mikdash, 292, Anm. 21. 26 Goren, Sanctifying Scopus, 334 f., Anm. 20. Zur Erneuerung des Ritus in Javne siehe S. Safrai, Hitosheshut ha-yishuw ha-yehudi be-dor yavne [Die Wiederbelebung der jüdi­ schen Ansiedlung in Javne], in: Zvi Baras u. a. (Hgg.), Eretz Israel me-churban ha-bayt ve-ad ha-kibush ha-muslimi [Erez Israel von der Zerstörung des Zweiten Tempels bis zur islamischen Eroberung], Jerusalem 1982, 18–39.

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»Überliefern wir aber unseren Kindern die Sprache, die uns überliefert worden ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher lebendig in ihnen, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann – muß dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages ausbrechen?«27

Dergestalt wiederum setzte sich Gershom Scholem Mitte der Zwanziger­ jahre in seinem berühmten Brief an Franz Rosenzweig mit der Wiederbele­ bung des Hebräischen auseinander und hegte Zweifel an der Möglichkeit einer Profanierung oder Säkularisierung der Sprache. Die Last der religiösen und messianischen Erwartungen, mit denen das kulturelle, säkularisierte Projekt der Universitätsgründung überfrachtet wurde, war gewaltig, auch wenn die handelnden Personen sich dessen nicht zwingend bewusst waren. Selbst ein pragmatischer Realist wie Arthur Ruppin, Leiter des Palästinaam­ tes, zeigte sich nicht frei von erhabenen Gefühlen, wenn er etwa seinem Tagebuch am Tag der Eröffnung des Instituts für Jüdische Studien anver­ traute: »Die Tatsache, daß nunmehr wirklich der erste Anfang der Hebräischen Universität gemacht ist, machte auf mich großen Eindruck. Vielleicht ist dies doch ein historischer Tag, vielleicht wird doch von Zion eine neue Lehre ausgehen und der Menschheit neue Wege weisen.«28

Mit letzter Konsequenz sollte die in der Heiligkeit des Ortes angelegte Bri­ sanz offenbar werden, als die zionistische Bewegung sich daran machte, die religiösen Vorstellungen vom himmlischen Jerusalem und die Sehnsucht nach kultureller Erneuerung zu materialisieren: in den Bebauungsplänen des irdischen Jerusalems. 1919 lud Weizman den schottischen Städteplaner Pa­ trick Geddes, der zur selben Zeit unter anderem in Indien die Universität von Indore plante, dazu ein, einen Entwurf für die Hebräische Universität in Jerusalem zu erstellen. Geddes gestand, dass »meine besonderen bürgerli­ chen Interessen mehr meiner kindlichen Vertrautheit mit der Erbauung des Tempels Salomons geschuldet sind und den Büchern von Esra und Nehemia als irgendetwas sonst in der Literatur«.29 Sein im orientalisierenden Stil gestalteter Entwurf für den Campus auf dem Skopusberg30 nahm Bezug auf 27 Gerhard Scholem an Franz Rosenzweig, Bekenntnis über unsere Sprache, 7. Teweth 5687 [12. Dezember 1926], zit. nach Michael Brocke, Franz Rosenzweig und Gerhard Scho­ lem, in: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hgg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, 127–153, hier 142. 28 Arthur Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, hg. von Shlomo Krolik, Königstein/ Ts. 1985, 362. 29 Diana Dolev, Academia and Spatial Control. The Case of the Hebrew University Campus on Mount Scopus, Jerusalem, in: Haim Yacobi (Hg.), Constructing a Sense of Place. Architecture and the Zionist Discourse, Aldershot 2004, 227–246, hier 232. 30 Siehe auch den aufschlussreichen Aufsatz von Noah Hysler Rubin, Geography, Colonia­ lism and Town Planning. Patrick Geddes’ Plan for Mandatory Jerusalem, in: Cultural Geographies 18 (2011), H. 2, 231–248.

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Abb. 2: Ansicht des Israel-Friedlaender-Gedächtnishains auf dem Skopusberg, Jeru­ salem; rechts das Gebäude der National- und Universitätsbibliothek und das Institut für Jüdische Studien, im Hintergrund das Gymnasium (1944). © Archives of the Hebrew University of Jerusalem/Fotograf: Alfred Bernheim.

die muslimischen Bauwerke in der Altstadt von Jerusalem und in deren Umgebung, um ein Gegengewicht zu den weithin sichtbaren christlichen Landmarken auf dem Ölberg zu schaffen: dem Glockenturm der russischorthodoxen Himmelfahrtskirche mitsamt Kloster und dem Turm der evange­ lischen Himmelfahrtskirche am Auguste-Viktoria-Hospital.31 Das Dach der zentralen Halle, die Geddes in der Mitte des Campus platzierte, sollte eine Kuppel tragen. Deren Basis sollte in direkter Anlehnung an den Davidstern – und in Abgrenzung zum Felsendom – sechs- und nicht achteckig angelegt 31 Mordechai Shapiro, Ha-universita ve-ha-ir. Patrick Geddes ve-tochnit ha-av ha-rishona la-universita ha-ivrit [Die Universität und die Stadt. Patrick Geddes’ erster Masterplan für die Hebräische Universität], 1919, in: Katz/Heyd (Hgg.), Toldot ha-universita ha-ivrit birushalayim, 201–235, hier 222. Siehe auch Rubin, Geography, Colonialism and Town Planning, 236, Anm. 30. Zu Arthur Ruppins Wunsch, ein Gegengewicht zu den christli­ chen Bauten der europäischen Großmächte in Jerusalem zu schaffen, siehe Shapiro, Hauniversita ve-ha-ir, 206; Diana Dolev, Tochniyot ha-av ha-adrichaliyot shel ha-universita ha-ivrit, 1918–1948 [Die Entwicklung des Masterplans der Hebräischen Universität (1918–1948)], in: Katz/Heyd (Hgg.), Toldot ha-universita ha-ivrit bi-rushalayim, 257– 280, hier 264.

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werden.32 Dieser kleine Unterschied jedoch konnte die Tatsache nicht ver­ bergen, dass Geddes’ Kuppel der der Al-Aksa-Moschee nachempfunden war und mit dieser konkurrieren sollte. Obgleich Geddes’ Entwurf niemals realisiert wurde, wie auch keiner der Pläne von Erich Mendelsohn und Richard Kaufmann,33 den beiden von der Universität in den darauffolgenden Jahren offiziell beauftragten modernistischen Architekten, jemals als voll­ ständiger Entwurf umgesetzt wurde, war die theologische Inspiration stets präsent. Als zum Beispiel zu Beginn der 1930er Jahre das Grab des Nikanor aus Alexandria, der zwei reich verzierte Bronzetore für die Frauenabteilung des Zweiten Tempels gestiftet hatte, auf der Fläche des Skopusbergs ent­ deckt wurde, setzte sich Menachem Ussischkin, zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzender des Jüdischen Nationalfonds, dafür ein, den Ort entsprechend herzurichten, und plante dort sogar die Errichtung eines Mausoleums oder Pantheons für die Häupter der zionistischen Bewegung, ein Plan, der jedoch wegen der Kriegswirren nicht realisiert wurde.34

Kraft und Geist »Es soll nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen«, so zitierte Judah Magnes, der erste Präsident der Hebräi­ schen Universität, bei der feierlichen Eröffnung des Instituts für Jüdische Studien im Jahr 1924 die Worte des Propheten Sacharia,35 ein Vers, der dem Wesen der Universität Ausdruck verlieh als Ideal eines Kulturzionismus, der jenseits der Frage einer staatlichen Existenz nach Errichtung eines geistigen Zentrums strebte. Diese Unterscheidung und Abgrenzung, die bereits in den Tagen des britischen Mandats kompliziert und voller immanenter Wider­ sprüche war, wurde mit der Erlangung jüdischer staatlicher Souveränität in Palästina de facto obsolet.36 Hatten zu dem Zeitpunkt, da die Universität Anfang der Zwanzigerjahre in 810 Metern Höhe über dem Meeresspiegel gegründet wurde, die Aura vergangener Zeiten und der Blick auf die heiligen Stätten, der sich von dort bot, den Reiz ihres Standortes ausgemacht, wurde ihre topografische Lage ein Vierteljahrhundert später zu einem eminent 32 Shapiro, Ha-universita ve-ha-ir, hier 232–234, Anm. 31; Dolev, Tochniyot ha-av ha-adri­ chaliyot shel ha-universita ha-ivrit, 1918–1948, bes. 278–280. 33 Über den Entwurf zur Entwicklung der Hebräischen Universität siehe Dolev, Tochniyot ha-av ha-adrichaliyot shel ha-universita ha-ivrit, 1918–1948, bes. 278–280. 34 Paz, Ha-universita ha-ivrit be-har ha-tzofim ke-mikdash, 300 f., Anm. 21. 35 Ebd., 289. Zit. aus Sach 4,6. 36 Yfaat Weiss, Rückkehr in den Elfenbeinturm. Deutsch an der Hebräischen Universität, in: Naharaim 8 (2014), H. 2, 227–245, hier 233.

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wichtigen strategischen Vorteil. Der Geist einerseits, »Macht und Kraft« andererseits standen sich mit einem Mal als unvereinbare Optionen gegen­ über. Warum, dachte in aller Unbefangenheit etwa Alexander Knox Helm, der für die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Israel zuständige Attaché der Britischen Botschaft in Tel Aviv, ließe sich die Uni­ versität nicht einfach »verlegen«? Die, wie er selbst es nannte, »amateur­ hafte Idee«, die Gebäude abzutragen und an anderer Stelle wieder aufzu­ bauen, ähnelte der Versetzung mehrerer Häuser aus England auf Initiative reicher Amerikaner einige Jahre zuvor. Knox Helm unterbreitete den Vor­ schlag Anfang 1950 Ruben Shiloach, dem von Ben Gurion ernannten ersten Chef des Mossad. »Stünde ein solcher Umzug des Krankenhauses und der Universität nach Israel denn vollkommen außer Frage?«, wollte er wissen, um sich abermals zu entschuldigen, dies sei seine Privatmeinung und »sicher eine dumme und vollkommen unpraktikable« Idee.37 Großbritanniens Gene­ ralkonsul in Jerusalem, Hugh Dow, wiederum brachte fast zur gleichen Zeit und unabhängig von diesem Vorstoß gegenüber Werner Senator, dem Ver­ waltungsdirektor der Hebräischen Universität, die Möglichkeit zur Sprache, die Universitätsgebäude vom Skopusberg auf die israelische Seite Jerusa­ lems zu verlegen, ein Vorschlag, den Senator jedoch aus emotionalen Beweggründen zurückwies,38 was Dow zu der Einschätzung verleitete: »Das Sentiment ist zweifelsohne stark, aber es wird hauptsächlich durch das israelische Militär genährt, und es ist seine Zustimmung und weniger die der akademischen Ein­ richtung, die es zu erlangen gilt, ehe der Anspruch auf Hoheitsgewalt über den Skopus­ berg aufgegeben würde.«39

Der Konsul irrte sich nicht. Die Gräben zwischen dem Kalkül und den Wün­ schen der Universitätsvertreter und der Politiker traten allmählich offen zutage, wobei sich die politische Führung kulturellen und ideellen Beweg­ gründen nicht gänzlich verschloss. Ben Gurion etwa erteilte bei einer Kabi­ nettssitzung im Oktober 1948 der Möglichkeit einer Rückeroberung des Gebietes um den Skopusberg eine Absage, unter anderem aus Sorge, das Scheitern einer solchen Aktion könnte die Arabische Legion veranlassen, die Universität einzunehmen und zu zerstören, was »nicht nur die Zerstö­ rung der Gebäude, sondern vor allem die Vernichtung der National- und Universitätsbibliothek« bedeutet hätte.40 Doch ungeachtet aller prinzipiellen Sensibilität räumte der israelische politische Apparat strategischen Erwä­ 37 The National Archives, FO 371/91384 EE 1084/2, Knox Helm, The British Legation, Tel Aviv, an G. W. Furlonge, Eastern Department, Foreign Office, 17. März 1951. 38 Ebd., FO 371/91384 EE 1084/7, Hugh Dow, British Consulate-General, Jerusalem/Tel Aviv, an G. W. Furlonge, Eastern Department, Foreign Office, 12. Mai 1951. 39 Ebd. 40 Zit. nach Ehrnvald, Matzor be-toch matzor, 339, Anm. 11.

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gungen naturgemäß Vorrang ein. Ende März 1949 beklagte sich Werner Se­ nator beim Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, Dr. Walter Eytan, der Standpunkt der Universität sei bei den Verhandlungen auf Rhodos zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und Transjordanien nicht berück­ sichtigt worden.41 In einem ebenso herzlich gehaltenen wie unmissverständ­ lichen Schreiben machte er Eytan klar, »[bei] allem Verständnis für die generelle, politische und militärische Bedeutung des Skopusbergs haben wir, die Vertreter der beiden Einrichtungen, der Universität und des Hadassah[krankenhauses], ein besonderes Interesse am Skopusberg. Wir haben eigene Vorstellungen von unseren Bedürfnissen und von dem Wert dieses Ortes.«42

Zum Wohle der Angelegenheit schlug er vor, die Kontakte der beiden Ein­ richtungen in der »kulturellen und politischen Welt gleichermaßen« zu bemühen.43 Das israelische Außenministerium willigte daraufhin ein, Sena­ tor zu ermöglichen, in die Vereinigten Staaten zu reisen, um dort seine Auf­ fassung und die der Universität zu vertreten, die sich im Wesentlichen auf eine Anwendung von Paragraf 4 des Waffenstillstandsabkommens konzen­ trierte.44 Im Grunde jedoch blieb das Außenministerium seiner Initiative gegenüber indifferent, da man ohnehin andere Ziele hatte. Das Schicksal der Universität auf dem Skopusberg war jetzt der grundsätzlichen Haltung des Staates Israel in Bezug auf die Zukunft ganz Jerusalems untergeordnet, wie die an Werner Senator gerichteten Worte Abba Ebans, zum damaligen Zeit­ punkt Gesandter Israels bei den Vereinten Nationen, bezeugen: »Die Skopus-Frage jetzt von der Gesamtverteidigung unserer Jerusalemposition zu iso­ lieren, ist meiner Ansicht nach taktisch fatal für unsere politische Strategie, für deren Ausrichtung ich in den Vereinten Nationen persönlich verantwortlich zeichne.«45

Gegen Ende 1949 war es noch möglich, auf private und punktuelle Initiative hin Einzelbestände aus der Enklave zu bergen. So wandte sich etwa die 41 Israelisches Staatsarchiv (ISA)/MFA/2444/14, Dr. W. Senator an Dr. W. Eytan, Außenmi­ nisterium, am 29. März 1949. – Die hier und im Folgenden aus dem ISA und dem Archiv der Hebräischen Universität in Deutsch erscheinenden Archivangaben sind – soweit nicht anders verzeichnet – Übersetzungen aus dem Hebräischen. 42 Ebd. 43 Entsprechend etwa die Eingaben Senators an die UNESCO, versehen mit einem detail­ lierten Memorandum, das Curt Wormann, der Leiter der Bibliotheken, für ihn erstellt hatte; Wormann kommt darin zu der Feststellung: »It is neither a military feat nor a politi­ cal asset to deprive a whole country and a whole people of his spiritual mainspring […] [it] is a crime against civilization and humanity.« Siehe Archiv der Hebräischen Universi­ tät, Sifriyot [Bibliotheken] 042, 1949, Memorandum. Dr. Wormann an Dr. Senator, Sep­ tember 1949. 44 ISA/MFA/2444/14, Dr. Werner Senator an Dr. Chaim Weizman, Präsident des Staates Israel, am 21. Dezember 1949. 45 ISA/MFA/2444/14, Abba Eban an Werner Senator am 13. Oktober 1949.

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Witwe des Präsidenten der Universität, Judah Magnes, über Norman Bent­ wich, Professor für Internationales Recht und ehemals Rechtsberater der bri­ tischen Mandatsregierung in Palästina, an den Stabschef der Organisation der Vereinten Nationen zur Überwachung des Waffenstillstands (United Nations Truce Supervision Organization – UNTSO) in Jerusalem mit der Bitte, persönliche Papiere ihres Mannes erhalten zu dürfen.46 Magnes war ein Jahr zuvor auf einer Reise durch die Vereinigten Staaten verstorben, auf der er mit letzter Kraft eigenmächtig und ungeachtet wachsender Kritik von­ seiten seiner Kollegen versucht hatte, bei den Vereinten Nationen gegen eine Verabschiedung des Teilungsplans und für ein binationales Gemeinwesen zu wirken.47 Vielleicht aufgrund von Magnes’ Stellung und wegen seiner besonderen Beziehungen zur arabischen Seite entsprachen die Jordanier der Anfrage durch die UN und ermöglichten Magnes’ Privatsekretärin, dem Ver­ antwortlichen für das Archiv sowie Bentwich, sich für drei Stunden in der Enklave aufzuhalten und die Dokumente dann in einem gesicherten Konvoi zu transportieren.48 Amerikanische Intervention ermöglichte zudem die Frei­ gabe weiteren Materials: fünf Kisten mit 366 Handschriften, Überreste des von den Nationalsozialisten weitgehend vernichteten jüdischen Kulturbesit­ zes in Europa, die bei Kriegsende in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland aufgefunden worden waren. Die Hebräische Universität als Mitglied der Dachorganisation Jewish Cultural Reconstruction (JCR) hatte die Schriften zur Verwahrung erhalten, und jetzt verlangten die amerikani­ schen Behörden deren Abtransport vom Skopusberg.49 Tatsächlich wurde nach Intervention durch die UN der neunstündige Besuch einer Expertende­ legation ermöglicht, zu der neben dem Direktor der Bibliothek Curt Wor­ mann auch Gershom Scholem und der leitende Bibliothekar Shlomo Shu­ nami gehörten, denen erlaubt wurde, die Sammlung vom Skopusberg in den Westteil der Stadt zu überführen.50 Doch waren dies Ausnahmen, keine all­

46 UN-Archiv S-0375-0132-05, Norman Bentwich an General Riley, U.N. Headquarters, 17. August 1949; Norman Bentwich an General Riley, U.N. Headquarters, 29. August 1949. 47 Zu der Kontroverse zwischen Magnes und der Hebräischen Universität bezüglich seiner Einlassungen nach der »Konvoikatastrophe« siehe Ehrnvald, Matzor be-toch matzor, 198–203, Anm. 11. 48 UN-Archiv S-0375-0132-05, W. E. Riley, Brigadier General, USMC, Chief of Staff, an Jamal Bey Toukan, Governor’s Office, Old City, Jerusalem, 31. August 1949; Bennett L. de Ridder, D.S.O., Colonel, Belgian Army, Acting Chief of Staff, U.N.T.S.O., an Mrs. Magnes, 26. Oktober 1950. 49 UN-Archiv, S-0375-0132-05, Raleigh A. Gibson, American Consul General, an Chief of Staff, United Nation Truce Supervision Organisation, 17. April 1950. 50 UN-Archiv, S-0375-0132-05, Chief of Staff, United Nation Truce Supervision Organisa­ tion, an den Deputy Chief of Staff for Mount Scopus, 8. Mai 1950; Chief of Staff, United Nation Truce Supervision Organisation, an Mr. Raleigh A. Gibson, American Consul

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gemeinen Tendenzen. »Uns ist es nicht gelungen, in den letzten Monaten auch nur ein Buch vom Skopusberg zu holen«,51 schrieb Wormann im Anhang zu einem Memorandum, das einen Überblick über den Zustand der Bibliothek im Herbst 1949 lieferte und Übergangslösungen für die Einstellung von Büchern in jenen Lesesälen skizzierte, die sich zum damaligen Zeitpunkt im Westen der Stadt befanden und die in einer anderen Denkschrift der Univer­ sität als »Bibliothek im Exil« bezeichnet wurden. In der Zwischenzeit vertiefte sich der Graben zwischen dem Außenminis­ terium und dem Elfenbeinturm Universität zusehends. Dabei lagen die Gelehrten in ihrer Einschätzung des Ortes offenkundig falsch, auf jeden Fall aber erkannten sie nicht die Zeichen der Zeit. So wandte sich Professor Felix Eliezer Bergmann, zuständig für die Bibliothek der Medizinischen Fakultät, Ende 1950 an Außenminister Moshe Sharet und bat, die wissen­ schaftlichen Buchbestände und insbesondere die Zeitschriftensammlung vom Skopusberg auslagern zu dürfen, da man sich ohne diese der Möglich­ keit »zu ernsthafter Forschungsarbeit« beraubt sehe.52 Im Gegenzug, so Bergmann, könne man den Jordaniern die Überlassung von rund 200 000 Bänden aus arabischen Privatbibliotheken anbieten, Bücher von »hohem materiellen und geistigen Wert«, die Israel im Verlauf der Kämpfe von 1948 in die Hände gefallen seien.53 Gemeint waren Bestände aus den Bibliotheken von Jerusalemer arabischen Gelehrten und Intellektuellen, die durch Biblio­ thekare der Nationalbibliothek unter Gefährdung des eigenen Lebens ent­ lang des Frontverlaufs in Jerusalem gerettet und in der Nationalbibliothek

General, 11. Mai 1950. Der erste Versuch, den Besuch durchzuführen, war gescheitert, da die Jordanier der Delegation den Zutritt verwehrt und verlangt hatten, ihr einen arabischen Experten beizufügen. Die Delegation wiederum lehnte diese Bedingung ab, da »unsere Zustimmung hierzu einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen würde, vor allem, da wir nicht die Absicht hegen, die Manuskripte in das hebräische Jerusalem zu überstellen«. Siehe Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1950, Protokoll zur Überprüfung von 366 Handschriften, die der Nationalbibliothek durch den Gouverneur der Militärregierung der Vereinigten Staaten in Deutschland vermittels der Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (Handschriften in Offenbach) überlassen wurden. J. Sussman, 19. Mai 1950. Hand­ schriftenarchiv der Israelischen Nationalbibliothek 4°793/132, Akte 13, Dr. Wormann an Dr. Arendt, 30. Mai 1950. 51 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1949, Library in Exile, Dr. Curt Wormann, National- und Universitätsbibliothek, an Dr. Senator, 28. September 1949. 52 ISA/MFA/2444/14, Professor F. Bergmann, Medizinische Fakultät an der Hebräischen Universität und dem Hadassah, an Herrn Moshe Sharet, Außenminister, 29. September 1950 (hebr.). Siehe auch Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1950, Curt Wor­ mann an Werner Senator, 6. Dezember 1950. 53 Ebd. Professor Moshe Schwabe kam im Rahmen der ständigen Kommission im Oktober 1952 wiederholt auf diese Idee zu sprechen. Siehe Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1952, Auszüge aus dem Protokoll der ständigen Kommission, 24. Oktober 1952, 2.

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eingestellt worden waren.54 Walter Eytan jedoch wies den Vorschlag nach­ drücklich zurück: »Seit eh und je haben wir uns gegen jeden Schritt gewandt, der, faktisch betrachtet, den Wert und die Bedeutung der beiden Institutionen auf dem Skopusberg, der Universität und des Hadassah-Krankenhauses, herabsetzen könnte. Jede Entwertung der Gebäude und des auf dem Skopusberg befindlichen Besitzes würde eine Schwächung unserer Forderungen nach sich ziehen, sowohl was die Wahrung unserer Rechte auf dem Sko­ pusberg in vollem Umfang als auch eine Rückführung der dort befindlichen Institutio­ nen in unsere Hände betrifft.«55

Eytan skizzierte in seiner Antwort mithin die politische Linie Israels für die kommenden Jahre. Entsprechend verstärkte sich auch der Widerstand des israelischen Außenministeriums gegen Initiativen der Universität, so etwa gegen deren eigenmächtigen Versuch, vermittels der UNESCO Jordanien dazu zu bewegen, eine Überführung der Bibliotheksbestände zu ermögli­ chen.56 Den Instanzen des Staates loyal verpflichtet, zeigte die Universität zwar Verständnis für die politischen Beweggründe Israels, doch zuweilen konnten diejenigen, die an ihrer Spitze standen, eine gewisse Ungeduld nicht verbergen, wenn sie das Gefühl hatten, die Anliegen der Universität würden brüsk übergangen.57 Und nach und nach schien es, dass die Universität bei 54 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot ha-gola 046, [Bibliotheken des Exils] 1949, Aufgegebene Bibliotheksbestände wurden in Jerusalem gerettet. Maßnahme der Nationalund Universitätsbibliothek, 12. April 1949; ebd., Sifriyot 1949, Bericht über die Samm­ lung von Büchern in den aufgegebenen Stadtvierteln Jerusalems durch die National- und Universitätsbibliothek von Ende Mai 1948 bis zum März 1949, S. Shunami 13. März 1949. Zum Thema der aufgegebenen palästinensischen Bibliotheken im Allgemeinen und im Besonderen zu deren heutigem Status in der Nationalbibliothek siehe auch Gish Amit, Matzewa meshuna. Issuf ha-sifriyot ha-palestiniyot mi-ma’arav yerushalaym be-milch­ emet 1948 ve-gilguleyhen be-veit ha-sfarim ha-le’umi ve-ha-universitai [Ein eigenartiges Denkmal. Die Sammlung palästinensischer Bibliotheken während des Krieges von 1948 und ihre Überführung in die Jüdische National- und Universitätsbibliothek], in: Theorie ve-bikoret [Theorie und Kritik] 35 (2009), 11–26; ders., Ownerless Objects? The Story of the Books Palestinians Left behind in 1948, in: Jerusalem Quarterly 33 (2008), 7–20; ders., Salvage or Plunder? Israel’s »Collection« of Private Palestinian Libraries in West Jerusalem, in: Journal of Palestine Studies 40 (2011), H. 4, 6–23. 55 ISA/MFA/2444/14, W. Eytan, Generaldirektor, an Prof. Bergmann, Hebräische Universi­ tät, 12. Oktober 1950. Siehe auch Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1950, Senators Schreiben an den Präsidenten der Hebräischen Universität Prof. Roth und an Curt Wormann, 3. Dezember 1950. 56 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1950, S. Brodetsky, Präsident, an Dr. W. Eytan, 12. Dezember 1950. 57 So wandten sich etwa, nachdem die Umsetzung der Grundsatzentscheidung, den Abtrans­ port von 10 Prozent der Buchbestände und der wissenschaftlichen Ausstattung zu ermög­ lichen, mehrfach aufgeschoben worden war, der Rektor der Universität Moshe Schwabe und sein Verwaltungsdirektor Yair Aran empört an Außenminister Moshe Sharet: »Uns scheint, die Universität hat bis zum heutigen Tag ein gehöriges Maß an Geduld gezeigt, nachdem sie gezwungen wurde, den Skopus zu verlassen. Heute jedoch, nach mehr als

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Regierungsstellen an Boden verlor: Das Außenministerium begann, sich der Verantwortung für ihre Belange zu entledigen, und verwies ihre Vertreter an das Verteidigungsministerium, als seien die Buchbestände und Sammlungen eine rein technische und keine prinzipielle Angelegenheit, eine taktische, nicht aber eine strategische Frage, sicherheitsrelevant, jedoch politisch nicht von Belang.58

Herbarium und Konkordanz Obgleich sie den Krieg von 1948 beinahe unbeschadet überstanden hatten, nachdem sie rechtzeitig aus den Regalen genommen und in den Magazinen der Bibliothek eingelagert worden waren, blieben die gut 500 000 Bände des Bestands in der ersten Hälfte der 1950er Jahre Verfall und Vernachlässigung ausgesetzt.59 Weggesperrt auf dem Skopusberg und fern von ihren Nutzern drohten die Bücher von Schädlingen befallen zu werden. Bibliotheksdirektor Wormann berichtete: »Die Würmer sind auch in die geschützten Räume eingedrungen, in denen zahllose alte und wichtige Bücher aufbewahrt werden, Inkunabeln […], darunter die berühmteste Sammlung von Inkunabeln auf der Welt, ein Geschenk durch Herrn Schocken, Dr. Sharons Sammlung von Autografen, eine wertvolle Sammlung von Ketubot aus Ita­ lien, eine Sammlung antiker Karten und anderes mehr.«60

Und auch Staubläuse, Milben, Museumskäfer und andere Insekten wurden beobachtet. Besondere Gefahr drohte dem Herbarium, das der Autodidakt drei Jahren, werden Sie sicher verstehen, dass wir eine zügige Umsetzung der Entschei­ dung zur Verlegung der Bestände erwarten, auch wenn dies nur einen kleinen Teil unserer Probleme löst.« Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1951, M. Schwabe und Yair Aran an Moshe Sharet, 8. Juli 1951. 58 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1952, Werner Senator an Walter Eytan, 6. Februar 1952; R. Dafni, Büroleiter Außenministerium, an Werner Senator, 6. Februar 1952; Werner Senator an Moshe Sharet, 5. Mai 1952; Moshe Sharet an Werner Senator, 19. Mai 1952. 59 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1952, National- und Universitätsbibliothek. Arbeitsbericht für den Zeitraum vom 1. Februar 1950 bis zum 30. September 1952 und über die Gesamtsituation, Curt Wormann, Oktober 1952. 60 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1952, A. Reshef, administratives Sekretariat, Memorandum, 9. Juni 1952. In dem Schriftsatz heißt es u. a.: »Diese Würmer sind beson­ ders unter den klimatischen Bedingungen unseres Landes gefährlich. In Europa fressen die Würmer nur im Sommer und sterben im Winter. In Israel hingegen fressen sie das ganze Jahr.« Und im Fakultätsrat z. B. wurde berichtet, »besonders haben die aus Deutschland überführten Handschriften Schaden genommen. Über die Beschaffung von Desinfektionsmitteln laufen Verhandlungen.« Archiv der Hebräischen Universität, Sif­ riyot 1952, Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Fakultätsrats der Geisteswissenschaf­ ten, 1. Sitzung, 19. November 1952.

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Alexander Eik, ein Schüler des bekannten Agrarbotanikers Otto Warburg, im Jahr 1920 angelegt hatte.61 Der auf Eiks Initiative Ende der 1920er Jahre angepflanzte Botanische Garten, der sowohl pflanzengeografisch als auch pflanzensoziologisch konzipiert war, ließ sich natürlich ebenso wenig verle­ gen62 wie der »Garten Shulamits«, den Eik als botanisch-archäologischen Garten geplant hatte und der »die im Lande Israel, insbesondere in den Ber­ gen Judäas vorherrschende Pflanzenwelt zur Zeit der Eroberung durch die Zuwanderer aus Ägypten und in biblischer Zeit« präsentieren sollte.63 Dies galt jedoch nicht für das Herbarium, das ungefähr 300 000 Herbarbögen sel­ tenen Pflanzenmaterials umfasste, das Eik zum Teil auf seinen Reisen des Jahres 1931 in der Türkei, aber auch im Irak und in Syrien gesammelt hatte, in Ländern also, zu denen Israel inzwischen keinen Zugang mehr hatte. Hinzu kamen etwa zweihundert sogenannte Holotypen, die sich in keinem anderen Herbarium der Welt fanden.64 Es war dies, so die Einschätzung der Universität, die weltweit wichtigste Sammlung in Bezug auf den Nahen Osten.65 Bei Nichtbenutzung bestehe die Gefahr, dass die Sammlung durch Schädlinge vernichtet wird.66 Ein Verlust des Herbariums, schrieben die Experten in einem Gesuch an die Vereinten Nationen, sei wie der Verlust 61 Siehe allgemein zur zionistischen biblischen Botanik Ilana Pardes, Agnon’s Moonstruck Lovers. The Song of Songs in Israeli Culture, Seattle, Wash./London 2013, 51–60; umfas­ send zu den botanischen Einrichtungen der Hebräischen Universität im Allgemeinen und zu Alexander Eik im Besonderen siehe Yair Paz, Ha-gan ha-botani ve-gan ha-nevi’im. Al shnej projektim le-hakamat ganim limudiim ba-universita ha-ivrit [Botanischer Garten und Garten der Propheten. Zwei Projekte zur Einrichtung von Lehrgärten an der Hebräi­ schen Universität], in: Hagit Lavsky (Hg.), Toldot ha-universita ha-ivrit bi-rushalaym. Hitbassessut u-zmicha [Die Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem. Eine Periode der Konsolidierung und des Wachstums], Bd. 1, Jerusalem 2005, 443–472. 62 Paz, Ha-gan ha-botani ve-gan ha-nevi’im, 450–454. Vor seinem frühen Tod im Jahr 1938 konnte Eik noch die erste phytogeografische Karte des Landes Israel vollenden. Dr. M. Sohari, Alexander Eik u-mifalo ha-mada’i [Alexander Eik und sein wissenschaftliches Werk], in: Davar, 28. August 1938. 63 Zit. nach Paz, Ha-gan ha-botani ve-gan ha-nevi’im, 452, Anm. 61. 64 Zu einer Einschätzung der Bedeutung des Herbariums siehe ISA MFA/2014/9, Prof. M. Sohari, Leiter der Abteilung für Botanik, Hebräische Universität Jerusalem, an Herrn Aran, Administrator der Universität, 10. Mai 1953; UN-Archiv, S-0375-0132-05, Dr. Naomi Feinbrun, Custos of the Herbarium Department of Botany, The Hebrew University, Memorandum on the Herbarium of the Hebrew University at Present on Mt. Scopus and its Scientific Value. 65 ISA MFA/2014/9, Prof. M. Sohari, Leiter der Abteilung für Botanik, Hebräische Univer­ sität Jerusalem, an Herrn Aran, Administrator der Universität, 10. Mai 1953. In seiner Traueransprache bei Eiks Beisetzung im Jahr 1938 behauptete Magnes, »das Herbarium ist heute das größte auf der ganzen Welt«. Siehe Archiv der Hebräischen Universität, Per­ sönliche Akte Alexander Eik, II, 1927–1938, Magnes, 21. November 1938. 66 Ebd.; ISA MFA/2014/9, J. Sussman, Zusammenfassung der Bemühungen, das Herbarium der Abteilung für Botanik der Hebräischen Universität und den Leichenkühlschrank des medizinischen Hadassah-Krankenhauses vom Skopusberg zu verbringen.

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»einer Handschrift, die nicht zu ersetzen ist«.67 Die ganze Sammlung hätte sich nach Überzeugung der Universität in sechs oder sieben großen Lastwa­ gen abtransportieren lassen,68 doch alle Versuche, zu einer Übereinkunft zu gelangen, scheiterten aus Gründen, die aus den Dokumenten nicht ersicht­ lich werden. Ein weiterer, beinahe erfolgreicher Versuch fand 1953 statt, als Jordanien sich für den Bruchteil einer Sekunde bereit erklärte, die Sammlung Israel auszuhändigen, und als bescheidene Gegenleistung lediglich einige offizielle Veröffentlichungen von staatlicher israelischer Seite verlangte sowie die Herausgabe des EKG-Gerätes eines armenischen Arztes, das sich seit 1948 im Tresorraum der Barclays Bank in Jerusalem befand. Doch auch dieser Versuch sollte scheitern.69 Und während die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler ganz der Gefahr eines unwiederbringlichen Verlustes von Kulturbesitz galt, versuchten die Mitarbeiter des Außenministeriums als offizielle Vertreter des israelischen Staates, jede internationale Einmischung zu unterbinden oder zu begrenzen, auch wenn diese in Gestalt angebotener Hilfeleistungen in Erscheinung trat. So wurde das Angebot des UN-Beamten Bettis, die Sammlung auf dem Skopusberg zu inspizieren, vom israelischen Außenministerium kühl zurückgewiesen. »Ich habe ihm unmissverständlich klar gemacht«, schrieb der israelische Attaché in Paris, »dass der Skopus­ berg kein Ausflugsziel ist und dass ein UNESCO-Gesandter den Skopusberg nur in Begleitung eines autorisierten Vertreters des israelischen Staates besu­ chen könne.«70

67 UN-Archiv, S-0375-0132-05, Dr. Naomi Feinbrun, Custos of the Herbarium Department of Botany, The Hebrew University, Memorandum on the Herbarium of the Hebrew Uni­ versity at Present on Mt. Scopus and its Scientific Value. 68 ISA MFA/2014/9, Prof. M. Sohari, Leiter der Abteilung für Botanik, Hebräische Univer­ sität Jerusalem, an Herrn Aran, Administrator der Universität, 10. Mai 1953. 69 ISA MFA/2014/9, Yair Aran, Administrator der Universität, an Herrn G. Kidron, Leiter der Abteilung für nationale Einrichtungen, Außenministerium, 25. Juni 1953. 70 ISA MFA/2014/9, A. Shlush, israelische Gesandtschaft in Paris, an die International Organizations Division, Ministry of Foreign Affairs, 13. September 1953. Die Universität selbst hatte keinerlei Vorbehalte gegen den Besuch eines UNESCO-Experten vor Ort. Siehe ISA MFA/2014/9, Yair Aran, Administrator der Universität, an Herrn G. Kidron, Leiter der Abteilung für nationale Einrichtungen, Außenministerium, 25. Juni 1953. Im November jedoch war man im israelischen Außenministerium zu der Einschätzung gelangt, es sei »nicht anzunehmen, dass angesichts der gegenwärtigen Lage der Beziehun­ gen zu Jordanien Herrn Bettis einfallen wird, in näherer Zukunft zu Gesprächen über die Frage der botanischen Sammlung zu erscheinen«. In jedem Fall aber wurde gebeten, die das Thema betreffende Korrespondenz zu vernichten. ISA MFA/2014/9, Ch. A., Leiter der Abteilung für Israels Botschaften, Paris, geheim, 4. November 1953; D. Avni, Israeli­ sche Botschaft in Paris, an die International Organizations Division, Ministry of Foreign Affairs, 18. November 1953; Yair Aran, Administrator der Universität, an Herrn G. Kidron, Leiter der Abteilung für nationale Einrichtungen, Außenministerium, 25. Juni 1953.

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Abb. 3: Micha Bar-Am, Raum mit antiken Sarkophagen auf dem Skopusberg, Jeru­ salem; rechts im Bild der Depotverwalter Ben Avram (1958). © Mit freundlicher Genehmigung von Micha Bar-Am/Magnum Photos / ‫מגנום‬/‫עם‬-‫באדיבות מיכה בר‬

Die auf Eiks Herbarbögen konservierten Pflanzen waren in den 1930er Jahren in einem damals geografisch noch offenen Raum gesammelt worden und sollten, ebenso wie die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse, einem grenzübergreifenden Fortschritt dienen, etwa dem Kampf gegen die Heu­ schreckenplagen im gesamten Nahen Osten.71 Grenzüberschreitend sollte auch die »Konkordanz der altarabischen Dichtung« sein, deren gut 550 000 Einträge starke Kartei 1948 ebenfalls in der Enklave des Skopusbergs ver­ blieben war. Die Idee zu dieser Konkordanz stammte von Josef Horovitz, Professor für Semitische Sprachen und die Frühgeschichte des Islams in Frankfurt am Main und einer der Mitbegründer des Instituts für Orientali­ sche Studien an der Hebräischen Universität. Durch Sammlung und Katalo­ gisierung jedes Wortes, das in der altarabischen Dichtung aus vorislamischer Zeit bis zum Ende der Omaijadenherrschaft zu finden ist, sollte die Konkor­ danz, die Horovitz als Herzstück der neu gegründeten Abteilung der Univer­ sität in Jerusalem betrachtete, es »der altarabischen Dichtung ermöglichen,

71 ISA MFA/2014/9, Prof. M. Sohari, Leiter der Abteilung für Botanik, Hebräische Univer­ sität Jerusalem, an Herrn Aran, Administrator der Universität, 10. Mai 1953.

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sich aus sich selbst zu erklären«.72 An der Erstellung der Konkordanz waren sämtliche Mitarbeiter des Instituts beteiligt gewesen. Auf Grundlage ihrer Arbeit beabsichtigte Horovitz, der als »Auswärtiger Direktor« die Geschäfte des Instituts in Jerusalem führte, die definitive Geschichte der altarabischen Dichtung zu schreiben, ein Vorhaben, dessen Verwirklichung sich durch sei­ nen vorzeitigen Tod 1931 zerschlug.73 Horovitz verband große Hoffnungen mit dem neuen Institut für Orientali­ sche Studien, das zu gründen ihn sein Freund Magnes aufgefordert hatte.74 Dasselbe galt für das Projekt der Konkordanz, über das Horovitz nach seiner Rückkehr von der Eröffnungsgala der Hebräischen Universität 1925 in der Frankfurter Zeitung schrieb: »Vielleicht ist das geplante Institut für Orientalische Studien mit in erster Linie beru­ fen, eine Annäherung anzubahnen dadurch, daß sie Juden und Araber zur gemeinsamen Pflege der arabischen Literatur wie zur Erforschung der islamischen Zivilisation und der Geschichte des Orients vereint.«75

Horovitz’ Auffassung, es müsse versucht werden, die politische Spannung zwischen Juden und Arabern durch gemeinsame Forschungstätigkeiten zu überbrücken, fand Bestätigung, als er auf dem Weg zu seinem Vortrag bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Universität in Ägypten mit muslimischen Kollegen zusammentraf, die ihm eröffneten, sie seien strikt sowohl gegen den Plan Balfours als auch gegen dessen Teilnahme an den Feierlichkeiten in Jerusalem.76 Die Konkordanz mochte durch den Glauben gestützt sein, eine Annäherung zwischen den Völkern bewirken zu können, doch mit Horovitz’ Tod wuchsen die prinzipiellen Zweifel an ihrer Zeitgemäßheit all­ gemein wie an ihrem Vermögen, zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Juden und Arabern entscheidend beizutragen. Die Mitglieder der Hartog-Kommission etwa, die im Jahr 1934 eingeladen war, die Hebräische

72 UN-Archiv, S-0375-0132-05, Prof. S. D. Goitein, The Concordance of the Pre-Islamic and Umayyad Arabic Poetry. Prepared by the School of Oriental Studies of the Hebrew University. 73 Hava Lazarus-Yafeh, The Transplantation of Islamic Studies from Europe to the Yishuv and Israel, in: Martin Kramer (Hg.), The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honor of Bernard Lewis, Tel-Aviv 1999, 249–260, hier 252 f. 74 Menachem Milson, Reshit limudej ha-aravit ve-ha-islam ba-universita ha-ivrit [Die Anfänge der Arabischen und Islamischen Studien an der Hebräischen Universität Jerusa­ lem], in: Katz/Heyd (Hgg.), Toldot ha-universita ha-ivrit bi-rushalayim, 557–588, hier 576–577. 75 Zit. nach Josef Horovitz, Die Universität Jerusalem, in: Frankfurter Zeitung, 16. August 1925; Gudrun Jäger, Orientalistik jenseits aller Nationalismen. Der jüdische Gelehrte Josef Horovitz und sein Verständnis von Annäherung zwischen Judentum und Islam, in: Forschung Frankfurt 3–4 (2004), 80–83, hier 83. 76 Milson, Reshit limudej ha-aravit ve-ha-islam ba-universita ha-ivrit, 577, Anm. 74.

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Universität einer Revision zu unterziehen, stellten mit unverhohlener Ironie fest: »Was immer man denken mag über die Maßnahmen, die zu einer Verbesserung in Palästina führen könnten, so dürfte nun doch recht offensichtlich geworden sein, dass kein Araber seine politischen Ansichten über die jüdische Frage ändern wird, nur weil die Hebräische Universität eine Konkordanz zur altarabischen Lyrik vorzubereiten gedenkt […].«77

In Treue zur deutschen philologischen Tradition und den Bericht der Kom­ mission ignorierend beharrte das Institut für Orientalische Studien jedoch auf dem Projekt, bis es sich 1948 plötzlich von seiner Kartei mit ihren Aber­ tausenden von Einträgen getrennt sah. In einem Bericht, den Shlomo Dov Goitein, Horovitz’ Schüler und später vor allem durch seine Veröffentli­ chungen aus der Kairoer Geniza bekannt geworden, an die UN übersandte, kam dieser zu der Einschätzung, es sei von rund 360 Containern die Rede, jeder mit einem Gewicht von ungefähr sieben Kilo, die jeweils 1 500 Kartei­ karten enthielten, sowie von etwa 5 000 Bänden der eigentlichen, zu unter­ suchenden Literatur.78 Auf Rat seiner Kollegen, so Goitein in seinem Bericht, habe er auf einem internationalen Kongress von Orientalisten in Cambridge im Herbst 1954 davon abgesehen, eine Petition zu erwirken, in welcher die Jordanier aufgefordert werden sollten, das betreffende Material vom Skopusberg überstellen zu lassen. Jetzt aber suchte er nach direkten politischen Kanälen und vertraute – offenbar mit einiger Naivität – darauf, dass »es der Reputation der haschemitischen Regierung höchst abträglich wäre, sollte sie ein solches Ersuchen zurückweisen«. Es erscheint doch sehr fraglich, ob das jordanische Königshaus sich Mitte der Fünfzigerjahre, auf dem Höhepunkt von Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbarn Israel,79 wegen der Karteikarten Horovitz’ besorgt gezeigt hätte. Desgleichen bestehen Zweifel, inwieweit deren Schicksal den Staat Israel interessierte.

77 Report of the Survey Committee of the Hebrew University of Jerusalem 1934, 21. 78 UN-Archiv, S-0375-0132-05, Prof. S. D. Goitein, The Concordance of the Pre-Islamic and Umayyad Arabic Poetry. Prepared by the School of Oriental Studies of the Hebrew University. 79 Benny Morris, Israel’s Border Wars, 1949–1956. Arab Infiltration, Israeli Retaliation, and the Countdown to the Suez War, überarbeitete und erweiterte Ausg., Oxford 1997 (zuerst Oxford 1993).

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Corpus separatum und Souveränität In einem von der National- und Universitätsbibliothek im Jahr 1953 vorge­ legten Bericht findet sich die Bemerkung, in regelmäßigen Abständen besu­ che ein Mitarbeiter der Bibliothek den Skopusberg, »um nach den Sammlun­ gen zu schauen. Dieser Mitarbeiter ermöglicht es auch den Angehörigen der Polizeikräfte und der Universität, die vor Ort ausharren, die Wissensschätze zu genießen, indem er ihnen Bücher ausleiht.«80 Dies hatte Judah Magnes sicher nicht im Sinn, als er dreißig Jahre zuvor bei der feierlichen Eröffnung des Instituts für Judaistik den Propheten Sacharia zitierte. Auch werden in einer Broschüre, die von Veteranen der israelischen Armee, einer nach 1955 auf dem Skopusberg stationierten Spezialeinheit, herausgegeben wurde, auf immerhin dreihundert Seiten die Buchbestände, Sammlungen, Kultur- und Geistesschätze mit keinem Wort erwähnt.81 Stattdessen finden sich darin zahlreiche Schilderungen von Heldentaten, wie zum Beispiel dem Ein­ schmuggeln von Waffen in den israelischen Bereich der Enklave, versteckt in den Konvois, die in Übereinstimmung mit dem Entmilitarisierungsab­ kommen alle zwei Wochen unter Aufsicht der UN auf den Skopusberg fuh­ ren. Auch die »Souveränitätspatrouillen« – so der Wortlaut in der Bro­ schüre – werden erwähnt, welche die auf dem Skopusberg stationierten israelischen Einheiten unternahmen, indem sie, dem Beschuss durch jorda­ nische Scharfschützen ausgesetzt, das umstrittene Terrain abliefen, jenen Streifen also, der sich innerhalb der Enklave im Juli 1948 durch die Abwei­ chungen zwischen den jordanischen und den israelischen Karten ergeben hatte und dessen Status ungeklärt geblieben war.82 Die eigentliche Front im Kampf um die Souveränität indes verlief in einer anderen Ecke des israelischen Teils des Skopusbergs, auf dem britischen Militärfriedhof, auf dem 2 516 Soldaten des Vereinigten Königreichs begra­ ben lagen, die im Verlauf der Kämpfe mit türkischen Soldaten 1917 in Jeru­ salem und Umgebung den Tod gefunden hatten.83 Als einer von sechs großen Militärfriedhöfen in Palästina war er 1927 eingeweiht worden und gehörte 80 Archiv der Hebräischen Universität, Sifriyot 1953, National- und Universitätsbibliothek. Bericht für die Monate April–August 1953. 81 Arje Shniper, Sipura shel »Jechidat Matzof 247« – Muvla’at har ha-zofim [Die Geschichte der Einheit »Matzof 247« – die Skopusberg-Enklave], (14. August 2015). 82 Zu den »Souveränitätspatrouillen« siehe auch Mordechai Gilat, Har ha-zofim [Skopus­ berg], Ramat Gan 1969, 63. 83 Die Angaben über die Zahl der auf dem Militärfriedhof begrabenen Soldaten des Verei­ nigten Königreichs variiert. Die Commonwealth War Grave Commission (CWGC) nennt 2 516 Soldaten, in den Akten finden sich abweichende Zahlen. Dort ist die Rede von 2 246, 2 539 und 2 534 Soldaten. Siehe Archive of the Commonwealth War Grave Com­ mission, ACON 181 pt. 2, Box 2085, WG 1561/1, Box 1096.

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Abb. 4: Ansicht des britischen Militärfriedhofs auf dem Skopusberg, Jerusalem (1959). © Mit freundlicher Genehmigung der Commonwealth War Graves Commis­ sion.

zu den insgesamt 22 Friedhöfen des Britischen Empires, die unter dem Schirm der Königlichen Kriegsgräberkommission (bis 1960: Imperial War Graves Commission) errichtet worden waren.84 Israelische Einheiten hatten im Verlauf der Kämpfe von 1948 den Friedhof aus taktischen Gründen ver­ mint, was dessen Unterhalt nach Kriegsende stark erschwerte und dazu führte, dass die Ruhestätte zusehends verfiel und für Bestattungszeremonien nicht mehr geeignet war. Der fortwährende Druck der Kriegsgräberkommis­ sion auf das britische Außenministerium, sich für eine Lösung dieser uner­ träglichen Situation einzusetzen, zeugte davon, dass der Ort außenpolitisch für Großbritannien von zentraler Bedeutung war, wohingegen die Abhängig­ keit der britischen Regierung in dieser Sache vom guten Willen Israels ihn 84 Zur Erinnerungskultur der Militärfriedhöfe nach dem Ersten Weltkrieg siehe George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990, 70– 106; zu den britischen Militärfriedhöfen in Palästina siehe Ron Fuchs, Toldot ha-tichnun shel batej ha-kvarot ha-britiim be-eretz Israel [Geschichte der Planung der britischen Militärfriedhöfe in Palästina], in: Katedra 79 (1996), H. 79, 114–139.

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als einen Schauplatz markierte, der geradezu prädestiniert schien, israelische Souveränität zu demonstrieren. Folgerichtig beharrte Israel darauf, die Minen durch eigene Einheiten entschärfen zu lassen, bestand auf seinem Recht, an Erinnerungsfeierlichkeiten teilzunehmen, ja führte solche Zeremo­ nien zuweilen sogar eigenmächtig durch und behielt sich vor, die Genehmi­ gung für Instandhaltungs- und Unterhaltungsarbeiten zu erteilen und vorzu­ schreiben, welche Personen diese ausführen durften und wie sie in das Gebiet der israelischen Enklave gelangen und dieses wieder verlassen soll­ ten. Das israelische Vorgehen sorgte für erhebliche Empörung bei den Ver­ tretern des britischen Außenministeriums, die der Überzeugung waren, der Militärfriedhof befinde sich in Besitz des Vereinigten Königreichs, auf jeden Fall aber den israelischen Anspruch darauf nachdrücklich bestritten. Bezweifelt werden darf, ob die Gelehrten der Hebräischen Universität sich des Gewichts eines jeden Buches, jeder Karteikarte oder jedes Herbar­ bogens im Poker um den Herrschaftsanspruch bewusst waren. Die Antwort des britischen Außenministeriums auf eine arglose Bitte des Direktors der Königlichen Gärten in Kew nahe Richmond im Südwesten von London im Jahr 1957, sich für eine Evakuierung von Eiks Herbarium aus der Enklave zu verwenden, da dieses von immenser Bedeutung für die Erforschung der Flora des Iraks sei,85 lässt auf jeden Fall Rückschlüsse auf Wirkungszusam­ menhänge zu. Der zuständige Beamte des britischen Außenministeriums erklärte, nachdem er an den Status Jerusalems als Corpus separatum erinnert hatte:86 »Faktisch gesehen würde ich auf keinen Fall erwarten, dass die jor­ danischen Behörden eine Überführung des Herbariums nach Israel genehmi­ gen. Sie haben zum Beispiel in der Vergangenheit den vorgeschlagenen Umzug der in den Gebäuden auf dem Skopusberg verbliebenen Bibliothek nach Israel abgelehnt. Wie dem auch sei, eingedenk des noch immer unde­ terminierten Status der gesamten Jerusalemer Region einschließlich des Skopusbergs bin ich nicht sicher, dass die Israelis überhaupt zwangsläufig als Eigentümer des Herbariums zu betrachten sind.«87 Die Praxis der Behauptung israelischer Souveränität, für deren Zwecke das arabische Dorf Issawiya, der britische Militärfriedhof, die Gebäude des Hadassah-Krankenhauses und die Hebräische Universität mitsamt ihren 85 British National Archives, FO 371/128192, Dr. G. Taylor, Director of the Royal Botanic Gardens, Kew, an A. Lightman, Esq., Ministry of Agriculture, Fisheries & Food, 26. März 1957. 86 Ebd., P. H. Laurence, Foreign Office, an A. Lightman, Ministry of Agriculture, 5. April 1957. 87 In jedem Fall, so stellte der Beamte des Weiteren nüchtern fest, dürften die Königlichen Botanischen Gärten in Kew keinerlei Schwierigkeiten haben, alles Erforderliche auch auf direktem Weg von der irakischen Regierung zu erhalten, zu der Großbritannien ja, wie er betonte, äußerst freundschaftliche Beziehungen unterhalte. Ebd.

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Gebäuden, Bibliotheken und Sammlungen instrumentalisiert wurden, stand im Verlauf der 19 Jahre, in denen die Enklave existierte, in direktem Zusam­ menhang mit der fortgesetzten Infragestellung der Legitimität israelischer Herrschaft über Jerusalem im Allgemeinen und über den Skopusberg im Besonderen. Der internationale Status Jerusalems als Corpus separatum ver­ hinderte eine internationale Anerkennung der hebräischen Stadt als Ganzes. Dem Skopusberg für sich genommen fehlten dagegen noch andere unab­ dingbare faktische Attribute, welche die Existenz staatlicher und territorialer Souveränität garantiert hätten, so etwa die Ausübung der Kontrolle über den Zugang zur Enklave, also die effektive Kontrolle grenzüberschreitender Bewegungen (interdependence sovereignty), da eine solche selbstverständ­ lich auch das Passieren jordanischen Gebietes betroffen hätte; außerdem eine De-jure- und De-facto-Kontrolle des eigentlichen Gebietes (vattelian sovereignty), das ja unter UN-Aufsicht stand. Selbst eine effektiv bestehende innerstaatliche Souveränität (domestic sovereignty) war nur teilweise gege­ ben, da die Bewohner des Dorfes Issawiya eine solche sicherlich nicht aner­ kannt hätten.88 Angesichts der israelischen Politik während der gesamten Zeit der Exis­ tenz der Enklave erscheint es nur natürlich, dass eine der ersten Entschei­ dungen der israelischen Regierung nach der Eroberung Ostjerusalems im Jahr 1967 lautete, die Hebräische Universität, die in der 19-jährigen Zwi­ schenkriegszeit auf dem Campus in Givat Ram im Westteil der Stadt betrie­ ben worden war, zurück auf den Skopusberg zu verlegen.89 Die Rückkehr der Universität mitsamt ihrem Lehrkörper und ihren Studenten wurde als goldene Gelegenheit begriffen, die Verbindung zwischen dem jüdischen

88 Aus der sehr umfangreichen Literatur, v. a. im Bereich internationaler Beziehungen, siehe in Bezug auf das Verhältnis zwischen Souveränität und Territorium insbesondere: Stephen D. Krasner, Rethinking the Sovereign State Model, in: Review of International Studies 27 (2001), H. 5, 17–42, hier bes. 19–21; Jordan Branch, The Cartographic State. Maps, Territory, and the Origins of Sovereignty, New York 2014, 1–35; John Gerard Rug­ gie, Territoriality and Beyond. Problematizing Modernity in International Relations, in: International Organization 47 (1993), H. 1, 139–174; John Agnew/Stuart Corbridge, Mas­ tering Space. Hegemony, Territory and International Political Economy, London 1995, 78–100; für eine historisch relevante Erörterung siehe Daniel Haines, Disputed Rivers. Sovereignty, Territory, and State-Making in South Asia, 1948–1951, in: Geopolitics 19 (2014), H. 3, 632–655. 89 Meron Benvenisti, Mul ha-choma ha-sgura. Yerushalaym he-chatzuya ve-ha-me’uchedet [Vor der versiegelten Mauer. Das geteilte und vereinte Jerusalem], Jerusalem 1973, 288– 298; David Kroyanker, Adrichalut bi-rushalaym. Ha-bniya ha-modernit mi-chutz la-cho­ mot 1948–1990 [Architektur in Jersusalem. Moderne Architektur außerhalb der Alten Stadtmauern (1948–1990)], Jerusalem 1991, 131–143. Siehe auch Archiv der Hebräi­ schen Universität, Protokoll des Exekutivkomitees, 10. Sitzung, 26. September 1967: »Der Rektor gibt Details bekannt zu dem Treffen mit dem Premierminister, der einer Besiedlung des Berges höchste Priorität beimisst […].«

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Jerusalem im Westen der Stadt und seinen nördlich gelegenen Vierteln zu stärken, und sämtliche Einrichtungen und Gremien der Universität ließen sich bereitwillig für diese Aufgabe rekrutieren.90 Um den Entwurf des Cam­ pus zu realisieren, war der Staat gezwungen, Flächen in erheblichem Umfang zu enteignen, da die ursprüngliche Fläche der Universität auf dem Skopusberg bei Weitem nicht ausreichte, sämtlichen neuen Erfordernissen zu genügen.91 Der Lehrkörper der Universität wurde in die Planungen miteinbezogen und war an zahlreichen Entscheidungen beteiligt.92 Mehrheit­ lich hatten die Mitglieder der Alma Mater, so scheint es, nichts gegen die Rückführungspläne einzuwenden, die im Wesentlichen, auch von der Öffentlichkeit, als gerechtfertigte »nationale Maßnahme« angesehen wur­ den.93 Auch wenn manche der Überzeugung gewesen sein mögen, eine uni­ versitäre Planung müsse Vorrang haben vor »außeruniversitären Erwägun­ gen« und »Sentimenten«,94 scheint es, als hätten die Angehörigen des Lehrkörpers keine Möglichkeit gesehen, sich gegen die »Unterstützung der Öffentlichkeit« zu stellen, die sie aufforderte, auf den Skopusberg zurückzu­ kehren, weshalb sie die Verpflichtung empfanden, dieser Aufforderung zu entsprechen.95 Abgesehen von Professor Uriel Heyd, einem aus Köln gebür­ tigen Orientalisten und Turkologen, der nicht müde wurde, die Verpflichtung der Universität auf die Werte ihrer Gründungsstunde zu betonen, und aus diesem Grund darum bat, »zunächst nur jene Teile der Universität zurückzu­ verlegen, die eine Verbindung zur jüdischen Tradition und zu einer Verbes­ serung der Beziehungen zu unseren Nachbarn haben«, sprich: nur das Insti­ tut für Judaistik und vor allem das Institut für Orientalische Studien wieder

90 Bereits am 8. Juni 1967, also nach der Einnahme von Ostjerusalem, aber noch während des Krieges, verkündete Professor Eliahu Eilat vor dem Aufsichtsrat und führenden Freunden der Hebräischen Universität: »Mit der historischen Vereinigung Jerusalems ist das Ende des langen Exils der Hebräischen Universität vom Skopusberg gekommen. Meine Kollegen und ich planen bereits die Wiederherstellung unseres Campus auf dem Skopus, wozu ich Ihnen schon in Kürze weitere Details mitteilen werde.« Archiv der He­ bräischen Universität, Akte 080, Komitee zur Instandsetzung des Skopus, 1967. 91 Ebd., Ständiger Ausschuss, 2. Sitzung, 17. November 1967, 1–2; 5. Sitzung, 28. Februar 1968, 4. 92 Der Vizepräsident der Hebräischen Universität schlug Richter Chaim Cohen, dem Vorsit­ zenden des Planungsausschusses für den Skopusberg, sogar vor, »sich in aller Ernsthaftig­ keit um das Versprechen von Wohnunterkünften für den Lehrkörper auf dem Terrain des Skopusbergs oder in unmittelbarer Nähe dazu, vielleicht in Scheich Djarach oder Wadi elJoz, zu kümmern«. Ebd., Akte 080, Komitee zur Instandsetzung des Skopus, 1967, Der Vizepräsident an Richter Ch. Cohen, Vorsitzender des Planungsausschusses für den Sko­ pusberg, 12. Juni 1967. 93 Ebd., Sitzungen des Senats, 2. Sitzung, 28. Februar 1968, Prof. Rabin, 4. 94 Ebd., 5. Sitzung, 28. Februar 1968, 3, Prof. Shmuel Ettinger und Prof. Barkai. 95 Zitat von Uriel Heyd, der Ausdruck »Verpflichtung« stammt dagegen von Alexander Fuchs. Siehe ebd., 6. Sitzung, 3. März 1968, 3.

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auf dem Skopusberg anzusiedeln,96 »als symbolischen Akt, der in Zukunft den Arabern aus Israel und aus den benachbarten Staaten als Herausfor­ derung dienen möge« – abgesehen also von diesem einsamen Mahner hat es den Anschein, als sei der großen Mehrheit aller Beteiligten die arabische Umgebung recht gleichgültig gewesen. Sofern überhaupt Zweifel geäußert wurden, betrafen diese vor allem die Auswirkungen einer Aufspaltung der Universität auf zwei getrennte Campus mit allen sich daraus ergebenden Folgen.97 Einwände gegen die Rückkehr der Universität auf den Skopusberg waren, soweit sie formuliert wurden, mithin technisch-logistischer und nicht grundsätzlich-politischer Natur. In einer Atmosphäre, in der etwa der Präsi­ dent der Universität, der Orientalist Prof. Eliahu Eilat, vor dem Direktorium verkündete, »das jüdische Volk allein ist es, das in Jerusalem in seinem Haus wohnt, in seiner staatlichen und geistigen Heimstatt«,98 oder der Rektor der Universität, der Philosoph Prof. Nathan Rotenstreich, in einer Senatssitzung ausrief, »der Skopusberg ist israelisches Territorium und an einem Anspruch des Staates Israel darauf gibt es nichts zu deuteln. Er ist Eigentum der He­ bräischen Universität und sie allein hat das Recht des Zugangs zu ihm«99 – in einer solchen Stimmungslage sahen sich die wenigen Zweifler wohl oder übel gezwungen, ihre Stimme bei privaten Zusammenkünften, nicht aber in der Öffentlichkeit zu erheben, auf Fluren demnach und nicht in Sitzungssä­ len. Waren es die 19 Jahre währende Abtrennung und das damit einhergehende Gefühl von Demütigung, die fortwährenden Schwierigkeiten, Zugang zu den kulturellen Besitztümern zu erhalten, und die daraus resultierende Frus­ tration, war es der gewaltige Abnutzungseffekt des Lebens in einer geteilten Stadt unter permanenter Bedrohung durch Gewalt oder aber das Gefühl mes­ sianischer, eschatologischer Euphorie, das viele Israelis angesichts der spek­ takulären Kriegserfolge des Jahres 1967 ergriff, die letztendlich allgemeine Zustimmung zu einer Rückkehr auf den Skopusberg bewirkten – diese Frage ist schwerlich klar zu beantworten. Eine einzige Stimme indes hob sich aus 96 Ebd., Akte 080, Komitee zur Instandsetzung des Skopus, 1967, Sitzung des Komitees zur Instandsetzung des Skopus, 12. Juni 1967; Zusammenfassung der Anmerkungen und Vor­ schläge während der Sitzungen des Komitees zur Instandsetzung des Skopus (undatiert). 97 Ebd., Ständiger Ausschuss, 5. Sitzung, 29. Dezember 1967; 9. Sitzung, 19. Februar 1968. Die Universität arbeitete in Abstimmung mit dem Regierungsausschuss zur Entwicklung Ostjerusalems, siehe ebd., Sitzungen des Senats, 5. Sitzung, 28. Februar 1968, 2. 98 Ebd., Einheit 29, 1967, Rede von Eliahu Eilat, Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem, zur Eröffnungssitzung des Aufsichtsrats der Universität, 26. Juni 1967. 99 Ebd., Sitzungen des Senats, 5. Sitzung, 3. März 1968, 1. Bei einer anderen Sitzung drückte sich der Rektor unmissverständlich aus, als er bekanntgab, »ohne auf seine per­ sönliche Meinung zur nationalen Rolle des Akademikers Bezug nehmen zu wollen […], habe er bei seiner Vertretung der Universität gegenüber der Regierung stets deren nationa­ len Charakter betont«. Ebd., 4.

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dem allgemeinen Chor heraus. Es war dies die Stimme von Martin Plessner, Orientalist und Spezialist für die Geschichte des Islams im Mittelalter, der nach Palästina emigriert war, nachdem er 1933 die Universität Frankfurt hatte verlassen müssen. Er sollte zunächst viele Jahre am Realgymnasium in Haifa Arabisch unterrichten, ehe er in seiner neuen Heimat eine universitäre Anstellung erhielt.100 Plessner, so hat es das Sitzungsprotokoll des Universi­ tätssenats festgehalten, wandte sich gegen den Plan einer Ansiedlung der Universität auf dem Skopusberg, »in erster Linie, weil politische Zielsetzun­ gen nicht die Schritte der Universität lenken sollten und weil es, seiner Ansicht nach, nicht ratsam sei, vollendete Tatsachen an einem Ort zu schaf­ fen, bezüglich dessen Zukunft noch Zweifel bestehen«.101 Aber Plessner war als Sonderling bekannt, der sich niemals bemühte, seine Auffassungen mit denen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen, und es darf bezweifelt wer­ den, dass außer dem Protokollanten, der die Einwände für die Nachwelt fest­ hielt, einer der Teilnehmer der Runde ihm wirklich zuhörte.102 Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

100 Zu Martin Plessner siehe Yonatan Mendel, From German Philology to Local Usability. The Emergence of »Practical« Arabic in the Hebrew Reali School in Haifa, 1913–1948 (unveröffentlichtes Manuskript). 101 Archiv der Hebräischen Universität, Sitzungen des Senats, 5. Sitzung, 3. März 1968. 102 Die Recherchen für diesen Aufsatz wurden im Rahmen des Forschungsprojektes »Know­ ledge and Awareness: Jews of the German Academic Tradition and the Arab-Israeli Conf­ lict 1925–1967« der Israel Science Foundation durchgeführt, die schriftliche Niederle­ gung erfolgte während eines Forschungsaufenthalts als EURIAS Senior Fellow im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Die Autorin dankt beiden Institu­ tionen für die Förderung des Vorhabens. Für die Mithilfe bei der Recherche von Archiva­ lien in London bedanke ich mich bei Lana Tatour. Ein besonderer Dank richtet sich an meine Forschungsassistentin Adi Livny, die die Entstehung dieses Beitrags mitdenkend begleitet hat.

Michael Birnhack

Rechts- und Sprachkulturen im Widerstreit: Der Copyright-Prozess um die Schriften Theodor Herzls in Israel Symbolträchtiger hätte es kaum sein können: Der erste Urheberrechtspro­ zess im neu gegründeten jüdischen Staat betraf die Schriften von Theodor (Benjamin Ze’ev) Herzl, einschließlich seines Werkes Der Judenstaat.1 Wem gehörten die grundlegenden Texte des neuen Staates und wem die Rechte an den Werken? Wer durfte über Herzls Werke, deren Übersetzung, Neuausgabe und Nutzung bestimmen? Hinter der rein rechtlichen Fassade des Disputs liegen zahlreiche persönliche, kulturelle und politische Schich­ ten verborgen. In dieser Schilderung des ersten Streitfalls um das Urheber­ recht in Israel sollen diese Spannungselemente zutage gefördert und unter­ sucht werden: zwischen einem Menschen, dessen Lebenswerk auf dem Spiel stand, und einer mächtigen Institution; zwischen den privaten und den öffentlichen Rechten an bedeutenden geistigen Werken; zwischen dem Bild des europäischen Juden und des neuen, hebräischen Juden; zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen.2 1

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Dieser Beitrag beruht, mit einigen Anpassungen für eine nicht juristische Leserschaft, auf einer englischen Fassung, die bei Central European University Press erscheint: The Mel­ ting Pot of Copyright Law. Urheberrecht in Jerusalem, in: Hannes Siegrist/Augusta Dimou (Hgg.), The Expansion of Intellectual Property Rights in Europe and Beyond. Copyrights and Patents in the 20th Century (in Vorbereitung). Der Autor dankt den Herausgebern für die freundliche Genehmigung, den Beitrag zu bearbeiten und auf Deutsch zu publizieren. – Für ihre hilfreichen Kommentare danke ich Lida Barner, Nathan Brun, Orit Fischman Afori, Matan Goldblat, Eyal Katvan, Assaf Likhovski, Ana­ tol Schenker, Yoram Shachar und Matthias Wiessner, sowie auch den Teilnehmern der Tagungen der Israeli Association of Legal History (Jerusalem, Oktober 2012), der Israeli Intellectual Property Scholars (Herzliya, Oktober 2012) und der Konferenz »Intellectual Property in Modern Europe – Tracing the Expansion of a Concept« (Leipzig, November 2012), ebenso Studierenden der Rechtsgeschichte an der Universität Tel Aviv und der Hebräischen Universität Jerusalem. Mein Dank geht an Nita Benoliel, Ricki Newman und Yuval Kerstein für ihre Forschungsassistenz sowie an Shai Lavi und Avi Lifschitz für ihre Hilfe bezüglich der Auffindung deutschsprachiger Quellen. Jerusalem District Court (nachfolgend CC) 139/50, Hoza’a Ivrit [Hebräischer Verlag] vs. World Zionist Organization. Der größte Teil der Prozessakten liegt in den Central Zionist Archives in Jerusalem (CZA): S41/35 (Klagebeantwortung) sowie S512455 (Anhörungs­ verfahren und verwandte Dokumente). In der britischen Mandatszeit betrafen CopyrightFälle, die in Palästina vor Gericht abgehandelt wurden, vornehmlich die öffentliche Wie­ dergabe von Musikaufnahmen. Siehe Michael D. Birnhack, Colonial Copyright. Intellec­ tual Property in Mandate Palestine, Oxford 2012, 260–267. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 91–110.

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Der Judenstaat erschien 1896 in deutscher Sprache in Wien und Leipzig. Das politische Werk handelte vom zionistischen Entwurf, der Errichtung eines unabhängigen, souveränen jüdischen Staates, von seinen Organen und deren Funktionsweise. Der 1904 verstorbene Herzl erlebte die Realisierung seines Traumes nicht. Etwa ein halbes Jahrhundert später waren seine Schriften Gegenstand des hier zu erörternden Rechtsstreits: Im Jahr 1950 erhob Siegmund Kaznelson, ein jüdischer Verleger, der dem NS-Regime entkommen war, Klage gegen die Zionistische Weltorganisation (World Zio­ nist Organization – WZO), womit die Herausgabe von Herzls Schriften auf Hebräisch verhindert werden sollte; dies mit der Behauptung, die Rechte hierfür seien seinem Verlag von Herzls Erben übertragen worden. Dieser Urheberrechtsfall barg eine Reihe von Konflikten, die den Über­ gang von einer europäischen zur israelischen Kultur widerspiegelten. Der Kläger Kaznelson war in den späten 1930er Jahren aus Deutschland emig­ riert; beklagte Partei war die WZO. Mithin handelte es sich um eine Kon­ frontation zwischen einem Individuum und einer Institution, wobei Kaznel­ son in jeder Hinsicht die schwächere Partei war. Er war der sprichwörtliche Alte Jude,3 ein Einwanderer, dem es nicht gelungen war, sich in die im Ent­ stehen befindliche hebräischsprachige israelische Gesellschaft zu integrie­ ren, und dessen Habitus im Israel des Jahres 1950 dem von 1932 in Berlin entsprach. Die WZO war eines der Sinnbilder der neuen israelischen Gesell­ schaft – eine mächtige, hebräische, zionistische Organisation, einer der Grundpfeiler der im Aufbau befindlichen politischen Ordnung. Zugleich war der Rechtsstreit demzufolge ein Streit zwischen den Spra­ chen Deutsch und Hebräisch, die mit je eigenen kulturellen Bedeutungen befrachtet waren. Die deutsche Sprache stand für den fremdbestimmten, assimilierten Alten Juden. Mit den damals noch sehr gegenwärtigen Ereig­ nissen des Zweiten Weltkriegs und der Schoah untrennbar verbunden, war sie in der jungen israelischen Gesellschaft streng verpönt. Das Hebräische hingegen verkörperte den freien, unabhängigen, stolzen Neuen Juden. Die in Rede stehenden Werke Herzls waren ursprünglich auf Deutsch erschienen; nun ging es um die hebräischen Ausgaben. Die Gerichtsverhandlung wurde in einer Mischung aus Deutsch und Hebräisch geführt. Zudem spielte sich der Prozess vor dem Hintergrund einer weitaus größeren politischen Debatte ab, dem zu jener Zeit verhandelten und schließlich abgeschlossenen kontro­ versen Wiedergutmachungsabkommen. Zeitpunkt und Gegenstand des Prozesses wie auch der Umstand, dass er der erste seiner Art war, waren nicht lediglich eine symbolische Koinzidenz. Eine leidenschaftliche Debatte über die historischen Grundlagen des neuen

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Zum Begriff des Alten Juden siehe Anita Shapira, New Jews, Old Jews, Tel Aviv 1997.

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Staates und die Bemühungen um die Gestaltung des sozialen Gefüges waren damals in vollem Gange. An Neuausgaben der herzlschen Schriften bestand nachhaltiges Interesse. Angesichts der Verschränkung dieser komplexen Konfliktsituationen überrascht es wenig, dass es nur einen Weg der Ausei­ nandersetzung zu geben schien – eine Formalisierung als Rechtsstreit und Übertragung in die Sphäre der Justiz. Die Rechtslage war jedoch alles andere als klar. Heikle juristische Fragen taten sich auf. Welches Recht war für die Bestimmung der Rechteinhaber­ schaft anwendbar? War es das britische Recht, auf dem die israelische Rechtsordnung aufgebaut war, oder das deutsche Recht, gemäß dem die urheberrechtlichen Rechtsgeschäfte abgeschlossen worden waren? Unter­ schiedliche Gesetze verwoben sich zu einem komplexen Muster. Die Span­ nungsverhältnisse mündeten in das, was in der Fachterminologie als Rechts­ kollision bezeichnet wird, ein Konkurrieren zwischen Rechtsvorschriften, die unterschiedlichen Rechtsordnungen angehörten. Die Urheberrechtsstreitigkeit in Bezug auf die Werke Herzls lag somit an der Schnittstelle verschiedener Rechtsordnungen. Ausgangspunkt war das israelische Recht, das das während des britischen Mandats über Palästina (1917/1920–1948) geltende britische Recht 1948 übernommen hatte. Hinge­ gen unterlagen die fraglichen Werke ausländischem Recht. Herzl hatte den Großteil seines Erwachsenenlebens in Wien verbracht, hatte in Wien, Berlin, Leipzig und Paris geschrieben und publiziert, und seine Verlagsverträge waren nach deutschem Recht abgeschlossen worden. Seine Werke waren ins Hebräische, Jiddische, Englische und Französische übertragen worden und unter anderem in Polen, den Vereinigten Staaten und Palästina erschienen. Nach zahlreichen langwierigen Gerichtsterminen endete der Prozess ohne richterliche Entscheidung, nach mehreren Jahren der gerichtlichen Ausei­ nandersetzung nahm Kaznelson die Klage zurück. Der erste Band einer Neuausgabe von Herzls Werken wurde 1955 von der WZO verlegt.

Die Charaktere und der erste Rechtsstreit Theodor Herzl und sein Werk Der 1860 im ungarischen Pest geborene Herzl war die treibende Kraft der zionistischen Bewegung, deren Wirken in der Gründung des Staates Israel kulminierte. Nach einem Jurastudium in Wien und mehrmonatiger Gerichts­ praxis hatte er beschlossen, sich dem Schreiben zu widmen.4 Er verfasste 4

Amos Elon, Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl, sein Leben und Werk, Aus dem Engl. übertragen von Traudl Lessing, Wien u. a. 1975, 81; Alex Bein, Theodor Herzl. Biogra­

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Theaterstücke und Kurzgeschichten, war in Paris als Journalist tätig und engagierte sich dabei zunehmend in der zionistischen Politik. Seine Biogra­ fen verweisen auf sein starkes Interesse an der Literatur. Herzl las und schrieb unermüdlich und füllte seine Notizbücher mit Buchbesprechungen und Kommentaren.5 In den 1880er Jahren verfasste er Theaterstücke, die verschiedentlich aufgeführt wurden;6 er veröffentlichte zwei Sammelbände mit Aufsätzen, Erzählungen und Feuilletons.7 Er ist der Autor der Bücher Der Judenstaat (1896) und Altneuland (1902). Seine gesamte politische Karriere hindurch schrieb er Tagebuch und verfasste zahlreiche Artikel, Briefe und Reden. Herzls Familienleben war eine fortlaufende Tragödie. Seine Ehe war unglücklich; er schloss seine Frau aus dem Testament aus und vermachte sein Vermögen – einschließlich seines geistigen Eigentums – seinen drei Kindern.8 Im Alter von nur 44 Jahren verstarb er. Seine Kinder hatten ein tra­ gisches Schicksal. Die ältere Tochter, Pauline, starb 1930; ihr Bruder Hans verübte kurz danach Selbstmord.9 Die jüngere Tochter, Trude Neumann, war psychisch krank. Von ihrem 25. Lebensjahr an war sie in Nervenheilanstal­ ten untergebracht. 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, wo sie 1943 starb.10 Zu Herzls Lebzeiten erschienen seine Theaterstücke und Buchpublikatio­ nen, nicht jedoch die anderen Schriften. Nach seinem Tod befand sich das literarische Werk in den Händen seiner Kinder. Ein Freund Herzls, Professor Leon Kellner, edierte eine erste Auswahl der politischen Tagebücher und anderer Schriften und brachte sie 1905 unter dem Titel Zionistische Schriften im Jüdischen Verlag heraus.11 Es blieb unklar, welche Rechte der Verlag erworben hatte, und es erwies sich später als strittig, ob Hans Herzl über­ haupt mit dem Verlag einen Vertrag abgeschlossen hatte. Es blieb bei dieser

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phie, Frankfurt a. M. u. a. 1983, 39 (für die Taschenbuchedition vom Autor neu eingerich­ tete Ausg.; dt. Erstausgabe Wien 1934). Elon, Morgen in Jerusalem, 31 und 61; Marvin Lowenthal, The Diaries of Theodor Herzl, London 1958, Einleitung, V. Siehe Elon, Morgen in Jerusalem, 94 f. und 327, der Herzls Karriere als Theaterautor als von mäßigem Erfolg gekrönt bezeichnet; Desmond Stewart, Theodor Herzl. Artist and Politician, London 1974, 371. Eine vollständige Liste von Herzls Schriften ist enthalten in Bein, Theodor Herzl, 343–345. Theodor Herzl, Neues von der Venus. Plaudereien und Geschichten, Leipzig 1887; ders., Buch der Narrheit, Leipzig 1888; Bein, Theodor Herzl, 43–46. Amos Elon, Herzl, New York 1975, 321 f. (engl. Originalfassung; der Absatz mit diesem Hinweis ist in der hier ansonsten zitierten dt. Übersetzung nicht enthalten); Stewart, Theo­ dor Herzl, 284. Elon, Morgen in Jerusalem, 417. Siehe ebd.; Stewart, Theodor Herzl, 340 f. Theodor Herzl, Zionistische Schriften, Berlin 1905.

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teilweisen Veröffentlichung.12 Danach wurde ein Herausgeberkomitee bestellt.13 Im Lauf der Zeit gab es zahlreiche Ausgaben verschiedener Teile der herzlschen Schriften in mehreren Sprachen.14 Hier soll allein von der hebräischen Übersetzung in Palästina und Israel die Rede sein.

Die Verlage Der erste Verlag, der sich nach Herzls Tod mit seinem Werk beschäftigte, war der 1902 gegründete, in Berlin ansässige Jüdische Verlag, der dessen zionistische Publikationen in deutscher Sprache herausbrachte. Er setzte sich für die Verbreitung der zionistischen Ideologie ein und wurde nach kommerziellen Gesichtspunkten betrieben. Nach 1905 war er im Besitz der WZO. Nachdem Kaznelson von 1921 bis 1925 als Geschäftsführer fungiert hatte, wurde er selbst Eigentümer des Verlags.15 Kaznelson war an der Deut­ schen Universität in Prag zum Doktor der Rechte promoviert worden, war aber nie als Jurist tätig gewesen. Er selbst bezeichnete sich als Lektor und Verleger.16 In all den Jahren, in denen er dem Verlag angehörte, war er des­ sen treibende Kraft – man kann sagen, seit Beginn der 1920er Jahre war er der Verlag. 1931 gründete Kaznelson in Palästina eine Verlagsfirma namens Hoza’a Ivrit (Hebräischer Verlag)17 – man beachte, wie sich im Verlagsnamen »jüdisch« in »hebräisch« verwandelt hatte. Angesichts der zunehmend pre­ kären Lage der Juden in Deutschland wanderte er 1937 nach Palästina aus. In seiner doppelten Eigenschaft als Eigentümer des Jüdischen Verlags und der Hoza’a Ivrit arrangierte er 1938 eine Vereinbarung zwischen den beiden Verlagen, mit der der Jüdische Verlag sein Vermögen auf Hoza’a Ivrit über­ trug, somit auch die Verbindlichkeiten des Jüdischen Verlags gegenüber Kaznelson.18 Im Wesentlichen bestand das Verlagsvermögen aus den Rech­ ten an Herzls Schriften – welche Rechte genau, blieb noch festzustellen. Es handelte sich um Herzls Tagebücher, die Zionistischen Schriften, den Juden­ 12 So die Feststellung Kellners in seiner Einleitung zur Ausgabe von 1920, mit dem Hinweis, die Testamentsvollstrecker hielten einen Teil der Schriften für nicht publikationsreif. 13 Siehe die Einleitung von Lowenthal, The Diaries of Theodor Herzl. 14 Im Katalog der National Library in Jerusalem sind Hunderte verschiedener Veröffent­ lichungen genannt. Die erste hebräische Übersetzung kam in Warschau heraus. 1928 erschienen die ersten hebräischsprachigen Ausgaben in Palästina. Besonders geschätzt waren Der Judenstaat und Altneuland. 15 Zu Kaznelsons Lebenslauf siehe Anatol Schenker, Der Jüdische Verlag 1902–1938. Zwi­ schen Aufbruch, Blüte und Vernichtung, Tübingen 2003, 263–280. 16 Siehe seine persönlichen Unterlagen, CZA, AK181. 17 Siehe Schenker, Der Jüdische Verlag 1902–1938, 449. 18 Siehe CZA, S41/35, Jüdischer Verlag an Hoza’a Ivrit, 15. Dezember 1938.

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staat sowie um das wirkmächtige, populäre Werk Al Paraschat Derachim (Am Scheideweg) von Ascher Ginsberg, besser bekannt unter seinem Pseu­ donym Achad Ha’am (»Einer aus dem Volk«). 1938 schloss die Reichskul­ turkammer den Jüdischen Verlag in Berlin und vernichtete den Großteil sei­ ner Buchbestände. Ebenfalls zu dem sich hier entfaltenden Geschehen gehört der hebräische Verlag Mizpe Press (Mizpe, hebr. Aussichtswarte), der von 1925 bis 1944 in Palästina tätig war.19 Der Mizpe-Verlag veröffentlichte zunächst Ende der 1920er Jahre einige Schriften Herzls, sodann in den 1930er Jahren eine zwölfbändige Ausgabe. Er spielte im Rechtsstreit von 1934 bis 1936 eine zentrale Rolle, ebenso in den 1940er Jahren als Partner der WZO bei dem Vorhaben, Herzls Schriften zu veröffentlichen. Ein weiterer Protagonist war die 1897 auf dem ersten Zionistischen Kon­ gress gegründete WZO, die zum politischen Hauptorgan der zionistischen Bewegung wurde. Als solches wurde sie von der britischen Mandatsregie­ rung als Kooperationspartnerin und Beraterin der britischen Verwaltung anerkannt.20 Die WZO blieb auch nach der Gründung des Staates Israel bestehen, sie besorgte die Veröffentlichung verschiedener zionistischer Pub­ likationen, ihre Arbeit war hauptsächlich ideologischer und erzieherischer Natur und nicht kommerziell motiviert.

Der Vertrag von 1933 und die Verlängerung des Urheberrechtsschutzes 1933–1934 Nach den in Herzls Todesjahr 1904 geltenden österreichischen und deut­ schen Gesetzen wäre der Schutz des Urheberrechts an Herzls Werken Ende 1934 ausgelaufen. Ein Jahr zuvor reiste Kaznelson nach Wien, wo er am 8. Dezember 1933 mit Herzls letzter überlebender Tochter, Trude Neumann, einen Vertrag abschloss.21 Mit diesem erwarb Kaznelson gegen ein an Trude Neumann zu zahlendes Pauschalhonorar von 3 000 Mark das Recht, einige von Herzls Schriften in einer fünfbändigen Ausgabe neu aufzulegen. Darü­ ber hinaus erwarb er das Recht, weitere, noch unveröffentlichte Werke zu verlegen, wofür Trude Tantiemen in Höhe von 150 Mark für je 1 000 Exemplare zustanden.22 Der Vertrag nahm ausdrücklich auf die Überset­ zungsrechte Bezug. 19 Genaueres zum Mizpe-Verlag siehe Zohar Shavit, The Development of Hebrew Publi­ shing in Eretz-Israel, in: dies. (Hg.), The Construction of Hebrew Culture in Eretz-Israel, Jerusalem 1989, 199–262, hier 255 (hebr.). 20 Völkerbundsmandat für Palästina, 1922, Art. 4. 21 Kaznelson unterfertigte den Vertrag bewusst in Berlin, sodass für ihn deutsches Recht galt. 22 CZA, S41/35.

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Zwei Jahrzehnte später stand dieser Vertrag im Kern des in Israel ausge­ tragenen Urheberrechtstreits. Man könnte sich fragen, warum der Abschluss eines solchen Vertrages in Bezug auf bereits veröffentlichte Texte überhaupt notwendig war. Es ist unklar, ob 1905 zwischen dem Jüdischen Verlag und den Herzl-Erben ein Vertrag abgeschlossen wurde.23 Aus den praktischen Gegebenheiten lässt sich schließen, dass der Verlag das Recht hatte, die Werke auf Deutsch zu veröffentlichen. Doch warum hat Kaznelson nicht ein weiteres Jahr bis zum Ablauf der Schutzfrist gewartet? Danach wären die Werke gemeinfrei gewesen, und er hätte sie ohne weitere Genehmigung und ohne Gegenleistung veröffentlichen können. Eine Woche nach Unterzeichnung des Vertrages wurde der urheberrechtli­ che Schutz in Österreich von dreißig auf fünfzig Jahre nach Ableben des Autors verlängert. Ein Jahr später, am 13. Dezember 1934, wurde das deut­ sche Gesetz ebenfalls in diesem Sinne geändert. Die Verlängerung der Schutzfrist kommt im Allgemeinen nur wenigen Werken zugute, da das Inte­ resse der Leser innerhalb der ersten Jahre nach Veröffentlichung oft nach­ lässt und das kommerzielle Potenzial meist lange vor Ablauf erschöpft ist. Herzls Werke waren und sind eine Ausnahme, da an ihnen ein breites öffent­ liches Interesse bis heute unvermindert anhält. Dessen waren sich die Ver­ tragsparteien damals bewusst, sodass es auf der Hand lag, dass die Verlänge­ rung um zwanzig Jahre bedeutende finanzielle Implikationen besaß. Wer würde in diesen weiteren zwei Jahrzehnten die Rechte innehaben? Die deutsche Gesetzesänderung enthielt eine Übergangsregelung: War das Urheberrecht bereits einem Dritten übertragen worden, so galt die zusätzliche 20-jährige Schutzdauer nicht – außer, wenn dieser Dritte für die Verlängerung eine Zahlung geleistet hatte. Wusste Kaznelson von der bevor­ stehenden Verlängerung, als er den Vertrag mit Trude Neumann initiierte? Gestaltete er diesen so, dass der an sie entrichtete Pauschalbetrag seine Ver­ lagsrechte für die Dauer der 20-jährigen Verlängerung wahren würde? Löste die Entgeltzahlung den Ausnahmefall aus, sodass die Rechte beim Verleger blieben? Trude befand sich damals in einer Wiener Nervenklinik. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass sie geschäftsunfähig war. – Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Jedenfalls wurde der Vertrag fast zwei Jahrzehnte später in Jerusalem zur Auslegung eingereicht. Zunächst aber traten zwei weitere Ereignisse ein. 23 Der Klageschrift von 1950 war der Vertrag von 1905 nicht beigefügt, vielmehr wurde die beklagte Partei aufgefordert, eine Vertragsabschrift vorzulegen. Die WZO stritt jedoch die Existenz des Vertrages ab. Siehe CZA, S41/35, CC, 139/50, Hoza’a Ivrit vs. World Zionist Organization, Forderung des Klägers auf Dokumentenvorlage, 3. März 1953; Verhand­ lung vom 15. März 1953, Erklärung von Herrn Scharf im Namen des Klägers. Schenker bezweifelt die Existenz eines solchen Vertrages. Siehe ders., Der Jüdische Verlag 1902– 1938, 84, bes. das hektografierte Schreiben Feiwels an Wolffsohn von Ende Februar 1905.

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Der Rechtsstreit mit dem Mizpe-Verlag 1934–1936 Der erste Urheberrechtsstreit bezüglich der hebräischen Veröffentlichung der herzlschen Werke fand in der britischen Mandatszeit statt.24 Im Jahr 1934, als der ursprüngliche urheberrechtliche Schutz noch bestand, brachte der Mizpe-Verlag eine zwölfbändige Ausgabe heraus, die zwei biografische Bände, Altneuland, die Zionistischen Schriften, Tagebücher und Theaterstü­ cke umfasste. Anatol Schenker hat die darauffolgenden Ereignisse analy­ siert.25 Kaznelson ersuchte Moritz Bileski, einen jüdischen Anwalt und frü­ heren Teilhaber des Jüdischen Verlags, der kurz zuvor nach Palästina eingewandert war, den Mizpe-Verlag im Auftrag von Trude Neumann zu verklagen, um ihre Rechte an der hebräischen Veröffentlichung geltend zu machen.26 Trude Neumann konsultierte jedoch eigene Anwälte und trat zu Kaznelsons Bestürzung in direkte Verhandlungen mit Mizpe ein.27 Der Rechtsstreit wurde schließlich von einem Schiedsgericht, das die Jewish Agency eingesetzt hatte, entschieden.28 Auf dessen Anordnung wurden die hebräischen Übersetzungsrechte für 125 Palästina-Pfund dem Mizpe-Verlag übertragen.29 Wie konnte Trude Neumann gegen Mizpe eine Klage einbringen, wenn Hans Herzl die Rechte bereits 1905 dem Jüdischen Verlag übertragen hatte? Oder hatte Trude dies 1933 selbst getan? Dem vorliegenden Material zufolge wurde diese Frage im Rechtsstreit mit Mizpe nicht aufgeworfen. Vielleicht war die juristische Antwort den Beteiligten damals klar, vielleicht wusste die beklagte Partei nichts von den früheren Verträgen. Als die Frage Anfang der 1950er Jahre vor dem israelischen Gericht wieder aufgebracht wurde, war die Antwort darauf keineswegs eindeutig.

Das Gutachten von 1944 Dem Rechtsstreit war im Jahr 1944 ein Briefwechsel vorausgegangen. Das Central Zionist Archive (CZA) als eine Abteilung der WZO übergab dem Mizpe-Verlag einige in seinem Bestand verwahrte Briefe Herzls zum Zweck 24 Zu einer eingehenden Erörterung siehe Birnhack, Colonial Copyright, Kap. 11: At a Crossroad, 256–279. 25 Siehe Schenker, Der Jüdische Verlag 1902–1938, 501–509. 26 Ebd., 500. Kaznelson erklärte später, er habe die Klage angestoßen. Dem Vertrag von 1933 zufolge habe der Jüdische Verlag sich verpflichtet, Trudes Rechte zu wahren. Siehe CC, 139/50, Zeugenaussage Kaznelson, 13. April 1953, 13. Die WZO hatte vermutet, dass die Klage von 1936 Kaznelsons Idee gewesen sei. Siehe CZA, S5/11.321, Organisa­ tionsabteilung an Adv. Abraham Riftin, 28. Januar 1951. 27 Siehe Schenker, Der Jüdische Verlag 1902–1938, 506. 28 Davon ist bei Schenker nicht die Rede. 29 Siehe CZA, S5/11321, Neumann vs. Mitzpe Publishing Co., 12. Januar 1936.

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der Veröffentlichung. Kaznelson warnte die WZO vor einer Veröffentli­ chung, woraufhin diese ein Sachverständigengutachten über die deutsche Rechtslage in Auftrag gab, das von Dr. Salli Hirsch aus der angesehenen Anwaltskanzlei Smoira & Rosenblüth erstellt wurde.30 Hirsch legte den Ver­ trag von 1933 zwischen dem Jüdischen Verlag und Trude Neumann nach deutschem Recht aus. Dementsprechend schlussfolgerte er, der Verlag habe die Verlagsrechte lediglich für die im Vertrag aufgezählten Werke Herzls in deutscher Sprache erworben, nicht jedoch die Übersetzungsrechte. Diese seien bei Trude verblieben. Das Nutzungsrecht aller Herzl-Schriften in heb­ räischer Sprache habe Mizpe aufgrund des Schiedsspruchs von 1936 erwor­ ben.

Das Verfahren Als Kaznelson die WZO im Dezember 1950 in Jerusalem verklagte, war Trude bereits tot. Ihr einziger Sohn hatte 1947 Selbstmord begangen. Kaz­ nelson war bekanntlich nach Palästina ausgewandert. Der Jüdische Verlag hatte seine Rechte auf Hoza’a Ivrit übertragen und war dann von den Natio­ nalsozialisten geschlossen worden; das Berliner Büro wurde während des Krieges zerstört. Das Britische Mandat war beendet und der Staat Israel gegründet. Der Prozess musste daher im Rahmen einer neuen Rechtsord­ nung stattfinden. War diese aber wirklich neu?

Der rechtliche Hintergrund Nach der Staatsgründung 1948 übernahm Israel das gesamte britische Man­ datsrecht vorbehaltlich einiger verfassungsrechtlicher Änderungen.31 Zu die­ sem Gesetzeskorpus gehörte auch das Urheberrecht. Wie in vielen unter bri­ tischer Herrschaft stehenden Gebieten existierten zwei primäre Texte: Der Imperial Copyright Act von 1911, der seit 1924 auch in Palästina galt,32 ent­ hielt alle wesentlichen Bestimmungen; die vom Hochkommissar für Paläs­ 30 Siehe CZA, S5/11321, S. Hirsch, Gutachten, 31. Mai 1944. Smoira war später erster Vor­ sitzender des israelischen Obersten Gerichtshofs; Rosenblüth, der seinen Namen auf Rosen änderte, war später der erste israelische Justizminister. 31 Law and Administration Ordinance 1948, Abschnitt 11. 32 Copyright Act 1911 (Ausweitung auf Palästina), Order 1924, 114 Official Gazette 643, in Ausweitung des Copyright Act 1911, 1 & 2 Geo. 5, c. 46 (engl. Fassung). Offiziell wurde der Copyright Act 1911 in Palästina erst 1934 bekannt gemacht. Siehe ebd., 3 Laws of Palestine 2475 (Drayton) (engl. Fassung).

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tina verfügte Copyright Ordinance von 192433 setzte ergänzend Straftatbe­ stände und Verfahrensregeln fest. Das in Palästina angewandte britische Recht hatte in erster Linie den briti­ schen Interessen zu dienen.34 Es war Teil eines im gesamten Empire abge­ stimmten Projekts,35 ein Element in der Internationalisierung des Urheber­ rechts,36 und deckte sich mit den Zielen des Mandats zur Entwicklung der Region. Im Namen Palästinas schlossen sich die Briten der Berner Überein­ kunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst an, der zufolge aus­ ländische Werke in Palästina den gleichen Schutz genossen wie inländische. Österreich und Deutschland waren ebenfalls Mitglieder der Berner Überein­ kunft. Mithin bestand kein Zweifel, dass die herzlschen Werke in Palästina rechtlich geschützt waren und die israelische Gerichtsbarkeit für den Fall zuständig war. Die Frage, welches Recht anwendbar war, blieb jedoch offen. Nach britischem Recht umfasste das Copyright von seiner Konzeption her eine Reihe von Rechten, einschließlich des Rechts auf Veröffentlichung und Übersetzung.37 Der Rechteinhaber konnte diese Rechte getrennt vergeben, zum Beispiel, indem er einer Partei die Erlaubnis gab, das Werk zu verviel­ fältigen, einer anderen, es öffentlich aufzuführen, und einer dritten, es zu übersetzen.38 Die diesbezüglichen Geschäfte unterlagen lediglich den allge­ meinen Vertragsgrundsätzen, bedurften jedoch des schriftlichen Abschlus­ ses.39 Das deutsche Recht unterschied sich in Bezug auf den Aufbau des Geset­ zes, den Umfang des Rechtsschutzes und die Präzisierung der Vorschriften für Übertragungsgeschäfte. Es bestand zum einen aus dem Urheberrecht, das dem Copyrightrecht in anderen Ländern entsprach,40 und dem durch ein eigenes Gesetz geregelten Verlagsrecht.41 Während das Urheberrecht die

33 Siehe ebd., 114 Official Gazette 623, 1. Mai 1924 (Entwurf) und 117 Official Gazette 711, 5. Juni 1924 (Bekanntmachung). 34 Siehe Birnhack, Colonial Copyright, esp. chap. 4: Legislating Copyright in Palestine, 79– 108. 35 Siehe Lionel Bently, The »Extraordinary Multiplicity« of Intellectual Property Laws in the British Colonies in the Nineteenth Century, in: Theoretical Enquiries in Law 12 (2011), 161–200. 36 Siehe Catherine Seville, The Internationalisation of Copyright Law. Books, Buccaneers and the Black Flag in the Nineteenth Century, Cambridge/New York 2006. 37 Copyright Act 1911, § 1(2). 38 Copyright Act 1911, § 5(2). 39 Ebd. 40 Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst, 19. Juni 1901. Dieses Gesetz trat am 1. Januar 1902 in Kraft. 41 Reichsgesetz über das Verlagsrecht, 19. Juni 1901.

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Grundnormen festsetzte, regelte das Verlagsrecht das Verhältnis zwischen Autor und Verleger. Das Verlagsrecht, ein Gesetz eher paternalistischer Natur, enthielt eine Reihe von Regelungen zugunsten des Verfassers. Diese konnten jedoch durch eine ausdrückliche, speziell auszuhandelnde Vereinbarung außer Kraft gesetzt werden.42 So konnte die Höhe der Erstauflage, zum Beispiel auf 1 000 Exemplare, beschränkt (§ 5) oder die Zahl der Freiexemplare, die dem Verfasser zustanden, festgelegt werden (§ 25). Andererseits war der Verfas­ ser berechtigt, bis zum letztmöglichen Zeitpunkt im Verlauf des Herstel­ lungsprozesses Änderungen an seinem Werk vorzunehmen (§ 12). Wesentlich für unsere Erörterung ist der Umstand, dass das Verlagsrecht nur die Rechte in der Originalsprache des Manuskripts regelte.43 Die Über­ setzungsrechte verblieben, sofern nicht ausdrücklich anders vereinbart, beim Verfasser.44 Diese Struktur bot dem Verfasser die Möglichkeit, das Verlags­ recht für die deutsche Sprache zu vergeben und das Urheberrecht zu behal­ ten. Infolgedessen konnte der Verfasser einem Dritten die Übersetzung des Werkes in eine andere Sprache gestatten.45 Dieser Aufbau entsprach zunächst dem britischen Copyrightrecht. In bei­ den Rechtsordnungen konnte der Verfasser die Rechte aufteilen und einzeln an verschiedene Parteien vergeben.46 Der Unterschied lag darin, dass das bri­ tische Recht diese Rechtsgeschäfte den Marktgesetzen überließ und dabei nur den Grundsätzen des allgemeinen Vertragsrechts unterstellte, während das deutsche Recht maßgeblich in diese Geschäfte eingriff. Dies spiegelt unterschiedliche Auffassungen des Urheberrechts wider. Im britischen Recht galt das Urheberrecht als Eigentumsrecht an einem immateriellen Gut, war jedoch in Umfang, Dauer und Wirkung beschränkt. Nach deutschem Recht war das Urheberrecht ein Persönlichkeitsrecht, was die paternalistisch anmutenden Detailbestimmungen erklärt.47 Diese rechtlichen und konzeptuellen Unterschiede sind der Schlüssel zum Verständnis der Streitigkeiten bezüglich der Werke Herzls.

42 Heute würde man von penalty default rules sprechen. Siehe Ian Ayers/Robert Gertner, Fil­ ling Gaps in Incomplete Contracts. An Economic Theory of Default Rules, in: Yale Law Journal 99 (1989), 87–130, hier 97–100. 43 Verlagsrecht 1901, § 2. 44 Urheberrecht 1901, § 14. 45 Ebd., § 12. 46 Vgl. ebd., § 8 (deutsches Recht) und Copyright Act von 1911, § 5 (israelisches Recht). 47 Die Unterschiede in den Auffassungen bestehen nach wie vor. Siehe z. B. die unterschied­ liche Behandlung von Auftragsarbeiten (work made for hire), erörtert in Michael D. Birn­ hack, Who Owns Bratz? The Integration of Copyright Law and Employment Law, in: Fordham Intellectual Property, Media & Entertainment Law Journal 20 (2009), 95–163, hier 117–121.

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Das Gerichtsverfahren Im Jahr 1948 verlegte die Mizpe-Tochter Newman Press einen Band mit Herzls Briefen in hebräischer Sprache. Die WZO wiederum veröffentlichte mehrere von Herzls Schriften auf Hebräisch und Französisch. Als Geschäftsführer und Eigentümer von Hoza’a Ivrit beschloss Kaznelson, dass die Zeit zum Handeln gekommen sei. Im Dezember 1950 reichte er beim Jerusalemer District Court eine Klage gegen die WZO ein.48 Die Klägerin, Hoza’a Ivrit, legte dar, sie sei eine Schwestergesellschaft des Jüdischen Verlags, von dem sie alle Rechte übernommen habe. 1905 habe der Jüdische Verlag die ausschließlichen Rechte an Herzls Zionisti­ schen Schriften und an Der Judenstaat erworben, durch den mit Trude Neu­ mann 1933 abgeschlossenen Vertrag seien ihm sodann die ausschließlichen Rechte an allen Schriften Herzls mit Ausnahme von Altneuland, einschließ­ lich auch bislang unveröffentlichter Briefe und Tagebücher, übertragen wor­ den. Es wurden zahlreiche Publikationen der WZO, die angeblich diese Rechte verletzten, angeführt. Gefordert wurde Schadenersatz in Höhe von 9 500 Israelischen Pfund,49 eine Verfügung auf dauerhafte Unterlassung der Herausgabe der klagegegenständlichen Schriften Herzls sowie eine Anord­ nung zur Aushändigung der Druckplatten. In der Klageerwiderung folgte die WZO dem Sachverständigengutachten, das 1944 von Salli Hirsch eingeholt worden war: Die Existenz eines Vertra­ ges aus dem Jahr 1905 wurde in Abrede gestellt und das Augenmerk auf die Auslegung des Vertrages zwischen dem Jüdischen Verlag und Trude Neu­ mann von 1933 gelenkt. Letzterer sei nach deutschem Recht auszulegen. Dementsprechend gehörten dem Kläger bestenfalls die Verlagsrechte in deutscher Sprache. Der Kläger könne nicht der Inhaber des Urheberrechts an den Werken sein, und insbesondere nicht der Übersetzungsrechte, die bei den ursprünglichen Urheberrechtsinhabern verblieben seien. Darüber hinaus seien jedwede Trude Neumann gehörenden Rechte gemäß dem schiedsrich­ terlichen Urteil von 1936 bereits dem Mizpe-Verlag übertragen worden. Abgesehen von den strittigen Fakten hinsichtlich der einzelnen Werke und verschiedenen Details war das Gesamtbild klar. Beide Parteien gingen davon aus, dass die Werke urheberrechtlich geschützt waren, und dies auch in Israel, obgleich sie vor der Staatsgründung entstanden waren, und zwar im Ausland, wo sie auch erschienen waren. Der Rechtsstreit betraf die Inha­ berschaft – wem gehörten die Rechte an Herzls Schriften? Die konkurrieren­ 48 Siehe CZA, S41/35, CC, 139/50, Hoza’a Ivrit vs. World Zionist Organization, Verteidi­ gungsschrift, 27. Dezember 1950; sowie Presseberichte über den Fall: Urheberrechtsklage gegen die Zionistische Organisation, in: Davar, 1. Januar 1951 (hebr.); Herzls Schriften. Gegenstand einer Schadenersatzklage, in: Haaretz, 2. Januar 1951 (hebr.). 49 In einigen Dokumenten ist der Betrag mit 5 900 Israelischen Pfund angegeben.

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den Rechtsordnungen – die deutsche und die britisch-israelische – führten zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Die Positionen der rivalisierenden Parteien sind aufschlussreich. Kaznel­ son begründete seine Ansprüche nach der britischen, nunmehr israelischen Auffassung vom Copyright als Gesamtrecht, das Vervielfältigung, Veröf­ fentlichung und Übersetzung mit einschloss. Die WZO betrachtete die Werke und die diesbezüglichen Rechte als dem ausländischen (deutschen) Recht, nach dem die Verträge abgeschlossen worden waren, unterliegend und unterschied so zwischen den Urheber- und den Verlagsrechten.50

Die Juristen Das Verfahren wurde von den jeweiligen Rechtsanwälten geführt; Kaznel­ sons Anwalt war der aus Chemnitz gebürtige Mendel Scharf. Er hatte sein Jurastudium in den 1930er Jahren in Leipzig begonnen, wurde aber nach der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten von der Universität ausge­ schlossen.51 Er wanderte nach Palästina aus, absolvierte die Juralehrgänge der britischen Regierung in Jerusalem und wurde 1938 Mitglied der Rechts­ anwaltskammer.52 Sein Studium setzte er an der Universität London fort, wo er 1946 promovierte. Er war mit allen betreffenden Rechtssystemen vertraut und sprach fließend Deutsch.53 Die Rechtsbeistände der WZO waren Abra­ ham Riftin und Yehoshua Freudenheim.54 Der in den vorhergehenden Run­ den involvierte Salli Hirsch verstarb kurze Zeit vor der Klageerhebung.55 Die Klage wurde vor Richter Benzion Shereshevsky verhandelt. – Sheres­ hevsky war 1907 in Königsberg geboren, hatte 1925 bis 1929 Jura in Berlin studiert und war Referendar an einem Königsberger Gericht gewesen. 1932 50 1949 hatte sich die WZO erneut an ihren Sachverständigen für deutsches Recht gewandt. Dieser wiederholte die 1944 vertretene Auffassung, die auf der Anwendung des deutschen Rechts beruhte. Siehe CZA, S5/11321, WZO an Hirsch (undatiertes Schreiben, wahr­ scheinlich November 1949), und Hirsch an WZO, 1. Dezember 1949. 51 Scharf begann sein Studium im Mai 1932 und hätte es demnach 1937 abgeschlossen. Er wurde im Juni 1933 von der Universität ausgeschlossen. Universitätsarchiv Leipzig, Akte Nr. 190624. 52 Siehe Eight New Members of the Palestine Bar, in: Palestine Post, 2. Mai 1938, 6. 53 Ich danke Daphna und Ze’ev Scharf für die Informationen über ihren verstorbenen Vater. E-Mails an den Autor, 9. April 2012 und 15. April 2012. 54 Riftin war des Polnischen und Russischen mächtig. Siehe Gabriel Strassman, Wearing the Robes. A History of the Legal Profession until 1962, Tel Aviv 1984 (hebr.), 59. Freuden­ heim verfasste später mehrere Bücher über Verfassungsrecht. Allgemein zum Berufsstand des Juristen und zur juristischen Ausbildung in Mandatspalästina siehe Assaf Likhovski, Law and Identity in Mandate Palestine, Chapel Hill, N. C., 2006, 25 f. und 106–123. 55 Siehe Simone Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsan­ wälte in Berlin nach 1933, Berlin 2007, 176. Hirsch starb im Alter von 65 Jahren.

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war er kurzzeitig Richter in Berlin und vom selben Jahr bis 1933 als Rechts­ anwalt tätig gewesen. 1934 emigrierte er nach Palästina, wo er 1936 als Anwalt zugelassen wurde. 1949 wurde er in Israel zum Richter ernannt.56 So waren zumindest einige der involvierten Juristen und eine der Parteien (Kaznelson) mit dem deutschen Recht vertraut. Sie alle gehörten zur soge­ nannten fünften Alija, die hauptsächlich aus deutschsprachigen Einwande­ rern bestand. Diese als »Jeckes« bekannte Gruppe hatte einigen Einfluss auf die im Entstehen begriffene Justiz in Palästina/Israel.57 Im vorliegenden Fall war das deutsche Recht selbst Teil des Disputs.

Vor Gericht Die Gerichtsverhandlung begann 1953. Die Verhandlungstage waren lang und angefüllt mit Aussagen und Kreuzverhören. Die Protokolle von sieben Sitzungen sind erhalten, und das Bild lässt sich durch detailreiche Pressebe­ richte ergänzen.58 Der Prozess war komplex, intensiv und wohl auch kost­ spielig. Dutzende Dokumente wurden vorgelegt, einschließlich Briefen, Verträgen und zahlreichen Publikationen. Alles in allem war es eine OneMan-Show Kaznelsons. Obwohl er bereits 16 Jahre in Palästina und Israel gelebt hatte, sagte er mithilfe von Simultandolmetschern auf Deutsch und nicht auf Hebräisch aus.59 Die Verwendung einer Fremdsprache vor einem israelischen Gericht war völlig rechtmäßig und zulässig, jedoch bedeutungs­ schwer. Ein Einwanderer, der nach 16 Jahren die Landessprache noch immer nicht beherrschte, gab sich damit als außenstehend zu erkennen, ja als jene Art des Juden, auf dessen Umformung der neue Staat energisch hinarbeitete. Kaznelson trat als tragische Person auf: als Außenseiter, der darum rang, 56 Die biografischen Daten beruhen auf der Webseite des israelischen Obersten Gerichts­ hofs, (15. Juni 2015) sowie Angaben des Enkels Yahli Shereshevsky, E-Mail an den Autor, 27. März 2012. Später fungierte Shereshevsky als Präsident des District Court in Jerusalem (1962) und Richter am Obersten Gerichtshof (1975). 57 Siehe z. B. Fania Oz-Salzberger/Eli M. Salzberger, The Secret German Sources of the Israeli Supreme Court, in: Tel Aviv University Studies in Law 15 (2000), 159–192, hier 179; Rakefet Sela-Sheffy, The Jekes in the Legal Field and Bourgeois Culture in PreIsrael British Palestine, in: Iyunim Bitkumat Israel 13 (2003), 295–322, hier 295 (hebr.). Spätere Forschungen haben ergeben, dass die israelische Justiz weniger von deutschen Einflüssen geprägt war als angenommen; in weniger als 0,5 Prozent der Gerichtsentschei­ dungen wurde auf kontinentale Quellen verwiesen. Siehe Yoram Shachar/Ron Harris/ Meron Gross, Citation Practices of the Supreme Court, Quantitative Analysis, in: Mishpa­ tim [Gesetze] 27 (1996), 119–217, hier 153 (hebr.). Wie jedoch Oz-Salzberger und Salz­ berger behaupten, war der Einfluss breiter und subtiler. 58 Siehe CZA, S5/12455. 59 Mehrsprachige Gerichtsverhandlungen waren in der Mandatszeit nicht ungewöhnlich. Siehe Strassman, Wearing the Robes, 59 f.

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sein Lebenswerk gegenüber einer mächtigen Institution zu schützen. Seine Unfähigkeit, sich in den israelischen Schmelztiegel zu integrieren, kostete ihn wohl jene Sympathie, die ihm seine Rolle als Einzelkämpfer eingebracht hätte. Es ging hier nicht nur um einen kommerziellen Streit zwischen zwei Ver­ lagen, sondern um einen Zusammenprall von Identitäten. Zudem waren die frühen 1950er Jahre die Zeit einer extrem hitzigen, tief emotionalen politi­ schen und kulturellen Kontroverse über das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland. Den Israelis war das schreckliche Schicksal ihrer Familien und Gemeinden in Europa, die Vernichtung einer gesamten Lebenswelt, unmit­ telbar gegenwärtig. Man versuchte, mit dem unerträglichen Grauen der Schoah irgendwie fertig zu werden. 1952 schloss die israelische Regierung ein höchst problematisches Wiedergutmachungsabkommen mit West­ deutschland ab, aufgrund dessen den Überlebenden des Holocaust Entschä­ digungszahlungen geleistet wurden.60 Es gab riesige Demonstrationen und hitzige Proteste. Alles, was einen deutschen Beigeschmack hatte, war der Öffentlichkeit zuwider. Zurück zum Prozess. Jedes Detail wurde protokolliert. Die Männer (Frauen waren nicht beteiligt) waren auf die kleinste Einzelheit bedacht. Beide Seiten beanspruchten die Anerkennung der Rechte an den betreffen­ den Werken. Der Jerusalemer Gerichtssaal war keine von der Außenwelt abgeschottete Enklave und die Menschen im Gerichtssaal, so können wir es uns vorstellen, fühlten wohl, dass sich hier etwas Historisches zutrug. Über die Details des deutschen Rechts in einem israelischen Gericht zu debattie­ ren war keineswegs alltäglich. Schließlich ging es um Herzl und um Dinge, die sich »dort«, in Deutschland und Österreich, vor dem Krieg und dem Holocaust ereignet hatten. Nun wurde vor einem israelischen Gericht, unter der Fahne des jungen jüdischen Staates, eine Verhandlung über das Schick­ sal von Herzls Der Judenstaat geführt, und zwar zumeist in deutscher Spra­ che und zumeist unter Berücksichtigung deutschen Rechts. Die Ereignisse in Europa wurden in den Aussagen nur kurz angedeutet. Kaznelson erwähnte, in den 1930er Jahren habe die NS-Reichskulturkam­ mer viele Buchveröffentlichungen untersagt, darunter auch Herzls Der Judenstaat; gegen ihn selbst sei 1936 ermittelt worden, weil er Geld nach Palästina überwiesen habe, um Trude Neumanns Klage gegen den MizpeVerlag zu finanzieren. Dann bemerkte Kaznelson kühl und trocken:

60 Siehe zu den Entschädigungszahlungen z. B. Yechiam Weitz, Moshe Sharett and Repara­ tions from Germany 1949–1952, in: Cathedra 115 (2005), 157–194 (hebr.); sowie zum Wiedergutmachungsabkommen Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015, 11–33.

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»Infolge des Weltkriegs gab es kein Publikum mehr, das sich für Herzls Werke in deut­ scher Sprache interessierte, außer in Erez Israel, in der Schweiz und in einigen skandi­ navischen Ländern, daher gelangte ich zu dem Schluss, dass aufgrund der geringen Auflage, die man auf Deutsch hätte publizieren können, es keinen Sinn hatte auf Deutsch zu verlegen, zumal die hebräische Ausgabe schon erschienen war.«

Juristisch gesehen sollte diese Bemerkung Kaznelsons wohl belegen, dass die nicht genehmigte Veröffentlichung auf Hebräisch ihm Schaden zugefügt hatte, was ein weiterer Hinweis auf den erzwungenen Übergang von Europa nach Palästina/Israel war, vor allem aber verdeutlichte sie die entsetzliche Realität: die deutsch lesenden europäischen Juden hatten im Großen und Ganzen nicht überlebt. Kaznelsons Aussagen waren sehr ausführlich. Er machte Angaben zu sei­ ner juristischen Ausbildung, seiner führenden Rolle im Jüdischen Verlag seit den 1920er Jahren, der Gründung von Hoza’a Ivrit, seinen Geschäftskontak­ ten mit Trude Neumann und seinen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Herzls Werken.61 Er räumte ein, dass er keine Abschrift des 1905 zwischen Hans Herzl und dem Jüdischen Verlag abgeschlossenen Vertrages besaß,62 nannte aber als Beleg für die Übertragung der Rechte auf den Verlag zahlreiche Hinweise, wie zum Beispiel in den Büchern aufschei­ nende urheberrechtliche Angaben.63 Im Zentrum der Aussagen Kaznelsons stand der 1933 zwischen dem Jüdi­ schen Verlag und Trude Neumann geschlossene Vertrag. Es erwies sich, dass er den Vertrag selbst verfasst und darauf geachtet hatte, dass er deutschem Recht unterliege.64 Er erklärte jede Einzelheit. Seine Argumentationsführung war klar. Der Jüdische Verlag habe alle Rechte an Herzls Schriften, ein­ schließlich der Verlags- und der Übersetzungsrechte, innegehabt.65 Kaznel­ son war mit dem deutschen Urheberrecht und Verlagsrecht vertraut.66 Der Vertrag, so beharrte er, sei gemäß beider Gesetze abgeschlossen worden, sodass es dem Verlag erlaubt war, alle Rechte auszuüben, einschließlich der Übersetzungsrechte ins Hebräische.67 Der Umstand, dass er, Kaznelson, 1936 Trudes Klage gegen Mizpe angestoßen habe, sei ein weiterer Hinweis darauf, dass sein Verlag mit dem Vertrag von 1933 alle Rechte besessen habe.68 Unbeirrt führte Abraham Riftin als Vertreter der WZO sein Kreuzverhör. Er lenkte das Augenmerk auf jene Fakten, die für das Verständnis der juristi­ 61 62 63 64 65 66 67 68

CZA, S5/12.455, CC, 139/50, Zeugenaussage, 14.–16. April 1953. Ebd., Zeugenaussage, 15. März 1953. Ebd., Zeugenaussage, 16. März 1953. Ebd., Zeugenaussage, 14. April 1953. Ebd., Zeugenaussage, 16. März 1953; 13. April 1953. Ebd., Zeugenaussage, 14. April 1953. Ebd., Zeugenaussage, 14. und 16. April 1953. Ebd., Zeugenaussage, 13. April 1953.

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schen Struktur des Vertrages von 1933 relevant waren. – Für jeden, der mit damaligen deutschen Verlagsverträgen vertraut sei, beruhe der Vertrag ein­ deutig auf dem Verlagsrecht, denn er befasse sich lediglich mit den Rechten an den deutschen Originaltexten und berühre keinerlei Übersetzungsrechte. So die mehrfach geäußerte Auffassung von Salli Hirsch in seinen Gutachten von 1944 und 1949.69 Kaznelson legte dar, dass aus seiner Sicht sowohl das Verlagsrecht wie auch das Urheberrecht maßgeblich waren und nicht das britische Recht, obgleich, wie er hinzufügte, die Klage nach britischem Ver­ fahrensrecht erhoben worden war.70 Er führte weiter aus, dass nach deutschem Recht der Verleger die Rechte mit Aushändigung des Manu­ skripts erhalte, nach britischem Recht mit Vertragsabschluss. Juristisch war dies in der Tat der entscheidende Punkt. Bei einer Ausle­ gung des Vertrages von 1933 nach britischem Recht mit seiner Auffassung des Copyrights hätte die Schlussfolgerung wohl gelautet, dass der Jüdische Verlag alle Rechte einschließlich der Übersetzungsrechte für die im Vertrag angeführten Werke erworben habe. Wäre dies aber der Fall gewesen, dann wäre das aus der Ferne von Kaznelson initiierte und gelenkte Schiedsge­ richtsverfahren zwischen Trude Neumann und dem Mizpe-Verlag null und nichtig oder gar betrügerisch gewesen. Denn wie hätte Trude wegen Verlet­ zung von Rechten, die ihr gar nicht mehr gehörten, klagen können? Bei Aus­ legung des Vertrages von 1933 nach deutschem Recht hingegen wäre die Schlussfolgerung wohl gewesen, dass der Jüdische Verlag nur die Rechte in deutscher Sprache innehatte. Kaznelson versuchte, aus beiden Vorstellungs­ welten das Beste herauszuschlagen. Der Prozess ging auch 1954 weiter. Schließlich schlug Richter Shere­ shevsky vor, die Parteien mögen sich mittels Vergleich einigen. Schnell schlug Kaznelson eine gemeinsame Veröffentlichung zweier neuer Bände von Herzls voluminösem Briefwechsel vor, von denen jeder 800 bis 900 Sei­ ten umfassen sollte.71 Die Verhandlungen scheiterten und der Prozess wurde fortgeführt.

Eine überraschende Wendung In einem früheren Stadium, noch 1951, hatten die Anwälte der WZO im Zusammenhang mit den Prozessvorbereitungen Zugang zu weiteren Mate­ rialien. Ihre internen Vermerke und Berichte wiesen darauf hin, dass sich der Briefwechsel zwischen Kaznelson und seinem Anwalt in Palästina, Moritz 69 CZA, S5/11321, Neumann vs. Mitzpe Publishing Co., 12. Januar 1936. 70 Ebd., Zeugenaussage, 16. April 1953. 71 Scharf an Freudenheim, WZO, 6. Januar 1954.

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Bileski, aus den Jahren 1934 bis 1935 in ihrem Besitz befand. Wie war es dazu gekommen? Offensichtlich hatte Bileskis Witwe nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 194672 seine Büroakten einschließlich dieses Briefwechsels den von der WZO betriebenen Central Zionist Archives übergeben. Dem­ nach stand der WZO die Korrespondenz der Gegenpartei aus den 1930er Jahren zur Verfügung.73 Die WZO beantragte nun, diesen Briefwechsel dem Gericht vorlegen zu dürfen. Kaznelson erhob Einspruch mit dem Hinweis, dies käme einer Ver­ letzung der anwaltlichen Schweigepflicht gleich. Die WZO konterte, der Briefwechsel sei nicht von Kaznelson an sie gelangt, sodass die ihm gegen­ über geltende Schweigepflicht nicht verletzt werde. Der Richter ließ die Vor­ lage der Korrespondenz zu.74 Diese verfahrenstechnische Zwischenentscheidung hatte eine dramatische Auswirkung. Aus den Briefen ging hervor, dass Kaznelson mit den Bestim­ mungen des Urheberrechts in Deutschland, Österreich und Palästina sowie mit der Berner Übereinkunft bestens vertraut war. Als er 1933 den Vertrag mit Trude Neumann anregte, verfasste und unterzeichnete, wusste er bereits, dass die Schutzdauer in Österreich auf fünfzig Jahre post mortem auctoris verlängert werden würde, nicht aber, dass ein Jahr danach dieselbe Ände­ rung in Deutschland eintreten würde.75 Der Briefwechsel enthüllte, dass Kaznelson sehr wohl wusste, dass der Jüdische Verlag nur die Rechte der deutschen Veröffentlichung und keinerlei andere Rechte erworben hatte.76 Damit stand eindeutig fest, dass er das Recht auf Veröffentlichung der Werke in hebräischer Sprache nicht erworben hatte. Der Klage war somit jede Rechtsgrundlage entzogen. Schließlich gewann das Bild immer deutlichere Kontur. Der Vertrag von 1905, falls es einen solchen je gegeben hatte, und jener aus dem Jahr 1933 mit Trude Neumann betrafen dem deutschen Verlagsrecht gemäß nur die deutschsprachigen Rechte. Alle anderen Rechte waren bei Trude verblieben. Insofern war ihre Klage 1936 gegen den Mizpe-Verlag, über die schiedsrich­ terlich entschieden wurde, begründet. Aufgrund des Schiedsurteils gingen die Rechte, einschließlich der hebräischen Übersetzungsrechte, auf Mizpe über. Mithin hatte der Jüdische Verlag die Übersetzungsrechte nicht innege­ habt und konnte sie also auch nicht auf Hoza’a Ivrit übertragen. Die Zusam­ menarbeit der WZO mit Mizpes Rechtsnachfolger war hingegen rechtmäßig.

72 Ein biografischer Eintrag zu Bileski in Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht, 124. Er starb im Alter von 57 Jahren. 73 Dieser Briefwechsel kann nach wie vor eingesehen werden, siehe CZA, S5/10.396. 74 CC, 139/50, Entscheidung, 9 Psakim 449, 7. April 1954. 75 CZA, S5/10.396, Kaznelson an Bileski, 20. September 1934 und 10. Oktober 1934. 76 Siehe z. B. ebd. Kaznelson an Bileski, 17. Oktober 1934 und 3. Januar 1935.

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Im April 1954 nahm Kaznelson die Klage in Bezug auf Herzls Werke zurück, und es erging eine entsprechende gerichtliche Verfügung.77 Ein klei­ ner Punkt blieb noch offen, ein von Achad Ha’am über Herzl verfasster Text. Auch diesbezüglich nahm Kaznelson im Dezember 1955 die Klage zurück.78 Der Fall war abgeschlossen. Die Urheberrechte an Herzls Œuvre erloschen fünfzig Jahre nach seinem Tod, Ende 1954. Kaznelson verstarb im Jahr 1959.79

Schluss Herzls Schriften waren bei den jüdischen Bewohnern im Palästina der Man­ datszeit und in Israel beliebt. Ausgaben von Herzls Gesammelten Werken zierten in vielen Wohnzimmern den Bücherschrank. Ob sie tatsächlich auch gelesen wurden, steht auf einem anderen Blatt. In der Frühzeit des Staates Israel galt der lang verstorbene Herzl als Held. Seine sterblichen Überreste wurden zur Beisetzung auf dem nach ihm benannten Herzl-Berg nach Jeru­ salem überführt. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung Israels herrschte damals noch ein breiter Konsens über den Zionismus.80 Den meisten Besitzern dieser Bände war es wohl gleichgültig, wem die Rechte an ihnen gehörten. Hätte Kaznelson die Rechte zugesprochen bekommen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er eine Neuausgabe der Werke verlegt hätte. Der Rechtsstreit hatte aber nicht nur einen rein kommerziellen Hintergrund. Es ging um viel mehr: Sollten Herzls Werke der zionistischen Allgemeinheit oder einem privaten Unternehmen gehören? Allen Widrigkeiten zum Trotz zog Kaznelson in diesen Kampf. Er verlor ihn nicht deshalb, weil er zu schwach war, sich durchzusetzen. Er ver­ lor ihn, weil alle Streitparteien akzeptierten, dass das israelische Recht ein ausländisches Recht anzuerkennen habe. Das auf britischem Recht gründen­ de israelische Copyrightgesetz wandte das für den Vertrag geltende Recht auf den Streitfall an – die Trennung zwischen Urheber- und Verlagsrecht nach deutscher Rechtsauffassung. Dass ein israelisches Gericht in den frü­ hen 1950er Jahren die Geltung des deutschen Rechts für ein fundamentales Kulturgut wie die herzlschen Werke anerkannte, war keineswegs trivial. Dies aber war das anwendbare Gesetz, und der rechtliche Rahmen bot den 77 78 79 80

CC, 139/50, Verfügung, 9. April 1954. Siehe CZA, S5/11.321, Freudenheim an WZO, 28. Dezember 1955. Siegmund Kaznelson, in: Davar, 22. März 1959, 4 (hebr.). Siehe Daniel Gutwein, The Reconstruction of Herzl’s Image in Israeli Collective Memory. From Formative Radicalism to an Adapting Fringe, in: Iyunim Bitkumat Israel 12 (2002), 29–74.

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Raum, in dem die verschiedenen Faktoren berücksichtigt werden konnten. Formalrechtliche Aspekte ermöglichten schließlich eine Lösung. Das Urheberrecht an Herzls Werken erlosch Ende 1954, fünfzig Jahre nach seinem Tod. 1955 brachte die WZO eine Neuausgabe seiner, zu diesem Zeitpunkt bereits gemeinfreien, Werke heraus. Aus dem Englischen von Liliane Meilinger

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Gray Zones: The Heterodox Left and the Holocaust in Postwar Italian Culture Across Western Europe – and especially in nations such as Italy, where the postwar democratic settlement was seamed with deeply ambivalent political fault lines in the wake of intersecting legacies of dictatorship, war and civil war, complicity and victimhood – talk of the Holocaust (or rather, what we now call the Holocaust) was inevitably permeated, across the spectrum from left to right, with politics and ideology. This goes as much for the naming of the atrocities carried out by Nazi and Fascist regimes as for the plural silences and displacements that surrounded them in the early postwar phase, as has been widely documented in the historiographical literature.1 Standard accounts that asserted a blanket silence surrounding the genocide for a de­ cade and more after the war, from the mid-1940s (camp liberations, Nurem­ berg) to the early 1960s (the Eichmann trial), have however been recently qualified, if not quite discredited. Instead of a period of silence, we can now see intense, if sporadic and isolated presences in the cultural and public spheres of 1950s and 1960s Italy, beginning to give shape to a shared knowl­ edge of the genocide.2 Analogously, for the diasporic Jewish communities, the intense response to and engagement with the new state of Israel from 1948 onwards, worked in part to occlude a full or direct confrontation with the legacy of the Holocaust, but also constituted one of many complicated, displaced responses to the persecutions.3 In this patchwork early period of knowledge, however, there remains a distinct lack of clarity and of specific detail on the balance of ambivalences, often filtered through Cold War ideologies, which characterized the frag­ mentary, but nevertheless highly significant early Holocaust discourse and its particular political inflections in the Italian case. This essay aims to underscore one key inflection that might help pin down our understanding of the specific features of this phase of Holocaust cultural memory in Italy; 1 2 3

See David S. Wyman/Charles H. Rosenzveig (eds.), The World Reacts to the Holocaust, Baltimore, Md., 1996. See Robert S. C. Gordon, The Holocaust in Italian Culture, 1944–2010, Stanford, Calif., 2012. See Guri Schwarz, After Mussolini. Jewish Life and Jewish Memories in Post-Fascist Italy, Edgware, Middlesex, 2012. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 111–127.

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that is, the fundamental role played by heterodox voices emerging from zones of a wider left-leaning cultural and intellectual field. To build tools for probing the field in the 1950s and 1960s, we can usefully jump forward first of all to the 1980s, which saw the emergence in Holocaust writing of the fundamental concept of the “gray zone”: we are interested here not so much in the concept itself, as in the patterns of transmission of Holocaust knowl­ edge illustrated by this case. When we return to the uncertainties of the “long” 1950s, we will then be in a position to trace analogous patterns in a cluster of parallel cases of “gray” or heterodox expressions of response to the “Final Solution.”

Gray Zones In spring 1986, a little under a year before his suicide on 11 April 1987, Auschwitz survivor Primo Levi published his last major work, one of the most powerful and influential responses to the Holocaust ever written. I sommersi e i salvati (The Drowned and the Saved) contains eight lucid and acutely personal essays on a series of challenging moral and historical dilemmas, drawing on Levi’s experiences at Auschwitz, on his own writings about the Holocaust over a forty-year period and on all its troubled postwar legacies, in Europe and beyond. The essays reflect, variously, on topics such as memory, shame, and violence, on communication, stereotypes, the pro­ blem of the intellectual, and on Levi’s troubled but revealing correspondence with his German readers.4 Perhaps the most resonant and influential essay of all in I sommersi e i sal­ vati was the third, entitled La zona grigia (The Gray Zone), where Levi care­ fully charted the difficulty of judgment, of assigning guilt and responsibility within the Concentration Camp universe, with its insidious webs of degrad­ ing complicity. The delicate suspension of judgment in Levi’s argumentation is perhaps best captured in his balancing act between moral and juridical guilt: “the condition of the offended does not exclude culpability, which is often objectively, serious, but I know of no human tribunal to which one could delegate the judgement.”5 La zona grigia was an extremely subtle operation, as historian of ideas Mark Lilla has argued in a recent essay:

4 5

Primo Levi, I sommersi e i salvati, Turin 1986, in: idem, Opere, 2 vols., here vol. 2, Turin 1997, 995–1153 (Engl.: The Drowned and the Saved, New York 1988). Ibid., 1023.

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“Among Primo Levi’s virtues as a writer on the Holocaust was his skill at finding the point of historical and moral equipoise, most remarkably in his famous chapter ‘The Gray Zone’ in The Drowned and the Saved. It is not easy reading. Besides recounting the horrifying dilemmas and unspeakable cruelties imposed by the Nazis on their vic­ tims, he also gives an unvarnished account of the cruelties that privileged prisoners vis­ ited on weaker ones, and the compromises, large and small, some made to maintain those privileges and their lives.”6

The influence of Levi’s notion of the “gray zone,” the flexible and sensitive probing that Lilla describes here, has been vast and deep, whether in histo­ riography of the Holocaust, or in political theory, literature and film.7 But as Lilla goes on to point out, as he turns to discuss two recent films, by Claude Lanzmann (Le Dernier des injustes/The Last of the Unjust, France/Austria 2013) and Margarethe von Trotta (Hannah Arendt, Germany/Luxembourg/ France/Israel 2013), Levi’s pitch and balance, the standard he set for lucid dissection of complex and contradictory moral uncertainty, of the varied “grayness” of the victims, the persecutors and the bystanders – and indeed the necessary simplifications inherent even in using these terms – in short, that Levian “equipoise,” has proved extremely hard to replicate. One symptom of this difficulty has been the flawed assimilation or at times straight distortion of Levi’s notion of the “gray zone,” as a variously relativizing, mitigating or loosely all-embracing tool for historical and moral explanation of the Holocaust, of violence and oppression, even morality tout court. A powerful illustration of this misprision lies in the specific uses to which the phrase itself was put in the Italian context where it was produced and first disseminated. The lines of its appropriation or misappropriation in Italy can tell us a great deal about the tensions and contradictions that over­ shadowed Italy’s responses to its own recent past, its unresolved relations with the legacies of Fascism, anti-Fascism and the anti-Fascist Resistance in particular, and the obliquely marginal but disturbing presence of the Holo­ caust within these, in the 1980s as in the 1950s, as we shall see. When I sommersi e i salvati was published in spring 1986, the interna­ tional scandal over the election of Kurt Waldheim (1918–2007) to the presi­ dency of Austria, coupled with revelations over his role in wartime Nazi army intelligence in the Balkans, was at a peak.8 In Italy, influential journal­

6

7

8

Mark Lilla, Arendt and Eichmann. The New Truth, in: The New York Review of Books, 21 November 2013, (30 April 2015). For example The Grey Zone, dir. by Tim Blake Nelson, US 2001; John K. Roth/Jonathan Petropoulos (eds.), Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath, New York 2005. See Alberto Cavaglion, Primo Levi tra i sommersi e i salvati [Primo Levi Among the Drowned and the Saved], in: Lo Straniero [The Stranger] 7 (2004), no. 48, 40–49. On

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ist and former Resistance hero, Giorgio Bocca (1920–2011), wrote a news­ paper article pleading mitigation for Waldheim, explicitly borrowing the ter­ minology of Levi’s new book. Bocca used Levi’s essay to argue that no man should be judged by a single errant mark, by what he called: “a single black mark in [a man’s] life […] detached from its personal and social context in bureaucratic files […] weighing in the balance as much as and more than a whole life, all the hundreds or thousands of right, upstanding actions that came afterwards.”9

Levi’s friend, the jurist Alessandro Galante Garrone, responded with an acid article called Waldheim il grigio (Waldheim the Gray): “Levi knows per­ fectly well, and has never hidden it, what was black and what was white in the univers concentrationnaire.”10 Levi, already in a period of depression, was appalled. Later Bocca’s own record during his Fascist youth before tak­ ing up arms in the Resistance would be called into question, suggesting dis­ tant links from Waldheim’s ambivalence to a general historical uncertainty about the hazy secrets of many lives lived out under totalitarian regimes.11 From here, the notion of the “gray zone” as a kind of mitigation or a form of historical passivity began its passage towards the heart of Italian historio­ graphical debate. Its next key step was to enter into the fierce polemics then raging about the scope and ideological nature of the anti-Fascist Resistance. Renzo De Felice (1929–1996), Mussolini’s biographer and fierce critic of leftist historiography, attempted to dismantle the myth of a mass popular Resistance and replace it with a much drier vision of a Resistance of few, militant anti-Fascists, surrounded by a vast passive population desperate to survive, “waiting out” the war and the civil war of 1943/45, serving which­ ever side was in the ascendancy locally, or indeed both sides, inhabiting a passive, self-serving but all too human “gray zone” between the warring sides.12 Other historians more sympathetic to the Resistance from the left, such as Claudio Pavone (* 1920), adopted Levi’s ethical “gray zone” to probe instead the moral complexity and the networked connections within the par­ tisan sphere, the choices made there and the multiply layered acts of resis­

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Waldheim, see Richard Mitten, The Politics of Antisemitic Prejudice. The Waldheim Phe­ nomenon in Austria, Boulder, Col., 1992. Giorgio Bocca, La via del perdono passa per Vienna [The Road of Forgiveness Passes through Vienna], in: La Repubblica, 12 June 1986. Alessandro Galante Garrone, Waldheim il grigio [Waldheim the Gray], in: La Stampa, 14 June 1986. Cavaglion, Primo Levi tra i sommersi e i salvati, 48. See Renzo De Felice, Rosso e nero [Red and Black], Milan 1995, esp. the chap. “Una lunga zona grigia” [A Long Gray Zone], 55–65.

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tance and violence undertaken, whether military, civilian or moral.13 In doing so, Pavone was able to legitimize for the left the hitherto taboo notion in Italy that the last two years of the war in Italy should indeed be understood as, among other things, a civil war, a war between Italians, as well as a war of Liberation from the Nazis or rather the Nazi-Fascists. This is a compelling example of how Holocaust vocabulary was translated into and worked to shift the terms of ideological debates within Italian national historiography. With different valencies, comparable translations and shifts were apparent throughout the longer postwar era. Translations are often also distortions and misappropriations, however. If Pavone’s gray zone, like Levi’s, was a tool for moral and historical distinction, it was in some exasperation that he witnessed the spread of the phrase to cover all but the most narrow definition of the gun-wielding fighter: as with Waldheim and Bocca, the risk was that everyone ends up in a vast, indistinct gray zone where no judgment is possible, whether suspended or otherwise. In a 1998 essay, Pavone linked this deployment to stereotypical judgments of Italian national character, another facile tool for historical explanation: “The gray zone has found itself at the center of a debate that goes well beyond its initial narrow confines [regarding the war and the Resistance], as it looks to reach the status of a global judgment on Italian history and on Italian character, in short on the very national identity of Italy.”14

The story of the appropriation of the “gray zone” was in large part an ideolo­ gical one, inserted into the highly politicized Resistance debate, a symptom of deep splits both between right and left and within the factional circles of the left, as each struggled to claim rights over the dominant historiographical narrative of the recent past. In fact, if we look back to the essay La zona gri­ gia, Levi was himself, perhaps surprisingly, markedly political in his argu­ ment, examining structures of power and control, systemic rather than psy­ chological features, to analyze the concentration camp universe into a spectrum of grays. Levi too, after all, grew out of an anti-Fascist Resistance experience, even if the force and focus of his writing ultimately transcended the category – and indeed, as we will note in conclusion below, his Resis­ tance identity has recently troubled his reputation as a talismanic voice of moral authority. But here it is interesting to note particularly that Levi (like 13 See Claudio Pavone, Una guerra civile. Saggio storico sulla moralità nella Resistenza [A Civil War. An Historical Essay on Morality in the Resistance], Turin 1991. 14 “La zona grigia si è venuta così a trovare al centro di un dibattito che largamente la tra­ scende, perché ambisce a elevarsi a giudizio globale sulla storia d’Italia, sul carattere degli italiani, e in sostanza, sulla stessa identità nazionale italiana.” Idem, Caratteri e eredità della “zona grigia” [Characteristics and Legacy of the “Gray Zone”], in: Passato e Pre­ sente [Past and Present] (1998), no. 43, 5–12, here 5.

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Bocca) emerged from particular liberal-socialist Resistance formation, “Giustizia e Libertà” (Justice and Liberty), and not from the dominant Com­ munist Resistance; and therefore to locate the origin of the term and the debate surrounding it within that alternative center-left intellectual zone, before it migrated towards more orthodox and rigid left-right positions in the wider Resistance debates of the 1990s. This pattern of transmission is in key respects replicated or can at least cast light also over earlier periods in the multidirectional politicization of Holocaust history and Holocaust knowledge in Italy: the “gray” can, in other words, be a useful filter to what De Felice influentially labelled the “red and the black,” left and right, the dominant fissure in Italy’s public uses of its Fascist past. In turning back now towards the 1950s and 1960s, the hypothesis that will be proposed is that the Holocaust emerged into cultural consciousness in Italy, and was shaped for the longer term, within ambits of the heterodox left, in a period when it was being somewhat ignored or rather uncomfortably acknowledged, but little more, by the ruling political class of the Christian Democrats, by the Church, and furthermore relatively neglected or con­ strained by other vocabularies in the hegemonic and institutional Communist left. If true, this offers crucial insight into, first, the relatively unstable pur­ chase of the Holocaust over the longer postwar era in Italy, at least until 1989 and the end of the so-called First Republic in Italy; and secondly and equally crucially, its role as what Alberto Cavaglion has called a marginal, awkward “disturbing presence” (“elemento perturbante”), a ghost at the feast, in the period of postwar construction and ideological contraposition.15

Orthodoxy: The Holocaust as Resistance For much of the first postwar generation in Italy, the Holocaust was not so much invisible as systematically colored by, overshadowed by and read in terms of the history and memory of anti-Fascist Resistance, whether patrio­ tic Resistance (from the right) or revolutionary Resistance (from the left), or some mix between the two. The governing vocabulary whenever the experi­ ence of the Jews was expressed within a “national” context derived from that history and thus from the history and experience of Italy as “victim,” as 15 Alberto Cavaglion, Il mare richiuso [The Sea Closed Over], in: Marzia Luppi/Elisabetta Ruffini (eds.), Immagini dal silenzio. La prima mostra nazionale dei lager nazisti attra­ verso l’Italia 1955–1960 [Images from the Silence. The First National Exhibition of the Nazi Camps across Italy, 1955–1960], Modena 2005, 6–13, here 10.

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“occupied” territory during the period 1943/45. Even in bald chronological terms, these two years were the focus of intense and exclusive interest in the postwar years, both in general terms and with reference to the Jewish experi­ ence, since these were the years of deportation of Jews from Italy by Nazis (and collaborating Italian Fascists). Conversely, there was a marked general neglect of the preceding years, that is of specifically Fascist anti-Semitism and other, colonial forms of Fascist racism and racial violence of the 1930s. Victims of the Holocaust made sense primarily as anti-Fascists. Two examples illustrate the point: first, by far the most significant asso­ ciationist grouping in Italy to sponsor the memorialization of the victims of the Nazi concentration camps, active from the end of the war right up to the present day, has been ANED, the National Association of Ex-Deportees.16 But in origin, ANED was set up to support and speak for anti-Fascist depor­ tees, rather than victims of racial deportation to the camps. Until 1968, when ANED was re-constituted in its status as a new national body with state recognition, its official title was Associazione nazionale ex deportati politici nei campi nazisti (National Association of Ex-Political Deportees to the Nazi Camps), political deportees indicating the approximately 30,000 antiFascist partisans arrested and deported from Italy, mostly to camps in and around Mauthausen east of the Upper Austrian city of Linz. Further, for ANED, the concentration camps were experientially and metaphorically sites of continuing Resistance: former-partisan and future President of ANED Bruno Vasari (1911–2007), for example, was the author of one of the very first published memoirs of the camps in 1945, entitled Mauthausen, bivacco della morte (Mauthausen, Bivouac of Death).17 The “bivouac” or encampment was a figure taken directly from the mountain epic of the parti­ sans and its heroic mythologization as struggle in large numbers of Resis­ tance reportages and semi-fictionalized narratives that were widespread in the mid-1940s, especially in magazines and small-press publications of the left. Vasari simply but eloquently transferred over the alpine image as a metaphor for the struggle for survival in the Lager. Jewish deportee-survivors and their families, both civilian or partisan, also circulated around ANED’s activities, including Primo Levi in Turin, at the margins of what was a leftist anti-Fascist grouping, part of a constellation of Resistance memory associations that were dominated from the orthodox left by ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia), the National Associa­

16 The best resource for ANED is its own website, (16 April 2015). See also Rebecca Clifford, Commemorating the Holocaust. The Dilemmas of Remembrance in France and Italy, Oxford 2013, 85–91. 17 Bruno Vasari, Mauthausen, bivacco della morte [Mauthausen, Bivouac of Death], Milan 1945.

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tion of Italian Partisans, but also included parallel groups for military con­ script internees sent to Nazi labor camps (who numbered nearly a million Italian men) and families of victims of Nazi violence.18 The Jewish dimen­ sion and the genocide itself, the extermination camps, were present but mar­ ginal within ANED’s purview, and read in a distinctly nationalizing, antiFascist light. Only after 1968 and the Presidential decree officially recogniz­ ing ANED as a public body do alternative namings for the Association appear within ANED documents, such as this longwinded example: “National Association For Ex-Political and Racial Deportees to the Nazi Concentration Camps (K. Z.) and the Relatives of the Fallen, known as the National Association of Ex-Deportees (ANED).”19 ANED’s history is an extremely rich one, indeed of central importance in the shaping and filtering Holocaust knowledge throughout the entire postwar era in Italy, even when the genocide garnered only fragmentary and partial attention. What the politics of its naming indicates is that Holocaust dis­ course on the left, in Italy as in large parts of formerly occupied Western Europe, was predominantly framed by the partisan struggle. A second exam­ ple illustrates and confirms this in the more supple field of stories. One of the earliest Italian fiction films to address directly and centrally not only the Holocaust, its Jewish victims and their Nazi persecutors, but also the speci­ fic Italian history of persecution was Carlo Lizzani’s film L’oro di Roma (Gold of Rome, Italy/France 1961). The film is a late neo-realist melodrama set during the Nazi occupation of Rome in 1943/44, telling the grotesque story of the demand by the Nazis for a tribute of fifty kilograms of gold from Rome’s Jewish community. The film has a dual ending with a clear, uplifting and ideologically charged message that transcends its focus on the Jewish community and offers both a universal and a general anti-Fascist message: the two Jewish hero-lovers are ostensibly split in their fate, but they share a redemptive, sacrificial choice to “resist,” literally or metaphorical. Giulia (Anna Maria Ferrero) chooses to remain with her family and the Jewish community as they are rounded up for deportation to Auschwitz on 16 October 1943; Davide (Gérard Blain) chooses instead to defend his own identity as both Jewish and Italian by heading for the hills and taking up arms in the Resis­ tance. The Holocaust is clearly the dominant thread of the film, but the story, its tensions and its dénouement inhabit both the Holocaust and the national Resistance at one and the same time, in an idealized harmony of anti-Fascist sacrifice (Giulia) and dignified redemption through action (Davide). 18 On ANPI, see Philip Cooke, The Legacy of the Italian Resistance, New York 2011, 23–25 and 57–67. 19 See the ANED statutes, (28 April 2015).

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It is worth noting as an aside that Davide’s Italianizing choice in particular is shadowed by the possibility of another nationalist choice, a choice occluded by L’oro di Roma as it stages the internal debates in Rome’s Jewish community over how to, or whether to resist to the Nazi demands: that is, the possibility of a Zionist choice. In several respects, the Rome community echoes in a Western European setting the quandaries of all the contemporary persecuted Jewish communities in Central and Eastern Europe, where the tensions between socialism and Zionism as modern redemption for the Jews were generations old. A near-contemporary film to L’oro di Roma, Otto Pre­ minger’s hugely successful Exodus (US 1960), staged a set of parallel dra­ mas for the Jewish “community” and “nation” in its narrative of Zionist national redemption. The shadow of the history of Israel is notable by its absence in Lizzani’s narrative, but we will see it return as a crucial factor for the left’s troubled Holocaust engagements below. ANED and Lizzani, then, in quite distinct but related ways, show us an orthodox leftist conception of the Holocaust, of Italian victimhood and the Lager or anti-Semitic persecution as sites of Resistance and national struggle or sacrifice. Politically and culturally, ANED and the committed intellectual Lizzani were aligned with, if not of the official left, fellow travellers in dif­ ferent ways – indeed, Lizzani’s first film as a director had been a Resistance story funded by a workers’ cooperative (Achtung! Banditi!, Italy 1951). But it is important to note signs of mobility in these examples that belie an overly rigid model of orthodoxy. The very object of attention – what we label the Holocaust – was too unstable to admit an entirely controlled ortho­ doxy and varied heterodox elements are apparent even within these two examples, breaches in the Resistance-led model which are in the end per­ haps more typical of the uneven emergence of the Holocaust into Italian cul­ tural discourse. ANED, as noted, officially acknowledged the racial deporta­ tions in its 1968 re-establishment; but already in the mid-1950s, as crucial research by Elisabetta Ruffini and Marzia Luppi has shown, it was sponsor­ ing a four-year touring exhibition on the concentration camps, the “Mostra nazionale dei lager nazisti” (“National Exhibition on the Nazi Camps”).20 This exhibition was directly responsible for showing some of the most dra­ matic photographic material on the Holocaust to a wide national audience for the first time, and indeed for drawing in Jewish survivors such as Primo Levi, who reviewed the exhibition in Rome and spoke in public for the first time when it visited Turin.21 ANED’s role in situ in communities and as a 20 Luppi/Ruffini (eds.), Immagini dal silenzio. 21 For the review, one of Levi’s very first press articles, see Primo Levi, Monumento ad Auschwitz [Monument at Auschwitz], in: La Stampa, 18 July 1959 (published in Levi, Opere, vol. 1, 1116–1119).

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sponsor of public events and public art, sculptures and memorials – and indeed the cultural sphere in general – would prove crucial over the following four decades and more, a cultural activism that in many respects transcended its political position. And Lizzani’s film suggests something comparable: if the end message and the political affiliation of the director and his neorealist formation all suggest a form of left orthodoxy that reads the Jewish experi­ ence through a Resistance lens, elements of the filmic texture of the work pull in another direction altogether: most powerfully, its careful immersion of the viewer in the close networks of Rome’s Jewish community, almost with an ethnographic or vérité eye, the lived specificity and difference of the Jewish experience of persecution, rather than a rigid anti-Fascist overlay.

Heterodox Holocaust Culture The historical specificity and cultural expression of the Holocaust seeped through the cracks of the politics of the dominant anti-Fascist narrative in 1950s and 1960s Italy, as the Communists and the left generally worked to historicize and memorialize the Resistance, especially in and around the 10th anniversary of the liberation in 1955 and again around the political cri­ sis of 1961, as Philip Cooke has shown.22 There were further signals in the sporadic, but vivid patchwork of Holocaust responses that were present in the 1950s and 1960s, clear if narrow indicators of a focussed interest in the genocide, in both its European and specifically Italian dimensions; but these came, perhaps necessarily given what has been said, from oblique angles and non-aligned or contrarian sources, from the left but often troubling or “disturbing” its dominant modes. We will mention and sketch in outline here four diverse examples, respectively dated to the years 1953, 1959, 1965, and 1967: an account found in the journal of a reforming, Christian-socialist entrepreneur; an international architectural competition; a song from the nascent youth sub-cultures of the 1960s; and a pamphlet from a radical socialist in response to the Six-Day War of 1967. Each touches on the Holo­ caust in original and unusual ways. Each would be worthy of detailed study and contextualization; but taken together they offer a dynamic sense of the intersecting web of Holocaust presences on the broad left of Italian culture in this period and of the unpredictable constellations that produced them. The first example emerged from one of the most vibrant heterodox centers of industrial, social and moral reform in postwar Italy, indeed in postwar Europe, centered on the industrial complex in the northwestern Piedmontese 22 Cooke, The Legacy of the Italian Resistance, 67 f.

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town of Ivrea. There, Adriano Olivetti (1901–1960) was a pioneering busi­ nessman and social reformer who built his typewriter and technology com­ pany around that provincial center. Born into an intellectual Jewish family, he converted to a form of utopian and socialist-leaning Christianity in the late 1940s, building a socio-political movement around his factory and city in Ivrea, called “Movimento Comunità.”23 A cluster of young intellectuals were drawn to Ivrea to work for Olivetti, including several of a pioneering generation who introduced the spaces of modernity, technology and labor to Italian literature and culture; figures such as Ottiero Ottieri, Paolo Volponi and Franco Fortini. Among many other intellectual and workplace projects and publications, the movement published a journal of ideas, Comunità, edi­ ted by Olivetti and Renzo Zorzi, which was a crucible for reformist debate, reporting on British Labour and European social democratic movements and thought, and generally on modernizing and internationalizing debate in Italy in this decisive period of transition and reconstruction. In the early 1950s, one of the very first sustained and documented accounts of the Holocaust to come out in Italian – at least since the journalistic accounts of the immediate postwar months – appeared in the pages of three consecutive issues of Comunità.24 The setting is telling – non-orthodox, non-aligned, non-Com­ munist but reformist and of the left, internationalizing and modernizing, with a resonant echo of Olivetti’s background and network of Jewish family and friends: this cluster of factors opened up a space for attention to the Holocaust not commonly found elsewhere in Italy at the time. The production, authorship and nature of the articles are also highly sig­ nificant indicators of the channels of transmission of early Holocaust knowl­ edge in Italy. The author under the by-line of the three articles was one “Ugo Varnai”; this was a pseudonym of a young academic, former “Giustizia e Libertà” partisan (like Levi and Bocca) and future novelist Luigi Mene­ ghello (1922–2007), since 1947 resident in Reading, England.25 Meneghel­ lo’s Holocaust articles for Comunità were hybrids: the product not of the author’s own research and writing, but rather an extensive review, summary 23 For material on the history of Olivetti and the Movimento Comunità, see (28 April 2015). See also Umberto Serafini, Adriano Olivetti e il Movi­ mento Comunità [Adriano Olivetti and the Community Movement], Rome 1982. 24 Ugo Varnai, Lo sterminio degli ebrei d’Europa [The Extermination of the Jews of Eu­ rope], I–III, in: Comunità 7 (December 1953), no. 22, 16–23; Comunità 7 (February 1954), no. 23, 10–15; Comunità 7 (April 1954), no. 24, 36–39. Later reissued as Luigi Meneghello, Promemoria. Lo sterminio degli ebrei d’Europa 1939–1945 [Memorandum. The Extermination of the Jews of Europe, 1939–1945], Bologna 1994. 25 See Giulio Lepschy, Art. “Luigi Meneghello,” in: Dizionario Biografico degli Italiani,

(28 April 2015); idem/Laura Lepschy, Art. “Luigi Meneghello,” in: The Guardian, 17 August 2007, (28 April 2015).

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and partial translation, with supplementary photographic material, of a recently published English book The Final Solution (1953) by Gerald Reit­ linger. Reitlinger’s book was the first major work of documented, historio­ graphical synthesis of the Holocaust to appear in Britain and thus came to Meneghello’s direct attention, as well as one of the first in any language, fol­ lowing the pioneering work of Léon Poliakov and others.26 Again here, sev­ eral factors are at play: Meneghello’s focus on the Holocaust has its roots in his Resistance values (as well as in personal circumstances: his wife was a survivor), but in the heterodox minority Resistance of “Giustizia e Libertà”; his transmission of it comes via several sources, archives and authors, trans­ national webs of knowledge and research; and also, via a mix of word and photographic image, another key factor in the dissemination of cultural awareness of the Holocaust from the early 1945 camp liberations onwards. It is a telling illustration of how exceptional this initiative was in the con­ text in which Meneghello was writing, of the moral deafness of the sur­ rounding Italian society to the Holocaust, that Comunità came under serious threat of prosecution for “indecency” for publishing images of naked female Holocaust victims as part of Meneghello’s articles. The images were indeed literally “disturbing elements”27 for the conservative moral consensus of 1950s Italy, a conservatism shared between orthodox right and left. A second example of the constituency of early left memorialization in Italy, of its heterodox and transnational nature, with signs also in this case of a generational shift to a new memorializing ethics, is the international archi­ tectural competition for a memorial on the campsite at Auschwitz-Birkenau, launched by the International Auschwitz Committee (IAC) in 1957. The competition jury met first at Auschwitz in April 1958, then in Paris later the same year, and subsequently in Rome in 1959, where an exhibition was held of the winning designs at the Galleria Nazionale d’Arte Moderna (National Gallery of Modern Art).28 462 designs were submitted, in widely divergent styles of both sculpture and architecture and in very varied states of develop­ ment, by 685 architects and artists from 36 countries. Seven were selected for a second stage of review; and subsequently, the three most successful were commissioned, but the three groups were invited to revise their work, 26 Gerald Reitlinger, The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe, 1939–1945, London 1953; Léon Poliakov, Bréviaire de la haine [Handbook of Hatred], Paris 1951. See Saul Friedländer, Deutungen und Erklärungen, Tendenzen der HolocaustHistoriografie [Interpretations and Explanations, Trends in Holocaust Historiography], in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Institut/Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 67– 79. 27 Cavaglion, Il mare richiuso, 10. 28 Details are drawn from the catalogue of the exhibition “Monumento internazionale ad Auschwitz” (28 June to 15 July 1959), held at Galleria Nazionale d’Arte Moderna, Rome.

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to come up with a final collaborative design. The monument was finally completed in 1967. Of the seven projects selected for the second stage, in 1958/59, three had been by Italian groups (two from Rome, one from Trieste), along with one West German and three Polish groups; and of the three finalists, two had been Italian (the two Rome-based groups). The six Italian architects and artists involved in this final competition phase were young and relatively unknown, a significant indicator of growing interest beyond the first-hand generation of survivors in the memorialization of the Holocaust, as well as of a varied vitality and international prestige in Italian architecture and design. This renewed cultural interest was supported by a complex network of collaborations that underlaid the local Italian contribution to the competi­ tion, the entries, meetings, and the exhibition. If we look at the exhibition’s sponsors, we can trace a map of the elements that intersected – political, intellectual, personal, religious – to frame the Holocaust within Italy’s cul­ tural sphere at that moment. The list of sponsors includes a mix of prestige individuals and associa­ tions, national and international constituencies, establishment, political and Jewish-community voices. Their predominant feature, however, is clearly that of a cultural and activist or committed elite from the non-Communist or non-Communist Party left, as this cluster of examples shows: ANED’s presi­ dent, former partisan and Socialist senator Piero Caleffi; the Chief Rabbi of Italy, Elio Toaff; the writer and Turinese “Giustizia e Libertà” activist Carlo Levi; writer and ex-Communist Ignazio Silone; former Prime Minister and partisan, also from “Giustizia e Libertà” and its successor political party, the Action Party, Ferruccio Parri. Olivetti is mentioned also, as are Primo Levi and Alberto Moravia: figures with Jewish backgrounds and varying degrees of direct experience of the anti-Semitic persecutions of the 1930s and 1940s (all three were in hiding; only Levi was deported) and more or less com­ mitted political activities to their name. There is one key Communist figure, the Jewish former President of Italy’s postwar Constituent Assembly, Umberto Terracini. He is very much the exception who proves the rule, how­ ever; the rule, that is, of a marked awkwardness in the official line of the Ita­ lian Communist Party (Partito Comunista Italiano, PCI) with regard to both the Holocaust and the State of Israel. Terracini would fight several battles and be something of a lone voice within the PCI, of which he was a founding member, in struggling to give proper dues to the Holocaust and to Israel within the dominant Communist left bound to a Soviet anti-Israeli line.29 29 On Terracini, Israel, and the PCI, see Matteo Di Figlia, Israele e la sinistra. Gli ebrei nel dibattito pubblico italiano dal 1945 a oggi [Israel and the Left. Jews in Italian Public Debate from 1945 to the Present], Rome 2012, 19 f. and 56–60.

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The third of the four examples given here picks up on and extends the gen­ erational component evident in the successful Italian entries to the IAC architectural competition. By the mid-1960s, the Holocaust had already shifted onto new levels of global and national awareness, as a result of pub­ lic and widely mediatized events such as the Eichmann trial and the Frank­ furt Auschwitz trials. In newly prosperous Western Europe, Italy included, its profile was also enhanced in the generalized and rapid expansion in edu­ cation and mass media such as television at the moment of the “economic miracle,” expanding horizons of knowledge and awareness of history and the politics of the present, particularly among a recently enfranchised and politicized younger generation. Nevertheless, the heterodox presence of the Holocaust is sustained, not least because the orthodox left at times struggled to absorb the new generational politics, including the new left. Indeed, it will not be before the late 1980s or the post-Cold-War 1990s, that the Shoah, as it will increasingly be relabelled in Italy, enters the mainstreams of estab­ lished cultural and political discourse, an object of appropriation by the institutions of both left and right. In the mid-1960s, the heterodox was commonly channelled through the energies of youth sub-cultures, through alternative voices of leftist youth protest, often with powerful influences coming from Northern European and Anglophone cultures. These threads all came together in the powerful, sym­ bolically affectively charged deployment of Holocaust imagery in an anthe­ mic song of 1965, written by the young Italian singer-songwriter Francesco Guccini. The song was called La canzone del bambino nel vento (The Song of the Child in the Wind), but was also widely known by its simpler alterna­ tive title, Auschwitz. Its lyrics and melody were a somewhat derivative mix of images drawn from deportation literature – Guccini read both Primo Levi and a successful recent memoir by a Mauthausen anti-Fascist deportee, Vin­ cenzo Pappalettera30 – and Bob Dylan, as is evident in the title’s echo of Blo­ win’ in the Wind (1963) and in several of the song’s refrains. Guccini’s Auschwitz uses simple, elemental images and metaphors to politicize its message from Auschwitz; it makes no reference at all to the Jewish dimen­ sion of the Holocaust, but equally escapes entirely the confines of the Resis­ tance or indeed of any specific historical framing that had been so hard to evade in the 1950s. Instead of ideological orthodoxy, evocation of the camps is made to embrace an allusive, universal protest against war, suffering,

30 Vincenzo Pappalettera, Tu passerai per il camino. Vita e morte a Mauthausen [You will Pass through the Chimney. Life and Death in Mauthausen], Milan 1965. On Guccini, see Paolo Jachia, Francesco Guccini. 40 anni di storie, romanzi, canzoni [Forty Years of Sto­ ries, Novels, Songs], Rome 2002.

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oppression, racism, colonialism, and torture, all firmly if generically tied to the symbolic toponym Auschwitz. The final example is poised at a crucial geo-political and cultural turning point for the left in its dealings with the legacies of the Holocaust, and for much else besides: the 1967 Six-Day War. This conflict sealed in place a standoff between a Western alliance with Israel and a Soviet anti-Zionist Arabism that had already been set loosely in place from the early 1950s within the Warsaw Pact area of influence. It also, as commonly asserted, marked another international watershed in the reception of the Holocaust.31 The complications this created for the left in Western Europe, as it also attempted to sustain a legacy of anti-Fascism and moral and historical horror at the Holocaust were intense, encapsulated after 1967 in a risky new rheto­ ric of leftist comparison of Israeli treatment of occupied Palestinian popula­ tions to Nazi treatment of Jews. This situation was complicated still further in Italy by a general philo-Arabism across left and center-right, linked to a Mediterranean zone of economic interest and postcolonial connections. In this context, a remarkable work appeared in Italy in late 1967, ostensibly a throwaway pamphlet or “instant book,” but in retrospect a work, once again from a loudly heterodox left, that managed, whilst polemicizing with both left and right responses to the Middle Eastern crisis, subtly to tie in the cruci­ ble of issues of the moment to a memory of Fascist anti-Semitism and to the shadow of the Holocaust. The book was Franco Fortini’s I cani del Sinai (The Dogs of the Sinai).32 Fortini was a contrarian leftist intellectual who worked hard not to settle on any received opinion. His biography and identity draw together several of the threads we have traced here: he was a fiercely independent socialist thin­ ker; he had Jewish origins on his father’s side and was persecuted for this and his politics in the 1930s, although he converted to Waldensian Christian­ ity and changed his surname from Lattes to Fortini (his mother’s family name) before the war, a move not without ambivalence; he went into exile in Switzerland before returning to join the Resistance in northern Italy; and he also worked after the war, as noted above, with Olivetti as one of the writerthinkers in the Ivrea project.33

31 See Di Figlia, Israele e la sinistra; and Gadi Luzzatto Voghera, La sinistra e la questione ebraica [The Left and the Jewish Question], in: Marcello Flores et al. (eds.), Storia della Shoah in Italia. Vicende, memorie, rappresentazioni [History of the Shoah in Italy. Events, Memories, Representations], 2 vols., Turin 2010, here vol. 2, 248–266. 32 Franco Fortini, I cani del Sinai, Bari 1967 (Engl.: The Dogs of the Sinai, London 2013). 33 Simona Foà, Art., “Franco Lattes,” in: Dizionario Biografico degli Italiani, online, (29 April 2015).

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Robert S. C. Gordon

I cani del Sinai is a difficult, defiant work, written in the moment, “in anger, with tensed muscles and extreme rage.”34 It is a collection of twentyseven prose fragments, in which Fortini stridently stakes a claim to say something about the geopolitics of the Arab-Israeli conflict and about the submerged histories of violence and guilt that it had stirred up in Europe, without ceding ground to the ideological rigidities of either the official Left or the governing Right, neither bluntly pro-Arab or pro-Israel. “They want to ‘file’ me [schedarmi]? These pages are my file.”35 Between his strident anti-imperialism and canny cynicism about Western media manipulations, Fortini also evokes in snatches his Jewish father, bro­ ken in mind and body by Fascist beatings in 1925, the Florence synagogue in the 1930s, himself in Fascist Youth garb but still insulted as a “dirty antiFascist Jew.”36 There is no pathos or melancholy to this, though: “these pages,” he notes with a typical touch of acid cruelty, “are not an appendix to The Garden of the Finzi-Continis.”37 Fortini forensically rejects conformism on all sides, as well as pious invocations of “memory” of the Holocaust, just as a rhetoric of memory was becoming a public and cultural mantra that, for him, only worked to flatten progress and block critical thinking. I cani del Sinai, then, manages a remarkable and unstable synthesis of immediate con­ temporaneity, fragments from the Fascist past and a sensitivity to risks of future amnesias, all made visible by his oblique, awkward self-positioning.

Conclusion We have seen how the Holocaust emerged occasionally, in the 1950s and 1960s, at the margins or in the blurred gray areas of the memory politics of the civil war and anti-Fascist Resistance in Italy, within the only partially processed legacies of Fascism and the war. For the dominant left in particu­ lar, the Holocaust constituted a problem, a zone of ambiguity and uncer­ tainty. As a result, it tended to emerge rather more tellingly and repeatedly also in heterodox forms, in marginal zones of other leftist or alternative intellectual culture – from reformist collectives, new generations and forma­ tions, improvised networks or maverick voices – and indeed generally in cultural, rather than structured political or ideological arenas. The four 34 35 36 37

Fortini, The Dogs of the Sinai, 76. Ibid., 17. Ibid., 45. Ibid., 31 f. The reference is to the somewhat nostalgic and sentimental novel set amongst the Jewish youth of Ferrara under Fascism: Giorgio Bassani, Il giardino dei Finzi-Contini, Turin 1962 (Engl.: The Garden of the Finzi-Continis, New York 1965).

Gray Zones

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diverse snapshots described above in the section Heterodox Holocaust Cul­ ture and the signs of instability also evident in the earlier section Orthodoxy: The Holocaust as Resistance provide vivid, if eclectic evidence for these pat­ terns in the cultural transmission of Holocaust knowledge and memory. The model proposed above for the oblique, multidirectional constellations of knowledge on display in these cases was Primo Levi’s misappropriated notion of the “gray zone.” In closing, then, it is interesting to note that these processes continue to characterize present-day re-/miss-appropriations and reformulations, as neatly illustrated by a recent turn in Levi’s own reception as an historical figure and source of the notion of the “gray zone.” In 2013, historian Sergio Luzzatto published a remarkable book called Partigia (Par­ tisan), a micro-history of the earliest weeks of the Resistance in autumn 1943, as partisans began to head for the hills, Jews fled to Switzerland or hid and widespread confusion reigned.38 Luzzatto narrates how one small group of partisans in Val D’Aosta executed two young men from another partisan band. With few arms and even less experience, the group was infiltrated and rounded-up by the Fascists only days later. One of the group was Primo Levi, who was taken to prison in Aosta, then on to Fossoli in central Italy and from there to Auschwitz in February 1944. Luzzatto suggests that Levi’s hidden trauma and guilt over his involvement in this summary execution of fellow partisans, over the moral compromises of his few weeks in the Resis­ tance, colored everything he went through in Auschwitz and wrote later. Levi was from that moment on, Luzzatto suggests, living in his own “gray zone.”39 Needless to say, a furious polemic followed this reading, from the left, against the grain of the Resistance’s and of Levi’s authority.40 Even in 2013, then, a chain links in troubling, and even now not fully clarified ways, the Holocaust to the Resistance, their history and their moral challenges, and their uses in the present, one acting as an overdetermined heuristic for explaining the other and vice versa. The “gray zone” between the two is still a blurred picture, an open wound, still looking for Levi’s perhaps only apparently serene “equipoise.”

38 Sergio Luzzatto, Partigia. Una storia della Resistenza [Partisan. A Resistance Story], Milan 2013. An English edition is announced: idem, Primo Levi’s Resistance. Rebels and Collaborators in Occupied Italy, trans. by Frederika Randall, New York (forthcoming). 39 Ibid., 21. 40 See, e. g., Una storia della Resistenza. Dibattito sul saggio di Sergio Luzzatto [A Resis­ tance Story. Debate on Sergio Luzzatto’s Essay], in: Storicamente [Historically] 9 (2013), (24 April 2015).

C. K. Martin Chung

Repentance: The Jewish Solution to the German Problem The following words, passed on by Martin Buber and attributed to Rabbi Bunim (1765–1827), appeared in the Freiburger Rundbrief in the 1960s, a periodical published by German Catholics engaged in the “reconciliation” with the Jews. “Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering! Die große Schuld des Menschen ist, daß er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.” What the citation was intended to convey is not entirely clear, for it was placed merely in between opinion pieces about the then ongoing Frankfurt Auschwitz trials.1 One could only surmise that the editors found it pertinent to the context, possibly in the sense of reminding their readers to do repentance. Remarkably enough, the question of applicability was not raised. To put it bluntly: Could one simply appropriate this teaching from Judaism for post­ war Germans? That is: “The major guilt of the Germans is not the Shoah, the crimes they have committed – for the temptation is powerful and their power little! The major guilt of the Germans is that in every moment they can repent but do not.” Such appropriation would have been problematic indeed. Just as Ulrike Jureit accuses Richard von Weizsäcker of having offered the Germans what was not his to offer – the Jewish hope of redemption through remembrance as one of the German “illusions of Vergangenheitsbewältigung,”2 one could have raised that question to Gertrud Luckner, the founder of the Rundbrief in 1948: How can it be so blithely assumed that the possibility of repentance still exists for the Germans even after the Holocaust? According to Hannah Arendt, the “enormity” of Nazi crimes has produced a guilt so immense that “beggars and shatters” all previous legal orders.3 Can such a guilt be also beyond repentance? Such theological questions are obviously outside the purview of social scientists, who can neither affirm nor negate what is not socially observable, 1 2 3

Die große Schuld, in: Freiburger Rundbrief 15 (1963/1964), no. 57–60, 32. Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewälti­ gung, Bonn 2010, 42. Hannah Arendt to Karl Jaspers, 17 August 1946, in: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Brief­ wechsel 1926–1969, ed. by Lotte Köhler and Hans Saner, Munich/Zurich 1985, 90. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 129–155.

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who, with Buber’s words, are no prophets entrusted with a message, but thinkers with a teaching.4 As such, though one cannot definitively confirm or refute Jureit’s criticism of Vergangenheitsbewältigung without venturing into the realms of the religious and the theological, one can certainly – based on social observation – retort that the Jewish saying in question had been “imported” into the German public sphere as monition as well as encourage­ ment already before Weizsäcker’s speech from 1985. Jews and personalities with Jewish roots5 have figured prominently in this process of importation (see below). However, the doubt persists that, when it comes to the Holo­ caust, even Jews may not make this religious “offer” to the Germans; it is but a social and historical fact that Jewish theological concepts have been summoned time and again by Jews and Germans alike in their dialogue over the Holocaust. This phenomenon interests the author of the present article: the influence of the victims’ responses on those of the perpetrators, and the correspon­ dence of these responses with the biblical notion of repentance. As a Chi­ nese researcher brought up in an age of deteriorating Sino-Japanese rela­ tions, I seek for alternative responses to historical traumata other than the nationalist recipe of “wealth and strength” or the Confucian edict of “uprightness,”6 for neither point to viable ways towards remembrance and reconciliation. Incomparable as the historical atrocities may be, the same

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Martin Buber, Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit, in: Neue Wege 33 (1939), no. 2, 65–76, here 75. For Buber, a message (Botschaft) is received from God for a particular situation, whereas a teaching (Lehre) endeavors to “change social rea­ lity” based on the knowledge of the social thinkers and observers. See ibid. I do not intend to delve into Jewish identity debates. When an idea or a certain personality is referred to in this essay as “Jewish,” it is only to be taken to mean that they are or can be perceived as Jewish. Whether the basis for such perception is justified or not is not within the scope of this study. My intention is merely to give recognition to whom it is due. It would be absurd to praise someone as “Christian” or “German” for their contribu­ tion to the process of coming to terms with the past, when in fact they were persecuted as “Jews” during the Nazi era. I would like to take this opportunity to thank Prof. Dan Diner and Prof. Sander Gilman for their kind help in refining my thinking concerning this. “Wealth” and “strength” are literal translations of fuqiang which has several variations in meaning, among them the most common being “making the state (guo) wealthy and the military (bing) strong.” See Zheng Wang, Never Forget National Humiliation. Historical Memory in Chinese Politics and Foreign Relations, New York 2012, 237 f. On the Confu­ cian concept of zhi or “uprightness” as a response to past wrongdoings in the Sino-Japa­ nese context, see Tu Weiming/Ikeda Daisaku, New Horizons in Eastern Humanism. Bud­ dhism, Confucianism and the Quest for Global Peace, New York 2011, 57. For a critical evaluation of the applicability of this concept, see my own article: C. K. Martin Chung, Rethinking, Reflection, Repentance. Comparing “Coming to Terms with the Past” in Eu­ rope and China, in: European Union Academic Programme Hong Kong Working Papers, Hong Kong 2013, (15 September 2015).

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relational recuperation is sought after nonetheless. Moreover, the potency of biblical repentance in German coming to terms with the past – as will be demonstrated in this essay – also serves as an example to show how tradi­ tional intellectual resources can be utilized in solving problems between modern states and nations. The present investigation of this phenomenon known as Vergangenheits­ bewältigung is not aimed at painting an idealized image of postwar Ger­ many, or proving the authenticity of repentance of individual – much less collective – social actors. Instead of speculating on hidden intentions and moral realities, observable forms of expression are analyzed here in order to demonstrate the influence and correspondence mentioned above. In the extended research project,7 from which this article is derived, the biblical concept of repentance – tshuva in Hebrew; umkehren/Buße tun in German8 – is developed into an analytical framework for the historical analysis of Ver­ gangenheitsbewältigung. The result is a new assessment of Germany’s post­ war history, which in the meantime has become a “model” for other nations in need of their own coming to terms with their pasts. It is claimed that this “model” can be better analyzed and understood in a relational rather than national paradigm. In other words, Vergangenheitsbewältigung is not to be accounted for as a national “achievement” (i. e. explainable by the so-called German national character) nor as a structural “product” (i. e. of Cold War dynamics), but to be located within the interaction between the victims and the perpetrators as well as their later generations, sustained by the intellec­ tual resources shared among them.

The German Problem of Vergangenheitsbewältigung “Coming to terms with the past” as a research subject: Though the list of related literature is long, the exploration of the phenomenon’s religious roots has been largely neglected.9 So far as the author could gather, there is no 7 8

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It is in fact my doctoral dissertation at the University of Hong Kong (2013) bearing the same title. Tshuva is generally translated as Umkehr or umkehren throughout the Bible in the Ein­ heitsübersetzung (1980). In the Lutherbibel (1984), however, Buße (tun) appears along­ side with it in the New Testament, as well as Bekehrung or bekehren in the Old Testament. See Jer 31:19, 2 Kgs 17:13 and Mt 3:2. A subject search in the catalogue of the German National Library shows only about forty books related to the topic of Vergangenheitsbewältigung (or so registered) published in the first four decades after 1945. The following decade (1986–1995) saw a strong increase of more than 400 books. From then on until the time of writing (June 2015), more than 2 000 books have been added.

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existing work in German or English investigating the connection between Vergangenheitsbewältigung and tshuva.10 The classics in this field by Nor­ bert Frei and Constantin Goschler follow by and large the “policy” approach looking at specific aspects of Vergangenheitsbewältigung from the view­ point of politics and foreign relations.11 Peter Reichel attempts, on the other hand, to synthesize the relevant “political-juridical debates” into one single narrative.12 Torben Fischer’s and Matthias N. Lorenz’ Lexikon der “Vergan­ genheitsbewältigung” adopts the “affairs” approach that is particularly use­ ful when background information on certain controversies is of concern.13 Thorsten Eitz and Georg Stötzel’s Wörterbuch complements this with its “thematic” framework that cuts across distinct “incidents.”14 On top of these are studies focusing on specific events and “sectors” of the broader history of Vergangenheitsbewältigung. Charles Maier’s The Unmasterable Past – also published in German – investigating the Histori­ kerstreit and the roles of German and non-German historians, is a represen­ tative work in this category.15 The volume Coping with the Nazi Past, edited by Philipp Gassert und Alan E. Steinweis, concentrates on the 1960s, widely regarded as a “turning point” of German Vergangenheitsbewältigung.16 Whereas Matthew Hockenos’ A Church Divided details how German Protes­ tants confronted the Nazi past, Lucia Scherzberg’s compilations on theology and Vergangenheitsbewältigung revisit the Catholic Church’s role in the crimes of the Third Reich and offer “theological reflection” as a means of

10 Konrad Hugo Jarausch’s narrative of the “deutschen Wandlungen” is called Die Umkehr. See idem, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, Munich 2004; an idea he bor­ rowed from Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), in: idem, Gesamtaus­ gabe, vol. 3: Rechtsphilosophie, ed. by Arthur Kaufmann, Heidelberg 1990, 107–114, here 112. The contents of the religious concepts remain, however, unutilized in connec­ tion with the “transformations” he was observing in postwar Germany. 11 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Ver­ gangenheit, Munich 1996; Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. 12 Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, Munich 2001. 13 Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (eds.), Lexikon der “Vergangenheitsbewältigung” in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Biele­ feld 2007. 14 Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Wörterbuch der “Vergangenheitsbewältigung.” Die NS-Ver­ gangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, 2 vols., Hildesheim/Zurich/New York 2007– 2009. 15 Charles S. Maier, The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Iden­ tity, Cambridge, Mass., 1988 (Ger.: Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt a. M. 1992). 16 Philipp Gassert/Alan E. Steinweis (eds.), Coping with the Nazi Past. West German Debates on Nazism and Generational Conflict, 1955–1975, New York/Oxford 2006.

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coming to terms with the past.17 In other words, these works present Vergan­ genheitsbewältigung within theology rather than analyzing the wider phe­ nomenon through theological concepts. Of particular relevance to the present article are two studies that to a cer­ tain extent address the religious roots of Vergangenheitsbewältigung – with opposite conclusions. Aleida Assmann’s essay in Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit (co-authored with Ute Frevert) takes the debate between Martin Walser and Ignatz Bubis as a starting point to analyze the previous controversies in which the same or similar contentions occurred and recurred.18 A list of Schlagworte in the debates is offered, among which some – such as Schlussstrich, Normalisierung and individualisierte Schuld – are traced to their biblical roots. To Assmann, these concepts derived from Judaism are not only useful in analyzing and understanding debates in Ver­ gangenheitsbewältigung, but essential in giving meaning to the phenomenon itself: “Das ganze Konzept der Versöhnung durch Buße ist nur denkbar auf dem Boden einer Schuldkultur.”19 The fundamental features of this concept, according to her, are in the Book of Ezekiel and transported to the post-1945 context by Karl Jaspers and Hannah Arendt.20 While Assmann recognizes the influence of biblical concepts on Vergan­ genheitsbewältigung, Ulrike Jureit seems to stand decidedly against such religious intrusion into the “secular system” of coming to terms with the past. In her book, Gefühlte Opfer (co-authored with Christian Schneider), she criticizes the alleged Opferidentifizierung of the initiators of the Berlin Memorial to the Murdered Jews of Europe,21 and derides, as mentioned above, Weizsäcker’s (ab)use of the Jewish saying – “Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.”22

17 Matthew D. Hockenos, A Church Divided. German Protestants Confront the Nazi Past, Bloomington, Ind., 2004; Lucia Scherzberg (ed.), Theologie und Vergangenheitsbewälti­ gung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, ed. in coopera­ tion with Werner Müller, Paderborn et al. 2005; idem (ed.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, ed. in cooperation with Werner Müller, Paderborn et al. 2008. 18 Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999. 19 Ibid., 91. 20 Ibid., 80. 21 Jureit/Schneider, Gefühlte Opfer, 25–29. The concept of “victim-identification” can be conflated, however, when the difference between “self-identification as victim” (i. e. fal­ sification of identity by a non-victim à la Wilkomirski, the archetypal “gefühlte Opfer” for Jureit) and “self-identification with the victim” (i. e. to concern oneself as non-victim with the concerns of the real victim) is neglected. Jureit herself points to the necessity of the latter in the process of coming to terms with the past. Ibid., 35 f. 22 Ibid., 9.

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For Jureit, the promise of redemption through remembrance is a grave mis­ understanding on the part of the Germans: “Es gehört zu den zentralen Missverständnissen unseres opferidentifizierten Geden­ kens, dass ein religiöses Heilsversprechen in ein säkulares System der Vergangenheits­ bearbeitung transformiert wird, ohne über die damit verbundenen Verheißungen Rechenschaft abzulegen. Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand wird wegen perma­ nenten Erinnerns von der eigenen oder überlieferten Schuld freigesprochen werden.”23

It is not clear from the context whether Jureit is against the introduction of the religious promise per se into the supposed-to-be secular system of Ver­ gangenheitsbewältigung, or only because such a Jewish promise was “Chris­ tianized” as she claims.24 In any case, her strict demarcation between reli­ gious ideas and collective coming to terms with the past – not the least between Jewish intellectual resources and postwar German reflection – begs justification. After all, if Weizsäcker had “misappropriated” the Baal Shem’s dictum for the benefit of German Vergangenheitsbewältigung, he was hardly the first to do so: Ernst Benda, a German politician of Jewish ancestry,25 after traveling to Jerusalem and reading these words at Yad Vashem, had already “imported” it to the Bundestag during the Verjährungsdebatte in 1965.26 And when Weizsäcker and his team were composing the 1985 speech, the Israeli historian Saul Friedländer used the selfsame saying to remind his German readers how fragile the German-Jewish relationship still was and how German remembrance of Nazi crimes could help strengthen it.27 In this broader relational perspective, the question is not about the abuse of reli­ gious notions for secular purposes, but the existence of a spiritual resource at the disposal of the victims and their descendants, who did use it to help the perpetrators and their later generations to arrive at an insight that was otherwise inaccessible to them. This study seeks to give recognition to this extraordinary and indispensa­ ble help to understand what it means “to turn,” as tshuva literally means, and

23 Ibid., 42. 24 Ibid. 25 Benda’s grandfather was Jewish and his grandmother was one of the participants in the Rosenstraße Protest in 1943. See Dietrich Strothmann, Kärrner der Gerechtigkeit, in: Die Zeit, 19 March 1965. 26 Ibid. See also Rolf Zundel, Strich unter die Vergangenheit?, in: Die Zeit, 19 March 1965; Peter Borowsky, Das Ende der “Ära Adenauer,” in: Informationen zur politischen Bil­ dung 258 (1998), (15 September 2015). 27 Saul Friedländer, Bewältigung – oder nur Verdrängung?, in: Die Zeit, 8 February 1985; Harald Steffahn, Richard von Weizsäcker. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1991, 107 f.

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the corresponding willingness and openness on the other side to receive and to respond to that help. “Coming to terms with the past” as an existential problem: The emergence of the phenomenon of Vergangenheitsbewältigung can be traced to the time around the military defeat in 1945, even as the name itself was only given a decade later.28 In this period, a number of German intellectuals inside and outside the country reflected on the fate of the nation after National Social­ ism. Common in this reflection was the realization that the existential crisis – “die deutsche Frage,” “das deutsche Problem” – begotten by the twelve pre­ ceding years was of such catastrophic proportion that only through the fun­ damental act of “returning” – whether it be to Germany’s religious roots, humanistic tradition, or Western democratic civilization – could postwar Germany have any hope of survival. In 1946, Alfred Weber spoke of the “katastrophalen geschichtlichen Zusammenbruch” and the “ersten großen und grundlegenden Sünde, die das Abendland an sich selbst begangen hat.”29 With this “sin” he meant the establishment of a state system in which state actions are considered to be beyond moral supervision. As the “deeper cause” of the catastrophe he iden­ tified the “dogmatizing” tendencies in European history, leading towards the nihilism that dominated the period. The way forward, according to him, was “Europa und insbesondere seine deutsche Mitte […] auf einer die Men­ schenwürde und Menschlichkeit vertretenden freien demokratischen Basis zu organisieren.”30 The German people must engage in self-education for self-renewal and self-transformation through returning to the “großen un­ dogmatischen europäischen Vorgestalten.”31 Weber saw the future of Ger­ many lying along this path of returning to the democratic West.32 Carl-Hermann Mueller-Graaf (Constantin Silens) concurred with Weber that the age in which Europe had been the “head and master of the world” (“der Kopf und der Herr der Welt”) was bygone.33 But in his 1946 book, Irr­ weg und Umkehr, Silens concentrated on the “German problem” instead of

28 According to Helmut König et al., the earliest documented use of the term was by Erich Müller-Gangloff of the Evangelische Akademie Berlin in 1955, who called upon his con­ temporaries to deal with “den Schatten einer unbewältigten Vergangenheit.” Helmut König/Michael Kohlstruck/Andreas Wöll (eds.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen/Wiesbaden 1998, 8. 29 Alfred Weber, Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Hamburg 1946, 12–20. 30 Ibid., 251. 31 Ibid., 251–253. 32 Ibid. 33 Constantin Silens, Irrweg und Umkehr. Betrachtungen über das Schicksal Deutschlands, Basel 1946, 245.

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“Europeanizing” it as Weber did.34 He professed to belong to “jenem christ­ lichen und konservativen Deutschland” and claimed that “die große deutsche Schuld […] ist die Abwendung von der Christlichkeit des Abendlandes.”35 He named Darwin, Nietzsche and Spengler “tatsächliche Verführer,” those having truly mislead the German nation.36 Therefore, he called on his fellow Germans to repent. “Es geht hier nicht um Buße im Sinne der weltlichen Rache […]. Es geht um Buße in dem großen Sinne des Christentums, die Erkenntnis und Bekenntnis des Fehlers meint. […] Buße als reuige Erkennt­ nis des eigenen Bösen.”37 Without this, Silens was convinced, there would be no future for Germany.38 In a similar tone, the Catholic theologian Johannes Hessen spoke after the war at the University of Cologne about the “Gemeinschuld” of the Germans: “Es gibt nicht nur eine Schuld des Einzelnen, es gibt auch eine Schuld der Gemein­ schaft. Dadurch, daß wir zu dem Volke gehören, dessen Führung diesen Krieg entfes­ selt und damit unsagbares Leid und Elend über die Menschheit gebracht hat, ist letzten Endes jeder von uns schuldig geworden vor der Menschheit und vor Gott.”39

He made use of the opening verse of the Book of Lamentations to frame Germany’s material and spiritual devastation.40 The way towards rebuilding the religious sphere was for him the imitation of the exceptional Christian examples given by Martin Niemöller and Clemens August Graf von Galen.41 The language of guilt and repentance was apparently so commonplace in this period that even economists like Wilhelm Röpke spoke about the neces­ sity of “Reue und Wiedergeburt” for the Germans after their “physical, poli­ tical and moral suicide.”42 Committing collective suicide, however, was not an option for the German people, who would, according to him, “umkehren, sofern man ihm einen Rückweg zeigt.”43 It is not necessary here to go any further into the early German responses to the “catastrophe” of the long decade of Nazi Germany; the brief survey above is enough to highlight the prolific use of the theologically charged vocabulary of Sünde, Schuld and Buße to perceive and analyze the “German problem,” and propose solutions to it. One can of course disagree with all or 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ibid., 10. Ibid., 253. Ibid. Ibid., 248 f. Ibid., 10. Johannes Hessen, Der geistige Wiederaufbau Deutschlands. Reden über die Erneuerung des deutschen Geisteslebens, Stuttgart 1946, 103. Ibid., 10. Ibid., 25 and 72. Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, Erlenbach-Zurich 1945, 9 and 222. Ibid., 224.

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some of their diagnoses – for instance, would a simple return to Christianity be enough as “German repentance” when the German churches themselves had yet to deal with their own guilt of the Nazi past? Would returning to the democratic West be a satisfactory answer to the many victims of National Socialism who were from or still in the then undemocratic East? Irrespective of the actual validity of these proposals, the historical fact is that biblical concepts were employed to communicate with one another (i. e. as Germans to fellow Germans and non-Germans) with regard to the “German problem.” Such a (continual) social practice points to the conceptual constellation sur­ rounding biblical repentance as constituting that pre-existing intellectual infrastructure or, to use Husserl’s term, Lebenswelt, shared by both Germans and Jews, victims, bystanders and perpetrators, in which one could think and talk about the monstrous Nazi legacy, as well as judging how to deal with it.

The Jewish Solution of Repentance Without any substantial basis for evaluation, it would seem that all proposals for postwar Germany in this discourse on “(re)turning” have equal validity, which is certainly not the case. Yet “turning” in the Bible is not an empty concept: Not all acts of turning or returning are repentant turnings. Buber has clearly shown that some turnings found in Scripture are nothing but devious reverses.44 For anyone who endeavors to investigate the connection between biblical descriptions and historical expressions of turning on a national scale, it is hence necessary to first come to grips with the biblical notion, in order to highlight the features of collective repentance. My work therefore differs from Assmann’s in the sense that I do not begin with the “catchwords” of coming to terms with the past and trace backward to their biblical origins, but start with biblical concepts and work forward to identify their equivalents in the discourses of Vergangenheitsbewältigung. This way I seek to render more visible that intellectual infrastructure or “cultural ground” (Assmann) on which these discourses take place. This approach also differs markedly from Frank Stern’s, who has chosen to conduct his investigation of the German-Jewish relationship outside the “realm of spe­ cial Jewish historiography” in order to prove the analytical strength of the “triangular relationship between Americans, Germans and Jews.”45 The pre­ 44 Jer 34:15, 16 and 22. See Martin Buber/Franz Rosenzweig, Scripture and Translation, trans. by Lawrence Rosenwald with Everett Fox, Bloomington, Ind., 1994, 35. 45 Frank Stern, The Whitewashing of the Yellow Badge. Antisemitism and Philosemitism in Postwar Germany, Oxford et. al. 1992, xv and xx.

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sent approach examines rather how a repentance-informed outlook of his­ tory with its God-victim-perpetrator triad may have an impact on the rela­ tionship between Jews and Germans in the aftermath of the Holocaust.46 The following section begins with the explication of turning between God and human being, followed by interhuman turning.47 The lynchpin of this biblical investigation are the Bußpsalmen, or the Psalms of Repentance: a selection of seven Psalms traditionally used by Christians for the expression and education of repentance, with the fourth Bußpsalm, Psalm 51, recog­ nized by Jewish sources as the Psalm of Repentance.48 Maimonides’ Die Lehre von der Buße and The Gates of Repentance by Rabbeinu Yonah (Jona Gerondi) are consulted as exegetical guides.

“Turning” in the God-Human Relationship “Wasch meine Schuld49 von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. […] Entsündige mich mit Ysop, dann werde ich rein; wasche mich, dann werde ich weißer als Schnee” (Ps 51:4, 5 and 9).

46 On the use of biblical resources for the purpose of collective reconciliation, see John Paul Lederach, Building Peace. Sustainable Reconciliation in Divided Societies, Washington, D. C., 1997. 47 In consideration of length, only five of the fifteen interrelated propositions of repentance are outlined here. The complete list consists of: 1. The sinner is not sin; 2. The twofold damage of sin; 3. Mercy precedes repentance; repentance responds to mercy; 4. Recogniz­ ing punishment as just; 5. Confession as the only acceptable sacrifice; 6. Repentance as inner death and rebirth; 7. “Helping others repent” as the new task of the repentant; 8. Repentant disagreement; 9. Even God repents; 10. Sin as relational sickness; 11. Repen­ tance’s representative minority; 12. Justice between abused perpetrators and abusive “vic­ tims”; 13. The sin of the fathers as cross-generational guilt; 14. Remembrance for life as cross-generational responsibility; and 15. Reconciliation as turning to each other through turning to God. 48 See Rabbeinu Yonah, The Gates of Repentance, trans. and comment. by Yaakov Feldman, Northvale, N. J./Jerusalem 1999, 49 and 70. According to Christian tradition, the seven Psalms of Repentance are Psalms 6, 32, 38, 51, 102, 130 and 143 (following the Hebrew numbering system). See Willy Staerk, Sünde und Gnade nach der Vorstellung des älteren Judentums, besonders der Dichter der sog. Busspsalmen, Tübingen 1905; Heinz-Günter Beutler-Lotz (ed.), Die Bußpsalmen. Meditationen, Andachten, Entwürfe, Göttingen 1995. 49 Biblical quotations in German are drawn here mostly from the Einheitsübersetzung. In case of important differences to the Lutherbibel or other modern translations, alternatives are added in the footnotes. In this verse, for example, instead of Schuld, Missetat is used in the latter one. Focus here is not the question of accuracy, i. e. in relation to the source texts in their original languages, but of latency, i. e. what is translated into German as such, and which meanings and connotations does it possess.

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The Bußpsalm, from which these words are drawn, was a song of David’s according to tradition, who had abused his power as a king: He had sent Uriah the Hittite to certain death in order to conceal his own affair with the loyal soldier’s wife, Bathsheba (2 Sam 11 f.). But God sent his accusatory words through Nathan to David, upon which the king turned and confessed his guilt. In this expression of the repentant sinner, who counts among the paradigmatic figures of repentance in the Bible, a subtle but clear distinction is stressed, or rather, reiterated:50 That is, I, my wrongdoing and my sin are distinct entities but entangled as a result of my own doing. That the sinner is not sin (Proposition no. 1), or the criminal is not crime itself, is an essential distinction – though insufficient by itself – that makes “turning” possible. Otherwise “repentance” will have no meaning other than self-mortification or suicide, and “reconciliation” becomes either an impossibility or a hypo­ critical act of “moving forward” that sees no evil, condemns no evil. Though sullied by his misdeed/guilt, his inherent dignity as a being cre­ ated “in the image of God” (Gn 1:27) is not thereby destroyed. As Maimo­ nides put it: “Ebenso wenig denke aber ein Buße Thuender, daß er wegen seiner Frevel und Sünden, die er begangen, noch sehr weit von jenem hohen Grade der Frommen entfernt sey; denn dem ist nicht so, vielmehr ist er ebenso geliebt und auserkoren vor dem Ange­ sichte des Schöpfers, als hätte er niemals gesündigt.”51

In a striking passage in the Book of Isaiah (19:21–25), this indestructible human dignity is explicitly granted even to the traditional enemies of the Israelites: the Egyptians and the Assyrians. Hence the universal applicability of the sin-sinner distinction.52 According to these verses in Psalm 51, sin and guilt can be “washed away”; the sinner can be pardoned, excused and purified – but not by the sin­ ner himself out of his own power. This process can only be completed by God, the injured party, the victim, to whom the sinner must turn to seek puri­ fication.53 The divine promise to do just that (Is 1:18) is therefore the only hope left for those entangled in their own sins.

50 See for example Gn 4:7. 51 Moses Maimonides, Die Lehre von der Buße, in: idem, Mischne Tora. Das Buch der Erkenntnis, ed. by Eveline Goodman-Thau and Christoph Schulte, with postfaces by Eve­ line Goodman-Thau, Christoph Schulte and Friedrich Niewöhner, Berlin 1994, 408–509, here 479. 52 Whether this is also universally accepted – that is, reciprocal recognition – is another question. 53 Nevertheless, Rabbeinu Yonah, interpreting Ps 51:4 in conjunction with Jer 4:14, also stressed the importance of the sinner’s participation in this process. See Yonah, The Gates of Repentance, 12.

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“Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist!”

Such is the plea of the repentant (Ps 51:12). Repeatedly, the biblical notion of turning revolves around the change of the sinner’s heart and spirit. In the Torah and the Prophets, the “circumcision of the heart” is exhorted (Dt 10:16 and 30:6; Jer 4:4). The images of transplanting or circumcising the heart should point one to the apprehension of coming to – or going through – death, for how else could one accomplish something like that? But in this conception, one kind of death is required, and another not. And for the right kind of death to be achieved, the essential asymmetric mutuality between God and human is stressed. In the words of Rabbeinu Yonah, “Among the good things God has done with us [is tshuva].”54 The corresponding divine promise of participation was pronounced through the prophet Ezekiel: “Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch” (Ez 36:26). What is meant by the “heart of stone” can be gauged in context: the indifference to the suffering of fellow human beings (Ez 36:13, 18). The “heart of flesh” can therefore be understood as a vulnerable heart. Those innermost roots of indifference, no matter how internalized as part of the self they may have become, are what needs to be put to death by the sinner himself.55 Hence repentance as inner death. Although the repentant sinner is capable – and only he is capable – of this, he is also by this very act of self-mortification exposing himself to the dan­ ger of despair (“Nothing is possible for me anymore …”, he thinks). This happens when he begins to see the magnitude of his guilt, but is without the hope of repentance, which Rabbeinu Yonah aptly called an “escape hatch.”56 In extreme cases, suicide ensues. In the Bußpsalmen, and in the Torah in general, the creative as well as redemptive power of God is therefore empha­ sized: the power to create and to give a pure heart and a new spirit (Ps 51:12). Not only is the sinner called to circumcise his own heart, but God has also promised to partake in this process: “Der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden” (Dt 30:6). Hence repentance as more than just inner death, but also spiritual rebirth (Proposi­ tion no. 6).57

54 Ibid., 4. Rabbi Yaakov Feldman, who translated the work into English, added in the com­ mentary, “tschuvah is a means of solidifying and deepening our’s and God’s mutual love.” Ibid. 55 See also Rom 8:13. 56 Ibid., 12. 57 The second proposition presented here is in fact the sixth in the original fifteen proposi­ tions. For the complete list see fn. 47.

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Repentance has nothing to do with death in the bodily sense of the word. The sinner is called to repent so he may live (Ez 18:32). For Maimonides, there is no chasm too great for repentance to overcome, that nothing but death remains. “[D]enn es giebt keine Sünde, welche nicht durch die Buße gesühnt werden könnte. […] [S]o muß auch ein Jeder sich Mühe geben, Buße zu thun […] damit er […] auf diese Weise zum Leben der künftigen Welt gelange.”58 The omnipotent life-saving power of repentance is thus affirmed. “Kehre dich ab59 von deinem grimmigen Zorn und laß dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. […] Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte” (Ex 32:12–14).

There is an element of repentance not spoken of in the Bußpsalmen, and only rightfully so. It goes beyond God’s merciful turning towards the sinner and the divine participation in the renewal of his heart. It is the turning of God himself in the sense of “regret” in the face of the sinfulness of human beings. Had the repentant sinner voiced this aspect of turning, as if he could now demand the repentance of God (Proposition no. 9) – that the creator should look into his own guilt in the wrongdoing of his creature – it would have nullified every other expression of repentance on his part. For then the sinner would be in effect blaming God for his sin, like Adam, rather than owning up to it himself.60 Elsewhere in the Bible, references to this distinct divine turning are ready to be found, right from the very beginning. The God in the Torah is not a god who is only concerned with justice and mercy, but is also self-blaming and willing to change himself in response to the sinfulness of men. If not, the Flood would have been perceived as “justice served” rather than some­ thing “never to be done again” (Gn 8:21) – even without any prior human guarantee that his heart and his world would never be filled with that much evil again (Gn 6:5). If not, the threats of punishment would have been counted as “merciful reminders” rather than something to “regret” (Ex 32:14). This regret thus arises from the consciousness of both the guilt of one’s constitutive part in the sin committed against oneself, and the conse­ quence of being caused by the human evil done to think and/or to do evil as a reaction, which does not know the freedom of turning as a response, as a “perpetual possibility” against the iron law of cause and effect.61 Moses was the only one standing between God’s fury and his people, to remind the Lord of this possibility (Ex 32:12–14). 58 59 60 61

Maimonides, Die Lehre von der Buße, 445 and 479. Or “Laß ab” (Einheitsübersetzung). Gn 3:12. Abraham Joshua Heschel, The Prophets, New York 2001, 43 (first ed. 1962).

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Interhuman and Collective Repentance “Hoffe Israel auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden” (Ps 130:7 f.). Even as it is obvious that the Bußpsalmen are concerned mainly with personal repentance in the divine-human relationship, their potencies go in fact beyond that to the interhuman and collective relationships. For in the biblical tradition, the former is often upheld as the hermeneutical context and behavioral model for the latter.62 In the succinct formulation of Buber: “[Die Duwelt] hat ihren Zusammenhang in der Mitte, in der die verlängerten Linien der Beziehungen sich schneiden: im ewigen Du.”63 Concerning this triangular relationship, Abraham Joshua Heschel said, “The unique feature of religious living is in its being three-dimensional. In a religious act man stands before God.”64 “He does not take a direct approach to things. It is not a straight line, spanning subject and object, but rather a triangle – through God to the object.”65 On the collective level one encounters the problem of representation. Are there “representatives” who repent for their or other communities? Or must every single community member repent in order to render collective repen­ tance “effective”? There are two biblical stories which apparently offer dia­ metrically different answers: the Abrahamic plea for Sodom and Gomorrah (Gn 18:16–33) and the repentance of Nineveh (Book of Jonah). From the first one can draw the interpretation of an “absolute minority principle,” for a mere handful of the righteous is enough to preserve entire cities from divine obliteration – that is, from definitive unrepentability. Not to mention the long list of “intermediaries” of repentance between God and his people, from Moses to Josiah, Nehemiah and Jeremiah. From the second story, how­ ever, one can derive a second opinion, for all the people of Nineveh, “from the greatest to the least,” repented, even before the king’s order to do so (Jon 3:5). In comparison with Josiah’s “failed” representative repentance (2 Kgs 23:25–27),66 the success story of Nineveh seems to show that collective repentance is only effective if everyone in the community without exception partakes in it. How can one resolve this apparent contradiction?

62 See for example 2 Chr 36:14–23, and Mt 18:23–35. 63 Martin Buber, Ich und du, Heidelberg 101979, 119 (Engl.: I and Thou, trans. by Roland Gregor Smith, Edinburgh 1958, 100 (emphasis in the original). 64 Abraham Joshua Heschel, Man’s Quest for God. Studies in Prayer and Symbolism, New York 1954, 133 (emphasis in the original). 65 Idem, The Prophets, 29 (emphasis added). 66 In the biblical account, the king was leading all the way in implementing religious reform while the people appeared to be only “following orders.”

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For Maimonides, quantity alone is not what counts in collective repen­ tance. Concerning Sodom and Gomorrah he said, “Diese Abschätzung der Sünden und guten Thaten geschieht nun nicht nach der Zahl, sondern nach der Größe derselben. Es giebt manche gute That, die viele Sünden auf­ wiegt […]. Das Abwägen aber kann nur in der Weisheit des Allwissenden und All­ mächtigen erfolgen.”67

The acceptance and appreciation of repentance’s representative minority (Proposition no. 11) demonstrates therefore only the immense willingness on God’s part to turn away from his anger and to grant once again a chance to the community in need of repentance. This divine characteristic – whose imitation by the pious is called for (Lv 20:26) – is abused, however, if the members of the sinning community now think that a few repentant ones are “enough.” They miss in fact the chance of doing their own repentance. Hence advised Maimonides, “Daher muß jeder Mensch sich stets so betrachten, als wäre er halb gerecht und halb schuldig oder frevelhaft, imgleichen die ganze Welt halb gerecht und halb schuldig. Begeht er nun eine Sünde, so fällt die Sünde entscheidend auf die Waagschaale des Bösen […] und verursacht Verderben. Begeht er hingegen eine gute That, so hat er nicht nur für sich, sondern auch für die ganze Welt den Ausschlag zum Guten gegeben, und verschafft sich und allen Menschen Hilfe und Rettung.”68

Such should be the attitude of those seeking repentance. When it comes to collective reconciliation, or reconciliation among peoples, aside from the question of representation there is also the question of generation: Is there cross-generational guilt? What is the responsibility of different generations? The Bußpsalmen as a whole express the awareness of the cross-generational “properties” of sin: “Denn ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen” (Ps 51:7). Simultaneously, the ability – and eagerness – of God to break the chain of condemnation is also expressed (Ps 51:16; 102:21). Indeed, the “sin of the fathers,” which sons (and daughters) are encouraged to confess (i. e. to uncover) and to learn from in order to reform themselves and their present society (2 Kgs 22:13; Neh 1:6 f.) is a frequent motif in the Bible (Ex 34:7; Nm 14:18; Dt 5:9). To confess the sin of the parents as cross-generational guilt (Proposition no. 13) belongs to the “movements” of turning. When a generation confesses the sins or wrongdoings of the former generation, they recognize both the cross-generational longevity of sin (e. g. in human nature, customs and insti­ tutions) and the cross-generational consequences of sin (e. g. man-made nat­ ural and social disasters). By this very act of recognition, they are also exer­ 67 Maimonides, Die Lehre von der Buße, 429–431. 68 Ibid., 433.

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cising the freedom to break away from the wrongful practices and frames of mind, and shouldering the responsibility for the aftermath of the crimes and wrongdoings by former generations. Jeremiah exclaimed before such a responsibility, “Es ist meine Plage; ich muß sie leiden” (Jer 10:19).69 Such is the attitude of the repentant generation. For Maimonides, the most essential aspect of collective confession practiced by Israel since antiquity is the phrase, “Wir aber haben gesündigt …”70 The self-inclusive we is characteris­ tic of this recognition. On the other hand, if one proclaims himself to be a judge and condemns entire families, communities or nations for the sins of one or some among them, he in fact denies them such a freedom of turning and hence, by exten­ sion, negates real personal responsibility. It is no surprise that both Jeremiah and Ezekiel spoke out unambiguously against such repentance-depriving, biologically-based condemnation, and advanced instead the principle of per­ sonal guilt (Ez 18:2; Jer 31:29). But when one blithely thinks that simply by virtue of being born late and having the benefit of historical hindsight, he is free from the sin of his for­ mer generation(s), he is in fact blind to the cross-generationalities, that is, presentness of sin, and hence necessarily fails to make the turning required by healing. This blindness also often misleads one to consider himself a “victim” of having to deal with the “unfair” consequences at all. The entire fifteen interrelated propositions about collective repentance form a system of affirmations, or “relational movements,” whose new expression and reformulation are to be found in the history of Vergangen­ heitsbewältigung. Repentance is characterized as asymmetric mutual turn­ ing, which requires differentiated turning moves from both sides of the chasm caused by wrongdoing. Examples of such mutual-turning expressions will be shown below which, the author argues, correspond to the five poten­ cies of repentance introduced above.

Some Examples of “Mutual-Turning” in German Coming to Terms with the Past One of the biblical motifs appearing most frequently in discourses related to Vergangenheitsbewältigung is the Abrahamic plea. Already in April 1945 the British-Jewish author and publisher, Victor Gollancz, wrote about the 69 Comp. this rather unusual translation of the Lutherbibel (1912) with later versions, in which the ownership of the affliction disappears. 70 Maimonides, Die Lehre von der Buße, 425 (emphasis added).

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“real meaning of Buchenwald.” Before that, he was known for vehemently speaking out against the persecution of European Jews. “Unless something effective is done,” he wrote in 1943, “within a very few months these six million Jews will all be dead.”71 But at this time, when the downfall of Nazi Germany seemed imminent and the international disgust over the Germans increased due to the intensified exposure of the “German crimes” in the con­ centration camps, Gollancz raised his voice once again – not for his fellow Jews but for the Germans. After rejecting the collective punishment of the Germans as the false lesson to be drawn from Buchenwald, he asked his English readers, “What is it that […] makes it utterly impossible for the Judaeo-Christian tradition ever to compromise with fascism?”72 Thereupon he based his own answer on the incompatibility between thinking in collec­ tive terms and the doctrine of personal guilt and responsibility before God. “So far as Western civilization […] is concerned,” he wrote, “the first great protest against the old blasphemy [of depersonalization] was made in the legend of Abraham pleading with the Lord to spare the cities of Sodom and Gomorrah.”73 Just as Abraham appealed to the divine sense of justice by reminding God of the righteous minority, Gollancz pleaded with his public: “I can only hope that the reader will at least give honour where honour is due […] ‘Salute also to these German heroes of Dachau and Buchenwald […] against whom Hitler employed all his malice, but could not prevail.’ […] for all will know […] some of these outcast Germans suffered more and suffered longer.”74

Gollancz’ plea against the collective punishment of the Germans was per­ ceived in Germany itself as “Hoffnungsschimmer.”75 This shimmer of hope, fostered by the Abrahamic entreaty, was also offered by the survivors them­ selves. In this case, the employment of biblical texts served, however, another purpose: to make Jewish-German reconciliation attempts possible. In 1951, a couple of Germans in Hamburg started the campaign of “Friede mit Israel.” It was occasioned by the reluctance of the State of Israel to end the state of war with Germany, a decision, according to the German authors of the “appeal,” to be accepted with “understanding.”76 Despite the “incorri­ gible followers of Hitler” in postwar (West) Germany, these initiators found hope for the fulfillment of their thirst for peace and wish for reconciliation

71 Victor Gollancz, Let My People Go. Some Practical Proposals for Dealing with Hitler’s Massacre of the Jews and an Appeal to the British Public, London 1943, 1. 72 Idem, What Buchenwald Really Means, London 1945, 14 f. 73 Ibid. 74 Ibid. 75 Friedrich Mayer-Reifferscheidt, Victor Gollancz’ Ruf: Rettet Europa!, Munich 1947, 6. 76 Erich Lüth (ed.), Die Friedensbitte an Israel 1951. Eine Hamburger Initiative. Mit Beiträ­ gen von Rudolf Küstermeier, Moshe Tavor und Norbert Wollheim, Hamburg 1976, 112.

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in the perceived connection between the biblical stories of the righteous and the history of German resistance: “[Die deutschen Widerstandskämpfer] haben die erste Brücke der Versöhnung zwi­ schen Deutschen und Juden mit ihren eigenen Leibern errichtet […]. Wo aber nur ein Gerechter ist, schon dort sollten die Bürger von Sodom und Gomorrha verschont blei­ ben. […] Wir bitten Israel um Frieden!”77

The publicized appeal for peace by Erich Lüth and Rudolf Küstermeier became a small movement, which partly paved the way for Adenauer’s speech on Wiedergutmachung on 27 September 1951. But the answer that counts could only come from the Jewish victims and survivors themselves, otherwise the appeal would only remain a hopeless monologue. Fortunately for Lüth, such readiness to participate in communication with the biblical language made itself known from Israel. On the eve of Versöh­ nungstag, or Yom Kippur, Israel Gelber, who had survived the Buchenwald concentration camp, penned a carefully-worded open letter to the German initiators: “Ich darf nicht für Israel und nicht für einen der Millionen Leidtra­ genden sprechen, doch darf ich ebenso wenig für mich selbst schweigen.”78 The survivor then recounted the help he had received as a Häftling, and which “viele deutsche Kumpeln” offered. “Solche Menschen allein könnten heute eine Brücke zwischen Juden und Deutschen bilden.”79 The “many” and “alone” could be exaggeration in reality; but that is precisely the pecu­ liarity of the Abrahamic “lens,” or the biblically-informed paradigm in gen­ eral, which filters experiences and memories to seize upon the righteous as the reality among realities, statistically “insignificant” as they may be. Towards the end Gelber added, “Da Gott Sodom und Gomorrha verschonen wollte, wenn sich nur zehn Gerechte in ihren Mauern befunden hätten, kann Israel mitnichten eine dreistellige Zahl verlangen. […] Ich schenke Deutsch­ land den Frieden.”80 Aside from being deployed to counter collective punishment and foster the readiness for reconciliation, the Abrahamic appeal fulfilled a further function still in the history of Vergangenheitsbewältigung: to shape a culture of remembrance at the service of repentance. At the time of the Eichmann trial, Rabbi Harold M. Schulweis, who was born in 1925 in New York to a

77 Ibid., 112–115. 78 Israel Gelber, Ich schenke Deutschland den Frieden, in: Freiburger Rundbrief 3/4 (1951/ 1952), no. 12/15, 13 f., (15 Septem­ ber 2015). 79 Ibid. (emphasis added). 80 Ibid. The reference to the “three-digit number” can be read as a mild critique of Lüth’s claim that “viele Tausende von Sozialisten, Demokraten und Christen […] im Widerstand […] gestorben [sind].” Idem (ed.), Die Friedensbitte an Israel 1951, 114.

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Polish-Jewish family from Warsaw, heard the testimony of Hermann Gräbe, a German civil engineer who had saved Jews from mass killings in Ukraine.81 He returned to his community in California and established the Institute for Righteous Acts (now Jewish Foundation for the Righteous) in order to search for, make known and take care of the rescuers wherever they could be found. In 1963 he published an article, The Bias against Man, which encapsulates his thinking on and lifelong commitment to the work of remembrance in the following decades. “Memory is an ambiguous energy,” he began, “it can liberate or enslave, heal or destroy.”82 Specifically referring to the Holocaust he asked, “We dare not feign amnesia, but how are we to remember without destroying hope?”83 As “moral educator” he found the answer in the “moral act of remembering” which is to become the “father of conscience and of constructive repentance.”84 For him, simply remembering wrongdoing and pointing fingers at the wrongdoers is beside the point: “Rather than struggle against your verdict of me, I may adopt it and live up to the reputation you place upon me. […] Such resignation, however, leads to no constructive repentance, only to a brooding guilt.”85 In order to nurture this “constructive repentance,” Rabbi Schulweis opined that it is helpful to use examples of the righteous such as Gräbe. And to preempt the dismissive mantra that “these are but exceptions,” the Rabbi questioned, “Which per­ verse logic holds that we obliterate the memory of man’s nobility so as to preserve the memory of his degeneracy?”86 He justified the numerically dis­ proportionate value of the righteous by Judaic affirmations: “For the sake of thirty-six righteous, the world is sustained; for the sake of thirty right­ eous non-Jews, the Talmud declares, the nations of the world continue to exist; for the sake of ten good men, Sodom and Gomorrah would be spared; for the sake of two right­ eous women, Naomi and Ruth, the rabbis say, the nations of Moab and Ammon were spared. Who measures righteousness by number?”87

Due to the untiring efforts of Schulweis to spread the one good name of Gräbe in the United States, the German righteous, honored by Yad Vashem in 1965, occupies a special place in the remembrance of the Holocaust. He figured, for instance, as “Kurt Dorf,” or that unremitting voice of inner-Ger­ 81 About Gräbe, see Yad Vashem, Der Zeuge, der beschloss zu handeln. Hermann Fried­ rich Graebe. Deutschland, (15 September 2015). 82 Harold M. Schulweis, The Bias against Man, in: Journal of Jewish Education 34 (1963), no. 1, 6–14, here 7. 83 Ibid., 8. 84 Ibid., 9. 85 Ibid., 8. 86 Ibid., 12. 87 Ibid.

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man conscience, in the miniseries Holocaust (1978), written by Gerald Green, who had collaborated with Schulweis in promoting the righteous since 1962.88 Whether such examples of the righteous have had the educational effect intended is hard to measure. In any case, direct and perceptible responses to the voice of “turners” like Schulweis and Gollancz, or people who promul­ gate the teachings of mutual turning, are seldom documented. One of these rare examples is a German-Jewish dialogue crossing generations and identi­ ties. During the Eichmann trial, while some Israeli intellectuals were striving against the death penalty of the convicted Nazi, on the ground that only God could take away the “possibility of repentance,”89 another turner in Europe deliberated on how he could help Eichmann’s son “turn away” from his father. In two open letters to Klaus Eichmann, Günther Anders attempted to shed light on the difficult situation of the so-called “second generation,” that is, children with Nazi parents.90 Coming from a German-Jewish family, who had left Germany as the National Socialists rose to power, the philosopher endeavored to counter false condemnation on the one hand and point to the necessary transformation on the other. Right from the very beginning, Anders reassured his intended letter recipient that there is no generational guilt in the causal-biological sense: “Herkunft ist keine Schuld, niemand ist seines Ursprungs Schmied, auch Sie nicht.”91 The name Eichmann was abstracted by Anders as a concept and phenomenon, so that it ceased to be a stigma and began as a point of departure for common repentance:92 “Niemals darf er denjenigen bezeichnen, der von einem Eichmann abstammt, sondern immer nur denjenigen, der so fühlt, so handelt und so argumentiert wie ein Eichmann.”93 Anders diagnosed that the problem was not just “one Eichmann” but many “Eichmen” who had taken part in the institutional and industrial exter­

88 TV Tonight, in: Indiana Evening Gazette, 24 December 1962, 18. See also Gerald Green, The Legion of Noble Christians, or, The Sweeney Survey, New York 1965; here Gräbe also appears as Ludwig Helms, a fictive righteous sought after by a Schulweis-like char­ acter, Sherman Wettlaufer. 89 See Tom Segev, The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York 1993, 362. 90 On the problematic usage of this term, see Henryk M. Broder, Die Opfer der Opfer, in: Die Zeit, 14 July 1989. 91 Günther Anders, Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, Munich 1964, 5. 92 Comparable abstraction was also performed by other turners such as Max Picard in his book Hitler in uns selbst (Erlenbach-Zurich 1946) and André Glucksmann in his essay Hitler bin ich (Der Spiegel, 1 February 1989). 93 Anders, Wir Eichmannsöhne, 5 (emphasis in the original).

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mination of millions of human lives.94 With this phenomenal Eichmann, the letter writer fraternized with his addressee as “Eichmann’s sons”: “Merken Sie, daß das sogenannte ‘Eichmann-Problem’ kein gestriges Problem ist? […] Daß für uns […] gar kein Anlaß dazu besteht, dem Gestern gegenüber hochmütig zu sein? […] Daß wir alle also ebenfalls Eichmannsöhne sind? Mindestens Söhne der Eichmannwelt?”95

Anders even went further to identify Klaus as a “relative” of the victims, as among the “six million and one,” for they all belonged to the same “mother,” as “children of the same epoch.”96 From this viewpoint of stigma-breaking identification possibilities, the philosopher pointed to the “poison” and the “roots,” from which one must be courageous enough to see if he hopes for “healing” and “salvation.”97 This courage is likened to that of the sick, who are willing to undergo a necessary operation. Turning away from one’s own father is like “Operationssituationen, in denen auch Kranke den Mut aufbringen müssen, sich mit der Operation einverstanden zu erklären. Und in einer solchen Situation befinden Sie sich. Bitte bringen Sie den Mut auf […] von Ihrem Ursprung abzurücken. […] Lassen Sie ab davon, die alten Wege zu wiederholen.”98

Repentance as turning away from those “old ways” of one’s own father is the essential advice offered by Anders. Its demand is nothing more and nothing less than the willingness on the part of the later generation to fundamentally change and to allow others to help change their own “heart” (i. e. loyalty and piety, sense of pride and honor, etc.) and “spirit” (i. e. ways of thinking, life­ style, perceptions, etc.). A new bond and a new community await this essen­ tial act of turning, “Denn ‘ein Eichmann weniger’ würde für uns ja nicht bedeuten: ein Mensch weniger, sondern: ein Mensch mehr; und nicht, daß ein Mensch nun liquidiert sei, sondern daß ein Mensch nun zurückgekehrt sei.”99 According to the letter writer himself, the efforts were spent in vain, for no response came from the intended addressee.100 But Anders could have 194 195 196 197 198

Ibid., 17 f. Ibid., 56 (emphasis in the original). Ibid., 44. Ibid., 19–21. Ibid., 15. – See Eugen Kogon’s formulation in 1946: “Wir möchten […] den Leser […] zu notwendigen Scheidungen und Entscheidungen bringen, ihm Mut zum Nein geben und noch mehr Mut zum Ja. […] [W]ir möchten die Kraft des Herzens und des Geistes, die dazu gehört, mit Einsicht nähren.” See idem, An unsere Leser!, in: Frankfurter Hefte 1 (1946), no. 1, 1 f. 199 Anders, Wir Eichmannsöhne, 70 (emphasis added). 100 Idem, Zweiter Brief an Klaus Eichmann. Gegen die Gleichgültigkeit, in: idem, Wir Eich­ mannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, 2nd edition with an additional letter, Munich 1988, 76–97, here 78 f.

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found solace in the “belated harvest” of his sowing in a daughter of a Nazi family, who sought to expose and analyze the “nurturing grounds” in her family roots for anti-Semitism and for the expectation of a “redemptive” fig­ ure like Hitler.101 Born in 1943, Dörte von Westernhagen employed Anders’ concept of Mutterepoche in her own investigation of Die Kinder der Täter, especially the role of the mothers during the National Socialist era and their influence on their children. “Nicht nur die mehr oder minder belasteten Väter,” she wrote in 1986, “sondern auch die Mütter trugen zu Fehlentwick­ lungen der Kinder bei.”102 Her research on these mothers also included her own, to whom she remained “inwardly hopelessly bound.”103 Regarding the cross-generational influence from the Nazi mothers (or parents), she spoke of an almost mystical “contact” with the “incarnation of evil,” from which none was spared, not even those born late.104 She described her own conflict­ ing image of her father, who remained “infinitely influential” on her, and the “unrecognized identification” with the parents, of which she accused the stu­ dent movement of the sixties as a participant.105 With this self-diagnosis, Westernhagen lamented the seemingly inextric­ able entanglement of guilt as children of perpetrators: “Wir sind Kinder dieser Eltern […]. Ob wir wollen oder nicht, wir sind mit ihnen iden­ tifiziert und sei es auch nur in der Negation, im wütenden Einschlagen auf sie. ‘Schuld­ übernahme’, das ist offenbar nicht nur eine juristische Konstruktion des Zivilrechts.”106

She saw, however, real hope of disentanglement in the unreserved recogni­ tion of the guilt of the former generations as well as the equally unreserved “takeover” of that guilt. After applying Jaspers’ guilt concepts on her own father to discern his wrongdoing and failure on different levels, she came to the remarkable, even enigmatic conclusion: “Hier beginnt jedoch die Tradi­ tion, die Nicht-Entbindung. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich. Wir übernehmen die Schuld der Väter.”107 101 Dörte von Westernhagen, Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach, Munich 1987, 36. 102 Idem, Die Kinder der Täter, in: Die Zeit, 28 March 1986. 103 Idem, Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach, 216. 104 Ibid., 91. 105 Ibid., 219; idem., Die Kinder der Täter. 106 Idem, Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach, 224. 107 Ibid., 68 (emphasis added). This quote from Jaspers’ Die Schuldfrage (The Question of Guilt) refers in the original context to the author himself and all the able Germans who had survived the war. I doubt Jaspers would have agreed with this extension of “metaphy­ sical guilt” to cover even those not yet born when the atrocities took place. Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, 32. See also an alternative way of arriving at the con­ clusion of cross-generational Mithaftung by Jürgen Habermas, Vom öffentlichen Ge­ brauch der Historie, in: Die Zeit, 7 November 1986.

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This courageous takeover – despite all the risks of imperiling the most personal relationships as well as one’s own sense of self – would have hardly been imaginable without the optimism offered by turners such as Günther Anders and Ralph Giordano,108 whose advice of “turning away from your father”109 was at once incisive and solidary. This invitation to mutual-turning and co-repentance was perhaps by and large ignored or rejected, yet also responded to by some who had the “courage of the sick seeking healing.”

Conclusion: Translating Vergangenheitsbewältigung The biblical conception of repentance is a collaborative work involving both God and the sinner. It is not conceived as a task to be performed by the latter alone. The asymmetric nature of this mutuality can be gleaned from the var­ ious acts of turning encapsulated in the Bußpsalmen and related biblical texts. This essay shows that the process of asymmetric mutual turning is also observable in the phenomenon of Vergangenheitsbewältigung – in expres­ sions by and communication between perpetrators, victims, survivors, and their later generations. It was no exaggeration or presumption but factual description when the preeminent Israeli historian Yehuda Bauer proclaimed in the Bundestag in 1998, “Bei diesem Unterfangen sind wir, Deutsche und Juden, aufeinander angewiesen. Sie können die Erinnerungsarbeit nicht ohne uns bewältigen […]. Zusammen haben wir eine ganz besondere Verantwortung gegenüber der gesamten Menschheit.”110

It thus belongs perhaps to one of the greatest ironies of the twentieth century, in which Nazi Germany had sought to eliminate each and every single Jew within its reach, that postwar Germans have depended on the Jewish solution of repentance as a feasible way out of their unparalleled “national cata­ strophe.”111 The meaning of this extraordinary collaborative experience goes indeed beyond the German-Jewish relationship, for it raises new questions about collective reconciliation as a common problem among peoples. 108 Giordano’s concept of the “second guilt” is first and foremost in defense of the “second generation,” the “innocently burdened” ones, against the “organized impenitence” of the generations of parents and grandparents. It is, however, also a challenge for the second generation not to bring this guilt forward to the third. See Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Köln 2000, 13, 17 and 22. 109 Anders, Wir Eichmannsöhne, 73. 110 Yehuda Bauer, Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpre­ tationen und Re-Interpretationen, Frankfurt a. M. 2001, 327. 111 Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen 1945, with an essay by Hans Mayer, Hamburg 1992, 36.

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Observed from the Asiatic periphery, German Vergangenheitsbewältigung cannot but encounter problems of comparability and utility: Is this “German example” applicable in other cultural contexts with other historical traumata? What can this Jewish-German experience of mutual turning offer other wounded collective relationships? Many Chinese commentators have in fact affirmed implicitly the applicability of this experience, when they are only too eager to use Germany as “Moralkeule” to beat an allegedly “impenitent” Japan. At the same time, many Germans feel uneasy about praising their own “exemplarity.” “The Holocaust is unique,” they are inclined to say. Read: The Vergangenheitsbewältigung is also unique; there is nothing in it for the Japanese – demanded by the Chinese or not – to “imitate.” In order to answer this question concerning the transferability of the phe­ nomenon of coming to terms with the past, it is suggested here to move away from the polemic approach and see historically if in the area of cultural exchange attempts of transference have already been made by social actors, and what difficulties and possibilities they have encountered and discovered. In this way one can at the least acquire some factual basis for deliberation. To conclude this essay, I will cite one such example in which the importance of intellectual resources for coming to terms with the past is highlighted. After Emperor Hirohito (posthumously Showa) had passed away in 1989, the question of war guilt revived in Japan, culminating in the “Murayama Statement” of 1995.112 One of the social actors in this intra-Japanese debate was the distinguished Germanist Tatsuji Iwabuchi, who held a lecture in Tokyo shortly after the controversial statement with the title “Die Vergan­ genheitsbewältigung und die japanische Literatur.” In this short exposition, he documented some of the early attempts by Japanese writers to grapple with the theme. One of the earliest was Tatsuzo Ishikawa, who had written on the Nanking Massacre and suffered persecution for that.113 Iwabuchi’s goal, however, was not to defend Japan’s record of coming to terms with the past, but to show, in comparison with Germany, how much “weaker and smaller” the Japanese phenomenon had been.114 He bemoaned the lack of tenacity in Japan to come to terms with its past, not the least with the pro­ blem of bystanders.115 It is obvious what Iwabuchi was trying to do: to use the German mirror in shedding light on his own national inadequacies in Vergangenheitsbewältigung. 112 For more about the legacy of this historic statement by the then Japanese Prime Minister Tomiichi Murayama, see Kazuhiko Togo (ed.), Japan and Reconciliation in Post-War Asia. The Murayama Statement and Its Implications, New York 2013. 113 See a translation of this text in Tatsuzo Ishikawa, Soldiers Alive, Honolulu 2003. 114 Tatsuji Iwabuchi, Die Vergangenheitsbewältigung und die japanische Literatur, Tokio 1997, 3. 115 Ibid., 19–21.

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In his observation, religious traditions also seemed to have played a role in this phenomenon, for “Japan lacks terms such as guilt and atonement, which stem from a Christian background.” (“daß es in Japan an Begriffen wie Schuld und Sühne mangelt, die eigentlich von einem christlichen Hin­ tergrund kommen”).116 He further opined that coming to terms with the past cannot go far where there is only fear of public punishment but not fear of one’s own conscience.117 Here is not the place to argue with Iwabuchi whether one could take for granted that Christian ideas have currency for all victim groups of National Socialism,118 or whether one could neglect the Jewish roots of these concepts. In any case, his instinct for the connection between intellectual resources and social coming to terms with the past deserves a closer look. One of the intellectual-structural difficulties within intra-Japanese debates about the German example of Vergangenheitsbewältigung is precisely the content of repentance. One of Iwabuchi’s opponents, fellow Germanist Satoshi Tanaka, rejected the comparison with Germany because the past in question refers to the genocide of the Jews, which is unprecedented in his­ tory, therefore, Vergangenheitsbewältigung is only a problem for Germany, not for Japan.119 Furthermore, the German postwar experience is not so exemplary at all, for according to Kanji Nishio, another Germanist, the famous 1985 speech of Weizsäcker was but a lie. Tanaka quoted Nishio’s essay, originally published in Japanese, with the title Der Betrug um die Abbitte-Rede von Bundespräsident Weizsäcker: “Wenn die Deutschen es so sähen, daß dieses in der Geschichte beispiellose Verbrechen ein vom deutschen Volk begangenes Verbrechen ist, müßten sie – nach Nishio – auch die Ausrottung des deutschen Volks hinnehmen […]. Nishio sagt, daß er in der Rede von Weizsäcker mehr Furcht als Gebet findet.”120

What is astonishing is not so much Nishio’s distorted interpretation of Weiz­ säcker’s speech, but the idea that collective repentance means the acceptance of collective death penalty, i. e. collective suicide. Such a notion, though per­ haps “self-explanatory” in some moral universes, is entirely alien in JewishGerman mutual-turning, for in the biblical conception, repentance does not require death, rather, it is conceived as a life-saving device (Ez 18:32). The

116 Ibid., 3. 117 Ibid., 12. 118 I would like to thank Prof. Manfred Henningsen for this critique of my earlier work on the topic. 119 Cit. in Martin Kaneko, Über japanische Geschichtsleugner. Professoren-Ignoranz oder ist Vergangenheitsbewältigung nur ein Problem der Deutschen?, in: Nachrichten der Gesell­ schaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 165/166 (1999), 19. 120 Ibid., 20 (emphasis added).

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claim of death as collective repentance is also rejected by Maimonides, for whom the difference between the “children of Israel” and the Gibeonites was demonstrated when the latter demanded the execution of Saul’s sons as Israel’s atonement.121 If collective repentance meant collective suicide, the concept would have been unusable in coming to terms with the past, and hence – in this qualified sense – its justified rejection. It is therefore highly questionable whether the request from some in China and Korea for shazai (or apology) from present-day Japan in fact contributes to “constructive repentance” (Schulweis), when shazai (or xiezui in Mandarin) is linked to a suicidal notion of repentance.122 Aside from death as repentance, the abuse of the “perpetrators’ children” also counts among the concerns of Japanese opponents of Vergangenheitsbe­ wältigung. Iwabuchi quoted someone criticizing it as “masochistic historio­ graphy,” who resented that Japanese children were “always teased by Ko­ rean children” because of the history of the so-called “comfort women”, i. e. sexual slavery during militarist Japan.123 It is clear that the source of resent­ ment, which has developed into a general rejection of Vergangenheitsbewäl­ tigung, was the use of shaming as a social-educational method. One wonders how things would have turned out differently had there been voices like Anders’ and Giordano’s in Korea and China defending the dignity of these children and guiding them towards healthy and feasible – though still always painful – “turning away” from the old ways of their former generations. Despite all the intellectual-structural difficulties, the German experience of Vergangenheitsbewältigung does offer ample possibilities in East Asia. Iwabuchi himself frontally challenged Japan’s victim-identification by recal­ ling his own war experiences as a child and by way of contrafactual reflec­ tion on atomic weapons.124 Other Germany experts like Yuji Ishida made use of Daniel Goldhagen’s concept of “ordinary Germans” to analyze the mili­ tarist criminals in the Nanking Massacre as “ordinary Japanese.”125 Finally, there are also a few individuals in China who uphold the German mirror of coming to terms with the past to raise new questions about China’s own

121 Maimonides, Die Lehre von der Buße, 427. See 2 Sam 21:1–14. 122 See Alexis Dudden, Troubled Apologies among Japan, Korea, and the United States, New York 2008, 58. Yisi xiezui (literally: using death to give thanks to guilt) is one of the com­ mon Chinese expressions signifying the proper attitude of the guilty towards the emperor. 123 Cit. in Iwabuchi, Die Vergangenheitsbewältigung und die japanische Literatur, 31. 124 In Iwabuchi’s words: “Wenn die Japaner die Atombomben früher als die Amerikaner ent­ wickelt und damit einen Sieg davongetragen hätten, hätten die meisten kein Schuldgefühl wegen der Benutzung dieser Waffe.” Ibid., 15 f. 125 Yuji Ishida, Das Massaker von Nanking und die japanische Öffentlichkeit, in: Chris­ toph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (eds.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a. M. 2004, 233–242.

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undemocratic history and ways of dealing with historical wounds.126 All these attempts have contributed, with different degrees of success and short­ coming, to making German Vergangenheitsbewältigung “usable.”127 In one way or another, these East Asian turners have tried to “translate” the German word and phenomenon: putting the words of turning into their own relational context. It is not so much about finding the fitting definition of the word in one’s own language, but more about finding the corresponding expression of its spirit in one’s own speech; it is never mere copying and transferring, but always a process of creating new expressions in, as Martin Buber put it, the “given historical and biographical situations,” where there are opportunities for the reconstruction of the “order of being” injured by wrongdoing in the past.128 According to Rabbeinu Yonah, the repentant ones are duty-bound to help others repent.129 Herein lies the challenge for the German-Jewish relation­ ship seventy years after the end of the Holocaust: How can one practically fulfill this task despite all the dangers of hidden arrogance on the one side and genuine misunderstanding on the other?130 In support of this Lernprozess at the service of coming to terms with the past in East Asia, the author would like to take part in Iwabuchi’s declaration: “Ich möchte gern auch weiterhin von der deutschen Vergangenheitsbewältigung lernen und das Gelernte für meine weitere Beschäftigung mit der japanischen [oder chinesi­ schen] Vergangenheitsbewältigung anwenden.”131

126 See for example Jie Yu, Cong bo lin wei qiang dao tian an men. Cong de guo kan zhong guo de xian dai hua zhi lu [From Berlin Wall to Tiananmen. Reviewing China’s Road to Modernization from the German Experience], Taipei 2009; Man-Tao Leung, Wei shen me ri ben bu xiang de guo? [Why Japan Is Not Like Germany?], 2 pts., in: Ming Pao, 4 and 11 May 2005. 127 Alfred Grosser, Vergangenheitsbewältigung. Rede an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gehalten am 18.5.1994, Jena 1994, 7. 128 Martin Buber, Schuld und Schuldgefühle, Heidelberg 1958, 41. 129 “Turning others away from sin as much as you can” is the twentieth principle of tshuva. Yonah, The Gates of Repentance, 70. 130 See Lily Gardner-Feldman’s clarion call: idem, Ihr seid Vorbild, in: Die Zeit, 12 April 2014. 131 Iwabuchi, Die Vergangenheitsbewältigung und die japanische Literatur, 23.

Schwerpunkt Geschichte choreografieren: Zur Theatralisierung der Gedächtnisse nach 1945

Herausgegeben von Jörg Deventer und Stefan Hofmann

Jörg Deventer und Stefan Hofmann

Einführung Theater und Film prägen die Wahrnehmungsgeschichte des nationalsozialis­ tischen Massenmords an den europäischen Juden. Bereits 1943 wählte der amerikanische Journalist, Schriftsteller und Regisseur Ben Hecht die Form eines pageant – einer amerikanischen Theatergattung mit appellierendem Charakter –, um die amerikanische Öffentlichkeit auf den Holocaust auf­ merksam zu machen. Das Stück, zu dem der aus Deutschland emigrierte Kurt Weill die Musik schrieb, trug den Titel We Will Never Die. Es erreichte noch am Tag der Uraufführung im New Yorker Madison Square Garden 40 000 Zuschauer. Daran anschließend griffen amerikanische Zeitungen das Thema des Stücks auf und berichteten von nun an verstärkt über die anti­ semitischen Gräueltaten der Nationalsozialisten in Europa.1 Nach dem Krieg entstanden aus dokumentarischem Filmmaterial, das alliierte Soldaten bei der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager aufgenommen hatten, zehn sogenannte Atrocity-Filme. Zunächst waren diese Filme vor allem als Beweismittel in Nachkriegsprozessen vorgesehen. Doch angesichts der Grausamkeit der nationalsozialistischen Verbrechen entschieden die alliierten Militärregierungen, die Filme deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung vorzuführen, um sie mit der Judenvernichtung zu kon­ frontieren und sie zu beschämen. Auf diese Weise wurden die AtrocityFilme zu einem Bestandteil der Politik der Reeducation.2 In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde der Judenmord in der west­ deutschen Öffentlichkeit weitestgehend verdrängt. Dies änderte sich erst mit der Bühnenadaption des Tagebuchs der Anne Frank, die 1955 ihre Urauffüh­ rung am Broadway und im Jahr darauf ihre deutschsprachige Erstaufführung gleichzeitig an sieben Theatern erlebte.3 Seitdem wurde das Stück an zahl­ 1

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Stephen J. Whitfield, The Politics of Pageantry, 1936–1946, in: American Jewish History 84 (1996), H. 3, 221–251, hier 234–244; Peter Petersen, Art. »Misuk«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaf­ ten zu Leipzig hg. von Dan Diner (nachfolgend EJGK), Bd. 4, Stuttgart 2013, 204–212, hier 211 f.; Robert Skloot, »We Will Never Die.« The Success and Failure of a Holocaust Pageant, in: Theatre Journal 37 (1985), H. 2, 167–180. Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012; dies., Zeichen der Scham. Reaktionen auf alliierte atrocity-Filme im Nachkriegsdeutschland, in: Mittelweg 36 23 (2014), H. 1, 3–29. Anat Feinberg, Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama, Köln 1988, 20. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 159–166.

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reichen amerikanischen und westeuropäischen Theatern inszeniert und gab den Anstoß zur breiten Rezeption des Tagebuchs, das zum meistgelesenen literarischen Dokument zur Geschichte der antijüdischen Politik der Natio­ nalsozialisten avancierte.4 In den 1960er Jahren lösten Theaterstücke wie Rolf Hochhuths Der Stell­ vertreter und Peter Weiss’ Die Ermittlung kontroverse Diskussionen über die Rolle des Vatikans und der katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg sowie über die Darstellungsweise des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und ihre Wirkung aus.5 Parallel zu den Uraufführungen nahm sich die Geschichtswissenschaft verstärkt der Erforschung des Holocaust an und wurde hierbei oftmals von den öffentlichen Debatten um die Theaterstücke angeregt.6 In den späten 1970er und den 1980er Jahren prägten zwei Filme die Wahrnehmung des nationalsozialistischen Massenmords, die unter­ schiedlicher nicht sein konnten: die fiktionale TV-Miniserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (Marvin J. Chomsky, USA 1978) und der Dokumentarfilm Shoah (Claude Lanzmann, Frankreich 1985). Beide Film­ projekte hatten entscheidenden Einfluss auf die Benennung der nationalso­ zialistischen Judenvernichtung. So setzte sich der Begriff »Holocaust« mit der Ausstrahlung der Fernsehserie in der Bundesrepublik Deutschland durch.7 Der Terminus »Schoah«, der bereits in Israel für den Judenmord gebraucht wurde, verbreitete sich durch Lanzmanns Dokumentarfilm auch in Westeuropa und den Vereinigten Staaten.8 Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben theatrale und filmische Dar­ stellungen des Nationalsozialismus und des Holocaust nochmals zugenom­ men. Filme wie Schindlers Liste (Steven Spielberg, USA 1993) tragen mit ihren Bildern und Narrativen zur Konstruktion historischer Gedächtnisse bei. Vermutlich entfalten sie eine breitere Wirkung als zum Beispiel Bücher oder schulischer Unterricht. Ihre Erzählstränge und szenischen Darstellun­ gen formen ein Bild von Geschichte in Ausschnitten, die von den am Film oder an der Theaterinszenierung beteiligten Personen ausgewählt wurden. Somit unterliegt die Repräsentation von Geschichte zunächst der Interpreta­ tion des Geschehenen durch den Künstler. Gerade erfolgreiche Filme stellen einen Bilder- und Szenenfundus für kollektive Gedächtnisse bereit und tra­

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Raphael Gross/Laura Robertson, Art. »Tagebuch«, in: EJGK, Bd. 6, Stuttgart 2015 (im Erscheinen). Michael Bachmann, Art. »Stellvertreter«, in: EJGK, Bd. 5, Stuttgart 2014, 586–592. Saul Friedländer, Deutungen und Erklärungen. Tendenzen der Holocaust-Historiografie, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 67–79. Adrian Daub, Art. »Holocaust«, in: EJGK, Bd. 3, Stuttgart 2012, 94–99. Gertrud Koch, Art. »Schoa«, in: EJGK, Bd. 5, 371–376.

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gen damit zu deren Homogenisierung bei.9 Mit dem Tod der letzten Zeitzeu­ gen des Holocaust werden persönliche Erinnerungen zunehmend durch gespeicherte filmische Bilder ersetzt, die kollektive Gedächtnisse dominie­ ren.10 Die Thematisierung von Geschichte auf der Bühne und im Film löst jedoch weder einseitig gesellschaftliche Debatten aus, noch hat sie aus­ schließlich eine uniforme Hervorbringung »erfundener Erinnerung« zur Folge11 oder bildet lediglich statisch den gesellschaftlichen Umgang mit historischen Fragen ab. Vielmehr sind die Darstellung von Geschichte, die Publikumsreaktionen darauf und die sich hieran anschließenden Debatten als dynamische Prozesse der Aushandlung zu betrachten. Verschiedene Gruppen von Zuschauern reagieren auf unterschiedliche Weise auf das Gezeigte, signalisieren ihre Zustimmung oder Ablehnung und tragen ihre Geschichtsbilder in den öffentlichen Diskurs. Dabei stehen diese Aushand­ lungsprozesse in engem Zusammenhang mit Vorstellungen und Assoziatio­ nen, die den jeweiligen historischen Gedächtnissen entstammen. In Bezug auf Darstellungen des Holocaust erhalten diese Aushandlungsprozesse und deren Auswirkungen auf Debatten über den nationalsozialistischen Massen­ mord sowie auf die Formierung von diesbezüglichen Gedächtnissen den Stellenwert historischen Quellenmaterials. Die zu Beginn erwähnten Theaterstücke und Filme weisen in diesem Zusammenhang trotz zum Teil immenser Unterschiede einige Gemeinsam­ keiten auf: Sie bildeten einerseits den Umgang von Theater- und Filmkünst­ lern wie auch den der jeweiligen Gesellschaften mit dem Holocaust ab und beförderten andererseits eine öffentliche Auseinandersetzung. Diese Ambivalenz der Rolle von Film und Theater konstatierte bereits Theodor W. Adorno anlässlich von Berichten über Zuschauerreaktionen auf das Theater­ stück Das Tagebuch der Anne Frank. In den Inszenierungen der 1950er Jahre stand das Leiden eines einzelnen Mädchens im Vordergrund; dessen jüdische Zugehörigkeit wurde dabei aber kaum zum Thema gemacht. Adorno erwähnte in diesem Zusammenhang die Reaktion einer Zuschaue­ rin, von der er gehört habe, dass sie nach der Aufführung gesagt hatte: »Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.« So prob­ lematisch die Bühnenfassung, die zu dieser Ausage führte, war, an deren Ende Anne ihrem Glauben an das Gute im Menschen Ausdruck gibt und die somit ihre Geschichte gleichsam als Geschichte des Überlebens zeigt – sie

19 Anton Kaes, Public Memory in the Age of Electronic Dissemination, in: History and Memory 2 (1990), H. 1, 111–129, hier 112. 10 Ebd., 120 f. 11 Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004.

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regte seinerzeit dennoch Debatten über den Holocaust an. Bei aller Kritik an der Thematisierung des Einzelfalls, der nach Adorno »durch seine eigene Individuation zum Alibi des Ganzen« wurde, konnte auch er der Notwendig­ keit der Aufführung des Stücks nicht entgegentreten: »Das Vertrackte solcher Beobachtungen bleibt, daß man nicht einmal um ihretwillen [jener Zuschauerin] Aufführungen des Anne Frank-Stücks, und ähnlichem, widerraten kann, weil ihre Wirkung ja doch, so viel einem daran auch widerstrebt, so sehr es auch an der Würde des Toten zu freveln scheint, dem Potential des besseren zufließt.«12

Tatsächlich waren und sind Theaterstücke und Filme, die dem Publikum die Identifikation mit einem Einzelschicksal ermöglichen, besonders erfolg­ reich.13 Eine ähnlich ambivalente Haltung wie Adorno nahm Siegfried Kracauer ein. Kracauer hatte in den 1920er Jahren Filmen eine per se affirmative Ten­ denz bescheinigt. Sie seien »Spiegel der bestehenden Gesellschaft« und zeigten die »Tagträume« des Publikums, nähmen jedoch niemals eine wahr­ haft kritische Perspektive gegenüber der bestehenden Gesellschaft ein. Filme über historische Gegenstände kritisierte Kracauer als »Blendungsver­ suche«, die letztlich das dominante Geschichtsbild einer Gesellschaft repro­ duzierten.14 In den 1940er Jahren untersuchte Kracauer im amerikanischen Exil das Kino der Weimarer Republik als Reflexion von »Tiefenschichten der kollektiven Mentalität«.15 Er schloss von populären Filmmotiven auf innere Bedürfnisse des Publikums und suchte so mittels einer psychologi­ schen Geschichte des Films zum Verständnis des Aufstiegs der Nationalso­ zialisten beizutragen. Trotz dieser Befunde schrieb Kracauer Filmen auch ein aufklärerisches Potenzial zu. In seinem erstmals 1960 in den Vereinigten Staaten erschienenen Spätwerk Theorie des Films stellte er die Eigenschaft filmischer Darstellungen heraus, Realität auf präzisere Weise einzufangen und der Reflexion der Zuschauer preiszugeben, als dies mit dem bloßen Auge möglich sei. Dieses, dem Medium Film inhärente, emanzipatorische Moment erkannte Kracauer gerade auch in Darstellungen der Ermordung der europäischen Juden. Mittels einer Denkfigur – der Legende von Perseus,

12 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders., Gesam­ melte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, 20 Bde., Frankfurt a. M. 1970–2003, hier Bd. 10.2, 2003, 555–572, hier 571. 13 Andreas Huyssen, The Politics of Identification. »Holocaust« and West German Drama, in: New German Critique 19 (1980), H. 1, 117–136. 14 Siegfried Kracauer, Film und Gesellschaft (Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino), in: ders., Werke, hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, 9 Bde., hier Bd. 6.1: Kleine Schriften zum Film 1921–1927, Frankfurt a. M. 2004, 308–322, hier 308–310. 15 Ders., Werke, Bd. 2.1: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deut­ schen Films, Berlin 2012, 15.

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der Medusa in der Reflexion seines Schilds betrachtete, um sie zu enthaup­ ten – verteidigte er das Wahrheitsmoment der filmischen Bilder und damit die Wirkung von Filmen über den Holocaust. Demnach ermöglichten es filmische Darstellungen, dem »Gedächtnis [des Publikums] das wahre Angesicht von Dingen einzuprägen, die zu furchtbar sind, als daß sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten. Wenn wir […] die Haufen gemarterter menschlicher Körper in Filmen über Nazi-Konzentrations­ lager erblicken – und das heißt: erfahren –, erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie. Diese Erfahrung ist befreiend insofern, als sie eines der mächtigsten Tabus beseitigt. Perseus’ größte Tat bestand vielleicht nicht darin, daß er die Medusa köpfte, sondern daß er seine Furcht überwand und auf das Spiegelbild des Kopfes im Schild blickte. Und war es nicht gerade diese Tat, die ihn befähigte, das Ungeheuer zu enthaupten?«16

Dieses ambivalente Verhältnis von visueller Darstellung des Holocaust und ihrer Wirkung ist seit den 1980er Jahren zu einem produktiven Forschungs­ zweig der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie der Literatur- und Geschichtswissenschaften avanciert.17 Gerade in den letzten 15 Jahren sind zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Darstellung des nationalsozialistischen Judenmords befassen.18 So haben sich Untersuchungen etwa mit der Verkörperung von Gedächtnis am Bei­ spiel eines jüdischen Theaterschaffenden nach 1945 oder mit ikonischen Bühnenrollen beschäftigt, die nach 1945 mit dem Holocaust assoziiert wur­ den.19 Auf der Basis dieser neueren Erkenntnisse widmete sich das Forschungs­ kolloquium des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur im Sommersemester 2014 der fiktionalen und dokumentarischen Repräsen­ tation von Geschichte. Im Zentrum des Interesses stand die Rolle von Film 16 Ders., Bd. 3: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang »Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films, Frankfurt a. M. 2005, 469. 17 Zu den frühen Arbeiten in diesem Themenbereich zählen Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 1984; Feinberg, Wiedergutmachung im Programm; sowie Anton Kaes, From Hitler to Heimat. The Return of History as Film, Cambridge, Mass., 1989. 18 So nimmt etwa die Repräsentation des Holocaust einen zentralen Platz in der Studie von Freddie Rokem zur Darstellung von Geschichte im Theater ein: ders., Geschichte auffüh­ ren. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater, Berlin 2012. Zu Referenz­ werken haben sich darüber hinaus Annette Insdorf, Indelible Shadows. Film and the Holocaust, Cambridge u. a. 2003, sowie Claude Schumacher (Hg.), Staging the Holo­ caust. The Shoah in Drama and Performance, Cambridge u. a. 1998, entwickelt. 19 Siehe beispielhaft Michael Bachmann, Fritz Kortner on the Post-War Stage. The Jewish Actor as a Site of Memory, in: Edna Nahshon (Hg.), Jews and Theater in an Intercultural Context, Leiden/Boston, Mass., 2012, 197–217; sowie Zeno Ackermann/Sabine Schülting (Hgg.), Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur, Berlin 2011.

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und Theater in der Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust. Ausgehend von der Prämisse, dass die Wahrnehmung historischer Ereignisse nachhaltig von deren filmischer und theatraler Repräsentation geprägt ist, wurde der Frage nachgegangen, wie Bilder des Holocaust sich im theatralen und filmi­ schen Raum verändern und wie auf Bühne und Leinwand Historisches sich mit der Gegenwart verknüpft. In den Vorträgen des Kolloquiums stellten Theater-, Film- und Medienwissenschaftler, Philologen und Historiker Überlegungen zur Wirkung visueller Darstellungen des Holocaust an. In die­ sem Rahmen war auch Joshua Sobol zu Gast, einer der bekanntesten israeli­ schen Dramatiker, der mit seinem Stück Ghetto (1984) erstmals einen Ort der Gettoisierung und Vernichtung – das Wilnaer Getto – auf der Theater­ bühne darstellte und damit sowohl in Israel wie auch in Deutschland Diskus­ sionen über die Repräsentation des Judenmords auslöste. Auf der Grundlage der Vorträge und Diskussionen dieses Forschungskolloquiums ist der vorlie­ gende Schwerpunkt entstanden. Die hier versammelten Beiträge untersuchen aus unterschiedlichen Per­ spektiven visuelle Darstellungen der nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Rolle in der Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust seit der unmittel­ baren Nachkriegszeit. Dabei liegt ein deutlicher Schwerpunkt auf theatralen und filmischen Repräsentationen in den beiden deutschen Staaten sowie in Israel. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass sowohl in Deutschland als auch in Israel der Holocaust zu einem zentralen Moment des nationalen Selbstverständnisses geworden ist.20 Mehrere Beiträge machen Assoziatio­ nen und Bilder zum Thema, die Elemente historischer Gedächtnisse sind und als visuelle Codes spezifische Erinnerungen aufrufen. Zudem widmen sich die Aufsätze der historischen Konstellation der jeweiligen Erinnerung an den Holocaust, indem sie der Verhandlung politischer und gesellschaftli­ cher Zeitfragen in der Repräsentation des Judenmords nachgehen und die Auswirkungen der historischen Situation auf die Darstellung der nationalso­ zialistischen Verbrechen mit einbeziehen. Der Beitrag von Matthias Naumann kreist um die Thematisierung der Schoah in israelischen Theaterstücken, die sich mit politischer Gewalt und Krieg beschäftigen. Dabei zeigt er auf, dass der israelische Kriegsdiskurs, der sich sowohl um die Fähigkeit des Staates, seine Bevölkerung zu schüt­ zen, als auch um das Verhalten israelischer Soldaten in Kriegseinsätzen dreht, beständig mit der Erinnerung an den systematischen Judenmord in Verbindung gebracht wird. Naumann arbeitet anhand von Stücken über die israelisch-arabischen Kriege und den Palästinakonflikt von den späten 20 Dan Diner, Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: ders. (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987, 185–197; Rokem, Geschichte aufführen, 55.

Einführung

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1940er bis in die 1990er Jahre heraus, wie Erinnerungen an die Schoah durch Bilder, Handlungen sowie Konstellationen im Assoziationsraum des Theaters aufgerufen und mit zeitgenössischen Fragen im Kriegsdiskurs ver­ bunden wurden. Dagegen betrachtet Theresa Eisele den Umgang mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust in der DDR anhand von Musik und Theater. Sie untersucht die verspäteten Uraufführungen von Paul Dessaus und Bertolt Brechts Deutsches Miserere und der von Dessau initiierten deutsch-deutschen Gemeinschaftskomposition Jüdische Chronik. Dabei zeigt sie, wie die Geschichts- und Kulturpolitik der DDR die geplante Uraufführung von Deutsches Miserere 1951 verhinderte und bis 1966 hinauszögerte. Die Erstaufführung von Jüdische Chronik, ebenfalls 1966, war hingegen 1961 aufgrund des Mauerbaus nicht zustande gekommen. Anhand der Auseinandersetzungen der beteiligten Künstler um die Gemein­ schaftskomposition und um die Ereignisse des Jahres 1961 verweist Eisele auf die konkurrierenden Gedächtnisse in Ost- und Westdeutschland. Mit den Darstellungen von Deutschland und deutschen Figuren im israeli­ schen Kino behandelt der Aufsatz von Hilla Lavie ein Thema der israeli­ schen Filmgeschichte, dem in der Forschung bisher kaum Aufmerksamkeit zuteil wurde. Die Autorin untersucht die Genealogie dieser Darstellungen von den 1950er bis in die 1990er Jahre. Dabei zeigt sie, wie das Bild der israelisch-deutschen Beziehungen sich veränderte und wie es die Erinnerung an den Holocaust und ebenso das israelische Selbstverständnis prägte. Auch hier waren es vor allem Bilder und Vorstellungen, die in Repräsentationen von Deutschland oder von deutschen Figuren mit der Erinnerung an den Judenmord verbunden wurden. Die Verknüpfung szenischer Konstellationen mit historischen Gedächtnis­ sen bildet auch das Zentrum des Beitrags von Tobias Ebbrecht-Hartmann. Er analysiert anhand der Reaktionen der westdeutschen Linken auf die TVMiniserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss und auf den Film Victory at Entebbe (Marvin J. Chomsky, USA 1976) deren Wahrnehmung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Die Selektion der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren des von einem deutsch-paläs­ tinensischen Terrorkommando entführten Air-France-Fluges im Jahr 1976 in Entebbe weckte bei zahlreichen zeitgenössischen Beobachtern Assozia­ tionen mit dem Holocaust. Während viele westdeutsche Linke die Emotio­ nalisierung wie auch die filmische Narration der beiden Werke des Regis­ seurs Marvin J. Chomsky beklagten und sie aus einer antiamerikanischen und antizionistischen Perspektive heraus ablehnten, gingen Mitglieder der terroristischen Organisation Revolutionäre Zellen weiter: Sie platzierten Sprengsätze in zwei Kinos, in Düsseldorf und Aachen, die Victory at Entebbe zeigten.

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In dem abschließenden Beitrag des Schwerpunkts analysiert Hannah Mai­ schein die Darstellung des Selbstbilds als Augenzeuge des Holocaust im polnischen Kino. Damit widmet sie sich einem Thema, das seit dem Zusam­ menbruch des Sozialismus für kontroverse Diskussionen sorgt. Anhand filmischer Darstellungen von den 1950er bis in die 2000er Jahre geht Mai­ schein der Verdrängung polnischer Schulddiskurse und deren Wiederkehr nach. Sie verweist auf die Genese kommunistischer Geschichtspolitik ebenso wie auf den Einfluss innen- und außenpolitischer Erwägungen und historischer Konstellationen auf die Visualisierungen des Verhältnisses zwi­ schen Polen und Juden während des Zweiten Weltkriegs und zeigt die Apo­ rien des polnischen Gedächtnisses in ihrer historischen Entwicklung auf.

Matthias Naumann

Krieg in der Gegenwart und Erinnerung an die Schoah: Verflechtungen und Fragmentierungen im israelischen Theater

Geschichte und Möglichkeit Als Hiob in Hanoch Levins (1943–1999) im Jahr 1981 uraufgeführtem Stück Hiobs Leiden (Jesure Ijov)1 alles genommen wurde, ruft er den In-dieTat-Umsetzenden, die ihm gerade seinen letzten Besitz genommen, die Klei­ der vom Leib gerissen haben, zu: »Hiob: Ihr habt die Goldzähne vergessen! Ich habe auch Goldzähne im Mund! (Er öffnet seinen Mund.) Chef der In-die-Tat-Umsetzenden: Sei nicht lächerlich. Versuch nicht, aus uns Ungeheuer zu machen. Wir sind alle nur Menschen, wir kehren alle nach Hause zurück zur Frau, den Hausschuhen und einem Teller heißer Suppe. (Die In-die-Tat-Umsetzenden gehen ab.)«2

Es folgt ein Moment des Aufschubs der Drohung, die im Raum stand. In die­ sem Moment klagt Hiob sein Leid, bis kurz darauf die In-die-Tat-Umsetzen­ den zurückkehren und die Drohung doch wahr machen. Dabei ist es dieser von Reflexion und Hoffnung gekennzeichnete Moment des Aufschubs, der den Vollzug noch grausamer wirken lässt.3 »Chef der In-die-Tat-Umsetzenden: Öffne den Mund und lass keinen Laut hören, wenn doch – stirbst du! 1 2

3

Jesure Ijov [Hiobs Leiden], Uraufführung (nachfolgend UA): Kameri, Tel Aviv 1981, Regie: Hanoch Levin. Hanoch Levin, Job’s Sorrows, in: ders., Plays, 10 Bde., hier Bd. 3, Tel Aviv 51999, 53–103, hier 68 f. (hebr.). – Alle Übersetzungen aus dem Hebräischen in diesem Aufsatz stammen, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser. – Zu Hiobs Leiden siehe auch Freddie Rokem, The Logic of/in Tragedy. Hanoch Levin’s Drama »The Torments of Job«, in: Modern Drama 56 (2013), H. 4, 521–539. Zur Dramaturgie der Drohung als Grundmuster in Levins Theater siehe Matthias Nau­ mann, Dramaturgie der Drohung. Das Theater des israelischen Dramatikers und Regis­ seurs Hanoch Levin, Marburg 2006. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 167–193.

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(Hiob öffnet seinen Mund weit. Der Chef der In-die-Tat-Umsetzenden bricht die Gold­ zähne heraus. Hiob ist kurz davor, infolge des Schmerzes zu schreien.) Ein Zahn, zwei, drei … Nein, kein Laut! Verschluck den Schrei! Es tut dir weh? Der Mund blutet? Beiß auf die Lippen! Verschluck den Schrei! Hilf mir, hier eine schöne und reibungslose Arbeit zu beenden. (Geht ab. Hiob schreit ohne Stimme.)«4

Nachdem Hiob bereits zahlreiche Gewaltsamkeiten und Erniedrigungen erleiden musste, bleibt ihm nur ein stummer Schrei angesichts dessen, was hier bildhaft die Schoah in den Assoziationsraum des Theaters ruft, ohne dass das Stück explizit die Schoah als Thema oder Gegenstand verhandeln würde. Die Bedrohlichkeit der Szene entsteht gerade aufgrund des Wissens um eine historische Erfahrung, die hier in verschiedenen Aspekten aufgeru­ fen wird. Dazu gehört zum einen die Verwertung der Körper derjenigen, die verfolgt, beraubt, erniedrigt und schließlich ermordet werden (was für Hiob noch folgen wird), symbolisiert im Bild der herausgebrochenen Goldzähne, zum anderen der Hinweis des Chefs der In-die-Tat-Umsetzenden auf die Normalität der Täter. Der beruhigenden Absicht dieses Hinweises läuft das durch ihn aufgerufene historische Wissen über die Täter zuwider. Denn diese erscheinen nicht einfach nur als Ungeheuer, sondern leben mit ihren Familien und kehren nach Hause zur Suppe zurück. Während ihrer »Arbeit« als Rad der Vernichtungsmaschinerie werden sie von dieser zugleich ange­ trieben und treiben sie an, unkritisch gegenüber dem Vernichtungsgeschehen und unkritisch gegenüber sich selbst, empathielos. Was ansonsten wie ein Teil des mythologischen Geschehens in Hiobs Lei­ den wirken könnte, wie eine Szene in einer fernen Geschichte von der Beraubung und Erniedrigung einer Figur aufgrund des Willens Gottes – der allerdings bei Levin ein deus absconditus, ein verborgener Gott ist –, wird über das Spiel mit dem Assoziationsraum des Theaters zu etwas Möglichem, das erst aufgrund des historischen Wissens, dass solch ein Handeln nicht präzedenzlos, sondern in der außertheatralen Wirklichkeit bereits geschehen ist, als »real«, als nicht nur in einer mythologischen Welt Mögliches erkannt wird. Aristoteles’ Unterscheidung zwischen dem Historiker, der mitteile, was geschehen ist, und dem Dichter, der gestalte, was geschehen könnte, aber glaubhaft, also darstelle, was möglich sei,5 gibt eine mögliche Eröff­ nung, um zu verstehen, wie Geschichte als historische Erfahrung im Asso­ ziationsraum des Theaters funktioniert. Aristoteles’ Unterscheidung beruht

4 5

Levin, Job’s Sorrows, 69. Siehe Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 28 f., 1451b.

Krieg in der Gegenwart und Erinnerung an die Schoah

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auf einer sicherlich auch in anderen Zusammenhängen der Wirksamkeit von Fiktion relevanten Verknüpfung des scheinbar Geschiedenen: Das histo­ risch Geschehene – beziehungsweise das Wissen darum – bedingt, dass etwas in der Fiktion als möglich und glaubhaft rezipiert wird.6 In einem wei­ teren Schritt wäre, über Aristoteles hinausgehend, zwischen einem »real«, also auch außertheatral Möglichen – wie der Schoah – und einem nur mythologisch, also innerhalb der fiktionalen Logik einer Theateraufführung Möglichen – wie der Wette Gottes auf Hiob – zu unterscheiden. Dabei ver­ mischen sich diese beiden Modi des Möglichen im Theater, strahlen im Fall von Hiobs Leiden nicht zuletzt auf die Mythologie zurück und ordnen neu an, was als menschenmöglich, als real und nicht nur diegetisch glaubhaft verstanden wird. In der eingangs vorgestellten Szene erfolgt dieses Verste­ hen, das Erkennen von etwas als möglich und glaubhaft, nicht aufgrund einer konkreten, detaillierten Wiedergabe oder eines analogen Nachvoll­ zugs, nicht aufgrund eines Versuchs der »Darstellung« des historischen Geschehens, sondern als Assoziation aus dem Dargebotenen, das etwas bild­ haft begreifen lässt, ohne es als Gegenstand direkt zu verhandeln oder sze­ nisch zu argumentieren. Im israelischen Theater setzen sich zahlreiche Stücke und Aufführungen direkt mit der Schoah beziehungsweise der Erinnerung an sie auseinander. Viele von ihnen sind bereits in der Forschung behandelt worden.7 Im Gegen­ satz dazu werden im Folgenden Theatertexte und Aufführungen untersucht, die, wie Hiobs Leiden, nicht den Massenmord an den europäischen Juden8 oder die Geschichte eines oder einer Überlebenden zum zentralen Gegen­ stand haben, sondern in deren Gefüge der israelische Schoah-Diskurs aufge­ rufen wird, sei es durch eine Figur, eine Szene oder eine Handlungskonstel­ lation, in denen Erinnerung also eher fragmentarisch bildhaft denn Gegenstand einer Aussage wird. Dabei erweisen sich die Bilder der Schoah in diesen Stücken und Aufführungen als zentrale Momente des jeweiligen künstlerischen Textes, die etwas über Gewichtung und Entwicklung des israelischen Erinnerungsdiskurses, seine Gegenwartsbezüge und damit über die soziokulturelle Präsenz der Schoah im israelischen Bewusstsein der

6 7

8

Siehe ebd., 30 f. Siehe u. a. Ben-Ami Feingold, The Theme of the Holocaust in Hebrew Drama, Tel Aviv 1989 (hebr.); Claude Schumacher (Hg.), Staging the Holocaust. The Shoah in Drama and Performance, Cambridge/New York 1998; Freddie Rokem, Geschichte aufführen. Dar­ stellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Mit einem Vorwort von Erika Fischer-Lichte, aus dem Engl. übers. von Matthias Naumann, Berlin 2012, 55–139. Dem Verfasser wäre daran gelegen gewesen, im Text männliche und weibliche Formen sowie Formen mit Unterstrich – Zuschauer_innen – zu verwenden. Auf Wunsch der Redaktion und der Herausgeber wird jedoch im gesamten Text das generische Maskuli­ num für Personen- und Berufsbezeichnungen »geschlechtsneutral« verwendet.

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jeweiligen Zeit zu zeigen vermögen. Dass diese Momente des Bildhaftwer­ dens der Erinnerung an die Schoah in einem »anderen« Theatertext zumeist in Stücken auftreten, deren Gegenstand politische Gewalt oder Krieg sind, und damit einen wichtigen Aspekt der Verhandlung der israelisch-arabi­ schen Kriege beziehungsweise des israelisch-palästinensischen Konflikts im israelischen Theater bilden, mag dabei nicht verwundern.

Elemente des zionistischen Diskurses Die zionistische Bewegung mit dem Ziel der Schaffung einer jüdischen Heimstätte entstand in Reaktion auf den europäischen Antisemitismus. Sie war von der enttäuschten Hoffnung auf eine Existenz als gleichberechtigte Bürger geprägt und lässt sich als Versuch der Assimilation als Kollektiv an die seit dem 19. Jahrhundert in Europa hegemoniale Idee des bürgerlichen Nationalstaats verstehen. Die Realisierung der Idee von der Schaffung eines jüdischen Nationalstaats baute vor allem auf zwei Formen sozialen Han­ delns: Zum einen sollte die national begründete Gesellschaft in einer gemeinsamen Sprache, dem modernen Hebräisch, verbunden werden. Damit ging nicht nur die Schaffung einer modernen hebräischen Literatur, sondern insbesondere auch die eines hebräischen Theaters einher, das sich in Abgrenzung zur traditionellen religiösen Ablehnung des Theaters im Juden­ tum9 und analog seiner Rolle in anderen bürgerlichen Gesellschaften ent­ warf. Dabei kam gerade dem Theater bei der Entstehung der modernen heb­ räischen Gesellschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle zu.10 Besondere Bedeutung errang das Theater durch seine Grundstruktur der geteilten lebendigen Gegenwart von darstellenden Künstlern und rezi­ pierenden und reagierenden Zuschauern,11 die anderen Kunstformen so nicht 19 Siehe Eli Rozik, The Languages of the Jews and the Jewish Theatre, in: Theatre Research International 13 (1988), H. 2, 79–88; Matthias Morgenstern, Theater und zionistischer Mythos. Eine Studie zum zeitgenössischen hebräischen Drama unter besonderer Berück­ sichtigung des Werkes von Joshua Sobol, Tübingen 2002, 7–13; Glenda Abramson, Modern Hebrew Drama, New York 1979, 17. 10 Für einen Überblick über die Geschichte des hebräischen bzw. israelischen Theaters siehe das entsprechende Kap. in Naumann, Dramaturgie der Drohung, 12–28; Freddie Rokem, Hebrew Theater from 1889 to 1948, in: Linda Ben-Zvi (Hg.), Theater in Israel, Ann Arbor, Mich., 1996, 51–84; Shosh Avigal, Patterns and Trends in Israeli Drama and Thea­ ter. 1948 to Present, in: ebd., 9–50; Michael Handelsaltz, Das Theater in Israel. Zwischen Vision und Wirklichkeit, in: Anat Feinberg (Hg.): Kultur in Israel. Eine Einführung, Gerlingen 1993, 88–126. 11 Zur »leiblichen Ko-Präsenz« im Theater allgemein siehe Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, bes. 58–126.

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gegeben ist und die sich als Verhandlungsort kultureller, sozialer und politi­ scher Konflikte und Vorstellungen in künstlerischen Darstellungsformen anbietet. Dies führte in Israel zu bis heute vergleichsweise hohen Publi­ kumszahlen sowie einem öffentlichen Interesse an Theater als Teil des kul­ turell-politischen Diskurses.12 Zum anderen spielte die Frage existenzieller Sicherheit der zu schaffenden Gesellschaft sowie ihrer einzelnen Bürger vor Gewalt und Verletzung eine tragende Rolle bei der Begründung des moder­ nen Staates. Im Selbstverständnis des Zionismus beziehungsweise des israe­ lischen Staats ist, in intensivierter Form seit der Erfahrung der Schoah, das Vermögen, sich selbst gegen äußere Feinde militärisch zur Wehr setzen und damit das eigene Leben aus eigener Kraft verteidigen, die eigenen Lebens­ verhältnisse selbst bestimmen zu können, von zentraler Bedeutung. Die Erfahrung der Wehrlosigkeit und des Ausgeliefertseins während der Verfolgung bildet bis heute ein prägendes Element im israelischen Staatsund Kriegsdiskurs, auf das zahlreiche politische Artikulationen13 über die Bedeutung von Stärke und Schwäche, die Notwendigkeit militärischen Han­ delns oder die Legitimität und Grenzen kriegerischer Handlungsformen Bezug nehmen. Der politisch gestaltenden Generation der Staatsgründer um David Ben-Gurion war daran gelegen, der Schoah eine zentrale Rolle im Gedächtnis der sich entwickelnden israelischen Nation zuzuweisen. So stellte der Historiker und Erziehungsminister Ben-Zion Dinur in der Knes­ setsitzung vom 18. Mai 1953, in der über das Gesetz zum Gedenken an die Schoah und das Heldentum – Yad Vashem sowie über das offizielle Geden­ ken an die Katastrophe debattiert wurde, die Bedeutung des Gedächtnisses der Nation heraus: »Es besteht kein Zweifel, dass im Leben eines Individuums die Erinnerung das ›Ich‹ eines Menschen ausmacht, da das ›Ich‹ des Menschen nur in dem Maße existiert, in dem er all seine Erlebnisse und Erfahrungen zu einer Kette auffädelt. Gleiches gilt für das Gedächtnis einer Nation. Das ›Ich‹ einer Nation existiert nur in dem Maße, indem sie über ein Gedächtnis verfügt und in der Lage ist, ihre Erlebnisse der Vergangenheit

12 Siehe Shoshana Weitz, From Combative to Bourgeois Theater. Public Theater in Israel in 1990, in: Ben-Zvi (Hg.), Theater in Israel, 101–116. 13 Politische Artikulationen sind, dem Gebrauch des Begriffs ›Artikulation‹ durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe folgend, als Einsatz innerhalb eines nicht allein sprachlichen politischen Diskurses zu verstehen, der zugleich aber von einer diesem Diskurs äußerlich bleibenden »Wirklichkeit« zu unterscheiden wäre, jedoch nicht in der Art einer Gegen­ überstellung von diskursiv/nicht-diskursiv, sondern derart, dass kein Objekt anders als diskursiv wahrgenommen, erfahren werden kann. Dem folgend müssen sowohl Kriegs­ handlungen als auch Formen ihrer Darstellung – um die es hier geht – als Artikulationen innerhalb des Kriegsdiskurses einer – hier der israelischen – Gesellschaft verstanden wer­ den und vermögen auch nur, derart diskursiv zu erscheinen. Siehe dies., Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 22001, 105–107.

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zu einer Einheit zusammenzufügen. Nur unter dieser Voraussetzung existiert sie als Nation, als ein Wesen.«14

Die Analogisierung des individuellen »Ich« mit dem »Ich« einer Nation, deren Gedächtnis bewusst zu gestalten sei, lässt nach den unbewussten, den traumatisch oder assoziativ bildhaft werdenden Teilen dieses Gedächtnisses und ihrer Tradierung fragen. Während das »Über-Ich« der Staatsideologen und -praktiker die bewusste Gestaltung eines Gedächtnisses der Nation und damit die kontrollierte Gestaltung gesellschaftlichen Bewusstseins anstrebt, verweist das Bild des »Ich« der Nation und ihres Gedächtnisses bereits auf das Abgetrennte, das Unterdrückte und im Vorbewussten Gehaltene dieses Gedächtnisses, das deshalb um nichts weniger wirksam für die Entwicklung der mithilfe dieses Gedächtnisses konstruierten Nation sein muss. Dabei geht es der staatlich initiierten Gestaltung der Erinnerung an die Schoah um die Einschreibung der Toten in die Geschichte der Nation, und hier insbe­ sondere der israelischen Nation. Dies geschieht auch in Abgrenzung zum Erinnerungsdiskurs der verschiedenen Judenheiten in der Diaspora, als dem Ort der Herkunft, des »dort«, von dem sich die modernen Israelis »hier« nicht nur geografisch, sondern vor allem mental, in Haltungen und Handlun­ gen gelöst hätten.15 Die Erinnerung an die Schoah dient dann nicht nur dem Gedenken und Ehren der Toten, sondern auch als negative Handlungsleitung für die Lebenden, damit solches nicht wieder geschehe. Dabei kann dieser Imperativ, dass Auschwitz nicht wieder geschehe,16 entweder partikular, bezogen auf die israelische Nation in ihrer Selbstverteidigung, oder univer­ sal, auf gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Menschen in allen politi­ schen Zusammenhängen, gelesen werden. Diese beiden Ansprüche geraten nicht zuletzt im israelischen Erinnerungsdiskurs über die Schoah immer wieder in Konflikt miteinander, wobei vor allem die partikulare Bezug­ nahme diesen prägte und angesichts der Kriege mit den arabischen Staaten beziehungsweise den Palästinensern immer wieder als akut artikuliert wurde.

14 Zit. nach Idith Zertal, Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, aus dem Hebr. übersetzt von Markus Lemke, Göttingen 2011, 143. 15 Zur Verhandlung der Schoah im israelischen Diskurs siehe grundlegend Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995; Zertal, Nation und Tod. 16 Theodor W. Adorno hat dies als kategorischen Imperativ nach Auschwitz formuliert, allerdings universal verstanden: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzu­ richten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« Ders., Nega­ tive Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, 20 Bde., Frank­ furt a. M. 1970–2003, hier Bd. 6, 1997, 7–412, hier 358.

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Eine zentrale Position nimmt im israelischen Erinnerungsdiskurs die Figur des Überlebenden ein, die als Medium der Vergangenheit und als Berichterstatter des selbst Erlebten fungiert, das in seiner Gültigkeit mehr aussagt als ein nur privat Erlebtes. So bildeten nicht nur die Zeugenberichte im Eichmann-Prozess 1961, sondern auch die Gespräche von Überlebenden mit Schülern, Soldaten und anderen immer auch ein Fragment, einen Mosaikstein des sich in nie abzuschließender Konstruktion befindenden kol­ lektiven Gedächtnisses, von dessen notwendiger Einrichtung Dinur sprach. Das hebräische Theater spielte eine wichtige Rolle in der Gestaltung und Entwicklung des kulturellen Diskurses der zionistischen beziehungsweise ab 1948 der israelischen Gesellschaft. Es verhielt sich tragend, oft affirma­ tiv, aber seit der Zeit nach dem Sechstagekrieg 1967 zunehmend auch kri­ tisch gegenüber den hegemonialen politischen und kulturellen Narrativen. Eine dramaturgische Hauptlinie der Verhandlung der Schoah im israelischen Theater, die viele dieser Stücke und Aufführungen prägt, bildet das Auftre­ ten einer Überlebenden-Figur. Damit geht ein anderes Charakteristikum vie­ ler dieser Stücke einher, nämlich dass ihre Handlung zumeist nicht »dort«, im Europa während der Verfolgung, verortet ist, sondern die Erzählungen von »dort« nur als Einbrüche in das »gegenwärtige«, »hiesige« Leben der Überlebenden erfolgen, die nach der Schoah ins Mandatsgebiet Palästina beziehungsweise nach Israel gelangt sind. Während Lea Goldbergs (1911–1970) Stück Die Schlossherrin (Ba’alat ha-armon)17 von 1955 sich ins östliche Europa, in das Gebiet, wo Juden ver­ folgt und ermordet wurden, begibt, so bleibt es doch zeitlich nach Ende des Krieges angesiedelt, eine direkte Darstellung der Schoah vermeidend. Viel­ mehr geht es dem Stück um ein zentrales Anliegen des jungen Staates, näm­ lich die Überlebenden aufzunehmen. Zwei zionistische Emissäre suchen in »einem der Länder Mitteleuropas«18 nach versteckten jüdischen Kindern, die der Verfolgung entkommen konnten, um sie »hierher«, nach Israel, zu bringen, also ihre Rettung durch die Aufnahme in Israel abzuschließen und zu sichern. Einige Jahre später, nachdem der Eichmann-Prozess den israelischen Schoah-Diskurs grundlegend verändert und für die Berichte und Erfahrun­ gen der Überlebenden geöffnet hatte, wurde 1962 mit Kinder des Schattens (Jalde ha-ẓel)19 von Ben-Zion Tomer (1928–1998) eines der wichtigsten israelischen Theaterstücke zur Schoah uraufgeführt. In Kinder des Schattens wird das Leben der Figuren von den abwesenden, vergangenen Ereignissen 17 Ba’alat ha-armon [Die Schlossherrin], UA: Kameri, Tel Aviv 1955. 18 Lea Goldberg, Ba’alat ha-armon [Die Schlossherrin], o. O. [Tel Aviv] 2000, 2 (zuerst 1955). 19 Jalde ha-ẓel [Kinder des Schattens], UA: Habima, Tel Aviv 1962.

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und Erfahrungen »dort« bestimmt. Die Handlung spielt im Jahr 1955, dem Jahr, in dem Rudolf Kasztner aufgrund seines Geschäfts mit der SS zur Ret­ tung ungarischer Jüdinnen und Juden im Jahr 1944 von dem Richter Benja­ min Halevi im Prozess gegen Malchiel Grünwald als Kollaborateur bezeich­ net wurde – er habe »seine Seele dem Satan verkauft«20 –, doch ohne hierauf direkt Bezug zu nehmen.21 Wie die israelische Gesellschaft jener Jahre ins­ gesamt, suchen die traumatisierenden Erfahrungen der Vergangenheit das Verhalten der Figuren in der Gegenwart heim – des ehemaligen Angehöri­ gen des Judenrats, Dr. Sigmund Rabinovich, einerseits sowie des ehemali­ gen Partisanen Janek und seiner als Kind versteckten Frau Helenka anderer­ seits, die alle nach dem Ende des Krieges nach Israel gelangt sind. Zugleich prägen die Ereignisse während der Schoah als Vorstellungen aber auch den­ jenigen, der nicht »dort« war: Janeks Bruder Joram, der rechtzeitig aus Europa nach Palästina fliehen konnte und sich deshalb schuldig fühlt. Kin­ der des Schattens verhandelt die Frage der Kooperation der Judenräte mit den Nazis, welche in den 1950er und 1960er Jahren für heftige Auseinander­ setzungen in der israelischen Öffentlichkeit sorgte, angefacht durch mehrere Prozesse gegen Überlebende, denen Kollaboration mit den Nationalsozialis­ ten vorgeworfen wurde.22 Im Mittelpunkt des Stücks steht nicht nur die Frage der Schuld, die für Sigmund Rabinovich aus seiner Zusammenarbeit mit den Nazis entstanden sein mag und im Stück als Schuldgefühl eindeutig sein Leben zerstört, ihn traumatisiert hat. Ausgehend von der Hauptfigur Joram rückt das Stück vielmehr die Frage in den Fokus, ob diejenigen, die nicht »dort« waren, also die israelische Mehrheitsgesellschaft der Zeit, die politisch und juristisch prägenden aschkenasischen Eliten um Ben Gurion – im Stück vertreten durch die Figur des Dubi –, überhaupt berechtigt sind, über das in der Schoah Geschehene sowie über eine vermeintliche Schuld von Überlebenden, gar deren Bestrafung für Handlungen »dort«, zu urteilen. Das Stück ergreift dabei deutlicher als die Politik der Zeit23 Partei für eine nachträgliche Unbeurteilbarkeit des Handelns während der Verfolgung. 20 Zit. nach Segev, Die siebte Million, 376. 21 Kasztner selbst wird zunächst im deutschen Theater zur Figur in Joel Brand (1965) von Heinar Kipphardt, siehe dazu Matthias Naumann, Conceptions, Connotations and/or Actions: The Figuration of Jewish Characters in Heinar Kipphardt’s Plays, in: Edna Nah­ shon (Hg.), Jews and Theater in an Intercultural Context, Leiden/Boston, Mass., 2012, 103–120. Erst 1985 widmet sich ein israelisches Theaterstück, Kastner von Motti Lerner, dieser Geschichte. 22 Siehe Zertal, Nation und Tod, 96–150. Dieses Vorgehen der Anklage wird in Kinder des Schattens durch Sigmund Rabinovich deutlich kommentiert: »Die Schafe sind ein sonder­ bares Volk, den Tigern haben sie vergeben, aber nicht ihren Shamashim [Hilfskerzen am Chanukka-Leuchter, auch Handlanger]. Shamashim gegen ihren Willen.« Ben-Zion Tomer, Jalde ha- ẓel, o. O. 1963, 64. 23 1950 wurde das Gesetz zur Bestrafung von Nazis und ihren Helfershelfern erlassen, siehe Zertal, Nation und Tod, 108.

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Starkes Gewicht misst es der Unkenntnis der Umstände bei, die zu einem vielleicht verurteilbaren Handeln zwangen, sodass ein Urteil nur durch den traumatisierten Überlebenden über sich selbst, nicht aber durch andere gesprochen werden könne. Und auch solch eine »Selbstverurteilung« erscheint im Stück als Unglück, das vielleicht nicht zu verhindern, aber ebenso wenig anzustreben ist. Erst mit dem wohl erfolgreichsten israelischen Theaterstück, dem 1984 uraufgeführtem Stück Ghetto (Geto) von Joshua Sobol (geb. 1939),24 das im selben Jahr auch in Deutschland in der Regie von Peter Zadek an der Freien Volksbühne Berlin und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zur Auffüh­ rung kam, erfolgte eine Darstellung des Geschehens »dort«. Die Stücke der Ghetto-Trilogie – Ghetto, Adam, Im Keller (Ba-martef) – zeigen Gescheh­ nisse im Wilnaer Ghetto. Doch sind diese Ereignisse in Ghetto durch die Rahmenhandlung als Erinnerung Sruliks, des einzigen Überlebenden der Theatergruppe im Wilnaer Ghetto, ausgewiesen, der als alter Mann im Tel Aviv der 1980er Jahre seine Geschichte erzählt. Auffällig an dem Stück ist dessen starke Bezugnahme auf israelische Diskurse während seiner Entste­ hungszeit – über die Entwicklung des politischen Zionismus, sein Verhältnis zum kulturellen Erbe und den Werten der Diaspora und zu politischer Gewalt – mittels einer intensiven Auseinandersetzung mit ebendiesen Fra­ gen im historischen Kontext des Wilnaer Ghettos, und zwar anhand einer sehr genau den Quellen und Dokumenten folgenden Darstellung von Ereig­ nissen und Positionen im Ghetto. Vor allem steht das mögliche Verhalten gegenüber den Nazis zur Diskussion – Kooperation oder Verweigerung, Widerstand durch das Aufrechterhalten einer jüdischen Kultur oder durch eigenes bewaffnetes Handeln. Infrage steht insbesondere die Rechtfertigung eines Handelns, das das Überleben einiger, aber eben nur einiger, durch Kooperation oder Kampf sichern will, dafür aber ethisch zweifelhafte Hand­ lungen vollzieht, »pragmatische« Kompromisse eingeht. Damit zielt Ghetto nicht zuletzt auf die Befragung und Kritik hegemonialer zionistischer Posi­ tionen der 1980er Jahre, am militärischen Handeln im Libanon und den besetzten Gebieten. Strukturell entscheidend für die Dramaturgie und Rezeption von Ghetto ist dabei, dass der jüdische Erfahrungsraum des Ghet­ tos die Nazis nur in der Figur des Offiziers Kittel kennt, der gleichsam wie ein Gott von außen in die Verhältnisse eingreifen und sie verändern kann, selbst aber nicht Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung ist.25 Wie

24 Geto [Ghetto], UA: Städtisches Theater Haifa, 1984, Regie: Gedalia Besser. 25 Zu Ghetto siehe Rokem, Geschichte aufführen, 68–90; Joshua Sobol, Ghetto. Schauspiel in drei Akten. Mit Dokumenten und Beiträgen zur zeitgeschichtlichen Auseinanderset­ zung, hg. von Harro Schweizer, Berlin 1984. Zur Verhandlung des Zionismus in Sobols Theater siehe Morgenstern, Theater und zionistischer Mythos, 155–300.

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schon in Kinder des Schattens geht es auch in Ghetto um eine Verhandlung politischer und ideologischer Fragen der israelischen Gegenwart. Das Stück verbleibt damit in einem »inneren Diskurs«, in dem die nationalsozialisti­ sche Politik ein Faktor ist, mit dem man historisch umgehen musste, die aber nicht selbst Gegenstand der aktuell relevanten Auseinandersetzung wird.26 Eine Zuspitzung erfährt die Thematisierung der Schoah im israelischen Theater in der Aufführung Arbeit macht frei mi-Toitland Europa des Theater­ zentrums Akko (Merkas le-teatron Akko) im Jahr 1991, in der eine Überle­ benden-Figur als rahmende Instanz des Erinnerns und zugleich als präsente Verknüpfung zwischen der in ihr verkörperten jüdischen Verfolgungserfah­ rung und der gegenwärtigen Beziehung zu den Palästinensern eingeführt wird. Hier werden ganz direkt Bezüge zwischen der legitimierenden Funk­ tion des Schoah-Gedenkens für das Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft und dem politischen sowie militärischen Umgang mit den Palästinensern hergestellt.27 Dies geschieht vor allem durch die Figur der Überlebenden Selma, verkörpert von der Schauspielerin Smadar Ja’aron. Zu Beginn der Aufführung führt sie das Publikum durch das Museum des Kib­ buz Loḥame ha-geta’ot (Kibbuz der Ghettokämpfer), wobei zunächst unklar ist, ob dies gespielt ist oder hier tatsächlich eine Überlebende der Schoah die Geschichte aus ihrer Perspektive des Erinnerns als historische und von der hegemonialen Ideologie geprägte wiedergibt.28 Arbeit macht frei mi-Toitland Europa verschiebt den Fokus von der Ver­ handlung der Schoah als Gegenstand eines israelischen Stücks auf den israe­ 26 Angesichts der positiven Rezeption von Ghetto in Deutschland fragt sich allerdings, was diesen Erfolg ermöglichte. Das Stück fokussiert auf die unterschiedlichen jüdischen Posi­ tionen im Ghetto und fragt damit auch nach der Möglichkeit des Schuldigwerdens ange­ sichts der Bedrohung. Dies mag eine entlastende Wirkung auf das deutsche Publikum ent­ faltet haben, da Ghetto nicht fordert, sich mit deutschen Positionen zur Judenvernichtung, ihrer historischen Bedingtheit und möglichem Weiterwirken kritisch auseinanderzuset­ zen, sondern allein einen Diskurs über mögliche Schuld aufseiten der Opfer eröffnet. Im Schulddiskurs erlaubte das Stück einem deutschen Publikum eine Verschiebung auf jüdi­ sche Positionen, wie sie auch manche deutsche Artikulation zum israelisch-palästinensi­ schen Konflikt auszeichnet. Ein prominentes Beispiel für das Abwälzen deutscher Schuld auf die jüdische Seite im Bereich des Theaters ist das 1983 uraufgeführte Stück Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt, das Ariel Sharon bzw. israelische Soldaten in die Nähe Adolf Eichmanns rückt. Siehe dazu Naumann, Conceptions, Connotations and/or Actions. 27 Das politische und militärische Handeln von Palästinensern während des Zweiten Welt­ kriegs und die damalige Allianz zwischen dem Arabischen Hohen Komitee und NSDeutschland beziehungsweise mögliche palästinensische Erinnerungen daran bleiben dabei jedoch – wie auch in anderen politisch ähnlich gelagerten künstlerischen Arbeiten einer kritischen israelischen Selbstbefragung – ausgeblendet. Dies verdeutlicht noch ein­ mal, dass das Anliegen hierbei weniger eine »korrekte« Darstellung historischer Ereig­ nisse als eine politische Artikulation in einem innerisraelischen Diskurs ist. 28 Für eine ausführliche Analyse dieser Arbeit und der Rolle der Zeugenschaft siehe Rokem, Geschichte aufführen, 90–113.

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lischen Kriegsdiskurs. Die diskursive Verhandlung der Kriegsführungsfähig­ keit der israelischen Gesellschaft und der aktuellen Kriegsführung des Staa­ tes werden jedoch als untrennbar mit der Erinnerung an die Schoah verbun­ den vorgestellt. Nur zwei Jahre später, 1993, öffnete die Uraufführung von Hanoch Levins Stück Der Junge träumt (Ha-jeled ḥolem)29 die theatrale Erinnerung an die Schoah zwar erneut durch den Topos des Militärischen, nun jedoch auf einen universalen Diskursraum von militärischer Verfolgung von Zivilisten und Genozid hin. Auch wenn in Levins eigener Inszenierung die Schienen im Bühnenbild des letzten Teils, Der Messias, einen klaren Verweis auf Auschwitz geben, so sind die Soldaten doch nicht als Nazis und der Verfolgungszusammenhang nicht explizit als antisemitisch deklariert. Vielmehr begibt sich das Stück rein assoziativ beziehungsweise durch Ana­ logie zur Geschichte der St. Louis30 in den Erinnerungsraum der Schoah.31 An die Stelle einer dokumentarisch getreuen Darstellung des Historischen wie etwa in Sobols Ghetto tritt hier die assoziative Erweiterung des im kol­ lektiven Gedächtnis Tradierten in ein Universales. Was diese unterschiedli­ chen Teilnahmen an der Darbietung und Umformung des tradierten Gedächtnisses für das so im Theater mit zu gestaltende »Wesen« der Gesell­ schaft je aussagen, wäre im Einzelnen genauer zu untersuchen.

Verletzung und Zeugenschaft – Kriegsdiskurs Im Diskurs der Nation werden die Toten als gemeinsame Tote, als für das Kollektiv Gestorbene konstruiert, deren Andenken als Verpflichtung auf zukünftiges Handeln auch das Weiterbestehen des sich auf sie berufenden Kollektivs mit bewirken soll. Im zionistischen Diskurs erfüllte diese zentrale Funktion als einer der ersten der Tod Joseph Trumpeldors (1880–1920) in Tel Chai,32 es folgten die Opfer der Schoah sowie die Toten der verschiede­ 29 Ha-jeled ḥolem [Der Junge träumt], UA: Habima, Tel Aviv 1993, Regie: Hanoch Levin. 30 Das Linienschiff St. Louis fuhr im Mai 1939 mit 930 jüdischen Passagieren an Bord von Hamburg nach Kuba. Dort angekommen, verweigerte die Regierung in Havanna den meisten Passagieren die Einreise und erkannte nur 22 Visa als gültig an. Das Schiff wurde gezwungen, nach Europa zurückzukehren. Frankreich, die Niederlande, Belgien und Eng­ land nahmen Passagiere auf, aber viele wurden später von den Deutschen nach Osten deportiert, sodass die meisten von ihnen die Schoah nicht überlebten. Siehe den Eintrag »St. Louis«, in: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europä­ ischen Juden, dt. Ausgabe hg. und grundlegend neu bearb. von Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps, 4 Bde., hier Bd. 3, München/Zürich 1995, 1366 f. 31 Für eine detaillierte Untersuchung der UA von Der Junge träumt siehe Naumann, Drama­ turgie der Drohung, 133–167. 32 Siehe dazu Yael Zerubavel, Recovered Roots. Collective Memory and the Making of

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nen Kriege mit den arabischen Staaten und des palästinensischen Terrors. So lässt sich im nationalen Diskurs eine Verbindung zwischen diesen unter­ schiedlichen Toten herstellen: Wenn ihre Geschichten und die Umstände ihres Todes auch verschieden sein mögen, sind sie doch letztlich alle für den Erhalt und die Zukunft des Kollektivs gestorben – ihr Tod erhält eine ähnli­ che Sinnstiftung. Dieses verbindende nationale Totengedenken äußert sich in Israel etwa symbolisch darin, dass sowohl der Ermordeten der Schoah als auch der gefallenen Soldaten durch das landesweite Heulen von Sirenen an allerdings zwei Feiertagen, am Jom ha-Schoah und am Jom ha-Zikaron, gedacht wird. Dabei geht mit der Erinnerung an die Gestorbenen und den Zeugnissen der Überlebenden das Erzählen von Verletzungen, von Erfahrun­ gen der Stärke und Schwäche einher – beziehungsweise es wird konstruiert, welches Verhalten als stark und erstrebenswert und welches als schwach und zu überwinden zu werten sei. Der Kriegsdiskurs verhandelt so anhand der Toten der vergangenen Kriege und anderer Formen kollektiver Gewalt, bis hin zum Genozid, einen zentralen Aspekt des »shared symbolic space«33 einer Gesellschaft, nämlich ihre Kriegsführungsfähigkeit. Das betrifft nicht nur die Notwendigkeit, als souveräne Nation militärisch in der Lage zu sein, Krieg zu führen, sondern vor allem die Frage, welche politische Situation den Einsatz militärischer Mittel rechtfertigt und welche militärischen Mittel eingesetzt, also welche militärische Eskalation und damit Zerstörung des Feindes angestrebt oder in Kauf genommen werden können, ohne den Rah­ men des hegemonial als angemessen Legitimierten zu verlassen. Es geht im Kriegsdiskurs also um das »Verletzungsvermögen« (an den Feinden) und die »Verletzungstoleranz« (gegenüber den eigenen Verlusten) einer Gesell­ schaft.34 An deren Aushandlung nimmt auch das Theater als Form der öffentlichen, künstlerischen Auseinandersetzung teil. Insofern lässt sich jede Verhandlung von Krieg im Theater als Artikulation im Kriegsdiskurs dieser Gesellschaft verstehen.35 Allerdings zeichnet es das Theater aus, einerseits als Kunstform aus dem einander Gegenwärtigsein der Teilnehmenden, der Schauspieler und Zuschauer, hervorzugehen, und andererseits, gerade im Fall des Kriegsthea­ ters, zugleich dem Ort und der Zeit seines Gegenstands fern zu sein. Das Israeli National Tradition, Chicago, Ill./London 1995, 39–47; Zertal, Nation und Tod, 18– 42. 33 Chantal Mouffe, On the Political, London/New York 2005, 121. 34 Siehe Elaine Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York/Oxford 1985, 102–108. 35 Zum Verhältnis von Kriegsdiskurs und Theater allgemein siehe Matthias Naumann, »Weit vom Schuß«. Politische und Darstellungsfragen im Verhältnis von Krieg und Theater, in dem in Vorbereitung begriffenen und für 2016 in der Reihe der Mülheimer Fatzerbücher geplanten Band: ders./Florian Thamer (Hgg.), Krieg.

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Theater kann Krieg nicht auf eine im Sinne des Films »realistische« Weise darstellen, sondern nur Möglichkeiten darbieten, etwas vom Krieg zu erfah­ ren, und dafür die geeigneten theatralen Ausdrucksformen suchen, die als Momente eines historischen Diskurses selbst wiederum kontingent sind. Der Moment der theatralen Artikulation zum Krieg steht in einem Verhältnis scheinbarer Nachträglichkeit zu jenem Geschehen – eine Nachträglichkeit, die sich als Vortrag im Hinblick auf zukünftige Kriege, auf das weiterhin politisch und sozial Mögliche, zu lesen gibt. In der Bezugnahme auf histori­ sche Ereignisse, und sei es auch nur bildhaft in einer Szene, Äußerung oder Figur, aktualisiert Theater die Geschichte diachron in ihrer Bedeutung für die Gegenwart sowie die zukünftige »capacity to injure«36 der Gesellschaft, die auf der Bühne zur Verhandlung steht. Die zeitliche wie räumliche Entfernung einer Kriegstheateraufführung zu dem Krieg, von dem sie spricht, gibt ihr ein Moment der Zeugenschaft, des Bezeugens eines politischen Gewaltgeschehens »da draußen«. So ließen sich Freddie Rokem folgend die Darsteller nicht nur in Theater, das Geschichte darzustellen beziehungsweise aufzuführen unternimmt, sondern auch in Kriegstheateraufführungen als Zeugen des – im zeitlichen und/oder räum­ lichen Sinn – fernen Geschehens begreifen.37 Diese Bühnenzeugen versuchen zugleich, die sozialen und politischen Energien, die das Kriegsgeschehen und seine anderen medialen Darstellungen formen, in theatrale Energien zu übersetzen, die wiederum als politisches Theater wirksam werden. Die sozialen Energien, die zu Haltungen, Handlungen und Darstellungen, zu den unterschiedlichsten Formen politischer Artikulation führen, sind dabei selbst als soziokulturelle Konstrukte zu verstehen, deren Veränderbarkeit politi­ sches Theater darzubieten hätte. Insofern wäre politisches Theater, das nicht ein affirmatives Verhältnis zum Kriegs- und Gewaltgeschehen, das es darzu­ stellen sucht, unterhält, an seiner Arbeit an den Formen der Darstellung zu erkennen, die nicht die gesellschaftlich hegemonialen wären. Daran, dass es und wie es aus der theatralen Darstellung als Möglichkeitsraum seiner politi­ schen Artikulation ein Potenzial des Denkens von Veränderbarkeit der poli­ tischen und sozialen Verhältnisse entwickelt, ein Potenzial eingreifenden Denkens. Überträgt man diese Überlegungen zu den Möglichkeiten eines politi­ schen Theaters auf die Situation in Israel, stellt sich die Frage, wie die Schoah im traumatischen oder assoziativen Aufscheinen der unterbewussten oder unbewussten Teile des nationalen Gedächtnisses bildhaft wird und wel­ che Rolle jene Teile im Hinblick auf den politischen Diskurs spielten, inner­ 36 Scarry, The Body in Pain, 106. 37 »[W]enn die verschiedenen Bereiche theatraler Energien vollständig integriert werden, kann der einzelne Schauspieler als ein Hyper-Historiker wahrgenommen werden, als ein Zeuge, der für die Zuschauer Zeugnis ablegt.« Rokem, Geschichte aufführen, 252.

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halb dessen eine Theateraufführung entstand. Ausgehend von der beobach­ teten Annäherung israelischer Stücke über die Schoah an den Kriegsdiskurs der israelischen Gesellschaft soll nun beispielhaft untersucht werden, in wel­ cher Form Erinnerungsfragmente an die Schoah ihrerseits Eingang in Kriegstheateraufführungen fanden und dort bildhaft wurden.

Kampferfahrungen »hier« und »dort« In dem bereits erwähnten Stück Kinder des Schattens verkörpern die Hauptfi­ gur Joram und sein Bruder Janek die beiden für den Kriegsdiskurs in den Jah­ ren nach der Staatsgründung zentralen männlichen Kämpferfiguren.38 Joram konnte während der Verfolgung aus Polen über Teheran in das britische Man­ datsgebiet Palästina emigrieren, wo er im Unabhängigkeitskrieg als Offizier kämpfte.39 Zur Zeit der Handlung des Stücks, in den 1950er Jahren, gibt er sich als Sabre,40 als ein im Land Geborener aus, da er sich seiner Herkunft aus der Diaspora beziehungsweise seiner rechtzeitigen Flucht schämt. Sein Bruder Janek hingegen war im Warschauer Ghetto im Untergrund und kämpfte gegen die Nazis. Er verkörpert also den vor allem in den frühen Jah­ ren besonders wichtigen zweiten Teil des staatlichen Gedenkens an die Schoah und das Heldentum. Allerdings ist zu beachten, dass dieses Stück 1962 uraufgeführt wurde, also im Jahr nach dem Eichmann-Prozess. Dessen öffentliche Verhandlung rückte die Erzählungen der Überlebenden in den Mittelpunkt, machte diese erstmals weithin publik und veränderte damit den israelischen Erinnerungsdiskurs der Schoah nachhaltig. Dies lässt sich nicht zuletzt an der Darstellung der beiden Brüder und ihres Verhältnisses ablesen, die beide ehemalige Soldaten beziehungsweise Partisanen sind, sich jedoch in ihrer Figuration der Vergangenheit und dessen, was als Stärke zu betrach­ ten sei, deutlich voneinander unterscheiden. Dies bestimmt auch ihr Verhal­ ten gegenüber dem bereits erwähnten Sigmund Rabinovich, Mitglied des Judenrats und Mann ihrer Schwester Esther, die nicht überlebt hat. Joram hat aufgrund seiner rechtzeitigen Emigration, die ihn vor der Schoah bewahrte,

38 Zur ideologischen Aufladung der Figur der israelischen Soldatin in dieser Zeit als Inbild einer Stärke aufgrund/obgleich ihrer vermeintlichen Schwäche, wie sie auch der Staat Israel verkörpere, siehe Noam Yuran, The Erotic Word. Three Readings in Hanoch Levin’s Works, Lod/Haifa 2002, 141–202 (hebr.). 39 Die biografischen Eckpunkte – Emigration aus Polen über Teheran ins Mandatsgebiet Palästina, Beteiligung am Unabhängigkeitskrieg – spiegeln den Lebensweg des Autors, Ben-Zion Tomer, wider. 40 Zur Figur und zum Mythos des Sabre siehe Oz Almog, The Sabra. The Creation of the New Jew, Berkeley, Calif., 2000.

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und aufgrund dessen, was er von seinem Bruder und dessen Frau über deren Verfolgungs- und Kriegserfahrungen erfährt, schwere Schuldgefühle: »Joram: Allmächtiger Gott! … Wenn ich nur wüsste, warum ich das tue, verdammt … Wer bin ich? … Ihre schwarzen Geschichten machen mich zum Schuldigen. Schuldig ohne Schuld. Und dann verschließe ich mich. Wie eine Festung. Und je mehr sie versu­ chen, in mein Inneres einzubrechen, desto mehr verschließe ich mich. Ich verschließe mich – und das Schuldgefühl in mir nimmt zu. Das Schuldgefühl in mir nimmt zu – ich verschließe mich. Wessen habe ich mich schuldig gemacht? Wessen? … Du hast hier schon Wurzeln geschlagen, hat Janek einmal zu mir gesagt. Als beschuldige er mich.«41

Die Konstellation der drei familiär verbundenen Männer – Joram, Janek und Sigmund Rabinovich – besetzt drei mögliche Erfahrungen der Schoah, in denen allerdings diejenige des »einfachen Opfers« fehlt, also einer Person, die weder kollaborierte noch im Widerstand kämpfte, aber mit Glück die Lager überlebte. Hier sind, mit Blick auf den Kriegsdiskurs, von diesen drei Positionen die beiden von Interesse, die mit einer militärischen Vergangen­ heit ausgestattet sind: die Jorams, der im Unabhängigkeitskrieg wie ein »Sabre« den neuen Staat verteidigt hat, was ihm aber angesichts der Position Janeks, der »dort« im Untergrund gekämpft hat, erscheint, als habe er nichts getan oder vielmehr es versäumt, etwas Entscheidendes zu tun, nämlich »dort« militärisch Widerstand zu leisten. Damit nimmt das Stück eher unmerklich und implizit eine Verkehrung der hegemonialen Verhältnisse des israelischen Kriegsdiskurses seiner Zeit vor, in dem üblicherweise der kämpfende Sabre, der anders als die Juden in der Diaspora sich zu verteidi­ gen wisse, als militärisches Vorbild gilt. Das wird besonders deutlich, wenn man diesen Aspekt von Kinder des Schattens einer zentralen Szene des wohl wichtigsten und für die weitere Entwicklung des israelischen Kriegstheaters kanonischen Stücks aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs gegenüberstellt, Moshe Shamirs (1921–2004) Er ging durch die Felder (Hu halach besadot).42 Hier gibt es für die Hauptfigur Uri, den ersten Sohn des Kibbuz, echten Sabre und Palmach-Kämpfer, der schließlich sein Leben opfert, damit Flüchtlinge der Alija Bet43 illegal an den britischen Truppen vorbei ins Land gelangen können, zwei zentrale Begegnungen mit Neuankömmlingen von »dort«: Zum einen ist dies Mika, die wie Joram als Teheran-Kind ins Land kam, und zum anderen Semjon, der in Uris Palmach-Einheit kämpft, aber von den anderen als ehemaliger Partisan aus dem östlichen Europa in seinem militärischen Können nicht für voll genommen wird. Beiden Figuren, ihren 41 Tomer, Jalde ha-ẓel, 60. 42 Hu halach be-sadot [Er ging durch die Felder], UA: Kameri, Tel Aviv 1948, Regie: Yosef Pasovski (Milo). 43 Alija Bet bezeichnet die illegale jüdische Einwanderung in das Britische Mandatsgebiet Palästina während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit.

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Geschichten und Erfahrungen, begegnen die Sabres im Stück immer wieder mit Misstrauen und sicherlich nicht mit dem Schuldgefühl, das Joram in Kinder des Schattens zum Ausdruck bringt. Als es darum geht, einen Frei­ willigen für die Brückensprengung zu finden, welche die Briten von der Aktion der Alija Bet ablenken soll, meldet sich Semjon: »Semjon: Uri … ich. Rafi: Red keinen Unsinn, Semjon. Semjon: Das ist nicht die erste Brücke, Uri. Ich habe viele Brücken gesprengt. Bei uns in den Wäldern. Rafi: Immer dieselbe Geschichte … Stimmen durcheinander: Hoho Semjon … schaut mal, wer da spricht … ein neuer Sprengmeister im Land … Semjon: Hier kennt man mich nicht. Uri: Willst du das wirklich, Semjon? Willst du es sehr? – Oder hast du den Eindruck, du müsstest dich freiwillig melden? Semjon: Ja. Uri: Was ja? Semjon: Ich will das sehr, mich freiwillig melden. Uri: Du bist in Ordnung, Semjon. Er hat bei uns einen Sprengkurs gemacht, Rafi? Rafi: Hat er, aber er hat Partisanenmethoden, und er hat keine Ahnung von den Bedin­ gungen bei uns, und überhaupt, kennst du Semjon nicht? Semjon: Nein. Du kennst Semjon nicht. Uri: Das ist entschieden. Wir geben dir den Job.«44

Auch nachdem Uri Semjon mit der Aufgabe betraut hat, die Brücke zu sprengen, und ihn somit seiner Intention folgend wie die anderen behandelt, ist Rafi weiterhin dagegen. Er sucht erneut das Gespräch mit Uri, um ihn davon abzubringen, nachdem sich Semjon als »schwach« erwiesen hat, da er darum bat, seiner Freundin im Krankenhaus von Afula die erste Kugel aus seinem Magazin zu bringen, falls ihm etwas zustieße – wie sie es bei den Partisanen getan hätten. »Rafi: Das ist kein Job für Semjon. Uri: Was hast du gegen Semjon? Rafi: Hör zu, Uri. Der Panzer fährt die ganze Zeit hin und her. Sie haben eine Patrouille runtergeschickt. Diese Suchscheinwerfer arbeiten wie Dämonen. Jetzt ist auch noch ein Stacheldrahtzaun hinzugekommen – ich würde nicht Semjon auf diesen Job schicken. Uri: Wen würdest du schicken? Rafi: Mich selbst …«45

Hieraus zieht Uri für sich den Schluss, dass er als Kommandeur der Einheit die gefährliche Aufgabe selbst übernehmen müsse. Bei der Ausführung der Brückensprengung kommt er ums Leben.

44 Moshe Shamir, Hu halach be-sadot, Tel Aviv 1989, 95 f. 45 Ebd., 99.

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Die unterschiedliche Wertung militärischer Erfahrung – je nachdem, wo und durch wen sie gewonnen wurde – bestimmt hier den Kriegsdiskurs, den die Kämpfer der Palmach-Einheit, und mit ihnen das Publikum, führen. Semjons Erfahrung als Partisan, der mehrere Jahre in den Wäldern des öst­ lichen Europas gegen die Deutschen gekämpft hat, scheint nicht so schwer zu wiegen wie die ersten Einsatzerfahrungen der Palmach-Kämpfer oder ihr Sprenglehrgang, der die richtige Methode der Brückensprengung – nicht »Partisanenmethoden« – vermittelt. Das Stück hingegen legt in Kontrast zur Positionierung dieser Figuren im Plot auch die Möglichkeit nahe, dass gerade die Erfahrung des Partisanen an dieser Stelle hilfreich gewesen wäre, um die Brücke zu sprengen, und Uri dann noch am Leben wäre. Das Stück »widerspräche« dann dem hegemonialen Kriegsdiskurs der Zeit, den es zugleich abbildet. Andererseits häuft es dramaturgische Hinweise an, die eine »notwendige« Verbindung zwischen Brückensprengung und Tod des Sprengenden »erahnen« lassen, als sei jene unausweichlich ein Himmel­ fahrtskommando. Dann hätte Uri Semjon das Leben gerettet, indem er sei­ nen Platz einnahm, und wäre damit in letzter Konsequenz dem Weg gefolgt, der in Er ging durch die Felder die Aufgabe der »neuen Israelis« zu sein scheint, nämlich die Gemeinschaft – und dazu gehören nicht zuletzt die Flüchtlinge aus Europa, für deren Aufnahme diese Gemeinschaft begründet wurde – unter Einsatz des eigenen Lebens im Kampf zu schützen. Damit träte Uri durch sein Handeln auch als Verteidiger der jüdischen Gemein­ schaft an die Stelle Semjons – der kämpfende Sabre an die des Partisanen – eine Rollenübernahme, die der Figur des Joram 15 Jahre später nicht mehr möglich ist, da nun aufgrund der Schuldgefühle angesichts der Erzählungen der Überlebenden Janek und Helenka das eigene Handeln retrospektiv als ungenügend erscheint. Während die Erfahrung der Schoah in einem frühen israelischen Kriegs­ theaterstück wie Er ging durch die Felder noch in Figuren verkörpert Aus­ druck findet, nimmt sie in späteren Stücken, die sich auf die nachfolgenden Kriege beziehen, eher die Form einer assoziativen, traumatischen Heimsu­ chung an. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt werden.

Diaspora in Rehavia 1969 wurde A. B. Jehoschuas (geb. 1936) Stück Eine Nacht im Mai (Laila be-mai)46 uraufgeführt, das kurz vor Beginn des zwei Jahre zurückliegenden 46 Laila be-mai [Eine Nacht im Mai], UA: Teatron Bimot, Tel Aviv 1969, Regie: Yossi Yiz­ raeli.

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Sechstagekriegs spielt und anhand einer Familie im Jerusalemer Stadtteil Rehavia, die sich für eine Nacht noch einmal zusammenfindet, die Situation in Erwartung des bevorstehenden Krieges zeigt. Es endet mit der Mobilma­ chung der israelischen Streitkräfte über das Radio, die nach der Sperrung der Straße von Tiran durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nas­ ser am Morgen des 23. Mai 1967 begann und infolge derer der Krieg unaus­ weichlich scheint.47 Ohne hier im Einzelnen auf dieses literarisch sehr viel­ fältig lesbare Stück eingehen zu können,48 soll nur ein Traum in den Mittelpunkt gestellt werden. Denn Träume und Erzählungen sowie die Visionen der alten Mutter Rachel Sarid – unter anderem von kleinen Männ­ chen, die sie zu zertreten fürchtet – übernehmen in der literarischen Kon­ struktion von Jehoschuas Stück eine zentrale Funktion. Sie tragen die Außenwelt in den Lebensraum der Familie, aber auch Fantasien und Wün­ sche, die Vergangenheit und mögliche Zukunft, und nicht zuletzt geben sie Verdrängtem Zutritt. In Rehavia lebt Tirza mit ihrer Familie und ihrer Mut­ ter, und dort besuchen sie in dieser Nacht ihr Exmann Amikem und ihr Bru­ der Avinoam. Letzterer hat in der Stadt Noa, eine junge Frau von 18 Jahren – ein Jahr jünger als der Staat – aufgesammelt und berichtet von ihrem gemeinsamen Spaziergang durch Jerusalem, auf dem sie an den Lagerfeuern der Soldaten vorbeikamen, die Noa »anstarrten, sie und mich umringten […] [,] sie die ganze Zeit verführen, sie aus meinen Händen stehlen wollten«.49 Vor dem Begehren der Soldaten meint Avinoam Noa beschützen zu müssen. Doch indem er – in seiner Erzählung – Noa vor den Soldaten, deren verlan­ gende Blicke sein eigenes Begehren anstacheln, schützt, wird er einer von ihnen, den Kämpfern, die in der Stadt lagern, um sie und damit den ganzen Staat Israel im kommenden, drohenden Krieg zu schützen. In der Noa-Figur aus Avinoams Erzählung wird das »zu Sichernde und zu Schützende in eine weibliche, (hetero)sexuell gefährdete Position gerückt«50 und Noa damit als Verkörperung des Staates lesbar. Durch ihre »schutzbedürftige Weiblich­ keit« und zugleich ihre Verknüpfung mit dem »Soldatischen« erscheint sie letztlich als stark, obgleich oder gerade weil sie als schutzbedürftig und gefährdet erscheint. Noam Yuran hat diesen Mechanismus anhand der Dar­ stellungen israelischer Soldatinnen als Verkörperungen des Staates Israel als 47 Siehe zu dieser Datierung Mendel Kohansky, Double Revival, in: The Jerusalem Post, 8. Januar 1982. 48 Für eine ausführlichere Analyse siehe Matthias Naumann, (Repeating) Family Wars. From »Ibsen in Rehavia« to »Lehi, a B-Movie,« in: Zahava Caspi/Gad Kaynar (Hgg.), Another View. Israeli Drama Revisited, Be’er Sheva 2013, 271–280 (hebr.). 49 Avraham B. Jehoschua, Laila be-mai [Eine Nacht im Mai], in: ders., Laila be-mai/Tipulim aḥaronim [Eine Nacht im Mai/Letzte Behandlungen], Tel Aviv 1974, 5–115, hier 77. 50 Isabell Lorey, Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich 2011, 170.

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»stark, obgleich/da schwach« im zionistischen Diskurs der ersten Jahrzehnte des Staates beschrieben.51 Noa erscheint in Eine Nacht im Mai zwar nicht selbst als Soldatin, fungiert aber ebenfalls als weibliche Verkörperung des »stark-schwachen« Staates. Diese Figuration findet ihre Fortsetzung in einem Traum Noas: »Avi: Was hast du geträumt? Noa: Irgendetwas mit meinem Vater … Avi: Was? Noa: Es war schrecklich. Als ob er gestorben sei … Das heißt, jemand erzählte mir auf der Straße, dass er gestorben sei, dass er auf der Straße hingefallen und gestorben sei. Das war in Jerusalem, hier in der Nähe. In der Metudela-Straße? Er fiel, wie es scheint, in einer kleinen Gasse hin, die steil ansteigend von der Straße abzweigt. Eine dunkle Gasse, voller Bäume. Und ich kam sogleich dorthin, und ich sah Menschen, die sich um etwas auf dem Gehweg scharten, und in der Mitte der Straße stand ein großer Baum. Ich ging näher ran, drängte mich durch und es stellte sich heraus, dass da nichts war. Sie hatten ihn bereits weggebracht, und die Menschen zeigten sich nur gegenseitig den Ort, an dem er hingefallen war. Denn dort waren Blutflecken zurückgeblieben. Ich begann zu erkunden, ob es wirklich er gewesen war, und es war schwer zu verstehen. Ich lief noch einige Straßen weiter. Ich kam in ein anderes Viertel, eine andere Art von Straßen, und wieder fand ich Menschen, die sich um etwas scharten, wieder zwängte ich mich durch den Kreis, wieder war dort nichts. Auch dort, so stellte sich heraus, war er hingefallen, aber sie hatten ihn fortgebracht. Und auch dort waren Blutflecken. Anscheinend war er durch die Straßen gerannt, war immer wieder hingefallen und hatte Blut verloren. Wieder ging ich durch andere Straßen, nicht in Jerusalem, wie in einer anderen Stadt, so etwas wie Athen oder Belgrad, und da sind wieder Menschen, die sich um etwas scharen, und auch dort gelingt es mir, mich hindurch zu drängen in die Mitte des Kreises, und ich sehe, dass dort diesmal jemand auf dem Gehweg liegt, unter einer Decke. Und ich hatte solch starke Gewissensbisse. Ich sehe aber, dass es nicht mein Vater ist, sondern jemand anderes, ein Mann mit Bart. Sehr blass, aber er lebte. Und war anscheinend am Rücken verletzt, denn man sah keine andere Wunde. Sie hat­ ten übertrieben. Es war falscher Alarm gewesen. Und der arme Mann da konnte nicht sprechen, und deshalb wussten sie nicht, wer er war, kannten seine Identität nicht und wo er wohnte. Leute beugten sich über ihn, und er zog einen Stift aus der Tasche und bat sie mit Handbewegungen um Papier, damit er schreiben könne. Und zunächst ver­ standen sie nicht, was er wollte, aber als sie verstanden, holten sie alle Papierfetzen heraus und gaben sie ihm, sie deckten ihn geradezu mit Papier zu, auch mich … Avi: Wer war das? Noa: Ich weiß nicht. Ein Unbekannter. Avi: Das war ich. Noa: Das kann nicht sein.«52

Noas Traum vollzieht eine Bewegung aus Jerusalem »zurück« in Städte der Diaspora, wo der Menschenauflauf um einen flüchtenden, blutenden und

51 Yuran, The Erotic Word, 141–202. 52 Jehoschua, Laila be-mai, 94 f.

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zusammenbrechenden Mann sie zu einem anderen Mann als ihrem Vater führt. Es scheint, als verarbeite dieser Traum kollektive israelische Erinne­ rungen an Pogrome in der Diaspora – im Angesicht der neuen Vernichtungs­ drohung des Sechstagekriegs ein Trauma – und trete ihnen doch zugleich entgegen. Die Feststellung, dass es sich um einen fremden Mann handelt, scheint auch die beruhigende Erkenntnis mit sich zu bringen, dass es keine Rückkehr in die Galut, die Diaspora verstanden als Gegenbild des Staates Israel im zionistischen Diskurs, gibt, so beunruhigend und unheimlich die Erinnerungen an diese auch bleiben. Kein Zurück gibt es damit auch zu der Schwäche in der Diaspora, sich gegen die Pogrome und Verfolgungen nicht (ausreichend) zur Wehr setzen zu können, wie sie im Bild des fliehenden blutenden Vaters, der noch nicht die israelische Generation Noas ist, zum Ausdruck kommt. Der »schwache« Vater der Diaspora tritt metonymisch für Avinoam als Bild einer »schwachen« Männlichkeit ein. Er flieht, anstatt zu kämpfen, und Avinoam identifiziert sich mit ihm, als habe er noch nicht ver­ standen, worum es in der neuen politischen und damit auch Kriegs- und Geschlechterordnung des zionistischen Staates geht: nämlich darum, nicht mehr Opfer zu sein. So gelingt es ihm nicht, eine handelnde Distanz zum Vater aufzubauen, die ein sich von jenem unterscheidendes, sich selbst schützendes Leben erlaubte. Diese Distanz offenbart sich Noa in der Erkenntnis, dass sie dem Pogromopfer so nahe doch nicht ist: Es besteht keine verwandtschaftliche Beziehung, es handelt sich um einen Fremden, nicht um »einen von uns«. Folgerichtig muss sie ablehnen, dass Avinoam, der sie zuvor noch vor den Soldaten schützte, dieser verfolgte Mann sein könne. Entscheidend ist aber, dass Noa sich in ihrem Traum auf den Weg macht, ihrem vom Tod bedrohten Vater zu helfen. Sie kehrt die Rollenverteilung zwischen Vater und Tochter um, sie sucht ihn, um ihn zu schützen, ja, sie empfindet sogar Gewissensbisse in dem Moment, als sie glaubt, sie sei zu spät gekommen.53 Deutlich figuriert Noa hier sowohl in ihrem Traumverhal­ ten als auch in der Ablehnung der Selbstidentifizierung Avinoams mit dem namenlosen Gewaltopfer der Diaspora als »junge Soldatin«, wie sie von Yuran beschrieben wurde: als diejenige, die das Land verkörpert, das trotz und wegen seiner »Schwäche« »stark« genug ist, sich zu verteidigen und die zur Gemeinschaft Gehörenden zu schützen. Ihr Traum vollendet damit die Verschiebung, die Avinoam in seinem Bericht des Spaziergangs begonnen hat, und zwar den zionistischen Topoi gemäß – Noa ist nun nicht mehr (nur) die begehrens- und schützenswerte Frau, sondern macht sich selbst, von 53 Insofern ließe sich Noa auch als Gegenfigur zu der 19-jährigen Lena in Goldbergs Die Schlossherrin verstehen, die noch von den zionistischen Emissären aus Mitteleuropa gerettet und heimgeholt werden muss.

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Jerusalem aus, auf, zu Hilfe zu kommen und zu schützen. In ihr manifestiert sich damit die ideologisch zentrale Rolle des Staates Israel in seinem Selbst­ verhältnis zur Diaspora, nämlich ein sicherer Ort des Schutzes vor Verfol­ gung zu sein. Jehoschua rührt damit an ein grundlegendes Trauma des Staa­ tes und der israelischen Gesellschaft, das Trauma der antisemitischen Verfolgung und Vernichtung, die sich am deutlichsten in der Schoah mani­ festiert hat. Nicht zuletzt verwirrt dieser Traum, diese plötzliche Begegnung mit der Verfolgungsdrohung, Noa – es gibt keinen einfachen, sicheren und bewuss­ ten Umgang damit. Dies ist umso bemerkenswerter, als Jehoschuas Stück 1969 uraufgeführt wurde, in einer Zeit, als durch den überwältigenden israe­ lischen Sieg im Sechstagekrieg ein überschwängliches Gefühl militärischer Überlegenheit herrschte. Doch ganz ernst erinnert das Stück an die Vor­ kriegsangst, die drohende Wiederkehr der Vernichtung, rührt an das Trauma. Nach dem Krieg an die Angst vor dem Krieg zu erinnern, rückt diese in eine Position der Gegenwart, lässt sie unabgegolten als mögliche Angst vor der Möglichkeit des nächsten Krieges, angesichts dessen man weiterhin »schwach« und »stark« zugleich sein müsse. Dass Noa am Ende ihres Traums mit dem Gewaltopfer der Diaspora unter Papier begraben wird, das die versammelten Menschen auf sie werfen, impliziert zudem eine weiterhin bestehende Verbindung zu diesem Opfer, historisch und gegenwärtig, und damit die andauernde Notwendigkeit einer Aushandlung dessen, was Stärke und Schwäche, Verteidigungsbereitschaft und Schützenswertes, bedeuten.

In den Bergen von Gil’ad Zum israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es zahlreiche israelische Theaterarbeiten, in denen immer wieder Bezugnahmen auf die Schoah eine Rolle spielen. Während in Eine Nacht im Mai die Schoah durch die trau­ matischen Erfahrungen eines eliminatorischen Antisemitismus in den As­ soziationsraum der Aufführung gerufen wurde, stellen viele Stücke zum israelisch-palästinensischen Konflikt, wie etwa Zug 3, Trupp 1 (Maḥlaka 3, Kita 1) von Daliq Wolinitz,54 aber auch zum Libanonkrieg, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Bearbeitungen der Frauen von Troja,55 militärisches 54 Maḥlaka 3, Kita 1 [Zug 3, Trupp 1], UA: Ha-merkas ha-teatroni Neve-Zedek, Tel Aviv 1981, Regie: Itzik Weingarten. Siehe Israeli Center for the Documentation of the Perform­ ing Arts (ICDPA), 54.3.4. 55 Siehe Shimon Levy/Nurit Yaari, Theatrical Responses to Political Events. The Trojan War on the Israeli Stage during the Lebanon War, 1982–1984, in: Journal of Theatre and Drama 4 (1998), 99–123.

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Handeln beziehungsweise die Grenzen eines »ethisch vertretbaren militä­ rischen Handelns« infrage. Diese Grenzen werden nicht zuletzt über das Handeln der Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg und der Schoah nega­ tiv definiert. Die Schoah tritt in diesen Stücken also nicht mehr als Motiva­ tionsgrund – da es zu verhindern gelte, dass sie erneut, diesmal an Israel, geschieht – in den Assoziationsraum, sondern als verbotene Grenze – als ein Handeln, das es auf israelischer Seite zu verhindern gelte. Als verbotene Grenze sind die deutschen Gewaltverbrechen in der Schoah auf unterschied­ lichste Weise im israelischen Kriegs- wie auch im internationalen Diskurs über den israelisch-palästinensischen Konflikt wirkmächtig geworden, auch wenn eindeutig ist, dass historisch gesehen das militärische Handeln der israelischen Armee und die deutschen Verbrechen sich in keiner Weise ver­ gleichen lassen und auch nicht in irgendeiner Form einander entsprechen. Die Schoah dient dann im theatralen Assoziationsraum der Auseinanderset­ zung mit dem Kriegsdiskurs als Frage an die Ethik militärischen Handelns und zugleich als Forderung an die israelische Armee, sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst zu sein und entsprechend zu handeln, also nicht zu vergessen, dass ihre Stärke in ihrer Moral liege. Nur kurze Zeit nach dem Ende der Ersten Intifada griffen 1992 Gilad Evron und Hanan Snir mit Jehu56 auf eine biblische Erzählung (2 Kön 9–10) zurück, um grundlegende Fragen an die Gegenwart des israelisch-palästi­ nensischen Konflikts und an moralisches Handeln im Krieg zu stellen. Die Erfahrung des Aufstands, insbesondere der Gewalt des israelischen Militärs gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, hatte im israelischen Dis­ kurs die Bereitschaft zu Friedensverhandlungen wachsen lassen, wie sie dann in den 1990er Jahren folgen sollten. Jehu beginnt damit, dass die gleichnamige Hauptfigur, der Offizier Jehu, beschuldigt wird, er habe zwan­ zig Dorfbewohner in den Bergen von Gil’ad ermordet und ihre Leichen geschändet. Indem der Kriegsminister Azgad und der Hauptminister Zif die Tat zum Gegenstand einer Anklage machen, markieren sie diese als irregu­ lär. Doch Jehu verteidigt sich damit, dass es habe getan werden müssen, um Angst unter den Dorfbewohnern zu erzeugen und so die Berge zu befrieden, wie es der König gewünscht habe. Er erklärt, er habe nur verwirklicht, was in der Luft lag. Während sich Azgad von dieser »atmosphärischen« Begrün­ dung distanziert, verlagert Zif das Argument der Anklage umgehend von dem Vorwurf, Jehu habe Mord begangen, darauf, er habe keinen Befehl für

56 Jehu, UA: Habima, Tel Aviv 1992, Text: Gilad Evron, Regie: Hanan Snir. Das Stück erfuhr 2015 an der Habima, aber nun in der Regie von Ilan Ronen, eine zweite Inszenie­ rung, was den meisten israelischen Stücken verwehrt bleibt. Die Frage der militärischen Ethik und der Bedrohtheit des Staates durch die von ihm selbst freigesetzte Gewalt scheint mindestens so virulent wie 1992.

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sein Handeln gehabt. Plötzlich steht nicht mehr das Verhältnis von Mitteln und Zielen im Krieg zur Debatte, sondern das scheinbar einfache von Hie­ rarchie und Gehorsam. Für die Beurteilung militärischen Handelns eröffnet dies allerdings einen Abgrund. Während sich NS-Täter immer wieder darauf zurückzogen, sie hätten nur auf Befehl gehandelt, wird diese fragwürdige Konstruktion des »Befehlsnotstands« hier indirekt von Zif legitimiert: Denn hätte Jehu einen Befehl für sein Massaker gehabt, wäre, so scheint es zumin­ dest, aus Zifs Sicht alles gut.57 Das Verhängnis einer solchen Eröffnung – dass ein Massaker an Dorfbe­ wohnern überhaupt in den Möglichkeitsbereich des Legitimen gerückt wird – nimmt im Folgenden, als innere Zerstörung des »eigenen« Staates durch die einmal in Jehus Handeln sanktionierte Gewalt, seinen Lauf. Denn Jehu ist kein Prinz von Homburg – er empfängt seine Begnadigung angesichts des Todesurteils für seinen Ungehorsam nicht, um sich anschließend umso stär­ ker dem Lager des Königs zugehörig zu fühlen und zu erweisen, sondern er begeht Verrat, tötet seinen König und zerstört all diejenigen, die ihn zualler­ erst eines Verbrechens beschuldigt hatten, das sie ihn seiner Auffassung nach begehen hießen. In der biblischen Erzählung findet sich keine Erwäh­ nung eines Massakers an Dorfbewohnern, erst recht wird ein solches Ereig­ nis nicht als Ausgangspunkt für Jehus Aufstieg zum Thron dargestellt.58 Doch im Stück führt das vermeintliche Instrument der illegitimen Gewalt, Jehu, zu einer Entfesselung von Gewalt, die das Land selbst, nicht nur die zu befriedenden Dörfer in den Bergen zerstört, bis am Ende Jehu allein mit zwei Soldaten im Schloss Backgammon spielt, alle anderen Protagonisten des Stücks und Königreichs sind tot. Assoziativ mit der Erinnerung an die NSVerbrechen arbeitend, handelt es sich also um eine deutliche Warnung vor den Anfängen einer militärischen Gewalt, die alles in ihren Abgrund jenseits der nur schwer bestimmbaren Grenze legitimer Gewalt zu ziehen vermag.

57 Dem Code of Ethics der Israel Defence Forces zufolge sollte es nicht möglich sein, sich auf einen Befehl zu berufen, der eindeutig Illegales zum Ziel hat; hier deutet sich ein durch die Armee sanktioniertes Recht auf Befehlsverweigerung an: »IDF soldiers will be meticulous in giving only lawful orders, and shall refrain from obeying blatantly illegal orders.« (15. September 2015). Inwiefern dies praktische Auswirkungen hat, kann hier nicht untersucht werden. 58 Zu Jehus blutigem Aufstieg zum Thron und zur theatralen Qualität der biblischen Erzäh­ lung siehe Shimon Levy, The Bible as Theatre, Brighton/Portland, Oreg., 2000, 216–232.

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Gelbe Flecken – Gewalt und/ohne Sinn Während Evron den zerstörerischen Exzess militärischer Gewalt in einem biblisch-mythologischen Setting untersucht, das sich leicht auf den israe­ lisch-palästinensischen Konflikt beziehen lässt und von vielen Kritikern auch so verstanden wurde,59 verhandelt Hanoch Levin Gewalt auf einer grundlegenderen, strukturellen Ebene. Diese lässt sich als »allgemein menschlich« auffassen, erhält aber durch ihren Assoziationsraum im israeli­ schen Kontext und wiederholte Bezugnahmen auf die Schoah ihre spezifi­ sche Glaubwürdigkeit und Verstehbarkeit als »real möglich«, als aus der außertheatralen Realität hervorgegangen, also von ihr abgelöst und ihr doch zugleich verbunden. Levin hat von Ende der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre zahlreiche »Stücke der Gewalt«60 geschrieben und inszeniert, von denen Hinrichtung (Hoẓa’a le-horeg)61 abschließend in den Blick genom­ men werden soll. In Hinrichtung stehen sich zu Beginn drei »Mörder: Tausend-Augen, Süßer-Herr-Tod, Das-ist-eine-Schweinerei«, drei »Beschmutzerinnen: Herbstlächeln, Sorglosigkeit-der-Natur, Und-der-Himmel-lachte« sowie drei »Opfer: Gelbe-Flecken, Kalter-Schweiß, Angstzittern« in einem Dreiecks­ verhältnis gegenüber.62 Im Folgenden geht es in einer an das brechtsche Lehrstück erinnernden Ausführung63 um die Erniedrigung und Hinrichtung der drei Opfer, die zufällig ausgewählt wurden, zu sterben, während eine der Beschmutzerinnen ihr Geschäft ins Gesicht des Sterbenden verrichtet. Die Gewalt findet, wie auch in anderen Stücken Levins, aus purer Lust an ihr statt, aufgrund der simplen Möglichkeit, eine Gewalthandlung vollziehen zu können, da jemand in der Position dazu ist. Wie diese Position erlangt wurde beziehungsweise eine historisch-sozial auch nur näherungsweise konkrete Einbettung, die vielleicht gar eine politische Ableitung oder Argumentation für oder gegen ein Gewalthandeln ermöglichen würde, wird in Levins Stü­ cken der Gewalt nicht gegeben. Gewalt erscheint so als grundlos und doch zugleich als Grund der Beziehungen zwischen den Figuren, als Grund ihrer

59 Siehe z. B. Yaron London, We-aḥere ha-reẓaḥ, ha-ḥaijalim scharim Naomi Schemer [Und nach dem Mord singen die Soldaten Naomi Schemer], in: Jedi’ot Aḥaronot, 29. Mai 1992; Shosh Waitz, Zif, Begin, Ahab, Sharon. Maḥaze me’anjen, bimui meẓujian we haikar – Relewantiut la-ḥajim [Zif, Begin, Ahab, Sharon. Interessantes Stück, großartige Regie und die Hauptsache – Relevanz für das Leben], in: Jedi’ot Aḥaronot, 19. Juni 1992. 60 Naumann, Dramaturgie der Drohung, 52–55. 61 Hoẓa’a le-horeg [Hinrichtung], UA: Kameri, Tel Aviv 1979, Regie: Hanoch Levin. 62 Hanoch Levin, Execution, in: ders., Plays, hier Bd. 3, 7–52, hier 9 (hebr.). 63 Zum Einfluss von Brechts Theater auf Levin siehe Naumann, Dramaturgie der Drohung, 58–62; Erella Brown, Politics of Desire. Brechtian »Epic Theater« in Hanoch Levin’s Postmodern Satire, in: Ben-Zvi (Hg.), Theater in Israel, 173–199.

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Sozialität. Dabei verbindet sich Gewaltlust in dem Dreieck aus Mördern, Beschmutzerinnen und Opfern nicht zuletzt mit Sexuallust. Wie in vielen anderen seiner Stücke verwendet Levin auch hier sprechen­ de Figurennamen; bereits der Name »Gelbe-Flecken« lässt an den Gelben Stern als Kennzeichnung der Opfer der Judenverfolgung denken. Da mag es nicht verwundern, dass Gelbe-Flecken die zentrale Figur des Stücks ist, deren Erniedrigung, Kastrierung und Tötung im Mittelpunkt steht, während die beiden anderen Opfer eher schnell und »zwischendurch« ermordet wer­ den, »zur Auflockerung« dessen, was ganz deutlich an ein Publikum adres­ siert ist, wie ein Varieté der Gewalt. In der zionistischen Ideologie galten für den gewaltsamen Tod für die Gemeinschaft, also zumeist im Krieg, lange Zeit die Joseph Trumpeldor zugeschriebenen letzten Worte »It is worth dying for the country«64 als maß­ geblicher Orientierungspunkt. Während sich im Zuge der Infragestellung und Weiterentwicklung der zionistischen Ideologie dieses Ideal immer wie­ der als Reibungspunkt erwies, rückt Levin diese Möglichkeit der »Aufwer­ tung« des individuellen Todes durch nationale Sinnstiftung außerhalb des Bereichs der Wahrnehmung und fokussiert auf den Tod eines Individuums als solchen. »Kalter Schweiß: […] ich verfüge über eine reiche innere Welt, ich habe Erinnerungen, Erlebnisse und Ambitionen, mein Leben ist eine ganze Welt; wie ist es möglich, plötzlich eine Welt zu zerstören?«65

Dass der individuelle Tod zugleich den durch nichts begründbaren Unter­ gang einer Welt bedeutet, findet sich allerdings auch im Diskurs über die Schoah.66 Noch deutlicher führt jedoch die Szene der Selektion des Opfers zu Beginn des Stücks in diesen Diskurs hinein, in der Herbstlächeln, der die Mörder gestattet haben, mit ihrem Finger das Opfer auszudeuten, über ihre neu erlangte Macht reflektiert: »Herbstlächeln: Ich habe Macht und Recht, einen Menschen zum Tode auszuwählen. Ich habe Macht und Recht, zu entscheiden, dass ein Mensch, den es gibt – nicht sein wird. Der höchste Wert, das Leben eines Menschen, wird bald mit schrecklichem Schmutz beschmutzt werden unter meinen untersten Körperteilen.

64 Zit. nach Zerubavel, Recovered Roots, 41. 65 Levin, Execution, 13. 66 Siehe Yaron Ezrachi, Gewalt und Gewissen. Israels langer Weg in die Moderne, aus dem amerikan. Englisch von Angelika Schweikhart, Berlin 1998, 109.

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Mein kleiner Finger, dem es obliegt, auszuwählen, und die finstere Öffnung meines Hinterns erhalten eine göttliche Bedeutung. Ich bin plötzlich erhöht, über der Welt, und ein starker Schauder der Ehrfurcht vor mir selbst geht wie ein Lied durch mein Fleisch.«67

Die folgende Szene, in der Gelbe-Flecken als nächstes Opfer aus der Gruppe derjenigen selektiert wird, die als diesmal Nichtselektierte einen weiteren Tag gewonnen haben, lässt zweifelsohne das historische Ereignis der Schoah assoziieren, ebenso wie aufseiten der Täter, der Mörder und Beschmutzerin­ nen, die völlige Willkür der Wahl, die noch eine weitere Steigerung erfährt, indem der Vollzug der Auswahl auf den kleinen Finger verschoben wird, als kristallisiere sich in ihm die unfassbare Handlungsmacht, über das Leben eines Menschen zu entscheiden. Ein solches Verfügenkönnen bedeutet für Herbstlächeln zudem eine Aufwertung ihrer selbst ins Göttliche, zu einer Macht, der das Opfer schutzlos ausgeliefert ist und vor der sie selbst Ehrfurcht empfindet. Die (Gewalt-)Lust, die aus der Erniedrigung des Opfers hervorzu­ gehen beginnt, gerät so zur (Sexual-)Lust an sich selbst, in der die allmächtige Herbstlächeln sich selbst Objekt und Subjekt ihrer Lust zugleich ist. Während für die Täter der Grund, Gewalt auszuüben, in ihrer Lust anstatt in konkreten politischen oder ideologischen Begründungen zu suchen ist, gibt es für die Opfer einen solchen Grund nicht. Die politischen und ideolo­ gischen Begründungen werden in Levins Theater entsublimiert, auf ihren Grund der Lust zurückgeführt, der sich in den »Stücken der Gewalt« ganz auslebt und zeigt. Der (Lust an der) Gewalt wird keine Sublimierung in Ideologie beigemengt, sie wird nicht mit dem argumentativen Schein ratio­ naler Rechtfertigung eines Gewalthandelns verdeckt, sondern sie erscheint unverstellt. Damit muss sie den Opfern umso unverständlicher erscheinen, die letztlich ohne eine Chance auf Rettung durch eigene Handlungen sind. Denn während sie, um sich zu retten, versuchen, bei einer Rationalisierung des Handelns der Täter anzusetzen, etwa mit der Überlegung, dass es für Herbstlächeln vorteilhafter sein müsse, stände Gelbe-Flecken ihr als Liebha­ ber oder Diener langfristig zur Verfügung, als ihn zu töten, ignoriert die Lust an der Gewalt solche Berechnungen vermeintlichen Vorteils. Ohne Rationa­ lisierung des Handelns lässt sich diesem weder über Argumente noch durch Tauschangebote, wie Sex oder Arbeit, begegnen, sondern das Leben des Opfers hat seinen alleinigen Wert im vorübergehenden Lustgewinn des Täters beziehungsweise der Täterin. Für die Opfer entsteht eine Erfahrung des völligen Ausgeliefertseins an ein Handeln, dessen Regeln, so es denn 67 Levin, Execution, 17.

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überhaupt welche gibt, sie nicht kennen, nicht erkennen können. Mit dieser Erfahrung holt das Stück Hinrichtung noch auf einer anderen Ebene, nämlich derjenigen der individuellen Erfahrung des Ausgeliefertseins der Deportierten und der Häftlinge der Konzentrationslager an Gewalten, deren Handlungen immer wie Einbrüche aus einer anderen, nicht nachvollzieh­ baren, das heißt nicht rationalisierbaren Ordnung erscheinen, die Schoah in den Assoziationsraum des Theaters. Indem Levin in der lehrstückhaften Anordnung von Hinrichtung das Han­ deln der Figuren als Narration eines »allgemein menschlichen« Vermögens des Gewalthandelns aus Lust und entsprechend von Lust als Grund an Gewalt darbietet, geschieht eine Universalisierung, eine Herauslösung aus konkreten sozialen und historischen Zusammenhängen. Zugleich funktio­ niert die Rezeption dieses Universalen als ein in dieser oder ähnlicher Form »real Mögliches« jedoch gerade, indem hier die spezifische Erfahrung der Schoah als individuelle Erfahrung des Ausgeliefertseins an nicht rationali­ sierbares Gewalthandeln bildhaft wird. Wie in Hiobs Leiden wird auch in Hinrichtung aus den einzelnen Erfahrungspunkten und Erinnerungselemen­ ten die historische Erfahrung der Schoah im – eher mythologisch denn histo­ risch zu nennenden – Erzählraum von Levins Theater bildhaft. Dies ermög­ licht die Untersuchung einer menschlichen Handlungskonstellation, die allgemein und nicht nur in einer bestimmten historischen Situation Gültig­ keit beansprucht, und lässt die theatrale Verhandlung dieser Verhaltensfor­ men zugleich glaubhaft erscheinen. Die Grundlosigkeit und Unverstehbarkeit der Gewalt, wie sie in Hinrich­ tung erscheint, zielt auf die individuelle Erfahrung von Gelbe-Flecken, aus der sich (zumindest für ihn) kein Sinn stiften lässt. Dies zeugt von einer anderen Erinnerungsform an die Schoah, als sie von Ben-Zion Dinur in der oben zitierten Rede gefordert wurde: Gerade durch den Eingang in das kol­ lektive Gedächtnis der israelischen Nation sollte die Schoah sinnstiftend für das zionistische Narrativ wirken. In der Gegenüberstellung von Hinrichtung und der Rede Dinurs zeigt sich, wie die Verfolgungs- und Gewalterfahrung der Schoah im Diskurs in eine private, individuelle und eine kollektive, Gemeinschaft stiftende Erfahrung auseinanderfällt. Auf diese Divergenz als Moment der Reibung, des Konflikts und in gleicher Weise als nicht in die eine oder andere Richtung auflösbare Bruchstelle des israelischen Diskurses über die Schoah weist Levin durch seine Bezugnahme im Assoziationsraum des Theaters hin. Dadurch, wie er dies tut, ergreift er jedoch zugleich erin­ nernd Partei für die individuelle Welt des Einzelnen und die Zentralität sei­ ner Gewalterfahrung gegenüber einer Ideologisierung durch Darstellung im Rahmen eines staatlichen oder gesellschaftlichen, kollektiven Erinnerungs­ diskurses.

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Unerwünschte Uraufführungen: Das Deutsche Miserere und die Jüdische Chronik 1966 in Leipzig »O Deutschland, bleiche Mutter!«, hebt der Chor in e-Moll an. »Wie sitzest du besudelt / unter den Völkern. / Unter den Befleckten / fällst du auf«, sin­ gen der Rundfunkchor Leipzig und der Große Chor des Berliner Rundfunks in den weiten Raum der Leipziger Kongresshalle, »In deinem Hause / brüllt die Lüge laut«. Generalmusikdirektor Herbert Kegel hebt den Taktstock, das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig setzt ein. Die Uraufführung des Deut­ schen Miserere, eines »Oratoriums mit Projektionen«1 in drei Teilen, arran­ giert von Paul Dessau und Bertolt Brecht im amerikanischen Exil und adres­ siert an die deutsche Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnt. Es ist Dienstag, der 20. September 1966, gegen 19.30 Uhr. Gut zwanzig Jahre waren vergangen, ehe Paul Dessau (1894–1979) sein Chorwerk auf einer deutschen Bühne erleben konnte. Bertolt Brecht (1898–1956) war zum Zeit­ punkt der Leipziger Uraufführung bereits seit zehn Jahren tot, die deutsche Teilung vollzogen. Die Bundesrepublik und die DDR standen sich im OstWest-Konflikt gegenüber, als Dessau sich mit der Gemeinschaftsarbeit an die Öffentlichkeit wandte, damit diese sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetze. Im September 1966 schien die Konstellation für die Aufführung des Ora­ toriums günstig: Der Verband Deutscher Komponisten und Musikwissen­ schaftler (VDK, später VKM: Verband der Komponisten und Musikwissen­ schaftler der DDR) feierte sein 15-jähriges Bestehen in Leipzig im Rahmen der »Tage zeitgenössischer Musik«. Die Gesellschaft für Musikforschung hatte zeitgleich zum Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress geladen. Neben Musiktheoretikern und -historikern aus Ostdeutschland reis­ ten auch westdeutsche Wissenschaftler an, etwa Ludwig Finscher oder Georg von Dadelsen.2 So drängten sich am zweiten Tag der Feierlichkeiten

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Akademie der Künste (nachfolgend AdK), Paul Dessau Archiv (nachfolgend PDA), 3535.1, Programmheft für die »Tage zeitgenössischer Musik«, 15. Siehe die Programmhefte der einzelnen Veranstaltungen: AdK, PDA, 3535.1, Programm­ heft für die »Tage zeitgenössischer Musik«, sowie AdK, Ernst Hermann Meyer Archiv (nachfolgend EHMA), 815. Der Kongress der Gesellschaft für Musikforschung fand vom 19. bis 24. September 1966 statt, die »Tage zeitgenössischer Musik« wurden vom 19. Sep­ tember bis 5. Oktober 1966 begangen. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 195–217.

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»zahlreiche in- und ausländische Gäste« in der Dr.-Kurt-Fischer-Straße,3 darunter Fachleute, Komponisten und Wissenschaftler, Journalisten, Kultur­ politiker und Parteifunktionäre. Die Aufführung des »Zweiten Anrechtskon­ zerts des Rundfunk-Sinfonieorchesters«,4 betreut von Radio DDR, besuchte auch der Komponist selbst. Am darauffolgenden Tag notierte er: »›Deutsches Miserere‹ Leipzig Ihr Leute, wenn ihr einen sagen lehrt: er habe nun ein altes Werk gehört nach 20 Jahren. Wenn es Brecht doch wüsste! Ich war dabei. Ach! wie ich ihn vermisste!«5

Das Jahr 1966 hatte für Paul Dessau im Hinblick auf seine bis dahin nicht aufgeführten Arbeiten bereits gut begonnen: Am 14. Januar 1966 dirigierte Christoph von Dohnányi die Jüdische Chronik – eine Gemeinschaftskompo­ sition von zwei west- und drei ostdeutschen Komponisten – in Köln, am 16. Februar folgte die ostdeutsche Uraufführung durch Herbert Kegel und das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig. Die Jüdische Chronik war bis dato zwar keine zwanzig Jahre, aber immerhin seit 1961 nicht aufgeführt worden. Auf Betreiben Dessaus entstanden, war sie – wie seinerzeit das Deutsche Miserere – eine unmittelbare Reaktion auf das politische Zeitgeschehen: Sie thematisierte antisemitische Ausschreitungen in der Bundesrepublik und den beginnenden Eichmann-Prozess in Jerusalem. Dessau hatte 1960 Kom­ ponisten aus West- und Ostdeutschland zusammengebracht, um gemeinsam einen Text des Lyrikers Jens Gerlach über die Judenvernichtung und den Aufstand im Warschauer Getto 1943 zu vertonen. Die Jüdische Chronik erinnerte einerseits an jenes Geschehen, aktualisierte es andererseits, indem sie ein- und ausgangs mahnte: »Dies geschieht heute!«, und damit auf »die mißbrauchten Sterne Davids«6 an den Synagogen hinwies. Auch aufgrund der historisch-politischen Brisanz der Topoi im Nach­ kriegsdeutschland scheiterte Dessau jahrelang daran, seine Projekte zur 3

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So die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten am 22. September 1966, zit. nach Jörg Rothkamm, Die Leipziger Uraufführung des »Deutschen Miserere« 1966 im Spiegel der Presse, in: Nina Ermlich Lehmann u. a. (Hgg.), Fokus »Deutsches Miserere« von Paul Dessau und Bertolt Brecht. Festschrift Peter Petersen zum 65. Geburtstag, Hamburg 2005, 155–166, hier 159. Siehe AdK, PDA, 3535.1, Programmheft für die »Tage zeitgenössischer Musik«, 15. Die Dr.-Kurt-Fischer-Straße heißt heute Pfaffendorfer Straße. Paul Dessau, »Let’s Hope for the Best«. Briefe und Notizbücher aus den Jahren 1948 bis 1978, im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste hg. von Daniela Reinhold, Hofheim 2000, 95. Jens Gerlach, Die Jüdische Chronik, in: Ulrich Dibelius/Frank Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, 4 Bde., Berlin 1993–1999, hier Bd. 1: Dokumente aus den fünfziger Jahren, unter Mitarbeit von Evelyn Hansen, Berlin 1993, 345–350, hier 345.

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Uraufführung zu bringen. Das Deutsche Miserere, das den Nationalsozialis­ mus und den Zweiten Weltkrieg zum Thema hatte, und die Jüdische Chronik über die Vernichtung der Warschauer Juden gelangten schließlich beide 1966, mit Verspätung, zur Aufführung. Ihre letztendliche, fast gleichzeitige Rezeption 1966 in Leipzig bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt der vor­ liegenden Ausführungen, die ein exemplarisches Gefüge in einem deutschdeutschen Spannungsfeld entfalten sollen. Im Kleinen – in der Ablehnung und in der Aneignung der zwei Kompositionen Paul Dessaus – spiegeln sich deutsch-deutsche Geschichten nach 1945. Die Frage, warum beide Uraufführungen zunächst verzögert wurden und dann doch noch stattfan­ den, eröffnet Perspektiven auf die Nachkriegszeit in Deutschland, die über die Theater- und Musikgeschichte hinausweisen. Beide Verzögerungen erzählen von den Schwierigkeiten der musikalischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einerseits, von politischen Hürden sowie von Annähe­ rungs- und Abgrenzungsversuchen der beiden deutschen Staaten mittels Musik und Theater andererseits. Die Rezeption des Deutschen Miserere und der Jüdischen Chronik in West- und Ostdeutschland exemplifiziert diese deutsch-deutschen Aushandlungen, geprägt vom Kalten Krieg und von Denktraditionen, die in die Vergangenheit zurückreichen: in die Zeit zwi­ schen den Weltkriegen und in das 19. Jahrhundert. Vermittelt über die beiden verspäteten Uraufführungen und über das Schaffen von Dessau und Brecht soll darüber hinaus eine spezifische Konstellation, die des Jahres 1966 in Leipzig, betrachtet werden.

1966: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« »Aufführung: Deutsches Miserere am 20. IX. 66 unter Kegel. Hervorra­ gend!«,7 notierte Paul Dessau in sein Notizbuch und ließ in einem weiteren Arbeitsbuch eine detailliertere Aufführungskritik folgen: »Chor + Orchester mustergültig. Nicht der Kinderchor des Dilettanten H.[ans] Sandig. Annelies Burmeister8 über alles Lob erhaben. Bassist ([Hajo] Müller) schwach. Projek­ 7 8

Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 109. Annelies Burmeister (Alt) wurde im selben und im darauffolgenden Jahr als Fricka und Siegmunde in Richard Wagners Der Ring des Nibelungen bei den Bayreuther Festspielen einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Sie sang damit ebenjenes musikdramatische Werk des 19. Jahrhunderts, von dem die Komponisten um Paul Dessau sich abzugrenzen such­ ten. So schrieb Paul Dessau nach einem Besuch von Götterdämmerung in der Inszenie­ rung von Erich Witte an der Berliner Staatsoper im Mai 1966: »Später, bei einer Stelle des Gunther: ›Wissen Sie, was Schmonzes ist‹?! (›Schmonzes‹ ist jiddisch + heisst soviel wie Geseihere, unnützes Gewäsch.) (Und dabei sitzt das ›Volk‹ wie in der Kirche – wo es

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tionen: technisch skandalös. Auf den Mond wollen sie, aber nicht einmal anständig pro­ jizieren können sie!«9

Paul Dessaus Ärger bezog sich auf die Fotoepigramme10 aus der brechtschen Kriegsfibel: Eine zerstörte Stadt, eine Frau in Trümmern, zwei Soldaten am Nordkap, ein Mann kurz vor der Exekution, Hitler am Rednerpult, die Reichskanzlei, Goebbels und Göring im Gespräch. Diese Fotografien hatte Brecht während des Zweiten Weltkriegs im Exil Presse- und Propaganda­ materialien entnommen und jeweils ein kommentierendes, vierzeiliges Epigramm zu ihnen verfasst. Dessau hatte später die Musik zu 28 dieser Fotografien komponiert. Während des Singens der Vierzeiler im zweiten Teil des Deutschen Miserere sollten die Fotos an eine Wand der Leipziger Kongresshalle projiziert werden, Technikstörungen verhinderten jedoch den reibungslosen Ablauf.11 Dessaus Ärger erscheint insofern konsequent, als die arrangierte Verbindung zwischen Musik, Text und Bild im Sinne des brechtschen Theaters Verfremdung statt Einfühlung, Kommentierung statt Verdoppelung intendierte. Sie sollte damit den Zuschauer zur Reflexion über das Gesehene und Gehörte anregen.12 Die künstlerische Arbeit Brechts und Dessaus, die immer auch kommen­ tierend eingriff, wurde in der DDR nicht ohne Weiteres rezipiert. Dies wird nicht nur an der übermäßigen Verspätung der Uraufführung deutlich: So bet­ teten die Organisatoren der »Tage zeitgenössischer Musik« das Deutsche Miserere in einen offiziellen Rahmen, der wohl auch die Interpretationslinie vorgeben sollte. Im Programmheft der Musiktage lud die Bezirksleitung der

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auch nix versteht + betet an! Z. K. [Zum Kotzen]!) Es ist ein unverantwortliches Missver­ ständnis, diesen Wagner heute bei uns zu spielen. Einer marxistischen Analyse hielte diese Haltung nicht stand.« Zit. nach Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 108. Ebd., 95. Die Uraufführung des Deutschen Miserere fand unter Beteiligung der Solisten Jola Koziel (Sopran), Annelies Burmeister (Alt), Rolf Apreck (Tenor) und Hajo Müller (Bass) statt, es wirkten das Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig, der Rundfunkchor Leip­ zig, der Große Chor des Berliner Rundfunks und der Kinderchor von Radio DDR mit; siehe etwa AdK, PDA, 1.74.1646, Programmheft der »Tage zeitgenössischer Musik«. Brecht dichtete die Fotoepigramme in den Journalen des Exils ab Juli 1938. Er collagierte dort offizielle Presse- und Propagandafotografien mit eigenen Vierzeilern, die er Epi­ gramme nannte, womit er sich an die antike Tradition der Grabinschrift und der zuge­ spitzten Gedichtform anlehnte. – Diese Epigramme »sollen die Bilder ›zum Sprechen bringen‹, und zwar meist gegen den in den Medien damit verbundenen (illustrativen oder heroisierenden) Zweck. Die Verbindung von Foto und verifizierter Erläuterung hat Brecht ›Fotoepigramm‹ genannt.« Jan Knopf, Zur Entstehung der Kriegsfibel, in: Bertolt Brecht, Kriegsfibel, hg. von Barbara Brecht-Schall, Berlin 2008, V–VII, hier V. Auch Pressekritiken erwähnen die Technikstörung, siehe etwa den Artikel in Die Union vom 24./25. September 1966, zit. nach Rothkamm, Die Leipziger Uraufführung des »Deutschen Miserere« 1966 im Spiegel der Presse, 163. Siehe dazu etwa Peter Petersen, Art. »Misuk«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, 7 Bde., hier Bd. 4, Stuttgart 2013, 204–212.

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FDJ gemeinsam mit Radio DDR zu einem »Gespräch über das ›Deutsche Miserere‹ […] im Beisein des Komponisten, des Dirigenten […] und [von] Herrn Dr. Fritz Hennenberg, Mitarbeiter der Abteilung Ernste Musik von Radio DDR«.13 Der von der SED gelenkten Tageszeitung Neues Deutsch­ land war die Uraufführung zwei Tage später hingegen nur eine kurze Mel­ dung in der Leipziger Regionalausgabe wert: Die Zuhörer hätten das Werk mit starker Ergriffenheit aufgenommen und den Interpreten sowie dem anwesenden Komponisten mit anhaltendem Beifall gedankt.14 Die hand­ schriftlichen Eintragungen in den Chorpartituren dokumentieren außerdem, dass vermutlich aus politischen Gründen kurzfristig der 22. Vierzeiler des zweiten Teils gestrichen wurde: »Weh’, unsre Herren haben sich entzweit. Auf unsern Äckern, wasserlos und steinig sind nun drei fremde Heere schon im Streit. Nur gegen uns sind sie sich alle einig!«15

Dementsprechend entfiel die Projektion des dazugehörigen Pressefotos »Amerikanische Landung in Sizilien«, das einen sizilianischen Bauern mit dem Brigadegeneral der Ersten Division, Theodore Roosevelt – Sohn des Präsidenten der Vereinigten Staaten – zeigt.16 Nicht nur aus musikhistorischer Perspektive ist bemerkenswert, dass Des­ sau für die Uraufführung kein Trautonium – das elektronische Musikinstru­ ment gilt als Vorläufer des Synthesizers – zur Verfügung stand.17 Aus dem Redemanuskript »Zur Situation unseres Musiklebens« geht hervor, wie Des­ 13 AdK, PDA, 1.74.1646, Programmheft der »Tage zeitgenössischer Musik«, o. S. 14 Zit. nach Rothkamm, Die Leipziger Uraufführung des »Deutschen Miserere« 1966 im Spiegel der Presse, 158. Jörg Rothkamm merkt außerdem an, dass die bundesrepublikani­ sche Presse die Uraufführung offenbar nicht zur Kenntnis nahm, »und das, obwohl über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress […] in Leipzig vielfältig berichtet wurde.« Ebd., 156. 15 Siehe etwa die handschriftliche Eintragung in der Chorpartitur Nummer 47, in: AdK, PDA, 1.74.250.47, Chorpartitur »Deutsches Miserere«, 17 f. Die Zuordnung dieser Parti­ tur zur Uraufführung 1966 stützt sich auf die Forschungen Daniela Reinholds und des Paul Dessau Archivs der Akademie der Künste Berlin. Für die Zuordnung und Streichung des Epigramms spricht auch, dass sowohl die Leipziger Volkszeitung als auch das Sächsi­ sche Tageblatt in ihren Kritiken vom 22. und 24. September 1966 von 27 statt 28 Vierzei­ lern berichten; siehe Rothkamm, Die Leipziger Uraufführung des »Deutschen Miserere« 1966 im Spiegel der Presse, 160. 16 Siehe Brecht, Kriegsfibel, 50. Das Foto trägt die Bildunterschrift »‘The Germans went that way’ says a Sicilian peasant to First Division’s Brig. Gen. Theodore Roosevelt«. In der Zählung dieser Edition der Kriegsfibel handelt es sich um Bild Nummer 50 statt 22. 17 In Paul Dessaus Notizbuch findet sich für das Jahr 1966 die Anmerkung: »Alle ›Trauto­ nium-Stellen‹ auf der Hammond-Orgel spielen lassen.« Siehe Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 108. Im Programmheft der Leipziger Uraufführung taucht außerdem der Zusatz »für Trautonium« nicht auf, dort ist das Deutsche Miserere für »vier Solostimmen, Chor,

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sau vehement für das Trautonium und gegen die Reglementierung der musi­ kalischen Ausdrucksmittel stritt: »Bei uns gibt es Leute, die sich besonders fortschrittlich vorkommen, wenn sie jede Möglichkeit, den technischen Fortschritt für die Gewinnung neuer Ausdrucksmittel in der Kunst anzuwenden, mit überheblicher Geste beiseite tun. Wir hätten sonst nämlich längst dieses Instrument. Nicht nur, weil wir dies Trautonium bw. für unsere praktische Arbeit effektiv brauchen. Nein! Wir brauchen es um des Fortschritts willen!«18

Der gleichzeitig mit der Uraufführung stattfindende Internationale Musik­ wissenschaftliche Kongress thematisierte genau diesen Fortschritt in der Musik – und so wurden am 20. September 1966 im Rahmen der Leipziger Feierlichkeiten an zwei Orten in der Stadt die musikalischen Grabenkämpfe ausgefochten, die sich seit der Formalismusdebatte durch die gesamten 1950er und frühen 1960er Jahre gezogen hatten und die auch in Dessaus Forderung nach einem Trautonium mitschwangen. Bevor um 19.30 Uhr die Komposition Dessaus, dessen Arbeiten oftmals per se unter »Formalismus­ verdacht« geraten waren, ihr Publikum fand, eröffnete morgens um 9 Uhr der Komponist Ernst Hermann Meyer (1905–1988) – erklärter Anhänger des Sozialistischen Realismus – das erste Symposium des Kongresses unter dem Titel »Fortschritt und Avantgardismus« im Erich-Zeigner-Saal des Grassimuseums. Meyer differenzierte in seinen Diskussionsbeiträgen zwi­ schen sozialistischer, bewusstseinsverändernder Musik, die dem »gesell­ schaftlichen, ideellen und moralischen Fortschritt«19 verpflichtet sei und in enger Verbindung zwischen Künstler und Publikum entstehe, und »neuer«, allein dem Material verpflichteter und folglich kapitalistisch-formalistischer Musik. Meyer schärfte damit erstens die Grenzen zwischen offiziell gewünschter »sozialistisch-fortschrittlicher« und negativ bewerteter »kapita­ listisch-formalistischer« Musik, ebenjene Grenzen also, die Dessau immer wieder, so die Vorwürfe der DDR-Führung, überschritten habe. Zweitens forderte Meyer die Komponisten der sozialistischen Länder auf, mit ihrer Musik das Publikum »vorwärtszuführen und zu entwickeln«.20 Er griff damit einen Vorwurf auf, der auch in den Kritiken der darauffolgenden Tage herausklang: Diese implizierten, das Deutsche Miserere sei nicht vorwärts-, sondern – bedingt durch den Gegenstand – rückwärtsgewandt. So kritisierte die Leipziger Volkszeitung die »zu häufigen Wiederholungen düsterer Stim­

Kinderchor und großes Orchester« angekündigt. Siehe AdK, PDA, 1.74.1646, Programm­ heft der »Tage zeitgenössischer Musik«. 18 AdK, PDA, 1.74.1767, Zur Situation unseres Musiklebens, 2 f. 19 AdK, EHMA, 815, Schlußwort Symposium I, 2 f. 20 Ebd., Diskussionsbeitrag Leipzig-Symposium (Fortschritt und Avantgardismus) Juni 1966, 6.

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mungen«.21 Dabei hatte Paul Dessau im Programmheft eine geschichtsopti­ mistische Interpretation des brechtschen Texts vorgeschlagen: »Die Schluss­ zeile bringt den Hinweis, daß die Welt nun endlich besser werde.« Er zitiert hierbei die Zeilen: »Du, den ich in meinem Leibe trage, / Du wirst unaufhalt­ sam sein.«22 Dies kontrastiert das Ende des zweiten Teils des Miserere; dort mahnte der Chor das Publikum zuvor flüsternd: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!«23 Mal offen und mal versteckt wurde gegen beide Uraufführungen Wider­ stand geübt, der auch im Nachgang in der Berichterstattung zutage trat. Besonders in den Feuilletons wurde evident, dass die Thematisierung des Nationalsozialismus mittels Musik und Theater in der DDR oftmals festge­ setzten Deutungsmustern unterworfen war. So wiesen die Kritiken zur Mise­ rere-Uraufführung auf die Bundesrepublik, wo das Übel des Nationalsozia­ lismus noch lebendig sei. Dort hingegen fand die Leipziger Uraufführung keine Erwähnung in der Presse.

1943: Komponieren, »in Beschämung« Anfang Februar 1943 kapitulierte die 6. Armee der deutschen Wehrmacht in Stalingrad. Brecht und Dessau verfolgten das Kriegsgeschehen im Exil in den Vereinigten Staaten. In dieser Zeit entwickelte Dessau die Idee, eine »Art deutsches Requiem, aber nicht so wie Brahms« zu schreiben: »Aber so ein großes Miserere, ein deutsches Werk, das die ungeheure Tragödie unse­ res Vaterlandes schildert.«24 Sowohl die Bezeichnung des Chorwerks als »Requiem«25 oder »Miserere«26 als auch die Anweisungen in der Partitur zeigen, mit welcher Haltung Brecht und Dessau im Exil vom Nationalsozia­

21 Leipziger Volkszeitung, 22. September 1966, 6, zit. nach Rothkamm, Die Leipziger Uraufführung des »Deutschen Miserere« 1966 im Spiegel der Presse, 160. 22 Paul Dessau, Notizen zu Noten, hg. von Fritz Hennenberg, Leipzig 1974, 50. 23 AdK, PDA, 1.74.250.47, Chorpartitur »Deutsches Miserere«, 45. Die Annahme, der Chor habe geflüstert, stützt sich auf handschriftliche Eintragungen in den Chorpartituren. 24 AdK, PDA, 1.74.1768, fol. 2, Gespräch mit Hans Bunge 1958. 25 Als Requiem wird u. a. eine Komposition für die Totenmesse nach der katholischen Litur­ gie bezeichnet, es dient dadurch auch dem zeremoniellen Totengedenken. Paul Dessau bezog sich immer wieder auf Ein Deutsches Requiem (1867) von Johannes Brahms als kontrapunktische Arbeit zum Miserere. 26 Auch die Bezeichnung »Miserere« bezieht sich auf den liturgischen und kirchenmusikali­ schen Rahmen, so wird das Miserere im 51. (bzw. Vulgata: 50.) Bußpsalm des Alten Tes­ taments aufgerufen, nachdem David sich an Batseba vergangen hatte: »Miserere mei, Deus / Erbarme dich Gott / Gott, sei mir gnädig«.

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lismus erzählen wollten: »sehr gehalten«,27 »sehr langsam, leise, in Beschä­ mung«,28 in »unterdrückte[r] Verängstigung«,29 zwischen Klage, Anklage, Schuldbekenntnis, Scham, Aufforderung und Appell changierend. Sie inter­ pretierten das Geschehene im Sinne Friedrich Engels’ und seiner Deutung der deutschen Geschichte als »Misère«.30 Die ersten Kompositionsentwürfe zum Miserere schrieb Dessau neben seinem Broterwerb – der Arbeit auf einer Hühnerfarm bei New York.31 Noch im selben Jahr, 1943, übersiedelte er von der Ost- an die Westküste, nach Hollywood, und begann intensiv mit Brecht zu arbeiten: Oft »zwei- oder dreimal in der Woche« und »an den berühmten Sonntagen«: »Ich kam oft eine Stunde früher zu ihm, und dann arbeiteten wir noch in der Stunde, bevor die [Sonntagsgäste] kamen, Sachen durch«,32 erinnerte sich Dessau später an den gemeinsamen Arbeitsprozess. 1944 war der Text für den ersten und zweiten Teil des Miserere fertig. Der erste Teil begann in Anlehnung an Gedichte Brechts aus den 1930er Jahren: Deutschland (1933, entspricht im Miserere den Versen O Deutschland, bleiche Mutter) sowie Das Lied vom Schuh (1932/33, entspricht den Versen Sie tragen ein Kreuz voran).33 Die 28 Fotoepigramme des zweiten Teils entnahm Brecht der Kriegsfibel, die zunächst unabhängig vom Miserere ab Juli 1938 im Exil entstanden war. Sie illustrierte das Kampfgeschehen an der Front, karikierte Propagandafotogra­ fien des NS-Regimes und zeigte das Leid der Zivilbevölkerung. Der dritte Teil schloss mit Brechts Lied einer deutschen Mutter: »Sah das braune Hemd dich tragen / […] / Es war dein Totenhemd«. Mehrheitlich stammten die Texte, die Brecht für das dreiteilige Chorwerk collagierte, aus bereits

27 Siehe AdK, PDA, 1.74.250.1–48, 48 Chorpartituren »Deutsches Miserere«, 13. 28 Siehe ebd., 15. 29 Daniela Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979. Dokumente zu Leben und Werk, Berlin 1995, 77. 30 Friedrich Engels interpretierte die deutsche Geschichte als eine »einzige fortlaufende Misère« und bezog sich dabei vornehmlich auf die »Zersplitterung Deutschlands« und das »Fehlschlagen der deutschen bürgerlichen Revolution des 16. Jahrhunderts«. Ders., Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, 43 Bde., Berlin 1956–1968, hier Bd. 39, 94–100, hier 99. 31 AdK, PDA, 1.74.1768, fol. 2, Gespräch mit Hans Bunge 1958; siehe auch Paul Dessau, »Deutsches Miserere«, 1957, zit. nach ders., Notizen zu Noten, 47. 32 AdK, PDA, 1.74.1768, fol. 4, Gespräch mit Hans Bunge 1958. 33 Siehe Dessau, Deutsches Miserere für gemischten Chor, Kinderchor, Sopran-, Alt-, Tenor- und Baß-Solo, großes Orchester, Orgel und Trautonium. Text von Bertolt Brecht, Leipzig 1979, 235 f. Die Strophe Sie tragen ein Kreuz voran ist außerdem im Bühnenwerk Schweyk im Zweiten Weltkrieg (1943 entstanden) von Brecht und in Eislers Lied vom Anstreicher (1933) verwendet: »Sie tragen ein Kreuz voran / auf blutroten Flaggen / das hat für den armen Mann / einen großen Haken.« Ebd., 236.

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vorhandenen Arbeiten – sehr zum Missfallen Dessaus, der sich neue Ge­ dichte von Brecht für seine Komposition gewünscht hatte.34 Auch wenn die Gemeinschaftsarbeit in der Entstehungszeit des Miserere zwischen 1943 und 1947 immer wieder den wechselnden Zeiten, dem Zwei­ ten Weltkrieg, dessen Ende und dem beginnenden Kalten Krieg, angepasst wurde, so hatten die letztgültigen Versionen eine deutsche Katastrophe zum Thema. Beide empfanden den Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg als »Tragödie« für Deutschland. In diesem Sinn beklagten sie die verführte Gesellschaft, zerstörte Städte, gefallene Söhne und besiegte Bauern, jedoch ohne den Holocaust explizit zu benennen. In seiner Kriegsfibel-Sammlung hatte Brecht zwar ein Foto von Schuhen ermordeter KZ-Häftlinge aufbe­ wahrt, aber kein Epigramm dazu verfasst.35 In einem Epigramm themati­ sierte er antisemitische Ausfälle, ordnete aber kein Bild zu.36 Im Deutschen Miserere selbst lässt einzig eine Widmung Dessaus dessen jüdische Her­ kunft erahnen: 1947 widmete er das Wiegenlied »Dem Andenken meiner Mutter«.37 Louise Dessau, seit 1941 in einem jüdischen Altenheim in Ham­ burg gepflegt, wurde im Juli 1942 mit 925 weiteren Menschen nach There­ sienstadt deportiert, wo sie im September desselben Jahres starb. Eine Karte seiner Mutter, die sie kurz vor der Deportation an ihre Schwester Olga Bur­ chard geschrieben hatte, bewahrte Dessau auf: »Schon wieder Nachricht von mir + zwar die, daß wir am Dienstag, fortkommen, nach: Teresienstadt, Bohmen, Sudetenland. – Schön, gelt?! – Das ganze Heim. […] Es soll ja ein gutes Heim sein«.38

Dessau hat bis Ende 1941 Briefe mit seiner Mutter – alle enthielten Öffnungs­ vermerke der Wehrmacht – gewechselt, vermutlich aber erst in Deutschland durch seine Tante von der Deportation und vom Tod der Mutter erfahren.39 Er selbst war 1933 zunächst nach Paris emigriert, nachdem er während Musikaufnahmen zum Spielfilm S.O.S. Eisberg von einem Orchestermusi­ 34 1958 berichtet Paul Dessau in einem Gespräch mit Hans Bunge über den Entstehungspro­ zess des Miserere: »Mir war diese Art zu arbeiten sehr fremd, und ich fühlte mich – offen­ gestanden – zu Anfang auch sehr befremdet und etwas unterdrückt. Ich dachte mir, soll er sich doch die Mühe nehmen und mal was neues für mich machen, das war meine Idee. Das tat er aber nur hin und wieder, und schob neue Dinge ein. Und so montierte er mir eben nach seiner Art diesen Text, und den zweiten Teil dieses Chorwerkes – ich möchte es nicht Oratorium nennen – stellte die Kriegsfibel, die ›Deutsche Kriegsfibel‹, dar. […] Das sollte eben mit Bildern aufgeführt werden.« Siehe AdK, PDA, 1.74.1768, fol. 4, Gespräch mit Hans Bunge 1958. 35 Siehe Brecht, Kriegsfibel, 89. 36 Ebd., 90–93: »Wer trägt die Schuld an Deutschlands Hunger? Die Polen / Wer schleppt das bißchen Futter weg? Der Jud!«. 37 Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979, 66. 38 Ebd. 39 Ebd.

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ker, der der SA angehörte, denunziert worden war. Im französischen und ab 1939 im amerikanischen Exil vertonte Dessau verstärkt hebräische und jid­ dische Texte, setzte sich mit der Zwölftontechnik auseinander, und er kom­ ponierte die Filmmusik zu Avoda (Arbeit; Helmar Lerski, 1935) – der Film thematisiert die Besiedelung und Urbarmachung Palästinas durch jüdische Siedler.40 1933 vertonte er ein Libretto von Max Brod, es entstand das abendfüllende Pessach-Oratorium Hagadah. Er habe sich bei der Wahl der Melodien entschlossen, »mich ganz auf meinen eigenen Ursprung zu verlassen und das Werk ausschließlich auf meine eigene Musik aufzubauen. Mein Vater und mein Großvater waren Kantoren, die selbst zahlreiche Melodien verfaßten, während ich in meiner Jugend im Synagogen­ chor sang, und ich fühlte mich in der traditionellen musikalischen Weise zu Hause.«41

Suchte Paul Dessau im Exil ein Zuhause im musikalischen Erbe seiner Vor­ fahren, so verschob sich sein Verständnis von »Heimat« im Laufe der nächsten Jahrzehnte, beginnend mit seiner Rückkehr in die Sowjetische Besatzungszone, wo er sich von religiösen Themen weitgehend abwandte. Symptomatisch hierfür ist eine Biographische Skizze Dessaus aus dem Jahr 1953, die mit Kindheitserinnerungen an die Kantoren-Tradition des Vaters und Großvaters beginnt und mit seiner künstlerischen Verortung in der DDR endet: »Bisher von Zufälligkeiten, Willkürlichkeiten und einem unsi­ cheren Hin und Her beeinflußt, so gibt unsere Republik […] uns Künstlern […] und vor allem unserem Schaffen und Leben einen neuen Inhalt«.42 Bereits 1951 äußerte Dessau vor Genossen und Funktionären: »Ich fühle mich zu Hause in der Deutschen Demokratischen Republik wie in keinem Land der Welt.«43 40 Siehe Matthias Tischer, Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2009, 10. 41 Paul Dessau, Programmheft der Jerusalemer Uraufführung der Hagadah 1962, 6, zit. nach Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979, 40. Um die Aufführung der Hagadah bemühte sich noch 1935 der Jüdische Kulturbund Bezirk Rhein-Main. Ebd., 51. Max Brod legte seine Arbeit auf der Basis alter Traditionen und dennoch modern an, indem er das Orato­ rium politisch als einen »Ruf nach Erlösung, nach Befreiung aus Tyrannenmacht« aktuali­ sierte. Ebd., 49. 42 Paul Dessau, Biographische Skizze, 1953, in: ders., Notizen zu Noten, 37. 43 Paul Dessau in der Diskussion nach der Probe zur Oper Das Verhör des Lukullus am 13. März 1951 in der Staatsoper Berlin, zit. nach Joachim Lucchesi (Hg.), Das Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung »Das Verhör des Lukullus« von Bertolt Brecht und Paul Dessau, Berlin 1993, 83–100: Protokoll der Diskussion nach der Probe (Nina Freund), 13. März 1951, hier 95 sowie Protokoll der Diskussion nach der Probe (Käthe Rülicke), 13. März 1951, 101–122, hier 113. Die vom Ministerium für Volksbildung anberaumte Diskussion wurde zweifach protokolliert: von der Brecht-Mitarbeiterin Käthe Rülicke und von Nina Freund, Fachreferentin des Ministeriums für Volksbildung. Neben Dessau und Brecht nahmen Paul Wandel, Minister für Volksbildung in der DDR, Vertreter der Regierung, des FDGB und der FDJ, des Weiteren Ernst Legal, Herbert Ihering, Her­

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Vier Jahre zuvor, im Sommer 1947 – die Gemeinschaftsarbeit am Miserere war weitgehend abgeschlossen –, schien Dessau noch nicht daran zu denken, in Deutschland wieder ein Zuhause zu suchen. Er richtete sich stattdessen an der Westküste der Vereinigten Staaten ein, kaufte sich in Kalifornien ein Haus und verpflichtete sich für die Kompositionen von Filmmusiken in Hol­ lywood. Seine Kinder aus erster Ehe und enge Freunde wie Arnold Schön­ berg hatten sich inzwischen dauerhaft in Amerika niedergelassen.44 Doch nur ein knappes Jahr nach dem Hauskauf, im Juni 1948, kehrte Paul Dessau in mehreren Schritten aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurück. Er folgte Brecht über Paris, Zürich, Stuttgart und Braunschweig nach Ostberlin und brachte die fertige Partitur der Gemeinschaftsarbeit mit. »In Amerika konnte es [das Miserere] nicht gespielt werden, denn es geht uns an, unsere Entwicklung, unser Elend und unser Weiterkommen, unsere Geschichte«,45 erinnerte er sich später. In Gesprächen und Essays erklärte Dessau seine Rückkehr später zu einer gesellschaftspolitischen Mission, die er sich als Komponist selbst auferlegt hatte und die auch mit Hoffnungen auf die Uraufführung des Deutschen Miserere verbunden gewesen war. Im Programmheft zur Uraufführung 1966 zeigte sich Dessau von der »politischen Bedeutung überzeugt«,46 hoffte er doch, mit seiner Musik am Aufbau eines postfaschistischen, kommunisti­ schen Deutschlands beteiligt zu sein. Noch 1946 war Dessau in die Kommu­ nistische Partei der USA (KPUSA) eingetreten, im selben Jahr, in dem das House Committee on Un-American Activities begann, verstärkt gegen Kom­ munisten vorzugehen. 1947 lud der Ausschuss Brecht vor, der unmittelbar nach der Anhörung Amerika verließ.47 Dessau trat drei Monate nach seiner Rückkehr in die SED ein. Seine Hoffnungen auf einen demokratischen Kommunismus aber, angeregt und befördert mittels seiner Musik, zerschlu­ gen sich bald.

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mann Scherchen, der Komponist Ernst Hermann Meyer, Helene Weigel, Kurt Barthel (alias Kuba) u. a. teil. Siehe etwa Matthias Tischers Funde im Ernst Busch Archiv der Akademie der Künste, in: ders., Komponieren für und wider den Staat, 29. Zur Verbindung Dessaus mit Arnold Schönberg siehe Frank Schneider, Dessau und Schönberg im amerikanischen Exil, in: Klaus Angermann (Hg.), Paul Dessau. Von Geschichte gezeichnet, Hamburg 1994, 61– 70; sowie Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979, 81. Paul Dessau, Aus Gesprächen. Erschienen anlässlich des 80. Geburtstags von Paul Des­ sau, Leipzig 1974, 72. AdK, PDA 1.74.1646, Programmheft zur Uraufführung des Deutschen Miserere am 20. September 1966. Tischer, Komponieren für und wider den Staat, 11.

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1950/51: »Lieber Helmuth! Ich höre von Dir nichts.« Am 15. Mai 1950 erhielt Paul Dessau, mittlerweile am Deutschen Theater in Berlin beschäftigt, ein Telegramm von Helmuth Gericke und Gewandhaus­ kapellmeister Franz Konwitschny: »Dokumentarisches Oratorium zur Uraufführung angenommen.«48 Eine Aufführung des Deutschen Miserere durch das Gewandhausorchester Leipzig schien damit für die kommende Spielzeit sicher und Paul Dessau am Ziel seiner Bemühungen angekommen, das Oratorium in Ostdeutschland zur Uraufführung zu bringen und damit einen Beitrag zum Aufbau eines »besseren« Deutschlands zu leisten. »Hoch erfreut« antwortete Dessau in der Hoffnung, gleich Ende Mai »alle wich­ tigen Einzelheiten mit Konvichny [sic] wegen der Uraufführung [zu] bespre­ chen«.49 Über das Treffen Ende Mai 1950 in Leipzig ist nichts bekannt, doch setzten schon bald danach die Vorbereitungen für die Uraufführung des Miserere sowohl in Leipzig als auch in Berlin ein. Parallel dazu arbeitete Dessau gemeinsam mit Brecht an der Berliner Staatsoper an der Inszenie­ rung der Oper Das Verhör des Lukullus (uraufgeführt unter dem Titel Die Verurteilung des Lukullus). Deren öffentliche Premiere war für den 17. März 1951 angesetzt. Am 8. Mai, dem sechsten Jahrestag des Kriegsendes, sollte in Leipzig das Miserere erstmals aufgeführt werden.50 Der erste Termin fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, der zweite – die Premiere des Miserere – überhaupt nicht.51 Im Juli 1950 bat Helmuth Gericke Dessau um Abstimmung der beiden Termine und der Stimmen für die Chöre, da erste Chorbesprechungen für das Miserere schon stattgefunden hätten – ein anderes Gespräch indes schien politische Schwierigkeiten zu bereiten: »Die nächste Besprechung mit den Stadtvätern einschl. Rundfunk soll die nächsten Probleme anschneiden. Könntest du recht bald zur Vorlage ein Textbuch einreichen, es könnte auch das alte sein. Die kleinen Änderungen könnte man auch so betonen.«52 Ver­ mutlich hatte es zu diesem Zeitpunkt bereits erste Prüfungen der Textvorlage 48 Siehe AdK, PDA, 1.74.2196.1, Franz Konwitschny/Helmuth Gericke an Paul Dessau am 15. Mai 1950. 49 Siehe AdK, PDA, 1.74.1839.1, Paul Dessau an Helmuth Gericke am 17. Mai 1950. 50 Siehe dazu und zur Rekonstruktion des Briefwechsels auch Daniela Reinhold, Im Schlag­ schatten des Krieges. Das »Deutsche Misere« – eine Quellengeschichte, in: Ermlich Leh­ mann u. a. (Hgg.), Fokus »Deutsches Miserere« von Paul Dessau und Bertolt Brecht, 17– 42, hier 35; sowie Mathias Lehmann, Musikalische Erinnerungskultur. Schlaglichter auf das Gedenken an die NS-Zeit in Deutschland, in: ebd., 193–211, hier 193. 51 Siehe z. B. die Ankündigung im Neuen Deutschland am eigentlichen Premierentag, dem 17. März 1951: »Premiere. Geschlossene Vorstellung«, zit. nach Lucchesi (Hg.), Das Ver­ hör in der Oper, 126. 52 AdK, PDA, 1.74.2196.2, fol. 1, Franz Konwitschny (nach Daniela Reinhold eigtl. Hel­ muth Gericke) an Paul Dessau am 4. Juli 1950.

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gegeben. Dessen ungeachtet arbeitete Dessau an den Chorstimmen und am Klavierauszug. Im November 1950 jedoch wurde er unruhig und wandte sich an das Gewandhausorchester: »Lieber Helmuth! Ich höre von Dir nichts. Wie geht es Dir? 500 Chorstimmen für das ›Miserere‹ sind fertig. Abgesehen davon, dass ich die Rechnung nicht bezahlen kann und Du mir versprochen hast, das über die Stadt Leipzig zu erledigen, bitte ich Dich, mir endlich mitzuteilen, wohin ich die 500 Chorstimmen und den fotokopierten Kla­ vierauszug schicken soll.«53

Zum Zeitpunkt des Briefwechsels war die DDR 13 Monate alt. Die anfängli­ che Offenheit – unter anderem in musikalischen Belangen – wich zuneh­ mend einer Reglementierung des kulturellen Lebens, die sich an Kampag­ nen der Sowjetunion zu orientieren begann. So verdichtete die DDRFührung im Lauf der 1950er Jahre verschiedene Traditionen und Topoi zu einem Narrativ, das sich etwa aus der Gegenüberstellung von amerikani­ scher und sowjetischer Kultur ergab und dem sich auch Musik und Theater unterordnen sollten. Offensichtlich unterlief das Miserere, verfasst von zwei Emigranten in den Vereinigten Staaten mithilfe avancierter künstlerischer Mittel, dieses Narrativ und untergrub eine staatlich verordnete Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.54 Der erste Anlauf zu einer Uraufführung des Deutschen Miserere kam auch insofern zu einem ungünstigen Zeitpunkt, als die SED parallel zu den Vorbereitungen im Gewandhaus eine Kunstdebatte plante, die schließlich als »Formalismusdebatte« die Parteilinie durchzuset­ zen suchte und deren Erschütterungen noch in den 1960er Jahren zu spüren waren. Möglich, dass die geräuschlose Absage der ersten anberaumten Auf­ führung des Miserere ein Vorbote dieser Debatte war.55 1951 gerieten Dessau und Brecht mit der Oper in 14 Szenen Das Verhör des Lukullus ins Zentrum dieses Richtungsstreits, in dessen Folge die Arbeit in Die Verurteilung des Lukullus umbenannt, teilweise neu arrangiert und auf 12 Szenen gekürzt wurde.56 Die lähmenden Auseinandersetzungen um die Oper in Briefwechseln, Aktenvermerken, Protokollen und Aufzeichnun­ gen zeugen von bedachten Kommunikationsversuchen, dienstbeflissenen 53 Siehe AdK, PDA, 1.74.1839.2, Paul Dessau an Helmuth Gericke am 24. November 1950. 54 Siehe Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutsch­ land, aus dem amerikan. Engl. von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin 1998; Karin Hartewig, Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Köln/Weimar/ Wien 2000, 434. 55 Mathias Lehmann stellt die Vermutung an, dass »schon hier die kritische Aufarbeitung deutschen Verhaltens während des Zweiten Weltkriegs mit dem politischen Konzept einer harmonisierenden Globalentschuldung des östlichen Bevölkerungsteils« kollidierte. Ders., Musikalische Erinnerungskultur, 193. 56 Siehe die verschiedenen Fassungen im Werkverzeichnis Dessaus, rekonstruiert von Rein­ hold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979, 224.

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Entscheidungsträgern, die sich neuen musikalischen Ausdrucksmitteln nicht zu öffnen vermochten, und der Überreglementierung eines Kunstbetriebs, dessen Protagonisten zunehmend in Vorsicht handelten.57 Auch Das Verhör des Lukullus, das vom Schattengericht des römischen Feldherrn Lukullus erzählt, bot sich als Projektions- und Erinnerungsfläche für die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs an, geriet dann aber im Zuge des Kalten Kriegs wegen »pazifistischer Tendenzen« in den Fokus der Kulturfunktionäre. Die geschlossene Aufführung, für die der Volkspolizei das Parkett reserviert war, geriet zur Farce. Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht verließen zum Schluss­ applaus rasch ihre Logen.58 Versuchte Brecht mit Textanpassungen den von offizieller Seite geforderten Deutungsansprüchen zu genügen, so blieb Des­ saus Musik im Fokus der Funktionäre. Am 12. März 1951 fällte Ernst Her­ mann Meyer – ebenjener Komponist, der das Symposium des Musikwissen­ schaftlichen Kongresses am Tag der Miserere-Uraufführung 1966 eröffnen sollte – »in Übereinstimmung mit […] de[n] Genossen Knepler, Notowicz und Goldschmidt und des Freundes Hanns Eisler« ein vernichtendes Urteil, nämlich, »daß die Musik zumindest der genannten Bilder abzulehnen ist. Sie enthält alle Elemente des Formalismus, zeichnet sich aus durch ein Vorherr­ schen destruktiver, ätzender Dissonanzen und mechanischer Schlagzeugge­ räusche; das Mittel des Dreiklangs und der Tonalität wird, wenn überhaupt, meistens zum Zwecke der Parodie oder der archaisierenden Mystik ver­ wandt«.59 Am selben Tag entschied das Sekretariat des ZK der SED, die Oper »nicht öffentlich aufzuführen und vom Spielplan abzusetzen«, zudem »eine Untersuchung durchzuführen, wer im Volksbildungsministerium ver­ antwortlich ist für die Bestätigung dieses Stückes«. Eine Diskussion über die Oper mit den Künstlern und »namhaften Genossen« wurde für den folgen­ den Tag angesetzt und das Ministerium für Volksbildung verpflichtet, »Spielpläne nur dann zu genehmigen, wenn ihnen der Inhalt der Stücke zur politischen und fachlichen Beurteilung vorgelegen hat«.60 57 Dies ist etwa an den Briefwechseln zwischen Brecht bzw. Dessau und dem Ministerium für Volksbildung im Zusammenhang mit der Oper Das Verhör des Lukullus abzulesen. Siehe Lucchesi (Hg.), Das Verhör in der Oper. 58 K. W. Berlin, Lukullus nicht erwünscht, in: Die Zeit, 29. März 1951, (15. September 2015). 59 Ernst Hermann Meyer, Über »Das Verhör des Lukullus« (Brecht-Dessau), vom 12. März 1951. Erste Eindrücke von der Probe an Georg Knepler und Noto[wicz] gerichtet, zur Selbstverständigung, zit. nach Lucchesi (Hg.), Das Verhör in der Oper, 80. 60 Protokoll Nr. 52 der Sitzung des Sekretariats des ZK am 12. März 1951, zit. nach ebd., 58. Die Sitzungsleitung hatte Walter Ulbricht inne. Letztlich wurde beschlossen, die Uraufführung zu einer »Geschlossenen Vorstellung« zu machen. Dieser Beschluss illus­ triert die Existenz widerstreitender Interessen bei Richtungsentscheidungen; ebenso lässt sie Vorsichtsmaßnahmen seitens des DDR-Apparats vermuten, sich nicht dem Vorwurf der künstlerischen Gleichschaltung – insbesondere auch in der westdeutschen Öffentlich­ keit – auszusetzen.

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Im Laufe der 1950er Jahre übernahm die DDR-Führung die Argumenta­ tion der Antiformalismuskampagne, die 1948 in der Sowjetunion eingeleitet worden war,61 für ihre Kulturpolitik und konturierte zwei gegensätzliche Kunstrichtungen: auf der einen Seite die fortschrittliche, volkstümliche, wahrhaftige, die sich sowohl dem klassischen Erbe als auch dem Dienst an der Gesellschaft verpflichte, auf der anderen Seite die formalistische, die statt des Inhalts die Form priorisiere und unter dem Deckmantel des »Neuen«, nicht »dem Volk«, sondern allein der individualistischen Ästhetik einzelner Künstler diene. Formalistische Kunst wurde mit Schlagworten beschrieben, die nicht klar umrissen waren, – etwa: modern, ästhetisierend, dekadent, kapitalistisch, neu, bürgerlich, volksfremd – wodurch einer will­ kürlichen Kritik gegenüber Künstlern und deren Arbeiten Vorschub geleistet wurde.62 Brecht und Dessau, geprägt durch Flucht, Exil und Remigration, waren in diesem Zusammenhang Vorwürfen von Parteifreunden ausgesetzt, mit denen sie anfangs glaubten zusammenzuarbeiten, nämlich für dieselbe Sache – den Wiederaufbau eines besseren Deutschlands – einzutreten. Auch wenn sich die Kontrahenten dieser Debatte teilweise auf dieselben politischen Denk­ traditionen der Vorkriegszeit beriefen, kamen sie doch in der Bewertung künstlerischer Inhalte und Mittel nicht überein. Besonders Dessau hatte Schwierigkeiten, seine Stellung eindeutig zu bestimmen: Er plädierte ganz »antiformalistisch« für »eine[n] Inhalt, der unseren Problemen, und unseren Konflikten«63 entspreche, komponierte hierfür aber mit Mitteln der »Neuen Musik«. Nach seiner Rückkehr befasste sich Dessau kaum mehr mit jüdi­ schen Topoi und Materialien,64 stellte seine Kompositionen hingegen stärker in den Dienst des Kommunismus. Dessau trennte – ganz im Sinne der DDRLinie – zwischen seiner jüdischen Herkunft und der israelischen Politik. So schrieb er an Otto Klemperer aus Anlass des Junikriegs 1967, er sei zwar

61 Siehe die Eröffnungsrede Fragen der sowjetischen Musikkultur der Moskauer ZK-Bera­ tung von Andrej Shdanow im Januar 1948. 62 Siehe dazu u. a. Lucchesi (Hg.), Das Verhör in der Oper, 16 f. Joachim Lucchesi zitiert im Zusammenhang einer diffusen Verwendung des Formalismus-Begriffs in der DDR Johannes R. Becher, der 1953 beklagte: »Absurd ist, wenn der Hauptabteilungsleiter Bork […] die Wasserspiele im Zirkus Aeros als formalistisch bezeichnet.« Siehe Carsten Gansel (Hg.), Der gespaltene Dichter Johannes R. Becher. Gedichte, Briefe, Dokumente 1945–1958, Berlin 1991, hier 106. 63 AdK, PDA, 1.74.1766, Drei Jahrhunderte Oper in 2 Minuten (Hervorhebungen im Origi­ nal unterstrichen). 64 Daniela Reinhold zählt hingegen noch einige Kompositionen der Nachkriegszeit auf, in denen sich Dessau auf seine jüdische Herkunft beruft, etwa das Nigudim Chassidin im Kaukasischen Kreidekreis von 1950, oder den Ghetto-Gesang, »der die Synagogalpraxis perfekt imitiert«, für den Film Du und mancher Kamerad (Annelies und Andrew Thorn­ dike, DDR 1956). Siehe Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979, 41.

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Jude, aber nicht Israelit.65 War Dessau zuweilen bestrebt, sich der Parteipoli­ tik unterzuordnen, um sein Ideal eines kommunistischen Deutschlands voranzubringen, so widersetzte er sich ihr ebenso persönlich und musika­ lisch, wenn er dieses Ideal gefährdet sah. Damit agierte er aus einer zweifa­ chen Position heraus, zwischen Anpassung und Auflehnung. Nach der gescheiterten Uraufführung des Deutschen Miserere 1951 setzte Dessau 1960 erneut an, um diesmal den Holocaust musikalisch ins Bewusst­ sein der bundesrepublikanischen und der DDR-Bevölkerung zu rufen. Doch auch dieses Bestreben scheiterte zunächst.

1960/61: »Aus den Traumfibeln der Gestrigen« »Geistes-Terror! Angst! Ein bisschen Zivilcourage + alles wär besser«,66 notierte Dessau im Staccato am 28. August 1961. Am selben Tag hatte er ein Telegramm von Karl Amadeus Hartmann erhalten, der, auch im Namen von zwei weiteren Komponisten – Boris Blacher und Hans Werner Henze –, darum bat, von der Uraufführung der gemeinsamen Komposition Jüdische Chronik »zur Zeit absehen zu wollen«.67 Die drei westdeutschen Komponis­ ten, die an der Chronik mitgearbeitet hatten, reagierten damit auf den Mauer­ bau am 13. August 1961 und die sich mit ihm zuspitzenden Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Zu diesem Zeitpunkt waren sowohl der Text des Lyrikers Jens Gerlach als auch die fünf Kompositionen bereits fertiggestellt,68 die Doppelpremiere am 24. Oktober 1961 in beiden Teilen Deutschlands, in Köln und Leipzig, schon in Planung und eine Pressemittei­ lung vorbereitet: »Eine gleichzeitige Uraufführung ist in beiden Teilen Deutschlands für den Herbst die­ ses Jahres vorgesehen. Mehrere ausländische Anfragen liegen bereits vor. Der Reiner­ lös soll für wohltätige Zwecke, insbesondere für hilfsbedürftige jüdische Kinder zur Verfügung gestellt werden.«69

65 Zit. nach ebd., 41. Zum Briefwechsel zwischen Otto Klemperer und Paul Dessau im Som­ mer 1967 siehe ebd., 96. 66 Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 77; siehe auch Reinhold (Hg.), Paul Dessau 1894– 1979, 110 f. 67 AdK, PDA, 1.74.2190.4, Telegramm von Karl Amadeus Hartmann an Paul Dessau vom 28. August 1961. 68 Dessau hatte seinen Part, den Epilog, bereits am 26. Juni 1960 komponiert, »Aufstand der Bewohner des Warschauer Gettos« im Januar 1961. Siehe das Werkverzeichnis in Rein­ hold (Hg.), Paul Dessau 1894–1979. 69 AdK, PDA, 1.74.1719.1, Entwurf einer Pressemitteilung aus dem Nachlass Paul Dessaus.

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Erschreckt und energisch versuchte Dessau die Absage doch noch abzuwen­ den. Er konnte Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) in München telefo­ nisch nicht erreichen,70 schrieb stattdessen an Boris Blacher (1903–1975) nach Westberlin: »Ich kann mir nicht denken, dass Ihr ein Werk, dass sich gegen den Antisemitismus richtet und Greuel aus den Zwanziger Jahren anprangert, nur, weil ich im Osten Deutschlands lebe und Kommunist bin, jetzt nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollt!«,71 und mahnte, dass sich schließlich kaum verheimlichen lasse, »dass die im Westen Deutsch­ lands lebenden Komponisten die Initiatoren einer derartigen Unterdrückung sind.«72 Dessau deutete außerdem an, er kenne den Grund für die Absage der westdeutschen Kollegen: die verschärfte deutsch-deutsche Auseinander­ setzung und Dessaus Positionierung zum Mauerbau im Sommer 1961. Offenbar trüge sein Gefühl ihn nicht. Er verstehe, schrieb Dessau an Bla­ cher, »wenn Sie unsere Maßnahmen vom 13. August zunächst als eine Ver­ schärfung der Teilung Deutschlands empfinden. Aber, lieber Blacher, was hat unsere ›Chronik‹ damit zu tun!«73 In der Nacht zum 13. August 1961 hatte die DDR auf Befehl Walter Ulbrichts die Berliner Sektorengrenze abgeriegelt, am frühen Morgen wurde mit dem Mauerbau begonnen. Dessau begrüßte den Bau der Mauer offiziell und griff später in einem Essay für den Sammelband Die Mauer oder Der 13. August die Bevölkerung in Westdeutschland scharf an; ein Großteil der Westdeutschen akzeptiere lethargisch, »wie das grauenvolle, verdammens­ werte Erbe des Dummkopfs und des Schlächters wuchert […], wie der Faschismus […] vor den Türen unseres Staates wiederersteht«.74 Dessau klagte die »westdeutschen Landsleute« an: »Die vielen Nazis, die bei euch in hohen Ämtern sitzen, habt ihr geduldet«, und er fragte: »Wer wundert sich noch, wenn die Menschen unserer Republik einen dicken Trennungsstrich ziehen zwischen faschistischer Unnatur und sozialistischem Aufbau!«75 Hatte sich Dessau ein paar Monate zuvor noch vehement für die grenzüber­ spannende Gemeinschaftsarbeit eingesetzt, so schien diese nun durch die Absage der westdeutschen Komponisten an den tagespolitischen Spannun­ gen zu scheitern.

70 Siehe die Angaben in AdK, PDA, 1.74.1814.1., Brief Paul Dessaus an Boris Blacher, o. D. (vermutlich im August/September 1961). 71 Ebd. 72 Ebd. 73 AdK, PDA, 1.74.1814.3, Paul Dessau an Boris Blacher am 30. September 1961. 74 Paul Dessau, in: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek bei Hamburg 1961, 76 f., zit nach Dibelius/Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, hier Bd. 2: Dokumente aus den sechziger Jahren, Berlin 1995, 131 f. 75 Ebd., 132.

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1960 hatte Dessau die Gemeinschaftsarbeit angeregt und dazu die Kom­ ponisten Boris Blacher (Westberlin), Karl Amadeus Hartmann (München), Hans Werner Henze (1926–2012, 1953 nach Italien übergesiedelt) und Rudolf Wagner-Régeny (1903–1969, Ostberlin) sowie den Lyriker Jens Gerlach (1926–1990, Ostberlin) gewinnen können. Innerhalb eines Jahres lieferte Gerlach den Text in fünf Sätzen und die Komponisten jeweils ihre Vertonung zu einem der Sätze (1. und 2. Satz: Prolog, 3. Satz: Getto, 4. Satz: Aufstand, 5. Satz: Epilog). Die Jüdische Chronik für Alt- und Baritonsolo, Kammerchor, zwei Sprecher und kleines Orchester thematisierte den Auf­ stand im Warschauer Getto 1943 und die nationalsozialistischen Verbre­ chen: »Offenbar sind die alten Rezepte aus den Küchen der Mörder, Aus den lakonischen Gebrauchsanweisungen Der erprobten Schlachthäusler, Aus den Traumfibeln der Gestrigen, Den Lehrbüchern der Unbelehrbaren.«76

Prolog und Epilog mahnen vor neuerlichem Antisemitismus: »Dies geschieht heute: Auf den Planken vor den Neubauten Die errichtet werden über den Resten des Krieges, Finden sich schwarze Kreuze, jedes ein vierfacher Galgen.«77

Bezugspunkt der Warnungen waren die antisemitischen und neonazistischen Taten zur Jahreswende 1959/1960 in der Bundesrepublik. Am Weihnachts­ abend 1959 war die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert wor­ den, »mehrere hundert Nachahmungstaten im In- und Ausland«78 folgten. Während Verteidigungsminister Franz Josef Strauß eine »systematische kommunistische Steuerung« vermutete, konstatierte Bundesinnenminister Gerhard Schröder im Februar 1960 hingegen »gravierende Kenntnisdefizite im Hinblick auf die jüngere Geschichte gerade bei Jugendlichen«.79 Diese Vorfälle passten einerseits gut in die Geschichtsdeutung der DDR, die die Bundesrepublik als Hort des Nationalsozialismus erachtete, erschütterten Paul Dessau aber aus einer gesamtdeutschen Perspektive, wie seine Auf­ zeichnungen und der Versuch belegen, zwei parallele Aufführungen in Westund Ostdeutschland zu arrangieren. Die Aktualität der Chronik – und damit die aktuelle Notwendigkeit des Eintretens gegen Antisemitismus – befand er 76 Gerlach, Die Jüdische Chronik, 346. 77 Ebd., 345. 78 Siehe die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung im Bundesarchiv aus dem Jahr 1960 zu den »Antisemitischen Vorfällen«, (15. September 2015). 79 Ebd.

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1961 als »Schandfleck auf unserer Zivilisation«80 und schloss darin die DDR ein, in der sich ein Antisemitismus ausgebildet hatte, der sich mit der kommunistischen Ablehnung des »kapitalistischen Bürgertums« traf.81 Der Epilog der Chronik, den Dessau vertonte, endet mit der Mahnung: »Schul­ dig / wird der Unschuldige, / wenn er nicht warnt / vor dem Fall / in die Schuld / Seid wachsam!«82 Wenn er dies auch nicht offiziell äußerte, so war Dessau sensibilisiert dafür, dass Antisemitismus und Nationalsozialismus auch Teil einer zurückgedrängten Wirklichkeit der DDR waren; schmierten doch beispielsweise Unbekannte zur Premiere des Lukullus in Berlin Haken­ kreuze an das Verwaltungsgebäude der Staatsoper.83 Dessau drängte seine Kollegen 1960 zur raschen Fertigstellung der Chro­ nik, entzog dem Verlag Bote & Bock gar die Partituren,84 um deren Publika­ tion selbst in die Hand zu nehmen und zu beschleunigen – denn ursprünglich plante er die Uraufführung gleichzeitig in beiden deutschen Staaten und parallel zum Eichmann-Prozess in Jerusalem: »Das Stück muss spätestens im Mai heraus. Mit dem Eichmann-Prozess hat es alle Menschen zu treffen, die drohen, einzuschlummern in ihrem Saft«,85 notierte Dessau im Februar 1961. Nach der Absage der westdeutschen Kollegen machte er zudem seine Überzeugung deutlich, die Chronik müsse in beiden Teilen Deutschlands gehört werden. In einem Brief an Blacher insistierte er: »In keiner Weise ist dieses Bekenntnis gegen den Antisemitismus ein Bekenntnis für den Kom­ munismus«86, und er wies auf den gemeinsamen ost- und westdeutschen Nenner der Arbeit hin: »Lieber Blacher! Die ›Chronik‹ wurde nicht in ›ruhi­ 80 Notiz von Paul Dessau am 10. Januar 1961, zit. nach ders., »Let’s Hope for the Best«, 72. 81 Siehe Hendrik Niether, Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg, Göttingen/Bristol, Conn., 2015, 77. 82 Gerlach, Die Jüdische Chronik, 346. 83 Siehe die Aufzeichnungen von Rudolf Wagner-Régeny am 16. Januar 1963: »Gestern beide Dessaus zum Tee bei uns. Sie fanden in dem Schnee vor ihrem Hause ein großes Hakenkreuz gegraben. Dann fügten sie hinzu: Als Lukullus in der Staatsoper Premiere hatte (unter den Linden) waren am Tage der Generalprobe an die Wände des unterirdi­ schen Ganges, durch den man das Verwaltungsgebäude erreichen kann, 3 Hakenkreuze gemalt und die Kabel in Brand gesteckt. Sollten NS-Leute aus ihrem Grabe auferstanden sein?«, zit. nach ders., Aufzeichnungen »Die Tage« (1962–63). Schweigen im Schatten der Mauer, übertragen und kommentiert von Matthias Tischer, in: ders. (Hg.), Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005, 334. 84 Am 4. Februar 1961 notierte Paul Dessau in sein Arbeitsbuch: »Habe Bote & Bock die Partituren der ›Jüdischen Chronik‹ weggenommen. Hihi! Glauben, man hat sie nötig. Kein Geld + keinen Termin. Das kann [ich] überall haben«, zit. nach Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 73. Siehe dort auch die Anmerkung: »Die Komposition erschien schließlich im Selbstverlag und wurde erst 1966 von Bote und Bock in das Verlagsprogramm über­ nommen.« 85 Dessau, »Let’s Hope for the Best«, 73. 86 AdK, PDA, 1.74.1814.3, Paul Dessau an Boris Blacher am 30. September 1961.

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gen Zeiten‹ geschrieben. Wir haben sie geschrieben, damit ruhigere Zeiten kommen sollen.«87 In der Tat hatten sich für die Kollektivarbeit an der Jüdischen Chronik Künstler verschiedener Erfahrungs- und Erinnerungshorizonte zusammen­ gefunden, um, aus einer gemeinsamen Zeitgenossenschaft heraus, musika­ lisch an den Holocaust zu erinnern und ein Bekenntnis gegen Antisemitis­ mus abzulegen. Gleichwohl hatten sie die Jahre des Zweiten Weltkriegs, der nationalsozialistischen Diktatur und die ersten Nachkriegsjahre in unter­ schiedlichsten Kontexten ver- und überlebt.88 Jens Gerlach, in Hamburg auf­ gewachsen, wurde 1943 17-jährig zum Kriegsdienst eingezogen; 1953 ging er »als Pazifist, Lyriker – und Hafenarbeiter«89 von West- nach Ostdeutsch­ land, wo er im Kreis um Paul Dessau, der sich in Zeuthen bei Berlin versam­ melte, verkehrte. Der Komponist Rudolf Wagner-Régeny zählte ebenfalls zu diesem Kreis. Auch er war 1943 eingezogen worden, hatte nach Kriegsende 1946 eine Stelle als Chordirektor und Kapellmeister in Rostock erhalten, wo er Herbert Kegel kennenlernte, unter dessen Dirigat später sowohl das Mise­ rere als auch die Jüdische Chronik uraufgeführt werden sollte. Kegel, wäh­ rend seiner Studienjahre bis 1940 am Dresdner Konservatorium, war wiede­ rum ein Schüler Boris Blachers; der letzte, bevor Blacher seine Tätigkeit am Konservatorium – er unterrichtete dort Komposition – aufgeben musste. Während sein Schüler Kegel freiwillig in den Krieg zog, wurde Blacher in Dresden die Lehrlizenz von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner Lehre in Bezug auf moderne Komponisten wie Paul Hindemith entzogen.90 Aus dem Krieg erhielt Blacher Briefe seines Schü­ lers, Kompositionen »aus dem Schützengraben«,91 die er korrigiert zurück­ sandte. Kegel war »nach dem braunen Verbrechen […] hellwach« und setzte sich später als Chefdirigent und Generalmusikdirektor in der DDR für die Uraufführung der Werke Schönbergs, Hindemiths oder Bartóks ein. Insbe­ sondere dirigierte er die Arbeiten Dessaus. Sein Lehrer Blacher entschied sich für ein Leben in Westdeutschland.92 Hans Werner Henze war seit den 1950er Jahren mit Blacher bekannt und verkehrte ab 1960 gelegentlich in

87 Ebd. 88 Hier zeigt sich Matthias Tischers These, DDR-Forschung sei immer auch NS-, Emigra­ tions- und Remigrationsforschung im Kleinen. Siehe ders., Musik aus einem verschwun­ denen Staat. Thesen zu Risiken und Nebenwirkungen des Projektes DDR-Musikge­ schichte, in: ders. (Hg.), Musik in der DDR, 1–11, hier 4 f. 89 Ulrich Eckhardt, Der unbekannte Nachbar. Der DDR-Autor Jens Gerlach, zit. nach Dibe­ lius/Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 1, 324. 90 Siehe Helga Kuschmitz, Herbert Kegel. Legende ohne Tabu. Ein Dirigentenleben im 20. Jahrhundert, Altenburg 2003, 16 f. 91 Siehe die Erinnerungen Herbert Kegels in ebd., 20. 92 Siehe ebd., 33.

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Dessaus Zeuthener Wohnhaus. Beide verband eine Freundschaft zu René Leibowitz, der Dessau im französischen Exil die Zwölftontechnik gelehrt hatte. Henze, von Leibowitz ebenso inspiriert wie von Mahler, war im letz­ ten Kriegsjahr Militärfunker in der Wehrmacht. Als Homosexueller von sei­ nem Vater, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, angefeindet, siedelte er 1953 nach Italien über, wo er der Kommunistischen Partei beitrat.93 Hart­ mann verbrachte die Kriegszeit in Deutschland, in München und am Starn­ berger See. Aus der Erfahrung mit einer »faschistischen Diktatur« leitete er in den 1960er Jahren eine Politisierung der Künste ab.94 Jens Gerlach erzählte im Rückblick, wie er bei einem Krebsessen in Zeu­ then den Anstoß für die Jüdische Chronik gab, während Kegel sich daran erinnerte, wie wir »durch die Zeuthener Wälder gewandert [sind] […] und wir überlegten: wen beteiligen wir an dem Gemeinschaftswerk […]. Er [Dessau] wollte die Geschichte der Juden in den KZ’s schreiben. Dessaus Mutter ist in Theresienstadt vergast worden, sein Vater war ein jüdischer Vorsänger. Paul Dessau – ich habe so ziemlich sein ganzes Œuvre uraufgeführt.«95

Noch einmal 1966: Von Noten- und Weltbildern So leitete Kegel auch die Uraufführung der Jüdischen Chronik im Jahr 1966 in Leipzig und war damit maßgeblich daran beteiligt, dass zwei Arbeiten Dessaus, die sich musikalisch mit Zweitem Weltkrieg und Nationalsozialis­ mus sowie Holocaust und Antisemitismus auseinandersetzen, wenn auch verspätet, öffentlich rezipiert wurden. Auf die Uraufführung am 14. Januar 1966 in Köln unter Christoph von Dohnányi und in Anwesenheit Dessaus und Blachers folgte am 16. Februar die Premiere unter Herbert Kegel in Leipzig.96 Während die meisten ostdeutschen Rezensionen die Arbeit als

93 Siehe Peter Petersen, Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik, in: Berliner Zeitung, 1. Juli 2006, (26. August 2015). Für einen biografischen Überblick siehe das Porträt der Hans-Werner-Henze-Stif­ tung, (26. August 2015). 94 Siehe etwa den Aufsatz Kunst und Politik (1962) von Karl Amadeus Hartmann, zit. nach ebd., 327–329. Erstmalig publiziert in Karl Amadeus Hartmann, Kleine Schriften, hg. von Ernst Thomas, Mainz 1965, 70–73. 95 Kuschmitz, Herbert Kegel, 52. 96 Die Kölner Premiere fand im Rahmen der WDR-Konzertreihe »Musik der Zeit« statt. Die Leipziger Uraufführung dirigierte Herbert Kegel unter Mitwirkung von Ekkehard Schall sowie Hilmar Thate (Sprecher), Anna Barová (Alt) und Vladimir Bauer (Bariton).

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Anklage des Antisemitismus in der Bundesrepublik wahrnahmen,97 disku­ tierten Kritiker in Westdeutschland, inwiefern der Holocaust überhaupt musikalisch fassbar sei. So fragte Rudolf Heinemann: »Haben sie allen Ernstes geglaubt, die Ungeheuerlichkeit nazistischer Verbrechen ließe sich in der sublimen Sphäre des Musikalischen auch nur annäherungsweise darstellen? Haben sie wirklich angenommen, Folterung und Ermordung von Millionen könnten ein klangliches Äquivalent finden in fein ziselierten Strukturen (Blacher) und melodrama­ tischer Gestik (Wagner-Régeny), im Klagegesang einer Oboe (Hartmann), in versierter Operntheatralik (Henze) und expressionistischer Leidenschaftlichkeit (Dessau)?«98

Die Verzögerung, der Rahmen und die Rezeption der Aufführungen illust­ rieren, wie und in welchem Maß öffentliches Gedenken an die Jahre 1933 bis 1945 zur gleichen Zeit möglich und unmöglich war, behindert von Funk­ tionsträgern, überlagert von Tagespolitik oder eingepasst in die Schablonen des Kalten Krieges. Dies erhellt die »politische Dimension des Musikali­ schen«.99 Dessau selbst betonte stets die Korrelation von Kunst und Umwelt, Musik und Politik, etwa auf dem Kongress des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler im September 1964: »Erlauben Sie mir, in weni­ gen Worten von 2 Bildern zu sprechen: unserem Notenbild im allgemeinen und unserem Weltbild im besonderen. Eins ohne das andere kann nicht bestehen.«100 Gerade die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Jüdi­ schen Chronik bestätigt die Kontrastierung von zweierlei Erinnerung in Ostund Westdeutschland und unterläuft sie gleichermaßen durch die gemein­ same Arbeit eines heterogenen Kollektivs und die gleichzeitige Rezeption in Ost und West,101 ähnlich wie diejenige von Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung (1965), das bereits ein Jahr zuvor parallel an sechzehn verschie­ denen Orten in beiden deutschen Staaten uraufgeführt wurde.102 197 So schrieb Hansjürgen Schaefer in Musik und Gesellschaft: »ihrem [dem westdeutschen] Staate gilt ja das ›Dies geschieht heute‹, mit dem die Chronik beginnt«, ders., Über die Berliner Erstaufführung während der Musik-Biennale 1967, in: Musik und Gesellschaft (1967), H. 5, 303 f., zit. nach Dibelius/Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 1, 358. 198 Rudolf Heinemann, Faßt Musik den Massenmord?, in: Die Welt, 19. Januar 1966, zit. nach ebd., 335. 199 Frank Schneider, Kommentare, in: ebd., 362. 100 AdK, PDA, 1.74.1752.2, Zum Kongress des V. D. Komponisten & Musikwissenschaftler, September 1964. 101 Siehe Herf, Zweierlei Erinnerung; Joy Calico, »Jüdische Chronik«. The Third Space of Commemoration between East and West Germany, in: Musical Quarterly 88 (2005), H. 1, 95–122; Amy Lynn Wlodarski, National Identity after National Socialism. German Receptions of the Holocaust. Cantata, »Jüdische Chronik« (1960/1961), in: Susan Fast/ Kip Pegley (Hgg.), Music, Politics, and Violence, Middletown, Conn., 2012, Kap. 9, 223– 242. 102 Siehe Calico, »Jüdische Chronik«, 100. Peter Weiss legte Die Ermittlung auf Basis der Akten der Auschwitz-Prozesse als Oratorium in elf Gesängen an. Hierfür komponierte Dessau gemeinsam mit Luigi Nono die Musik für die Inszenierung in Ostberlin.

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So mag im Jahr 1966, in dem gleich zwei »unerwünschte Uraufführun­ gen« dennoch ihr (deutsch-deutsches) Publikum fanden, eine Konstellation aus verschiedenen Faktoren die Premieren begünstigt haben: »Im Schutz der Mauer«103 liberalisierten die DDR-Funktionäre ihre Kulturpolitik zumindest soweit, dass die avancierten Kompositionen Dessaus zeitweise Gehör finden konnten. Frank Schneider bescheinigte insbesondere Dessau einen Brücken­ schlag über den Abgrund »zwischen heimischem Konservatismus und avan­ cierter Musik des Westens« und eine »stille, aber zähe Subversivität«.104 Seine Arbeiten hatten zudem in Herbert Kegel einen beständigen und im Leipziger Musikleben einflussreichen Fürsprecher. Gleichzeitig war Paul Dessau Mitte der 1960er Jahre in der DDR – 1965 mit dem Nationalpreis I. Klasse und dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet105 – ein anerkannter Künstler und die DDR-Führung auf die Außenwirkung ihrer Politik bedacht. Spätestens nach der Uraufführung der Jüdischen Chronik in Westdeutschland im Januar 1966 musste auch die DDR ihre Premiere veran­ lassen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die Judenvernichtung nicht zu thematisieren. In diesem Zusammenhang initiierte etwa die Leipziger Stadtverwaltung ihre Gedenkpolitik in Bezug auf jüdische Opfer. Im November 1966 weihten die Stadtväter einen Gedenkstein an der ehemali­ gen Synagoge der Stadt ein, hierzu waren auch Gäste aus Westdeutschland geladen.106 Bis auf einige wenige Folgeaufführungen haben das Deutsche Miserere und die Jüdische Chronik keine nennenswerte Verbreitung gefun­ den. Jens Gerlach erinnerte an ein Gespräch mit Dessau Mitte der Siebziger­ jahre: »Als ich […] Dessau einigermaßen deprimiert fragte, weshalb eigentlich diese unsere Arbeit so ganz und gar vergessen sei, erwiderte er mir, ich solle nicht so kurzsichtig sein: ›Du kannst doch nicht erwarten, daß sich die Leute selbst in den Hintern treten! Außerdem: Die Zeit der ›Chronik‹ kommt erst noch – leider …‹.«107

103 Ulrich Dibelius, Kommentare, in: ders./Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 2, 88 f. 104 Frank Schneider, Kommentare, in: ebd., 89. 105 »Erhalte aus den Händen Walter Ulbricht’s den Nationalpreis I. Klasse. / Die Freude ist gross! / Ich werde alles tun, um mich der grössten Auszeichnung wert zu erweisen«, zit. nach Dessau, »Let’s Hope fort he Best«, 104. 106 Siehe Niether, Leipziger Juden und die DDR, 165. 107 Jens Gerlach, Einige Notate zur Entstehung der »Jüdischen Chronik«. Typoskript 1987 aus dem Nachlaß, in: Dibelius/Schneider (Hgg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 1, 359. Das Deutsche Miserere wurde 1988 noch einmal unter Herbert Kegel in Ost­ berlin aufgeführt, es folgten westdeutsche Aufführungen in Hamburg, Wuppertal und Solingen. 2010 inszenierte die Oper Leipzig das Oratorium szenisch (Regie: Dietrich Hillsdorf, Dramaturgie: Marita Müller). Die Jüdische Chronik wurde u. a. 2005 im Dresd­ ner Landtag zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Kriegsendes gespielt.

Hilla Lavie

An Ambivalent Relationship: Representations of Germany and Germans in Israeli Cinema, 1950–1990 A retrospective view of Israeli-German relations shows a surprising develop­ ment: In its early years, Israel was an asylum state for Jewish Holocaust survivors, fighting for its existence while promising to neither forget nor for­ give Germany for its crimes. The concept of the “negation of Germany,”1 then, became for decades one of the sacred principles of Israeli society and served as indicator of the state and status of the new nation’s Holocaust memory. Less than twenty years after WW II, Israel established full diplo­ matic relations with West Germany (1965), and found it to be a close ally.2 Thirty years passed and, following the reunification, Germany, particularly Berlin, became the most attractive destination for young Israeli expatriates, third-generation Holocaust survivors. This most recent phenomenon marks a profound change of attitude towards Germany within Israeli society.3 The decision to negotiate with West Germany in the early fifties, and specifically the signing of the reparation agreement of 1952, known as the Luxembourg agreement, have shaped Israeli society’s perception of Ger­ 1

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This term expresses the negative feelings and some of the approaches in practice towards Germany and German culture within the Jewish community in Palestine, later Israel, after the rise to power of the Nazis in 1933. It included a social ban of the use of the German language in Israel, which was widespread from the 1930s to the late 1950s, a boycott of goods produced in Germany was practiced for some decades, and many Israelis refused to travel to Germany. A social ban – de facto, rather than legal – on playing the works of the composer Richard Wagner in public is still in place. See further Na’ama Sheffi, Rejecting the Other’s Culture. Hebrew and German in Israel, 1933–1965, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998): Historische Migrationsforschung, hg. von Dan Diner, 301–319; idem, The Ring of Myths. The Israelis, Wagner and the Nazis, Portland, Oreg., 2012; Dan Diner, “Germania” ke-milat ẓofen ba-hakara ha-aẓmit ha-Yisra’elit [“Ger­ many” as a Code Word in Israeli Self-Consciousness], in: Rubi Natanson/Hagar Tzameret (eds.), Yisra’elim we-Germanim. Ha-ambiwalentiut shebe-normaliut. Meḥkar al tadmita shel Germania be-Yisra’el [Israelis and Germans. Ambivalence within Normality. An Enquiry into Germany’s Image in Israel], Tel Aviv 2000, 48–52. Formal relations with East Germany were never established, due to its refusal to sign a reparation agreement with Israel and its anti-Zionist attitude which lasted until late in the eighties. See further Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhält­ nis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997. Moshe Zimmermann, Facelift. Das Image der Deutschen in Israel seit der Wiedervereini­ gung, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 41 (2013): Deutsche(s) in Palästina und Israel. Alltag, Kultur, Politik, hg. von José Brunner, 288–304. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 219–242.

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many and created a “schizophrenic” state4 in which the government’s pro­ motion of economic and cultural ties with Germany exists alongside intense rhetoric, most notably in the media, calling for the “negation of Germany.”5 Israel’s ambivalent perception of Germany is the focus of this article, which traces the development of Germany’s image in Israeli sociopolitical dis­ course over the state’s first four decades, from the early fifties to the early nineties. It concentrates on representations of Germany and the Germans in Israeli cinema during this period. The following cinematic-genealogical discussion explores the particular features attributed to Germans and Germany in Israeli film as a mirror of the significant impact that Israeli-German relations had on the construction of a national Holocaust memory in Israel, above all the central notion of victim­ hood. It emphasizes the role of representations of Germany and Germans in the transformation process that occurred within Israeli political discourse regarding Holocaust memory, from dominant established narratives to criti­ cal ones.6 Finally, the study allows a closer look at the place of Israeli cinema within the dialogue between political rhetoric, national memory, and collective images. Cinema not only reflects contemporary sociopolitical discourse, but also intervenes in ongoing debates, gives shape to dominant narratives and

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This ambivalent attitude derived from the gap between the difficult feelings of the general public, especially Holocaust survivors, about any engagement with Germany, particularly so soon after the end of the war, and the pragmatism that characterized the policies of Prime Minister Ben-Gurion’s leadership, pointing towards negotiations. In 1951, BenGurion coined the term the “other Germany” in order to legitimize the negotiations on grounds of a generational change in Germany. See Moshe Zimmermann, Avar Germani – zikaron Yisra’eli [German Past – Israeli Memory], Tel Aviv 2002, 259–261; Yehudit Auerbach, Ben-Gurion and Reparations from Germany, in: Ronald W. Zweig (ed.), David Ben-Gurion. Politics and Leadership in Germany, Jerusalem 1991, 274–292, here 288. On the role of the Israeli media in creating ambivalence towards Germany, see David Witzthum, The Image of Germany in Israel. The Role of the Media, in: Moshe Zimmer­ mann/Oded Heilbronner (eds.), “Normal” Relations. Israeli-German Relations, Jerusalem 1993, 103–128, here 104 f. (Heb.); idem, Realität und Image. Die bilateralen Beziehun­ gen, in: Tribüne 37 (1998), no. 146, 216–228. Much has been written about the representation in Israeli cinema of the national memory of the Holocaust. However, the German representations were not discussed as a separate and unique set of cultural codes, and much of their significant influence on the Israeli sociopolitical discourse was not regarded within this literature. Still, the conventional pe­ riodization of Holocaust cinema may be a suitable framework for the article’s discussion. It marks roughly the forties to the seventies as reflecting Zionist narratives emphasizing the negation of Exile, and from the seventies to the nineties critical narratives gained dom­ inance, exposing the abuse of the Holocaust memory for political purposes. See further Ilan Avisar, Personal Fears and National Nightmares. The Holocaust Complex in Israeli Cinema, in: Efraim Sicher (ed.), Breaking Crystal. Writing and Memory after Auschwitz, Urbana, Ill., 1998, 137–159.

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expresses what sometimes cannot be said otherwise.7 Its function as a politi­ cal tool for rethinking prevailing interpretations is addressed in the last part of the discussion. Here, the focus lies on a handful of films challenging or dismantling conventional Israeli concepts and taboos regarding Germany that were highly relevant to both domestic and international Israeli policies.

The Sabra and the Nazi: The Construction of an Israeli SelfConsciousness in Terms of Victorious Victimhood In 1953, the prominent British filmmaker Thorold Dickinson (1903–1984) was invited to Israel to direct a short propaganda film for the Israeli army.8 A year later he found himself involved in the largest and most expensive pro­ duction in Israel up until then: the English-language fiction movie Hill 24 Doesn’t Answer (Giv’a 24 eina ona), later screened at the Cannes Film Fes­ tival in 1955. The poster of the film strongly emphasized its propagandistic function, announcing “The greatest national film on the resurrection of Israel.” Opinions in Israel were divided over the use of a foreign language in an important Israeli film, but it was still highly praised in the local newspa­ pers as a successful portrayal of the state’s establishment and commemora­ tion of the Israeli soldiers who had given their lives for its existence.9 The film tells the story of four soldiers, three men and one woman, who, during the War of Independence in 1948, are sent to protect a strategic hill, where they are eventually killed by Jordanian soldiers. On the hill they put up an Israeli flag to mark the place as the young state’s territory. The popu­ larity of the film in Israel and the importance it was given as a Zionist propa­ ganda tool suggest its significant role in strengthening the myth of rebirth of the Jewish people in the Land of Israel. It was also the first Israeli fiction movie to depict a German Nazi, while emphasizing that image’s symbolism

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Anton Kaes, German Cultural History and the Study of Film. Ten Theses and a Postscript, in: New German Critique 65 (Spring/Summer 1995), 47–58, here 51. The propaganda film, focusing on the armored corps, was called Ha-karka ha-aduma (The Red Ground). The newspaper Davar discussed the language of the film and the significance of a national narrative. See A. Rimoni, Al Giv’a 24 eina ona [On Hill 24 Doesn’t Answer], in: ibid., 12 August 1955, 6. Ze’ev Rav-Nof, while referring to the problematic artistic qual­ ity of the film, emphasized that to watch it was to take part in an exciting national experi­ ence. See idem, Giv’a 24 eina ona [Hill 24 Doesn’t Answer], in: Davar, 22 March 1955, 3. Ma’ariv newspaper reported on the long queues at cinemas around Israel for each screening of the film. See S. G., Giv’a 24 eina ona. Seret Yisra’eli aḥare bekhora olamit [Hill 24 Doesn’t Answer. Israeli Film after World Premiere], in: ibid, 20 March 1955, 5.

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in the wider Zionist picture. The German character appears only at the end of the film, in a sequence devoted to the story of the soldier David.10 The film shows the four soldiers before leaving for the battlefield, sharing their experiences of the previous months of war. David, born in Israel, a “Sabra” (Ẓabar),11 tells his fellow comrades how he has come across a wounded Egyptian soldier during combat and dragged him to a nearby cave. Then a flashback scene: to the Israeli’s surprise, the Egyptian is actually a German, a former SS officer fighting in the Egyptian army.12 With mixed feelings David goes ahead to tend to the German’s wounds. At first, the con­ fused German begs the Israeli to spare his life, but at some point he begins an intense monologue summarizing the National Socialist doctrine, only to die a moment later, after getting to his feet and giving the Nazi salute. The Israeli soldier listens in amazement to the monologue of the wounded man, not having anticipated such an emotional outburst. A cinematic climax of this already intense encounter between the two uni­ formed men occurs when the German verbally attacks the armed Israeli sol­ dier: “Shoot me!” the German shouts, “You are coward!” In this moment, the scene of the two soldiers is cut, and a short camera movement reveals in the place of the Israeli soldier an Orthodox Jew, wearing a Hasidic black cloak with a yellow badge. This shot lasts just a few seconds, and then cuts back to where the two soldiers confront each other in the cave. It remains unclear, however, from whose of the two characters’ minds this image arises: Does the German imagine the Israeli as a Jewish victim from his Nazi past, or does the Israeli construct himself as a Jewish victim of the Holo­ caust? The image of the Orthodox Jew may, then, reflect the consciousness of both characters, who share a world of images related to the Holocaust, National Socialism and European Jewry. Observation of the two characters’ role play reveals the rhetoric of the film, according to which Israelis and Germans exhibit their presumably essentialist national consciousness, as victim and perpetrator respectively, hidden under army uniforms. The German character is represented as a Nazi

10 With Arie (Arik) Lavie (1927–2004) as David and Azaria Rapoport (1924–1997) as the SS officer, both characters are played by well-known Israeli actors. 11 This is the nickname given to the “new Jews,” native Israelis, popularly identified as prickly and tough like a cactus plant (ẓabar in Hebrew) – but sweet inside – as opposed to diaspora Jews, who were perceived as weaklings. See Oz Almog, The Sabra. The Creation of the New Jew, Berkeley, Calif., 2000. 12 During the War of Independence (1947–1949) it was reported that Germans fought along­ side Arab forces against the Jews. For example, a report from London published in Israel mentions that about thirty German National Socialists who had been British captives were now participating in the battles, four as commanders of units. See Naẓiyim mefakdim al knufiot Aravim [Nazis Are Commanding Arab Gangs], in: Davar, 14 January 1948, 2.

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perpetrator, joining the Arab enemy in order to continue his mission to exter­ minate Jews. The unique aspect of this scene is precisely the possibility of self-identification on the part of the “new Jew,” the Sabra, even if only momentarily, as a “Diaspora Jew” and Holocaust victim. Such identification was deemed unacceptable in Israeli society in those years due to the »nega­ tion of the exile«.13 This scene reflects how Israelis perceive themselves as a “collective of victims” in relation to Germany, even though most of them have not experi­ enced the events of the Holocaust. At the same time, this interpretation bears a certain contradiction in that the Sabra is represented as a strong character compared to the weak and wounded German, and not as a victim at all. This complicated self-consciousness as victorious victim may be explained by the framework of the extraordinary relationship developed between Israel and West Germany just two years before the release of the film, in 1952. Israel’s economic situation in the early fifties was difficult and financial support urgently needed: This is the background for Israel’s demand for res­ titution from Germany for the Nazi crimes. Officially, the State of Israel had been established with the sole purpose of being a homeland and refuge for all persecuted and homeless Jews, and the money would aid in absorbing the survivors. However, during the reparations negotiations with West Germany the Israeli leadership’s rhetoric betrayed an understanding of Israel as repre­ sentative of the Jewish Holocaust victims.14 It evoked feelings of collective identification by Israeli society at large with the Jewish victims of the Holo­ caust, which in turn had political and financial implications in relation to Germany and the international arena. The final agreement, though, did not mention anything to that end.15 13 The “negation of the exile” was a Zionist concept aimed at strengthening the centrality of the Land of Israel for Jews, constructing it as their only home. In formative Israeli society it meant the rejection of the culture, language and body of the Jewish diaspora. Further­ more, the Jewish and Israeli perception of the inability of diaspora Jews to stand up to the Nazi persecutor emphasized their weakness compared with the Sabra. See further Eliezer Schweid, The Rejection of the Diaspora in Zionist Thought. Two Approaches, in: Studies in Zionism 5 (1984), no. 1, 43–70; Amnon Raz-Krakotzkin, Exile within Sovereignty. Toward a Critique of the “Negation of Exile” in Israeli Culture, in: Theory and Criticism 4 (1993), 23–55 (Heb.). 14 These arguments appear in letters sent by the Israeli government on 12 March 1951 to the Allies, as part of the negotiations conducted through them, and were later used in direct negotiations with Germany. Israel was conceived there as the only state that could legiti­ mately speak in the name of the Jews as a nation, and for the six million murdered Jews. See more in Yitzhak Gilad, Public Opinion in Israel on Relations between the State of Israel and West Germany in the Years 1949–1965 (unpublished PhD thesis, Tel Aviv Uni­ versity, 1984), 46–48 (Heb.). 15 For more on the discussion among Israel’s leaders about the moral aspect and national implications of negotiating with Germany after the Holocaust, and on West Germany’s

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The concept of collective victimhood can assume a central role in the making and shaping of a national community, uniting its members by a shared sense of purpose and destiny through the unified memory of disaster, suffering and victimhood.16 In the film, the representation of the Sabra facing the mythological Nazi enemy is constructed in terms of a dual selfconsciousness: victim as well as victor. David embodies the sense of being the Jewish “victim community” in Israel, based on the historical conscious­ ness of having almost been destroyed, but then reborn in a way that super­ sedes the destroyer. In regard to the Holocaust, the State of Israel saw itself as heir of the victims, and likewise as the appropriate agency for legal action for matters relating to the memory of the offence and the redemption of the victims’ deaths. The holocaust victims were thus symbolically incorporated into Israel’s body politic.17

German-Arab Collaboration: Between Terror and Entertainment The film Hill 24 Doesn’t Answer was the first Israeli film to include not only a German character, but a Nazi perpetrator confronted by a “victorious vic­ tim,” a constellation that could be used to strengthen Zionist ideology through the central motive of Shoa we-tekuma (Holocaust and rebirth). Ger­ man characters figured in a number of other films produced in the following decades, and a significant majority of these characters was depicted in rela­ tion to their Nazi past, representing Germany primarily as a collective of perpetrators. Moreover, many of these representations showed German char­ acters collaborating with Arabs, linking the “absolute evil” of the Nazis to the new enemy of the Jews.18 Although in reality such direct collaborations not often occurred,19 their cinematic existence played a part in encouraging

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approach to restitution as a way to help integrate Holocaust survivors in Israel, see Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels Deutsche Frage, Munich 2015, 67–71, and 116 f. Idith Zertal, Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood, Cambridge 2005, 2 f. Ibid., 3 f. This argument follows the claim of historian Anita Shapira regarding the use of Holocaust memory in explaining Israel’s position in the Israel-Palestine conflict, mainly in its pre­ sentation of Arab anti-Semitism as a variety of Nazi hatred of Jews. See further idem, New Jews Old Jews, Tel Aviv 1997, 94 (Heb.). For a report on the increase in collaboration between German experts and the armed forces of Arab states, see A. Hananel, Mezimot Naziot – Ba-mizraḥ ha-tikhon [Nazi Schemes – In the Middle East], in: Davar, 30 November 1951, 11. The affair of the high ranking SS officer Alois Brunner, who after the war found shelter in Syria, was presum­ ably an influence on the film production of Judith (Israel/UK, Daniel Mann, 1966): Israeli

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continuous anxiety in Israel about a recurrence of destruction similar to the Holocaust.20 It was for this purpose that the collaboration between the Palestinian lea­ der Mohammed Amin al-Husseini and the Nazis21 was intentionally included in the film Exodus (1960), which once more dealt with the found­ ing of the State of Israel. This successful American movie was directed by Otto Preminger, featuring a cast of Israeli and American actors with Paul Newman in the leading role.22 Ari Ben Canaan (Newman) is an Israeli Sabra traveling to Cyprus in order to conduct a secret ha’apala operation – the ille­ gal immigration to Israel during the British Mandate in Palestine. In Cyprus he meets Kitty Fremont, an American non-Jewish woman (Eva Marie Saint), who learns from him about the Holocaust and the need to help the survivors trapped in Cyprus by the British forces. She joins his efforts to bring them to Palestine on the “Exodus,” a ship based on the story of a real vessel whose name alludes to the biblical departure from Egypt. In Palestine the couple lives on a kibbutz and joins the Jewish forces during the War of Indepen­ dence that breaks out immediately after the UN declaration of the partition of Palestine into a Jewish and an Arab state, in November 1947. Towards the end of the film, an unknown German character suddenly appears, elegantly dressed in a white suit. He approaches Taha, the Mukhtar (head) of the Arab village bordering Ari and Kitty’s kibbutz, and declares himself the representative of the Grand Mufti of Jerusalem, Al-Husseini. The German tells Taha about Al-Husseini’s plan to attack the kibbutz, and asks for his support. Taha, who is known to be a good friend of Jewish prota­ gonist Ari, tries to dissuade the guest from this plan. The German tells him of Al-Husseini’s orders that every Arab man, woman and child shall rather security forces search after a former Nazi officer who is in hiding in Syria and advising the Arabs in their war against the Jewish state. Other instances of collaboration, such as that of the Grand Mufti of Jerusalem with the Nazis, and the affair of the German scien­ tists in Egypt during the fifties, also found an echo in Israeli film productions, as will be elaborated in this article. 20 The claim here follows Anton Kaes’ argument about cinema as an important instrument in the process of constructing historical consciousness through the creation of a reservoir of images, in this case the image of a Nazi-Arab collaboration. See idem, History and Film. Public Memory in the Age of Electronic Dissemination, in: History and Memory 2 (1990), no. 1, 111–129, here 112 f. 21 Haj Amin Al-Husseini (1895–1974) was the Grand Mufti of Jerusalem during the British Mandate. He actively collaborated with the National Socialists during World War II and initiated an Arab Waffen-SS unit to support them. 22 Otto Preminger (1905–1986) was an American-Jewish director, an émigré from Austria in the mid-1930s. Although Exodus was a successful American production (winning an Oscar), it was regarded as a Zionist epic supported by Israel. For more about its percep­ tion as an efficient Zionist propaganda tool, see Ze’ev Har-Nof, Exodus, in: Davar, 14 July 1961, 19.

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die than accept the UN partition decision, and that all Jews shall be annihi­ lated. “The Grand Mufti of Jerusalem was our guest in Berlin during the war,” he explains, “and since I and my group of friends are now his guests, we have placed our experience in handling Jews entirely at his disposal.” He, the German, will be leading a company of Arab soldiers in the attack on the kibbutz. The sudden appearance of the German character for one short scene only has no function in driving the action, were it not for the ideological message that the plot conveys; the information delivered by him refers only to the shared Nazi-Palestinian goal of destroying the Jews, as he puts it. Conse­ quently, the character’s presence in the narrative seems labored. The German disappears, not to be seen again, while Taha is punished for his friendship with the Zionists, and is found hanged in the village at the end of the film. Three more films, by the Israeli director and producer Menahem Golan,23 take up the theme of German-Arab collaboration. The first one, Eight against One (Sheona be-ikvot eḥad, 1964), was based on a popular chil­ dren’s book published in 1945 under the same title.24 The story unfolds dur­ ing World War II, when a group of kibbutz children uncover a German spy. The film version moves them to the sixties, but keeps the German spy – who now works with the Arabs on a plan to attack the Israeli Air Force. A challenging screen adaptation of real events connected to German-Arab collaboration can be found in the other two films Golan made in the follow­ ing years: Trunk to Cairo (Mivẓa Kahir, 1965) and Operation Thunderbolt (Mivẓa Yonatan, 1977). Both films present German characters in such a way that questions the change of generations in Germany, and examines the legacy of the Third Reich. Trunk to Cairo was an Israeli-West German spy thriller, inspired by events from 1961/62, when news about a team of West German scientists working for the Egyptian military industry reached Israel and created a public furor against Germany.25 The Mossad secretly investigated this matter in Egypt 23 Menahem Golan (1929–2014) was a prominent Israeli director and producer who worked in Israel and Hollywood for many years. Golan was involved with the West German film industry from the 1960s. He opened the door to continuing joint film productions between the two states. 24 The book was written by Yemima Avidar-Tchernovitz (1909–1996). The film received good reviews in the local press, emphasizing its Zionist message. See e. g. R. Azaria, Ẓabarenu ḥamudim we-okẓaniyim [Our Sabras Are Cute and Barbed], in: Ma’ariv, 23 November 1964, 4. 25 During these years the Israeli press published many articles which criticized the respond of West Germany’s government to the “German scientists problem,” regarding it as weak and insufficient. One of the articles, for example, stressed that the scientists helping the Egyptian regime took part in a project whose sole purpose was to “annihilate the Jewish state and finish what was not completed in Auschwitz.” Moshe Tavor, Tasbikh ha-Germa­

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and searched for the scientists. In the film, on the other hand, the Mossad sends an American agent to Egypt, where he joins the military project under­ cover as German scientist. The plot twists and turns until the agent finally succeeds in dismantling the German-Arab operation. Although the actual scientists were from West Germany, the film expli­ citly associates the German professor running the Egyptian laboratory with the University of Leipzig in East Germany. The alteration of this detail can be explained by the context of the co-production between Israel and West Germany; the production year of Trunk to Cairo falls on 1965, the same year that diplomatic relations between the two states were established. In line with a hostile West German foreign policy towards East Germany in those years, known as the Hallstein Doctrine,26 the blame for the collaboration with the Arabs was transferred to the anti-Zionist East Germans, who sup­ ported the Arab cause against Israel. This film reflects the ambivalent perception of Germany within Israeli society through the use of two protagonists: an older German man, the Nazi scientist who leads the military project, and his daughter who visits him in Egypt. The daughter, Helga, symbolizes the new German generation born after 1933. When she discovers that her father is planning to destroy Israel using nuclear missiles, she is enraged and confronts him about his involve­ ment in such a violent project. The old scientist only laughs and mocks her for still believing in a new Germany, “as if there were such a thing.” This contradictory representation of Germany, the peaceful “other Germany” and the unchanged collective of perpetrators collaborating with the Arabs, is not resolved in the film. It becomes even more radical in Menahem Golan’s third film depicting German-Arab collaboration, Operation Thunderbolt, where the perpetrators and collaborators are themselves young Germans of the second generation. The film follows the real events of the hijacking of an Air France plane fly­ ing from Tel Aviv to Paris on 4 July 1976. On board were 248 passengers, about half of them Israelis. While the others were released, the Israelis were kept hostage in the airport of Entebbe, Uganda. Two of the hijackers were Palestinians of the Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), and the other two Germans, a man and a woman, belonging to the Revolutionary

nim novea meha-avar [The German Complex Derives from the Past], in: Davar, 12 March 1963, 7. 26 The Hallstein Doctrine guided West Germany’s relations with East Germany from 1955, under Konrad Adenauer, and rejected diplomatic relations with any state recognizing East Germany. It was based on the exclusive mandate the FRG claimed over both East and West Germany.

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Cells (Revolutionäre Zellen).27 An Israeli military special unit was sent to Entebbe, and succeeded in rescuing most of the hostages. The commander in charge, Yonatan Netanyahu, was killed during the operation. The film was released only one year later. A few years earlier, in 1972, the Palestinian organization Black September had carried out a devastating ter­ rorist attack on the Israeli national team during the Olympic Games in Munich. This event had brought the Israel-Palestine conflict to the territory of West Germany, and put a strain on the relationship between Israel and Germany, since Israel accused the German forces of a lack of professional­ ism and apathy during the attack that led to the killing of Israeli hostages. A year later, in 1973, a near-defeat in the Yom Kippur War left Israeli society suffering from feelings of vulnerability and increasing identification with the Jews under the National Socialist terror regime. In addition, growing cri­ ticism (including that of the German New Left) over the continuation of the Israeli occupation was creating moral and national turmoil. Therefore, in an effort to promote national unity and pride, the Israeli military operation countering the terror attack of 1976 on the Air France flight was celebrated in Operation Thunderbolt as an act of patriotism and heroic military deter­ mination.28 In order to frame this German-Arab collaboration as a continuation of Nazi tendencies within Germany, the film emphasizes the connection between the violent acts of the German hijackers and the collective memory of the Holocaust in Israel. The separation of the Israeli and Jewish passen­ gers from the others, corresponding to the real events, is portrayed in a long sequence that evokes the selections separating Jews from non-Jews during the Holocaust. Following the announcement of the passengers’ names Jews 27 An ongoing debate in Germany relates to the crisis of the second generation of West Ger­ mans confronting the recent Nazi past. This confrontation informed the student revolt of 1968, and was followed by violent acts against the state by radical left wing activists, for example those in the Red Army Fraction (RAF). For a specific discussion of the antiZionism and presumed anti-Semitism of these activists, focusing on their collaboration with the Palestinian Liberation Organization as part of their declared global fight against imperialism, see e. g. Moishe Postone, Deutschland, die Linke und der Holocaust. Poli­ tische Interventionen, Freiburg i. Br. 2005, 17–37. 28 Ilan Avisar sees the elections of 1977 a year later as having a major impact on the recep­ tion of the film, since the rhetoric used by the new Prime Minister, Menachem Begin, emphasized the legacy of the Holocaust in facing threats of extermination from Israel’s enemies. Idem, Holocaust and Trauma. The Holocaust in Israeli Cinema as a Conflict between Survival and Morality, in: Miri Talmon/Yaron Peleg (eds.), Israeli Cinema. Iden­ tities in Motion, Austin, Tex., 2011, 151–167, here 155 f. That the film was a national event is reflected in the presence of Israel’s political and military leaders at the premiere in Tel Aviv; among others, the president, prime minister and chief of staff attended. See “Mivẓa Yonatan” hukran bekhora be-kolnoa “Shaḥaf” [“Operation Thunderbolt” Screened at Premiere at Cinema “Shaḥaf”], in: Davar, 18 March 1977, 3.

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and Israelis have to walk through a hole in the wall, on the other side of which they stop and look back as if from the door of a deportation train. Music transporting feelings of sadness and repressed anger is heard through­ out the sequence. The terrorists’ anti-Semitism is displayed in a short scene during the separation, where an elderly couple argues that their name is Kahan and not Cohen, and that they are not Jews. The woman hijacker tells them loudly, “Kahan, Cohen, Jews are all liars.” Another symbol of the Holocaust that appears in the film is a number tat­ tooed on the hand of a Holocaust survivor from Greece. In one of the scenes, when the hostages are forced to raise their hand if they wish to use the toi­ lets, the number is repeatedly shown in close-up on the raised hand of an old man, ensuring the message about his past is clearly delivered. When the female hijacker sees this number, she barks at the old man in German, “Schnell! Schnell!” (Quick! Quick!), recalling the way German soldiers used to shout at their prisoners. The film thus enforces an interpretation of the German terrorists, who this time belong to the second Generation, as the new Nazis. Another German character, not among the terrorists, is a young doctor. Appearing in a minor role in the film, he helps the other passengers until he is released as part of the selection process. Like Helga in Trunk to Cairo, he embodies the “good German.” He is seen confronting the terrorists, asking them, “Haven’t the Germans harmed the Jews enough?” His question is left without an answer. According to the terrorists, there is no “other Germany,” because West Germany is a continuation of the Nazi regime in other forms; in contrast, the doctor sees himself as representing the “other Germany,” and for him, the terrorists are the continuation of Nazi anti-Semitism. As in Trunk to Cairo, contradictory representations of Germany mirror the coun­ try’s ambivalent perception by Israeli society. The use of the spy and thriller genres in Golan’s films, for which leading German characters are cast as villains, is influenced by American cinematic tradition, where the design of antagonists draws on American history, reflecting its deepest ideological fears.29 This part of the audience’s pleasure, derived from recognizing the genre codes, shifts the notion of tragic histori­ cal events to the realm of entertainment. But even within the format of the genres, none of Golan’s films considered here makes use of German charac­

29 Examples of films featuring Nazi villains: The film noir The Stranger (Orson Welles, 1946); the political parody Dr. Strangelove (Stanley Kubrick, 1966); and the thriller Marathon Man (John Schlesinger, 1976). See Christiane-Marie Abu Sarah, Horror, His­ tory and the Third Reich. Locating Traumatic Pasts in Hollywood Horrors, in: Michael Elm/Kobi Kabalek/Julia B. Köhne (eds.), The Horrors of Trauma in Cinema. Violence Void Visualization, Newcastle upon Tyne 2014, 68–89, here 73.

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ters to deeply explore National Socialism or the reckoning with the past by West Germany’s second generation. The German characters are reduced to their generic roles as classic villains or to a function which merely marks the concept of “the other Germany.” The image of the Israeli Sabra in those films, however, is repeatedly con­ structed against the representation of German Nazis. In the film Operation Thunderbolt, the central place of Israel as the only source of help for world Jewry is expressed directly in the last words of Commander Yonatan Neta­ nyahu to his unit, before they leave for Entebbe. He tells them that their efforts are only because Jews and Israelis are in danger, and if they don’t take action, no one else will. This is a reference to the circumstances of per­ secuted Jews during the Holocaust. Shared by all films mentioned so far is the fact that upon conclusion of the conflict with the Germans, Israel, as the power behind the protagonists, has the upper hand. This reinforces the Israel-Germany dichotomy between subject and other, between victorious victim and perpetrator.

Challenging Israel’s Germany-Taboos The sanctity created around Holocaust memory could be seen as a system of taboos.30 These taboos, for a long time, prevented public critical discussion about the significance of the Holocaust in Israel, a discussion which began to surface only during the seventies, and broadened in the eighties with the beginning of the Lebanon war in 1982 and the First Intifada in 1987. The new more differentiated discourse began with the writings of a group of Israeli historians, known as the “new historians,” whose work more broadly contributed to the ideology of post-Zionism. They pointed to the rhetoric of leaders using the memory of the Holocaust to legitimate political and mili­ tary aims, especially regarding the expulsion of Palestinians during the 1948 war, and the continuing occupation of the West Bank captured by Israel in the course of the Six-Day War of 1967.31 During the first decades of the state, the concept of the “negation of Ger­ many” played a major role in the process of sanctification of Holocaust 30 On Holocaust memory in Israel as a multilayered system of taboo, see Gulie Ne’eman Arad, Israel and the Shoah. A Tale of Multifarious Taboos, in: New German Critique 90 (Fall 2003), 5–26. On the discourse of Holocaust memory in Israel as a national religion, see Charles S. Liebman/Eliezer Don-Yehiya, Civil Religion in Israel. Traditional Judaism and Political Culture in the Jewish State, Berkeley, Calif., 1983, 123–167. 31 See e. g. Anita Shapira, Politics and Collective Memory. The Debate over the “New His­ torians” in Israel, in: History and Memory 7 (1995), no. 1, 9–40.

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memory. Ambivalence about Germany increased into the 1990s,32 while cer­ tain taboos surrounding Germany and the Holocaust remembrance remained intact. Between the sixties and the nineties there was a small number of films that broke new ground in discussing controversial matters such as Jewish revenge against the Nazis, Israeli immigration to Germany and Germany’s connection to the Israel-Palestine conflict. Although some of these films still depict Germans as Nazis or collaborations between Germans and Arabs, they are remarkable examples of a more differentiated worldview that set aside the old dichotomous and superficial conceptions of Israelis and Ger­ mans in general, and challenged the Israeli self-identification as victorious victims in particular. They created an important basis for critical cinematic discourse around Holocaust remembrance and Israeli politics that continued in films produced during the late 1990s and into the new millennium.

The Basement (1963) – A Jewish Revenge Story The Basement (Ha-martef, Nathan Gross, 1963),33 released two years after the Eichmann trial, was the first film to portray the story of a Holocaust sur­ vivor suffering from post-traumatic nightmares. German-born Emmanuel lives on a construction site in Israel where he works as a night watchman. Throughout the film he recalls his past in Germany before and after the Holocaust in a sequence of flashbacks, which are accompanied by his voice­ over describing his feelings and thoughts. In the first flashback, Emmanuel is seen returning to his hometown after his release from Dachau concentra­ tion camp. He learns that his schoolmate Hans, who has become an SS offi­ cer, killed his father, occupied his house and is now living there with Emma­ nuel’s former girlfriend Lottie. When Hans emerges from the house, Emmanuel runs to hide in the basement. Not noticing the uninvited guest, Hans locks the door of the basement. Full of sorrow and anger, Emmanuel finds himself imprisoned in his parents’ house, now the home of Hans and Lottie, surrounded by family and childhood memories. In this dark vault, symbolizing his haunted mind, he comes across a box where Hans has hid­ den his SS insignia together with a gun, and begins to think about revenge. 32 During the Gulf War that began in August 1990, a report about German companies sup­ plying Iraq with chemical weapons which could be used against Israel created major national anxiety related to the Holocaust and the German Nazi past. See further Moshe Zuckermann, Shoah in the Sealed Room. The “Holocaust” in Israeli Press during the Gulf War, Tel Aviv 1993 (Heb.). 33 Nathan Gross (1919–2005) was a prominent Israeli filmmaker, author and journalist, and one of the founders of the Israeli film industry. He survived the Holocaust in Poland.

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The character of the SS officer, Hans, is hardly more than a shadow, his face never seen. He is heard shouting orders at his dog and wife, Lottie, and hopping around on a wooden leg, a legacy of the war. In further flashbacks, taking Emmanuel to prewar times, Hans appears in a blurred shot that shows him in his SS uniform harassing Emmanuel while trying to convince Lottie to leave her Jewish boyfriend for him. Back in the present, Hans suddenly stands with his prosthesis at the top of the stairs to the dark basement, his sil­ houette seemingly integrating both man and machine, bringing to mind his part in the murder machinery of the National Socialists. Hans is represented as a reflection of Emmanuel’s traumatized consciousness: From being the boy next door he becomes dehumanized, a faceless monster. Through this representation of the German character and the question of revenge which occupies Emmanuel, the film challenges Israeli discourse about Germany as a collective of perpetrators, when it turns the German character into a victim, not of the Israeli Sabra, but of the Holocaust survivor himself. The film addresses Emmanuel’s inner debate and moral uncertainty about his urge for revenge. One flashback takes him back to a lesson in school taught by a teacher he respected. The teacher puts to the students the revenge dilemma facing Hamlet, the hero of Shakespeare’s play, and asks them to consider whether his reluctance to take revenge makes him a coward. He suggests that Hamlet is not a coward but a thinking person, hesitating because he does not want to become a murderer himself. This memory leads Emmanuel to his own moral conflict, expressed in his voiceover while he holds the gun, about the possibility that he himself will become a murderer and will thus resemble the Nazi Hans. The argument does not seem strong enough to overcome his desire, and he tells himself that he deserves to enjoy the death of one person. Towards the end of the film, when Hans appears at the top of the basement stairs, Emmanuel uses the gun to shoot and kill him. During the Holocaust, and especially in the months after the war, Jews committed acts of revenge, in numbers difficult to estimate, against National Socialists and their helpers across Europe. Most of the avengers were camp survivors and partisans; reprisal actions were also carried out by the Jewish Brigade in Europe.34 The best known revenge unit of the former partisans was Abba Kovner’s group ha-nakam (Vengeance), numbering at one point

34 The autobiographical novel Piẓe bagrut (1965) (The Brigade, 1967) by Hanoch Bartov, based on his experiences in the Jewish Brigade in Europe after the war, portrays acts of revenge such as the murder of SS officers, the burning of German property and physical violence against German men and women. For more on acts of Jewish revenge, see Michael Bar-Zohar, Ha-nokmim [The Avengers], Tel Aviv 1969 (Engl.: The Avengers, New York 1967).

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about forty men and women.35 The historical narrative of Jewish revenge did not appear in Israeli educational textbooks and was not mentioned at Israeli memorial sites dedicated to the Holocaust. The long discussion in the fifties about heroism during the Holocaust, linked to the decision to establish a national Holocaust and Heroism Remembrance Day (Iom ha-zikaron laShoa wela-gevura), excluded the avengers. When organized revenge groups sought financial support and endorsement for their activities from senior lea­ dership, and especially from David Ben-Gurion, they were mostly rejected.36 The issue of Jewish vengeance endangered, in the eyes of the leaders, the fragile structure of the relationship between Israel and Germany, where the roles of victim and perpetrator had clear political and economic implica­ tions. In contrast to these partisan acts of revenge after the Holocaust, later reta­ liatory actions by official Israeli organizations, such as the Mossad or Sha­ bak (The Israeli Security Agency), short “Nazi hunting,” were portrayed in public as exaltation of Israel.37 Although containing unmistakable character­ istics of revenge, these operations were never defined as such by the official discourse, but as acts of justice.38 Against this background, they were well integrated into the dual self-identification of the victorious victim. In movies, the question of Jewish revenge against National Socialists was hardly ever explicitly addressed in those days; the film The Basement there­ fore was ahead of its time. The Israeli press criticized it harshly, though acknowledging its artistic qualities: The set was designed by the well-known artist Menashe Kadishman (1932–2015), with influences from both German Expressionist cinema and the dark atmosphere of American film noir. Actor

35 The original plan of the group was to poison a number of water wells in Germany and cause the deaths of six million Germans. They eventually carried out another plan in which thousands of former SS men imprisoned in a camp near Nuremberg were poisoned. See Dina Porat, The Fall of a Sparrow. The Life and Times of Abba Kovner, transl. and ed. by Elizabeth Yuval, Stanford, Calif., 2009; Tom Segev, The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York 2000, 140–146. 36 Tom Segev argues that while the avengers wanted to convey a message to future genera­ tions about the ability of Jews to respond, their revenge fantasies were alien to community leaders and Zionist policy alike. See idem, The Seventh Million, 151; Chava Zektzer, who interviewed Jewish avengers, shows that they felt betrayed by the Israeli public and lea­ dership, and that they sought to restore their dignity as avengers. See idem, Nakam le-aḥar ha-Shoa [Revenge after the Holocaust] (unpublished MA thesis, Tel Aviv University, 1997), 138. 37 For example Adolf Eichmann’s kidnapping in Argentina; the assassination of the “Butcher of Riga,” Herberts Cukurs, in Uruguay in 1965. 38 In a radio speech, Ben-Gurion referred to Eichmann’s trial on the 1961 Day of Indepen­ dence: “We are the redeemers of the six million Jews, who were murdered just because they were Jews. They were redeemed by justice and not by revenge.” Zektzer, Nakam leaḥar ha-Shoa, 134 f.

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Shimon Yisraeli (b. 1932), a Holocaust survivor himself, played the roles of most characters and composed the music.39 Although the film was highly acclaimed at the Berlin Film Festival, its failure in Israel marks the inability of a local audience to cope with the moral questions raised in regard to the behavior of Jews in Europe during and after the Holocaust. Four decades later, at the beginning of the new millennium, at least three Israeli films dealt directly with questions of Jewish revenge against the National Socialists,40 some time before the release of the epic revenge film Inglourious Basterds (2009) by American director Quentin Tarantino.

Transit – Germany’s Cursed Soil Transit (Daniel Wachsmann, 1979) belongs to the wave of Israeli films defined as “personal cinema” and later “the new sensitivity,” beginning in the mid- to late sixties.41 Many of these films were influenced by the French New Wave and created in an attempt to oppose commercial cinema and the national heroism then dominating Israeli movies. These films feature indivi­ duals alienated from the Israeli collective and living on the margins of society. They are usually sensitive and vulnerable men, deviating from the “Sabra” mythos. The character of Erich Nussbaum, the protagonist of Transit, is based on the director’s impressions of his own father, who was an Austrian Jew flee­ ing to Shanghai in the late thirties, then arriving in Palestine as immigrant.42 In the film, Nussbaum (Gedalia Besser) is a German Jew who has to flee Germany when the Nazis come to power. His failure to integrate into Israeli society has him wander the streets of Tel Aviv while his thoughts rest with the city he loves and longs to return to, Berlin. In those years, the considera­ tion of emigrating from Israel was openly criticized as cowardice, an act contrary to the Zionist ethos,43 and, when it came to Germany, even an 39 See R. Azaria, Le-kol adam yesh martef [Everyone Has a Basement], in: Ma’ariv, 2 May 1963, 4; M. Ein Roi, Ha-bikoret weha-ẓibur [The Critic and the Public], in: Davar, 28 July 1964, 3. 40 Made in Israel (Ari Folman, 2001); Walk on Water (Eitan Fox, 2004); The Debt (Asaf Bernstein, 2007). 41 The film director and scholar Judd Ne’eman coined the term “the new sensitivity” in 1992. See further Ariel Schweitzer, Ha-regishut ha-ḥadasha. Kolnoa Yisra’eli moderni be-shnot ha-shishim weha-shivim [The New Sensitivity. Modern Israeli Cinema of the Sixties and Seventies], Tel Aviv 2003. 42 For an interview with Daniel Wachsmann, see Talma Admon, Bamai meḥapes shorashim [A Director in Search of Roots], in: Ma’ariv, 8 May 1980, 34. 43 In an interview for the Independence Day of 1976, Prime Minister Yitzhak Rabin referred to Israelis who left Israel as “leftover weaklings” (nefolet shel nemushot).

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expression of disrespect towards Holocaust survivors and harmful to national Holocaust remembrance as a whole. The attempt to adhere to the “negation of Germany,” surrounding Ger­ many with an aura of taboo in the first decades of Israeli statehood, included the country’s geographical territory. The negation of Germany was made official in December 1949 with the first Israeli passports that said, “This passport is valid in all countries – except Germany.” A few books were writ­ ten by Israelis who traveled to West Germany after the establishment of dip­ lomatic relations in 1965,44 and Israeli students began to enter West as well as East German universities. Nevertheless, German soil was still perceived by many as cursed, and settling there as an attack on the most sensitive issue of Israeli society. Erich Nussbaum’s apartment in Tel Aviv represents a “realm of mem­ ory,”45 an inner world he has created for himself where he lives and preserves his German culture of origin within an Israeli space. Like his sister’s Tel Aviv apartment and their former home on the old continent, it is full of heavy wooden furniture and porcelain coffee pots. They speak German amongst themselves and classical music is a constant background presence.46 This German-Jewish world is depicted mostly in small and confined spaces, such as Nussbaum and his sister’s apartments, and the hotel room he makes his home after his landlord evicts him. Even in this strange place, Nussbaum renews an intimate European space, and wastes no time in turning on the radio to listen to classical music. The music stands in marked contrast to the oriental sounds to be heard in the streets of Tel Aviv, which for Nussbaum represent Israel’s public sphere, a quintessentially Middle Eastern environ­ ment. This public sphere is perceived by him as vulgar and violent, espe­ cially when at the hotel for the first time in his life, where he encounters drug dealers, petty criminals and prostitutes. Having to share a space with them reinforces his fantasies of a superior German culture. This difference helps to define Nussbaum’s feeling of inwardness, detachment and aliena­

44 One such Israeli account of a trip to Germany at that time is Amos Elon, Journey through a Haunted Land. The New Germany, New York 1967. 45 The term “realms of memory” was used by the French historian Pierre Nora, relating to the recollection of past experience through substitutive symbols for what no longer exists, in cultural rituals (memorial days), institutions (museums, archives), etc. See Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 3 vols., Paris 1984–1992. 46 A portrait of a German-Jewish immigrant’s lifestyle as a “realm of memory” can be seen in the film Rocking Horse (Suseẓ, Yaky Yosha, 1978). A more recent cinematic example of such a space is The Apartment (Ha-dira, Arnon Goldfinger, 2011), which opens with a sequence exploring the apartment of the director’s late grandmother, a German Jew who created a bubble of German culture in the heart of Tel Aviv, using decoration, clothing, German literature and language.

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tion from the society around him. The feeling is such as to intensify, in paral­ lel, his idealization of his native city Berlin. In Germany Nussbaum has worked in a museum, while in Tel Aviv he runs a small antique shop. His marriage to an Israeli woman breaks up and he feels estranged from their child. All these elements contribute to his pro­ longed feeling of frustration. “The light here is too tough, too penetrating,” Nussbaum explains. In Berlin he had a girlfriend whose father was a “big Nazi,” in his words. This Nazi probably caused his dismissal from the museum and ultimately his deportation from Germany. But now, he tells his partner in the antique shop, also a German Jew, they have offered him a good job at a museum in Germany. His friend reminds him, “In Germany we thought we were Germans and they told us that we were Jews.” Nussbaum tells himself that on the previous occasion they forced him to leave, whereas now his departure from Israel to Germany is based on free choice. Even­ tually, though, Nussbaum does not avail himself of the opportunity of migrating to Germany, and stays in Israel, detached from his family and society. Wachsmann’s film depicts the life of an alienated immigrant in Israel and the unique lifestyle of Jews from Germany. Although the protagonist has to come to terms with a certain cognitive dissonance regarding his tragic past and the better life in Germany he envisions, the film is critical of the repre­ sentation of Israel as a safe haven, in emotional terms, for every immigrant or refugee, even when he is a Jewish survivor of Nazi persecution. The film recognizes the possibility of migration to Germany as legitimate, despite the accompanying idealization, which characterizes all dreams of migration. The film achieved moderate success at home and abroad,47 being the first to deal with the sensitive matter of moving between Israel and Germany. The discussions surrounding it became livelier in the eighties,48 and reached a peak in the millennium years, when a wave of young Israelis immigrated to Germany and were documented in Israeli cinema.49

47 The film was screened at many international festivals, including in Berlin and London, while Israeli critics were not enthusiastic. See for example the hesitant review of Gidi Orsher: idem, Transit [Transit], in: Ma’ariv, 21 September 1980, 2. 48 Tel Aviv – Berlin (Tzipi Trope, 1986) also showed the character of a Jewish immigrant in Israel, an Auschwitz survivor who wishes to move back to what he regards his homeland, Germany. As with Nussbaum, his dream is not fulfilled. 49 Such films as Farewell Herr Schwarz (Yael Reuveni, 2012) and Anderswo (Esther Amrami, 2014) illustrate this trend.

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Fellow Travelers (1983) and Streets of Yesterday (1989) In the 1980s the director Judd Ne’eman made two films dealing directly with the connection between Germany, the memory of the Holocaust in Israel and the Israel-Palestine conflict, as never before seen in Israeli cinema. Both movies have a violent and dark atmosphere. Their way of engaging with contemporary Israeli politics recalls Israel’s “siege syndrome” cinema,50 films made under the pessimistic impression of the Israeli Left after the 1977 elections, when the right-wing party Likud under Menachem Begin came to power and diminished all hopes to end the conflict with the Palesti­ nians any time soon. The protagonists in these films are hesitant activists of the Israeli Left who seek dialogue with Palestinians, but run into a dead end. In both cases, the involvement of German characters in the sensitive dynamic between Israelis and Palestinians is such as to challenge Israeli his­ torical consciousness of the German past and the roots of the violent conflict with Palestine. The protagonist of Fellow Travelers (Magash ha-kesef, 1984) is Jonathan (Gidi Gov), a young Israeli Jew returning to Israel from Germany after three years. He brings with him half a million Marks hidden in two books for his Palestinian friend, Professor Khader. Together with their fellow activists in the struggle for Palestinian liberation, they plan to establish an Arab univer­ sity in Israel.51 The German professor who has given him the money in Ber­ lin is murdered after Jonathan leaves, probably by Israeli agents following him in Germany. Jonathan then finds himself in the midst of an intra-Palesti­ nian conflict over whether to use the money to establish the university or buy weapons for the armed struggle. As the one who holds the money, he is persecuted by his Palestinians fellows on the one hand and by Israeli secur­ ity on the other. Jonathan understands that he is a meaningless piece in a conspiratorial and violent battle involving many players. At the end of the film he is murdered; whether by Israel or the Palestinians remains unclear. 50 See Nitzan S. Ben-Shaul, Mythical Expressions of Siege in Israeli Films, Lewiston, N. Y., 1997. 51 The name of the film in Hebrew, Magash ha-kesef, means “the silver platter,” echoing the title of a famous poem by Nathan Alterman from 1947. The poem constructs fallen sol­ diers as the silver platter upon which the Jewish state would be delivered to its people. One may recall the story of Udi Adiv, a former IDF (Israel Defense Forces) combat fighter and kibbutz golden boy, who became active in the left movement against the occu­ pation. During 1971 and 1972 he collaborated with the Syrian military forces, and was caught in Israel in 1972. Much similarity exists between the film’s protagonist and Adiv, though Jonathan is not involved in the institutionalized military activity of any state. Although some of his actions are considered illegal in Israel, his initial plans with his Palestinian comrades are peaceful and aim at dialogue through education. Still he is con­ sidered a traitor in the eyes of the Israeli security forces.

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Fellow Travelers was criticized in Israel as superficial, but did well in international film festivals.52 Ne’eman’s next film, Streets of Yesterday (Reḥovot ha-etmol, 1989), an English-language production initiated by Brit­ ish Channel 4 and co-produced by West Germany, refers to the same themes. Ne’eman applied for funds from the Israeli Film Fund, which had supported Fellow Travelers, to finance a Hebrew version of the new film, but was rejected. No Israeli distributor would work with the director and the film was not screened in Israel. Streets of Yesterday uses stylistic elements of film noir to tell a story of betrayal, murder and corruption.53 The protagonist is an Israeli student and peace activist, Joseph Raz (Paul McGann), whose Palestinian friend, Amin (Alon Abutbul), arrives at his place one day seeking shelter. Amin is sus­ pected of being involved in a political assassination, and Raz betrays him to the Israeli authorities. When the security forces kill Amin in front of Raz, contrary to their promise, he grabs a gun and kills one of the Israeli agents in revenge, then flees to Germany to seek refuge. On German soil he hides among Palestinian refugees who suspect his part in Amin’s death, though he protests his innocence. Meanwhile, Amin’s sister, Nidal, and her husband, the German professor Konrad, shelter him in their Berlin apartment, acting as his sponsors for the German state. Konrad, who is at first seen working with the Palestinians in planning a terror attack in Israel, is later discovered to be an informer for the Israeli security forces operating in West Berlin. Like Jonathan, the protagonist of Fellow Travelers, Raz is put under pressure in Germany by both Palestinians and Israelis, who want to enlist him. He understands that as a peace activist he is a negligible factor in a scene of con­ spiracy and violence where all are betrayers and betrayed. In both films, Ne’eman interprets West Germany as a key partner in the course of events in the Middle East, both as a source of the crisis in Israel/ Palestine as well as its possible resolution. This way, he creates a trilateral cinematic dialogue between Israel, Palestine and Germany. In Streets of Yes­ 52 See Ora Adif, Kaẓin ẓahal ha-mistabekh im “ra’im” we-“tovim” be-Yehuda we Shomron [An Israeli Officer Involved with the “Good” and the “Bad” in Judea and Samaria], in: Ma’ariv, 20 January 1984, 165; Ofra Yeshua-Lyth, “Ata neged Aravim” hetiḥu be-Judd Ne’eman [“You Are Against the Arabs” Was Judd Ne’eman Criticized], in: Ma’ariv, 27 February 1984, 14. 53 It is interesting to note that the film noir genre was strongly influenced, if not formed, by Jewish filmmakers who had fled Germany and Austria after the rise of National Social­ ism. Hollywood, for them, was a place to express their consciousness as the “other,” in a style partly influenced by German Expressionism. In Streets of Yesterday, however, ele­ ments of this genre serve to tell a kind of reverse story, that of an Israeli Jew who actually finds refuge in (the “other”) Germany. For more about German-Jewish filmmakers and film noir, see Vincent Brook, Driven to Darkness. Jewish Émigré Directors and the Rise of Film Noir, New Brunswick, N. J., 2009.

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terday, Germany is a real haven for Raz, who flees from Israel pursued by the security forces, as well as for many Palestinian refugees. In Fellow Tra­ velers, it is Germany where Jonathan can join the Palestinian group fighting for national liberation. It is precisely in German space, saturated with the memory of disaster, that a direct meeting between the two sides of the con­ flict is possible. But though it might seem that the shared circumstances of refuge in Ger­ many allow for a dialogue between Israeli Jews and Palestinians with some hope for a resolution, the films portray German ground and the involvement of German characters as factors intensifying the conflict and the violence between the parties. Streets of Yesterday shows Palestinian terror attacks being planned in Berlin and implemented in Israel. In both films, German professors who try to intervene in the conflict are murdered on German soil, with the question of the murderers’ origins remaining unanswered. Implicit criticism of Israeli-German relations emerges from the fact that in both movies the Israeli security services move freely within German sovereign territory and act as they wish, ranging from extortion to murder, as if it is a territorial continuation of Israel and the occupied territories. Moreover, the German authorities in Streets of Yesterday are depicted as submissive to both official and unofficial representatives of Israel. Therefore, the attempt to present Germany as an arena for dialogue is overturned and Germany becomes a partner, perhaps unwillingly, to the con­ tinuation of the Israel-Palestine struggle. It was, however, the intention of the director to insist on the violent triangle – Israel, Palestine and Germany – in order to explore and maybe understand the roots of the conflict. The German protagonists themselves are depicted as full of ambivalence, showing the complexity of coping with the Nazi past while trying to solve the problems of the Middle East. The two professors are intellectuals of the second generation. As cinematic characters they are insufficiently devel­ oped, and their screen time is marginal. But both become significant triggers for the violent events in the films: The first character, Professor Ulrich, deli­ vers illegal money to Jonathan, who is supposed to pass it on to the Palesti­ nians in order to establish a university. The second, Konrad, is involved in violent activities of both Palestinians and Israelis, as an informant of the Israeli intelligence. It may be that the two German characters are acting in good faith, aiming to resolve the conflict, but their paths deviate from the goal and merge into the atmosphere of conspiracy and general mistrust that predominates in the films. Both characters fail to fulfill their political objec­ tives and are eventually murdered. Germany’s role in the conflict is therefore shown to be a failure. Konrad, the German professor in The Streets of Yesterday, is a more com­ plicated character in how he deals with the Nazi past than Professor Ulrich

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of Fellow Travelers. As an archaeologist he has worked on excavations near Jerusalem and found Jewish skulls, two of which he shows to Raz. One of the Jews, he suggests, probably fought against the Romans and the other is of European descent. The purpose of his research, as he says, is to prove that Jewry has a twofold origin, the Middle East and Europe, and that the former could explain the militaristic tendencies of Israelis today. The viewer’s discomfort, deriving from the fact that the professor has a collection of Jewish skulls in his apartment, is not lessened when one recalls nascent pseudo-scientific race theory from the turn of the twentieth century, proposing that collective human psychological characteristics are reliably attested to by physiological measurements, a line of thought later adopted by the Nazis. When Raz, unaware of Konrad’s dual role in the Israel-Pales­ tine conflict, asks him, “Did you talk about the dual origin of the Jews with your Arab friends? Because they will say that I have no right to be in the land […]” Konrad answers, “That is politics, not science, and there is always an explosion when they mix […]” He tells Raz they have much in common: “Berlin was once called the Jewish area, the domain of the Jews. Nazis saw Jews in everyone, Catholic Jews, Protestant Jews, atheist Jews, Jewish Jews of course […]” Raz asks, “How would they define you?”, and Konrad laughs, “Gentile Jew […]” Konrad’s professional and personal interest in the genealogy and history of the Jewish people as well as in the Israeli-Palestinian conflict raises ques­ tions regarding his real aims. Since he is personally involved with Palesti­ nians and Israelis in many different and also violent ways, his political views regarding possible solutions for the two peoples fighting over the same piece of land are not clear. The answer might be hidden in another scene, when, during a meeting between Konrad and his Israeli Mossad operator, Konrad tells the latter, “I do not do anything for Israel, maybe for the Jews.” This statement might reflect his inner conflict arising from a guilt complex relat­ ing to the Nazi past and his dislike of Israel as a militaristic political entity. This split is reflected in both his scientific work and his political activity. Ne’eman does not spare Israelis criticism of their relation to Germany. In Fellow Travelers, Jonathan, who is carrying the German money he received from Professor Ulrich, arrives at a local pub in Tel Aviv run by his friend, Joe. The latter tells him, “You look pretty good for a ‘stinker’ sitting in Ger­ many and milking the marks of the Germans.” In using the term “milking,” Joe seems to be insinuating that the victim-perpetrator relationship between Israel and West Germany, formalized in the reparations agreement thirty years earlier, continues to find economic expression. The film suggests that Germany give financial support to Israelis and Palestinians in the hope of creating a change of consciousness in a war-torn region. It is either an act of taking responsibility for the repercussions of Germany’s terrible crimes in

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the past, or a wish for atonement. In both films, however, it seems that the Germans are in any case manipulated by both Israelis and Palestinians. The film Streets of Yesterday ends with an encounter between Palestinians and Israelis at the Olympic Stadium in Berlin, built under Hitler. Although the choice of venue is a melodramatic cliché, it is nevertheless an attempt to directly connect the significant elements in the film: Germany’s Nazi past, Israeli victim consciousness expressed in Holocaust remembrance, and the Israel-Palestine conflict. At the beginning of the scene, an Israeli intelli­ gence agent meets with Raz, and as they enter the stadium he says, pointing to the seats, “This is grandfather, and my aunt and uncle. You can fill the place with Jews who were murdered. Imagine that. Who in your family is here? The minute we stop hitting hard it will come back again.” This sentence, from a representative of Israel’s security forces, asserts the rhetoric used by Israel’s leaders of those years regarding the need of Israel to protect itself against whoever its enemies are deemed to be, in the name of not allowing the Holocaust to happen again. This conveys the essence of Ne’eman’s criticism of Israeli Holocaust remembrance, and draws on the critical discourse that grew throughout the eighties. His films portray a circle of violence, victims and perpetrators, history and present, without atonement. In these two films Ne’eman draws a significant link between Germany, Israel and Palestine, paving the way towards critical cinematic discussion on this triangle in the context of Holocaust remembrance in contemporary circum­ stances.

Conclusion The dialogue between political rhetoric, national memory and collective images can be clearly portrayed through the representations of Germany and Germans in Israeli cinema in the years 1950 to 1990. Images of Germany were used in this period as a negative reflection in the shaping of Israeli selfconsciousness, but also as a critical tool for a close self-reflexive look at ongoing violent conflict, national myths and political processes. This cinematic-genealogical discussion exposes the moment when dealing with Holocaust memory and the German Nazi past became a form of enter­ tainment, through the use of popular genres such as action and thriller films, influenced for the most part by American cinema. But still, within this framework of entertainment, Israeli films addressed significant and contro­ versial themes. This was done explicitly in terms of a “German question,” sometimes long before its official appearance within the wider critical socio­ political discourse. It can therefore be argued that filmic representations of

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Israeli attitudes towards Germany, complicated and ambivalent as they were during the first decades after the catastrophe, offered an acute observation of the most essential components of Israel’s national historical consciousness and its political concretizations.

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The Missing Scene: Entebbe, Holocaust, and Echoes from the German Past When during the last week of January 1979 the US-American miniseries Holocaust (Marvin J. Chomsky, 1978) was shown on German television, numerous commentators emphasized its meaningful effect on the public his­ torical consciousness of West Germany. Many argued that its broadcast had caused an “emotional shock” among the German population.1 The weekly Der Spiegel even described Holocaust as an experience of “catharsis” for the nation.2 Indeed, more than 40 percent of the television audience had watched the series; 35,000 telephone calls had reached the channel as well as an equal amount of letters and telegrams. The West German Government distributed 20,000 information booklets about the series and its historical background for educational purposes.3 Although Siegfried Zielinski, who analyzed the real-time reception of the series, questioned its long-term sig­ nificance for the shaping of West German historical consciousness, the show’s effect on the audience nevertheless proved, in his words, “the 30year-old failure of the mighty culture industry to transmit the experience of fascism and its capital crimes to the mass of the inhabitants of this country.”4 Among advocates as well as critics of the series, its specific style and narra­ tion, the combination of Hollywood melodrama and effective emotionaliza­ tion and personalization of history, were considered responsible for its unforeseen effect on the German audience. However, Holocaust was not the

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Siegfried Zielinski, History as Entertainment and Provocation. The TV Series “Holo­ caust” in West Germany, in: New German Critique 19 (1980), no. 1, 81–96, here 89. Holocaust. Die Vergangenheit kommt zurück, in: Der Spiegel 5 (1979), 29 January 1979, 17–28, here 17. Jeffrey Herf, The “Holocaust” Reception in West Germany. Right, Center and Left, in: New German Critique 19 (1980), no. 1, 30–52, here 30. Zielinski, History as Entertainment and Provocation, 90. Today, the screening of Holo­ caust is recognized as a key event in postwar Germany’s coming to terms with the past. According to Christoph Classen, the term “Holocaust” entered common terminology as a direct result of the broadcast. He stresses that the series Holocaust was the first ever con­ text in which the mass murder of the Holocaust was sharply articulated as a rupture of civilization, an interpretation that would soon establish itself. See idem, Zum Themen­ schwerpunkt, in: Zeitgeschichte-online: Die Fernsehserie “Holocaust.” Rückblicke auf eine “betroffene Nation,” ed. by idem, March 2004/October 2005, (26 July 2015). JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 243–263.

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first encounter of the West German public with this particular mixture and by no means the first television drama directed by Marvin J. Chomsky stirring a public controversy. Already in January 1977 Chomsky’s melodramatic Vic­ tory at Entebbe (USA 1976) had been screened in West German cinemas and turned some of them into battlefields over differing perceptions of the event it was based on and its cinematic interpretation: the hijacking of an Air France flight by a German-Palestinian commando in June 1976 and the subsequent hostage rescue mission by an Israeli special unit at Entebbe airport.5 In Entebbe, the terrorists, led by the Germans Winfried Böse and Brigitte Kuhl­ mann, both founding members of the German left-wing terrorist group Revo­ lutionary Cells (Revolutionäre Zellen, RZ), had separated Jewish-Israeli pas­ sengers from Gentiles. Faced with its depiction on the big screen, audience’s memories of the selection of Jews for the gas chambers after their deportation to extermination camps like Auschwitz were painfully revived. Likewise, this scene, showing how the German terrorists divided their hostages into two groups along discriminatory lines, was the central turning point in Victory at Entebbe’s dramatization of the events.6 It can be assumed that the particular mixture of Germany’s Nazi past and a new left revolutionary anti-Zionism led to the transformation of feelings of shock and uncanny recurrence of the sup­ pressed into a violent furor against the film that culminated in attempted fire­ bomb attacks on two cinemas in Düsseldorf and Aachen. It has been widely overlooked that the memories of the selection in Entebbe and its dramatization in Victory at Entebbe were revisited during the public debate on the broadcast of Holocaust. At least parts of the Ger­ man New Left, rejecting the series not only as a product of consumerist Hol­ lywood culture, but a Zionist propaganda tool, suspected a direct or indirect functional relationship between this production and Chomsky’s earlier film. An introductory article to a special issue of the Frankfurt-based leftist jour­ nal Pflasterstrand explicitly linked the television series and its alleged amal­ gamation of capitalist interests and Zionist ideology to the production of Vic­ tory at Entebbe two years earlier.7 The following article reviews the depiction of the selection scene in Vic­ tory at Entebbe in light of the visual memory of the Holocaust, which was 5

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Tobias Ebbrecht-Hartmann, Kampfplatz Kino. Filme als Gegenstand politischer Gewalt in der Bundesrepublik, in: José Brunner/Doron Avraham/Marianne Zepp (eds.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014, 161–180, here 175. The same is true for two other films that addressed the same events and succeeded Victory at Entebbe. Raid on Entebbe (Irvin Kershner, USA 1976) and Mivtsa Yonatan (Operation Thunderbolt, Menahem Golan, Israel 1977). “Wieder sagen die Deutschen, sie hätten von alldem nichts gewußt,” in: Pflasterstrand 47 (1979), 23 f., here 23.

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significantly shaped by Chomsky’s successful “follow-up” Holocaust, as well as in the context of the political events following the screening of Vic­ tory at Entebbe in Germany and the partly violent reactions of the German New Left. It intends to show that Victory at Entebbe, albeit mostly forgotten today, exerted significant influence on the (mainly West) German visual memory of the Holocaust, connecting past and present in an uncanny and provocative way. This is especially true for the German New Left. The ana­ lysis of this movie scene and political episode may, as an overlooked junc­ ture of cinematic memory of the Holocaust and postwar German political history, contribute to an understanding of the complex relationship between Germany’s extremist Left and the troubling German past.

Holocaust: “The Past Returns”8 Chomsky’s dramatization of the persecution and murder of European Jews during the “Third Reich” and World War II was immediately accused of tri­ vializing virtually inenarrable historic events.9 At the same time, it was the show’s very narrative style, informed by classical narrative cinema, that accounted for its huge success and impact, which, besides outright rejection of Hollywood’s capitalist interests, was also acknowledged by an anon­ ymous contributor to Pflasterstrand. The author confessed to the huge emo­ tional impact the series Holocaust had on him and admitted that at least it broke the unbearable “perfect German silence.”10 Indeed, Holocaust pro­ vided a comprehensible structure as well as an emotive visual style that was able to approach a broad audience, many of whom were often unaware or ignorant of the facts and details of what was, as an effect of the series, later termed “the Holocaust.” Following the then current state of research on this period, the series condensed the manifold stages of the historic events into a linear narrative and, as a result, made the developments toward “the Final Solution” seemingly traceable for its viewers.11 18 Holocaust. Die Vergangenheit kommt zurück, 17. Jeffrey Herf also picks up this headline of Der Spiegel’s cover story on Holocaust from 29 January 1979: Die Vergangenheit kommt zurück (The Past Returns). See idem, The “Holocaust” Reception in West Ger­ many, 31. 19 Most famously by Auschwitz survivor Elie Wiesel, Trivializing the Holocaust. Semi-Fact and Semi-Fiction, in: The New York Times, 16 April 1978. 10 Mh, In unserer Familie ist die Hölle los, in: Pflasterstrand 47 (1979), 24–26, here 24. 11 Judith E. Doneson, Holocaust Revisited. A Catalyst for Memory or Trivialization?, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 548 (1996), 70–77, here 75.

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Holocaust seeks to cover all important historic cornerstones leading to, and main aspects of, the Holocaust (the pogrom of November 1938, com­ monly known as “Kristallnacht,” the Warsaw Ghetto, the mass shootings, and the installation of gas chambers to conduct mass killings) by linking them to the personal fates of the protagonists, the members of the Jewish family Weiss and the German Nazi careerist Erik Dorf. The narration of two family stories unfolding in parallel, each with its own set of characters and individual paths, allows for the adoption of central elements of the melodra­ matic genre in order to frame a multilayered plot. By means of this complex but linear arrangement, ensuring audience comprehension, the series com­ pensates for its lack of historical complexity. The purpose of this narrative structure is of course also to accommodate commercial breaks, a fact inter­ preted by leftist critics as proof of capitalist intentions behind the series. A review in the Marxist-Leninist newspaper Rote Fahne, for instance, explains the mini series’ narration exclusively with economic interests and denies it any more than soap opera quality.12 But this criticism, mainly motivated by anti-capitalist and anti-American resentments, overlooks that the same struc­ ture loosens the narrative’s causal order, which may therefore include a great variety of known as well as largely unknown events from the period of the Holocaust. Holocaust provided narrative and stylistic patterns for later films to repre­ sent these events.13 It reenacts iconic visual evidence from the Holocaust such as film footage and photographs. The scenes of deportation trains departing from the ghetto Joseph Weiss and his wife live in resemble the famous moving images from the Dutch transit camp in Westerbork.14 Scenes following the Warsaw Ghetto uprising in Holocaust are inspired by photo­ graphs from the infamous Stroop Report, intended as evidence of the “effi­ ciency” of the German counter action, among them also the well-known image of a Jewish boy with his hands above his head in front of a German soldier.15 12 Auschwitz als Seifenoper. Die amerikanische Fernsehserie “Holocaust” in den Dritten Programmen, in: Rote Fahne, 18 January 1979. 13 Doneson, Holocaust Revisited, 75. 14 For the Westerbork film see Tobias Ebbrecht, Vom Erscheinen und Verschwinden. Trans­ textuelle Erinnerung jenseits der Nachbildungen des Holocaust, in: Ursula von Keitz/Tho­ mas Weber (eds.), Mediale Transformationen des Holocaust, Berlin 2013, 119–139, here 125–127. Harun Farocki reused the footage in his film Aufschub (Respite, Germany/South Korea 2007). 15 Jürgen Stroop commanded the German forces that fought the Jewish resistance and finally liquidated the Ghetto. The written report, complemented by photographic “evidence,” was to prove the SS corps’ success and be presented to Heinrich Himmler, then Reichs­ führer-SS, as a souvenir. For the Stroop Report, see Tobias Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011, 224 f.

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Moreover, the series shaped future visualization of the persecution and murder of European Jews, thus turning into a prototype for subsequent works.16 The image of the family as well as the narrative of displacement became widely used elements in fiction films about the Holocaust. The se­ ries’ depiction of concentration camps set an example for films such as War and Remembrance (Dan Curtis, USA 1988) and even Schindler’s List (Ste­ ven Spielberg, USA 1993). Thus Holocaust created a specific cinematic memory of the events, predefining certain historic incidents as cornerstones of later films17 which then further developed their narrative and visual pat­ terns or created counter-models, such as Alexander Kluge’s Die Patriotin (The Patriot, Germany 1979) or Edgar Reitz’ miniseries Heimat (Germany 1984). Die Patriotin significantly differed from American television stan­ dards and rejected classical narration.18 Kluge avoided reconstructing the past in favor of developing a narrative equivalent to excavating history. Hei­ mat, on the contrary, tried to combine the narrative patterns of the American miniseries with the style of German auteur cinema. Reitz intended his televi­ sion chronicle of a fictive German town maneuvering through the storms of history explicitly as a German response to Chomsky’s Holocaust, but shifted the Holocaust to its invisible margins.19 Holocaust became a reference point for later works and may be seen as a successful attempt to communicate and commemorate the history of the “Final Solution” within the framework of mass culture, addressing a widely uninformed or indifferent audience. It created a first version of what could be described as “historical event television.”20 Although dramas about the 16 The term “prototype” is borrowed from Jörg Schweinitz’ extensive studies on stereotypes in film narration. An influential prototype in relation to films about the Holocaust was Schindler’s List. See Ebbrecht, Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis, 81. 17 In retrospect, it is remarkable that Chomsky decided to place the Warsaw Ghetto Uprising largely at the end of his series, similar to the dramatic composition of Claude Lanzmann’s epochal documentary Shoah (France 1984). Furthermore, the television series from 1979 already emphasized the significance of the Soviet-Jewish resistance in Sobibór, placing the fictional character Rudi Weiss in the historic position of Yehuda Lerner. Lerner took part in the revolt at Sobibór in 1943 and was interviewed by Lanzmann for Shoah but only appeared with his extraordinary story in Lanzmann’s later documentary Sobibor, 14 octo­ bre 1943, 16 heures (France 2001). Though certainly on an epistemological level Lanz­ mann’s works constitute the complete opposite of Holocaust. While Lanzmann avoided direct representations of the mass murder and intended to access the history of annihila­ tion through memories and testimonies of survivors, Holocaust offered a way of trans­ forming the senseless story of destruction and death into a coherent narrative refilled with historical meaning. 18 Anton Kaes, From Hitler to Heimat. The Return of History as Film, Cambridge, Mass., 1989, 107. 19 Ibid., 184. 20 Tobias Ebbrecht, History, Public Memory and Media Event. Codes and Conventions of Historical Event-Television in Germany, in: Media History 13 (2007), no. 2/3, 101–114.

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“Third Reich” and the persecution of the Jewish people had aired before on American as well as German TV screens, none of them was as successful as Holocaust in 1978/79.21 One reason for the show’s success and public effect was that it triggered “extra-textual events.”22 Besides the initial debate whether to broadcast Holocaust in Germany at all, every installment was framed by a roundtable discussion, which also featured comments from the audience to accentuate public interest in the show.23 Parts of the German New Left discussed the series as well. Their frame of reference, however, was slightly different from that of the majority of the German audience. On the one hand, the process of coming to terms with the Nazi past was crucial for their leftist self-concept as antifascists in the 1970s. Their perception of the series, on the other hand, as a product of capi­ talist culture industry and, moreover, as expression of “Americanism” as well as the vast public support it enjoyed raised their suspicions.24 A review of the leftist press of the time shows that although they often disparaged the extra-textual events referred to above, journals and newspapers such as Pflasterstrand and Rote Fahne provoked extra-textual events themselves and thus participated in the public discourse on Holocaust.25 Pflasterstrand, for instance, assembled different anonymous opinion pieces and, in doing so, 21 West German television even produced some outstanding films dealing with the past events as well as with their impact on the present, such as Ein Tag. Bericht aus einem deutschen Konzentrationslager (One Day. Report from a German Concentration Camp, Egon Monk, West Germany 1965) or Mord in Frankfurt (Murder in Frankfurt, Rolf Hädrich, West Germany 1968). 22 Derek Paget, No Other Way to Tell It. Docudrama on Film and Television, Manchester/ New York 22011, 117 f. 23 Zielinski, History as Entertainment and Provocation, 90. Zielinski highlights the fact that well-known public figures in Germany admitted their active participation in driving National Socialist ideology and policies, such as the editors Rudolf Augstein (Der Spie­ gel) and Henri Nannen (Stern). In the case of Karl Carstens (CDU), his service in the Wehrmacht and membership in the NSDAP since 1940 did not stand in the way of his candidacy for federal president. Furthermore, Zielinski points out that the broadcasting of Holocaust encouraged other, mainly overlooked and forgotten minorities and victims of persecution by the Nazi regime, such as Sinti and Roma and homosexuals, to raise their voices. The greatest impact, however, the show had on educational institutions: “School students, who had never heard anything about the Nazi genocide, pressed their teachers to deal with the subject in class.” Idem, History as Entertainment and Provocation, 94. 24 Herf, The “Holocaust” Reception in West Germany, 38. 25 An anonymous author, for instance, criticized in Pflasterstrand the cynicism of debating the capacity of the gas chambers during one of the roundtable discussions following the broadcast of Holocaust on German television (Mh, In unserer Familie ist die Hölle los, 24). A review of the Holocaust debate in Rote Fahne drew attention to the fact that critical remarks from the audience had been ignored during the discussions. The newspaper also published an open letter written by two students from Cologne with critical remarks about the debate on Holocaust. See Fragen der Zuschauer wurden nicht aufgegriffen, in: Rote Fahne, 1 February 1979, 15.

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initiated a debate about the series within Frankfurt’s leftist circles. The jour­ nal was edited by Daniel Cohn-Bendit, a central figure of the May 1968 pro­ tests in Paris, who had been expelled from France and joined the Frankfurt “sponti scene.”26 Accordingly, Rote Fahne did not only dedicate several arti­ cles to the discussion of Holocaust, but also organized and documented a debate among academics and students from Bremen about the broadcast, its historical accuracy and political impact.27 Both, Pflasterstrand and Rote Fahne, acknowledged the success of Holocaust, but repeatedly criticized it for its capitalist interests. Compared to all the other controversial matters addressed by the leftist press, such as Germany’s failure to come to terms with the past, the lack of German and Jewish resistance to the National Socialist regime and comparisons between the Holocaust and war crimes committed by Americans during the Vietnam War, the denouncement of Holocaust as a tool for glorifying Zionist ideology is the most disturbing of them all.28 The first anonymous opinion piece in Pflasterstrand, no. 47, which also served the purpose of an introduction to the topic, opens with positioning Holocaust within a “coordinate plane of capitalist interests and Zionist ideologies.” According to its author, the series was only made to “legitimize dominant American opinions and behaviors” and “glorify Israeli politics and their support by the USA.”29 While the Rote Fahne article inter­ prets Holocaust primarily as evidence for a failed process of coming to terms with the Nazi past in Germany, it critically points to the show’s depic­ tion of anti-Semitism. In an attempt to exculpate the German people for its past deeds, and maybe indirectly also the German Left, the article portrays the importance of anti-Semitism for the National Socialist ideology and its followers as minimal.30 Most importantly, the author links the debate on Holocaust to the one on left-wing terrorism in West Germany by equating the resistance depicted in Holocaust with the necessity of opposing police repression in the Federal Republic. This comparison implicitly turns leftwing activists in postwar German society into successors of Jewish fighters

26 Sebastian Voigt, Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, Göttingen 2015. Joschka Fischer, the later German foreign minister of the Green Party, came from the same left circles in Frankfurt. See Paul Berman, Power and the Idealists. Or, the Passion of Joschka Fischer and its Aftermath, New York/London 2005, 14–16. 27 Gespräch mit Hochschullehrern der Bremer Universität, in: Rote Fahne, 7 February 1979, 11 and 14. 28 Jeffrey Herf, for instance, identifies similar discussion topics in his review of the publica­ tions in Pflasterstrand. See idem, The “Holocaust” Reception in West Germany, 45. 29 “Wieder sagen die Deutschen, sie hätten von alldem nichts gewußt,” 23. 30 W. J., Holocaust. Deutsche diskutieren Nazivergangenheit, Rote Fahne, 1 February 1979, 1 and 6, here 1.

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in the Warsaw Ghetto.31 At the same time, the link between Israel and War­ saw is purposely neglected. In the concluding passage of the article, Holo­ caust is criticized for presenting Zionism as “well-fortified anti-Fascist tra­ dition” and, thus, excusing “Zionist terror against the Palestinian people.”32 This connection between Holocaust and Zionist ideology was by no means an exception among the radical German Left of different political and ideo­ logical shades. Particularly newspapers and journals affiliated with MarxistLeninist and Communist groups (K-Gruppen), such as Arbeiterkampf (AK), Rote Fahne, Roter Morgen or Kommunistische Volkszeitung, assumed that the series served Zionist propaganda to justify “colonial rule over Palestine” and “aggression against Arab nations.”33 In an analysis of the reception of Holocaust by German audiences, written shortly after the broadcast, Jeffrey Herf called the leftist reactions towards the series a “defensive gesture.”34 He suggested that the inability to cope with the impact of the disturbing broadcast was related to a significant blind spot in the Left’s particular theoretical understanding of the Nazi past. This blind spot he identifies as the failure to deal with the subject of anti-Semi­ tism, as it became also obvious in the review from Rote Fahne. In addition, Herf detected a certain “tendency of young German leftists to leap from the German past to the Israeli and Palestinian present.”35 This may also explain why Holocaust provoked such relatively strong anti-Israeli resentments. According to Herf, the accusation of Holocaust ser­ ving “Zionist ideology” was brought up because of the assumption that “it could be used to justify the existence of a Jewish state.”36 But can the repeated attempts to associate a television series that is hardly mentioning the State of Israel with “Zionist ideology” really be explained by the fact that its ending hints towards a possible path of the Jewish family’s only survivor, Rudi Weiss, towards the British mandate in Palestine? Not to mention that this particular scene had not even been shown on German television, but deleted.37 Although the alleged legitimization of Israel’s existence through the series was for sure a significant ideological reason for why German radi­ cal leftists rejected Holocaust, the show may also have triggered unsettling memories that were, albeit suppressed, still haunting the German New Left.

31 Ibid., 6. 32 Ibid. 33 Jens Benicke, “Soße aus Gewalt und Geld,” in: Jungle World, 6 August 2009, (26 September 2015). 34 Herf, The “Holocaust” Reception in West Germany, 46. 35 Ibid., 31. 36 Ibid., 45. 37 Ibid.

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Recurring Scenes and Haunting Memories A closer look at the narrative and visual structure of Holocaust reveals a dominant leitmotif to be found throughout the series. This concerns scenes that mark particular turning points of the story, equivalent to significant events along the historic path towards the Holocaust. Several times Holo­ caust shows columns of Jews, rounded up by force, walking towards their fatal destiny. The first one of these recurring scenes depicts the humiliation of Heinrich Palitz, Berta Weiss’ father, during the pogrom of 9 November 1938. Through the eyes of his grandchildren Rudi and his sister Anna the scene is framed as a brutal and surreal orchestration of inhumanity. German SA men march a group of Jewish men through the streets to Palitz’ beating of a tin drum. At the end of part one, this humiliating march recurs, now transformed into silently travelling Polish Jews, expelled from Germany fol­ lowing the events of the “Kristallnacht.” Among those who were forced to leave their families and homes behind is also Joseph Weiss. This is the first of several instances in the miniseries devoted to the theme of deportation. Their importance and impact lies in their narrative function of bridging the different storylines and episodes that make up the series. Although these scenes are mainly inspired by well-known iconic photographs from the expulsion and deportation of Jews from Germany and other countries occu­ pied by the Nazis, they also evoke images from the history of the Jews in general that became elements of anti-Semitic ideas. The “wandering Jew” refers to the myth of Ahasverus, a figure seen since the Reformation to embody the condition of Jewish existence and interpreted in manifold ways. It was also incorporated into anti-Semitic thought, translated into the carica­ ture of the “eternal Jew.” However, in Zionist imagery the “wandering Jew” became a metaphor for the strife of the Jews before “returning” to Palestine. The dominance of the motif in Holocaust is highlighted by means of exten­ sive visualization, particularly in the final sequence of the first episode, when Joseph Weiss, expelled from his home town Berlin, crosses the border to Poland together with others of a similar fate. The “wandering” group of people is depicted from different angles: from a lower front angle, highlight­ ing the length of the marching column, which is diagonally crossing the film frame; from a horizontal perspective against the sky; as a series of close-ups focusing on children and women; and from a higher angle indicating that they walk towards an uncertain future. The multiplicity of angles and a senti­ mental music score create highly emotional impact. From there, the motif occurs several times over the course of the mini­ series, such as when in one episode Jews are brutally rounded up in a wooden synagogue which is then set on fire (providing the opening image for the intro to each episode, a burning Star of David). Several scenes of trains

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arriving at and departing from the Warsaw Ghetto show people with suit­ cases walking down the platform, a reenactment of the iconic film images from the Westerbork camp known for example from Nuit et brouillard (Night and Fog, Alain Resnais, France 1955). Another group of people is seen walking with Anna Weiss in the center when she is taken to the gas chamber in a so-called euthanasia center. A similar situation arises during the shooting of Jewish men in the presence of the German protagonist Erik Dorf, which resembles private footage of a mass killing close to the Latvian town of Liepaja that later served as evidence in the Eichmann trial. Several later scenes have Jews walking to the execution site at Babi Yar. The motif also recurs when Karl Weiss is taken to Theresienstadt, when Jews from Warsaw are deported to Auschwitz (among them Berta and Joseph Weiss) and when Berta Weiss enters the gas chamber. Even the secret drawings of Karl Weiss in the final scenes, animated by means of a panning shot, present several situations of gathering and deportation. In his seminal research on cinematic narration, Peter Wuss emphasizes the importance of topic lines that help to organize processes of narrative comprehension on a sub-level of cinematic narration. Similar motifs or pat­ terns are repeated throughout a film and therefore become increasingly obvious:38 They constitute a topic line, which, beyond the causal structure of the plot, accentuates an additional layer of meaning and ties together loose and episodic narratives.39 In Holocaust, the repetition of the motif of march­ ing groups of people establishes a pattern that connects the different story­ lines and builds a topic line that helps the viewer generate a coherent picture of the cinematic events.40 In addition to the causal development of the plot, topic lines add subliminal meaning, such as, in the case of Holocaust, the feeling of disorientation and constant wandering. In this specific case, the topic line is further connected to what Wuss describes as “stereotype-based filmic structures.”41 Such structures refer to images, which have already achieved iconic status and entered a collective repertoire of visual and cultural stereotypes.42 Thus, although the narration is mainly based on causal developments, which Wuss describes as “concep­ tion-based filmic structures,”43 the marching and deportation scenes, on the one hand, deliver condensed information about the path and fate of Jews towards extermination by referring to well-known photographs and iconic 38 Peter Wuss, Cinematic Narration and its Psychological Impact. Functions of Cognition, Emotion and Play, Newcastle upon Tyne 2009, 28. 39 Ibid., 27. 40 Ibid., 30. 41 Ibid., 32. 42 Ibid., 30. 43 Ibid., 24.

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images. On the other hand, they create a preconscious structure with a strong emotional impact on the audience that emphasizes the notion of uprooted­ ness. In case of the German leftist audience, however, this recurrence of a simi­ lar topical pattern evoked an additional intertextual reference, which might explain the intensity of rejection of the show’s approach and its denounce­ ment as Zionist propaganda. Strikingly, one significant historic scene closely related to this topic line was not included in the miniseries. Despite Holo­ caust’s striving for a holistic portrayal of Jewish suffering during World War II, the iconic selection process after arrival in Auschwitz is omitted – although three of the main characters, Joseph and Berta Weiss as well as their son Karl, are deported to and killed in Auschwitz. The absence of this scene is even more peculiar considering the artistic heritage of one of the victims, Karl’s drawings from Theresienstadt and Auschwitz that can be seen in the final moments of the film, seems to depict this very scene of selection. With its significant topic line Holocaust implicitly echoes Chomsky’s ear­ lier movie Victory at Entebbe, which becomes apparent in this “missing scene” of selection – that marked a crucial turning point in the previous film – and a similar pattern of melodramatic narration. But, above all, it caused strong negative reactions amongst the radical German Left and the extra-textual events as well. Already the introductory opinion piece in Pflasterstrand, no. 47 explicitly relates Holocaust to Chomsky’s earlier movie. The accusation of Holocaust spreading “Zionist ideology” is made on grounds of an assumed intertextual relation between the miniseries from 1979 and Victory at Entebbe from 1976. According to the Pflasterstrand author, both films had the same pur­ pose: legitimizing American interests. The first one, Victory at Entebbe, allegedly glorified Israel and its American support by communicating the, in the meantime established, image of Palestinian terrorism. The other, Holo­ caust, supported the same cause by imposing a modified interpretation of the past.44 Another article in Pflasterstrand compared the necessity of resis­ tance then, in the Warsaw Ghetto, to the kidnapping of German industrial leader and former active supporter of National Socialism Hans Martin Schleyer only eight months after the attacks on cinemas screening Victory at Entebbe.45 A review in Rote Fahne established the same link between resis­ tance and left-wing terrorism. It is thus important to consider the incident in

44 “Wieder sagen die Deutschen, sie hätten von alldem nichts gewußt,” 23. 45 Deutsches Verdrängen, in: Pflasterstrand 47 (1979), 26 f., here 27.

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Entebbe, as Herf has done in his analysis, in order to understand German lef­ tist reactions when faced with the Jewish suffering portrayed in Holocaust.46 Three years earlier, on 27 June 1976, two German RZ members and two members of the Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP)47 had boarded Air France flight from Tel Aviv to Paris during a stopover in Athens with false passports. One of the Germans traveled under the identity of a Peruvian citizen with the name “García,” the other one, a woman, “held an Ecuadorian passport under the name ‘Ortega.’”48 Both, Brigitte Kuhlmann, a former student of education from Hannover, and Wilfried Böse, nicknamed “Bonni” for his second name Bonifacius and originally from Bamberg, were well-known figures in Frankfurt’s left-wing circles.49 They became cofoun­ ders of the RZ in the mid-1970s.50 In December 1975, Böse assisted in the preparation of an attack on the OPEC conference in Vienna, developing into a hostage situation.51 When the French plane to Paris took off from Athens, the hijackers forced the pilot to change the flight route to Libya. After a refueling stop they headed for Entebbe in Uganda where they met three more members of the PFLP. The 248 passengers on the flight were then taken to the old terminal of Entebbe airport.52 After arrival the hijackers broadcasted their demands on the Ugandan radio: the release of 54 prisoners held in Israel, West Ger­ many and France.53 Thus the hijacking became a “German problem.” The involvement of German left-wing terrorists as well as the demand to release 46 Herf, The “Holocaust” Reception in West Germany, 44. 47 An overview of the relation between German left-wing terrorism and the PFLP is pro­ vided by Thomas Skelton-Robinson, Im Netz verheddert. Die Beziehungen des bundes­ deutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969–1980), in: Wolfgang Kraushaar (ed.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 vols., Hamburg 2006, here vol. 2, 828–904. 48 Hans Kundnani, Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 Generation and the Holocaust, New York 2009, 134. 49 Kundnani, Utopia or Auschwitz, 134. 50 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt a. M. 2002, 337. Koenen states that Böse and Kuhlmann are also suspected to have assisted the Palestinian terrorist organization Black September in preparing the attack on the Israeli sports team during the 1972 Olympic Games in Munich (ibid., 367). 51 Kontakt mit Kadern, in: Der Spiegel 1 (1976), 5 January 1976, 28–31, here 28. Wolfgang Kraushaar describes Böse as part of the “the best known unknown figures in the history of Federal German terrorism” (“einen der bekanntesten Unbekannten in der Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus”). Böse’s and Kuhlmann’s backgrounds and the political concept of the RZ are described in Wolfgang Kraushaar, Im Schatten der RAF. Zur Ent­ stehungsgeschichte der Revolutionären Zellen, in: idem (ed.), Die RAF und der linke Ter­ rorismus, here vol. 1, 583–601, here 589. 52 Markus Eikel, Keine “Atempause.” Das Krisenmanagement der Bundesregierung und die Flugzeugentführung von Entebbe 1976, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), no. 2, 239–261, here 239. 53 Kundnani, Utopia or Auschwitz, 134.

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Jan-Carl Raspe, Ingrid Schubert and Werner Hoppe from the Red Army Fac­ tion (RAF) and Inge Viett, Ralf Reinders and Fritz Teufel from the June 2 Movement made Entebbe a, today almost forgotten, chapter of Germany’s postwar history.54 And as if this were not enough, echoes of the country’s National Socialist past reverberated loudly throughout Entebbe. On June 29 the terrorists divided the hostages into two groups. After isolating around a hundred Jewish and Israeli passengers in a separate room of the airport building, the remaining hostages were released. According to the testimo­ nies of some of them, Böse had read out the names of all Jewish passengers from their passports.55 When the information about this selection reached Israel, Defense Minister Shimon Peres allegedly described it as a repetition of what he considered the most significant moment for Jews arising from the “Final Solution.”56

Films and Firebombs Back in 1976 the hijacking was considered a very serious incident, causing public attention not only in Israel – among the around one hundred hostages were at least 83 Israeli citizens –57 but also in Germany.58 The West German Government was fully aware that the incident in Entebbe would affect domestic politics, especially after it had been informed of the hostagetakers’ demands to release German terrorists and two of the hijackers speak­ ing English with a distinctive German accent.59 The German press was cov­ 54 Eikel, Keine “Atempause,” 241. 55 Ibid., 251. 56 Yeshayahu Ben Porat/Eitan Haber/Zeev Schiff, Unternehmen Thunderball. Die Geiselbe­ freiung in Entebbe, in: Der Spiegel 44 (1976), 1 November 1976, 182–196, here 185. In fact, the selection of the Jewish passengers and the release of the non-Jewish passengers were paradoxically one of the main preconditions for the success of the Israeli rescue attempt, because Israeli intelligence gained important information about the situation in Entebbe from released hostages. It was also much easier to rescue the much smaller num­ ber of around one hundred hostages. 57 According to Eikel’s research on the archival material, this was reported to the West Ger­ man Government on 17 June 1976. Eikel, Keine “Atempause,” 245. 58 Annette Vowinckel, Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), no. 2, 236–254, , 1–13, here 4 (26 September 2015). Vowinckel describes the official German position as that of a distant observer (“eines distanzierten Beobachters”) while German Jews were deeply shattered by the events. 59 This information was provided by witnesses from the first group of released passengers, who were interviewed after their return to France. Eikel, Keine “Atempause,” 248.

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ering the event as well. After the success of the rescue mission Der Spiegel even published an extensive series of articles with statements of the Israeli hostages and politicians as well as insider information from Israeli cabinet meetings.60 It did not take long until filmmakers became interested in the events. On 13 December 1976, only six months after the last hostages and the French cabin crew, who had stayed in Entebbe voluntarily, had returned to safety, Victory at Entebbe premiered in cinemas – the first motion picture about the events, produced in the United States by David Lloyd Wolper61 and directed by Marvin Chomsky. The film revolves around Chana Vilnofsky, a 16-yearold hostage from Jerusalem (Linda Blair), and her desperate parents (Kirk Douglas and Liz Taylor). Both actors had expressed strong sentiments for Israel before. Douglas’ performance in the role of American-Jewish Colonel David Marcus during Israel’s War of Independence in Cast a Giant Shadow (Melville Shavelson, USA 1966) had been much acclaimed. And, as it was disclosed one year after the events, Taylor, who had converted to Judaism in 1959 and was an active sponsor of the Jewish National Fund’s activities in Israel, had offered to replace the remaining hostages in Entebbe.62 Other than the Vilnofsky family, a couple is at the center of the film: the Holocaust sur­ vivor Etta Grossmann-Wise, modeled after the hostage Dora Bloch, who had been taken to a hospital prior to the rescue operation and was later killed by Ugandan soldiers, and her son Benjamin Wise. This constellation illus­ trates that the family narrative already played a crucial role in Victory at Entebbe, which retells the events from the different perspectives of the hos­ tages and of their families, a similar narrative strategy to the one Chomsky later adopted for Holocaust.63 Accordingly, in Victory at Entebbe the hos­ tages and their families’ personal storylines are connected to the political and historical background, reconstructing the decision-making process of Israeli Prime Minister Rabin (Anthony Hopkins) and Defense Minister Peres (Burt Lancaster) as well as the rescue operation led by Colonel Yonatan Netanyahu (Richard Dreyfuss).

60 Ben Porat/Haber/Schiff, Unternehmen Thunderball. 61 Eckhart Schmidt, Geiselnahme als Love-Story. Mister Documentary lockt mit “Unterneh­ men Entebbe” an die Kinokassen, in: Christ und Welt, 1 January 1977. 62 Jewish Telegraph Agency (JTA), Elizabeth Taylor Offered to be a Hostage, Dinitz Dis­ closes, 16 June 1977, cit. from Ami Eden, In the JTA Archive. Liz Taylor Says Trade Me for Entebbe Hostages, in: JTA Telegraph Blogging, 23 March 2011, (26 September 2015). 63 Annette Vowinckel, Skyjacking. Cultural Memory and the Movies, in: Gerrit-Jan Berendse/Ingo Cornils (eds.), Baader-Meinhof Returns. History and Cultural Memory of German Left-Wing Terrorism, Amsterdam/New York 2008, 251–268, here 253.

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On 23 December 1976, Victory at Entebbe premiered as Unternehmen Entebbe in West German cinemas.64 It was immediately met with strong resentments expressed not only by film critics, who regretted “seeing how well-known historical figures turn into Hollywood actors”65 and claimed that “operation Hollywood” had “failed.”66 Even stronger objections were raised by left-wing groups, which called for protests against the screening of the film.67 Rote Fahne branded the film as “pro-Zionist propaganda,” its actors were denounced as “openly pro-Zionist Hollywood actors” who stir up hatred against the Palestinian people.68 In Berlin, police officers had to pre­ vent left-wing activists from interrupting a screening;69 Münster and Mainz showings took place under police protection;70 and in Frankfurt, police closed off the area around the Zeil cinema to prevent protests.71 The situation escalated when explosive devices were found in two cinemas in Düsseldorf and Aachen. In the Gloria Palast in Aachen, cleaning personnel discovered a firebomb with time fuse on the morning of 5 January 1977. The bomb had been placed under seat no. 145 in the last row of the cinema. The day before, two members of a local RZ group, Gerd Albartus and Enno Schwall, had visited an evening show in the “Gloria Palast” at 9 pm. Schwall, carrying a briefcase that contained a plastic bag with the explosive, had sat down on seat 148 in the last row,72 unpacked the plastic bag with the bomb during the screening and activated it.73 The bomb should have gone off after all visitors and staff had left the cinema.

64 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (henceforth LArch NRW), Gerichte Rep. 515, no. 378, 397. 65 This was stated in a review by the Protestant Filmbeobachter on 15 January 1977, cit. from Vowinckel, Skyjacking, 253. 66 Will G. Kruft, Unternehmen Hollywood – kläglich gescheitert, in: Badische Zeitung, 25 December 1976. 67 In Frankfurt leftist groups apparently planned to prevent the screening of the film in the Zeil cinema. See LArch NRW, Gerichte Rep. 515, no. 383, 288. Protests and even violent acts against the film occurred despite the fact that some parts of the German Left already started discussing the legitimacy and impact of the hijacking in general and the selection in particular. See Detlev Claussen, Terror in der Luft, Konterrevolution auf der Erde, in: links 80 (1976), 6–8, reprinted in: “links-reprint.” Erfahrungen und Argumentation im Sozialistischen Büro, ed. by Sozialistisches Büro, no. 1: Sozialismus und Terrorismus, Offenbach 1977, 39–44. 68 Gegen das rassistische Filmmachwerk “Unternehmen Entebbe!,” in: Rote Fahne, 12 Janu­ ary 1977. 69 Beate Bröhl, Viele Kinos müssen Angst vor Bombenterror haben, in: Neue Rhein Zeitung, 6 January 1977. 70 Entebbe-Film unter Polizeischutz, in: Die Welt, 7 January 1977. 71 LArch NRW, Gerichte Rep. 515, no. 383, 288. 72 Ibid., no. 378, 399. 73 Ibid., no. 378, 400.

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The rustling from behind had bothered two couples sitting in the row in front of Schwall.74 Later, during the investigation against Albartus and Schwall, the witnesses tried to remember when the noise behind them had started. It was, a witness recalled, shortly after the hostages had been sepa­ rated, when the Jews were guarded into a separate room.75 The selection scene, marking a dramatic turn in the film, thus became an anchor point of cinematic memory, a cue that enabled the witness to determine the moment in question, which retrospectively transformed from a displeasing interrup­ tion into the details of an attempted terrorist attack.76 The significance of the selection scene has to be seen in relation to the real historic events as well. According to reports and testimonies from the immediate aftermath of the hijacking, this very moment also fundamentally changed how hostages and politicians perceived the situation: “The German word ‘Selektion’ was mut­ tered around the room – a reminder of Dr. Joseph Mengele at Auschwitz choosing those who would live and those who would die!” describes Major (Res.) Louis Williams, a senior Israeli press officer in his Entebbe Diary.77 Victory at Entebbe also emphasized this connotation. When the hijackers announce in the film that they will read out the Israeli passengers’ names, one of the hostages, a Holocaust survivor, is haunted by his memories of the selection at Auschwitz. At one point Benjamin Wise, the son of survivor Etta Grossmann-Wise, asks a Jewish non-Israeli next to him to remember what happened in Entebbe and bear witness after his release. But when this Bel­ gian Jew is also called to the side of the Israelis, it becomes clear that the selection is motivated by anti-Semitic resentments. Now the film also alludes to the German background of two of the hijackers. Particularly the Kuhlmann character transforms from a rational political activist into a Jewhating fanatic, which mainly manifests on an audible level. When the first name is called, dramatic music rises. The German command “Schnell, schnell!” (Quick, quick!) mixes with the instructions, despotically executed by the female German terrorist. When the Belgian Jewish couple argues against her decision, her language significantly changes to German: “Ihr seid Juden! Los, gehen Sie rechts. Schnell!” (You are Jews. Go to the right. Quick!). Over the course of the selection scene the dramatic musical score gives way to a variation of traditional Jewish tunes and melodies, which 74 Ibid., no. 378, 403. 75 Ibid., no. 363, 30. 76 The firebomb did not explode because the time fuse did not work. After having discov­ ered the explosive, the police tried to deactivate it, but accidently set it off in the cinema’s lobby. Ibid., no. 378, 404. 77 Cit. from Ewout van der Knaap, The New Executioners’ Arrival. German Left-Wing Ter­ rorism and the Memory of the Holocaust, in: Berendse/Cornils (eds.), Baader-Meinhof Returns, 286–299, here 288.

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highlight the subtext of the scene and turn it, when the selected hostages are forced to walk silently into a separate room, into a moment where past and present merge.78 At this point the movie becomes an “Auschwitz-Film,” as Helmut Schmitz called it in his review in the Frankfurter Rundschau.79 The fact that this highly emotional scene on screen created an uncanny feedback in the audience when Enno Schwall unpacked the bomb might only be a coincidence with symbolic impact. But maybe this most significant and foreseeable sequence in the film was indeed the signal to begin the pre­ paration for the attack. After all, the selection scene is a condensed form of all the RZ activists were aiming to expunge, which was first and foremost this experience of déjà-vu, the momentary catching-up of the Nazi past evoked by the selection in Entebbe. Its memory, along with the unsavory associations it suggests between Germany’s Nazi past and the radical New Left, needed to be erased. Victory at Entebbe was an unpleasant reminder, particularly because the film embedded the selection scene within a topic line that dominates the structure of its narrative. Several times the film makes references to the Holocaust, for example when Etta Grossmann-Wise compares Kuhlmann to a Nazi, when the film reveals one of the passengers to be a traumatized Holocaust survivor and, finally, when Winfried Böse, played by German actor Helmut Berger, who was at the same time starring in Tinto Brass’ “Nazisploitation” film Salon Kitty (FRG/Italy/France 1976), discovers the Auschwitz number on the arm of a passenger. This recurring theme was also recognized by Schmitz. In this sudden and unexpected appearance of an historical perspective Schmitz identified the particular quality of the film: “Die Rampe von Auschwitz, sie wird in Entebbe von Deutschen neu errichtet” (The Auschwitz platform, it is newly erected by Germans in Entebbe).80 Exactly this historical perspective, the reference to the suffering of Jews under the National Socialists, was negated by German left-wing activists. A review of Victory at Entebbe in Rote Fahne, for instance, firmly dismissed the interpretation of allusions to the Nazi past and criticized the portrayal of German terrorists as Nazis and “Aryan types.”81 In anticipation of a wave of public outrage, the RZ distributed a leaflet claim­ ing responsibility for the cinema attacks and denounced the film as propa­ ganda comparable to that of the National Socialists. In order to exculpate their political movement from the accusation of having used Nazi methods in Entebbe, the Israelis were now identified as new “master race,” an argu­

78 Ibid., 290. 79 Helmut Schmitz, An der Rampe. Mehr als ein Kinospektakel: “Unternehmen Entebbe,” in: Frankfurter Rundschau, 4 January 1977. 80 Ibid. 81 Gegen das rassistische Filmmachwerk “Unternehmen Entebbe!”.

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ment later, during the Holocaust debate, complemented by an attempt to replace the Jewish perspective by a comparison between the Jewish resis­ tance in the Ghetto and their own struggle against police repression in the Federal Republic. In the end, the distortion of reality, of which the leftist activists accused Chomsky’s film, was caused by the terrorist group and their supporters themselves.82 In the early 1990s, the death of one of the RZ activists involved in the attempted attack on the cinema in Aachen, Gerd Albartus, revived the haunt­ ing memory of Entebbe once more. After his conviction Albartus was impri­ soned for more than four years for attempted arson and association with a terrorist organization. Shortly after his release Albartus contacted the surviv­ ing founders of the RZ, Johannes Weinrich and Magdalena Kopp, who now collaborated with the international terrorist Ilich Ramírez Sánchez, also named Carlos.83 Alongside his work as a journalist, Albartus continued to engage in terrorist activities, such as the preparation for attack on another cinema, the Maison de France in Berlin, in August 1983.84 The plan had been developed by the terrorist group of Carlos and Weinrich. Its aim was to obtain the release of Magdalena Knopp from a French prison. In 1987 Albartus was prepared to end his relations with Carlos and Wein­ rich, boarding a plane to Damascus in December, presumably to explain his withdrawal from the terrorist network. In a public letter from December 1991 the remaining RZ activists announced Albartus’ death: “He was shot in December 1987 after a group that is part of the Palestinian resistance and for which he has worked, had put him on a tribunal and sentenced him to death. […] It is the macabre parody of this development that Gerd, whose political biography was fundamentally shaped by the practical support of the Palestinian resistance, became a victim of just one of those groups. […] Under the impact of the loss of friends we were initially unable to gauge the political dimension of the disaster that Entebbe meant for us. Rather than perceiving what others blamed us for, namely that we partici­ pated as an organization in an operation during which Israeli citizens and Jewish pas­ sengers of other nationalities were selected and had been taken hostage, we dealt mainly with the military aspect of the action and its violent ending.”85

In this letter on the occasion of Albertus’ death, the RZ revisited the events from 1976 and made references to Victory at Entebbe and the cinema attacks 82 Revolutionäre Zellen/Kämpfer für ein freies Palästina, Entebbe Film Absetzen!, 3 January 1977, in: LArch NRW, Gerichte Rep. 515, no. 378, 406. 83 Peter Hillebrand, Freiflug in den Tod. Auf den Spuren von Gerd Albartus, in: SWR-Feature, 14 September 2011, 1–20, here 7, (26 September 2015). 84 Ibid., 13. 85 RZ, Gerd Albartus ist tot, December 1991, (26 September 2015) (translation by the author).

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as well. The members of the terrorist group tried to explain their defensive handling of the past as well as the political connotations of rejecting to deal with left-wing anti-Semitism.86 In the immediate aftermath of the hijacking, every self-critical discussion about anti-Semitism had been refused. A for­ mer activist later recalled that they had a clear conscience. In the eyes of the RZ, it was completely justifiable to separate out Israelis and they vehe­ mently denied that Jewish passengers had been selected.87 It was not until much later, when Albartus was already imprisoned, that the international cooperation with Palestinian groups was questioned and quit.88 In the early 1980s, parts of the RZ also started to debate the anti-Semitic connotations of Entebbe, albeit in a defensive manner. So when Albartus was released from prison in 1981, he faced a completely different situation. According to his political comrades, he never accepted that the group distanced itself from its own past after fully comprehending the unsettling heritage of Entebbe.89 It remains speculation if the Holocaust series at the end of the 1970s, when Albartus was still in prison, had any impact on the discussions among the remaining RZ activists in the early 1980s. Albartus, however, maintained his rigid critical position towards Israel.90 Thus his death was indeed the “maca­ bre parody” of a development that began with the hijacking of the Air France plane and the selection in Entebbe.

Conclusion The miniseries Holocaust implicitly linked the melodrama about one of the darkest chapters of German history to Auschwitz references in Victory at Entebbe and thus elicited responses marked by rejection and negation of par­ allels between radicals of the German New Left and the National Socialists. In some cases, leftist criticism even turned into violence. The selection of Jewish passengers in Entebbe had fundamentally shattered the political struggle of postwar Germany’s second generation. The knowledge of the selection, and its visualization in films such as Victory at Entebbe, gave rise to the uneasy feeling that the Nazi past did not only live on in the Federal 86 Vowinckel, Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, 13. 87 Christoph Villinger/Wolf-Dieter Vogel, Die Carlos-Haddad-Connection. Ein Interview mit dem ehemaligen RZ-Mitglied Gerd Schnepel, in: Jungle World, 29 November 2000, (26 September 2015). 88 Hillebrand, Freiflug in den Tod, 6. 89 RZ, Gerd Albartus ist tot. 90 Hillebrand, Freiflug in den Tod, 8.

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Republic in general, but within the youngest generation as well, which was struggling to rid Germany off the echoes of its past crimes.91 As one of the first, Detlev Claussen, in the left-wing journal links from 1976, has drawn attention to the uncanny moment of recurrence of the National Socialist era in the Entebbe events and their dramatization. Although his argumentation is overall in favor of pro-Palestinian activities and denounces Israel for its “terrorist foundation” that is perpetuated through the oppression of the Palestinian people, Claussen emphasizes the lack of historical awareness that became obvious in Entebbe.92 He criticizes anti-Zionism lacking historical awareness (“geschichtslosen Antizionis­ mus”) and strongly disapproves of the selection in Entebbe as an act of con­ tinuing German anti-Semitism.93 Claussen argues in a later article about the broadcast of Holocaust on German television “that the depth of the West German response to ‘Holocaust’ was understandable only in the light of the previous failure of West German politics from the Right to the Left to face and root out Germany’s racist and anti-Semitic traditions.”94 Therefore it is telling that not only the rejection of Holocaust by the Left and its denuncia­ tion as “Zionist propaganda” implicitly pointed back to the incidents in Entebbe, but that both were already interconnected in the context of the Ger­ man left-wing reception of the television series. While the effect of Holocaust on German society has been widely debated, the impact of Victory at Entebbe, and particularly the attempt to attack the film in order to wipe out the memories of the selection in Entebbe, has been overlooked. Not only were both productions directed by Marvin J. Chomsky, but they shared a distinctive narrative structure of topic lines that highlighted the selection scene from Victory at Entebbe to be the “missing scene” in Holocaust. Finally, the selection in Entebbe transformed into an incident that funda­ mentally affected the political history of Germany and its radical Left.95 It marked the first time in German history that the question of left-wing antiSemitism entered public discourse. The chain of denial, silence and reemer­ gence of anti-Semitic resentment, camouflaged as political anti-Zionism and

91 Kundnani, Utopia or Auschwitz, 135. 92 Claussen, Terror in der Luft, Konterrevolution auf der Erde, 43 (reprint). 93 Ibid., 44. For a general analysis of anti-Zionism and anti-Semitism in left-wing German terrorist groups, see Wolfgang Kraushaar, Antizionismus als Trojanisches Pferd. Zur anti­ semitischen Dimension in den Kooperationen von Tupamaros West-Berlin, RAF und RZ mit den Palästinensern, in: idem (ed.), Die RAF und der linke Terrorismus, here vol. 1, 676–695. 94 Cit. from Herf, The “Holocaust” Reception in West Germany, 48. 95 Vowinckel, Der kurze Weg nach Entebbe oder die Verlängerung der deutschen Geschichte in den Nahen Osten, 3.

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lacking historical awareness, tangibly broke.96 The same is true for the broadcast of the Holocaust series on German television. Both events are, indirectly, tied together through the echoes of the German Nazi past. Furthermore, Chomsky’s two films are connected through a scene at the cen­ ter of Victory in Entebbe that is missing in Holocaust. On the one hand, as part of the narrative of the Entebbe film, the scene reinforced the interpreta­ tion of the hijacking as an alarming return of the past. In doing so, and in insinuating that National Socialist tendencies persisted within the German New Left, which was emphatically rejected by its protagonists, it even pro­ voked acts of violence against the screening of the film in Germany. On the other hand, the repetition of deportation scenes and brutal roundups as part of a central topic line in Holocaust did convey how German and European Jews had been uprooted and then sent to death camps. Especially for the German Left this, in combination with the film Victory at Entebbe, created an unsettling echo of its own failure in Entebbe.

96 For a more critical review of the public letter published by the RZ and a detailed analysis of the remnants of anti-Semitic resentments and their denial in the agenda of this group, see Jan Gerber, Sie waren die Guten. Waren die Revolutionären Zellen die bessere RAF?, in: Bahamas 54 (2008), (26 September 2015).

Hannah Maischein

Das Vergessen der Augenzeugen: Schuld im polnischen Holocaust-Film Polen bildete vor dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens in Europa.1 Vor dem deutschen Überfall im September 1939 lebten hier rund 3,5 Millionen Menschen jüdischer Herkunft, was etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Während der deutschen Besatzung gehörte Polen zu den Gebieten, auf denen der Massenmord an den europä­ ischen Juden stattfand. Trotz der deutschen Politik, die Spuren der Vernich­ tung zu verdecken, also unsichtbar zu machen,2 konnten einem Großteil der polnischen Bevölkerung spätestens seit Anfang der 1940er Jahre die antise­ mitischen Gräueltaten nicht verborgen bleiben. In vielen Städten existierten jüdische Gettos, die Deportationszüge aus ganz Europa durchquerten das Land und alle sechs Vernichtungslager wurden auf dem Gebiet errichtet, das nach Kriegsende zur Volksrepublik gehören sollte.3 Diese Erfahrung sowie das Verhalten derjenigen, die weder unmittelbar in die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden involviert noch direkt von ihr betroffen waren, schienen gegen Ende des 20. Jahrhunderts nahezu vergessen. Doch mit Beginn des 21. Jahrhunderts ist dieses »Gesche­ hen am Rande des Holocaust« Gegenstand von Forschungsarbeiten und gesellschaftlichen Debatten geworden.4 Studien über polnische Goldgräber 1

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Die Forschung zu dem vorliegenden Beitrag beruht größtenteils auf meiner 2015 erschie­ nenen Dissertationsschrift: Hannah Maischein, Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung, Göttingen/Bristol, Conn., 2015. David Schick danke ich für inspirierende Diskussionen, die mich bestärkt haben, den hier dargestellten Fokus zu wählen und zu vertiefen. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman spricht in diesem Zusammenhang von einer »Entbildlichung« (désimagination), siehe ders., Bilder trotz allem, aus dem Franz. von Peter Geimer, Paderborn/München 2007, 36. Unter einer Vielzahl einzelner Berichte siehe z. B. Gitta Sereny, Into that Darkness. From Mercy Killing to Mass Murder, London 1974, 116. Siehe den gleichlautenden Untertitel von Jan T. Gross, Golden Harvest. Events at the Peri­ phery of the Holocaust, New York 2012 (poln.: Złote żniwa. Rzecz o tym, co się działo na obrzeżach zagłady Żydów, Kraków 2011). Forschungsarbeiten jüngeren Datums sind z. B.: Barbara Engelking, »Szanowny panie gistapo«. Donosy do władz niemieckich w Warszawie i okolicach w latach 1940–1941 [»Sehr geehrter Herr Gestapo«. Denunziatio­ nen bei den deutschen Machthabern in Warschau und Umgebung in den Jahren 1940– 1941], Warschau 2003; dies.: Jest taki piękny słoneczny dzień. Losy Żydów szukających ratunku na wsi polskiej 1942–1945 [Es ist so ein schöner sonniger Tag. Schicksale von Juden, die in polnischen Dörfern zwischen 1942 und 1945 Rettung suchten], Warschau 2011; dies./Jan Grabowski (Hgg.), Zarys krajobrazu. Wieś polska wobec zagłady Żydów JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 265–290.

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an den Vernichtungsstätten, »postjüdisches« Eigentum5 und Pogrome der Bevölkerung an ihren jüdischen Nachbarn haben seitdem öffentliche Kont­ roversen ausgelöst und das martyrologisch geprägte polnische Selbstbild als Helden und Opfer nachhaltig erschüttert.6 Dabei wurde in den im westlichen Europa geführten Debatten der polni­ schen Bevölkerung nicht selten einseitig Schuld zugewiesen – Gleiches gilt für diejenigen in den Vereinigten Staaten und in Israel. Auf polnischer Seite hingegen waren die Diskussionen oftmals von umfassender Schuldabwehr bestimmt. Doch beide Perspektiven werden der historischen Konstellation kaum gerecht. Vielmehr wäre darauf hinzuweisen, dass sich der Großteil der Polen unter der Besatzung – ebenso wie andere Gesellschaften in vergleich­ barer Situation – in »Grauzonen« einzurichten versuchte. Die Wahl zwi­ schen Kollaboration und Widerstand stellte sich für die polnische Bevölke­ rung oftmals gar nicht.7 Zumeist herrschte ein ambivalentes, auf den eigenen Vorteil bedachtes und nach Zeitpunkt und Überlebenschancen sich verän­ derndes Verhältnis zu den wechselnden – deutschen und sowjetischen – Besatzern vor.

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1942–1945 [Skizze einer Landschaft. Das polnische Dorf angesichts der Judenvernich­ tung 1942–1945], Warschau 2011. Die polnische Bezeichnung »post-« bzw. »nachjüdisch« (po-żydowski) zeigt – äquivalent zur Bezeichnung ehemals deutschen Eigentums als »nach-« bzw. »postdeutsch« (poniemiecki) – den Besitzerwechsel sprachlich weiterhin an. Siehe Dariusz Stola, The Polish Debate on the Holocaust and the Restitution of Property, in: Martin Dean/Constantin Goschler/Philipp Ther (Hgg.), Robbery and Restitution. The Conflict over Jewish Pro­ perty in Europe, Oxford/New York 2007, 240–255, hier 246. Die Begriffe »Pole« und »Jude« sind zur Kennzeichnung übergeordneter Gruppenzuge­ hörigkeit nur bedingt geeignet. Im Folgenden wird daher versucht, diese Begriffe entwe­ der als Selbstzuschreibungen in den entsprechenden Entstehungskontext einzubetten oder als Fremdzuschreibungen – wie etwa durch die NS-Rassenideologie – kenntlich zu machen. Weil die Geschichte der polnischen Juden häufig als getrennt von der (überwie­ gend katholisch geprägten) polnischen Nationalgeschichte aufgefasst wird, ist nur in Aus­ nahmefällen von »jüdischen Polen« und »katholischen Polen« die Rede: dann nämlich, wenn diese Trennung im Erinnerungsdiskurs aufgehoben wird. Zur Bedeutung einer mar­ tyrologischen Geschichtsinterpretation in Polen siehe z. B. Maria Janion, Niesamowita Słowiańszczyzna. Fantazmaty literatury [Unheimliche Welt der Slawen. Phantasmen der Literatur], Krakau 2006, 308; Ewa Ochman, Post-Communist Poland. Contested Pasts and Future Identities, London/New York 2013, 40 und 157; Joanna B. Michlic, Poland’s Threatening Other. The Image of the Jew from 1880 to the Present, Lincoln, Nebr., 2006, 13; Hannah Maischein, Ecce Polska. Studien zur Kontinuität des Messianismus in der polnischen Kunst des 20. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York 2012, bes. Kap. 2: Polnischer Messianismus. Genese und Reproduktion einer Kodierung der Nation, 51–83. Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders ausgewiesen, von der Verfasserin. Christoph Dieckmann/Babette Quinkert/Tatjana Tönsmeyer (Hgg.), Kooperation und Ver­ brechen. Formen der »Kollaboration« in Südost- und Osteuropa 1939–1945, Göttingen 2012, hier Editorial, 19. Zum Begriff »Grauzone« verweisen die Verfasser auf Gerhard Hirschfeld: Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besat­ zung 1940–1945, Stuttgart 1984.

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Die Auseinandersetzung über die Erinnerung an den Holocaust und die Rolle der polnischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs ist maß­ geblich von dem integren und heroischen Selbstbild geprägt, das zwischen 1945 und 1989 in der Volksrepublik Polen entworfen wurde und der Kon­ trastierung mit dem faschistischen Feindbild diente. Dabei wurden Schuld­ gefühle und Fragen der eigenen Täterschaft in der polnischen Gesellschaft weitgehend verdrängt. In gegenwärtigen Debatten wird diese Entwicklung vor allem der kommunistischen Regierung der Volksrepublik angelastet. Die Analyse von Filmprojekten, die sich der polnischen Augenzeugenschaft während des Holocaust widmeten, und der Debatten, die um sie entstanden, zeigt jedoch, dass das polnische Geschichtsbild auch im Kommunismus gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterworfen war. Die in doku­ mentarischen und fiktionalen Filmprojekten entworfenen Selbstbilder der polnischen Gesellschaft angesichts des Judenmords wurden durch das Zusammenwirken unterschiedlicher innen- und außenpolitischer Akteure, gesellschaftlicher Interessen und individueller Beteiligter geprägt. Eine Ana­ lyse derselben ermöglicht ein Verständnis des polnischen Schuldempfindens wie auch seiner Verdrängung.

Karl Jaspers’ Schuldbegriff und die Augenzeugenschaft Mit seinem Verständnis von einer Schuld, die die gesamte Gesellschaft angehe, da die »Solidarität zwischen Menschen als Menschen« betroffen sei,8 lieferte der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers ein begriffliches Instrumentarium, mit dem der spezifische Fall des polnischen Schuldgefühls, das aus der indifferenten Haltung und mitunter Gräueltaten gegen die Opfer der antijüdischen Politik der Deutschen resultierte, beschrieben werden kann. In seiner zuerst 1946 erschienenen Schrift Die Schuldfrage, in der er sich mit den Auswirkungen des nationalsozialistischen Massenmords auf die bundes­ republikanische Gesellschaft beschäftigte, begriff Jaspers Ungerechtigkeit sowohl als universales Phänomen als auch als ethisches Problem und fasste die emotionale Dimension der Augenzeugenschaft existenzialistisch: »Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn sol­ ches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich. Wir kommen als Men­ schen, wenn nicht ein Glück uns diese Situation erspart, an die Grenze, wo wir wählen 8

Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979 (zuerst 1946), 21 (Hervorhebung wie im Original).

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müssen: entweder ohne Zweck, weil ohne Erfolgsaussicht, bedingungslos das Leben einzusetzen, oder wegen Erfolgsunmöglichkeit vorzuziehen, am Leben zu bleiben.«9

Obwohl Jaspers in seiner Schrift zuvorderst die Haltung der deutschen Bevölkerung thematisierte, gewährt sein Ansatz auch Einblick in die psychi­ schen und ethischen Folgen polnischer Zeugenschaft. Augenzeuge ist, wie Jaspers darlegt, wer »dabeigestanden« hat, für den also die topografische Nähe zur Tat wesentliches Kriterium ist. Seine Rolle erhält er jedoch erst dadurch, dass er nachträglich Zeugnis für das ablegt, was er gesehen hat.10 Im Gegensatz zum Selbstzeugnis bezieht sich seine Aussage auf etwas, das einem anderen geschehen ist. Der Augenzeuge evoziert das Erlebte, indem er es vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Situation beschreibt.11 Er stiftet Sinn, indem er das vergangene Geschehen in die Gegenwart einord­ net, wodurch das Zeugnis zum Symbol wird12 und eine geschichtspolitische Bezugnahme vergangener Sinnhorizonte auf gegenwärtige erfolgt. Zugleich enthält das Zeugnisablegen ein dialogisches Moment zwischen dem Bezeu­ genden und dem anderen, über den berichtet wird. Dabei erhält der andere eine wichtige Funktion für das Selbstbild des Augenzeugen.13 Gleichwohl unterstreicht Jaspers die individuelle Perspektive des Augen­ zeugen und betont damit sowohl die Erfahrungsebene als auch die Frage nach dem eigenen Verhalten sowie nach alternativen Handlungsoptionen. Diese individuellen Erfahrungen werden durch ihre Repräsentation jedoch mit überindividuellen Ansprüchen von Ethik und politischer Sinnstiftung 19 Ebd., 22. Jaspers gebraucht den Begriff der Augenzeugenschaft selbst nicht, wenn er sich der Frage der »metaphysischen« Schuld (im Unterschied zur kriminellen, politischen und moralischen Schuld) widmet. 10 Zur Überlieferung der Zeugen und zu der sekundären Erinnerung (postmemory) nachfolg­ ender Generationen siehe Reinhart Koselleck, Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten, in: Neue Zürcher Zeitung, 22./23. September 2001, 49; Marianne Hirsch/Leo Spitzer, Ghosts of Home. The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory, Berkeley, Calif., 2010; Marianne Hirsch, Projected Memory. Holocaust Photo­ graphs in Personal and Public Fantasy, in: Mieke Bal/Jonathan Crewe/Leo Spitzer (Hgg.), Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover, N. H., 1999, 2–23. 11 Siehe John Durham Peters, Witnessing, in: Media, Culture and Society 23 (2001), H. 6, 707–723, hier 709 f.; James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Fol­ gen der Interpretation, aus dem Amerikan. von Christa Schuenke, Frankfurt a. M. 1997, 39. Zur Narrativierung siehe Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, aus dem Amerikan. von Margit Smuda, Frankfurt a. M. 1990, 186; Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: ders. u. a. (Hgg.), Culture, Media, Lan­ guage. Working Papers in Cultural Studies, 1972–1979, London u. a. 1980, 128–138, hier 129. 12 Siehe Peters, Witnessing, 707 und 720. 13 Zur Konstruktion von Alterität siehe z. B. Ernst van Alphen, The Other Within, in: Ray­ mond Corbey/Joep Leerssen (Hgg.), Alterity, Identity, Image. Selves and Others in Society and Scholarship, Amsterdam 1991, 1–16, hier 2; Paul Gifford, Defining »Others«. How Interperceptions Shape Identities, in: ders./Tessa Hauswedell (Hgg.), Europe and its Others. Essays on Interperception and Identity, Oxford u. a. 2010, 13–38, hier 15.

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verbunden, die sich in den Darstellungen der Augenzeugenschaft in Selbstund Fremdbildern ausdrücken.

Die Verdrängung jüdischer Zeugenschaft und polnischer Schuld nach Kriegsende Bereits kurz nach Kriegsende entstand mit Die Grenzstraße (Ulica Gra­ niczna)14 der weltweit erste Film, der das Verhältnis zwischen Polen und Juden während des Zweiten Weltkriegs zum Gegenstand machte. Idee und große Teile des Drehbuchs stammten von dem jüdischen Regisseur Aleksan­ der Ford (1908–1980), der auch Regie führte. Ford war einer der wichtigsten polnischen Regisseure der 1930er Jahre und hatte die Kriegsjahre in der Sowjetunion verbracht. Nach Kriegsende wurde er zum Leiter der zentralen staatlichen Filmgesellschaft Film Polski ernannt. In dieser Funktion be­ schloss er in Reaktion auf den Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946, bei dem nach Gerüchten von der Entführung und Ermordung christlicher Kinder über vierzig Überlebende der Judenvernichtung und Rückkehrer aus der Sowjet­ union umgebracht worden waren, in einem Film die sich fortsetzende Gewalt gegen Juden in Polen zu thematisieren.15 Mit der kritischen Darstel­ lung des polnisch-jüdischen Verhältnisses hoffte er einen kathartischen Bei­ trag zur Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft zu leisten. In Die Grenzstraße behandelte Ford das polnisch-jüdische Verhältnis anhand der Geschichte von Kindern, die in einer Straße an der Grenze zwi­ schen dem Warschauer Getto und der übrigen Stadt wohnen. Ihr Haus ver­ sammelt polnische und jüdische Bewohner, die schematisch gemäß ihrer verschiedenen Zugehörigkeit und somit ganz unterschiedlicher Selbstver­ ständnisse charakterisiert werden. Neben einer orthodoxen und einer assimi­ lierten jüdischen Familie sind da drei polnische Familien – eine antisemiti­ sche, eine nicht antisemitische und eine volksdeutsche. Der Film zeigt, wie das Leben der Hausgemeinschaft sich unter den Bedingungen der national­ sozialistischen Rassenpolitik veränderte. Abschließend wollte Ford, so das ursprüngliche Drehbuch, die Folgen der Verflochtenheit der ethnisch definierten Schicksale in der Nachkriegszeit thematisieren. Demnach sollte die Tochter der assimilierten jüdischen Fami­ lie den Krieg im Versteck überleben, während ihre Eltern von der volksdeut­ 14 Ulica Graniczna [Die Grenzstraße] (Aleksander Ford, Polen 1949). Das Drehbuch war eine Gemeinschaftsarbeit von Alexsander Ford, Ludwik Starski und Jean Forge. Bei den Filmfestspielen in Venedig 1948 wurde der Film mit dem Goldenen Löwen ausgezeich­ net. 15 Siehe Joanna Preizner, Kamienie na macewie. Holokaust w polskim kinie [Steine auf die Mazewa. Der Holocaust im polnischen Kino], Kraków 2012, 13.

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schen Familie verraten und daraufhin von den deutschen Besatzern ermordet wurden. Die letzten Szenen spielten nach Kriegsende 1945: Der Junge aus der volksdeutschen Familie bittet seine jüdische Nachbarin um Verzeihung. Er sei noch ein Kind gewesen, habe jetzt aber gelernt. Er will nun mit dem Mädchen zu einer Übereinkunft kommen, damit sie ihm wegen der Verge­ hen der Vergangenheit zukünftig nicht schade. Sie lehnt jedoch ab und will die Polizei rufen, worauf der Junge auf sie schießt. Daraufhin verfolgen ihn Freunde des Mädchens. Er rennt in die oberste Etage eines kriegszerstörten Hauses, wo er eine Tür zu einem nicht mehr vorhandenen Gebäudeteil öffnet und in die Tiefe stürzt. Die deutschen Besatzer, in deren Namen der Junge Unrecht verübt hat, gewähren ihm – so die beabsichtigte Botschaft – keinen Schutz mehr, sondern sie sind der Grund für seinen Untergang. Während der Junge aus der Höhe in den Tod fällt, stirbt das Mädchen in den Armen ihrer Freunde. Als Schlussbild war der Schriftzug »Wir leben! … Wir leben! … Wir leben! …«, auf Polnisch auf einer Mauer geschrieben, vorgesehen.16 In dieser ursprünglichen Konzeption sollte der Film auf die Verlängerung ethnischer Konflikte nach dem Kriegsende aufmerksam machen. Negative Aspekte des Verhaltens von Polen gegenüber ihren jüdischen Nachbarn soll­ ten neben positiven Beispielen stehen, wobei die projektierte Schlussszene einen in ihrer Endgültigkeit besonderen Akzent setzen sollte. Dass Die Grenzstraße als ein Film, der aus einer jüdischen Perspektive auf die polnische Augenzeugenschaft blickt, überhaupt geplant werden konnte, ist auf die spezifische Situation der ersten Nachkriegsjahre zurück­ zuführen, in denen sich eine volkspolnische Öffentlichkeit vor dem Hinter­ grund von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Kommu­ nisten und ihren Gegnern erst herausbildete. Bis Ende der 1940er Jahre setzte sich das stalinistische Einparteiensystem unter der Polnischen Verei­ nigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) in der Volksrepublik. Antikommunistische Aktivitäten forderten die kommunisti­ sche Partei nach dem Krieg in hohem Maße heraus. Diese Situation, die mit einer politischen Instrumentalisierung ethnischer Zugehörigkeiten einher­ ging, legte letztlich eine grundlegende Änderung des Drehbuchs nahe. Die Politisierung von Ethnizität speiste sich nicht zuletzt aus der unter­ schiedlichen Kriegserfahrung von Polen und Juden, die durch die Besatzer als Gruppen definiert wurden. Der polnische Antikommunismus nährte sich aus der Erfahrung der zweifachen Besatzung. Sowohl die deutsche als auch die sowjetische Herrschaft war von der katholischen Bevölkerung als in ihren Auswirkungen ähnlich wahrgenommen worden. Die polnischen Juden 16 Archiwum Filmoteki Narodowej [Archiv der Nationalfilmothek], S-2397, Aleksander Ford, Ulica Graniczna. Pierwsza wersja scenariusza, Karpacz 1946/47 [Aleksander Ford, Die Grenzstraße. Erste Drehbuchversion, Karpacz 1946/47].

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hingegen waren mit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten kon­ frontiert gewesen. Während einige von ihnen nur durch schieren Zufall die deutsche Besatzung in Polen überlebt hatten, hatte der Großteil der Überle­ benden die Kriegszeit in der Sowjetunion verbracht, so auch Ford selbst. Demzufolge erschien der Kommunismus vielen von ihnen als einzig mögli­ che politische Hoffnung.17 Bereits während der beiden Besatzungen hatten antisemitisierende Zu­ schreibungen zu Konflikten geführt. So war der Übergang von der sowjeti­ schen zur deutschen Besatzung im Osten Polens 1941 begleitet von Aus­ schreitungen gegen Juden, die in die Nähe der sowjetischen Besatzer gerückt wurden.18 Die sowjetische Besatzungsmacht orientierte sich im Kern nicht an nationalen Kriterien und schien Fragen der Herkunft zu nivellieren, weshalb sie vielen jüdischen Polen im Vergleich zu den deutschen Besatzern als kleineres Übel erschien. Diese Haltung wurde von katholischen Polen immer wieder missverstanden und als positive Einstellung zur Sowjetunion oder mangelnde Loyalität gegenüber nationalen Interessen interpretiert, mit­ unter sogar als Kollaboration.19 In diesen unterstellten Zusammenhang ist auch das Massaker von Jed­ wabne im Juli 1941 einzuordnen. Während des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion entstand ein Machtvakuum von einigen Tagen, in denen die Juden des Ortes von der polnischen Bevölkerung zusammengetrieben und gequält wurden. Die polnischen Täter zwangen die jüdischen Bewohner, ein von der Roten Armee installiertes Lenin-Denkmal abzureißen, dessen Büste durch die Ortschaft zu tragen und zu rufen, dass sie für den Krieg verant­ wortlich seien. Danach wurden die Juden gezwungen, eine Grube auszuhe­ ben und die Büste hineinzuwerfen. Die katholischen Polen Jedwabnes war­ fen die zu Tode gequälten jüdischen Bewohner des Städtchens in dieselbe Grube. Danach zündeten sie die noch lebenden jüdischen Bewohner der Kleinstadt in einer Scheune an.20 Sechzig Jahre später wurde im Rahmen von Untersuchungen des Verbrechens das Denkmal geborgen. 17 Siehe Michael C. Steinlauf, Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holo­ caust. Syracuse, N. Y., 1997, 52; Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahr­ hundert, München 2010, 259; Stephan Stach, Das Jüdische Historische Institut in War­ schau 1947–1968 (unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Leipzig 2008), 7 f. Für den Einblick in seine Forschungsergebnisse danke ich dem Autor. 18 Zu diesem in der Forschung lange vernachlässigten Phänomen siehe die Beiträge und v. a. die aufschlussreiche Einführung des Sammelbands Elazar Barkan/Elizabeth A. Cole/Kai Struve (Hgg.), Shared History – Divided Memory. Jews and Others in Soviet-Occupied Poland, 1939–1941, Leipzig 2007, bes. 13–40. 19 Siehe z. B. Joanna B. Michlic, Anti-Polish and Pro-Soviet? 1939–1941 and the Stereoty­ ping of the Jew in Polish Historiography, in: Barkan/Cole/Struve (Hgg.), Shared History – Divided Memory, 67–101. 20 Siehe Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, mit einem Vorwort von Adam Michnik, aus dem Engl. von Friedrich Griese, München 2001, 25, 69 und 75.

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Abb. 1: Bergung des Lenin-Denkmals in Jedwabne (2001). © picture alliance/AP Images/Fotograf: Alik Keplicz.

Der Pogrom von Kielce im Jahr 1946 ereignete sich zwar unter vollkom­ men veränderten politischen Umständen, doch auch dieses Massaker geschah vor dem Hintergrund der imaginierten Verbindung von jüdischer Zugehörigkeit und Kommunismus sowie der gespaltenen Erfahrungswelten des Zweiten Weltkriegs.21 Zwar diente ein Ritualmordgerücht als Anlass für die Ermordung von 42 Menschen und die Verletzung von über hundert, aber dies wurde von einem wenige Tage zuvor abgehaltenen Referendum flan­ kiert, dessen – stark verfälschte – Ergebnisse die kommunistische Herrschaft in Polen legitimieren sollten.22 Während antikommunistische Kreise den 21 Der Einwand, dass der Pogrom von Jedwabne eher die Struktur eines modernen Antisemi­ tismus aufweist, während der von Kielce, für den ein Ritualmordgerücht den Anlass gab, durch einen vormodernen Antisemitismus charakterisiert ist, scheint an dieser Stelle gegenüber der Bedeutung des unmittelbaren Geschehens vernachlässigbar. Siehe die kriti­ sche Reflexion der Trennung zwischen vormodernem und modernem Antisemitismus bei Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, 2., durch ein Regis­ ter erweiterte Aufl., München 2000, 77–81. 22 Siehe Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 268; Karol Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen, Berlin/Wien 2004, 148.

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Pogrom als Inszenierung von Kommunisten deuteten, die von dem Wahlbe­ trug ablenken wollten, wurde er in jüdischen und kommunistischen Kreisen als Ausdruck des polnischen Antisemitismus wahrgenommen.23 So waren das Streben nach der Legitimation kommunistischer Machtausübung und der interethnische Konflikt seit dem Krieg eng miteinander verwoben und blieben es auch danach. Die Festschreibung ethnischer Zugehörigkeiten und deren vermeintliche Verbindung mit politischen Loyalitäten in der Nach­ kriegszeit waren die Folge. Dies begünstigte Spannungen zwischen Polen und Juden und machte nach dem Pogrom in Kielce eine Überprüfung der innenpolitischen Strategie der Partei nötig, die unter vielen Polen dem etab­ lierten Interpretationsmuster gemäß als »Żydokomuna« (Judäokommune) verpönt war.24 Damit wurde sich eines antisemitischen Schlagwortes bedient, das bereits in der Zwischenkriegszeit die insinuierte Verbindung zwischen jüdischer Zugehörigkeit und Kommunismus bezeichnete. In dieser aufgeladenen Situation der Nachkriegszeit war eine nicht instrumentalisie­ rende Reflexion des polnischen Antisemitismus im Hinblick auf die Kriegs­ zeit und mithin die polnische Augenzeugenschaft für die Judenvernichtung geradezu unmöglich. Juden galten dem Gros polnischer Antikommunisten weiterhin als fremd und als Vertreter des Kommunismus.25 Im Hinblick auf das Verhalten von Polen gegenüber Juden während des Krieges setzte sich in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, gefördert auch von der katholischen Kirche, eine idealisierende Darstellung der polnischen Augenzeugen als Helfer durch.26 Dieser Wandel prägte auch die Ausgestal­ 23 Siehe Krystyna Kersten, Polacy, Żydzi, Komunizm. Anatomia półprawd 1939–68 [Polen, Juden, Kommunismus. Struktur der Halbwahrheiten 1939–68], Warschau 1992, 105; Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 268–270; Steinlauf, Bondage to the Dead, 52. 24 Siehe Klaus-Peter Friedrich, Antijüdische Gewalt nach dem Holocaust. Zu einigen Aspek­ ten des Judenpogroms von Kielce, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), 115–147. 25 Siehe Steinlauf, Bondage to the Dead, 33 und 61; Kersten, Polacy, Żydzi, Komunizm, 95; Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968, 205 f.; Jan T. Gross, Fear. AntiSemitism in Poland after Auschwitz. An Essay in Historical Interpretation, New York 2006, 131–133; Klaus-Peter Friedrich, Der Rückblick auf den NS-Judenmord und die Reaktion auf antijüdische Unruhen im Krakauer Wochenblatt »Tygodnik Powszechny« [Allgemeine Wochenzeitung] (1945–1952), in: Micha Brumlik/Karol Sauerland (Hgg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa, Frankfurt a. M./New York 2010, 125–161, hier 137 f. und 143. 26 Siehe Steinlauf, Bondage to the Dead, 61; Kersten, Polacy, Żydzi, Komunizm, 102 f.; Gross, Fear, 137 f.; Dariusz Libionka, Polskie piśmiennictwo na temat zorganizowanej i indywidualnej pomocy Żydom (1945–2008) [Polnische Literatur zum Thema organisier­ ter und individueller Hilfe für Juden (1945–2008)], in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały [Vernichtung der Juden. Studien und Materialien] 4 (2008), 17–80; Friedrich, Der Rück­ blick auf den NS-Judenmord und die Reaktion auf antijüdische Unruhen im Krakauer Wochenblatt »Tygodnik Powszechny« (1945–1952), 136–144.

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tung der polnischen Rollen in Fords Die Grenzstraße. Der Regisseur hatte nach 1947 an Einfluss verloren, als im Rahmen der Errichtung der Einpar­ teienherrschaft kommunistische Organe ihre Kontrolle über sämtliche Medien ausdehnten.27 Neuer Leiter wurde nun der Funktionär Stanisław Albrecht, der über die Linientreue der Produktion wachte – ohne Interesse an dem Medium an sich – und der die Reaktion Stalins fürchtete, falls Ford einen Film »religiösen Typs« drehte.28 Er legte die Sache der Parteiführung vor, die in Sorge war, dass das polnische Publikum das Werk aufgrund der Darstellung antisemitischen Verhaltens als »antipolnisch« ablehnte und boy­ kottierte. Da die staatliche Filmgesellschaft als propagandistisches Sprach­ rohr der PZPR erkennbar war, könnten sich, so die Befürchtungen, gar Aus­ schreitungen gegen die Regierung entwickeln.29 Um nicht immer weiter an gesellschaftlicher Legitimation unter den antikommunistisch eingestellten Polen einzubüßen, erschien es der Unterkommission Film beim Zentralko­ mitee ratsam, den polnischen Antisemitismus nicht zu thematisieren.30 Des­ halb wurden umfangreiche Änderungen an Die Grenzstraße vorgenommen – einige Szenen mussten bis zu dreimal überarbeitet werden. Ganz gegen Fords anfängliche Intentionen wurde der polnische Antisemitismus letztlich ausgeblendet und stattdessen ein idealisiertes Bild der polnischen Augen­ zeugen gezeigt. Die Unterscheidung zwischen Faschisten und Antifaschis­ ten wurde nun stärker herausgestellt und die Möglichkeit der Solidarität zwi­ schen Polen und Juden betont.31 Polen wurden in ihrer Haltung als lernfähig gezeigt: Der Vater des volksdeutschen Jungen, ein rechtsnationaler Bank­ angestellter, der im Widerstand gegen die Deutschen kämpft, wird von seinem jüdischen Nachbarn geschützt. Daraufhin gibt er diese positive Erfahrung trotz seiner grundsätzlich antisemitischen Einstellung an seinen Sohn weiter.32 Dieser, der ganz nach dem väterlichen Vorbild Juden anfangs 27 Zur Medienpolitik siehe Edward Zajiček, Poza ekranem. Kinematografia polska 1918– 1991 [Jenseits der Leinwand. Polnische Filmkunst 1918–1991], Warschau 1992, 61; Johannes Etmanski, Das Deutschlandbild in der polnischen Wochenschau und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1956, Berlin/Münster 2007, 58. 28 Siehe Alina Madej, Wielka gra. Ze Stanisławem Albrechtem rozmawia Alina Madej [Großes Spiel. Alina Madej spricht mit Stanisław Albrecht], in: Kwartalnik Filmowy [Vierteljahresheft zum Film] 6 (1994), 204–209, hier 204 f. 29 Siehe ebd., 205; dies., Kino, władza, publiczność. Kinematografia polska w latach 1944– 1949 [Kino, Macht, Öffentlichkeit. Die polnische Filmkunst in den Jahren 1944–1949], Bielsko-Biała 2002, 191 und 193; Preizner, Kamienie na macewie, 34. 30 Archiwum Filmoteki Narodowej, A-329, pozycja [Position] 1,5, Protokół z posiedzenia Komisji Kwalifikacyjnej w dniach 1 i 2 czerwca 1948 roku [Protokoll der Sitzung der Bewertungskommission am 1. und 2. Juni 1948]. 31 Siehe Preizner, Kamienie na macewie, 38; Paul Coates, Walls and Frontiers. Polish Cine­ ma’s Portrayal of Polish-Jewish Relations, in: Polin. Studies in Polish Jewry 10 (1997), 221–246, hier 245. 32 Siehe Preizner, Kamienie na macewie, 30 und 39.

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abgelehnt hat, übergibt die Pistole seines schließlich im Widerstandskampf umkommenden Vaters später dem jüdischen Nachbarjungen, der im War­ schauer Getto gegen die Deutschen kämpfen will. Verdichtet in diesem symbolischen Bild wurde die antifaschistische So­ lidarität zum Zentrum des Narrativs, das schließlich auf den polnischen Leinwänden zu sehen war. Solidarität wurde nun nicht länger als zu lernende Lektion der Nachkriegszeit aufgegeben, sondern – in Reaktion auf die fortge­ setzte antisemitische Gewalt, die es zu verbergen galt – als bereits während der Kriegszeit verinnerlichte Lehre dargestellt. Statt Kritik am polnischen Antisemitismus zu üben, wurde dem Publikum die Erfolgsstory eines zur Solidarität mit den Juden bekehrten Antifaschisten geboten. Mit der Ver­ änderung der inhaltlichen Ausrichtung hatte sich der Adressatenkreis gewandelt, sodass der Film nun nicht mehr auf Kritiker des polnischen Nationalismus abzielte. Dies zeigten auch die Besprechungen des Films in der polnischen Presse, die gemeinsam mit der dem Politbüro unterstellten Zensurbehörde in einem engmaschigen System Visualisierungen und Wahr­ nehmungen steuerte. Die Rezensionen lobten den Film durchweg für seine positive Botschaft, und Die Grenzstraße wurde dementsprechend als Sym­ bol der Solidarität zwischen Juden und Polen aufgefasst: »Wahre Menschlichkeit und Liebe zur Menschheit, Verachtung für künstliche ›Gren­ zen‹ rassistischer und anderer Vorurteile prägt jede Szene des Films. […] Und man muss eine wirkliche Leidenschaft eines großen Kunstschaffenden, wie der Regisseur Aleksander Ford einer ist, haben, seine Liebe zum Menschengeschlecht, und die Idee des Guten lieben, um nach der blutigen Tragödie, die das polnische und jüdische Volk unter der Besatzung überstanden haben, der ganzen Welt ins Gesicht zu sagen: Es gibt keine Rassengrenzen zwischen den Menschen!«33

Das ursprüngliche Ansinnen des Filmemachers Ford, den Erfahrungs- und Aushandlungsraum der Bedeutung ethnischer Differenzen auf der Grenze zwischen dem als jüdisch definierten Getto und dem als »arisch« bezeichne­ ten Warschau zu zeigen, war vollständig verloren gegangen. Stattdessen, so scheint es, wurde Ford durch die Filmkritik rückwirkend als Sprecher einer Interpretation der Augenzeugenschaft, die seiner Auffassung eigentlich ent­ gegenstand, autorisiert. So avancierte der Regisseur zu einer Kunstfigur des sozialistischen Mediensystems. Die ihm in den Mund gelegte Botschaft, die polnischen Augenzeugen seien solidarische Philosemiten, war eine Antwort auf den aktuellen Antisemitismus, die dem Regisseur nicht entsprach. Im Zuge der Umarbeitung des Drehbuchs wurden Grenzen des auf lange Sicht in der polnischen Öffentlichkeit Zeigbaren ausgehandelt und festgelegt. Die 33 O. A., »Ulica Graniczna«. Nowy wspaniały film polski na łódzkich ekranach [»Die Grenzstraße«. Ein großartiger neuer polnischer Film in Łódź auf der Leinwand], in: Express Ilustrowany [Illustrierter Express], 23. Juni 1949, 4.

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Bearbeitungen des Films und seine letztendliche Gestaltung markierten eine Übereinkunft zwischen der kommunistischen Regierung und der polnischen Bevölkerung über das akzeptierte Selbstbild polnischer Augenzeugen. Die jüdische Perspektive, die kritische Aspekte des polnischen Verhaltens als wesentlich erachtete, wurde dabei ausgeblendet. Der so veränderten Grund­ aussage zum Trotz bildete der Film Die Grenzstraße eine frühe Ausnahme bei der Thematisierung polnischer Augenzeugenschaft.

Augenzeugenschaft in den 1960er Jahren Häufig wurde auf eine Liberalisierung im Zuge der Entstalinisierung während der 1950er und 1960er Jahre verwiesen – für die Thematisierung polnischer Augenzeugenschaft galt dies jedoch nicht: Aufgrund der Rehabi­ litierung während des Stalinismus internierter antikommunistischer Welt­ kriegsveteranen brach sich in Polen vor allem seit den 1960er Jahren ein zunehmend nationalistisch gefärbtes Kriegsnarrativ Bahn.34 Dadurch vergrö­ ßerte sich die Legitimationsbasis der PZPR in der polnischen Bevölkerung; zugleich aber führte diese Entwicklung zu einer zunehmend systematischen und gewaltsamen Ausgrenzung der in Polen noch verbliebenen Juden. Innenpolitisch wurden sie einerseits für die Verfehlungen des Stalinismus verantwortlich gemacht, andererseits waren es junge Juden, die bei den Stu­ dentenprotesten Ende der 1960er Jahre prominent in Erscheinung traten. Außenpolitisch verschärfte sich die Positionierung gegen Israel in der Folge des Sechstagekriegs, was zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten führte.35 Im Zuge der antisemitischen Kam­ pagne 1967/68 wurden die letzten noch in Polen lebenden Juden – identifi­ ziert auf Grundlage der rassistischen Definition der Nürnberger Gesetze – als »fünfte Kolonne« beschimpft, die dem Land gegenüber nicht loyal sein könne, und zur Ausreise gedrängt.36 34 Siehe Steinlauf, Bondage to the Dead, 65; Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhun­ dert, 306–309; Marcin Zaremba, Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944–1980, aus dem Poln. von Andreas R. Hofmann, mit einer Einführung von Robert Brier, Osnabrück 2011, 271–358; Nina Klein, Die polni­ sche Erinnerung an Auschwitz. Am Beispiel des Staatlichen Museums Auschwitz-Birke­ nau, mit einem Vorwort von Aleida Assmann, Konstanz 1999, 56. 35 Siehe z. B. Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968, 161; Paweł Machce­ wicz, Antisemitism in Poland 1956, in: Polin. Studies in Polish Jewry 9 (1996), 171–183; Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 308; Steinlauf, Bondage to the Dead, 76. 36 Siehe Beate Kosmala, Der Aufstand im Warschauer Getto 1943 und der Warschauer Auf­ stand 1944 in der Geschichtspolitik der Volksrepublik Polen. Zwischen Umdeutung, Ver­ schweigen und Erinnerung, in: Brumlik/Sauerland (Hgg.), Umdeuten, verschweigen,

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Die polnischen Juden wurden nun mit der israelischen Politik identifiziert. So setzte sich im Sprachgebrauch die synonyme Verwendung von »Juden« und »Zionisten« durch. Vor dem Hintergrund des im Ostblock heftig kriti­ sierten Luxemburger Abkommens wurde eine Verbindung zwischen west­ deutschem Revanchismus, dem Staat Israel und polnischen Juden imagi­ niert, wobei die Judenvernichtung in Zusammenhang mit der Gegenwart gebracht wurde.37 Israel wurde ein historisches Bündnis mit dem »Dritten Reich« unterstellt, das den Holocaust zur Legitimation des Staates Israel inszeniert habe.38 Als eigentlich leidtragend galt demnach Polen, das im Rahmen einer angeblichen antipolnischen Kampagne als antisemitisch diffa­ miert und für die Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich gemacht würde.39 Diese von Michael C. Steinlauf pointiert als »Viktimisierung Polens durch den Holocaust«40 gefasste Verschwörungstheorie führte zu erheblichen Ver­ unsicherungen hinsichtlich der Darstellung polnischen Verhaltens gegenüber Juden während des Krieges. Repräsentationen polnischer Augenzeugen­ schaft hatten nunmehr eine wichtige Funktion zur Untermauerung dieser Politik zu erfüllen: Sie sollten evident machen, dass Polen keine Antisemiten waren. Dieses paradoxe Ansinnen, Polen gerade wegen des Antisemitismus als nicht antisemitisch zu zeigen, stieß nicht nur an logische, sondern auch an didaktische und mediale Grenzen. Die damit verbundenen Schwierigkei­ ten suchte man teilweise zu beheben, indem zwischen (vergangenem) Anti­ semitismus und (gegenwärtigem) Antizionismus differenziert wurde. Außerdem etablierte sich eine Unterscheidung zwischen toten und lebenden Juden, wobei Erstere als polnische Staatsbürger vor der Staatsgründung Israels Opfer des Faschismus geworden seien, während Letztere Zionisten

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erinnern, 179–202, hier 188 f.; Paul Lendvai, Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa, Wien 1972, 93. Siehe Karol Sauerland, Polen und Juden innerhalb der polnischen Erinnerungskultur, in: Wolfgang Stephan Kissel/Ulrike Liebert (Hgg.), Perspektiven einer europäischen Erinne­ rungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Berlin/ Münster 2010, 59–70, hier 63; Steinlauf, Bondage to the Dead, 78; Dieter Pohl, Die His­ toriker Volkspolens und der Judenmord. Erforschung und politische Instrumentalisierung 1956–1968, in: Brumlik/ Sauerland (Hgg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern, 163–178, hier 171. Jósef Banaś, The Scapegoats. The Exodus of the Remnants of Polish Jewry, London 1979, 83; Steinlauf, Bondage to the Dead, 85. Siehe Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968, 167; Lendvai, Antisemitis­ mus ohne Juden, 172; Steinlauf, Bondage to the Dead, 85; Joanna Wawrzyniak, Kriegsge­ schichten. Juden als Deutsche in Polen, 1967–1968, in: Dieter Bingen/Peter Oliver Loew/ Kazimierz Wóycicki (Hgg.), Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instru­ mentalisierung negativer Fremd- und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich, Wiesbaden 2004, 162–175, hier 165. »Polish Victimization by the Holocaust«. Steinlauf, Bondage to the Dead, 86 (Hervorhe­ bung wie im Original).

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sein müssten.41 Wurden Juden in der nun stark verbreiteten asymmetrischen Darstellung als Objekte polnischer Hilfe während des Krieges gezeigt,42 sollte dies trotz des aktuellen politischen Kurses gegen Israel und gegen die in Polen lebenden Juden als Beweis des polnischen Philosemitismus dienen. In dieser Zeit der semantischen Verschiebungen und der Ausbildung und Wirkung der antisemitischen Verschwörungstheorie wurden Visualisierun­ gen des polnisch-jüdischen Verhältnisses während des Weltkriegs so gut wie nicht veröffentlicht. Bis die Konturen der Semiose sich geschärft hatten und in das zulässige Bild des polnischen Helfers mündeten, blieb die Verunsi­ cherung in den bestimmenden Gremien von Partei und Regierung groß. Zahlreiche Filmfunktionäre wagten es nicht mehr, entsprechende Repräsen­ tationen überhaupt zu beurteilen, weil sich jede Äußerung über das Thema in kürzester Zeit gegen sie als Sprecher richten konnte.43 Medienpolitisch stellte es eine erhebliche Anstrengung dar, die Ambivalenzen polnischen Verhaltens aus den Darstellungen zu verbannen, da Visualisierungen sich schwerlich dazu eigneten zu beweisen, dass Polen keine Antisemiten sind. Ikonische Medien verfügen nicht über die Möglichkeit der Negation,44 sodass es fast unmöglich ist, dass sie verneinte Botschaften unmittelbar transportieren. Dies ist nur mittelbar über das Gegenbild möglich. Daher wurde das Bild der hilfsbereiten, philosemitischen Polen verbreitet, das die von der Propaganda gewünschte Botschaft glaubhaft machen sollte und in zugespitzter Form auch eine martyrologische Dimension entfalten konnte, wenn es Polen zeigte, die wegen ihres Einsatzes für Juden von den Deut­ schen ermordet wurden. Wurden beispielsweise Polen am Galgen gezeigt, 41 Siehe Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968, 166; Adam Łopatka u. a. (Hgg.), Słownik wiedzy obywatelskiej [Wörterbuch des Bürgerwissens], Warschau 1970, 452; Lendvai, Antisemitismus ohne Juden, 169–182; Zofia Wóycicka, Zur Internationali­ tät der Gedenkkultur. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Spannungsfeld zwischen Ost und West 1954–1978, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), 269–292, hier 282; Klein, Die polnische Erinnerung an Auschwitz, 74. 42 Juden bilden in der Terminologie Reinhart Kosellecks folglich den »asymmetrischen Gegenbegriff« zum idealisierten polnischen Selbstbild. Siehe ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, 211–213. 43 Die Filmwissenschaftlerin Iwona Kurz spricht in diesem Zusammenhang von einer »Poe­ tik des Nicht-Redens, des Schweigens und sogar des Sich-Widersprechens«. Siehe dies., »Ten obraz jest trochę straszliwy«. Historia pewnego filmu, czyli naród polski twarzą w twarz z Żydem [»Dieses Bild ist ein bisschen furchtbar«. Die Geschichte eines bestimm­ ten Films, oder das polnische Volk von Angesicht zu Angesicht mit dem Juden], in: Zag­ łada Żydów. Studia i Materiały 4 (2008), 466–483, hier 468. 44 Zur Schwierigkeit ikonischer Negation siehe beispielsweise Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte, aus dem Franz. übers. und mit einem Nachwort von Walter Seitter, München/Wien 1997; Dieter Mersch, Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, in: Martina Heßler (Hg.), Konstru­ ierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, 405–420.

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die von den deutschen Besatzern gehängt worden waren, weil sie Juden ge­ holfen hatten, wurden sie als Opfer dargestellt. Die Darstellung von polni­ schen Helfern, die für Juden ihr Leben aufs Spiel setzten, verkehrte damit die historischen Rollen von Opfern, Tätern und Augenzeugen. Die Zensurbehörde beschäftigte in diesen Jahren vor allem die Frage, wie ein in Polen gedrehter Film, der Polen als Augenzeugen des deutschen Judenmords negativ charakterisiert, im westlichen Ausland aufgenommen würde. Diese Sorge war bereits Anfang der 1960er Jahre ein taugliches Argument, das Erscheinen eines Films zu verhindern. So wurde der Kurz­ film Am Bahndamm (Przy torze kolejowym) aus dem Jahr 1963 nicht gezeigt, der in nur 13 Minuten die Aporien der Augenzeugenschaft auf ungewöhnliche Weise thematisierte.45 Vorlage für den Film des Regisseurs Andrzej Brzozowski war die 1946 veröffentlichte Sammlung von Augen­ zeugenberichten von Zofia Nałkowska. Dabei hatte Nałkowska der Publika­ tion das Motto vorangestellt »Dieses Schicksal haben Menschen den Men­ schen bereitet« (»Taki los zgotowali ludzie ludziom«).46 Dieser – wegen seiner Universalisierung auch später weiter kritisierte – Zugang zur Juden­ vernichtung hatte Brzozowski im Hinblick auf die polnischen Anwohner interessiert: Es sei ihm um das »menschlich-menschliche Verhältnis« und um die »Nähe und Distanz zwischen Menschen« gegangen, erklärte der Regisseur rückblickend.47 Im Weiß des Schnees, in den eine jüdische Frau aus einem Deportations­ zug hinausgesprungen ist und nun verletzt am Bahndamm liegt, erscheinen im Film alle Menschen – Opfer, Täter und Zuschauer – unterschiedslos als dunkle Gestalten. Einige Dorfbewohner versammeln sich in sicherem Abstand zu der leidenden Frau. Nur ein junger Mann scheint Anteil zu neh­ men, kommt aber ihren Bitten um Betäubungsmittel nicht nach. Auch die im Dienst der deutschen Besatzer stehenden polnischen Polizisten erbarmen sich der Frau nicht – sie erschießen sie nicht, als sie darum bittet. Der Film schließt so überraschend wie konsequent mit dem Schuss gerade jenes jun­ gen Polen auf die jüdische Frau, der den größten Anteil an ihrem Schicksal genommen zu haben schien. Eine Erklärung bleibt aus und der Zuschauer ist 45 Przy torze kolejowym [Am Bahndamm] (Andrzej Brzozowski, Polen 1963/1992). Der Film basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Zofia Nałkowska. 46 Zofia Nałkowska, Medaliony [Medaillons], Warschau 1949. 47 Andrzej Brzozowski im Interview mit Tadeusz Sobolewski, Kruchość istnienia [Die Ver­ gänglichkeit des Seins], in: Gazeta Wyborcza [Wahlzeitung], 12. August 2002, zit. nach Joanna Preizner, Świadkowie. Przy torze kolejowym Andrzeja Brzozowskiego [Zeugen. Am Bahndamm von Andrzej Brzozowski], in: Postscriptum Polonistyczne [Polonisti­ sches Postscriptum] 5 (2010), H. 1, 131–145, hier 139. Eine kritische Position nimmt Henryk Grynberg ein. Siehe ders., Ludzie Żydom zgotowali ten los [Dieses Schicksal haben Menschen den Juden bereitet], in: ders., Prawda nieartystyczna [Nicht-künstleri­ sche Wahrheit], West-Berlin 1984, 70 f.

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Abb. 2: Aufnahme aus dem Film Am Bahndamm (Przy torze kolejowym) von An­ drzej Brzozowski (1963). © Filmoteka Narodowa (Nationales Filmarchiv).

mit den ethischen und individuell-psychologischen Aporien der Situation der polnischen Augenzeugen konfrontiert, zu denen sich der Philosoph Le­ szek Kołakowski im Jahr 2000 äußerte: »Was auch immer man macht, führt zu einem schlechten Ende. Sie umzubringen, worum sie gebeten hatte, war womöglich in der fürchterlichen Situation der beste Ausweg. Zu sagen, dass es das Beste war, heißt nicht, dass es gut war.«48 Die dargestellte Ausweglo­ sigkeit erklärt auch, warum Am Bahndamm für jedes geschichtspolitische Anliegen ungeeignet schien; vielmehr stand die Befürchtung im Raum, der mit einfachsten Mitteln produzierte Film könne nicht nur der Staatsräson, sondern auch dem Ansehen Polens im Ausland schaden.49 Mit einer ähnlichen Argumentation wurde die Produktion von Andrzej Wajdas Film Die Karwoche (Wielki Tydzień) 1967 gestoppt, der anlässlich des 25. Jahrestags des Warschauer Gettoaufstands 1968 geplant war. Ein 48 Leszek Kołakowski im Interview anlässlich der Fernsehausstrahlung von Am Bahndamm im Jahr 2000 von TVP1 (Przy torze kolejowym; Michał Nekanda-Trepka, Polen 2000). Siehe Preizner, Świadkowie, 143. 49 Siehe Katarzyna Bielas, Mały wielki film [Ein kleiner großer Film], in: Gazeta Wyborcza, 13. Oktober 1992, 11; Preizner, Świadkowie, 142; Tadeusz Sobolewski, Przy torze kolejo­ wym [Am Bahndamm], in: Odra 9 (1989), 106.

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Film, der nicht ausschließlich polnische Hilfe für Juden zeigte, erschien innen- wie außenpolitisch in der damaligen Situation zu risikoreich.50 Die literarische Vorlage für das Dehbuch stammte von Jerzy Andrzejewski, der während des Aufstands 1943 in unmittelbarer Nähe des Warschauer Gettos gewohnt hatte. Nach dem Krieg hatte er weiter an dem damals begonnenen gleichnamigen Roman gearbeitet, der schildert, wie ein inzwischen verheira­ teter Pole versucht, seine ehemalige jüdische Geliebte zu retten.51 Die psy­ chologische Dimension von Andrzejewskis Figuren war bereits während des Stalinismus zugunsten der antifaschistischen Deutung der Handlung geglät­ tet worden und in den 1960er Jahren arbeiteten die Zensurbehörden generell in dieselbe Richtung.52 In der von Wajda in den 1960er Jahren entworfenen Schlussszene kehrt die jüdische Frau nun nicht mehr, wie in der literarischen Vorlage, einsam und verraten ins Getto zurück, sondern sie trifft auf dem Weg dorthin einen Vertreter der Arbeiterklasse. Der vermittelt ihr, dass sie nicht allein sei und sich nicht fürchten müsse.53 Daraufhin verschwinden Ärger und Verzweiflung aus ihrem in Nahaufnahme gezeigten Gesicht.54 Während die jüdische Frau von dem Arbeiter gerettet wird, wird ihr früherer Geliebter von rechtsextremen Polen des Nationalradikalen Lagers (Obóz Narodowo Radykalny) ermordet.55 Das Verhältnis von Polen und Juden gerät dabei zu einer dem Klassenkampf untergeordneten Frage. Die Gesinnung der schicksalhaft in die Handlung eingreifenden Randfiguren – der Arbeiter, der der jüdischen Frau begegnet, und die Faschisten, die deren ehemaligen Liebhaber ermorden – entscheidet letztlich über den Ausgang des Gesche­ hens. Die Differenz zwischen Polen und Juden vor dem Hintergrund des Gettoaufstands wurde somit lediglich zum Rahmen der eigentlichen Hand­ lung. Doch auch dieser Eingriff in den filmischen Stoff konnte die Unter­ kommission Film beim Zentralkomitee nicht zu einer positiven Stellung­ nahme und damit zur Freigabe des Films bewegen. Die Ambivalenzen der Augenzeugenschaft waren zu stark, um sie in der innen- und außenpolitisch angespannten Situation jener Jahre zu zeigen. Polnische Augenzeugenschaft wurde in den folgenden Jahrzehnten fast vollständig verborgen. Wajda reali­ sierte den Film schließlich in den 1990er Jahren. 50 Siehe Preizner, Kamienie na macewie, 450–452, 456 und 458 f. 51 Jerzy Andrzejewski, Die Karwoche. Roman, aus dem Poln. übers. von Oskar Jan Tau­ schinski, mit einem Nachwort von Ariane Thomalla, München 2000 (zuerst dt.: Wien 1948). Zur Entstehung des Textes siehe Preizner, Kamienie na macewie, 433; Kurz, »Ten obraz jest trochę straszliwy«, 474 f.; Katarzyna Bielas, Patrzyłem na getto [Ich habe auf das Getto geschaut], in: Gazeta Wyborcza, 17. Februar 1996. 52 Siehe Kurz, »Ten obraz jest trochę straszliwy«, 375; Preizner, Kamienie na macewie, 144. 53 Siehe ebd., 456; Anna Synoradzka, Andrzejewski, Kraków 1997, 162. 54 Siehe Preizner, Kamienie na macewie, 456. 55 Siehe ebd., 449.

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Unterschiede zum westlichen Zeugendiskurs Anders als im polnischen Erinnerungsdiskurs, aus dem jüdische Sprecher bereits in den 1940er Jahren weitgehend verdrängt wurden, genossen jüdi­ sche Überlebende im westlichen Gedenken schon früh eine besondere Auto­ rität. Während im Polen der 1960er Jahre Augenzeugenschaft fast vollstän­ dig verdrängt wurde, rückten im westlichen Europa jüdische Zeugen vor allem nach dem Eichmann-Prozess 1961 ins Zentrum des Erinnerns.56 Hie­ raus ergaben sich in den folgenden Jahrzehnten eine Reihe hermeneutischer Fragestellungen für den Diskurs über das Thema. Dazu gehörten die Ver­ stehbarkeit und die Darstellbarkeit der Judenvernichtung sowie die Möglich­ keit von Zeugenschaft in Anbetracht der traumatischen Dimension, die die Erfahrungen der jüdischen Überlebenden haben.57 Die Konzentration auf die jüdischen Zeugen rückte häufig zugleich die Anwohner in den okkupierten Ländern in den Hintergrund. Die Bevölkerung der polnischen Gebiete im Zentrum der Judenvernichtung – von Jean-Fran­ çois Lyotard als »Schauplatz des Off« bezeichnet, »wo das europäische Abendland schweigend, verschämt seine Schwäche gesteht und verleug­ net«58 – spielte in der westlichen Wahrnehmung sowohl hinsichtlich ihrer historischen Rolle als Anwohner wie auch ihrer potenziellen Zeugenschaft eine eher untergeordnete Rolle. Dabei war deren Marginalisierung im Erin­ nerungsdiskurs eine Konsequenz der deutschen Politik. Die Vernichtung vollzog sich außerhalb des Sichtfeldes westlicher Politik, wodurch ihre Sichtbarkeit eingeschränkt und auch die Möglichkeiten des Erinnerns topo­ grafisch begrenzt wurden.59 Dass die aus diesem Grund anders strukturierte polnische Kriegserfahrung nicht Teil des westlichen Erinnerungsdiskurses werden konnte, ist ferner durch den Systemkonflikt der Nachkriegszeit

56 Annette Wieviorka, The Era of the Witness, Ithaca, N. Y./London 2006, 57. Die Annahme einer westlichen Erinnerungsgemeinschaft, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges die Kriegsallianz mit der Sowjetunion vergessen ließ, rekurriert v. a. auf die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider, die davon ausgehen, dass die Vereinigten Staaten, Israel und die Bundesrepublik Deutschland in diesem prägend waren. Siehe dies., Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001, 28, 90 f. und 211. 57 Siehe z. B. die Debatten bzw. ihre Darstellung in Michael Elm/Gottfried Kößler (Hgg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, hg. im Auf­ trag des Fritz-Bauer-Instituts, Frankfurt a. M./New York 2007; Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge, Mass./London 1992; Ronit Lentin, Re-Presenting the Shoah for the Twenty-First Century, New York/Oxford 2004. 58 Jean-François Lyotard, Heidegger und »die Juden«, Wien 1988, 42. 59 Siehe Avishai Margalit/Gabriel Motzkin, Die Einzigartigkeit des Holocaust, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), 3–18.

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bedingt, durch den die polnischen Anwohner der deutschen Judenvernich­ tung nicht als legitime Zeugen wahrgenommen wurden.60 Vielmehr war das Fremdbild von Polen im Westen negativ geprägt, wie Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) zeigt, der polnische Anwohner erst­ mals für westliche Zuschauer darstellte. In der französischen Produktion erlangte die Geste des Halsabschneidens symbolische Bedeutung, die Inter­ viewpartner gegenüber Lanzmann zeigten. Die polnischen Augenzeugen erklärten sie als »Warngeste«, während der Regisseur sie als »eigentlich […] sadistische Geste« interpretierte.61 Lanzmann verstand dieses negative Zeichen als exemplarisch für die Reaktion der polnischen Anwohner.62 Deren mannigfaltigen Erfahrungen dürfte die Auffassung von streng getrennten Rollen von »Tätern, Opfern und Zuschauern«, wie sie der ameri­ kanische Historiker Raul Hilberg geprägt hat und die für Lanzmann leitend war, kaum gerecht werden.63 Damit etablierte sich im westlichen Erinne­ rungsdiskurs ein Fremdbild der polnischen Anwohner, das deren Antisemi­ tismus hervorhob und den Eindruck erwecken konnte, die Kriegsgeschichte Polens sei weniger eine Besatzungs- denn eine Kollaborationsgeschichte. Dabei wurde die polnische Topografie als Raum der Vernichtung stilisiert, wodurch sie – wie von Lanzmann inszeniert – eine Negativfolie darstellte, vor der die westliche Gegenwart, deren demokratische Ordnung und Eigen­ staatlichkeit, positiv wahrgenommen wurde.64 Lanzmanns neuneinhalbstündiger Film, der vor allem Zeugenaussagen von Juden – häufig in der polnischen Landschaft gefilmt – wiedergibt, erschien im Jahr 1985 in Polen in einer auf neunzig Minuten gekürzten Ver­ sion. Hierfür wurden ausschließlich Passagen ausgewählt, in denen Polen zu Wort kamen. Dadurch entstand bei dem polnischen Publikum der falsche Eindruck, dass es sich um einen Film über Polen handelte, der ein rurales und brutales Bild des Landes als Massengrab von Juden entwirft, was auf 60 Zu den Schwierigkeiten, die die Unterschiede zum westlichen Diskurs in Mittelosteuropa bzw. Polen mit sich bringen, siehe beispielsweise Georges Mink, Geopolitics, Reconcilia­ tion and Memory Games. For a New Social Memory Explanatory Paradigm, in: Muriel Blaive/Christian Gerbel/Thomas Lindenberger (Hgg.), Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck u. a. 2011, 255–269, hier 260 f.; Stefan Troebst, Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust, in: Leviathan. Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), 381–400. 61 Claude Lanzmann, Der Ort und das Wort. Über Shoah, in: Ulrich Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M. 2000, 101–118, hier 111. 62 Siehe Steinlauf, Bondage to the Dead, 111. 63 Siehe Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, aus dem Amerikan. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 21992, 9; Lanzmann, Der Ort und das Wort, 117 f. 64 Siehe Barbara Breysach, Schauplatz und Gedächtnisraum Polen. Die Vernichtung der Juden in der deutschen und polnischen Literatur, Göttingen 2005, 26 f., 313–315 und 397.

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erhebliche Ablehnung stieß.65 Die Parteiführung drohte sogar, die diplomati­ schen Beziehungen zu Frankreich abzubrechen und den französischen Sprachunterricht von den polnischen Lehrplänen zu nehmen.66 Das negative Fremdbild der polnischen Augenzeugen im westlichen Erin­ nerungsdiskurs bedingte die Entstehung positiv gefärbter Selbstbilder der polnischen Augenzeugen mit und trug somit zur Beseitigung bestehender Ambivalenzen aus dem öffentlichen Erinnern bei.

Das Selbstbild polnischer Augenzeugen seit den 1990er Jahren Seit dem politischen Systemumbruch 1989 entstanden einige kleinere Filme, die vorsichtige Versuche zur Ausdifferenzierung des Selbstbildes der polni­ schen Augenzeugen unternahmen; ihnen wurde jedoch vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit zuteil. So entwarf der Regisseur Krzysztof Kieś­ lowski 1989 in der achten Folge seiner Serie Dekalog, die er dem achten bib­ lischen Gebot »Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen« widmete, ein kom­ plexes Bild polnischer Augenzeugenschaft.67 In dem noch in den 1980er Jahren konzipierten Film thematisierte Kieślowski in zugespitzter Weise die schwierigen Fragen nach den Motivationen individueller Entscheidungen von Polen, Juden während des Krieges zu helfen oder aber sie ihrem Schick­ sal zu überlassen, sowie die damit verbundenen Konsequenzen. In der Ethik­ vorlesung einer polnischen Professorin, die vor 1945 entgegen ihrer anfäng­ lichen Zusage nicht für die Rettung eines jüdischen Mädchens gesorgt hatte, taucht eine Wissenschaftlerin auf, die an einem amerikanischen Institut über die Rettung von Juden im Zweiten Weltkrieg forscht und bereits mehrere Bücher der polnischen Professorin übersetzt hat. Deren Frage nach Beispie­ len für moralische Dilemmata beantwortet der amerikanische Gast – ohne Namen zu nennen – mit einer Geschichte aus dem Krieg. In der nun vorge­ tragenen Szene wird das Handeln einer Polin, die ihr Versprechen, dem jüdi­ schen Mädchen durch eine christliche Taufe zu helfen, nicht hält, damit begründet, dass sie nicht als Taufpatin des jüdischen Mädchens auftreten 65 Siehe Young, Beschreiben des Holocaust, 261; Dominick LaCapra, History and Memory after Auschwitz, Ithaca, N. Y./London 1998, 114 f.; Lawrence Baron, Cinema in the Crossfire of Jewish-Polish Polemics. Wajda’s »Korczak« and Polanski’s »The Pianist«, in: Annamaria Orla-Bukowska/Robert Cherry (Hgg.), Rethinking Poles and Jews. Troubled Past, Brighter Future, Lanham, Md., 2007, 43–53, hier 44; Mieczysław B. Biskupski, Poland and the Poles in the Cinematic Portrayal of the Holocaust, in: ebd., 27– 42, hier 27–37; Steinlauf, Bondage to the Dead, 111. 66 Ebd.; Bartosz Kwieciński, Obrazy i klisze. Między biegunami wizualnej pamięci Zagłady [Bilder und Abbilder. Zwischen den Strömungen der visuellen Erinnerung an die Vernich­ tung], Kraków 2012, 123. 67 Dekalog VIII (Krzysztof Kieślowski, Polen 1989).

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Abb. 3: Aufnahme aus der achten Folge der Serie Dekalog von Krzysztof Kieślowski (1989). © TVP S. A., DEKALOG 8.

könne, da sie als Katholikin kein falsches Zeugnis ablegen dürfe. Eine Stu­ dentin kritisiert diese Argumentation, und plädiert stattdessen dafür, gelebte Glaubensprinzipien über das christliche Gebot zu stellen. »Sie leben« – mit diesem Satz gibt die Professorin nach Ende der Veran­ staltung gegenüber der Besucherin zu erkennen, dass sie in ihr das Mädchen erkannt hat, das sie in der Kriegszeit nicht gerettet hatte. Aus dieser Äuße­ rung spricht Erleichterung wie auch Schuld, denn die Polin war sich fast sicher gewesen, das Mädchen seinem tödlichen Schicksal ausgeliefert zu haben. Sie erklärt, dass sie und ihr Mann, ein Offizier der polnischen Hei­ matarmee (Armia Krajowa), gewarnt worden waren, dem jüdischen Mäd­ chen zu helfen. Falls sie dies getan hätten, wären sie verraten worden. Kieś­ lowski zeigt die Ausweglosigkeit der Verstrickung des polnischen und jüdischen Kriegsschicksals ohne moralischen Appell. Eine Schlüsselszene des Films zeigt die beiden Frauen in der Hofeinfahrt zu ebenjenem Haus, in dem die Polin das jüdische Mädchen damals abge­ wiesen hatte – eine gleichermaßen aufwühlende und belastende Begegnung. »Die Menschen wollen sich nicht mit Zeugen ihrer Erniedrigung konfron­ tiert sehen«, erklärt die Jüdin ihre Gefühle gegenüber ihrer Begleiterin. »Wir forschen, wir analysieren, wir beschreiben. Nur dieser Ungerechtigkeit kom­ men wir nicht bei. Dass manche Menschen andere retten können und andere nur gerettet werden können. Wissen Sie, warum?« Die beschriebene Asym­ metrie kann auch die Ethikprofessorin nicht rechtfertigen: »Ich weiß es nicht«, sagt sie schlicht.

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Während Kieślowskis Produktion jüdische Opfer und polnische Augen­ zeugen gleichermaßen vor unbeantwortbare Fragen stellte und somit in ihrer Hilflosigkeit im Umgang mit der Situation vereinte, zeigt der bereits 1992 veröffentlichte Dokumentarfilm Der Geburtsort (Miejsce urodzenia) einen Fall, in dem die Täterseite nichts von der Vergangenheit wissen möchte.68 Darin begleitet der polnische Filmemacher Paweł Łoziński den polnischen Juden Henryk Grynberg, der inzwischen in den Vereinigten Staaten lebt, auf der Spurensuche nach seinem Vater. Dieser war während des Krieges von Polen aus der Nachbarschaft ermordet worden. Der Sohn erfährt nun im Ver­ lauf verschiedener Gespräche, die er in der Gegend führt, dass sein Vater im Wald durch einen Schlag mit der Axt auf den Hinterkopf getötet worden ist, als er auf dem Weg zum Milchholen gewesen sei. Der Mörder sei zwar inzwischen gestorben, aber sein Bruder, der auch beteiligt gewesen sein soll, lebe noch. Die Kamera fängt die Begegnung zwischen dem Sohn des Opfers und dem mutmaßlichen Mittäter ein: Grynberg klingelt an der Tür und spricht den Mann auf den Vorfall an, der sich nicht daran erinnern will. Doch bringt Grynberg schließlich den Tatort in Erfahrung: Sein toter Vater habe eine Woche nackt im Wald gelegen, und als man ihn schließlich verscharrt habe, habe man die Milchflasche zu dem Leichnam in die Grube geworfen. Der Leichnam des Vaters sei dort, wo er die Milchflasche finde, wird ihm mit auf den Weg gegeben. Die Handkamera filmt, wie Grynberg mit einem Spaten zuerst die Milchflasche und dann den Schädel seines Vaters ausgräbt. Mit diesen erschreckenden Bildern rief der Dokumentarfilm die Erinnerung wach, sie wurde als so unerträglich empfunden, dass bei der Fernsehaus­ strahlung die Szene, in der der Täter identifiziert wird, zu seinem Schutz nicht gezeigt wurde. Der Sohn des Opfers wollte den mehrfach preisgekrön­ ten Film nicht sehen, als er fertig geschnitten war.69 In einem anderen Werk erreichte die Darstellung der Schuld eine in Polen selten gezeigte Intensität. Anders als die zuvor erörterten Visualisierungen widmet sich der Dokumentarfilm Henio aus dem Jahr 1999 nicht der Kriegs-, sondern der Nachkriegszeit.70 Dabei wird eine neue Dimension im polnischen Schulddiskurs ersichtlich: die Angst der Täter vor denjenigen, die ihre Schuld belegen könnten. Der Film erzählt die Geschichte von Henio Błaszczyk, der bisher über seine Kindheitserlebnisse geschwiegen hatte, die zum Anlass für den Pogrom in Kielce 1946 wurden. Vor der Kamera erzählt er, dass er gezwungen wurde, der Polizei zu melden, von Juden festgehalten 68 Miejsce urodzenia [Der Geburtsort] (Paweł Łoziński, Polen 1992). 69 Siehe Steinlauf, Bondage to the Dead, 129; Tomasz Łysak, Strategies of Recall in Post1989 Polish Documentary and Artistic Films about the Holocaust, in: Magdalena Marsza­ łek/Alina Molisak (Hgg.), Nach dem Vergessen. Rekurse auf den Holocaust in Ostmittel­ europa nach 1989, Berlin 2010, 115–135, hier 123. 70 Henio (Andrzej Miłosz/Piotr Weychert, Polen 1999).

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Abb. 4: Aufnahme aus dem Dokumentarfilm Henio (1999) von Andrzej Miłosz und Piotr Weychert. © Grupa Filmowa.

worden zu sein, nachdem er von einem Ausflug in einen Nachbarort zurück­ gekehrt war. Die Androhung von Strafe seitens des Vaters, eines Mitarbei­ ters des Staatssicherheitsamtes (Urząd Bezpieczeństwa), falls er dies nicht aussage, und der Zorn seiner Heimatstadt hatten ihn über vierzig Jahre davon abgehalten, seinen Schuldgefühlen Ausdruck zu geben. Bis kurz vor seinem Tod hielt Błaszczyk an der Lüge fest, zu der er als Neunjähriger gezwungen worden war. Ein Jahr nach Erscheinen des Films, in dem er vor der Kamera weint und seine Erinnerung öffentlich macht, starb er.71 Alle drei seit 1989 veröffentlichten Filme kleineren Formats eint die diffe­ renzierte Auseinandersetzung mit schuldbehafteten Selbstbildern polnischer Augenzeugenschaft. Ihr Einfluss auf die polnische Öffentlichkeit muss je­ doch als marginal eingeschätzt werden.

71 Bis heute ist die Frage, ob der Pogrom, der vor den Augen von Polizei, Militär und Staats­ sicherheit stattgefunden hatte, inszeniert worden war, nicht geklärt (siehe Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 268; Sauerland, Polen und Juden zwischen 1939 und 1968, 148). Da die Aussage Henio Błaszczyks die Annahme stützen könnte, dass der sowjetische Geheimdienst die Morde bewusst angestiftet hat, wird das Zeugnis mitunter kritisch bewertet (siehe Kersten, Polacy, Żydzi, Komunizm, 123 f.).

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Tendenzen in jüngerer Zeit Eine kritische Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, die in den 1990er Jahren im polnischen Film vereinzelt stattfand, ist seit den heftigen Debatten über das negative Verhalten von Polen während des Krieges in den 2000er Jahren kaum noch vorzufinden. Überwiegend und zum Teil geschichtspolitisch gefördert wird ein positives Bild polnischer Augenzeu­ gen als Helfer verbreitet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur das vorwiegend negative Fremdbild vom antisemitischen Polen im westlichen Europa eine Dynamik von Schuld und Abwehr begünstigt, sondern die Rolle des Zuschauers seit den 1990er Jahren zunehmend eine Universalisierung erfahren hat. Durch die ethische Wende, die – vor allem in den Vereinigten Staaten – jüdische Opfer in Menschenrechts- und Antirassismusdiskursen zu »paradigmati­ schen Anderen«72 werden ließ, wurden nicht nur die Opfer, sondern auch die Augenzeugen zu universalen Identifikationsfiguren stilisiert.73 Diese Ten­ denz beobachten die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider seit Anfang der 1990er Jahre, etwa anhand der Wirkung des 1993 eröffneten United States Holocaust Memorial Museum und des im selben Jahr erschie­ nenen Films von Steven Spielberg, Schindlers Liste.74 Diese Formen der glo­ balen Medialisierung können für positive Identifikationsmuster sorgen, die zum einen von historischen Rollen absehen, wenn »Amerikaner, Deutsche und Israelis von Zeugen, Tätern und Opfern zu Zuschauern werden« kön­ nen,75 und zum anderen jedem Einzelnen Handlungsoptionen aufzeigen: »Man kann retten, wenn man will. Moralisches Verhalten ist individuell, man kann sich dafür entscheiden.«76 Die historische Erfahrung der Vorfah­ ren ist folglich für die Rezipienten dieser globalen Medienereignisse nicht mehr ausschlaggebend, sondern es werden mediale Identifikationsmuster geschaffen, die allen offenstehen. Diese Tendenz trifft in Polen insofern auf Resonanz, als sie die histori­ schen Spezifika der polnischen Augenzeugenschaft in den Hintergrund zu drängen vermag und stattdessen eine ethisch universale Positionierung zur Judenvernichtung ermöglicht – jenseits persönlicher, familiärer oder regio­ 72 Levy/Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, 56. 73 Siehe ebd., 53 und 106. Siehe auch Sven-Erik Rose, Auschwitz as Hermeneutic Rupture, Differend, and Image malgré tout: Jameson, Lyotard, Didi-Huberman, in: David Bath­ rick/Brad Prager/Michael D. Richardson (Hgg.), Visualizing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, Rochester, N. Y., 2008, 114–137, hier 120; Aleida Assmann, Vier Grundtypen von Zeugenschaft, in: Elm/Kößler (Hgg.), Zeugenschaft des Holocaust, 33– 49, hier 43. 74 Siehe Levy/Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter, 155 und 174. 75 Ebd., 155. 76 Ebd., 160.

Das Vergessen der Augenzeugen

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naler Erfahrungszusammenhänge.77 In einer im Jahr 2010 in Krakau eröffne­ ten Ausstellung in der sogenannten Schindler-Fabrik (Fabryka Schindlera) wird dies besonders anschaulich. So schließt der Ausstellungsrundgang mit einem »Raum der Entscheidung«, in dem jeder Besucher die Möglichkeit bekommt, sein eigenes Handeln in der Kriegszeit zwischen Schuld und Heroismus zu imaginieren und so zwischen Gut und Böse entscheiden kann.78 Umso überraschender erscheint der international ausgezeichnete Spiel­ film Ida (2013), der nach Jahrzehnten des fast vollständigen Ausschlusses einer jüdischen Perspektive aus dem polnischen Nachkriegsfilm79 und der beinahe vollkommenen Verdrängung der Beschäftigung mit der Schuld der Augenzeugen eine regional spezifische Form der Auseinandersetzung ver­ folgt hat.80 Der Film sucht im polnischen Erinnerungsdiskurs auch deshalb seinesgleichen, weil er die Verdrängung der Augenzeugenschaft in der Nachkriegszeit, die häufig wie ein mit der kommunistischen Herrschaft zu entschuldigender Schandfleck behandelt wird, zu seinem Thema macht. Dass er die Geschichte der jüdischen Polinnen, die ihre jüdische Vergangen­ heit zu vergessen trachteten, als polnische Geschichte – also eben nicht getrennt von der Nationalgeschichte – zeigt, ist exzeptionell. Vor dem end­ gültigen Eintritt in das Kloster stattet eine junge Novizin ihrer Tante Wanda einen Besuch ab. Diese hält den Zeitpunkt für gekommen, die wahre Identi­ tät ihrer Nichte aufzudecken – sie ist in Wahrheit die gebürtige Jüdin Ida Lebenstein. Da polnische Nachbarn während des Zweiten Weltkriegs sowohl Idas Eltern als auch Wandas Sohn ermordet haben, machen sich beide auf, das Grab ihrer Angehörigen zu suchen. Während der mitunter ver­ störenden Spurensuche wird der Mörder gezeigt, wie er sich zunächst hinter seinem Schweigen verbarrikadiert und, während er die Gebeine seiner Opfer ausgräbt, schließlich seine Schuld eingesteht. In der Tatsache, dass die jüdi­ schen Nachbarn von seiner Familie zunächst versteckt, dann aber ermordet wurden, spiegelt sich die ganze Ambivalenz der polnischen Augenzeugen­ schaft wider. Obgleich der Täter letztendlich die Verantwortung trägt, ent­ halten sich die überlebenden Frauen einer Verurteilung. Die Kamera verlässt 77 Zu diesem Phänomen detaillierter: Hannah Maischein, Der Augenzeuge des Judenmords in der polnischen Erinnerungskultur. Überlegungen zur Medialisierung der »Apotheke zum Adler« im ehemaligen Krakauer Ghetto, in: Ekaterina Makhotina u. a. (Hgg.), Krieg im Museum. Präsentationen des Zweiten Weltkriegs in Museen und Gedenkstätten des östlichen Europa, Göttingen 2015, 227–253. 78 Die Ausstellung Krakau in der Okkupationszeit 1939–1945 (Kraków. Czas okupacji 1939–1945) in der ehemaligen Emaillefabrik Oskar Schindlers (Fabryka Emalia Oskara Schindlera) ist eine Abteilung des Historischen Museums der Stadt Krakau (Muzeum His­ toryczne Miasta Krakowa). 79 Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht der 1961 in Polen erschienene Spielfilm Samson dar, der eine jüdische Perspektive einnimmt. Samson (Andrzej Wajda, Polen 1961). 80 Ida (Paweł Pawlikowski, Polen/Dänemark 2013).

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Abb. 5: Aufnahme aus dem Spielfilm Ida (2013) von Paweł Pawlikowski. © Solo­ pan.

den Mörder dort in dem Erdloch, wo er zusammengekauert sitzt, und wendet sich der Suche der jüdischen Frauen nach Möglichkeiten des Weiterlebens zu. Erstmals werden hier in einem polnischen Spielfilm Bilder gezeigt, die das Spezifische des polnisch-jüdischen Verhältnisses während des Krieges und in der Nachkriegszeit erforschen, aber von eindeutigen Schuldzuwei­ sungen Abstand nehmen. Vielmehr scheint sich Jaspers Einsicht, dass die Situation der Augenzeugen »juristisch, politisch und moralisch nicht ange­ messen begreiflich ist« – trotz der weiterhin bestehenden Besorgnis vor einem negativen Image Polens im westlichen Ausland81 – in Polen allmäh­ lich Raum zu verschaffen.

81 Zum nicht versiegenden Versuch, Darstellungen zu verhindern, die Polen beschädigen könnten, im Zusammenhang mit dem Film Ida siehe Andrew Pulver, Polish Nationalists Launch Petition Against Oscar-Nominated Film Ida, in: The Guardian, 22. Januar 2015, (28. August 2015).

Schwerpunkt Biografie und Erkenntnis – Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) oder die Konversionen des Wissens

Herausgegeben von Jörg Deventer

Jörg Deventer

Einführung Der vorliegende Schwerpunkt versammelt ausgewählte Beiträge der im Oktober 2013 am Simon-Dubnow-Institut durchgeführten Jahreskonferenz zum Wirken und Werk des Universal- und Rechtshistorikers, Soziologen und Sprachphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973).1 1905 vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Figur des christlich-jüdischen Dialogs und ein präg­ ender Lehrer für mehrere Mitglieder der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis, ging Rosenstock-Huessy im Jahr 1933 in die Vereinigten Staaten und wirkte hier unter anderem in Harvard und Dartmouth. Für die Leipziger Universitäts- und Geistesgeschichte ist RosenstockHuessy in zweierlei Hinsicht von Interesse. Zum einen wurde Rosenstock im Jahre 1912 an der Juristenfakultät der Universität Leipzig mit einer Arbeit zur mittelalterlichen Rechtsgeschichte habilitiert und unterrichtete dann an der Alma Mater in den Jahren 1913/14. Nach seiner Lehrtätigkeit unterhielt Rosenstock weiter Verbindungen zu seinen ehemaligen Leipziger Freunden und Kollegen Walter Jellinek (1885–1955) und Erwin Jacobi (1884–1965), zu Letzterem sogar bis Ende der 1950er Jahre. Zum anderen war Eugen Rosenstock am 7. Juli 1913 neben Franz Rosenzweig (1886– 1929) und Rudolf Ehrenberg (1884–1969) einer der Protagonisten des geis­ tesgeschichtlich bedeutsamen »Leipziger Nachtgesprächs«. Im Verlauf dieses Gesprächs entschied sich Franz Rosenzweig, der neben Martin Buber zum bedeutendsten Deuter des Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde, zur Annahme der Taufe – ein Entschluss, den er im Herbst desselben Jahres wieder zurücknahm. Die im Laufe des Nacht­ gesprächs behandelten Themen und Thesen bildeten einen wesentlichen Ausgangspunkt für Rosenzweigs späteres Hauptwerk Der Stern der Erlö­ sung (1921). Das Dubnow-Institut hatte den einhundertsten Jahrestag des Nachtge­ sprächs und den 40. Todestag von Eugen Rosenstock-Huessy zum Anlass genommen, um über eine erneute Lektüre von Selbstzeugnissen der Haupt­ beteiligten die Folgen und Wirkungen der Begegnung in Leipzig zu beleuch­ ten. Ein zweiter Schwerpunkt der Konferenz wandte sich den beruflichen

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Ein ausführlicher Konferenzbericht findet sich im Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur 15 (2013), 70–77. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 293–296.

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und denkerischen Konsequenzen zu, die Rosenstock-Huessy aus dem von ihm als Schlüsselerlebnis wahrgenommenen Ersten Weltkrieg gezogen hatte. Er war Grundlage einer Annäherung an die Entwicklung von Rosen­ stock-Huessys historisch-soziologischem Werk. Der Bogen spannte sich hier von den frühen mediävistischen Schriften über die Arbeiten zu den Revolutionen bis hin zur universalhistorischen Metahistorie als Übergang zwischen Historik und Soziologie. Am Ende der Konferenz hatte seinerzeit ein Abschlusskommentar von Anson Rabinbach gestanden, in dem dieser den historischen Kontext des Ersten Weltkriegs und dessen Bedeutung für Eugen Rosenstock-Huessy und seine Generation in den Fokus rückte. Insbe­ sondere sei die Problematik der Konversion nicht nur als eine persönliche Entscheidung, sondern auch als eine Frage historischer und politischer Ereigniskonstellationen anzusehen und zu interpretieren. Angesichts eines noch wenig einheitlichen Bildes sei – so Rabinbach weiter – Rosenstocks Haltung gegenüber Juden und dem Judentum weiter und vertiefend nachzu­ gehen, wobei unter Umständen mit dem von Saul Friedländer geprägten Begriff beziehungsweise seinem Ansatz des »Erlösungsantisemitismus« operiert werden könne. Weiterer Forschungsbedarf bestehe ferner hinsicht­ lich Rosenstocks Integration in das deutsch-jüdische Migrantenmilieu in den Vereinigten Staaten. Rabinbach endete mit einer weiteren, für ihn auch nach der Tagung noch offenen Frage, ob nämlich Eugen Rosenstock-Huessy und sein Werk eher dem 19. Jahrhundert angehörten oder einer Post-Holo­ caust-Generation zuzurechnen seien. Die Auswahl der hier gedruckten Beiträge konzentriert sich auf ausge­ wählte Lebensstationen und Wirkungsfelder von Eugen Rosenstock-Huessy vor seiner Auswanderung nach Amerika. An den Anfang gestellt sind zwei Beiträge, die sich dem Aufenthalt Rosenstock-Huessys in Leipzig in den Jahren zwischen 1912 und 1914 widmen. Martin Otto nimmt in seinem Beitrag Ein Leipziger Habilitandenjahrgang – Wege und Wirkung einer rechtshistorischen Generation Rosenstock-Huessy als Teil eines juristi­ schen Netzwerks in den Blick, dessen Angehörige gleichzeitig – namentlich in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – an der Leipziger Uni­ versität in mitunter verwandten Rechtsgebieten forschten und zum Teil bis in die Nachkriegsjahrzehnte der beiden deutschen Staaten in Kontakt blie­ ben. Auf der Grundlage einer Nachzeichnung der beruflichen Biografien von Heinrich Glitsch, Erwin Jacobi, Walter Jellinek, Eckard Meister, Hans Peters und eben Rosenstock-Huessy kommt Otto zu dem Befund, dass der »Habilitandenjahrgang 1912« zunächst rein rechtshistorisch geprägt gewe­ sen sei, sich die jungen Privatdozenten dann aber gezielt neuen und vor allem solchen Rechtsgebieten zugewandt hätten, deren wissenschaftliche Durchdringung noch ausstand. Dabei habe der eindeutige Schwerpunkt

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nicht von ungefähr auf dem Recht der Wirtschaft gelegen, erschien es den Leipziger Nachwuchsakademikern doch probat, einer Lösung der sozialen Frage in Deutschland auch mit Mitteln der Rechtswissenschaft näherzu­ kommen. Inka Sauter nimmt die Begegnung von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig im Sommer 1913 in Leipzig zum Ausgangspunkt für eine genauere Bestimmung von Rosenstock-Huessys religiösem Einfluss auf Franz Rosenzweigs Nachdenken über das Judentum und dessen theologi­ sche Perspektive. Auf der Grundlage von Bemerkungen in Briefen und ande­ ren Aufzeichnungen der Protagonisten zeichnet Sauter zunächst die wesent­ lichen Inhalte des Gesprächs nach. Im Zentrum der Analyse steht sodann der sich drei Jahre nach der Begegnung in Leipzig entwickelnde Briefwech­ sel zwischen den beiden, in dem es vorrangig um »große« Fragen wie das Verhältnis der Religionen zueinander und die Suche nach dem rechten Ver­ ständnis der Offenbarung ging. Sauter vertritt die These, dass das Leipziger Nachtgespräch als Ausgangspunkt einer tief greifenden Selbstreflexion Franz Rosenzweigs angesehen werden könne und die Auseinandersetzung mit Rosenstock-Huessy Grundbegriffe des Sterns der Erlösung in Rosen­ zweigs Denken geschärft habe. Der Beitrag von Diether Döring beleuchtet Rosenstock-Huessys Zeit an der Frankfurter Akademie der Arbeit in den Jahren 1921/22 – ein Projekt, das auf die Schaffung neuer Qualifikationsmöglichkeiten für Führungskräfte aus der Arbeitnehmerschaft abzielte. An dessen Konzeptualisierung hatte sich Rosenstock-Huessy mit einer ausführlichen Denkschrift beteiligt und war daraufhin von der preußischen Regierung zum Leiter der neuen Institu­ tion berufen worden. Döring geht zunächst auf Rosenstock-Huessys Ein­ flussnahme auf die Gestaltung des Lehrplans und die Zusammenstellung des Dozentenkreises ein. Ferner macht er aber auch sichtbar, wie einander widersprechende inhaltliche und methodische Vorstellungen sowie organisa­ torische Differenzen dazu führten, dass Rosenstock bereits nach Ablauf des ersten Studienjahrgangs die Leitung der Akademie wieder abgab. Der abschließende Beitrag von Knut Martin Stünkel Kybele oder Symblysma? Der Kreis um den Patmos-Verlag untersucht die Bedeutung der Patmos-Idee für Rosenstock-Huessys Leben und Denken in Verbindung mit dessen soziologischem Grundkonzept »Symblysma«. Patmos – die Insel, auf der der Evangelist Johannes das Buch der Offenbarung verfasst und sein Exil gefunden haben soll – sei für Rosenstock-Huessy eine Chiffre der zukünftigen Christen geworden. Zugleich sei »Patmos« als »Symblysma« – als Sprachereignis – zu verstehen. Über dieses Emblem christlicher Zukunft hinaus hatte man sich zwei weitere Verlage vorgestellt, einen für das Judentum und einen für das Heidentum, aber nur die christli­ che Verlagsidee konnte verwirklicht werden. Stünkel vergleicht sodann das

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Patmos-Projekt mit dem Zeitschriftenprojekt Die Kreatur, die beide zwar nur kurze Zeit Bestand hatten, jedoch für Rosenstock-Huessy von zentraler Bedeutung bleiben sollten. Während das Zeitschriftenprojekt als Erfolg gewertet werden könne, habe Rosenstock-Huessy dessen Vorläufer, dem Patmos-Verlagsprojekt, aufgrund seines Scheiterns zeitlebens nachgetrauert.

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»Habilitandenjahrgang 1912« – Wege und Wirkungen einer rechtshistorischen Generation Eugen Rosenstock-Huessy, bis 1925 Eugen Rosenstock, wurde am 10. Okto­ ber 1912 an der Leipziger Juristenfakultät für Deutsches Privatrecht habili­ tiert.1 Im gleichen Jahr wurden in Leipzig fünf weitere Juristen zu Privat­ dozenten ernannt. Dies war auch unter den wissenschaftlichen Rahmenbe­ dingungen des Kaiserreichs ungewöhnlich. Gleichwohl begegnet man dem »Habilitandenjahrgang 1912« selten. 1954 erwähnte ihn der Staatsrechtler Walter Jellinek2 anlässlich des 70. Geburtstags seines Freundes Erwin Jacobi,3 den er als »Überlebenden« bezeichnete. Dies war eine nostalgische Reminiszenz: »Ende Juli 1912 habilitierten sich nicht weniger als sechs Pri­ vatdozenten innerhalb einer Woche in der Juristenfakultät zu Leipzig. Gelehrte berühmtester Namen hörten sich die Probevorlesungen an: Wach, Binding, Sohm, Strohal, Otto Mayer, Ludwig Mitteis, Ernst Jaeger, Victor Ehrenberg.«4 Jellineks Ausführungen muten bei Lichte besehen kryptisch an, da der Professor aus Heidelberg keine näherliegenden Namen, etwa weiterer Pri­ vatdozenten neben Jacobi, erwähnte. Die restlichen Habilitierten bleiben in dieser Schrift ungenannt, Jellinek eingeschlossen, denn auch er war 1912 in Leipzig habilitiert worden. Drei der ihm sämlichst persönlich bekannten Wissenschaftler sind indirekt präsent: »Zwei von den damals habilitierten

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Datum nach Renate Heuer, Art. »Rosenstock-Huessy, Eugen Friedrich Moritz«, in: Lexi­ kon deutsch-jüdischer Autoren, hg. vom Archiv Bibliographia Judaica, Frankfurt a. M., 21. Bde., hier Bd. 18, Berlin/New York 2010, 337–355, hier 340, die wohl mit älteren Quellen arbeitete. Walter Jellinek datiert sämtliche Habilitationen auf eine Woche im Juli 1912; dies kann sich aber nur auf die Habilitationsvorträge beziehen. Zu Jellinek siehe Hans [Hugo] Klein, Art. »Jellinek, Walter«, in: Neue Deutsche Biogra­ phie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissen­ schaften, 25 Bde., hier Bd. 10, Berlin 1974, 394 f.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., hier Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswis­ senschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945, München 1999, bes. 238–240; Jan Zie­ kow, Die Einhelligkeit der Rechtsentscheidung. Zu Leben und Werk Walter Jellineks, in: Archiv des öffentlichen Rechts 111 (1986), 219–230. Zu Jacobi siehe Martin Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb. Erwin Jacobi (1884–1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, Tübingen 2008. Walter Jellinek, Erwin Jacobi 70 Jahre alt, in: Juristenzeitung 1954, 60. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 297–323.

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Privatdozenten fielen im ersten Weltkrieg, ein dritter starb früh an einer Krankheit.«5 Eugen Rosenstock-Huessy, 1954 bei bester Gesundheit, wurde überhaupt nicht erwähnt. Jellinek beließ es bei der lapidaren Feststellung, »[u]nter den drei Überlebenden befindet sich Erwin Jacobi.«6 Warum bei dem launigen Ton so viel angedeutet blieb, ist erklärbar. Der scheinbar harmlose Geburts­ tagsgruß war ein deutsch-deutsches Politikum. Sein Autor war ein wichtiger bundesdeutscher Staatsrechtler. Er hatte an Länderverfassungen mitgearbei­ tet und die Neugründung der Staatsrechtslehrervereinigung vorangetrieben. Obwohl selbst Opfer der nationalsozialistischen Rassegesetze, hatte der evangelische Rabbinerenkel gegenüber den meisten vom Regime kompro­ mittierten Kollegen einen versöhnlichen Kurs gefahren.7 Auch Erwin Jacobi war unter den Mitgliedern der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, dabei zugleich das einzige aus der DDR. Er war seit 1946 wieder Professor an der Leipziger Juristenfakultät, an der er 1912 habilitiert worden war und der er vor der Machtübertragung fast ohne Unterbrechung angehört hatte; seit 1951 war Jacobi dann »Professor mit Einzelvertrag« und gehörte damit innerhalb der »Intelligenz« der DDR zu einer materiell verhältnismäßig pri­ vilegierten Gruppe.8 Seine Mitgliedschaft in der Staatsrechtslehrervereini­ gung war nicht grundsätzlich politisches Thema, wenn auch periphere Stim­ men, die ihn als Teil einer »bolschewistischen Gruppe« sahen, nicht fehlten.9 Für den überwiegenden Teil der westdeutschen Kollegen war Jacobi jedoch die Verkörperung des gesamtdeutschen Anspruchs der Staats­ rechtslehre. Über seine tatsächliche Situation in der DDR war dabei nur wenig bekannt;10 gleichwohl wollte man den scheinbar bedrängten »mittel­ deutschen Kollegen« nicht unnötig gefährden.11 Wohl auch aus diesem

15 Ebd. 16 Ebd. 17 Zusammenfassend siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, hier Bd. 4: Staats- und Verwaltungswissenschaft in West und Ost, 1945–1990, München 2012, 82–87; ferner Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 318–320. Die promi­ nenten Ausnahmen von Jellineks Versöhnungskurs waren Carl Schmitt, Otto Koellreutter sowie zunächst Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber. 18 Siehe hierzu ebd., 333. 19 So ein Zitat von Otto Koellreutter im Jahr 1950, der aufgrund seiner Verstrickung mit dem Nationalsozialismus der Staatsrechtslehrervereinigung nicht mehr angehörte. Siehe Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998, 328. 10 Siehe Rudolf Smend in einem Schreiben vom 12. März 1958 an Erwin Jacobi, in dem von »einer geistig fremden Welt, zu der Georg v. Lukacs für mich immer noch der gangbarste Zugang bleibt«, die Rede ist; siehe Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 372 f. 11 Für weitere Beispiele siehe ebd., 4.

»Habilitandenjahrgang 1912«

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Grund hatte Jellinek auf dessen Erwähnung wie auch auf die des mittler­ weile in den Vereinigten Staaten lebenden Rosenstock-Huessy verzichtet. Auch andere Passagen sind vor diesem Hintergrund zu lesen. Jellinek war auf Jacobis Jenaer Staatsrechtslehrerreferat12 von 1924 eingegangen; Jacobi sei »maßvoller als der Erstberichter Carl Schmitt« der »richtigen Ansicht« zur Auslegung der Diktaturkompetenz des Reichspräsidenten gewesen.13 Carl Schmitt (1888–1985) dagegen betrachtete dieses »Elogium« als einen »Eselstritt« des »heldenhafte[n] Jellinek«.14 Bei Abzug aller Selbstgerech­ tigkeit, Verbitterung und Polemik war Schmitts Zorn nicht ganz unberech­ tigt: Jacobi hatte sich bis 1924 weitgehend Schmitt angeschlossen, sodass während der Weimarer Republik das Amalgam »Schmitt-Jacobi« als eine Position angesehen wurde, die mehrheitlich auf Ablehnung stieß. Auch Jelli­ nek, der in seinen Nachkriegsbeiträgen die eigene Rolle in der Weimarer Republik häufiger revidierte,15 hatte in Jena zu den Opponenten gehört.16 Das komplizierte Verhältnis von Jellinek zu Schmitt dürfte ein Übriges getan haben.17 Auch vor 1945 begegnet man dem »Habilitandenjahrgang 1912« nur ver­ einzelt.18 Bereits Weihnachten 1921 war die Hälfte seiner Absolventen nicht mehr am Leben, mit allen Folgen für das wissenschaftliche Andenken. Drei konnten nicht mehr als ein hoffnungsvolles Frühwerk hinterlassen, geschweige denn Schüler oder leibliche Nachkommen. Die Überlebenden sollten durch die nationalsozialistische Rassengesetzgebung ihre Lehrstühle verlieren. Nur durch glückliche Zufälle überlebten sie Repression, Verfol­ gung und Krieg. Insofern ist dieser Jahrgang paradigmatisch für eine »ver­ 12 Erwin Jacobi, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 1 (1924), 105–136. Hierzu eingehend auch Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 86–94. 13 Jellinek, Erwin Jacobi 70 Jahre alt, 60. 14 So Carl Schmitt in einem Brief an Werner Weber vom 27. Januar 1954 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Werner Weber). Für nähere Angaben hierzu siehe Otto, Von der Eigen­ kirche zum Volkseigenen Betrieb, 344. 15 Siehe auch Walter Jellinek, Hans Kelsen und Rudolf Smend. Zum 70. Geburtstag der bei­ den Gelehrten, in: Juristenzeitung 1952, 20–23, hier 22; Jellinek bezeichnet hier das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932 als »unheilvoll«. Siehe dagegen Wal­ ter Jellinek, Der Leipziger Prozeß, in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwal­ tungsblatt 53 (1932), 901–908. 16 Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 92; Fritz Stier-Somlo, Die zweite Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, in: Archiv des öffentlichen Rechts 46 (1924), 88–105. 17 Siehe hierzu Reinhard Mehring (Hg.), Walter Jellinek – Carl Schmitt. Briefwechsel 1926 bis 1933, in: Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk von Carl Schmitt N. F. 2 (2014), 87–117. 18 Siehe dagegen Ludwig Mitteis, Hans Peters, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 36 (1915), VII–XVI, hier X (mit vollständi­ ger Namensliste des »Habilitandenjahrgangs«).

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schollene Generation«,19 die sich unter verhältnismäßig gesicherten Umstän­ den in einem der letzten Friedensjahre des Kaiserreichs habilitierte, deren Milieu aber bald vollkommen zerstört war. 1954 gehörte die Leipziger Juris­ tenfakultät des Jahres 1912 einer gänzlich versunkenen Welt an. Dabei ver­ dient der »Habilitandenjahrgang 1912« eine Berücksichtigung, die über das Aufzählen der Namen und des in sämtlichen Fällen beeindruckenden Œuvres seiner Mitglieder hinausreicht. Zu rekonstruieren ist ein juristisches Netzwerk, das sich bis weit in die Nachkriegsjahrzehnte der beiden deut­ schen Staaten und darüber hinaus bemerkbar machte. Auch Eugen Rosen­ stock-Huessy war Teil dieses Netzwerks. Leipzig war 1912 Ort einer der wichtigsten und größten deutschen Uni­ versitäten; dies galt auch für die Juristenfakultät.20 Die Stadt war seit 1879 Sitz des höchsten deutschen Gerichts, des Reichsgerichts. Für die Fakultät bedeutete dies entsprechende Synergieeffekte.21 Zudem lag Leipzig nahe an Berlin, dem politischen Zentrum des Reichs. Dies schlug sich auch in der Studentenzahl nieder – ab 1880 hatte die Leipziger Universität Berlin teil­ weise übertroffen. Im Jahr 1912 gehörten allerdings einige große Namen, darunter Bernhard Windscheid, Carl Friedrich von Gerber, Karl Georg von Wächter und Emil Friedberg, bereits der Vergangenheit an. Die preußischen Universitäten waren unter dem rührigen Universitätsreferenten Friedrich Althoff (1839–1908) zu einer gewichtigen Konkurrenz geworden; 1911 war in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaf­ ten gegründet worden. Sachsen reagierte am 31. Januar 1914 mit einer Gegengründung, der König-Friedrich-August-Stiftung, die auch das von Adolf Wach geleitete Leipziger Staatliche Forschungsinstitut für Rechtsge­ schichte (1843–1926) finanzierte.22 Der Universität Leipzig war es zudem 19 Der Begriff stammt aus der Kunstgeschichte und wurde von dem Marburger Kunsthistori­ ker Rainer Zimmermann (1920–2009) für eine Künstlergeneration der Jahrgänge ab 1890 gebraucht, die durch den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus in ihrer Wirkung behindert wurden. Siehe ders., Die Kunst der verschollenen Generation. Deutsche Malerei des expressiven Realismus von 1925–1975, Düsseldorf/Wien 1980. 20 Siehe hierzu Bernd-Rüdiger Kern, Die Juristenfakultät, in: Detlef Döring/Cecilie Holl­ berg (Hgg.), Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaf­ ten, Dresden 2009, 170–177; ders., Rechtswissenschaft, in: Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, hg. im Auftrag des Rektors der Universität Leipzig Franz Häuser von der Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsge­ schichte, 5 Bde., hier Bd. 4/1: Fakultäten, Institute, zentrale Einrichtungen, hg. von Ulrich von Hehl, Leipzig 2009, 103–147. 21 Siehe ders., Universität – Juristenfakultät – Reichsgericht, in: ders./Adrian Schmidt-Recla (Hgg.), 125 Jahre Reichsgericht, Berlin 2006, 97–108; Thomas Henne, »Jüdische Juris­ ten« am Reichsgericht und ihre Verbindungen zur Leipziger Juristenfakultät 1870–1945, in: Stephan Wendehorst, Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 189–206. 22 Konrad Krause, Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Universität Leipzig von 1409 bis

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gelungen, einzelne Professoren der finanziell besonders gut ausgestatteten Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg23 abzuwerben, darunter die Juristen Rudolph Sohm (1841–1917) im Jahr 1887 und Otto Mayer (1846–1924) 1903. Auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft spielte Leipzig eine herausra­ gende Rolle, die seinem juristischen »Habilitandenjahrgang 1912« für die rechtshistorische Forschung eine besondere Bedeutung verleiht. Zudem hatte es im unmittelbar vorangegangenen akademischen Jahr mit Andreas Bertalan Schwarz24 und Karl von Zahn25 zwei weitere juristische Habilitan­ den gegeben, die der scheidende Leipziger Rektor, der Theologe Georg Heinrici (1844–1915), in seinem Jahresbericht zum Rektoratswechsel im Oktober 1912 neben den sechs Habilitanden von 1912 aufführte.26

Heinrich Glitsch Der Älteste des Jahrgangs 1912 war Heinrich Ferdinand Glitsch, zum Zeit­ punkt der Habilitation 32 Jahre alt. Er war am 24. Juli 1880 als Schweizer­ bürger im russischen Sarepta an der unteren Wolga geboren worden, einer heute zu Wolgograd gehörenden Kolonie der Herrnhuter Brüdergemeine, der auch Glitsch entstammte. Seine Vorfahren waren seit Generationen in Russland ansässig,27 doch obwohl der Vater Albert Ferdinand Glitsch eine

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zur Gegenwart, Leipzig 2003, 236–338. Zu diesem Institut siehe auch Sabine Bechtel, Alfred Karl Hermann Schultze (1864–1946). Leben und Werk, Leipzig 2010, 75–78. Siehe Bernd Schlüter, Reichswissenschaft. Staatsrechtslehre, Staatstheorie und Wissen­ schaftspolitik im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Reichsuniversität Straßburg, Frankfurt a. M. 2004. Andreas Bertalan Schwarz, geboren 1886 in Budapest; Rechtswissenschaftler, Romanist und Papyrusforscher; 1908 Promotion zum Dr. iur. in Budapest, gefolgt von seiner Habili­ tation 1912 (mit Dispens als Ausländer); Schüler von Ludwig Mitteis; 1926 bis 1933 Pro­ fessor in Zürich, Freiburg i. Br. und Frankfurt a. M.; ab 1934 Exil in der Türkei, Professor Istanbul; nach Kriegsende Rückkehr nach Deutschland; 1953 in Freiburg i. Br. verstorben. Siehe Franz Wieacker, Nachruf auf Andreas Bertalan Schwarz, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 71 (1954), 591–606. Karl von Zahn, geboren 1877 in Leipzig; 1902 Promotion, 1911 Habilitation in Leipzig; 1919 Eheschließung mit der Frauenrechtlerin Agnes von Harnack (1884–1950) und damit Schwiegersohn Adolf von Harnacks; Beamter im Reichsamt des Innern, später Oberar­ chivrat am Reichsgericht; 1944 in Berlin verstorben. Siehe Gisa Bauer, Kulturprotestan­ tismus und frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950), Leipzig 2006. Georg Heinrici, Jahresbericht, in: Franz Häuser (Hg.), Die Leipziger Rektoratsreden 1871–1933, 2 Bde., hier Bd. 2: Die Jahre 1906–1933, Berlin/New York 2009, 1030–1044, hier 1036. Siehe Otto Teigeler, Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitä­ ten, Göttingen 2006.

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Senffabrik in Sarepta besaß – Senf aus Sarepta war über Russland hinaus berühmt – wanderte die Familie 1884 aus privaten Gründen nach Winterthur im Kanton Zürich aus. Die Glitschs waren mit der Schweizer Fabrikantenfa­ milie Achtnich, den Inhabern der Stickerei SAWACO verwandt.28 Der Vater war bereits seit 1868 Schweizerbürger und in Schaffhausen heimatberech­ tigt.29 1896 wurde die von dem schweizerischen Architekten Ernst Georg Jung erbaute Villa Glitsch in der Römerstraße 29 in Winterthur bezogen; später lebte dort der bedeutende Kunstsammler und Mäzen Oskar Reinhart. Heinrich Glitsch wuchs nicht nur in einem sehr frommen, sondern auch in einem sehr wohlhabenden Milieu mit besten Beziehungen zur Schweizer Wirtschaft auf. Er erwarb die Matura an der Kantonsschule Winterthur und studierte zunächst Altphilologie in Genf, dann aber Rechtswissenschaft in Zürich, München, Berlin, Jena und schließlich in Leipzig. 1905 war Glitsch zum Auditor am Bezirksgericht Winterthur ernannt worden, was einen Stu­ dienabschluss voraussetzte. 1906 wurde er Direktionssekretär bei der »Bank in Winterthur«, einem Vorgängerinstitut des Schweizerischen Bankvereins.30 Im gleichen Jahr wurde er am 17. Mai in Leipzig bei dem schweizerischen Rechtshistoriker Hans Fehr (1874–1961) mit der deutschrechtlichen Arbeit Beiträge zur älteren Winterthurer Verfassungsgeschichte31 zum Dr. iur. pro­ moviert.32 Glitsch hatte sich offenbar ein enges Beziehungsnetz geschaffen, sodass wenig später seine Arbeit in der Savigny-Zeitschrift von dem in Bonn lehrenden Schweizer Ulrich Stutz (1868–1938) wohlwollend als »recht brauchbar« besprochen wurde.33 Glitsch blieb zunächst bei der Bank,34 kehrte nach einiger Zeit aber wieder nach Leipzig zurück. Er stand mit Rudolph Sohm, Ehrenberg (1891–1976) und Adolf Wach in näherem Kontakt, führte nach einzelnen Quellen aber 28 Siehe Peter Niederhäuser, Unterwäsche aus Winterthur. Die Industrie- und Familienge­ schichte Sawaco Achtnich, Zürich 2008. 29 Ernst Rüedi, Art. »Glitsch, Heinrich (1880–1921)«, in: Schaffhausener Beiträge zur Geschichte 46 (1969), 83–87, hier 86; eine engere Beziehung zu Schaffhausen wird auch hier angezweifelt. 30 Unsere Zeitgenossen. Wer ist’s? Biographien von rund 20 000 lebenden Zeitgenossen, hg. von R. Adé, redigiert von Hermann August Ludwig Degener, Leipzig 81922, 343. 31 Heinrich Glitsch, Beiträge zur älteren Winterthurer Verfassungsgeschichte, Winterthur 1906. 32 Siehe Jacob Wackernagel, Heinrich Glitsch †, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 63 (1922), 288–290, hier 288. Fehr war 1906 Privatdozent in Leipzig und hatte sich dort 1904 bei Rudolph Sohm habilitiert. Siehe Lukas Gschwend, Art. »Fehr, Hans«, in: Histo­ risches Lexikon der Schweiz, 13 Bde., Basel 2002–2014, hier Bd. 4, Basel 2005, 449. 33 Ulrich Stutz, Dr. jur. Heinrich Glitsch, Beiträge zur älteren Winterthurer Verfassungsge­ schichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abtei­ lung 28 (1907), 568–570, hier 568. 34 Alfred Schultze, Germanistische Chronik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechts­ geschichte. Germanistische Abteilung 43 (1922), 475–483, hier 476.

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auch das Leben eines Schöngeistes, der Flöte spielte und sich für Malerei interessierte.35 Daneben wandte er aber viel Zeit für das Quellenstudium auf.36 Am 18. Oktober 1912 wurde er über Untersuchungen zur mittelalterli­ chen Vogtgerichtsbarkeit37 habilitiert; er erhielt die Venia Deutsche Rechts­ geschichte, Deutsches Privatrecht und Handelsrecht. Im Handelsrecht war er insbesondere Schüler Ehrenbergs, der seit 1911 in Leipzig lehrte.38 So ver­ fasste er etwa in dem von Ehrenberg herausgegebenen Handbuch des gesamten Handelsrechts einen Aufsatz.39 Der Schwerpunkt seiner rechtshis­ torischen Veröffentlichungen war im oberdeutschen Raum angesiedelt,40 gleichwohl hatte Glitsch spätestens seit 1916 seinen Wohnsitz in Leipzig (zuerst im Stadtteil Gohlis, Wilhelmstraße 22, dann in der Südvorstadt, Bayrische Straße 110 II). Vom Kriegsdienst war er als Schweizerbürger nicht betroffen und konnte deshalb 1919 zum planmäßigen außerordentli­ chen Professor für Arbeitsrecht und Rechtsgeschichte an der Leipziger Juris­ tenfakultät ernannt werden – offenbar übernahm er die arbeitsrechtlichen Veranstaltungen von Erwin Jacobi, nachdem dieser im Januar 1920 nach Greifswald gegangen war. Von dem 1917 verstorbenen Heidelberger Rechts­ historiker Richard Schröder (1838–1917), Rosenstock-Huessys erstem Dok­ torvater, übernahm Glitsch die Herausgeberschaft des Lehrbuchs Deutsche Rechtsgeschichte.41 Mit dem späteren Stuttgarter Staatsarchivdirektor Karl Otto Müller (1884–1960) edierte er die gemeinsam entdeckte Alte Ordnung des Hofgerichts von Rottweil.42 Am 15. Dezember 1921 starb Glitsch in Leipzig an einer Nierenerkrankung – erst wenige Monate zuvor, im Sommer 1921, hatte er geheiratet. Er stand kurz vor einem Ruf nach Königsberg auf die Nachfolge von Victor Ehrenbergs Schüler Julius von Gierke (1875– 1960). Seine letzte Ruhestätte fand er neben seinem Vater auf dem Herrnhu­ ter-Friedhof in Astwiesen, Bad Boll. 35 36 37 38

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Rüedi, Art. »Glitsch, Heinrich (1880–1921)«, 84. Heinrich Glitsch (Hg.), Gottesurteile, Leipzig o. J. [1913] Ders., Untersuchungen zur mittelalterlichen Vogtgerichtsbarkeit, Bonn 1912. Zu dessen Leipziger Zeit siehe Justus Meyer, Victor Ehrenberg in Leipzig, in: Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, hg. von Mitglie­ dern der Juristenfakultät, Berlin 2009, 103–122. Victor Ehrenberg (Hg.), Handbuch des gesamten Handelsrechts mit Einschluß des Wech­ sel-, Scheck-, See- und Binnenschiffahrtsrechts, des Versicherungsrechts sowie des Postund Telegraphenrechts, 14 Bde., Leipzig 1913–1922, hier Bd. 2/Abt. 1, Leipzig 1914, 155–194. Glitsch bearbeitete in Bd. 2 den Abschnitt »Fähigkeit und Befugnis Kaufmann zu sein«. Heinrich Glitsch, Der alamannische Zentenar und sein Gericht, Leipzig 1917; ders., Zum Strafrecht des Zürcher Richtebriefs, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsge­ schichte. Germanistische Abteilung 38 (1917), 203–268. Richard Schröder/Heinrich Glitsch, Deutsche Rechtsgeschichte, 3 Bde., hier Bd. 1: Bis zum Ende des Mittelalters, Berlin 21920 und Bd. 2: Die Neuzeit, Berlin 21920. Heinrich Glitsch/Karl Otto Müller, Die alte Ordnung des Hofgerichts zu Rottweil (um 1435). Erstmals nach der Originalhandschrift herausgegeben, Weimar 1921.

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Erwin Jacobi Erwin Jacobi wurde am 15. Januar 1884 als Sohn eines Warenhausbesitzers in Zittau in der sächsischen Oberlausitz geboren. Sein Vater Rudolf war jüdischer Herkunft, die aus England stammende Mutter Emma Smith Pro­ testantin; die Kinder wurden evangelisch erzogen. Ähnlich wie Glitsch ver­ lebte Jacobi eine materiell gesicherte Kindheit und pflegte ausgiebig musi­ sche Interessen: er spielte Geige, der familiären Überlieferung nach sogar einmal zusammen mit dem Komponisten und Dirigenten Max Reger. Nach dem Abitur auf dem Zittauer Gymnasium folgte allerdings ein Jurastudium, zunächst in München, dann in Leipzig. Wohl über einen Studienfreund und zunächst ohne besondere Neigung43 kam er zum kanonischen Recht. Er war unter den letzten Doktoranden des Leipziger »Staatskanonisten« Emil Fried­ berg (1837–1910) und wurde am 23. Dezember 1907 mit der Arbeit Der Einfluß der Exkommunikation und der delicta mere ecclesiastica auf die Fähigkeit zum Erwerb und zur Ausübung des Patronatsrechts44 promoviert. Anschließend wurde er sächsischer Referendar, arbeitete aber gleichzeitig an einer Habilitationsschrift im Umfeld von Sohm und Wach, die er im Som­ mer 1911 einreichte. Seit dem 29. Juli 1911 stand Jacobi in engerem Brief­ austausch mit Ulrich Stutz;45 insbesondere im Recht der Eigenkirche, die von germanistischen Kanonisten zu einer reformatorischen Kirche avant la lettre gemacht wurde, folgte er dem Schweizer Kanonisten.46 Stutz war 1910 der Leipziger Wunschkandidat für die Nachfolge Friedbergs gewesen, jedoch in dem finanziell gut ausgestatteten preußischen Bonn geblieben.47 Formell wurde Erwin Jacobi am 21. Oktober 1912 mit Patronate juristischer Personen48 für Kirchenrecht habilitiert. Er wohnte als junger Privatdozent in Leipzig (im Zentrum-Süd, anfangs Simsonstraße 11 III, später Mozartstraße 2 III); Gewandhaus, Reichsgericht und Universitätsbibliothek waren in Laufweite, auch Eugen Rosenstock-Huessy wohnte nicht weit entfernt. Mit diesem wie auch mit Walter Jellinek sollte Jacobi für den Rest seines Lebens den Kontakt halten.

43 Siehe dazu Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 18 f. 44 Erwin Jacobi, Der Einfluß der Exkommunikation und der delicta mere ecclesiastica auf die Fähigkeit zum Erwerb und zur Ausübung des Patronatsrechts, Leipzig 1908. 45 Nähere Nachweise bei Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 20–22. 46 Besonders deutlich in Erwin Jacobi, Kirchenrecht, in: Die Geisteswissenschaften 1914, 378–380. 47 Rolf Lieberwirth, Die Rechtshistoriker an der Leipziger Juristenfakultät in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, 391–402, hier 399. 48 Erwin Jacobi, Patronate juristischer Personen, Stuttgart 1912.

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Walter Jellinek Walter Jellinek wurde am 12. Juli 1885 in Wien geboren. Wie Jacobi war er jüdischer Herkunft und evangelisch getauft. Sein Vater, der österreichische Staatsrechtler Georg Jellinek (1851–1911), hatte Erfahrungen mit akademi­ schem Antisemitismus machen müssen und war außerplanmäßiger Professor für Staatsrecht in Wien. Seit 1891 war dieser Professor in Heidelberg, 1906/ 07 hatte er die Stellung des Prorektors inne – das Rektorat bekleidete bis 1918 der jeweilige Großherzog von Baden. Erst im hohen Alter ließ er sich in Nizza evangelisch taufen, wenn er auch bereits seit Längerem die jüdische Gemeinde verlassen hatte und evangelische Kirchensteuer zahlte.49 Eine besondere Freundschaft verband ihn seit 1872 mit Victor Ehrenberg.50 Als Georg Jellinek 1911 in Heidelberg starb, gehörte er jedoch zu den wichtigs­ ten Juristen des Kaiserreichs.51 Walter Jellinek war seinem Vater gefolgt und hatte sich ebenfalls für die Rechtswissenschaften und eine wissenschaftliche Laufbahn entschieden. Er studierte in Heidelberg, Freiburg im Breisgau und in Straßburg und wurde dort 1908 bei Paul Laband (1838–1918), dem »Meister des deutschen Staatsrechts«, promoviert.52 Erst 1911 kam er als Regierungsassessor nach Leipzig, war aber bereits über seinen Vater gut vernetzt. In Leipzig schloss er sich dem Verwaltungsrechtler Otto Mayer an, einem Freund von Rudolph Sohm.53 Mayer war einer der Begründer der deutschen Verwaltungsrechts­ wissenschaft, wobei er zahlreiche Anleihen beim französischen Recht nahm.54 Georg Jellinek hatte sich dagegen 1902 mit dem französischen Poli­ tikwissenschaftler Émile Boutmy (1835–1906) über den Ursprung der Grundrechte gestritten. Die Debatte war dabei nicht frei von nationalisti­ schen Untertönen gewesen,55 Jellinek hatte gegen einen romanischen

49 Siehe Martin Otto, Sanfter Eintritt Heidelberg 1894. Ein Konfessionsloser zahlt Kirchen­ steuer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. November 2005, 40; ferner Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000, 28–30. 50 Siehe Christian Keller (Hg.), Victor Ehrenberg und Georg Jellinek. Briefwechsel 1872– 1911 (Juristische Briefwechsel des 19. Jahrhunderts), Frankfurt a. M. 2005. 51 Siehe hierzu Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hgg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000. 52 Walter Jellinek, Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen. Eine verwaltungs- und prozessrechtliche Studie, Tübingen 1908 (Nachdruck 1958), 194. 53 Siehe Alfons Hueber, Otto Mayer. »Juristische Methode« im Verwaltungsrecht, Berlin 1982, 152 (mit weiteren Nachweisen). 54 Siehe Walter Pauly, Art. »Mayer, Otto«, in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biogra­ phisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, 418 f. 55 Vgl. Diethelm Klippel, La polémique entre Jellinek et Boutmy: Une controverse scientifi­ que ou un conflit de nationalismes? , in: Revue Française d’Histoire des Idées Politiques 2 (1995), H. 1, 79–94.

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Ursprung der Menschenrechte argumentiert.56 Der Sohn Walter wurde am 12. Oktober 1912 über Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitser­ wägung für Öffentliches Recht, Staatsrecht und Verwaltungsrecht bei Otto Mayer habilitiert.57 Bereits zum Sommersemester 1913 erhielt er den Ruf auf ein Extraordinariat in Kiel; Vorlesungen in Leipzig hielt er nie, die für das Semester vorgesehenen versicherungsrechtlichen Veranstaltungen an Ehrenbergs Institut musste Erwin Jacobi übernehmen. In Leipzig lebte er in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs, nicht weit von Heinrich Glitsch in der Bayrischen Straße. Enger war der Kontakt zu dem ebenfalls in der Nähe wohnenden Erwin Jacobi, mit dem sich ein »Nachhausebegleitverein« bil­ dete.58 Auch Jacobi zählte wie Jellinek zum Schülerkreis Otto Mayers.

Eckard Meister Eckard Meister war nur wenige Monate jünger als Walter Jellinek. Er wurde am 19. Oktober 1885 in Leipzig geboren – war also der einzige gebürtige Leipziger im »Habilitandenjahrgang 1912« – und kam aus einem akademi­ schen Milieu. Sein Vater Richard Meister (1848–1912) war Konrektor und Professor am berühmten Leipziger Nikolaigymnasium. Der klassische Phi­ lologe hatte sich einen Namen als Erforscher altgriechischer Dialekte gemacht59 und war Mitglied der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaf­ ten. Der Großvater Carl August Meister (1818–1876) war Hofschauspieler in Dresden, die Großmutter entstammte der sächsischen Adelsfamilie von Friesen. Zwei ältere Brüder wurden ebenfalls Professoren, nämlich Karl (1880–1963) für Altphilologie in Heidelberg60 und Edwin (1884–1978) für Textil- und Papiertechnik in Dresden. Der jüngere Bruder Ludwig (1889– 56 Siehe Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. unter Verwertung des handschriftlichen Nach­ lasses, durchgesehen und ergänzt von Walter Jellinek, München/Leipzig 1919. 57 Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Studie (Habil., Universität Leipzig, 1912); spätere Buchausgabe erschienen als ders., Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitser­ wägung. Zugleich ein System der Ungültigkeitsgründe von Polizeiverordnungen und -ver­ fügungen. Eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung, Tübingen 1913. 58 Erwin Jacobi, In Memoriam Walter Jellinek. Rede in der Gedenkstunde der Universität Heidelberg am 11.11.1955 gehalten, Heidelberg o. J [1955], 7. 59 Karl Brugmann, Zur Erinnerung an Richard Meister, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. PhilosophischHistorische Klasse 65 (1913), H. 4, 221–228. 60 Für nähere Angaben zur Familie siehe auch Hubert Petersmann, Art. »Meister, Karl«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, 727 f.

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1914) war Privatdozent für Altphilologie, er fiel in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs. Eckard Meister studierte nach dem Abitur an der Nikolai­ schule in Leipzig und Berlin Rechtswissenschaften; in Berlin gehörte er zum Umfeld des Rechtshistorikers Heinrich Brunner. Die zivilprozessuale Dissertation erfolgte am 30. März 1911 bei dem »Prozeßrechtspapst« Wach,61 einem der angesehensten Leipziger Professoren.62 Die Arbeit erschien in den von Wachs Schwiegersohn Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (1874–1936) herausgegebenen Würzburger Abhandlungen zum deutschen und ausländischen Prozeßrecht. Zusammen mit Sohm regte Wach die rechtshistorische Arbeit Ostfälische Gerichtsverfassung im Mittelalter63 an, mit der Meister sich am 28. Oktober 1912 in Leipzig habilitierte. Daraufhin erhielt er eine Venia Legendi für Deutsche Rechtsgeschichte und Deutsches Privatrecht. In der Festschrift für Adolf Wach verfasste er eine dritte deutschrechtliche Abhandlung über Fahrnisverfolgung und Unterschlagung im deutschen Recht.64 Gemeinsam mit Hans Peters, einem weiteren Angehö­ rigen des »Habilitandenjahrgangs 1912«, schrieb er an einem Buch zum Kartellrecht,65 einem Thema von damals hoher Aktualität.66 Im Winterse­ mester 1913/14 gab er eine Vorlesung zum Patentrecht. Meisters Elternhaus befand sich im Zentrum-Süd (Dufourstraße 21 III A), auch er hatte dort sei­ nen Wohnsitz. Hier erhielt er im Juli 1914 einen Ruf an die Universität Basel auf einen außerordentlichen Lehrstuhl für deutsche Rechtsgeschichte und deutsches Privatrecht.67 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete Meis­ ter sich freiwillig als Reserveoffizier. Am 8. November 1914 fiel er als Kom­ paniechef vor Ypern, zwei Tage später folgte ihm sein jüngerer Bruder Lud­ wig nach.68 Begraben wurde er auf dem Soldatenfriedhof in Langemarck.

61 Dagmar Unger, Adolf Wach (1843–1926) und das liberale Zivilprozessrecht, Berlin 2005. 62 Eckard Meister, Die Veräusserung in Streit befangener Sachen und Abtretung rechtshän­ giger Ansprüche nach § 265 ZPO, Leipzig 1911. 63 Ders., Ostfälische Gerichtsverfassung im Mittelalter (unveröff. Diss., Universität Leipzig, 1912); in Buchform erschienen als ders., Ostfälische Gerichtsverfassung im Mittelalter, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1912. 64 Ders., Fahrnisverfolgung und Unterschlagung im deutschen Recht, in: Alois Kolb, Fest­ schrift für Adolf Wach, 3 Bde., hier Bd. 3, Leipzig 1913, 403–484. 65 Siehe Hans Planitz, Eckard Meister, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsge­ schichte. Germanistische Abteilung 36 (1915), LVI–LIX, hier LVIII. 66 Siehe hierzu Matthias Maetschke, Ursprünge der Zwangskartellgesetzgebung. Der Ent­ wurf eines Gesetzes über den Absatz von Kalisalzen vom 12. Dezember 1909, BadenBaden 2008. 67 Deutsches Biographisches Jahrbuch, hg. vom Verbande der Deutschen Akademien, 10 Bde., Stuttgart/Berlin 1925–1931, hier Bd. 1: 1914–1916, Stuttgart 1925, 335. 68 Siehe o. A., Zum Andenken an Eckard und Ludwig Meister. Geboren zu Leipzig am 19. Oktober 1885 und 19. Mai 1889. Gefallen bei Ypern am 8. und 10. November 1914, Leipzig 1914; Karl Meister/Richard Meister, Zur Erinnerung an unsere Brüder Eckard und Ludwig, Leipzig 1915.

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Auf dem am 31. Oktober 1924 eingeweihten, von August Gaul und Max Esser gestalteten Kriegerdenkmal der Universität Leipzig in der Paulinerki­ che war er als »Dr. jur. Doz. d. Rechte Prof. des.« verzeichnet.69

Hans Peters Der Eckard Meister besonders verbundene Hans Peters wurde am 19. Juli 1886 in Hannover geboren. Der Vater Peter Peters war Oberlehrer und Gym­ nasialprofessor in Hannover, auch die Mutter Martha, geborene Meyer, stammte aus einer Lehrerfamilie.70 Peters bestand 1904 an der Leibnizschule in Hannover das Abitur und ging zum Studium nach Straßburg. Er studierte sowohl Rechtswissenschaften als auch Klassische Philologie, wechselte aber 1905 nach Halle und damit vollständig zur Rechtswissenschaft. Ein wichti­ ger Lehrer für ihn war Rudolf Stammler (1856–1938). Zum April 1906 wechselte er nach Berlin und gehörte dort zum engeren Umfeld des Straf­ rechtlers Franz von Liszt (1851–1919) und der romanistischen Juristen Emil Seckel (1864–1924) und Theodor Kipp (1862–1931). Bereits als Student arbeitete er an der dritten Auflage der Quellengeschichte von Kipp mit.71 1907 kehrte er nach Halle zurück und kam dort in Kontakt zu dem Romanis­ ten und Prozessualisten Friedrich Stein (1859–1923);72 diesem folgte er nach dem preußischen Referendarexamen vor dem Oberlandesgericht Naumburg 1908 nach Leipzig. Dort gehörte er dem Seminar von Ludwig Mitteis (1859–1921) an. Er arbeitete im Vorfeld seiner Promotion auch wissen­ schaftshistorisch über die Manuscripta Brenkmanniana, die in der Universi­ tätsbibliothek Göttingen aufbewahrten Papiere des Göttinger Pandektisten Heinrich Brenkmann (1680–1736).73 Dabei befasste er sich kritisch mit dem Rechtswissenschaftler Hermann Kantorowicz (1877–1940), RosenstockHuessys späterem Schwager, und dessen Ausführungen zur Entstehung der Digestenvulgata. Am 14. Dezember 1911 wurde er für den Aufsatz Gene­ 69 Siehe o. A., August Gauls Kriegerdenkmal vollendet von Max Esser, der Universität Leip­ zig gestiftet von Heinrich Toelle. Vier Lichtdrucktafeln mit dem Verzeichnis der Gefalle­ nen und dem Berichte der Universität über die Enthüllungsfeier am 31. Oktober 1924, Leipzig 1925. 70 Mitteis, Hans Peters, VII. 71 Theodor Kipp, Geschichte der Quellen des Römischen Rechts, 3., vermehrte und verbes­ serte Aufl., Leipzig 1909, 1. 72 Zu Stein siehe Ekkehard Becker-Eberhard, Friedrich Stein als Wegbereiter eines öffent­ lich-rechtlichen Verständnisses der Zwangsvollstreckung, in: Festschrift der Juristenfa­ kultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 123–138. 73 Hans Peters, Brenkmanns Papiere zu Göttingen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. 32 (1911), 370–378.

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relle und spezielle Aktionen74 in Leipzig durch Mitteis zum Dr. iur. promo­ viert; vorangegangen war ein Angebot an den jungen Nachwuchswissen­ schaftler aus Berlin. Wenig später wurde Peters eine sehr günstige Habilita­ tionsmöglichkeit in Göttingen in Aussicht gestellt – der Wettbewerb zwischen der sächsischen Landesuniversität und den preußischen Universi­ täten trat in seinem Fall besonders deutlich zutage. Rückblickend schrieb Ludwig Mitteis: »Auch diesmal noch gelang es, das freundschaftliche Attentat auf unsern Besitz zu paralysieren, da die Leipziger Juristenfakultät, im Interesse höherer Zweckmäßigkeit von den Schablonen absehend, sich entschloß, Peters auf Grund seiner Dissertation zur Privatdozentur zuzulassen.«75

Peters wurde am 18. Juli 1912 habilitiert und erhielt eine Venia für Römi­ sches Recht. Somit war Hans Peters der einzige Angehörige des »Habilitan­ denjahrgangs 1912«, der keine Habilitationsschrift vorweisen konnte. Dafür war er der erste Ordinarius. Im April 1914 wurde er an die gerade gegrün­ dete Universität in Frankfurt am Main berufen: er war 28 Jahre alt und damit der jüngste deutsche Ordinarius – das zweite romanistische Ordinariat bekleidete Paul Koschaker (1879–1951).76 Peters galt als Wunderkind, noch im Wintersemester 1912/13 hatte er einen großen Teil der Seminarübungen von Mitteis übernehmen müssen. Für 1914 war ein Forschungsaufenthalt zum Quellenstudium in Paris geplant. Auch versuchte er sich im geltenden Recht zu profilieren; gemeinsam mit Eckard Meister hielt er ab dem Winter­ semester 1913/14 eine Übung über Kartelle, Syndikate und Trusts, aus der ein Lehrbuch entstehen sollte.77 Nach Kriegsausbruch, im August 1914, mel­ dete sich Peters gemeinsam mit dem Papyrologen Gerhard Plaumann frei­ willig,78 obwohl er, anders als Plaumann, nur landsturmtauglich und kein Reserveoffizier war.79 Er erstritt sich förmlich seine Fronttauglichkeit, wurde zum Unteroffizier und am 6. Juni 1915 schließlich zum Leutnant befördert und zunächst im Westen, später im Osten eingesetzt. Seine Kriegsbriefe,

74 Ders., Generelle und spezielle Aktionen, in: ebd., 179–307. 75 Mitteis, Hans Peters, IX. 76 Siehe Bernhard Diestelkamp, Zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main, in: ders./Michael Stolleis (Hgg.), Juristen an der Universität Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, 9–30, hier 10; ferner Hans Planitz, in: Nikolaus Grass (Hg.), Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 2 Bde., hier Bd. 2, Innsbruck 1951, 126–138. 77 Mitteis, Hans Peters, XI. Siehe auch die obenstehenden Ausführungen zu Meister. 78 Siehe zu Hans Peters und dem gesamten Komplex: Jürgen von Ungern-Sternberg, Deut­ sche Altertumswissenschaftler im Ersten Weltkrieg, in: Trude Maurer (Hg.), Kollegen, Kommilitonen, Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2006, 239–254, bes. 240. 79 Mitteis, Hans Peters, XII.

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von Mitteis überliefert, erlauben Einblicke in die Mentalität des »Habilitan­ denjahrgangs 1912«. Fast liest es sich wie ein Klischee, wenn Peters »im Schützengraben Goethes Faust und Hegels Rechtsphilosophie« gelesen haben soll,80 aber er verfasste im Schützengraben sogar eine wissenschaftli­ che Abhandlung.81 In diesem im psychologischen Jargon gehaltenen Auf­ satz, erschienen in der Zeitschrift des Leipziger Juristen Richard Schmidt (1862–1944),82 beschrieb er die Frontgemeinschaft als Überwindung des Klassenkampfes: »Klassen, die auf besonderem Gefühl beruhen, können sich nur auf Grund von Arbeitsteilung bilden – die technische Verschieden­ heit der Waffe ist keine Arbeitsteilung, die einen psychologischen Grund zur Klassenabsonderung gäbe.«83 Er distanzierte sich von chauvinistischer Kriegslyrik wie etwa Ernst Lis­ sauers Gott strafe England:84 »Haßgesänge à la Lissauer sind an der Front völlig unverständlich.«85 Für Peters war der Krieg ein Volkserzieher: »Er schuf uns kein neues Volk, aber in denen, die aus der Front heimkehren die repentina atque ex virtute nobilitas.«86 Etwa zur gleichen Zeit schrieb er in seinen Kriegsbriefen: »Hier bildet sich das neue Deutschtum und ich bin dabei.«87 Es liegt nahe, von hier eine direkte Linie zu Rosenstock-Huessy und den Arbeitslagern in Löwenberg zu ziehen; die »Volksgemeinschaft« im Schützengraben war nach 1918 ein Argument für gesellschaftliche Demo­ kratisierung.88 Schwer verständlich aus heutiger Sicht ist es, wenn der junge Infanterieleutnant am 26. Juli 1915 mit Blick auf das Ufer des polnisch80 Ebd., XIII. 81 Hans Peters, Vom Leben in der Front, in: Zeitschrift für Politik 8 (1915), 575–578. 82 Zu Schmidt siehe Thomas Duve, Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900. Historisch-systematische Untersuchung des Lebens und Werks von Richard Schmidt (1862–1944) und der Methodenentwicklung seiner Zeit, Ebelsbach 1998. 83 Peters, Vom Leben in der Front, 576. 84 Ernst Lissauer, geboren 1882 in Berlin, vertrat die Ansicht, die Juden seien kein Volk mehr, sondern ständen vor der »Einwurzelung« in das deutsche Volk. Er selbst, aus einem jüdischen Elternhaus kommend, lehnte die Taufe jedoch ab. Während des Ersten Welt­ kriegs positionierte er sich extrem chauvinistisch und patriotisch. 1924 zog er nach Wien, wo er 1937 verstarb. Siehe Renate Heuer, Art. »Lissauer, Ernst«, in: Neue Deutsche Bio­ graphie, hier Bd. 14, Berlin 1985, 690 f. 85 Peters, Vom Leben in der Front, 577. Ein von Peters bevorzugter Lyriker war dagegen Richard Dehmel, den er auch ausführlich zitierte, z. B. Lied an alle und Der Frontsoldat. 86 Ebd., 578. Das lateinische Zitat ist entnommen Livius, Ab urbe condita, I, 34, 3: »in novo populo, ubi omnis repentina atque ex virtute nobilitas« (»in einem neuen Volke, wo aller Adel noch jung und bloß durch Verdienst erworben«). 87 Mitteis, Hans Peters, XIII. 88 Siehe hierzu Wolfram Pyta, Welche Erwartungen weckte die Weimarer Verfassung und welche Erfahrungen vermittelte sie an die Gründerväter der Bundesrepublik Deutsch­ land?, in: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen, Erfurt 2009, 51–72.

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weißrussischen Flusses Narew schreibt: »Wir sind herrlicher Stimmung. Ungeheure Angriffslust. Wir wollen den Narewübergang erzwingen. Das sind die größten Aktionen des östlichen Kriegsschauplatzes und wir sind dabei. – Dies gehört zu den glücklichsten Stunden meines Lebens.«89 Am 5. August 1915 erlag Hans Peters nahe der polnischen Stadt Ostrołęka in Masowien einem Kopfschuss. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem dortigen Soldatenfriedhof. In der Nähe eingesetzt war auch der MitteisSchüler und spätere Freiburger Romanist Fritz Pringsheim (1882–1967),90 der Peters einen Nachruf in der konservativen Kreuzzeitung widmete.91 An Peters sei »viel Preußisches gewesen«, er »wollte keine Stufe zwischen sich und den untersten Soldaten«, es habe ihm mehr bedeutet, preußischer Offi­ zier zu sein als Frankfurter Universitätsprofessor.92 Die liberale Frankfurter Zeitung druckte einen weiteren Nachruf aus der Feder des Freiburger roma­ nistischen Rechtswissenschaftlers Otto Lenel (1849–1935).93 Die bis heute in situ vorhandene Gefallenentafel der Frankfurter Universität im Jügelhaus verzeichnet den Namen Hans Peters an vorderster Stelle. In Leipzig wohnte er vor dem Umzug nach Frankfurt im Haus seines »väterlichen Freundes« Friedrich Stein (Zentrum-Süd, Ferdinand-Rhode-Straße 28 II) in der Nähe von Reichsgericht und Gewandhaus.

Eugen Rosenstock-Huessy Eugen Rosenstock-Huessy, 1888 in dem Berliner Vorort Steglitz als Eugen Rosenstock geboren, war das jüngste Mitglied des »Habilitandenjahrgangs 1912« – immer wieder wurde betont, dass er der »jüngste deutsche Privatdo­ zent« sei.94 Neben Jacobi und Jellinek gehörte er zu den Überlebenden des Jahrgangs, anders als diese und auch Glitsch hatte er bei Kriegsende aber weder einen Lehrstuhl noch ein Extraordinariat in Aussicht. RosenstockHuessy hatte nach dem Abitur am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, wo der Hans Peters eng verbundene Theodor Kipp 1905/06 zu seinen 89 Mitteis, Hans Peters, XIV. 90 Zu Pringsheim, auch mit näheren Hinweisen zu Hans Peters, siehe Tony Honoré, Fritz Pringsheim (1882–1967), in: Jack Beatson/Reinhard Zimmermann (Hgg.), Jurists Uproo­ ted. German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-Century Britain, Oxford 2004, 205– 232. 91 Fritz Pringsheim, Gesammelte Abhandlungen, 2 Bde., hier Bd. 1, Heidelberg 1961, 19 f. 92 Ebd., 19. 93 Deutsches Biographisches Jahrbuch, hier Bd. 1, 335. 94 Siehe etwa Hans-Ulrich Wehler, Eugen Rosenstock-Huessys Europäische Revolutionen, in: ders., Land ohne Unterschichten? Neue Essays zur deutschen Geschichte, München 2010, 167–169, hier 167.

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Lateinlehrern zählte,95 Rechtswissenschaft und Geschichte in Zürich, Hei­ delberg und Berlin studiert. Dort gehörte er seit Juni 1909 zu den Teilneh­ mern des Seminars des Rechtshistorikers Karl Zeumer (1849–1914).96 In Heidelberg fand er in Richard Schröder einen Doktorvater,97 zu dessen Umfeld auch Heinrich Glitsch gehörte. Schröder verband eine enge Freund­ schaft mit Ulrich Stutz, den er 1897 zu seinem Nachfolger in der einflussrei­ chen Position des Herausgebers der Savigny-Zeitschrift gemacht hatte.98 Am 28. Februar 1910 wurde Rosenstock-Huessy in Heidelberg mit der Arbeit Landfriedensgerichte und Provinzialversammlungen vom neunten bis zwölf­ ten Jahrhundert promoviert. Die Arbeit wurde von dem Stutz nahestehenden Stuttgarter Oberarchivassessor Adolf Pischek verhältnismäßig kritisch in der Savigny-Zeitschrift besprochen: das Buch werde »seinem Titel nach leicht Hoffnungen erwecken, die es nicht erfüllt«,99 einem Kapitel wurden »allzu bunte[-], doch nicht uninteressante[-] Erörterungen« bescheinigt.100 Die im Juni 1910 in Berlin fertiggestellte Buchfassung erschien wenig später unter dem Titel Herzogsgewalt und Friedensschutz in der von Otto von Gierke herausgegebenen Buchreihe Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte. Noch im fortgeschrittenen Alter schrieb RosenstockHuessy von seiner »ehrfürchtige[n] Beziehung zu Otto v. Gierke«, um des­ sen Korporationslehre all sein »politisches Sinnen« gekreist habe und der sein erstes Buch, die »unschuldige Dissertation«, »in die Welt« eingeführt

195 Jonas Flöter, Eliten-Bildung in Sachsen und Preußen. Die Fürsten- und Landesschulen Grimma, Meißen, Joachimsthal und Pforta (1868–1933), Köln/Weimar/Wien 2009, 514 (mit weiteren Nachweisen). 196 Eugen Rosenstock, Vorwort, in: ders., Herzogsgewalt und Friedensschutz. Deutsche Pro­ vinzialversammlungen des 9.–12. Jahrhunderts, Breslau 1910, I. Zu Zeumer siehe bes. Adalbert Erler, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann und Wolfgang Stammler, 5 Bde., Berlin 1971–1998, hier Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 1697–1699. Zu Zeumers Rolle als Lehrer von Rudolf Smend siehe Duchhardt, Rudolf Smend und der »2. Band«, in: Rechtsgeschichte. Zeitschrift des MaxPlanck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte 19 (2011), 89–95, hier 90. 197 Knappe Hinweise auch bei Klaus-Peter Schroeder, »Eine Universität für Juristen und von Juristen«. Die Heidelberger Juristische Fakultät im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2010, 277. 198 Ebd., 276. 199 Adolf Pischek, Dr. Eugen Rosenstock, Herzogsgewalt und Friedensschutz, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 32 (1911), 484– 486, hier 484. Die Dissertation von Pischek wurde von Stutz in der Savigny-Zeitschrift ungewöhnlich umfangreich und wohlwollend besprochen: sie gehöre »zum Besten und Wichtigsten, was die rechtshistorische Literatur in letzter Zeit gebracht hat«. Siehe Ulrich Stutz, Adolf Pischek, Oberarchivassessor in Stuttgart, Die Vogtgerichtsbarkeit süddeut­ scher Klöster in ihrer sachlichen Abgrenzung während des frühen Mittelalters, in: Zeit­ schrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 28 (1907), 557–565, hier 563. 100 Pischek, Dr. Eugen Rosenstock, Herzogsgewalt und Friedensschutz, 486.

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habe.101 Zu den Juristen, die sich der Genossenschaftslehre – bei Rosen­ stock-Huessy »Korporationslehre« genannt – von Gierkes besonders eng anschlossen, gehörte auch Rudolph Sohm.102 Als Herausgeber zahlreicher Stammesrechte im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica war Sohm mit zahlreichen Heidelberger und Berliner Forschern wie Zeumer oder Seckel verbunden. Auch Rosenstock-Huessys Leipziger Habilitation Ostfa­ lens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Mit Beiträgen zur Magdeburgischen Verfassungsgeschichte, die Sohm betreute, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Offenkundig waren auch die Bezüge zur gleichzeitig ent­ standenen Arbeit von Eckard Meister, auf die Rosenstock-Huessy aber nicht weiter eingegangen war. Am 10. Oktober 1912 wurde Rosenstock-Huessy habilitiert und erhielt eine Venia für Deutsches Privatrecht und Rechtsge­ schichte. Die im gleichen Jahr erschienene Buchausgabe der Habilitations­ schrift widmete er dem Berliner Althistoriker Johannes Vahlen (1830– 1911).103 Von Gierkes Sohn Julius, ein Schüler Ehrenbergs und Professor für Handelsrecht und Rechtsgeschichte in Königsberg, besprach sie umfang­ reich, doch in der Tendenz negativ. »Es ist klar, daß wir vielen dieser Ausführungen nicht zustimmen können, weil wir bereits den Grundlagen, auf denen sie aufgebaut sind, widersprechen mußten. Aber auch das, was der Verfasser hier des weiteren an Neuem bietet, ist m. E. größtenteils weder bewiesen, noch auch hinreichend wahrscheinlich gemacht.«104

Diese Kritik dürfte Rosenstock-Huessy ganz sicher nicht gefallen haben, zumal er für den Rezensenten kein Unbekannter war. Umfangreich hatte er auch rechtshistorische Forschungen von Jellineks Doktorvater Paul Laband in seine Studie einbezogen.105 Als Privatdozent gab Rosenstock-Huessy in Leipzig fast ausschließlich Veranstaltungen zur Rechtsgeschichte und zur

101 Eugen Rosenstock-Huessy, Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers, in: ders., Ja und Nein. Autobiographische Fragmente aus Anlass des 80. Geburtstages des Autors im Auftrag der seinen Namen tragenden Gesellschaft, hg. von Georg Müller, Heidelberg 1968, 119–126, hier 120. 102 Peter Landau, Otto von Gierke und das kanonische Recht, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hgg.), Die deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit. Ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, Tübingen 1995, 77–94, hier 88. 103 Eugen Rosenstock, Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchun­ gen, Weimar 1912. 104 Julius von Gierke, Eugen Rosenstock, Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II., Texte und Untersuchungen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germa­ nistische Abteilung 34 (1913), 541–551, hier 550. 105 Magdeburger Rechtsquellen. Zum akademischen Gebrauch, hg. von Paul Laband, Königsberg 1869. Für Rosenstock-Huessys Auseinandersetzung damit siehe ders., Ostfa­ lens Rechtsliteratur unter Friedrich II., 13 f. Die Rezeption des rechtshistorischen Früh­ werks Labands war und ist ungewöhnlich.

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Staatslehre; lediglich eine Vorlesung zum »Deutschen Landesprivatrecht« im Wintersemester 1913/14 fiel aus diesem Rahmen heraus. Eugen Rosenstock-Huessy war gut in das Netzwerk seines Habilitanden­ jahrgangs eingebunden. Das legendäre »Nachtgespräch« fand in der Bis­ marckstraße 8 I im Haus von Victor Ehrenberg statt, dessen Sohn Rudolf (1884–1969) ein Freund Rosenstock-Huessys war. Franz Rosenzweig (1886–1929), Teilnehmer des Gesprächs, und Victor Ehrenberg waren ver­ wandt; ein gemeinsamer Vetter, der Philosoph und spätere evangelische Pfarrer Hans Ehrenberg (1883–1958), stand Rosenzweig besonders nahe. Er hatte bei Walter Jellineks Vater in Heidelberg studiert und auch an dessen Beerdigung teilgenommen.106 Rosenzweig war ein Heidelberger Doktorand des Philosophen Wilhelm Windelband (1848–1915), dieser wiederum der Schwiegervater des schweizerischen Kirchenrechtlers Ulrich Stutz.107 Insbe­ sondere Erwin Jacobi hatte sich eng an Stutz orientiert; allerdings brach der Kontakt nach dem Ersten Weltkrieg ohne klar erkennbaren Grund ab. Auch Rosenstock-Huessy hatte kein einfaches Verhältnis zu Stutz.108 Schließlich waren die negativen Besprechungen seiner Arbeiten in der von Stutz heraus­ gegebenen Savigny-Zeitschrift erschienen und, wichtiger noch, sie stammten aus der Feder von Stutz nahestehenden Autoren. Wiederholt war dabei auf die Richtigkeit der Ausführungen von Stutz verwiesen worden. Dies traf auch auf die Besprechung von Königshaus und Stämme in Deutschland zwi­ schen 911 und 1250 zu: Der junge Bonner Historiker Werner Platzhoff109 hatte »immer wieder« beobachtet, »daß Rosenstock aus seinen Quellen mehr herauszulesen sucht als darin steht« und bedauert, »daß Rosenstock sich von seinem Scharfsinn und seiner großen Kombinationsgabe so sehr zum Konstruieren hat verleiten lassen.«110

106 Zur Freundschaft von Victor Ehrenberg und Georg Jellinek siehe Keller, Victor Ehrenberg und Georg Jellinek. 107 Zu Stutz siehe Katrin Bayerle, Ulrich Stutz. Von der Eigenkirche zur »hinkenden Tren­ nung zwischen Kirche und Staat«, in: Thomas Holzner/Hannes Ludyga (Hgg.), Entwick­ lungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts. Ausgewählte begriff­ lich-systematische, historische, gegenwartsbezogene und biographische Beiträge, Paderborn u. a. 2013, 505–518. 108 So bezeichnete er ihn 1968 als »tauben und blinden Papst der Rechtsgeschichte«, als »see­ lentaub« und als »eine[n] jener Akademikertypen, die es unvermeidlich gemacht haben, daß unser armes Volk auf die Hitlers hereinfallen mußte«. Siehe Rosenstock-Huessy, Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers, 119 f. 109 Zu Platzhoff siehe Carsten Kretschmann, Einsatz für Deutschland? Frankfurter Historiker im »Dritten Reich«, in: Jörn Kobes/Jan-Otmar Hesse (Hgg.), Frankfurter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1945, Göttingen 2008, 5–32. 110 Werner Platzhoff, Dr. Eugen Rosenstock, Privatdozent an der Universität Leipzig, Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 35 (1914), 524–527,

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Allerdings war auch Erwin Jacobi tendenziell ähnlich besprochen wor­ den.111 Ausgesprochen wohlwollend fiel dagegen eine Rezension Meisters durch den Stutz ebenfalls verbundenen Privatdozenten Claudius Freiherr von Schwerin (1880–1944) aus112 sowie eine weitere durch Stutz selbst.113 In Leipzig bestand der Freundeskreis ἔρανος (griech.: Kranz), dem neben Rosenzweig und Rosenstock-Huessy auch Jacobi und Peters angehörten. Königshaus und Stämme wurde hier im ersten Entwurf diskutiert.114 Beson­ ders eng gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Rosenstock-Huessy und Heinrich Glitsch. Der Schweizer Freund las den ersten Teil, in der Buchfassung mit dem Titel Das Königtum, im Entwurf und war wiederholt Gesprächspartner für »die Probleme des Herrenstandes und der Gerichtsver­ fassung«.115 Zu der Zusammenarbeit mit Glitsch bekannte sich RosenstockHuessy ausdrücklich: »In diesem wechselseitigen Geben und Nehmen haben wir auf die Priorität einzelner Gesichtspunkte nicht ängstlich Obacht gegeben. Um so mehr muß ich hier betonen, daß Veröffentlichungen über die genannten Fragen aus seiner [Heinrich Glitschs] Feder nicht etwa erst von meiner Schrift hervorgerufen oder gar abhängig sind.«116

»Bis ins Einzelne« habe schließlich Hermann Kantorowicz das Buch »geprüft und beurteilt«.117 Ein formelles Prüfungsverfahren bezeichnete dies nicht, denn Kantorowicz war zu diesem Zeitpunkt gerade erst zum außeror­

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hier 527. Das Buch von Stutz über den Erzbischof von Mainz biete »mehr Aufschluß, als Rosenstock daraus geholt hat.« Siehe ebd. Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 21 f. Gierke hatte Jacobi in der Savigny-Zeitschrift u. a. fehlende Auseinandersetzung mit dem »Genossenschaftsrecht« seines Vaters vorgeworfen. Siehe Julius von Gierke, Jacobi, Erwin, Patronage juristischer Personen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abtei­ lung 3 (1913), 593–606, hier 600–602. Claudius Freiherr von Schwerin, Dr. jur. Eckard Meister, Privatdozent an der Universität Leipzig, Ostfälische Gerichtsverfassung im Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stif­ tung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 34 (1913), 587–591. Zu Schwerin, Schüler Karl von Amiras und später dessen Nachfolger in München, siehe Wolfgang Simon, Claudius Freiherr von Schwerin. Rechtshistoriker während dreier Epochen deut­ scher Geschichte, Frankfurt a. M. u. a. 1991. Ulrich Stutz, Dr. Eckard Meister, Privatdozent an der Universität zu Leipzig, Fahrnisver­ folgung und Unterschlagung im deutschen Recht. Aus der Festschrift für Adolf Wach, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 34 (1913), 726–734. Die Besprechung ist insoweit aufschlussreich, als Stutz Meisters Beitrag für die Wach-Festschrift nicht zustimmt, wiederholt aber den Leistungen seiner Habilita­ tionsschrift, »einer fast in jeder Beziehung voll befriedigenden Lösung«, und betont, Meister werden »neue große Erfolge sicher« sein. Siehe ebd., 727 und 734. Eugen Rosenstock-Huessy, Vorwort, in: ders., Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250, Leipzig 1914, V–VII, hier VI. Ebd. Ebd. Ebd., VII.

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dentlichen Professor in Freiburg berufen worden – er war allerdings der Schwager von Eugen Rosenstock-Huessy. Nach dem Vorwort der Studie hatte dieser Königshaus und Stämme am 18. März 1914 in »San MiniatoFlorenz« abgeschlossen. Während dieses Studienaufenthalts 1913/14 in Flo­ renz hatte Eugen Rosenstock seine Frau Margrit Huessy kennengelernt. Sie heirateten am 29. Juni 1914 in Leipzig nach seiner Rückkehr. Neben Erwin Jacobi und dem 1914 habilitierten Guido Kisch (1889–1985) war Rosen­ stock-Huessy als dritter »ständiger Hilfsarbeiter« an dem von Kischs Lehrer Adolf Wach geleiteten Staatlichen Forschungsinstitut für Rechtsgeschichte vorgesehen.118

Das letzte Friedenssemester Im Leipziger Vorlesungsverzeichnis zum Sommer 1914, dem letzten Semes­ ter vor Kriegsausbruch, präsentierte sich der »Habilitandenjahrgang 1912« ein letztes Mal – nur Jellinek war bereits Extraordinarius in Kiel. Peters war Ordinarius in Frankfurt am Main, las aber noch Entwicklung des Pandekten­ rechts seit der Rezeption (ausgewählte Lehren). Eckard Meister, bereits nach Basel berufen, las Urheber- und Verlagsrecht, Erwin Jacobi hatte die Veran­ staltungen zum Recht der Arbeiter- und Angestelltenversicherung sowie zum Arbeiterschutzrecht von Jellinek übernommen. Den zivilrechtlichen Teil des Arbeitsrechts deckte Heinrich Glitsch mit seiner Vorlesung Arbeits­ vertragsrecht ab. Jacobi las zusätzlich Deutsches Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des sächsischen und preußischen Verwaltungs­ rechts und hielt mit Otto Mayer Übungen im deutschen Staatsrecht. Über­ proportional vertreten war die Rechtsgeschichte: Glitsch las Übungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Meister ebenfalls, und Rosenstock-Huessy trug Lektüre des Sachsenspiegels vor. Zusätzlich bot er die Veranstaltung Die Staatstheorien der Gegenwart an, Peters und Meister hielten Übungen im bürgerlichen und Handelsrecht (Kartelle, Syndikate, Trusts), Erwin Jacobi zusammen mit Victor Ehrenberg Gemeinschaftliche versicherungswissen­ schaftliche Übungen.

118 So jedenfalls Guido Kisch, Der Lebensweg eines Rechtshistorikers, Sigmaringen 1975, 63.

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Die »Überlebenden« Wenig später brach der Krieg aus; Meister und Peters fielen im ersten Kriegsjahr. Die »Einjährig-Freiwilligen« Rosenstock-Huessy und Jellinek wurden als Reserveoffiziere eingezogen, beide zur Artillerie. Während des Krieges kam es zu einer Begegnung Jellineks mit Jacobi, doch mittlerweile war eine gewisse Distanz eingetreten.119 Erst nach dem Krieg wurde das Ver­ hältnis wieder enger; dann wurde Jacobi auch Patenonkel eines Sohnes von Jellinek.120 Jacobi war herzkrank und nur landsturmtauglich, wurde aber zu verschiedenen Tätigkeiten »mit Gewehr und Feder« verpflichtet, unter ande­ rem als juristischer Lehrer des sächsischen Kronprinzen Georg; stolz berich­ tete er davon Ulrich Stutz.121 1916 wurde er, nach einer Nachhabilitation für Staatsrecht,122 in Leipzig zum Extraordinarius ernannt. Rosenstock-Huessy war von allen dem »Habilitandenjahrgang 1912« Angehörenden am längs­ ten Soldat. Zwischen Jacobi und Rosenstock-Huessy brach der Kontakt nie ganz ab; sie gebrauchten durchgehend das bei Jacobi seltene »Du«. Rosen­ stock-Huessy hielt am 21. Februar 1919 seine Leipziger Abschiedsvorlesung Deutschlands Staatenwesen und der Völkerbund, er sympathisierte mit der Münchner Räterepublik. Jacobi setzte am 9. August 1919 ziemlich nüchtern dagegen: »Ordnung um der Ordnung willen« sei vonnöten; vor RosenstockHuessys »Gerechtigkeitsrichtern« graue ihm.123 Jacobi wurde 1920 Profes­ sor in Greifswald,124 kehrte aber nach einem Semester auf die Nachfolge Otto Mayers nach Leipzig zurück; er gründete ein Institut für Arbeitsrecht, zu dessen ersten Mitarbeitern bis zu seinem Tod auch Heinrich Glitsch gehörte. Jellinek war seit 1919 ordentlicher Professor in Kiel. Über Umwege wurde Rosenstock-Huessy schließlich 1923 Professor für Deutsche Rechts­

119 Jacobi, In Memoriam Walter Jellinek, 7. 120 Siehe dazu Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 177–179. 121 Ebd., 32. Postkarte abgebildet in ders. (Hg.), »Es ist eigenartig, wie unsere Gedanken sich begegnen.« Erwin Jacobi und Carl Schmitt im Briefwechsel 1926 bis 1933, in: Schmit­ tiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts N. F. 1 (2011), 33–57, hier 35. 122 In Buchform erschienen als Erwin Jacobi, Der Rechtsbestand der deutschen Bundesstaa­ ten, Leipzig 1917. Zu dieser Arbeit siehe auch Martin Otto, Personalunionen, Reservat­ rechte und Bundesratsstimmen. Das Fürstentum Reuß älterer Linie und die Staatsrechts­ wissenschaft des Kaiserreichs, in: Werner Greiling/Hagen Rüster (Hgg.), Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum?, Jena 2013, 165–174. 123 Archiv der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Four Wells, Nachlass RosenstockHuessy, Schreiben Jacobi an Rosenstock, »Leipzig, den 9. 8. 19«. Teilweise wiedergege­ ben in Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 46 f. 124 Zu Jacobis Greifswalder Zeit siehe Martin Otto, Öffentliches Recht und Arbeitsrecht. Erwin Jacobi (1884–1965), in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald. Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, Tübingen 2009, 303–321.

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geschichte sowie Bürgerliches, Handels- und Arbeitsrecht in Breslau125 – an der Peripherie des Reichs und politisch unsicher, aber doch an einer Univer­ sität. Erwin Jacobi lernte 1924 Carl Schmitt kennen, mit dem er gemeinsam in Jena das Staatsrechtslehrerreferat Die Diktatur des Reichspräsidenten hielt; Jellinek war unter den Zuhörern. Jacobi schrieb am 16. Dezember 1927 an Rosenstock-Huessy, im Staatsrecht die stärksten Eindrücke von Carl Schmitt, Heinrich Triepel und Hermann Heller126 erhalten zu haben.127 Er stellte gegen 1927 den Kontakt zwischen Rosenstock-Huessy und Schmitt her; anders als behauptet,128 hat Schmitt auch Rosenstock-Huessy zitiert, nämlich 1932 Die europäischen Revolutionen.129 Schmitt und Rosen­ stock-Huessy standen in Kontakt,130 als Ersterer und Jacobi als Prozessbe­ vollmächtigte der Reichsregierung eng zusammenarbeiteten.131 In seinen Tagebüchern äußerte sich Schmitt ambivalent.132 »Er ist aber doch ein Prachtkerl!«, schrieb Jacobi über Jellinek am 16. November 1932 an Schmitt;133 dieser hatte inzwischen im Reichsverwaltungsblatt und preußi­ 125 Siehe hierzu Thomas Ditt, »Stoßtruppfakultät Breslau«. Rechtswissenschaft im »Grenz­ land Schlesien« 1933–1945, Tübingen 2011, 14–16. 126 Zu Hermann Heller und seinem Freund Karl Thieme, dem Bruder des Rechtshistorikers Hans Thieme, siehe Walter Lipgens, Karl Thieme in den Umbrüchen unseres Jahrhun­ derts, in: Freiburger Rundbrief 20 (1968), 5–10, hier 6. 127 Archiv der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Four Wells, Nachlass RosenstockHuessy, Schreiben Jacobi an Rosenstock, »Leipzig, Str. d. 18. Okt. 17 III, 16.12.27«, teil­ weise wiedergegeben bei Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 172 f. 128 Piet Tommissen, Briefe, in: Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts 7 (2001), 310–377, hier 333. 129 Carl Schmitt, Inhalt und Bedeutung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung, in: Ger­ hard Anschütz/Richard Thoma (Hgg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2 Bde., Tübingen 1930–1932, hier Bd. 2, Tübingen 1932, 572–606, hier 581 f. Schmitt lobte Rosenstock-Huessys »aufschlußreiche Bemerkung« über den Gegensatz der englischen und deutschen Reformation. 130 Archiv der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Four Wells, Nachlass RosenstockHuessy, Schreiben Jacobi an Rosenstock, »Leipzig, Str. d. 18. Okt. 17 III, 16.12.27«. 131 Siehe Schreiben Eugen Rosenstock an Carl Schmitt, »Stans bei Landeck [Tirol] 16.2.32«, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStA Nordrhein-West­ falen), Abteilung Rheinland, Nachlass Carl Schmitt, RW 265–11823. 132 Das Tagebuch verzeichnet ein erstes Treffen am 1. Februar 1931 in Berlin. RosenstockHuessy sehe »liebenswürdig und kulant« aus, erinnere aber »fatal an Erich Kaufmann«, demgegenüber Schmitt eine besondere Abneigung hegte. Am 24. Mai 1931 las Schmitt Rosenstock-Huessy, wahrscheinlich Die europäischen Revolutionen, »mit großer Begeis­ terung«, auch wenn er dabei »wieder ein[en] Reinfall auf einen Juden« befürchtete. »Trotzdem«, so resümiert Schmitt, sei er »hingerissen«. Siehe Carl Schmitt, Tagebücher 1930 bis 1934, hg. von Wolfgang Schuller in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2010, 86 und 111. 133 Schreiben Erwin Jacobi an Carl Schmitt, »Leipzig C 1 Strasse des 18. Okt. 17, 16.11.32«, HStA Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Nachlass Carl Schmitt, RW 265–6485; abgedruckt bei Otto (Hg.), »Es ist eigenartig, wie unsere Gedanken sich begegnen«, 33– 57, 51 f.

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schen Verwaltungsblatt über den »Leipziger Prozeß« berichtet.134 Wenig später war die Weimarer Republik endgültig Vergangenheit. Zur national­ sozialistischen Machtübernahme nahmen Jacobi und Jellinek zunächst einen schwankenden Standpunkt ein;135 von den Rassengesetzen waren sie gleich­ wohl betroffen. Auch Rosenstock-Huessy wird ähnliche Unentschiedenheit unterstellt,136 wenn auch die Quellenlage hier nicht eindeutig ist. Kurzfristig gehörte er offiziell zur Universität Frankfurt am Main,137 im November 1933 emigrierte er nach Amerika. 1934 wurde über seine Nachfolge entschieden. Vertreten wurde der Lehrstuhl von Hans Thieme, kurzfristig war mit HansErich Feine auch der Schwiegersohn von Ulrich Stutz im Gespräch.138 Jacobi und Jellinek blieben in Leipzig und Heidelberg, zogen sich zurück, erhielten zunächst einen Teil ihrer Bezüge, überlebten schließlich den Krieg und die nationalsozialistische Herrschaft. Jacobi schrieb am 8. November 1946 an Rosenstock-Huessy, bat ihn, aus den Vereinigten Staaten Carepakete zu sen­ den.139 Jellinek versuchte 1947, Jacobi für Heidelberg zu gewinnen, hielt sich aber bedeckt, als ein sowjetzonales Flugblatt mit dem Aufruf zur deut­ schen Einheit zirkulierte, das Jacobis Unterschrift trug.140 Der Kalte Krieg war schon in vollem Gange, als Jellinek Jacobi zum 70. Geburtstag gratu­ lierte. Im Folgejahr, am 9. Juni 1955, wurde Jellinek im Heidelberger Juristi­ schen Seminar tot aufgefunden. Jacobi durfte zur Trauerfeier nach Heidel­ berg reisen und hielt dem Freund die Totenrede.141 Rosenstock-Huessy, der sich regelmäßig in Deutschland aufhielt, betrachtete sich nur noch in beschränktem Maße der Rechtswissenschaft zugehörig. Er und Jacobi gin­ 134 Walter Jellinek, Der Leipziger Prozeß. 135 Für Beispiele siehe Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 243. 136 So behauptete der Bildungsforscher Georg Picht, Sohn des Rosenstock-Huessy seit dem Studium in Heidelberg freundschaftlich verbundenen Werner Picht, Rosenstock-Huessy habe nach seiner Erinnerung 1933 die »nationalsozialistische Revolution« als den »Ver­ such der Deutschen, den Traum Hölderlins zu verwirklichen« bezeichnet. Zit. nach Rüdi­ ger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a. M. 3 2003, 261. Womöglich hat Picht aber Ludwig Stahl, Das Dritte Reich und die Sturmvö­ gel des Nationalsozialismus, in: Hochland. Monatszeitschrift für alle Gebiete des Wis­ sens, der Literatur und Kunst 28 (1931), H. 2, 193–211, falsch wiedergegeben. 137 Siehe Renate Heuer/Siegbert Wolf, Die Juden der Frankfurter Universität, Frankfurt a. M./New York 1997, 314–316. 138 Ditt, »Stoßtruppfakultät Breslau«, 95–97. Ferner im Gespräch waren Hans Planitz und Franz Beyerle, berufen wurde schließlich Hans Würdinger. Zu Feine siehe Martin Otto, Art. »Feine, Hans Erich (1890–1965)«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsge­ schichte, hg. von Albrecht Cordes u. a., 2., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl., hier Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1530–1532. 139 Universitätsarchiv Leipzig, Nachlass Erwin Jacobi, Nr. 6/217. Jacobi an Rosenstock, »Leipzig S 3, am 8. November 1946«, in Auszügen abgedruckt bei Otto, Von der Eigen­ kirche zum Volkseigenen Betrieb, 276 f. 140 Für eine umfassende Darstellung siehe ebd., 306–310. 141 Ebd., 364. Als Druckfassung siehe Jacobi, In Memoriam Walter Jellinek.

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gen im gleichen Jahr, 1957, in den Ruhestand. Sie begannen noch einmal einen Briefwechsel; äußerer Anlass war offenbar Jacobis Gratulation zu Rosenstock-Huessys theologischem Ehrendoktor in Münster 1959.142 Jacobi besaß einen »Postfreischein«, konnte anscheinend ohne Zensur eine Korres­ pondenz mit den Vereinigten Staaten unterhalten. Der Staatssicherheit, die Jacobi kurzzeitig überwachte, war der Kontakt zu Rosenstock-Huessy, wie auch der zu amerikanischen Verwandten, entgangen.143 Der Briefwechsel zeichnete sich durch starken Gegenwartsbezug und die gänzliche Abwesen­ heit nostalgischer Töne aus. Stattdessen freute sich Jacobi über die neue Lebensgefährtin seines Freundes und las Das Geheimnis der Universität; sein Urteil vom 3. September 1959 war bedachtsam: »Natürlich geht es mir so, wie immer mit Deinen Schriften: Nie komme ich mir so dumm und ungebildet vor. Jetzt weiß ich aber wenigstens, woran das liegt: 1. Du setzt zu viel als bekannt voraus. 2. Du gibst nur die Ergebnisse Deiner ungeheuren Gedan­ kenarbeit und verlangst, daß der Leser selbst darauf kommt (durch eigenes Nachden­ ken) […].«144

Am 5. April 1965 starb Jacobi, seit Kurzem Witwer, in Leipzig; zuvor hatte er den Kontakt zu Carl Schmitt vorsichtig wieder aufgenommen, auf Vermitt­ lung des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde.145 Rosenstock-Huessy war jetzt der letzte Überlebende. In seinem im Folgejahr in zweiter Auflage erschienenen Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers bestimmte er als »rechtshistorischen Nachlaßverwalter« Hans Thieme.146 Gleichzeitig war die Mitarbeit an einer Festschriftenparodie für Thiemes Lehrer Franz Beyerle gescheitert; er veröffentlichte seinen Beitrag dann als Separatdruck.147 Als Rosenstock-Huessy am 24. Februar 1973 starb, würdigte allein der Münste­ raner Verwaltungsrichter Gerhard Webersinn seinen ehemaligen Doktor­

142 Archiv der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Four Wells, Nachlass RosenstockHuessy, Schreiben Jacobi an Rosenstock, »Leipzig S 3, 1. Juli 1959«, teilweise wiederge­ geben bei Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 394 f. 143 Der Vorgang wird geschildert in ebd., 356–358. 144 Archiv der Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft, Four Wells, Nachlass RosenstockHuessy, Schreiben Jacobi an Rosenstock, »Leipzig S 3, 3.9.59«, in Teilen nachzulesen bei Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 395. 145 Ebd., 402; ders. (Hg.), »Es ist eigenartig, wie unsere Gedanken sich begegnen«, 42 f. 146 Rosenstock-Huessy, Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers, 119. 147 Ders., Die Interims des Rechts. Für Franz Beyerle zum 80. Geburtstag, Four Wells, Vt., 1964. Beyerle, der Lehrer von Hans Thieme, erhielt von 1955 bis 1975 fünf maschinen­ schriftliche Festschriftenparodien, die Jocus regit actum. Rosenstock-Huessy selbst schrieb in ders., Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers, 119, sicher zutreffend, dass in die Festschrift »nur Witze und Jocusse hineingingen«, doch scheint ein wechsel­ seitiges Missverständnis vorgelegen zu haben. Zu Franz Beyerle siehe Axel Schützen­ meister, Franz Beyerle. Leben und Werk, Leipzig 2008.

»Habilitandenjahrgang 1912«

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vater in einem Nachruf.148 Erst zum hundertsten Geburtstag erschien eine umfangreiche Würdigung von Hans Thieme in der Savigny-Zeitschrift.149

Schluss Auch bei Hans Thieme (1906–2000) war von einem »Habilitandenjahrgang 1912« nicht mehr die Rede, obwohl der Jurist zu den letzten Zeitzeugen der Leipziger Juristenfakultät vor 1933 gehörte. Bei allem Materialreichtum wurde hier vieles in Andeutungen belassen. Aber auch Rosenstock-Huessy selbst hatte in seinen autobiografischen Schriften manches nicht explizit gemacht; jedenfalls betrachtete er Ulrich Stutz als einen wissenschaftlichen Gegner, die Platzhoff-Rezension als »schäbig«; Stutz habe 1934 »über den seiner Heimat gerade damals Beraubten« einen »an den Haaren herbeigezo­ genen Spottkübel« ausgegossen.150 Gewiss ist, dass Stutz, dessen Einfluss über die von ihm herausgegebene Savigny-Zeitschrift, die Berliner Akade­ mie und weitere Netzwerke denkbar groß war, die jungen Wissenschaftler unterschiedlich behandelt und insbesondere Meister gegenüber RosenstockHuessy bevorzugt hatte. Der Homogenität des »Habilitandenjahrgangs 1912« war dies sicher bereits in Friedenszeiten nicht dienlich. Meister und Peters waren dann als junge Männer im Krieg, Glitsch ebenfalls als junger Mann gestorben. Hatten diese drei ihre Karriere nach vielversprechenden Anfänge noch vor sich, mussten die drei Überlebenden auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft eine Zwangspause einlegen. Ihren Lebensabend ver­ brachten Jacobi, Jellinek und Rosenstock-Huessy dann sehr produktiv, doch in drei denkbar unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Syste­ men, die von der akademischen Welt des Jahres 1912 unvorstellbar weit ent­ 148 Gerhard Webersinn, Zum Tode von Eugen Rosenstock-Huessy, in: Neue Juristische Wochenschrift 89 (1973), 1488. Gerhard Webersinn (1904–1993) wurde 1928 bei Rosen­ stock-Huessy promoviert. Siehe ders., Die geschichtliche Entwicklung des Gottesläste­ rungsdelikts, Ohlau in Schlesien 1929. Danach Beschäftigung im Justizdienst, Vertrei­ bung aus Schlesien, 1946 MdL in Brandenburg (CDU), 1950–1969 in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Nordrhein-Westfalen, zuletzt am Oberverwaltungsgericht Münster. Zahlreiche Veröffentlichungen zur schlesischen Geschichte. 149 Hans Thieme, Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), in: Zeitschrift der Savigny-Stif­ tung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 106 (1989), 1–11. 150 Rosenstock-Huessy, Postskript eines gewesenen Rechtshistorikers 121 f. Die Nennung des Jahres 1934 soll sich auf die Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissen­ schaften beziehen, doch konnten die Angaben nicht verifiziert werden. Dass RosenstockHuessy »kritische Äußerungen, wie er sie öfter erfahren hat – z. B. auch in Besprechun­ gen von Walter Platzhoff und Ulrich Stutz« –, nur »schwer vertrug«, betont auch Thieme, Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), 10, Anm. 15.

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Martin Otto

fernt lagen. Ein nicht ganz unkompliziertes Privatleben bei Jacobi und Rosenstock-Huessy mag die ohnehin vorhandene Tendenz zu einem vorneh­ men fachkollegialen Schweigen befördert haben. Von Walter Jellinek abge­ sehen, dem als Sohn eines hochkarätigen Professors eine besondere Rolle zukam, war der »Habilitandenjahrgang 1912« ein rein rechtshistorisch geprägter,151 der sämtliche Teilgebiete – Germanistik, Romanistik und Kano­ nistik – abdeckte. Die ihm Angehörenden wollten jedoch nicht allein histo­ risch arbeitende Juristen bleiben, sondern erschlossen sich als junge Privat­ dozenten neue Rechtsgebiete, deren wissenschaftliche Durchdringung noch ausstand. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Recht der Wirtschaft.152 Peters und Meister wählten das Kartellrecht, Jacobi, Glitsch und RosenstockHuessy – ansatzweise auch Jellinek – das Arbeitsrecht. Jacobi wurde in der Weimarer Republik zu einem der wichtigsten Arbeitsrechtler, aber auch Rosenstock-Huessy, der retrospektiv betrachtet seine Außenseiterrolle viel­ leicht etwas zu stark betonte – auch er gehörte bis 1933 vollwertig zur etab­ lierten Professorenschaft – vertrat ab 1923 in Breslau diese Teildisziplin.153 Viele Positionen Rosenstock-Huessys waren im »Habilitandenjahrgang 1912« angelegt. Zwar waren die jungen Privatdozenten allesamt typische Exponenten des wilhelminischen Bürgertums. Kritiklose Anhänger ihrer Gesellschaft waren sie jedoch nicht. Ohnehin bestanden lange vor 1912 Wechselwirkungen zwischen dem christlich-sozialen Milieu und der Leipzi­ ger Juristenfakultät, insbesondere über Rudolph Sohm und das sozialpoliti­ sche Gedankengut Friedrich Naumanns (1860–1919), für das auch der Leip­ ziger Theologieprofessor Caspar René Gregory (1846–1917), ein gefallener Kriegsfreiwilliger wie Meister und Peters, stand. Auch Otto von Gierke war dieser Richtung zuzurechnen.154 Hier wurde der wilhelminische Staat nicht kritiklos vorausgesetzt, sondern nach einer Lösung der sozialen Frage

151 Von »Rechtshistorikern« im heutigen Sinn kann nur eingeschränkt gesprochen werden, zumal in allen juristischen Disziplinen noch die »geschichtliche Ansicht« auf die Rechts­ wissenschaft vorherrschte. Zur Begrifflichkeit siehe etwa Dieter Simon, Art. »Rechtsge­ schichte«, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hg. von Axel Görlitz, München 1972, 314–318. 152 Siehe auch Clemens Zacher, Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland. Wirt­ schaftsrecht, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassung in der Rechtswis­ senschaft der Weimarer Republik, Berlin 2002. Zu Rosenstock-Huessy siehe ebd., 155. 153 In Ditt, »Stoßtruppfakultät Breslau«, 14, werden auch »arbeitswissenschaftliche Semi­ nare« erwähnt, die Arbeitsrecht und Soziologie verbanden. 154 Siehe William R. Ward, Theology, Sociology and Politics. The German Protestant Social Conscience 1890–1933, Bern u. a. 1979, 57; für eine Gesamtschau siehe Martin Otto, Kyffhäuserideale deutscher Akademiker und Verwaltungsrechtswissenschaft im Werden. Ein Beitrag zu Karl Kormann (1884–1914), seinem sozialpolitischen und verwaltungs­ rechtlichen Wirken im Deutschen Kaiserreich, in: Zeitschrift für Sozialreform 48 (2002), H. 3, 354–364.

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gesucht, auch mit Mitteln der Rechtswissenschaft. Hans Peters hatte von der Überwindung des Klassenkampfs an der Front, von einem neuen Adel aus­ schließlich durch Verdienst geschrieben. Sein Schützengrabenpathos mag heute befremden, Peters sprach aber für den gesamten »Habilitandenjahr­ gang 1912«. Das waren keine konservativen protestantischen Nachwuchs­ akademiker aus gutem Hause, die etwa eine methodisch veraltete Historio­ grafie fortschreiben wollten – ihre Anschlussfähigkeit an die Moderne und ihre Bereitschaft, auf wissenschaftliche, wirtschaftliche und gesellschaftli­ che Herausforderungen einzugehen, war beachtenswert. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg ließ dies Erwin Jacobi auf das »Arbeiter- und Bauernstu­ dium« zugehen.155 Ab 1959, und damit mitten im »Kalten Krieg«, nahm er aus der DDR den Kontakt zu einem in den Vereinigten Staaten lebenden Wissenschaftler aus seinem »Jahrgang« auf; auch dieser Wissenschaftler, der über die politischen Verhältnisse in Deutschland gut informiert war, schien eine echte Neugier für die Situation in beiden deutschen Staaten zu besitzen. Eugen Rosenstock-Huessy aber hatte den reformerischen Impetus seines »Habilitandenjahrgangs 1912« am konsequentesten umgesetzt.

155 »Dich würde hier gewiß besonders der Versuch der sächsischen Landesverwaltung inte­ ressieren, durch größeren Einsatz von sogenannten Arbeiterkindern die soziologische Struktur der Universität zu ändern.« Universitätsarchiv Leipzig, Nachlaß Jacobi, Nr. 6/ 217. Jacobi an Rosenstock, »Leipzig S 3, am 8. November 1946«. Teilweise wiedergege­ ben bei Otto, Von der Eigenkirche zum Volkseigenen Betrieb, 277.

Inka Sauter

Dialogische Revisionen – Über die Versuchungen des Protestantismus Der zum Protestantismus konvertierte Rechtshistoriker Eugen RosenstockHuessy1 resümierte im Jahr 1968 – fünf Jahre vor seinem Tod – einen Disput zwischen ihm und dem Philosophen Franz Rosenzweig vom Sommer 1913. In diesem Gespräch, das als Leipziger Nachtgespräch bezeichnet wird, habe er, so Rosenstock-Huessy in seiner Rückschau, den Keim des Sterns der Erlösung in Franz Rosenzweig eingesät.2 Rosenzweigs religionsphilosophi­ sche Schrift entstand ab 1918, fünf Jahre nach dem Gespräch, am Ende des Ersten Weltkriegs. Selbst wenn die Entfaltung des Werks nicht ausschließ­ lich auf die Nacht des 7. Juli 1913 zurückzuführen ist, sind in ihrem Verlauf die entscheidenden Weichen dafür gestellt worden. Direkt nach dem Gespräch wollte Rosenzweig zum Protestantismus konvertieren, aber bald darauf revidierte er seinen Entschluss. Die aus der Kontroverse mit Rosen­ stock-Huessy hervorgegangene bewusste Umkehr Rosenzweigs kann als Beginn von dessen Suche nach einem jüdischen Selbstverständnis in der Moderne verstanden werden; sie mündete in den Text Der Stern der Erlö­ sung. Das Manuskript – zwischen August 1918 und Februar 1919 entstan­ den – wurde 1921 veröffentlicht.3 Im Zentrum des vorliegenden Beitrags soll die Frage nach RosenstockHuessys religiösem Einfluss auf Franz Rosenzweigs Nachdenken über das Judentum und dessen theologische Perspektive stehen.4 Rosenstock-Huessy selbst teilte den Konflikt mit Rosenzweig im Vorwort für die Ende der 1960er Jahre auf den Weg gebrachte englische Ausgabe ihres von Mai bis

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Eugen Rosenstock führte zwar erst seit den 1920er Jahren den Doppelnamen, aus Grün­ den der Übersichtlichkeit wird in diesem Text jedoch durchgängig der Doppelname ver­ wendet. Siehe Eugen Rosenstock-Huessy, Billardkugeln?, in: ders., Ja und Nein. Autobiographi­ sche Fragmente aus Anlass des 80. Geburtstages des Autors im Auftrag der seinen Namen tragenden Gesellschaft, hg. von Georg Müller, Heidelberg 1968, 166–172, hier 171. Siehe Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988 (zuerst 1921). Siehe zu diesem Themenfeld insgesamt Hartwig Wiedebach (Hg.), »Kreuz der Wirklich­ keit« und »Stern der Erlösung«. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen RosenstockHuessy und Franz Rosenzweig, Freiburg i. Br./München 2010; Wayne Cristaudo, Reli­ gion, Redemption, and Revolution. The New Speech Thinking of Franz Rosenzweig and Eugen Rosenstock-Huessy, Toronto 2012. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 325–347.

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Dezember 1916 entstandenen Briefwechsels in drei Phasen ein.5 Die erste sei das Nachtgespräch selbst gewesen, die zweite eben der Briefwechsel und die dritte Phase könne im Jahr 1920 situiert werden, als er dazu beigetragen hatte, dass Rudolf Hallo, Rosenzweigs späterer Nachfolger am Freien Jüdi­ schen Lehrhaus in Frankfurt am Main, bekannt gab, zum Protestantismus konvertieren zu wollen. Rosenzweig konnte ihn umstimmen. Im August 1920 hatte er die Leitung des Lehrhauses übernommen und dieses damit begründet. Den Stern der Erlösung hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits voll­ endet. Im Folgenden wird an Rosenstock-Huessys Darstellung angeknüpft, wobei der Konflikt, wie er sich aus der Sicht Rosenzweigs darstellte, in vier Stufen nachvollzogen werden soll: von der Vorgeschichte in dessen intellek­ tueller Biografie über das Nachtgespräch selbst und den sich hieran anschließenden Briefwechsel mit Rosenstock-Huessy bis zu den Nachwir­ kungen in dessen Denken.

Vorgeschichte Franz Rosenzweig wuchs in einem liberalen jüdischen Elternhaus in Kassel auf. Mit den jüdischen Traditionen kam er primär über seinen Onkel Adam Rosenzweig in Kontakt. 1905 nahm er ein Studium der Medizin auf, brach dies 1907 aber ab, um Geschichte bei Friedrich Meinecke und Philosophie bei Heinrich Rickert zu studieren. Gleich zu Beginn wandte er sich der poli­ tischen Philosophie G. W. F. Hegels und deren Wirkmacht im Wilhelmini­ schen Kaiserreich zu. Der erste Vermerk zu Hegel in Rosenzweigs Tagebü­ chern ist auf Ende Mai 1908 datiert, an derselben Stelle findet sich ferner der Hinweis auf Kant, Fichte und Schelling.6 Diese vier Philosophen waren für Rosenzweig die Wegbereiter der deutschen protestantischen Kultur. Grundlage seiner Dissertation wurde das kurze Kapitel zum Denker des deutschen Idealismus in Friedrich Meineckes 1907 veröffentlichter Schrift Weltbürgertum und Nationalstaat. Im Herbst 1908 hatte er das Werk gelesen 5

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Siehe Eugen Rosenstock-Huessy/Franz Rosenzweig, Judaism despite Christianity. The 1916 Wartime Correspondence between Eugen Rosenstock-Huessy and Franz Rosen­ zweig, hg. von Eugen Rosenstock-Huessy, Chicago, Ill./London 2011, 71–76 (zuerst 1969). Eine deutsche Teilübersetzung der Originalausgabe von 1969 findet sich in Eugen Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs. Fünfzig Jahre später, in: Mitteilungen der Eugen-Rosenstock-HuessyGesellschaft 11 (1969), 9–12. Tagebucheintrag Franz Rosenzweigs vom 29. Mai 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosen­ zweig-Scheinmann, 2 Bde., Den Haag 1979, hier Bd. 1: 1900–1918, 82.

Dialogische Revisionen

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und seiner Mutter gegenüber kommentiert: »Ich bin weiter entzückt von dem Meineckeschen Buch (Weltbürgertum und Nationalstaat)«.7 Rosen­ zweig zeigte sich tief beeindruckt von seinem akademischen Lehrer und des­ sen historischer Methode. An seinen Vetter Hans Ehrenberg schrieb er, dass es »rasend schön« sei bei Meinecke, denn »[e]r behandelt die Geschichte, als wenn sie ein platonischer Dialog wäre und nicht Mord und Totschlag, Ölfarbe, Reim, Dissonanz, Buchvorwort und Verbeugung. Man schwebt!«8 Friedrich Meinecke hatte sich in jenem Werk die Aufgabe gestellt, »das wahre Verhältnis universaler und nationaler Ideale in der Entstehung des modernen deutschen Nationalstaatsgedankens nachzuweisen«.9 Vom Sie­ benjährigen Krieg bis zu Bismarck folgte er der Genese dieses Verhältnisses. Sein Kapitel zu Hegel fiel allerdings recht schmal aus.10 Darin arbeitete er das bei Hegel noch offenliegende Spannungsverhältnis von konkreter Reali­ sierung von Staatlichkeit und ihrer absoluten Idee heraus, die in seiner Geschichtsphilosophie in einem Menschheitsideal münden soll. Es ging ihm darum, die Verbindung von universalistischer und nationaler Perspektive sowie ihrer Übergänge sichtbar zu machen. Später sollte Rosenzweig hieran anknüpfen und die Begrenztheit des hegelschen Staatsgedankens aufzeigen. Meinecke hatte Ranke und Bismarck in dem Kapitel, das dem zu Hegel unmittelbar folgte, besprochen und ebendies bot Rosenzweig einen Aus­ gangspunkt, die politische Situation seiner Gegenwart ideengeschichtlich fundiert zu beschreiben. Neben dem Jahr der Reichsgründung, 1871, das Rosenzweig im Zuge seiner an Hans Ehrenberg gerichteten zeitgeschichtli­ chen Diagnose als großen Einschnitt erwähnte, tauchte das Jahr des Rück­ tritts von Bismarck, 1890, auf11 – eine Jahreszahl, die auch Eugen Rosen­ stock-Huessy später als einen Punkt, an dem die Gesellschaft dem Wahnsinn verfallen sei, bezeichnete (wobei für Rosenstock-Huessy wohl auch Nietz­ sches Verlust des Realitätssinns eine Rolle gespielt haben dürfte).12 Bis zum Sommer 1913 lag Rosenzweigs wissenschaftlicher Schwerpunkt also auf der politischen Philosophie Hegels, über die er 1912 bei Meinecke promo­ vierte.

17 Brief Rosenzweigs an seine Mutter vom 13. November 1908, zit. nach ebd., 88 f., hier 88. 18 Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg Ende Oktober oder Anfang November 1908, zit. nach ebd. 19 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, in: ders., Werke, hg. im Auftrag des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin, Bd. 5, München 1962 (zuerst 1907), 24. 10 Ebd., 236–243. 11 Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg vom 4. und 6. August 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, 93. 12 Siehe Rosenstock-Huessy, Billardkugeln?, 172.

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Seinem 1913 gefassten, in den darauffolgenden Monaten revidierten Ent­ schluss, Christ zu werden, war 1909 die Konversion Hans Ehrenbergs vorausgegangen. Vier Jahre vor dem Nachtgespräch hatte Rosenzweig sei­ nem Vetter zu diesem Schritt zugeredet und dessen Entscheidung seinen Eltern gegenüber begründet. Seine Zeitdiagnose war eindeutig: »Wir sind in allen Dingen Christen, wir leben in einem christlichen Staat, gehen in christ­ liche Schulen, lesen christliche Bücher, kurzum unsre ganze ›Kultur‹ ist ganz und gar auf christlicher Grundlage.«13 Im Unterschied zum Judentum, das einem »anbeschnitten, angegessen, angebarmizwet«14 werden müsse, könne das Christentum angenommen werden. Offensichtlich wollte der Sohn mit dieser Darstellung des Judentums seinen Eltern auch vorhalten, die religiöse Erziehung nicht vollzogen zu haben. Neben diesem Seitenhieb wird vor allem eines deutlich: Rosenzweig konnte das Bedürfnis nach Reli­ giosität ermessen und er (an-)erkannte die Hegemonie des Christentums in seiner Umwelt. Es darf daher angenommen werden, dass zu dieser Zeit für ihn eher die Tatsache, dass das Christentum seine Umwelt bestimmte, als der Glaube selbst im Zentrum der Reflexion stand. Zu einem frühen Zeit­ punkt seiner Beschäftigung mit Hegel wandte Rosenzweig sich dessen Frage nach der Stellung Gottes in der Geschichte zu. Ende Oktober 1910 notierte er in sein Tagebuch: »Bei Herder wandert allenfalls Gott durch die Geschichte, bei Hegel wird er in ihr«,15 um kurz darauf den Unterschied zwi­ schen der damaligen Zeit und der Gegenwart zu explizieren: »Das 19. scl. glaubte an die Macht der Geschichte, wir heut nur an ihren Wert; wir fühlen uns nicht mehr unter, sondern in ihr stehend; sie ist nur deshalb etwas für uns, weil wir etwas für sie sind.«16 Auch Hans Ehrenberg gegenüber äußerte er sich im Herbst 1910 erneut zu dieser Frage – zwar ebenfalls different zu Hegel, aber auf ähnlichem Fundament: Wir weigern uns »›Gott in der Geschichte‹ zu sehen, weil wir die Geschichte (in religiöser Beziehung) nicht als Bild, nicht als Sein sehen wollen; sondern wir leugnen Gott in ihr, um ihn in dem Prozeß, durch den sie wird, zu restaurieren.«17 Hatte Hegel die Geschichte selbst als eine Theodizee begriffen, so war nach Rosenzweig für diejenigen, die nach dem 19. Jahrhundert kommen, zunächst einmal die Religion im Allgemeinen (noch nicht das Judentum und auch nicht das Christentum) die Theodizee: »Der Kampf gegen die Geschichte im Sinne 13 Brief Rosenzweigs an seine Eltern vom 6. November 1909, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, 94 f., hier 94. 14 Ebd. 15 Tagebucheintrag Rosenzweigs vom 24. Oktober 1910, zit. nach ebd., 106 (Hervorhebun­ gen hier und im Folgenden wie im Original). 16 Tagebucheintrag Rosenzweigs vom 27. Oktober 1910, zit. nach ebd. 17 Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg vom 26. September 1910, zit. nach ebd., 111–113, hier 112.

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des 19 scl. ist uns deshalb zugleich Kampf für die Religion im Sinne des 20.«18 Damit identifizierte er die Position seines gerade zum Christentum konvertierten Vetters mit der eigenen und universalisierte diese implizit. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Geschichte leuchtete also bereits während der Promotionszeit in Rosenzweigs Reflexionen auf. Im selben Jahr, 1910, lernten sich Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig in Baden-Baden auf einer Konferenz junger Historiker kennen. Auch Rudolf und Hans Ehrenberg nahmen teil. Franz Rosenzweig hatte sich von dieser Zusammenkunft eine Neuausrichtung der Geschichtswissen­ schaft jenseits des Subjektivismus erhofft. Sein zentrales Anliegen war es, die neue Zeit, wie er sie gegenüber Hans Ehrenberg gefasst hatte, in der Geschichtswissenschaft einzuholen. Zu diesem Zeitpunkt war er noch davon überzeugt, dass das 20. Jahrhundert die Synthese des 18. (als These) und des 19. Jahrhunderts (als Antithese) sei. Aber Rosenzweigs geschichtsphiloso­ phischer Vortrag rief starke Kritik hervor und führte, statt die Teilnehmer zu einen, zu deren Spaltung. Andere Meinecke-Schüler wandten sich gegen Rosenzweigs Position. Dass dieser mit seinem Anliegen scheiterte, mag zum Teil auch antisemitische Beweggründe gehabt haben.19 Rosenzweig selbst resümierte im Winter 1910 Hans Ehrenberg gegenüber: »Du mußtest einmal die Konsequenz aus Baden-Baden ziehn; es war ja eben nicht bloß die ›Badener Idee‹ geblieben, sondern wir haben ja gesehn, was die Idee in der Realität angerichtet hat.«20 Rosenzweig zog die Konsequenz aus dieser Erfahrung. Er beendete sein Engagement für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichtswissenschaft, arbeitete aber weiter an seiner Pro­ motion. Noch 1920 freilich nannte Franz Rosenzweig seinem Doktorvater einen anderen Grund für die Entscheidung, sich nach dem Ersten Weltkrieg von der Disziplin der Geschichtswissenschaft ab- und dem Judentum zugewandt zu haben.21 Weder Baden-Baden noch der Erste Weltkrieg hatten demnach die entscheidende Weiche gestellt, sondern die von Rosenzweig selbst später als schicksalhaft dargestellte Zusammenkunft im Juli 1913 mit dem zum Protestantismus konvertierten Eugen Rosenstock-Huessy und Rosenzweigs ebenfalls protestantischem Vetter Rudolf Ehrenberg. Seiner eigenen Beschreibung zufolge erlitt Rosenzweig nach diesem Nachtgespräch einen »Zusammenbruch«. Er sei vom Historiker zum Philosophen geworden.22

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Ebd., 113. Siehe die editorische Einfügung nach Viktor von Weizsäckers Erzählung, in: ebd., 96 f. Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg vom 28. Dezember 1910, zit. nach ebd., 115 f. Siehe Brief Rosenzweigs an Friedrich Meinecke vom 30. August 1920, zit. nach ebd., Bd. 2: 1918–1929, 678–682. 22 Siehe ebd., 679 f.

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Fortan drehte sich seine persönliche Auseinandersetzung im Kern um die Suche nach der Fixierung von Kriterien eines Selbstverständnisses, die er nun nicht mehr in der Geschichte als philosophischer Konstruktion, sondern im Judentum finden sollte. Dieses im Entstehen begriffene Selbstverständnis präzisierte er in den folgenden Jahren in stetigen Debatten mit Freunden sowie seinen beiden Vettern Hans und Rudolf Ehrenberg. Im Oktober 1916 schrieb er an Hans Ehrenberg: »Der Krieg selber bedeutet mir in keiner Weise einen Abschnitt, ich hatte 1913 so viel erlebt, daß 1914 schon gradezu den Weltuntergang hätte bringen müssen, um mir noch zu imponieren.«23 Zwar sollte sich Rosenzweigs Einschätzung des Krieges 1918 noch einmal verändern, der Disput mit Eugen Rosenstock-Huessy von 1913 hingegen war in seiner intellektuellen Biografie auch weiterhin von großer Relevanz.

Das Nachtgespräch Am Abend des 7. Juli 1913 trafen sich Eugen Rosenstock-Huessy, Rudolf Ehrenberg und Franz Rosenzweig im Hause des Geheimrats Victor Ehren­ berg. Dieser Onkel Rosenzweigs wohnte in der Bismarckstraße (heute Ferdi­ nand-Lassalle-Straße) in Leipzig. Rudolf Ehrenberg, der Sohn des Geheim­ rats, war bereits als Kind getauft worden und stand im Sommer 1913 kurz vor seiner Berufung zum Professor der Physiologie in Göttingen.24 Der Rechtshistoriker Rosenstock-Huessy war in einem liberalen jüdischen Elternhaus in Berlin aufgewachsen und 1909 aus Überzeugung zum Protes­ tantismus konvertiert.25 Mit gerade 24 Jahren hatte er 1912 eine Stelle als Privatdozent an der Juristenfakultät der Universität Leipzig bekommen. Der zwei Jahre ältere Franz Rosenzweig war nach seiner Promotion zu Beginn des Jahres nach Leipzig gekommen – auch um Rosenstock-Huessys Vorle­ sungen zu hören. So schrieb Letzterer in seiner Rückschau Prolog und Epi­ log zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs aus dem Jahr 1969: »Franz, ein äußerst souveräner Kopf, besucht die Vorlesungen und Seminare dieses jüngeren Mannes.«26 Der Anlass des Gesprächs war eine Lektüre von Selma Lagerlöfs Roman Die Wunder des Antichrist. Rosen­ stock-Huessy besann sich weiter, dass er zwar das Buch nach dieser Nacht 23 Brief Rosenzweigs an Hans Ehrenberg, o. D. (Oktober 1916), zit. nach ebd., Bd. 1, 241– 244, hier 242. 24 Siehe Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 10. 25 Siehe hierzu den Beitrag von Knut Stünkel in diesem Schwerpunkt, Anm. 2. 26 Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 10.

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nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, aber dass ihm der letzte Satz im Gedächtnis geblieben sei. Er lautete in seiner Erinnerung: »Niemand kann die Menschen von ihren Leiden erlösen, aber viel wird dem vergeben wer­ den, der ihnen neuen Mut gibt, diese Leiden zu ertragen.«27 Was also war der Inhalt der Zusammenkunft? Einzelne Bemerkungen in Briefen und anderen Aufzeichnungen der Pro­ tagonisten geben Auskunft über den Gesprächsgegenstand.28 Folgt man Rosenstock-Huessys Vorwort zum 1935 im Schocken Verlag erstmals veröf­ fentlichten Briefwechsel von 1916, wurde im Leipziger Nachtgespräch das Verhältnis von »Offenbarungsglaube und Philosophiegläubigkeit« zur Dis­ position gestellt; um das Verhältnis von Judentum und Christentum ging es dagegen noch nicht.29 Rosenstock-Huessy berichtete in seinem dreißig Jahre später verfassten Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs weiterhin, dass Rosenzweig in dem Gespräch »den sei­ nerzeit vorherrschenden Relativismus [verteidigte], während Eugen Gebet und Gottesdienst als seine eigentlichen Führer zum Handeln bezeugte.«30 Zugleich machte der Verfasser im späten Resümee eine gemeinsame Basis des Gesprächs aus: »Franz und Eugen kamen zu dem Einverständnis darü­ ber, daß die schwankenden akademischen Schibbolethe ihrer Tage – Objek­ tivität, Humanismus und die sogenannte Aufklärung – letztlich Nichtigkei­ ten seien.«31 Und exakt auf dieser Basis bauten die beiden im Briefwechsel von 1916 auf und konturierten ihre Zeitdiagnosen im gegenseitigen Aus­ tausch. »Darum mag also unser Duell – das schriftliche von 1916 und mehr noch das mündliche von 1913 – als ein Schritt weg vom Wahnsinn der Euro­ päischen Menschheit, dem sie 1890 endgültig verfallen war, zurück in geis­

27 Ebd. 28 Dem Nachtgespräch wenden sich verschiedene Aufsätze zu. Siehe u. a. Hugo Gotthard Bloth, Was geschah im »Leipziger Nachtgespräch« am 7. Juli 1913 zwischen den Freun­ den Eugen Rosenstock, Franz Rosenzweig und Rudolf Ehrenberg?, in: Mitteilungsblätter der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft (1982), 2–14; Rivka Horwitz, Warum ließ Rosenzweig sich nicht taufen?, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929). Internationaler Kongress, Kassel 1986, 2 Bde., hier Bd. 1: Die Herausforderung jüdischen Lernens, Freiburg i. Br./München 1988, 79–96; Dietmar Kamper, Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913. Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig, in: ebd., 97–104. 29 Eugen Rosenstock-Huessy, Vorwort zu Franz Rosenzweig/ders., Judentum und Christen­ tum, in: Franz Rosenzweig, Briefe, unter Mitwirkung von Ernst Simon ausgewertet und hg. von Edith Rosenzweig, Berlin 1935, 638 f., hier 639. Eugen Rosenstock-Huessy ver­ öffentlichte diesen Briefwechsel im Anhang dieser ersten Publikation der Briefe Franz Rosenzweigs (ebd., 638–720). 30 Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 10. 31 Ebd., 11.

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tige Genesung datiert werden«, resümierte Rosenstock-Huessy Ende der 1960er Jahre.32 Aber die geteilte Ablehnung grundlegender Vorstellungen der Moderne beantwortet nicht die Frage nach der jeweils eingenommenen Gegenposi­ tion. Und ebendiese war zentraler Gegenstand des Gesprächs. Der zum damaligen Zeitpunkt noch philosophiegeschichtlich arbeitende Hegel-For­ scher Rosenzweig hatte sich dem Glaubensstandpunkt des zum Protestantis­ mus konvertierten Rosenstock-Huessy gestellt und diesem nicht standhalten können. Der überzeugte Christ habe ihn aus seinen »relativistischen Positio­ nen« eines historisch-philosophischen Denkens herausgedrängt und »zu einer unrelativistischen Stellungnahme« gezwungen, berichtete Rosenzweig im Herbst 1913.33 Rosenstock-Huessy freilich erfuhr von dieser Wahrneh­ mung und den Auswirkungen auf Rosenzweigs Position erst drei Jahre spä­ ter von Rudolf Ehrenberg,34 der seit dem Leipziger Nachtgespräch eine Mitt­ lerposition eingenommen hatte. Der spätere Autor des Sterns der Erlösung entschied sich nach diesem Gespräch zuerst zur Konversion. Aber er wollte in Affinität zum Urchristentum als Jude Christ werden und so besann er sich in den Folgemonaten nicht nur auf das Christentum, sondern auch auf sein Judentum. Franz Rosenzweig ging in den ersten Jahren nach dem Nachtgespräch einer direkten Konfrontation mit Eugen Rosenstock-Huessy aus dem Weg.35 Wohl hat er diesen in seine Überlegungen über die Religion als ideelles Gegenüber aber einbezogen.36 Entsprechende Äußerungen Rosenzweigs direkt nach dem Nachtgespräch sind in Briefen an seine Eltern und an Rudolf Ehrenberg überliefert. Zu Rosch ha-Schana im Spätsommer 1913 etwa fuhr er nach Kassel und geriet mit seiner Mutter in Streit über die Kon­ versionspläne. Denn sie wollte nicht, dass er, solche Absichten in sich tra­ gend, weiterhin die Synagoge aufsuchte.37 Wohl auch deshalb reiste er nach Berlin weiter und verbrachte dort die Tage um Jom Kippur. In diese Zeit fiel die Revision seines Entschlusses zur Konversion. Am 23. Oktober 1913 32 Ders., Billardkugeln?, 172. 33 Brief Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg vom 31. Oktober und 1. November 1913, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, 132–137, hier 137. 34 Siehe Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 11. 35 Rosenzweig und Rosenstock-Huessy haben sich 1914 zwar kurz getroffen und Rosen­ zweig hat im selben Jahr Briefe an Rosenstock-Huessy geschrieben, jedoch wird darin das Gespräch ausgeklammert. Siehe hierzu Franz Rosenzweig, »Gritli«-Briefe von 1914, (21. Mai 2015). 36 Siehe hierzu bes. Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom Oktober 1916 (o. D.), zit. nach ders., Briefe, 666–675, hier 666 f. 37 Siehe die editorische Einfügung nach Gertrud Oppenheims Erzählung, in: ebd., 126 f.

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schrieb er an seine Mutter, dass er den »Rückweg«, um den er sich fast drei Monate »vergeblich zergrübelt« habe, gefunden zu haben hoffte.38 Rosen­ zweig brachte demnach nicht nur längere Zeit mit derartigen Überlegungen zu, sondern sein Entschluss stand von Anfang an auf wackligem Boden. Eine Woche später – im Brief vom 31. Oktober und 1. November 1913 – ließ er Rudolf Ehrenberg wissen: »[I]ch bin in langer und, wie ich meine, gründ­ licher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen.«39 Und er konstatierte: »Ich bleibe also Jude.«40 Entgegen der fast vorsichtig anmutenden Andeutung der gewonnenen Position im Brief an seine Mutter41 führte er gegenüber Rudolf Ehrenberg eine erste inhaltliche Fundierung seines neuen Standpunkts aus. Rosenzweig ging auf das Verhältnis von Judentum und Christentum ein und stellte fest, dass die Kirche in ihrer Welt­ bejahung und die Synagoge in ihrer Weltverneinung aufeinander angewiesen seien. Wären die Christen noch auf dem Weg, sei das Volk Israel schon am Ziel. Sowohl die Figurationen von Synagoge und Kirche als auch das Motiv des Wegs der Christenheit gegenüber einer Absenz von Weltgeschichte im Judentum fanden später Eingang in den abschließenden Teil des Sterns der Erlösung. Das zentrale Postulat im Brief von 1913 war allerdings noch »die Anerkennung dieses Volks Israels [sic] vom Standpunkt christlicher Theolo­ gie«.42 Später – nachdem er seinen Standpunkt endgültig gefunden hatte – sollte Rosenzweig diese Forderung nicht mehr wiederholen. Dagegen verlangte Rudolf Ehrenberg in seiner Replik auf Rosenzweigs Brief vom 3. November 1913, er solle ihm zeigen, wer dieses Volk Israel sei. Ehrenberg stellte die für Rosenzweigs weiteren Werdegang richtungwei­ sende Direktive auf, den Dualismus von Offenbarung und Welt im Judentum aufzulösen: »Du bist kein einfach ›vorgefundener‹ Jude mehr, so oder so mußt Du jetzt in der Welt Jude sein.«43 Diese Aufforderung an Rosenzweig kann nicht als wichtig genug eingeschätzt werden, weil sich in ihr die Frage nach einem modernen Judentum kristallisiert. Die Welt, in der Rosenzweig lebte, und in der er seine Religion leben wollte, war keine Vormoderne mehr. Was es heißen musste, in der Gegenwart selbstbewusst Jude zu sein, 38 Siehe Brief Rosenzweigs an seine Mutter vom 23. Oktober 1913, zit. nach ebd., 127–131, hier 131. 39 Brief Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg vom 31. Oktober und 1. November 1913, 132. 40 Ebd. 133. 41 Nachdem seine Mutter Rat bei einem Pfarrer eingeholt hatte, reagierte Rosenzweig relativ scharf, auch wenn er ihr seinen neuen Standpunkt zunächst noch verschwieg. Siehe Brief Rosenzweigs an seine Mutter vom 23. Oktober 1913. 42 Siehe Brief Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg vom 31. Oktober und 1. November 1913, 137. 43 Brief Rudolf Ehrenbergs an Franz Rosenzweig vom 3. November 1913, zit. nach Rosen­ zweig, Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, 138–140, hier 140.

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beschäftigte Rosenzweig bis zu seinem Lebensende. Im Herbst 1913 stand er jedoch noch am Beginn dieser Reflexionen. Aber entgegen seiner späte­ ren Wahrnehmung, das Nachtgespräch habe einen radikalen Einschnitt in seinem Selbstverständnis markiert, blieb in der Zeit nach seiner Promotion – und auch noch nach dem Disput von 1913 – die Hegel-Schrift in seinem All­ tag deutlich präsent. Auch sein Tagebuch von 1914 spiegelte eine intensive Befassung mit dieser Schrift und keineswegs nur Reflexionen über Juden­ tum und Christentum.44 Die Frage nach einem Judentum in der Moderne blieb auch auf dem neuen Fundament eines jüdischen Standpunkts in der Welt der zentrale Gegenstand im Briefwechsel des Jahres 1916 zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy. In dieser Zeit des Krieges wurden grundlegende Begriffe Rosenzweigs – auch im Dialog mit Rosenstock-Huessy – geprägt, die später Eingang in den Stern der Erlösung fanden. Auch wenn Rosen­ zweig sich seit seiner Jugend für das Judentum interessierte, hatte er dieses im Sommer 1913 noch nicht als intrinsischen Part seines Selbst begründen können. Das änderte sich ab Herbst des Jahres, er nahm Studien bei Her­ mann Cohen auf. Dann begann der Erste Weltkrieg. Rosenzweig meldete sich freiwillig als Sanitäter; ab 1916 war er als Soldat in Mazedonien statio­ niert. Die Nachricht, dass er zum Landsturm eingezogen werden sollte, kommentierte er Mitte April 1915 in einem Brief an seine Eltern: »Gern tue ich es natürlich nicht, ich bin von Natur feige und werde für einen guten Sol­ daten viel zu nervös sein. Aber es mußte sein.«45 In den Kriegsjahren schärfte sich Rosenzweigs Auffassung des Judentums. Die Suchbewegung, die im Leipziger Nachtgespräch ihren Ausgang genommen hatte, wurde in dem 1916 wieder aufgenommenen Briefwechsel intensiviert.

Der Briefwechsel Drei Jahre nach dem Nachtgespräch also ließen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy ihre Auseinandersetzung neu aufleben. Beide waren zu dieser Zeit ins Kriegsgeschehen involviert, Rosenstock-Huessy an der Somme und bei Verdun, Rosenzweig in Mazedonien. Nach einer Unter­ redung mit Rudolf Ehrenberg, der ihn in Kassel besucht hatte, hatte Rosen­ stock-Huessy die Initiative ergriffen und den Kontakt zu Rosenzweig wieder aufgenommen. Allerdings hatte Rudolf Ehrenberg ihm bei diesem Zusam­ mentreffen überhaupt erst »von der Konversion Franzens zum Judentum und 44 Siehe z. B. ebd., 151–156. 45 Brief Rosenzweigs an seine Eltern vom 15. April 1915, zit. nach ebd., 180.

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von den folgenden Jahren in Franz’ Leben« erzählt.46 Mit dem Brief vom 29. Mai 1916 entspann sich ein neuer Disput. Hatte der Konflikt am 7. Juli 1913 noch um die Konfrontation von überzeitlichem Glauben und philoso­ phisch-historischem Wissen gekreist, ging es nunmehr um die »großen« Fra­ gen: um das Verhältnis der Religionen zueinander und die Suche nach dem rechten Verständnis der Offenbarung. Dementsprechend stellte RosenstockHuessy in der Publikation der Briefe Rosenzweigs im Jahr 1935 den Brief­ wechsel von 1916 unter den Titel Judentum und Christentum. Nur zögerlich kamen die eigentlichen Fragen zur Sprache, der Gedankenaustausch entwi­ ckelte eine eigene Dynamik. Rosenstock-Huessy resümierte sie in seinem Vorwort von 1935: »Sogar die beiden Briefschreiber selber werden nur sto­ ckend und zu ihrer eigenen Überraschung zur rücksichtslosen Aufrollung ihrer Fronten gezwungen.«47 Die Freundschaft zwischen beiden vertiefte sich und die Auseinandersetzung wurde offener und schärfer. Erst Anfang Juli 1916 bezog sich Rosenzweig im Briefwechsel explizit auf das Leipziger Nachtgespräch und resümierte: »In Leipzig allerdings waren wir Thesis und Antithesis (aber nicht gleichwertig, sondern ich der Schüler).«48 Das 1913 noch polare Verhältnis habe sich im Jahr 1916 aufge­ löst. Rosenzweigs Positionsverlust als Historiker und seine Suche nach einem jüdischen Selbstverständnis führten damit zur Wiederaufnahme des Leipziger Gesprächs auf einer neuen Grundlage. Zuerst verdeckt, im weite­ ren Verlauf des Briefwechsels allerdings deutlicher, zeigte Rosenzweig, wie er sein Judentum in Konfrontation mit dem Christentum Rosenstock-Hues­ sys verstanden wissen wollte. Und Rosenstock-Huessys noch im selben Monat verfasste Replik machte die Gegenläufigkeit ihrer Entwicklung expli­ zit: »Was Sie aufgeben, suche ich, was Sie suchen, war bei mir im Anfang.«49 Die Frage Rudolf Ehrenbergs, wer denn das Volk Israel sei, wurde in die­ sem Briefwechsel von Rosenzweig wieder aufgenommen. Er distanzierte sich von seiner im Sommer 1913 vertretenen Auffassung, als Jude Christ werden zu wollen, und bestimmte das Verhältnis von Judentum und Christen­ tum neu.50 Rosenzweigs Ausgangspunkt für das ihm gegenwärtige Judentum und dessen Verhältnis zum Christentum war nun der »johanneische Chris­ tus«. Eine Bezeichnung der eigenen Zeit als »johanneisch« verwendete auch 46 Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 11. 47 Rosenzweig/Rosenstock-Huessy, Judentum und Christentum, 638. 48 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 6. Juli 1916, zit. nach ders., Briefe, 646–648, hier 647. 49 Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 19. Juli 1916, zit. nach ebd., 649– 652, hier 649. 50 Siehe ebd., 660.

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Rosenstock-Huessy in seinen Autobiographischen Fragmenten (1968), aller­ dings für eine in die Zukunft gerichtete Perspektive.51 Signifikant ist, dass Rosenzweig, um die Welt wahrzunehmen, im Jahr 1916 noch eine christli­ che Perspektive heranzog und diese gerade auch für sein Verständnis des ihm gegenwärtigen Judentums seit 1789 einnahm. Vier Jahre später, 1920, sollte er die Zäsur in der jüdischen Geschichte dann explizit nicht mehr auf das Jahr 1789, sondern auf die Judenemanzipation datieren. So hieß es in Der jüdische Mensch, dass nicht 1789 den Menschen an sich geschaffen habe, sondern erst die »Judenemanzipation […] (denn sie zerriß ein nicht mensch-, ein natur- und gottgegebenes Band)«.52 In den Kriegsjahren wandte sich Rosenzweig vermehrt Schellings Spät­ philosophie zu und adaptierte dessen geschichtsphilosophische Interpreta­ tion.53 Der zufolge war Johannes der Evangelist als Repräsentant einer zukünftigen wahrhaft öffentlichen Kirche zu betrachten – einer Kirche in der Welt, die auch Juden und Heiden umfassen sollte. Rosenzweigs Adap­ tion dieser geschichtlichen Konstruktion trug durchaus ambivalente Züge. Bereits im Januar 1916 verdeutlichte er in einem Tagebucheintrag einen – pessimistischen – Grundgedanken, um den es ihm bei dieser neuen Phase des Christentums ging. Demnach war das Ergebnis der Aufklärung die Johanneisierung der Kirche, womit er deren Befähigung zur Mission meinte. Diese zeige sich laut Rosenzweig im gegenwärtigen Krieg, der an allen Sei­ ten über die christliche Welt hinausgreife und zu einer überchristlichen Poli­ tik führe.54 Rosenzweigs Einstellung gegenüber einer geschichtlichen Inter­ pretation des Johannesevangeliums war aber nicht nur negativ. An 51 Es ist bemerkenswert, dass zwar beide Briefpartner ein Konzept der »johanneischen Zeit« vertreten, diese aber von Rosenzweig auf den Evangelisten bezogen und in der Gegenwart bzw. der Moderne situiert wird, während sie bei Rosenstock-Huessy in Bezug auf die Offenbarung des Johannes als eine Zukunft der Christenheit begriffen werden soll. Letz­ terer wollte auch die Agenda des Patmos-Verlags als johanneisch verstanden wissen. Siehe Eugen Rosenstock-Huessy, Rückblick auf die Kreatur, in: ders., Ja und Nein, 107– 118, hier 107. 52 Franz Rosenzweig, Der jüdische Mensch, in: ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Anne­ marie Mayer, Den Haag 1984, 559–575, hier 559. 53 Miriam Bienenstock verweist darauf, dass Rosenzweig Schellings Spätphilosophie wahr­ scheinlich in weiten Teilen von Hans Ehrenberg übernommen und diese nicht selbst gele­ sen hat, dennoch ist Schellings Philosophie im Stern der Erlösung präsent. Zu Rosen­ zweigs Schelling-Adaption siehe dies., Auf Schellings Spuren im »Stern der Erlösung«, in: Martin Brasser (Hg.), Rosenzweig als Leser. Kontextuelle Kommentare zum »Stern der Erlösung«, Tübingen 2004, 273–290; Stéphane Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985, bes. 125; sowie Hans Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kul­ turbereich, Tübingen 1970, 156–164. 54 Tagebucheintrag Rosenzweigs vom 14. Januar 1916, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 1: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, 183.

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Rosenstock-Huessy schrieb er, dass fast alle Sätze dieses Evangeliums auch für die Juden gelten könnten. Mehr noch, er gliederte den dritten Teil des Sterns der Erlösung in Anlehnung an Johannes 14,6: »Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Danach war die jüdische Gemeinde im ewigen Leben, die christliche auf dem ewigen Weg und die ewige Wahrheit bildete den Abschluss des Werks. Zugleich problematisierte Rosenzweig gegenüber Rosenstock-Huessy mit seiner Zeitdiagnose die Frage nach den weltlichen Gesetzen für das Juden­ tum.55 Im Kern wollte er zeigen, was es hieß, Jude zu sein in einer Welt, in der das Judentum seit 1789 der Frage nach dem Verhältnis zur modernen Welt ausgesetzt war. Denn mit dieser Epoche sei eine Judenheit ohne Altes Testament in die Wahrnehmung des Christentums gerückt.56 RosenstockHuessy ging auf diese These ein und fragte, was passieren würde, wenn Juden nicht mehr nach dem Gesetz und den Traditionen lebten.57 Im Juden­ tum gebe es, so Rosenstock-Huessy, nicht »die Möglichkeit zur Theologie, zur Wahrheitsforschung, so wenig wie zur Schönheit«.58 Er war der Über­ zeugung, dass man im Judentum im bloßen Leben verweile. Dieser Anwurf konnte von Rosenzweig, der stets auch nach der Wahrheit suchte, nur als Verdikt verstanden werden. Ex negativo deutete sich hier ein zentraler Anspruch des Sterns der Erlösung an. Rosenzweig behandelte in diesem Werk eine solche jüdische Theologie, den Begriff des Lebens bereitete er systematisch auf. Entsprechend endete sein Opus magnum, wo es gerade um die ewige Wahrheit ging, mit den Worten »Ins Leben«.59 Trotz Differenzen in Fragen der Religion waren sich die Kontrahenten in ihrer Zeitdiagnose auch 1916 noch weitgehend einig. Das Problem ihrer Zeit erkannten sie demnach in den verschiedenen -ismen, die sie jedoch – und das ist entscheidend – unterschiedlich herleiteten. So rekurrierte Rosen­ stock-Huessy provokativ und zeitkritisch auf die Zerstörung des Zweiten Tempels: »Seit 70 n. Chr. gibt es nur ἔθνη [Völker] und das auserwählte ἔθνος [Volk] ist zum bloßen Färbereagenz alles Völkischen herabgesun­ ken.«60 Damit sah der Christ jüdische Kollektivität als Derivat der nationalen Idee. Rosenzweig ignorierte diesen Seitenhieb zunächst und nahm in seiner Antwort den Gedanken von der anderen Seite auf. So sei erst im 19. Jahrhun­

55 Siehe Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom Oktober 1916 (o. D.), 672. 56 Ebd. 57 Siehe Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 30. Oktober 1916, zit. nach ders., Briefe, 680–682, hier 680. 58 Ebd., 682. 59 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 472. 60 Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 30. Oktober 1916, 680.

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dert zu »ἔθνος [Volk]« der »-ισμóς [-ismus]« gebildet worden.61 Dieser Nationalismus bedeutete für Rosenzweig gerade »die vollendete Christiani­ sierung des Volksbegriffs«.62 Denn der Unterschied zum antiken Heidentum bestand laut Rosenzweig eben darin, dass die Antiken dachten, »von Gott zu sein«, aber die Modernen annahmen, »zu Gott zu gehen«.63 Was wollte Rosenzweig mit dieser Unterscheidung aufzeigen? Er wollte verdeutlichen, dass der Nationalismus die christliche Erlösungsvorstellung adaptierte. In dieser Heilsorientierung des Nationalismus sah Rosenzweig auch einen Grund dafür, dass auf die Französische Revolution der Weltkrieg gefolgt sei. Den von Rosenstock-Huessy vorgebrachten Einwand kehrte er somit ins Positive und konstatierte, dass gerade weil »die Auserwähltheit Färberea­ genz aller Nationalität überhaupt geworden ist, die jüdische Auserwähltheit etwas Einzigartiges« ist.64 Zentraler Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass Rosenzweigs Kritik am Nationalismus bereits darauf verwies, dass der Nationalismus auch als Resultat der Säkularisierung einer Heilsvorstellung angesehen werden kann. Zugleich charakterisierte Rosenzweig den funda­ mentalen Unterschied zwischen den Vorstellungen von einer modernen Nation und dem Volk Israel. Dies fand im Topos »Rest Israels« Eingang in den Stern der Erlösung und wurde ein zentraler Ansatz gegen eine negativ gedeutete Weltgeschichte.65 Im September 1916 fragte Rosenzweig nach dem Verhältnis von Natur und Offenbarung sowie nach dem Verständnis von Sprache. Der Offenba­ rungsbegriff findet sich in seinen Briefen und Tagebüchern seit dem Brief an Rudolf Ehrenberg im Herbst 1913, er beschäftigte ihn somit seit dem Leipziger Nachtgespräch. Rosenstock-Huessys Antwort war für Rosen­ zweig insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Zeitlich­ keit von Interesse. Er führte aus, dass er im Denken ein zeitliches Nachei­ nander situiere und daher lieber von der Sprache als von der Vernunft ausgehe66 – ein Grundgedanke, den Rosenzweig in sein neues Denken auf­ nahm und dem er einen zentralen Stellenwert zuwies. So charakterisierte er in seiner Rückschau Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung« aus dem Jahr 1925 dieses als ein spezifisch Zeitli­ ches.67 61 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 7. bis 9. November 1916, zit. nach ders., Briefe, 685–694, hier 686. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 449. 66 Siehe Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 28. Oktober 1916, zit. nach Rosenzweig, Briefe, 675–680, hier 676. 67 Siehe Franz Rosenzweig, Das neue Denken, in: ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 3: Zweistromland, 139–161, bes. 148 f.

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Daran anknüpfend verstand Rosenstock-Huessy die Frage nach Natur und Offenbarung als Frage nach natürlichem Verstand und Offenbarung.68 Offenbarung sei Orientierung.69 Auch der natürliche Verstand erschließe sich die Erscheinungswelt durch Analogien und finde sich so in ihr zurecht. Der Unterschied liege aber darin, diese Orientierung als von Gott bedingt anzunehmen.70 Zwar sah Rosenstock-Huessy eine gewisse Autonomie von Verstand und Sprache in der Wissenschaft, doch zugleich machte er einen fundamentalen Unterschied aus zwischen der heidnischen Sprachauffassung und derjenigen der christlichen Offenbarung; im Bereich des Heidentums bleibe die Sprache – und dies auch noch in der modernen Wissenschaft – in sich selbst gefangen.71 Dieses Motiv fand im Stern der Erlösung unmittelba­ ren Nachhall – der erste Teil handelte vom Geheimnis der (noch) offenba­ rungslosen Vorwelt und der Mathematik als Sprache eines überzeitlich ver­ standenen Heidentums. 1916 teilten Rosenzweig und Rosenstock-Huessy nicht nur die Einschät­ zung des Heidentums, das beide noch in der modernen Wissenschaft situiert sahen. Rosenzweig knüpfte an die Reflexionen über die Offenbarung an und machte deutlich, dass er nun Rosenstock-Huessys Rekurs auf die Sprache einsehen könne. Jedoch verstand Rosenzweig die Offenbarung 1916 gerade nicht als christliche – aber ebenso noch nicht als jüdische – sondern als all­ gemeine. Anfang November schrieb er, dass es jetzt auch bei ihm lebhaft »sprachelt«.72 Und einen knappen Monat später skizzierte er das sich bei ihm herauskristallisierende »dialogische[-] Verfahren«. Er ging nun davon aus, dass es jeweils einen Augenblick gebe, in dem das Leben spreche, und dass diese einzelnen Monologe auf der Ebene des Weltgeheimnisses einen Dialog darstellten: Dies sei der Inhalt der Offenbarung.73 Rosenstock-Huessy sagte später unter Bezugnahme auf dieses Verständnis, dass sein »eigener

68 Siehe Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 28. Oktober 1916, 676. 69 Auf diesen Punkt bezog sich Rosenzweig auch in »Urzelle« des Stern der Erlösung und zitierte Rosenstock-Huessy aus der Erinnerung wie folgt: »Offenbarung ist Orientierung.« Siehe Franz Rosenzweig, »Urzelle« des Stern der Erlösung. Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917, zit. nach ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 3: Zweistrom­ land, 125–138, hier 125. 70 Brief Rosenstock-Huessys an Franz Rosenzweig vom 28. Oktober 1916, 677. 71 Ebd., 678 f. 72 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 7. bis 9. November 1916, 687. Zu sprachphilosophischen Ausrichtungen und Wechselwirkungen siehe bes. Harold M. Stah­ mer, »Speech-Letters« and »Speech-Thinking.« Franz Rosenzweig and Eugen Rosen­ stock-Huessy, in: Modern Judaism 4 (1984), H. 1, 57–81; Martin Brasser, Rosenstock und Rosenzweig über Sprache. Die »Angewandte Seelenkunde« im »Stern der Erlösung«, in: ders., Rosenzweig als Leser, 173–207. 73 Siehe Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy, o. D. (November 1916), zit. nach ders., Briefe, 710–713, hier 711 f.

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Partner im Dialog des Lebens, Franz Rosenzweig«, damit zu seiner damali­ gen »Praxis die Theorie verfasst« habe.74 In Weiterentwicklung des Ver­ ständnisses von Offenbarung als Orientierung nahm Rosenzweig 1916 die Vorstellung vom Wesen der Offenbarung an, das darin liege, dass sie »eine absolute symbolische Ordnung in die Geschichte bringt«.75 Diese Selbstbe­ kenntnisse, die Monologe, sind die Anzeichen des »›großen Tags‹ der Welt­ geschichte«.76 Rosenzweig ging davon aus, dass diese Monologe die ersten und letzten Dinge behandeln, und er sah deren »wahre Synthese« darin, dass sie den »Inhalt der ›mittleren Dinge‹«, also »der dialogischen Weltge­ schichte bilden«.77 Dieses Verständnis einer offenbarungsfundierten Weltge­ schichte, die sich zwischen Gott und Mensch bewegt, blendete er im Stern der Erlösung zugunsten eines negativ konnotierten aus; gleichwohl blieb das dialogische Verfahren der Kern seines Offenbarungsbegriffs. Bezeich­ nenderweise hielt Rosenzweig ein Jahr später – 1917 – den Einfluss Rosen­ stock-Huessys auf sein Verständnis der Offenbarung in der sogenannten »Urzelle« des Stern der Erlösung fest.78 Explizit knüpfte er an RosenstockHuessys Offenbarungsbegriff an und bemühte sich, diesen zentralen Begriff mittels philosophischer Methodik zu fundieren: »So ist der Offenbarungsbe­ griff dieser Welt nicht das Allgemeine, weder die Arche noch das Telos, weder die natürliche noch die geschichtliche Einheit, sondern das Einzelne, das Ereignis, nicht Anfang oder Ende, sondern Mitte der Welt.«79 Diese spe­ zifische Temporalstruktur der Offenbarung wurde zum synthetisierenden Moment im Stern der Erlösung insgesamt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blieben in dieser Vorstellung zwar bestehen, aber nicht linear, son­ dern sie wurden in der Offenbarung in eine Gegenwärtigkeit hineingezogen. Auffällig ist, dass Rosenzweig in seinem ersten Konzept einer Systematik des Sterns der Erlösung – wie eben auch im Briefwechsel mit RosenstockHuessy – noch von der Offenbarung im Allgemeinen sprach. Eine Spezifik der jüdischen Offenbarung, auch gegen die christliche, führte er erst ein Jahr später mit der Niederschrift seines Hauptwerks ein.

74 Eugen Rosenstock-Huessy, Der Dialog des deutschen Volkes, in: ders., Ja und Nein, 45– 57, hier 45. 75 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 30. November 1916, zit. nach ders., Briefe, 705–710, hier 710. 76 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy, o. D. (November 1916), 712. 77 Ebd. 78 Siehe Rosenzweig, »Urzelle« des Stern der Erlösung, 125. 79 Ebd., 133.

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Nachwirkungen Hatte Franz Rosenzweig im Sommer 1913 noch relativistisch argumentiert, wodurch er in eine persönliche Krise geraten war, begann sich seine Sicht­ weise in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu verändern. Ein Ende fand seine Suche nach einem jüdischen Standpunkt in der modernen Welt jedoch erst während der Arbeit am Stern der Erlösung. Erst nach dessen Vollendung war aus dem Historiker ein Denker des Judentums geworden, der die Philo­ sophie wieder mit der Theologie vereint sehen und der geistesgeschichtli­ chen Säkularisierung seiner Lebenswelt entgegentreten wollte. Was also charakterisiert dieses Werk Franz Rosenzweigs? Folgt man seiner Retro­ spektion aus dem Jahr 1925 in Das neue Denken, war es zuerst ein kritisches System der Philosophie, in einem zweiten Schritt die Inauguration des neuen Denkens und abschließend auch ein Buch des Judentums.80 Diese Ebenen fanden Niederschlag in der Gliederung in drei Teile, die von dem Erkennt­ nisbereich der Begriffe über den der Wirklichkeit hin zu dem der Wahrheit führen sollten. Vor Rosenzweigs Wendung zum Judentum hatte ein intellek­ tueller Weg durch den deutschen Idealismus gelegen – mit doppeltem Ergeb­ nis. So distanzierte er sich mit dem Stern der Erlösung einerseits von seiner bisherigen Beschäftigung mit der Philosophie Hegels, andererseits ging die Argumentation von einem idealistischen Ansatz aus. Sie endete jedoch mit einem Wissen von Gott als Wahrheit. Die Hinführung zu dieser Antwort fand ihre Eröffnung mit der großen philosophischen Frage nach der Erkenn­ barkeit des Alls, der Einheit allen Wissens.81 Damit rekurrierte Rosenzweig implizit auf die Position, die er mit Rosenstock-Huessy teilte, nämlich über die gegenwärtige Philosophie hinauszudenken. Zugleich verdankte Rosen­ zweig seine Systematik einer Denkbewegung, die er zwar nicht als Dialektik begriff, die aber trotz aller Kritik an die hegelsche angelehnt blieb. Die in­ trinsisch-zeitliche Bewegung des neuen Denkens stand im Zentrum und bil­ dete den Leitgedanken des Sterns der Erlösung. Aber dessen zentraler Ver­ mittlungsbegriff wurde gerade der der Offenbarung. Im Stern der Erlösung wurde das Davidschild buchstäblich nachgezeich­ net. Die drei Teile des Werks waren in drei Bücher unterteilt, durch deren Topoi und Anordnung das Hexagramm entstand, das auch die Erstausgabe zierte. Der Verfasser ging aber nicht der Geschichte des Symbols nach, son­ dern er definierte die Figur neu. Das erste gleichseitige Dreieck wurde im ersten Teil durch die noch separaten »Elemente« gebildet, das zweite im darauffolgenden Teil durch die ordnende »Bahn«, und wie beide zusammen­ 80 Siehe Rosenzweig, Das neue Denken, 139 f. 81 Zur Frage nach dem All siehe ders., Der Stern der Erlösung, Kap.: Einleitung. Über die Möglichkeit das All zu erkennen, 3–24.

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wirkten und zur »Gestalt« des Sterns wurden, zeigte der dritte Teil. Der Ort der Elemente »Gott«, »Welt« und »Mensch« als inkommensurable Größen war die »immerwährende Vorwelt« und ihre Sprache die Mathematik. Diese erste Ebene war für Rosenzweig die der Begriffe, und er strich 1925 heraus, dass es darin um eine Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte und der Erkenntnis ging.82 Er wollte in diesem Teil zeigen, dass die Grund­ begriffe Gott, Mensch und Welt notwendiger Teil der Logik, aber letztlich jeweils nur auf sich selbst zurückzuführen sind und sich nicht – wie im Idea­ lismus angenommen wurde – aus einem Prinzip des Denkens ableiten las­ sen. Das zweite, ebenfalls gleichseitige Dreieck, das in der »allzeiterneuer­ ten Welt« situiert war, verband die distinkten Begriffe in einer Bahn von »Schöpfung«, »Offenbarung« und »Erlösung«. Die Sprache dieser Welt war die Grammatik. In diesem Teil führte Rosenzweig sein »neues Denken« ein, das er 1925 als Sprachdenken begriff und das als solches – wie schon Rosen­ stock-Huessy 1916 angenommen hatte – immanent eine zeitliche Struktur aufwies.83 Rosenzweig differenzierte darin den bloßen Gedanken, dessen immanente Abfolge nicht relevant sei, vom sprachlich gefassten Gedanken, der notwendig ein Nacheinander der Artikulation besitze. Zugleich bezog er sich auf die erzählende Philosophie Schellings. Die Methode des zweiten Teils leitete er 1925 mit den Worten ein: »Eine erzählende Philosophie hat Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments ›Die Weltalter‹ geweis­ sagt. Der zweite Band versucht sie zu geben.«84 Der dritte Teil schließlich widmete sich der Wahrheit. Er sollte die Gestalt des Sterns sichtbar machen, die auf die »ewige Überwelt« verweist und deren Sprache die Liturgik ist. Gleichzeitig setzte Rosenzweig darin die beiden Offenbarungsreligionen in verschiedene Verhältnisse zu den modernen Staaten und zu der Weltge­ schichte.85 Erst in diesem dritten Teil wurden Judentum und Christentum zum primären Gegenstand der Darstellung. Das zentrale Postulat im Stern der Erlösung war eine neue Verbindung von Theologie und Philosophie. Beide Disziplinen seien »aufeinander ange­ wiesen, und erzeug[t]en so miteinander einen neuen zwischen Philosophie und Theologie gestellten, sei es nun Philosophen- oder Theologentyp«.86 Dabei bezog sich Rosenzweig aber implizit auf ein christliches Theologie­ verständnis, wie es sich auch im deutschen Idealismus niedergeschlagen hatte. Selbst wenn er eine rabbinische Theologie anführte und auf weitere jüdische Quellen rekurrierte,87 blieb die primäre Reflexionsfolie die christli­ 82 83 84 85 86 87

Ders., Das neue Denken, 142 f. Siehe ebd., 148 f. Ebd., 148. Siehe z. B. ders., Der Stern der Erlösung, 369. Ebd., 118. Siehe ebd., 130.

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che Prägung der Theologie. Entsprechend adaptierte er, wie bereits im Brief­ wechsel mit Rosenstock-Huessy angelegt, im Stern der Erlösung Schellings geschichtliche Interpretation des Christentums. Rosenzweig ging wie der Denker des deutschen Idealismus zuerst von der petrinischen, dann von der paulinischen und zuletzt von der johanneischen Phase der Geschichte aus. Insbesondere die letzte, die johanneische Phase rücke den Menschen als modernen Heiden ins Zentrum.88 Diesem Verständnis wollte Rosenzweig den Offenbarungsglauben im Judentum und Christentum entgegensetzen und die Theologie damit in einem säkularisierten Umfeld neu formieren. Seine weltgeschichtliche, christlich geprägte Interpretation rückte in dem Moment in den Hintergrund, als die göttliche Wahrheit zum Gegenstand wurde. Gerade in diesem Teil des Werks entfaltete Rosenzweig aber seine theologische Perspektive. Im abschließenden Buch, das Judentum wie Christentum im Bereich der Wahrheit thematisierte, wie auch im gesamten dritten Teil des Sterns, fand der Theologiebegriff selbst zwar keine Verwendung mehr, aber der Inhalt war als ein theologischer zu verstehen. Rosenzweig konturierte sowohl den unterschiedlichen Bezug von Judentum und Christentum zur Weltgeschichte als auch denjenigen zur Wahrheit, die er gerade in Gott sah. Für die erkennt­ nistheoretische Frage nach dem All fand er damit eine theologische Ant­ wort, die nicht zuletzt durch den philosophischen Ausgangspunkt universale Gültigkeit beanspruchte. Judentum und Christentum hatten demnach beide Anteil an der Wahrheit: Ersteres in der Verinnerlichung im ewigen Leben der Generationen und Letzteres in der Entäußerung auf dem ewigen Weg der Mission.89 Damit differenzierte der Verfasser zwischen dem Ewigkeitsbezug im Judentum und im Christentum. Das jeweilige Verhältnis zur Weltge­ schichte wurde zum zentralen Unterscheidungskriterium. Während das Judentum als sakral verstandenes Judentum – das Rosenzweig auch als »Rest Israels« auffasste – durch eine Verinnerlichung im ewigen Leben kei­ nen Bezug zur Weltgeschichte habe, sei das Christentum aus sich selbst heraus durch eine Entäußerung auf dem Weg und damit an der Seite der Weltgeschichte.90 Auch wenn die verschiedenen Etappen des Christentums geschichtsphilosophisch nachvollzogen wurden, endete die Denkbewegung Rosenzweigs mit der göttlichen Wahrheit, die im Judentum eine adäquatere Repräsentation erfahre. Denn für ihn war eine Konsequenz der christlichen Weltzeit, dass das Christentum, da es sich in der heidnischen Umwelt ver­ breite, in der Gefahr sei, sich dieser zu sehr anzupassen und sich damit von der Wahrheit zu entfernen.91 Den Gedanken führte er aber nicht zu Ende. 88 89 90 91

Siehe ebd., 315–317. Siehe ebd., 379. Siehe ebd., 380. Siehe ebd., 459.

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Im Kontext der christlichen Weltzeit nahm Rosenzweig die im Briefwech­ sel mit Rosenstock-Huessy aufgeworfene Frage nach der Auserwähltheits­ vorstellung der Völker wieder auf und explizierte den 1916 angerissenen Zusammenhang des christlichen Weltzugangs mit den Nationalismen der Zeit. Nun ging er davon aus, dass das Christentum für die ihm gegenwärtige Weltordnung mitverantwortlich sei, und konstatierte: »Macht ist deswegen der Grundbegriff der Geschichte, weil im Christentum die Offenbarung begonnen hat, sich über die Welt zu verbreiten, und so aller […] Ausdeh­ nungswille zum bewußtlosen Diener dieser großen Ausdehnungsbewegung geworden ist.«92 Dies beruhe auf einem Drang zur Ewigkeit, den auch die einzelnen Völker verspürten – aber innerhalb der Weltgeschichte. In Abgrenzung zum ewigen Leben des jüdischen Volkes schrieb er: Das Blut der einzelnen Völker der Welt kreise nicht, sondern »es fließt in unrückläufi­ gem Gefälle abwärts durch die Landschaft der Zeit in den Ozean der Geschichte.«93 Das Judentum stehe dagegen außerhalb der Weltgeschichte. »An diesem stillen ganz seitenblicklosen Leben bricht sich die Macht der Weltgeschichte.«94 Für Rosenzweig waren Wahrheits- und Zeitdenken aufs Engste miteinan­ der verbunden. Die Wahrheit Gottes offenbare sich immer nur anteilig bis zur »messianischen Zeit«,95 in der sie vollends gewärtig werde. Er entfaltete damit eine explizite Eschatologie – und diese insbesondere im Bereich des Judentums. So benannte er in der Marginalie der zweiten Auflage des Sterns der Erlösung den Abschnitt, der sich der Zugänglichkeit der Wahrheit am Ende widmet, Die Gestalt der Bewährung: Eschatologie.96 Demnach war der Ort der vollen göttlichen Wahrheit – aus menschlicher Perspektive – erst das Ende.97 Aber weil die göttliche Wahrheit den Menschen anteilig zugäng­ lich sein könne, konstatierte Rosenzweig: »[Z]ur Zukunft [gehört] vor allem das Vorwegnehmen, dies, daß das Ende jeden Augenblick erwartet werden muss.«98 In der jüdischen – wie auch in der christlichen – Liturgik sah er die Möglichkeit, einen Ewigkeitsbezug zu erhalten. Das Judentum war für ihn von dieser Vorwegnahme der erfüllten Zeit gekennzeichnet. So kam er zu dem Schluss, dass das Judentum einen inneren Bezug zur Erlösung habe, während das Christentum den in der Welt getrennt verlaufenden Strahlen

92 93 94 95 96

Ebd., 450. Ebd., 420. Siehe ebd., 372. Ebd., 452. Siehe das Verzeichnis der Marginalien in ebd., 517–522, hier 522; im Haupttext ebd., 442 f. 97 Siehe ebd., 443. 98 Ebd., 261.

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des Sterns folge:99 »In der innersten Enge des jüdischen Herzens leuchtet der Stern der Erlösung.«100 Aber mit der Fokussierung auf das Ende der Zeit ver­ wies Rosenzweig zugleich auf ein christliches Heilsgeschehen, das er hier zumindest in Teilen adaptierte. Da ihm die vorherrschende Vorstellung von Theologie als christlich geprägtem Topos gegenwärtig war, kann die Emphase der jüdischen Lehre mit Bezug zur allgemeinen göttlichen Wahr­ heit im Stern der Erlösung vielleicht sogar als Versuch der impliziten Aneig­ nung dieses Bereichs angesehen werden. Denn auch wenn er den Begriff »Theologie« nicht mehr verwendete, explizierte er gerade die unmittelbare Bedeutung dessen, was unter Theologie verstanden wurde: die göttliche Wahrheit als Lehre. Im Frühjahr 1918, kurz bevor er mit der Arbeit am Manuskript des Stern begann, meinte Rosenzweig in einem kurzen Text mit dem Titel Die Wissen­ schaft und das Leben eine Antwort auf die Frage nach der Rolle der Religion in der Moderne innerhalb der protestantischen Theologie gefunden zu haben. »Mag es sich nun damit verhalten wie es will, – wir dürfen nicht übersehen, daß hier dem christlichen Bekenntnis unabsehbare Kräfte, die ihm verloren zu gehen drohten, erhalten worden sind und durch keine andre Macht als eben die Theologie.«101 Und er postulierte weiter: »Und eben das ists, was wir brauchen.«102 Eine jüdische Theologie sollte sich etablieren, die auch die gebildete (und akkulturierte) Judenheit seiner Zeit ansprach, in Analogie zu der protestantischen Perspektive. Nur wenige Monate lagen zwischen diesem Postulat der Adaption und seinem Hauptwerk, und doch artikulierte er diese Position später nicht mehr – dennoch blieb sie im Stern der Erlösung aufbewahrt. Zumindest konstatierte Eugen Rosenstock-Huessy noch 1969, daß er »ganz gewiß nie erwartet [hätte], daß sein Freund als gläubiger (nicht nur als herkömmlich ›frommer‹) Jude, als Jude der devotio (nicht etwa nur der denominatio) innerhalb der gemeinsamen Front hervor­ treten würde«.103 Bezeichnenderweise war es Rosenzweig selbst gewesen, der im Herbst 1913 in seinem Brief an Rudolf Ehrenberg zuerst seiner Ver­ mutung Ausdruck gegeben hatte, dass er sein »Judentum begrifflich christia­ nisierte«.104 Zwar revidierte er noch im selben Brief diese Einschätzung, aber die Herleitung seines jüdischen Standpunkts im Stern der Erlösung setzte

199 Siehe ebd., 457. 100 Ebd. 101 Rosenzweig, Die Wissenschaft und das Leben, in: ders., Der Mensch und sein Werk, Teil 3: Zweistromland, 483–489, hier 487. 102 Ebd. 103 Rosenstock-Huessy, Prolog und Epilog zu den Briefen Eugen Rosenstocks und Franz Rosenzweigs, 11. 104 Brief Rosenzweigs an Rudolf Ehrenberg vom 31. Oktober und 1. November 1913, 133.

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die Auseinandersetzung mit dem Christentum fort.105 Verblieb Rosenzweig damit vielleicht auch nach dem Stern der Erlösung in der Rechtfertigungs­ haltung gegenüber dem Christentum und so ex negativo in einem christ­ lichen Paradigma? Im Frühjahr 1918 hatte Rosenzweig in der Adaption christlicher Motive in der Moderne eine Stärke gesehen, 1920 lag der Fokus auf dem Judentum in der Gegenwart – was eine Verschiebung von 1789 auf die Judenemanzi­ pation als diagnostizierte geschichtliche Zäsur anzeigte. In seinem Vorle­ sungsentwurf für das Freie Jüdische Lehrhaus aus dem Jahr 1920 mit dem Titel Der jüdische Mensch ging Rosenzweig davon aus, dass eine allgemeine Zeit der Auflösung angebrochen sei, deren Zeichen die »Emanzipation der Juden« sowie das damit einhergehende Verschwinden der jüdischen Welt gewesen sei.106 Das Abendland sei nach dem Ersten Weltkrieg zersplittert und er selbst, wie auch seine Zeitgenossen, könnten dies bezeugen.107 Zugleich sah er in diesem einen Ende einer Zeit die Möglichkeit, eine neue anbrechen zu lassen, und er prognostizierte: »Über einer Welt von Grimasse und Verwirrung und Mord ist der Vorhang gefallen. Wenn sich die Blendne­ bel lichten, werden wir die Staaten neuer Natürlichkeit, neuer Ordnung, neuen Friedens aufgehen sehen.«108 In dieser Welt hoffte er Offenheit für die Suche nach einem modernen jüdischen Selbstverständnis entstehen zu sehen. Die nachwachsende Generation wisse, entsprechend seinem Begeh­ ren nach einer besseren Zeit, dass sie sich ganz der jüdischen Sphäre zuwen­ den solle. Obwohl Rosenzweig in seiner Zeitdiagnose eine Nachahmung christlicher Positionen zumindest nicht mehr öffentlich einforderte, fand die eschatologi­ sche Perspektive des Sterns der Erlösung auch noch 1920 eine Wiederauf­ nahme: so werde der letzte Jude nichts anderes sein als der letzte Mensch.109 Im Rahmen der Weltgeschichte wurde das Judentum von Rosenzweig exklu­ siv verhandelt und wurde somit zugleich der Garant der kommenden göttli­ chen Zeit. Die jüdische Gegenwart aber vollziehe sich weiterhin in zwei Wel­ ten. Der sakralen jüdischen Sphäre außerhalb der Weltgeschichte stellte Rosenzweig eine profane an die Seite, die selbstverständlich zur Lebenswelt des Menschen in der Moderne gehöre. In beiden Welten könne und müsse 105 David N. Myers etwa weist, neben Rosenzweigs expliziter Auseinandersetzung mit Rosenstock-Huessy und seinen Cousins, auf die Affinitäten hin, die zwischen seinem Anspruch, das Judentum zu aktualisieren, und protestantischen Positionen seiner Zeit bestehen. Siehe ders., Resisting History. Historicism and it’s Discontents in GermanJewish Thought, Princeton, N. J./Oxford 2003, 97 f. 106 Siehe Rosenzweig, Der jüdische Mensch, 571. 107 Siehe ebd., 572. 108 Ebd. 109 Siehe ebd., 575.

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man leben, aber nicht unter zwei Gesetzen. Rosenzweig meinte damit nicht eine staatliche – respektive rein weltliche – Gesetzgebung, denn unter Verweis auf Hermann Cohen und in implizitem Rekurs auch auf seinen eigenen Wer­ degang konstatierte er: »Man kann nicht an den ›deutschen Idealismus‹ und das ›Judentum‹ glauben – beides sind Gesetze, eines muß das andere untertan machen.«110 Nach dem Stern der Erlösung waren für Rosenzweig weder die Adaption christlich geprägter Vorstellungen von Theologie in der Moderne noch deren Anerkennung programmatisch, sondern – im Gegenteil – ein eige­ nes jüdisches Selbstverständnis und -bewusstsein in einer säkularisierten Umwelt. Führte aber der Anspruch einer neuen Verbindung von Theologie und Philosophie – wie er im Stern der Erlösung an zentraler Stelle formuliert worden war – nicht vielleicht indirekt zu einer Analogiebildung zu christlich geprägten Vorstellungswelten? Nicht zuletzt können sowohl das eschatologi­ sche Motiv wie auch das der zwei Sphären des modernen jüdischen Men­ schen in Affinität zu einer protestantischen Perspektive verstanden werden. Festzuhalten bleibt, dass Rosenzweigs Parteinahme für sein Judentum kein mit dem Nachtgespräch 1913 fixierter Einschnitt in seiner intellektuel­ len Biografie war, sondern dass sie vielmehr eine Entwicklung in seinem Wirken abbildet, die in den Jahren des Krieges zunehmend zutage trat. Den­ noch haben das Nachtgespräch und der sich hieran anschließende Brief­ wechsel mit Eugen Rosenstock-Huessy im Jahr 1916 Grundbegriffe des Sterns der Erlösung in Rosenzweigs Denken geschärft. Die Auffassung des Judentums in der Moderne, das in seinem Hauptwerk im »Rest Israels« auf­ bewahrt blieb, sowie dessen Verhältnis zum Christentum, die Vorstellung von einem modernen Heidentum und vor allem der Begriff der Offenbarung wurden nach dem Nachtgespräch zentrale Ansatzpunkte in Rosenzweigs Denken. In seinem späteren Werk mündeten sie in die Ausbildung systema­ tischer Grundbegriffe. Das Leipziger Nachtgespräch kann damit als Aus­ gangspunkt einer tief greifenden Selbstreflexion Franz Rosenzweigs angese­ hen werden, mit der er sich nicht nur bewusst als Jude verstehen wollte, sondern – weit mehr – mit der er seine Vorstellung vom Judentum als Welt­ auffassung philosophisch fundierte.

110 Ebd., 573.

Diether Döring

Eine ambigue Berufung: Eugen Rosenstocks Lehrjahre an der Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main Der Bestand an Unterlagen, die sich auf die Zeit der Tätigkeit Eugen Rosen­ stocks an der Akademie der Arbeit beziehen und die sich bis heute dort befinden, ist ausgesprochen dürftig. Nicht lange nach der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten, am 31. März 1933, wurde die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main von SA und Kriminalpolizei geschlossen, die Räume wurden versiegelt.1 Am Abend zuvor war ein Tele­ gramm des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbil­ dung eingetroffen. Es besagte, so die Mitteilung des damaligen Akademie­ leiters Prof. Dr. Ernst Michel an das Kuratorium der Universität am Folgetag, dass »mit einer vorübergehenden Schließung der Akademie zu rechnen« sei, und enthielt die Anordnung, den nicht beamteten Dozenten und Angestellten zum nächstzulässigen Termin zu kündigen. Für die folgen­ den Monate ist das Vorhaben der NSDAP belegt, die Akademie in eine Hochschule der Arbeit im Gebäude der Universität Frankfurt zu überführen. Das Ministerium, die Stadt sowie das Kuratorium der Universität befürwor­ teten den Vorschlag. Warum dieses Vorhaben letztlich nicht umgesetzt wurde, ist nicht ganz klar. Ein Erlass des preußischen Ministeriums vom 14. Januar 1935 vollzog die endgültige Schließung. Eugen Rosenstock (1888–1973), der Anfang der 1920er Jahre als erster Leiter der Akademie der Arbeit gewirkt hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits in die Vereinigten Staaten emigriert.

Idee und Realität der Akademie der Arbeit in der Weimarer Zeit Die Gründung der Akademie2 fällt in die frühen Jahre der Weimarer Repub­ lik. Die Rahmenbedingungen sind bekannt: Novemberrevolution 1918, Waf­ fenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen, Selbstaufgabe der 1 2

Otto Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M. Idee, Werden, Gestalt, Darmstadt 1966, 44–46. Der offizielle Name lautet heute Europäische Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 349–366.

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Diether Döring

Monarchie, Entscheidung der Arbeiter- und Soldatenräte für ein parlamenta­ risch-demokratisches System. Wirtschaftlich, politisch und sozial war dies zugleich eine Zeit der Krise, des Umbruchs, aber auch des demokratischen Aufbruchs. Die Lage der öffentlichen Finanzen war katastrophal. Hohe Reparationslasten und die sprunghaft ansteigende Nachkriegsarbeitslosig­ keit bedeuteten faktisch den Zusammenbruch der traditionellen Arbeitslo­ senkassen in gewerkschaftlicher Regie und erforderten die Einsetzung einer öffentlichen Arbeitslosenfürsorge. Als Folge dieser Entwicklung explodier­ ten die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften, in denen viele Beschäftigte eine Schlüsselrolle bei der Neuordnung von Wirtschaft, Unternehmen und Sozialstaat sahen.3 Es war offensichtlich, dass die neuen und erhofften wirtschaftspolitischen, wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Einflussmöglichkeiten (Betriebsräte­ gesetz, Formen überbetrieblicher Mitbestimmung, Ausbauschritte in der sozialen Sicherung) mit massiven Bildungsanstrengungen verbunden wer­ den müssten, umso mehr, als das gewerkschaftliche Bildungswesen im Krieg weitgehend stillgelegen hatte. Eine der in dieser schwierigen Lage angestoßenen Entwicklungen war die Öffnung von Hochschulen für Lehran­ gebote neuen Typs. Derartige Kursangebote sind für die Jahre 1919/20 für die Universität Köln, die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main sowie die Universität Münster dokumentiert.4 In Frankfurt am Main trieb man diese Öffnung weit voran. Hier gab es seit 1890 eine starke Volksbildungstradi­ tion, aus der der Rhein-Mainische Verband für Volksbildung (später Frank­ furter Bund für Volksbildung) entstand. Ihm wurde – nach anfänglicher Reserve – die Wahrnehmung allgemeiner Bildungsaufgaben für die Gewerk­ schaftsmitglieder übertragen. Auf diesem Gebiet hatten sich bereits Hoch­ schullehrer der 1901 unter Oberbürgermeister Franz Adickes gegründeten Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften engagiert, die im Wesent­ lichen auf die Initiative des Unternehmers, Sozialpolitikers und Philanthro­ pen Wilhelm Merton zurückging und zur Vorläuferin der Frankfurter Bür­ ger-Universität wurde. Durch einen preußischen Erlass auf Basis eines Stiftungsvertrages von Handelsakademie, Stadt, privaten Institutionen und Stiftungen wurde diese im Jahr 1914 ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gegründet. Der Stiftungsvertrag ordnete der neuen Universität aus­ drücklich auch die Aufgabe der Fortbildung für Berufstätige zu; im Lehrall­ tag spielte das zunächst aber offenbar keine große Rolle. Republikfeindliche Aktionen von Studenten anlässlich des Kapp-Putsches im März 1920 ver­ stärkten das Bestreben, solchen auch mit einer Veränderung des Profils der 3 4

Siehe hierzu Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 21–29. Paul Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, Frankfurt a. M. 1972, 393.

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Universität zu begegnen und damit zugleich neuen Bildungsbedürfnissen von Menschen aus dem Beruf Rechnung zu tragen. Die Chancen wuchsen, als die Universität infolge der ab 1920 sich schrittweise verstärkenden Geld­ entwertung finanziell in einen Engpass geriet und die öffentliche Hand um Unterstützung bat.5 Die damalige sozialdemokratische Stadtverordnetenfraktion war dazu bereit, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Universität sich für die Bildung von Arbeitern stärker öffnet. Konzeptionell ging diese Initiative von dem Stadtverordnetenvorsteher Theodor Thomas, zugleich Vorsitzender des Zentralverbandes der Dachdecker, und weiteren Persönlichkeiten – vorran­ gig von den Professoren Hugo Sinzheimer und Ernst Pape – aus. Sie wurden mit der Ausarbeitung einer Denkschrift beauftragt, die im Januar 1920 von der sozialdemokratischen Fraktion unter dem Titel Eine Arbeiter-Akademie in Frankfurt a. M. vorgelegt wurde.6 Die preußischen Finanz- und Kultusmi­ nister signalisierten ihre Zustimmung zum Projekt. Neben der wohlwollen­ den Aufnahme existierten auch Vorbehalte, etwa bei den Gewerkschaften und Teilen der Universität. Der Entwurf projektierte Studiengänge für vier berufliche Tätigkeitsbereiche (Verwaltung, Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik) mit breiten Bildungsinhalten, die von Wirtschaftswissenschaften, Recht und Gesellschaft bis hin zu Geschichte und Philosophie reichten – also eine Mischung aus typischen Elementen eines gesellschaftspolitischen Studium generale und handlungsorientierten fachlichen Anteilen darstellten. Das Hauptmotiv bestand in der Qualifizierung künftiger Führungskräfte aus der Arbeitnehmerschaft für die Verwirklichung neuer demokratischer Rechte in Staat, sozialen Institutionen und Unternehmen. Die Universität, die damals rund 4 000 Studierende zählte, sollte nun 1 000 Studenten neuen Typs aufnehmen. Realisiert wurde eine sehr viel kleinere Institution mit anfangs um die 70 Studierenden. Statt, wie ursprünglich geplant, vier sepa­ raten Studiengängen wurde ein Lehrgang mit mehreren Spezialisierungs­ möglichkeiten eingerichtet. Noch eine weitere Denkschrift suchte im September 1920 Einfluss zu nehmen: Sie trug den Titel Grundsätze über eine Bildungsstätte für erwach­ sene Arbeiter und stammte aus der Feder des Privatdozenten Eugen Rosen­ stock.7 Trotz ihres recht allgemein klingenden Titels richtete sie sich unmiss­ 5

6 7

Vgl. hierzu und zum Folgenden Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914– 1932, 399 f.; Notker Hammerstein, Die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, 3 Bde., Göttingen 2012–2014, hier Bd. 1: Von der Stiftungsuniversität zur staat­ lichen Hochschule, Göttingen 2012, 50–56. Die Denkschrift ist abgedruckt in Ernst Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921 bis 1931, Frankfurt a. M. 1931, 22–31. Siehe hierzu und zum Folgenden ebd., 31–42; Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 26 f.

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verständlich auf das Frankfurter Akademieprojekt; und offenbar beein­ druckte sie Mitglieder der preußischen Regierung – speziell Kultusminister Heinrich Becker. Bei den Verhandlungen in Frankfurt am Main spielte sie allerdings keine erkennbare Rolle. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer umfassender Beitrag Rosenstocks (damals noch als Herausgeber der Daimler-Werkszeitung in Stuttgart tätig) zum Thema Arbeitsrecht und Arbeiterbildung. Die Voraussetzungen der Frankfurter Akademie der Arbeit der Beachtung wert, den dieser in der Frankfurter Zeitung vom 31. Oktober 1920 veröffentlichte.8 Nachdem sich in einem Gründungsausschuss Vertreter der Universität, der Stadt, der zuständigen preußischen Ministerien sowie Repräsentanten der verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen und sozialen Institutionen (unter ihnen Wilhelm Mertons 1890 gegründetes Institut für Gemeinwohl) zusammengefunden hatten, wurde die Akademie am 2. Mai 1921 offiziell eröffnet. Das gesamte Projekt war von vielen Kontroversen begleitet, die in der Regel mit mehr oder weniger überzeugenden Kompromissen überbrückt, aber nicht immer beendet wurden. So hielten viele Gewerkschaftsvertreter eine solche Bildungsmaßnahme nur bei einer maximalen Dauer von einem halben Jahr für akzeptabel und zudem forderten sie eine weitgehende Kon­ trolle über Lehrkörper und Lehrpläne.9 Die Universität – und dies entsprach auch dem Tenor in der sozialdemokratischen Denkschrift – hielt dagegen eine Studiendauer von mindestens zwei Jahren für unabdingbar. Man ver­ suchte es schließlich zunächst mit deutlich weniger als einem Jahr. Auch die verschiedenen Gewerkschaftsrichtungen trauten der neuen Einrichtung offenbar nicht recht über den Weg. Gleiches gilt für die Arbeiter-, Angestell­ ten- und Beamtenverbände (die es in allen Gewerkschaften gab). Von Anfang an differierten auch die Vorstellungen darüber, worauf das gesamte Unternehmen zielen sollte: eher auf eine allgemeine Arbeiterbildung oder doch vorrangig auf die Vermittlung wissenschaftlich-fachlicher Kenntnisse für ganz bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten. Letztlich und vielleicht anders, als man erwartete, war diese Frage keineswegs von vornherein ent­ schieden. Auch der Lehrkörper setzte sich aus Persönlichkeiten zusammen, die unterschiedliche Vorstellungen hegten, und er war politisch und weltan­ schaulich heterogen; dementsprechend divergierten die methodischen Vor­ stellungen und Ansätze.

8 9

Siehe Universitätsarchiv Frankfurt am Main (nachfolgend UAF), Abt. 13, Nr. 131, Bl. 8. Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, 401–406.

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Die Lehrenden und ihre wissenschaftlichen Interessen Das Vorhaben einer »Arbeiter-Akademie« beziehungsweise einer »Akade­ mie der Arbeit in der Universität« zog trotz seiner Unvollkommenheit und der Tatsache, dass die auf Zeit angelegte Maßnahme der preußischen Regie­ rung in der »Bürger-Universität« zunächst wenig stabil erschien, viele inte­ ressante Geister an.10 Es war ein Aufbruch in eine andere Hochschul- und Bildungswelt, die insbesondere auf kritische Intellektuelle, aber auch auf junge Wissenschaftler äußerst anziehend wirkte – und letztgenannter Gruppe wohl auch berufliche Chancen versprach. Zum Leiter der neuen Akademie mit weitgehenden Vollmachten wurde von der preußischen Unterrichtsverwaltung Dr. Eugen Rosenstock be­ stimmt.11 Er erhielt das Recht und die Pflicht, die Dozenten auszuwählen und der Unterrichtsverwaltung in Berlin vorzuschlagen. Dies sollte allerdings nicht in direktem Widerspruch zu den dortigen Partnern geschehen. Wenig später folgte ein Vorstoß des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Heinrich Becker zur weiteren Stärkung der Position Rosenstocks. Er sollte zum Honorarprofessor in der Rechtswissenschaftli­ chen Fakultät ernannt werden und gleichzeitig einen Lehrauftrag für Deut­ sche Rechtsgeschichte und Staatslehre erteilt bekommen. Das Ministerium stieß hierbei aber auf eine unfreundliche Reaktion der Fakultät,12 woraufhin die Ernennung aufgeschoben wurde. In den frühen Jahren der Akademie engagierte sich ein großer Kreis von Persönlichkeiten gemeinsam mit Rosenstock in der Lehre. In großem Umfang beteiligt war Hugo Sinzheimer, Anwalt, Mitglied der verfassungs­ gebenden Nationalversammlung von Weimar und seit 1920 Professor für Arbeitsrecht und Rechtssoziologie an der Universität Frankfurt. Teilweise parallel zu Rosenstock lehrte auch Ernst Fränkel an der Akademie, der in den 1920er Jahren ein wichtiger Anwalt der freien Gewerkschaften war und großen Einfluss auf die spätere deutsche Politikwissenschaft haben sollte. Andere Rechtswissenschaftler, die mit Sinzheimer verbunden waren, stießen in späteren Jahren zum Kreis der Lehrbeauftragten hinzu. So etwa Franz

10 Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main, 33–39; Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921–1931. 11 Nach dem Vertrag vom 3. März 1921 war Rosenstocks Stellung wohl auf Dauer angesetzt: ihm stand ein Verwaltungsausschuss unterstützend zur Seite, siehe Antrick, Die Akade­ mie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 129–131. Nach Michel (Hg.), Die Aka­ demie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921–1931, 15, trat er seine Lei­ tungsfunktion am 7. März 1921 an. 12 Der Dekan trug die Bedenken mündlich dem Minister vor und bat von einem schriftlichen Bericht abzusehen. Siehe UAF, Abt. 110, Nr. 3, Bl. 2 f.

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Neumann, Assistent Sinzheimers, sowie Otto Kahn-Freund, der dessen Schüler war. Stark engagiert war auch Franz Oppenheimer, Inhaber des ersten Soziolo­ gielehrstuhls Deutschlands an der Frankfurter Universität. Er hatte ein grö­ ßeres Vorlesungsdeputat und bezog mehrere seiner Schüler in den Lehrbe­ trieb an der Akademie ein. Unter diesen ist besonders Erich Preiser zu nennen, der später in Heidelberg und München lehren sollte. Ebenfalls im Wirtschafts- und Gesellschaftsbereich der Akademie wirkten Wilhelm Gerloff, Professor an der Universität, sowie Emil Lederer mit, der Mitglied der Weimarer Sozialisierungskommission war. Weiterhin Gottfried Salo­ mon, vormaliger Assistent Oppenheimers, sowie Fritz Naphtali, bis 1926 Redakteur der Frankfurter Zeitung und später Wirtschaftsexperte der freien Gewerkschaften. Alle Genannten waren zumindest teilweise gemeinsam mit Rosenstock an der Akademie tätig. 1924 stieß noch Erik Nölting, ebenfalls Schüler Franz Oppenheimers, zum Lehrkörper hinzu, zunächst nebenamt­ lich, dann hauptamtlich. Er war ein wichtiger Sozialdemokrat der Weimarer Zeit und wurde 1928 Mitglied des preußischen Landtags. Ob Nölting bereits zur selben Zeit wie Rosenstock an der Akademie tätig war, ist jedoch zwei­ felhaft. Eine besonders wichtige Persönlichkeit in Zusammenhang mit Eugen Rosenstocks Tätigkeit war Ernst Michel, ein bedeutender Exponent christ­ lich-sozialen Denkens an der Akademie. Er war dort durchgängig hauptamt­ lich tätig, von der Zeit Rosenstocks bis zur Einstellung des Lehrbetriebes 1933. Von der deutlichen Heterogenität der Weltanschauungen und der methodi­ schen Vorstellungen, die es im Lehrkörper gab, war bereits die Rede. Poli­ tisch dominierten eher reformistische Haltungen. Manche dieser Dozenten hielten einzelne Vorträge oder sie unterrichteten nur wenige Stunden. Oppenheimer und Sinzheimer bezogen die Studierenden der Akademie auch in ihre Universitätsvorlesungen ein. In der Lehre trat Rosenstock, im Gegensatz zu Sinzheimer (Arbeitsrecht) oder Oppenheimer (Geschichte der nationalökonomischen Lehrmeinungen), als »Universalgenie«13 auf recht unterschiedlichen Feldern auf, während jene sich ausschließlich im Arbeitsrecht beziehungsweise in der National­ ökonomie betätigten. Rosenstock hielt 1921/22 eine Vorlesung über die »Geschichte des Menschen«, die auch als Einführung in die Wirtschaftslehre dienen sollte. Daneben zeugen seine Veranstaltungen mit den Titeln »Wesen des Rechts« und »Lehre vom Staat« sowie die im Rahmen der Soziologie 13 So die Bezeichnung von Hans-Ulrich Wehler in ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., hier Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deut­ schen Staaten 1914–1949, München 2003, 501.

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gehaltenen »Haupttatsachen der Geschichte« von seinem Forschungsinte­ resse. In den ersten von Rosenstock geprägten Lehrplänen der Akademie fällt die deutliche Dominanz wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Schwer­ punkte gegenüber allen anderen Gebieten auf. Dies reichte zum Beispiel bis hin zu Spezialseminaren zum Finanzmarkt und zum Bank- und Börsenwe­ sen mit dem Sozialwissenschaftler Ernst Kahn. Er war als Direktor einer Wohnungsbaugesellschaft stark an der Entwicklung des »Neuen Bauens« in Frankfurt am Main beteiligt. Damit wurde die Akademie dem in den 1920er Jahren spürbarer werdenden Einfluss der Finanzmärkte auf die wirtschaftli­ che Entwicklung gerecht. Ausführlich wurden auch Fragen der Sozialisie­ rung und der Wirtschaftsdemokratie behandelt, hier mit Eduard Heimann, der damals Generalsekretär der Weimarer Sozialisierungskommission war.14

Annäherung an die Divergenzen zwischen Rosenstock und Sinzheimer Das sinzheimersche Engagement für die Akademie ist einzigartig und setzte lange vor der eigentlichen Gründung ein.15 Er war gemeinsam mit Ernst Pape und Theodor Thomas ein wichtiger Ideengeber, amtierte kontinuierlich als Stadtverordneter in Frankfurt am Main, war Mitglied sämtlicher vorbe­ reitender Gremien, wirkte offenbar bei allen vorbereitenden Verhandlungen zur Gründung mit, trat regelmäßig öffentlich – auch in der Presse – für das Vorhaben ein. Nach dem Start lehrte er ohne Unterbrechung mit dem größ­ ten Stundenkontingent aller Dozenten, und dies bis zum zwölften Studien­ gang 1932/33, in dem er zudem als Vertreter der nebenamtlichen Dozenten im Verwaltungsausschuss tätig war. Wendet man sich dagegen dem Schaffen Rosenstocks an der Akademie und seiner Mitwirkung an ihrer Vorgeschichte zu, so scheint es, dass seine Berufung mit starker Reserve der preußischen Unterrichtsverwaltung gegen­ über vermuteten Absichten lokaler Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Hochschullehrer zu tun hatte. Offenbar wollte man jeglichen Anschein einer politischen und gewerkschaftlichen Schulungsanstalt vermeiden. Man kann nur vermuten, dass auch manch flammende Erklärung lokaler Initiatoren 14 Eine recht bildhafte Beschreibung der Akademiedozenten des Lehrgangs 1922/23 von Oppenheimer bis Rosenstock aus Sicht der Studierenden bietet Franz Osterroth, Erinne­ rungen eines deutschen Sozialisten zwischen 1900 und 1934 (unveröffentlichtes Manu­ skript), o. O. u. J. 15 Zu den äußeren Konstellationen des folgenden Abschnitts siehe Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 21–46.

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diese Vorsicht nahelegte. Jedenfalls bot hier wohl Rosenstock die Gewähr für nötige Distanz. Er durfte seine methodischen Ansätze sogar im Zentral­ blatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen vom 5. August 1921 veröffentlichen.16 Sein Bestehen auf größtmöglicher geistiger Freiheit, sein betonter Humanismus und sein Wunsch, die Akademie auf vollkommen offene Fragestellungen zu verpflichten, stießen auf Sympathie bei den betei­ ligten preußischen Ministern und Beamten, insbesondere im Kultusbereich. Jedenfalls wurde Rosenstock von der preußischen Unterrichtsverwaltung als Leiter auf Dauer mit weitgehenden Rechten etabliert. Der hartnäckige Ein­ satz des Ministeriums für Rosenstock wird an mehreren Stellen deutlich. Rosenstocks Engagement in der Leitung der Akademie näherte sich aller­ dings schnell einem Ende: Schon im März 1922 bat er den Minister um die Entpflichtung, da er »die Sache der Akademie und ihre friedliche Arbeit nicht durch Kämpfe von und gegen meine Person gefährden« wolle.17 Er informierte auch den Oberbürgermeister der Stadt, der kühl antwortete, dass der Schritt ihn »nach den mir ebenfalls gemachten Mitteilungen nicht über­ rascht« habe.18 Offenbar hatte es zuvor wiederholt Beschwerden über orga­ nisatorische Probleme gegeben. Generell scheint der Abschied eher frostig gewesen zu sein. Bei und nach seinem Ausscheiden setzte das Ministerium sich erneut für Rosenstock ein. In Gesprächen wurde offenbar versucht, es zu verhindern oder wenigstens den Eindruck des Scheiterns abzumildern. Der zuständige Ministerialbeamte, Geheimrat Wende, drängte die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität nun erneut mit großer Hartnäckigkeit, Rosenstock mit einem Lehrauftrag zu versehen.19 Man äußerte die Sorge, dessen Anse­ hen könne durch den Verlust der Akademieleitung leiden, und sah in einem Lehrauftrag an der Universität einen gewissen Ausgleich. Die Fakultät wehrte sich allerdings energisch. In verschiedenen Stellungnahmen verwies der Dekan zwar auf die allgemeine Anerkennung Rosenstocks, benannte aber unverblümt auch die Schattenseiten.20 Der zuständige Ministerialbe­ amte erklärte im Gespräch mit einem Abgesandten der Fakultät, nach einem von ihm herangezogenen Gutachten über Rosenstock genieße dieser zwar die »Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen«, zeige durch prob­ lematische Seiten aber »Mängel seiner Lehrbefähigung«, eine »Neigung zu romantischen Phantastereien« sowie »Ungeschicklichkeit, wenn nicht gele­ 16 17 18 19 20

Siehe Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, 405 f. und 410. Zit. nach ebd., 406. Zit. nach ebd. Siehe UAF, Abt. 110, Nr. 3, Bl. 4–15. So sei Rosenstock »an der Arbeiterakademie daran gescheitert, dass ihm das erforderliche Organisationstalent abgeht«. Verweis bezüglich der Lehrbefähigung auf [offenbar ungünstige] Erfahrungen der Leipziger Fakultät siehe ebd., Abt. 110, Nr. 3, Bl. 5.

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gentlich geradezu Taktlosigkeit […] im dienstlichen Verkehr«.21 Nach anhal­ tendem Druck aus dem Ministerium räumte die Fakultät Rosenstock dann doch einen Lehrauftrag für die Dauer eines Semesters ein, legte aber Wert darauf, dass er danach nicht wiederkomme. Man wollte nicht, dass er sich in der Fakultät festsetzte. In einem persönlichen Gespräch mit dem Universitätshistoriker Kluke im Jahr 1962 hatte Rosenstock eine gegen ihn gerichtete »Frontstellung« der »Sozialisten« als Grund für sein Ausscheiden herausgestellt sowie den Ein­ fluss jener Kräfte beklagt, die später das Institut für Sozialforschung gegrün­ det haben. »Die Mischung aus Marxismus und Geld zog eben die Leute an […].«22 Diese Erklärung ist allerdings wenig überzeugend, schon gar nicht, wenn man der Analyse von Notker Hammerstein folgt, der auf die großen Unterschiede zwischen dem Lehrkörper der Akademie und den Tendenzen des Instituts für Sozialforschung in den Zwanzigerjahren hingewiesen hat.23 Im Fall der Akademie darf allerdings nicht ausgeblendet werden, dass Eugen Rosenstock doch immerhin nach der Abgabe der Leitung und wäh­ rend seiner Professorenschaft in Breslau noch zwei Jahre lang weiterhin nebenamtlich an der Akademie weiterlehrte. Inwieweit dies von ihm erstrebt war oder inwieweit er sich hierzu hatte drängen lassen, ist im Nachhinein nicht mehr eindeutig festzustellen. Offenbar hatte ihn wiederum das Minis­ terium in Berlin aufgefordert, um so das Geschehen weniger dramatisch erscheinen zu lassen.24 Bei den hauptamtlichen Dozenten, die von ihm ein­ gestellt worden waren und ihm in unterschiedlichem Maße nahestanden, löste der Rückzug Rosenstocks aus dem Amt des Akademieleiters zweifel­ los Bedauern aus. Mit Ernst Michel, dem Exponenten der christlichen Soziallehre an der Akademie, hatte es außerdem augenscheinlich einen in mehrfacher Hinsicht Seelenverwandten gegeben, der ohne Unterbrechung bis zur Schließung des Lehrbetriebs 1933 an der Akademie tätig blieb und wiederholt die Leitung übernahm. Über ihn gab es ein gewisses Fortwirken der Ansätze Rosenstocks über dessen Zeit an der Akademie hinaus. Eine grundlegende Äußerung Ernst Michels zur Akademie spiegelt überdeutlich die Nähe zu den Vorstellungen Rosenstocks wider.25

21 22 23 24 25

Siehe ebd., Abt. 110, Nr. 3, Bl. 8 f. Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, 412. Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 55. Siehe UAF, Abt. 110, Nr. 3, Bl. 5. Siehe Mitteilungen. Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1 (1925), 1–14 (als Manuskript gedruckt).

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Konfliktlinien Für die Dramaturgie des Konflikts ist der zeitliche Ablauf von zentraler Bedeutung. Als Rosenstock von der preußischen Unterrichtsverwaltung berufen wurde, waren die wesentlichen Entscheidungen zur Gestalt der Aka­ demie gefallen. Insbesondere Sinzheimer und Pape hatten auf einem langen und mühevollen Weg Kompromisse mit Land, Stadt und Gewerkschaften erzielt, wobei die Ausgangsidee – der Universität eine andere Form zu geben und sie für neue Kreise der Bevölkerung zu öffnen – allerdings Federn las­ sen musste. Von ihnen ging die entscheidende Prägung aus. Im Kern ging es darum, den Ausbau der politischen wie der wirtschaftlichen Demokratie mit einem schnellen Zuwachs von Kompetenzen zu begleiten. Sinzheimer: »Die politische und wirtschaftliche Demokratie verlangt die geistige Demokratie. Die Funktionäre der neuen Zeit müssen fähig sein, deren Funktionen zum Besten des Ganzen auszuüben […].«26 Rosenstock taucht in den bekannten Papieren, die den Verhandlungsprozess widerspiegeln, nicht auf, auch wenn er sich mindestens zweimal, zunächst mit der Denkschrift vom September 1920, sodann mit dem oben erwähnten längeren Beitrag in der Frankfurter Zeitung vom Oktober desselben Jahres zu Wort meldete. Er kam – wie immer der Entscheidungsprozess im Einzelnen abgelaufen sein mag – quasi »von außen« in eine stark vorgeprägte Konstellation, in der die eigentlichen Initiatoren Sinzheimer, Pape und Oppenheimer schon als Teil des Lehrkör­ pers etabliert und auch politisch fest in Stadt, Gewerkschaften und Universi­ tät verankert waren. Hinzu kam, dass Sinzheimer, Pape und Oppenheimer Professoren an der Universität waren und traditionelle universitäre Lehrfor­ men durchaus bevorzugten. Vor allem Sinzheimer insistierte, dass nur der Vortrag dem Studierenden helfen könne, in »einem geschlossenen Gedan­ kengang einzudringen«, Gruppenarbeit und »Konversatorien« hätten viel­ mehr die Aufgabe, Vorlesungsstoff »durchzukneten«, also eine eher subsi­ diäre Funktion.27

26 Zit. nach Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 143. 27 Zit. nach ebd., 32.

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Zentrale Aussagen in Eugen Rosenstocks Denkschrift Grundsätze über eine Bildungsstätte für erwachsene Arbeiter vom September 1920 In einer kleinen Vorrede zur Denkschrift schrieb Rosenstock, dass sich heute im Kampf um die Bildung »Sozialisten« und »Akademiker« in offener Feindschaft gegenüberständen.28 Erstere verlangten die schnelle Ausliefe­ rung des akademischen Wissens an die Arbeiterschaft. Letztere dagegen verwiesen die Arbeiter auf die Volksbildung und ließen sich nur durch wirt­ schaftliche Lockungen zur Mitwirkung an der angeblichen »Arbeiter­ schnellbleiche« überreden. Alle Kompromisse zwischen diesen Fronten machten die Akademie gleichzeitig zu einer schlechten Universität und zu einer schlechten Volkshochschule. Notwendig sei ein dritter, ein neuer Bil­ dungssektor – die Bildung des erwachsenen berufstätigen Menschen. Mit Blick auf die Lehrmethode stellte Rosenstock apodiktisch fest, dass der Erwachsene anders als das Kind und der Jugendliche lerne. Letztere seien in der Lage, neuen Stoff aufzunehmen, ohne alten abzugeben, da der Aufbau des Geistes sich erst vollziehe. Dagegen sei der Erwachsene nur in der Lage Stoff aufzunehmen, wenn er auch Stoff ausscheide. Der Erwach­ sene sei mit »allen möglichen wirren Schriftzeichen beschrieben.« Er bleibe somit nur durch Stoffwechsel geistig lebendig. Bildung für Erwachsene habe die Aufgabe, diesen Stoffwechsel in Gang zu bringen: Falsches durch Richtiges und Unklares durch Klares zu ersetzen. Notwendig sei es, den Erwachsenen dazu zu bringen, seine Gedanken zu äußern und dadurch die Gedankenmassen in ihm in Bewegung zu setzen. Dann erst gäbe es Raum für die Aufnahme gereinigter Darstellung und die Enthüllung der Irrtümer durch den Lehrer wäre möglich. Die übliche Reihenfolge von Vortrag und Diskussion müsse also umgekehrt werden. Der Lehrer solle dann das Rich­ tige an die Stelle des Falschen setzen. Das Rede- und Mitteilungsbedürfnis des Erwachsenen werde befriedigt. Er höre erst gut zu, wenn er sich selbst zuvor habe äußern können. Zum Lehrplan stellte er fest: Der arbeitende Mensch besitze eine Reife eigener Art. Er kenne den Beruf, eine Technik, den Betrieb, die Arbeitstei­ ligkeit mit ihren Regeln, er lebe in einer Atmosphäre, in der sich Personen und Sachen gegenständlich gliedern. Er habe Erfahrung mit den »Gesetzen des Lebenslaufs«. Der Stoff müsse ihm also von der erfahrenen Wirklichkeit her erschlossen werden. Seine Überlegungen ergänzte er mit einem Anhang,

28 Die folgenden Ausführungen einschließlich aller Zitate verdanken sich Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921 bis 1931, 31–42.

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in dem er thematische Ausgangspunkte für jedes Fachgebiet, ähnlich der Methode des exemplarischen Lernens, fixierte. Bezüglich des Lehrpersonals betonte Rosenstock, dass es die für die Aka­ demie erforderlichen Lehrer noch nicht gebe. Die Dozenten müssten in dem neuen »Lehrhaus« erst voneinander abhängig werden. In einem eventuell mehrwöchigen Vorkursus müssten sie sich den Stoff gegenseitig »abringen« und »abgliedern«. Die Arbeitsgemeinschaften jeder Abteilung sollten mit Blick auf ihre jeweils besondere Aufgabe miteinander eingespielt und aufei­ nander abgestimmt werden. Die Debatte mit Dozenten anderer Fachgebiete sei zur Vorbereitung des Unterrichts unbedingt notwendig, darüber hinaus der gegenseitige Besuch der Veranstaltungen. Diese Vorbereitung sei auch zum Erhalt des inhaltlichen Niveaus und zur Vermeidung von Popularisie­ rungen unvermeidbar. Rosenstock sagte, dass ein unaufhörliches Herausbil­ den von »Volkslehre« und »Lebenslehre« aus dem »Rohstoff des Fakultäts­ wissens« gefordert sei – offenbar sollten in diesem Prozess eine neue Sprache und ein neues Verständnis entstehen, der Lehrkörper quasi zu einem »ideel­ len Gesamtdozenten« zusammenwachsen. Bezüglich der Lehrwirkung hielt Rosenstock es für notwendig, eine sicht­ bare Verbindung zwischen dem neuen »Lehrhaus« und der Gesellschaft zu schaffen. Dies sollte in Form einer »Akademie-Zeitung« geschehen, die in einzelnen Heften die Ergebnisse der verschiedenen fachlichen Arbeitsge­ meinschaften der Akademie einer breiten Öffentlichkeit bekanntmachte. Den Hauptbeitrag sollte der jeweilige anleitende Dozent verfassen. Die Aus­ einandersetzung mit der »Akademie-Zeitung« und deren Herstellung wür­ den einem Element der »modernen Unbildung« begegnen, das in der hoch­ gradigen Abhängigkeit von der täglichen Zeitungslektüre bestehe. Als Vorbild nannte Rosenstock die Daimler-Werkszeitung, an deren Gestaltung und Redaktion er zwischen 1919 und 1921 in Untertürkheim wesentlich beteiligt war.29 Neben diesen Feststellungen allgemeiner Natur nahm Rosen­ stock noch einige Präzisierungen in Einzelfragen vor: – Die Auswahl der Studierenden findet ohne Prüfung statt. – Neben dem Hauptstudium gibt es an der Akademie zwei- bis dreimona­ tige Führungslehrgänge. – Bezüglich der Finanzierung wird eine Anzahl von Halbtagsarbeitsplätzen für Studierende eingeworben, die durch Stipendien aufgestockt werden sollen. Dies garantiert nicht zuletzt den studierenden Arbeitern wirt­ schaftliche Unabhängigkeit. Zudem vermeidet es die Entfremdung von der bisherigen Sphäre. 29 Siehe u. a. Hans-Christof Kraus, Art. »Rosenstock-Huessy, Eugen Friedrich Moritz«, in: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Aka­ demie der Wissenschaften, 25. Bde., hier Bd. 22, Berlin 2005, 75 f.

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– Ein zweiköpfiges Direktorium mit umfassenden Vollmachten übernimmt die Leitung der Akademie. – Teil des Studiums ist auch immer das Erlernen einer Weltsprache. – Dozenten sind nicht vorrangig wissenschaftlich gebildete Lehrer, son­ dern eher Praktiker. – Es gibt keinen Stundenplan im schulischen Sinn, der den Arbeiter allzu sehr an die »Zerstückung« des Tages in Arbeitsstunden erinnerte. Die neue Tätigkeit soll freier und schöpferisch sein und den Arbeitern Gele­ genheit zum »Heimischwerden« in der neuen Welt geben. Deswegen steht stets ein Gebiet im Vordergrund, ein Nebeneinander von Stoffgebie­ ten wird vermieden. Bei Lehrstunden steht der Beginn fest, aber ein zeit­ liches Ende wird nicht festgesetzt.

Eine dokumentierte Kontroverse Es gibt nur wenige Quellen, die sich direkt auf kontroverse Diskussionen beziehungsweise Konfliktpunkte innerhalb des Lehrkörpers bezogen. Die verlässlichste Quelle stellt das Protokoll einer Dozentenbesprechung dar, die am 17. Dezember 1921 mit 16 haupt- und nebenamtlichen Dozenten stattfand.30 Diese Besprechung scheint die erste im ersten Studiengang gewesen zu sein, was an sich erstaunlich ist. Offenbar war es im Vorfeld nie­ mals zu der gemeinsamen Vorbereitung und Abstimmung der Dozenten gekommen, die Rosenstock in seiner Denkschrift gefordert hatte. Rosenstock äußerte sich zu Beginn der Besprechung scharf gegen den Vorrang der Wissens- und Stoffvermittlung. Der Arbeiter brächte viel Wis­ sensoptimismus mit, dem man mit Bildungspessimismus begegnen müsse. Für den »Ungebildeten« sei Wissen Ohnmacht. Er wolle griffbereites Wis­ sen, fertige Lösungen. Das Ringen mit Problemen bereite ihm Unruhe. Die Aufgabe bestehe darin, den ganzen Menschen in einen Bildungsprozess hineinzustellen. Dies sei weder durch bloße Stoffzufuhr noch durch logische Schulung zu erreichen. Man müsse den Menschen, der ein organisches Wesen sei, zwingen, sich dem Kampf mit dem Stoff zu stellen. Die Vorge­ hensweise der Wissenschaftler sei für Arbeiter nicht nachvollziehbar. Wis­ senschaft sei in heutiger Form »Herrenwissenschaft«. Der Arbeiter müsse erst zur eigenen Äußerung gezwungen werden, damit allmählich der Wis­ sensstoff auf ihn zugeschnitten werden könne. Rosenstock übte Kritik an der Tendenz, die Arbeiter gleichzeitig mit verschiedenen Fachgebieten ver­ 30 Siehe zum Folgenden, einschließlich der Zitate, Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921 bis 1931, 46–51.

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traut machen zu wollen. Ein solches Vorgehen sei auch unter Einbeziehung von Querschnittsbetrachtungen nicht zu bewältigen. Er referierte Äußerungen anderer Dozenten, die die gegenläufigen Erwar­ tungen der Studierenden kritisierten. Einerseits solle die Akademie Fach­ schule sein, andererseits allgemeine Bildungsanstalt. Einzelne teilnehmende Dozenten unterstützten Rosenstock vorsichtig oder äußerten sich verhalten kritisch zum bisherigen Lehrbetrieb. Einzig Sinzheimer trat Rosenstock direkt entgegen. Der bisherige Betrieb der Akademie zeige einen Mangel an Systematik und pädagogischem Plan, einen Mangel, die »Ideen ins Konkrete« zu übertragen. Ziel der Akademie sei die »Vergeistigung des Führertums der Arbeiterschaft aus dem Geist einer innerlich erfassten Demokratie«. Dieser Zweck sei schlichtweg nicht erreichbar, ohne dass Stoff vermittelt werde. Der von Rosenstock postulierte Gegensatz zwischen »Lebens- und Zweckschule« sei falsch. Allerdings gehe es ihm nicht um die Ausbildung von Spezialisten, sondern um ein tiefes Verständnis aller Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. Er beschwor die Notwendigkeit demokratischer Erziehung. Doch er warnte vor dem Verzicht auf den geschlossenen Vortrag und vor dem Vertrauen auf »Konversatorien«. Gerade diese brauchten geistige Anleitung. Er forderte neben der Wissens­ aneignung, die seiner Auffassung nach auch im Nebeneinander von Fachge­ bieten möglich sei, die Entwicklung einer »gewissen Geschmackskultur«, die der neuen Rolle der Arbeiterschaft gerecht würde. Sinzheimer plädierte für die volle Verantwortung des Leiters für den Lehrplan. Rosenstock gegen­ über äußerte er die Erwartung, dass dieser ausgehend von der Dozentenbe­ sprechung nun einen konkreten Lehrplan einschließlich Vorschlägen für die Lehrmethode vorlege. Der Ton dieser Äußerung Sinzheimers wurde im Protokoll vermutlich abgemildert. Dennoch wirkt das Ganze wie eine Zurechtweisung Rosen­ stocks. Man darf unterstellen, dass Sinzheimer hier auch die Auffassungen mehrerer Universitätslehrer – etwa Papes und Oppenheimers – wiedergab. Trotz der Schärfe Sinzheimers trat Rosenstock diesem nicht offensiv entge­ gen. Er habe sich nicht vor einer Verantwortung gedrückt, argumentierte er. Aber erst auf der Grundlage dieser Besprechung könne man an den Aufbau des Lehrplans herangehen. Er wiederholte dann allerdings – ohne auf Sinzheimer direkt einzugehen – zwei seiner Vorstellungen: Zum einen dürften nicht theoretisch-systema­ tische Gesichtspunkte den Aufbau des Lehrplans bestimmen, sondern die einheitliche Persönlichkeit des Arbeiters müsse Ausgangspunkt sein. Außer­ dem sei die sukzessive Behandlung von Stoffgebieten dem Nebeneinander der Vermittlung vorzuziehen.

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Spuren und Wirkungen Rosenstocks Augenscheinlich war es Rosenstock trotz seiner weitgehenden Vollmachten und seines Rechts, Lehrpersonal auszuwählen, nicht gelungen, einen Pro­ zess des Zusammenwachsens der Dozentenschaft und die geforderte »Über­ setzung« des Fakultätswissens in Gang zu setzen. Warum, ist nicht ganz klar. Gleichwohl hat Rosenstock Einfluss auf den Lehrplan und den Lehrbetrieb genommen, wie in einigen Punkten deutlich wird: Es gab offenbar im Lehr­ gang unter seiner Leitung gemeinsam mit den von ihm eingestellten haupt­ amtlichen Dozenten Ernst Michel, Friedrich Schlünz und Wilhelm Sturmfels einen recht lebendigen Prozess der Gemeinschafts- und Gruppenarbeit, aber auch einen großen Raum für die Arbeit der Studierenden in freien Zirkeln. Hier kamen die Studierenden wie es scheint in Rosenstocks Sinne »zum Sprechen« und konnten die Ausdeutung und Bewertung ihrer Erfahrungen durch den Lehrer erleben.31 Es lässt sich der Ansatz erkennen, Stoffgebiete als Schwerpunkt für bestimmte zeitliche Phasen des Lehrgangs in den Vor­ dergrund zu stellen, ohne dass diese zuvor in der Denkschrift erwähnte »Nacheinanderbehandlung« radikal durchgeführt worden wäre – allein schon mit Blick auf die zeitliche Verfügbarkeit der großen Zahl nebenamt­ lich wirkender Dozenten erscheint dies unmöglich. Die überlieferten Anmerkungen eines hauptamtlichen Dozenten zum Sommersemester 1922 legen allerdings auch nahe, dass der erste Studiengang etwas planlos ver­ lief.32 Im darauffolgenden Studiengang – also nach Rosenstocks Ausschei­ den als Leiter – soll die Organisation besser geglückt sein. Offensichtlich gelang es Rosenstock auch nicht, einen wirksamen Überzeugungsprozess im Sinne seiner Vorstellungen im gesamten Lehrkörper in Gang zu setzen. Zwar kam es zur gemeinsamen Teilnahme an bestimmten Lehrveranstaltungen im Fall der hauptamtlichen Dozenten, jedoch nicht im größeren Kreis der Lehr­ beauftragten. Man kann hier durchaus Vorbehalte der Universitätsprofesso­ ren vermuten. Dass Rosenstocks Denken auch nach seinem Rückzug von der Leitung Spuren und Wirkungen hinterlassen hat, wird gerade in einem Bericht Ernst Michels vom Sommer 1922 über eine Arbeitsgemeinschaft erkennbar:33 Er betont die gegenseitige Aussprache oder Diskussion mit den Studierenden und »nicht Wissensdrang«, sondern »Wahrheitssuche« gelten ihm als Ziel

31 Siehe das Vorwort Eugen Rosenstocks in ders., Werkstattaussiedlung. Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters, in Verbindung mit Martin Grünberg, Berlin 1922. 32 So Wilhelm Sturmfels im Semesterbericht von Mai bis Juli 1922, in: Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main 1921 bis 1931, 54. 33 Ebd., 51–54.

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des Lernens. Er nennt die konkreten Aspekte der Berufs- und Lebenswelt als Ausgangspunkt der Arbeit in der Lehrveranstaltung. Sie verweisen deutlich auf Rosenstock, mit dem Michel auf mehreren Ebenen zusammenarbeitete.34 Wenn Rosenstock an der Akademie also nicht ohne Wirkung blieb, so scheiterte er sicherlich im Sinne seines eigenen weitreichenden Anspruchs. Auch nach seinem Abgang behielten die Studiengänge ihren eher in die breite gesellschaftspolitische Bildung weisenden Grundsatz, das wissen­ schaftlich-fachliche, mehr handlungsorientierte Element wurde schrittweise stärker. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Rückmeldungen von Absolventen, die wieder im Beruf standen. Deutlich spiegelt dies eine Befra­ gung der Absolventen der ersten fünf Lehrgänge im Jahr 1926 wider.35 Dort wird der Erkenntnisgewinn durch das Studium allgemein anerkannt, aber zugleich die Stärkung der eher handlungsorientierten Bereiche gefordert. Die Praxisrelevanz der arbeitsrechtlichen Lehrveranstaltungen wird einge­ räumt und doch eine deutliche Verstärkung der Lehre in Bezug auf Sozialpo­ litik und Sozialversicherung angemahnt, die im Lehrplan Rosenstocks nur eine geringe Rolle gespielt hatten. Ein weiterer Aspekt, der Rosenstock mit seiner Tätigkeit unzufrieden sein ließ, waren die Erfahrungen in der Lehre. Die wenigen aussagekräftigen Berichte beschreiben ihn in Stichworten – er sei geistreich, aber sprunghaft »bis ins Eigenwillig-Absonderliche« und unterrichte über die Köpfe der Zuhörer hinweg.36 Dagegen wurde insbesondere Oppenheimer von den Stu­ dierenden als brillanter Lehrer verehrt. Sinzheimer wird als gründlich und etwas trocken geschildert, aber sein Vortrag sei doch nachvollziehbar. Außerordentliche Zuneigung genoss, so scheint es, auch der mit Rosenstock befreundete Ernst Michel – mit dessen christlich-sozialen Vorstellungen sich allerdings nicht alle Studierenden anfreunden konnten –, unter anderem wegen seines empathischen Umgangs mit den erwachsenen Studierenden und ihren Problemen, aber offensichtlich auch aufgrund seiner lebendigen, gelegentlich witzigen Art. Es bleibt der Eindruck, dass Rosenstock mit seinem Konzept nicht auf fruchtbaren Boden traf, er scheiterte damit, seine Vorstellungen in der Breite durchzusetzen. Von der Unterrichtsverwaltung ernannt, kam er, wie bereits beschrieben, quasi »von außen« in eine stark vorgeprägte Situation. In dieser halfen ihm offenbar auch seine großen Vollmachten nicht. Immerhin scheint

34 U. a. in der Schriftenreihe »Volk im Werden«, in der Rosenstock seine Arbeit Industrie­ volk veröffentlichte; siehe ders., Industrievolk, Frankfurt a. M. 1924. 35 Siehe Mitteilungen. Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main (1926), H. 4, 1–12. 36 Siehe hierzu und zum Folgenden u. a. Kluke, Die Stiftungsuniversität Frankfurt am Main 1914–1932, 406.

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er den Prozess der Gruppenarbeit und der Arbeitsgemeinschaften mit dem kleinen Kreis hauptamtlicher Lehrer wesentlich bestimmt zu haben; die anderen Teile des Lehrkörpers mit anerkannten wissenschaftlichen Lehrern der Universität, die die Idee der Akademie wesentlich mitgeprägt hatten,37 erreichte er dagegen nicht. Daher mögen auch seine persönlichen Qualitäten eine Rolle gespielt haben. Auch aus heutiger Perspektive kann Eugen Rosenstock als ein weitsich­ tiger konzeptioneller Denker gelten. Der Gedanke, den Studierenden schrittweise ein »Heimischwerden« zu ermöglichen, seine methodischen Überlegungen sowie der Ansatz, fachliche Analysen von der beruflichen Wirklichkeit der Studierenden ausgehen zu lassen, ferner die Idee eines dua­ len Studiums und auch die Anregung separater Führungskräfteseminare – alle diese Elemente gelten bis zum heutigen Tag als zeitgemäße Lehr- und Lernmethoden. Ebenso fortschrittlich ist Rosenstocks Forderung, eine Welt­ sprache zu erlernen. Einige seiner Überlegungen keimten erst im Laufe der weiteren Tätigkeit der Akademie, nach seinem Ausscheiden aus der Leitung. Die angeregten Führungskräftelehrgänge kamen in den unruhigen frühen Jahren der Akade­ mie nicht zustande. Immerhin fand im Jahr 1927 der erste Kurs für frühere Akademieabsolventen statt. Er bot in zehn Tagen die Möglichkeit, sich über aktuelle Entwicklungen in der Wirtschafts-, Gewerkschafts- und Rechtspoli­ tik zu informieren und diese zu diskutieren. Auch die Idee der »AkademieZeitung« benötigte Zeit für die Realisierung. Ab November 1925 wurden die Mitteilungen als vierteljährlich erscheinendes Heft, das Informationen aus der Arbeit der Akademie sowie fachliche Einzelthemen behandelte, herausgebracht. Wenig realistisch war sicher angesichts der Kürze der letzt­ lich installierten Lehrgänge Rosenstocks Idee eines reduzierten Verbleibs im Beruf während des Studiums, so sinnvoll solche dualen Studienformen im Allgemeinen auch gewesen sein mögen. Als eine gewisse Annäherung an diese Überlegung ist jedoch der »Fernunterricht« zu deuten, den die Akade­ mie schließlich 1927 implementierte. Dieser sollte als Instrument einer bes­ seren Vorbereitung auf ein späteres Vollzeitstudium genutzt werden. Wir neigen heute dazu, Eugen Rosenstocks Wirkungen am Anspruch sei­ ner Denkschrift vom September 1920 zu messen. Diese kann aber vor allem deswegen keinen angemessenen Maßstab für Erfolg und Misserfolg seiner

37 Der Absolvent des zweiten Lehrgangs Osterroth berichtet in seinen Erinnerungen: »Sinz­ heimer empfand sich allezeit als der geistige Vater der Akademie und war es auch; doch hatte er mit Dr. Rosenstock, dem ersten Leiter der Akademie, […] einen schweren Kon­ flikt in Bezug auf Idee und Form der Arbeiterhochschule gehabt und Rosenstocks Abgang veranlasst.« Siehe ders., Erinnerungen eines deutschen Sozialisten zwischen 1900 und 1934, 8.

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Leitungstätigkeit darstellen, weil Rosentock vieles in seiner Schrift noch vor der Gründung der Akademie und damit unabhängig von den späteren Reali­ täten, den Finanzen oder den zum Teil gegenläufigen Erwartungen der Stu­ dierenden, dargelegt hat. In dem stark verengten Rahmen, in den die Akade­ mie letztlich hineingesetzt wurde, blieb die Realisierung seiner Vorstellungen auf wenige Ansätze beschränkt. Diese Abwertung und Relati­ vierung seiner weitreichenden Ideen muss er als leidvoll erfahren haben, zumal seine organisatorischen Fähigkeiten und seine Überzeugungskraft hier wohl oft überfordert waren.38

38 Für eine Übersicht über die gemeinsam mit Rosenstock an der Akademie Lehrenden bzw. hauptamtlich Tätigen siehe Antrick, Die Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M., 138–140; der Lehrplan des ersten Lehrgangs unter der Leitung Eugen Rosenstocks 1921/22 findet sich in ebd. sowie in Michel (Hg.), Die Akademie der Arbeit in der Uni­ versität Frankfurt am Main 1921 bis 1931, 44–47.

Knut Martin Stünkel

Kybele oder Symblysma? Eugen Rosenstock und der Kreis um den Patmos-Verlag

Patmos »Ich Johannes und ewer bruder und mitgenos am trübsal und am Reich und an der gedult Jhesu Christ / war inn der Insulen Pathmos umb des wort Got­ tes willen / und des zeugnis Jhesu Christ …« lautet Martin Luthers Überset­ zung von Offenbarung 1,9. Man darf annehmen, dass Luther aus bestimmten biografischen Gründen gerade zu dieser Stelle eine besondere Beziehung hatte. Entscheidend sind Zeit und Ort. Während seines nicht zuletzt sprach­ historisch folgenreichen Aufenthaltes auf der Wartburg von Mai 1521 bis Februar 1522 und der dortigen allseits bekannten Übersetzungstätigkeit ver­ sieht er Briefe mit dem Absender »auf dem Berg«, »unter den Vögeln« und eben »von der Insel Patmos«. Damit, so Heinz Schilling in seiner LutherBiografie, »nahm er zugleich die Rolle des apokalyptischen Sehers und Pro­ pheten Johannes an«, der auf der Insel um seines Zeugnisses willen »fest­ saß«.1 Patmos ist ein Ort der Trennung und des Exils, aber auch, blickt man auf die hier empfangene Vision, ein Ort des Heilsgeschehens. Die Bibelreferenz, derer sich Luther bei der Angabe des Absenders bedient, zeigt Patmos somit als eine Chiffre für verschiedene Leiden um Christi willen, von denen die Isolation von »Brüdern und Mitgenossen« nicht die geringste ist. Im Hinblick auf die Biografie Luthers wiederum wird man sagen können, dass diese Isolation sprachlich höchst produktiv gewesen ist, und dass das Angedenken an die Brüder und Bundesgenossen »am Trüb­ sal« kein geringes Stimulans dieser Produktivität dargestellt hat. Beide, Johannes wie auch Luther, sprechen und schreiben in Bezug auf diese Gemeinde, von der sie auf die eine oder andere Weise räumlich getrennt sind. Gleichzeitig ist Patmos ein Ort mit besonderer Beziehung zur Endzeit und ein Zeichen des letzten und endgültigen Triumphs des Gottessohnes. Zusammen mit dem »Hier stehe ich« in Worms ist der sprachlich fruchtbare Patmos-Aufenthalt auf der Wartburg sicher eine der protestantischen Ursze­ nen und grundlegend für ein protestantisches Selbstverständnis. Dies trifft dann auch für Eugen Rosenstock-Huessy zu, der am 14. Dezember 1909 1

Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012, 255. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 367–390.

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durch seine Taufe ebenfalls offiziell den Schritt zum protestantischen Bekenntnis getan hat und für den Patmos somit in mehrfacher Hinsicht attraktiv wurde.2 Im Folgenden möchte ich die Bedeutung der Patmos-Idee in Verbindung mit seinem soziologischen Grundkonzept »Symblysma« für Leben und Den­ ken Eugen Rosenstock-Huessys darstellen.

Soziologie, Symblysma und Pfingsten Die sprachliche Stimulation angesichts einer anspruchsvollen Zeit und eines bestimmenden Ortes ist sicher etwas, das Rosenstock-Lesern bekannt vor­ kommen dürfte. »Patmos« steht für ein Sprachereignis. Es kann daher vermu­ tet werden, dass der Begriff bei Rosenstock zunächst einmal protestantisch geprägt ist. Doch gibt es einen bedeutsamen Unterschied. Während Patmos für Luther unter anderem ein Zeichen von Einsamkeit ist, kennzeichnet Rosenstock den Begriff wesentlich gemeinschaftlich. Luther betont in seiner Ortsbeschreibung die Getrenntheit von, Rosenstock hingegen die Verbunden­ heit mit seinen Bundesgenossen. An dieser Stelle nimmt Rosenstock eine andere bedeutende geistige Tradition in sein Patmos-Konzept auf. Im ersten Band seiner Soziologie – Die Übermacht der Räume – beschreibt er diese wie folgt: »Es ist der Irrtum Rousseaus, der Irrtum Voltaires, der Irrtum des sprachverachtenden Idealismus, den Einzelmann zum Träger des ganzen Erlebnisses von Anfang bis zum Ende zu machen. Und Nietzsche mußte wahnsinnig werden, um zu beweisen, daß es so gar nicht zum Erlebnis kommen kann. Hölderlin hatte erst Freunde und dann Diotima, und da in ihm heiliges Erlebnis wallte, so versank er in Nacht, als Diotima starb.«3

Ein entsprechender Abschnitt taucht noch einmal in Rosenstocks Autobio­ grafie auf; er scheint also für ihn von besonderer Wichtigkeit gewesen zu 2

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Noch immer findet sich in der Literatur die auf Rosenstock-Huessy selbst zurückgehende, frühere Datierung seiner Taufe auf das Jahr 1905 oder 1906. Fritz Herrenbrück ist die Richtigstellung dieser Angabe zu verdanken, siehe ders., Eugen Rosenstocks Taufdatum und Tauftext, in: Knut Martin Stünkel (Hg.), Ins Kielwasser der Argo. Herforder Studien zu Eugen Rosenstock-Huessy. Festschrift für Gerhard Gillhoff zum 70. Geburtstag, Würz­ burg 2012, 31–58. Eugen Rosenstock-Huessy, Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethische Soziologie, hg. von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mauthner und Lise van der Molen, 3 Bde., hier Bd. 1: Die Übermacht der Räume, Mössingen-Talheim 2009, 169. Zur Problematik dieser Neuedition siehe Fritz Herrenbrück, »Die Versuchung, an das Wissen zu glauben«. Zur Neuedition der »Soziologie« von Eugen Rosenstock-Huessy, in: Stimmstein. Jahrbuch der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 13 (2011), 125–139.

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sein.4 Er kontrastiert den einsamen Einzelnen mit dem Menschen in Gemeinschaft. Patmos ist nicht eine Chiffre von Einsamkeit, sondern die Anzeige einer ganz bestimmten Gemeinschaft. Es ist dabei kein Zufall, dass in dieser geistesgeschichtlichen Miniatur Rosenstocks der Name Hölderlin an prominenter Stelle erscheint. »Der Sänger von Patmos« nämlich, den Rosenstock, wie er an Georg Müller schreibt, »seiner einseitigen Beherr­ schung durch Heidegger entreißen«5 will, und der vor der »harten Hand« Hegels, welcher seines Jugendfreundes »Patmosvision« auf die Erde, sprich auf den jetzigen Staat gestellt habe,6 bewahrt werden muss – dieser Hölder­ lin ist gerade in soziologischer Hinsicht besonders beachtenswert. Die Ein­ samkeit des Einzelnen darf nicht zur Vergottung des Staates, der Erde, füh­ ren. Die berühmten und fast schon notorischen Zeilen Hölderlins in seinem Patmos-Hymnos: Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch erfahren bei Rosenstock eine sprachlich-gemeinschaftliche Erläuterung: »Patmos« ist ein soziologisches Projekt. Nun ist die Soziologie7 für Rosenstock bekanntlich weit mehr als eine akademische Disziplin, sie ist eine grundlegende Bestimmung menschlichen Daseins sowie eine methodische Basis seines gesamten Denkens.8 Denn Soziologie allein vermag dem Wissenschaftler verlässliche Resultate zu lie­ fern. Diese Verlässlichkeit zeigt sich in der Analyse einer Situation, die der Wissenschaftler nicht als Beobachter bloß beschreibt, sondern die vielmehr

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Eugen Rosenstock-Huessy, Ja und Nein. Autobiographische Fragmente, in: ders., Unter­ wegs zur planetarischen Solidarität, hg. von Rudolf Hermeier, Münster 2006, 209–308, hier 224. Brief Rosenstock-Huessys an Georg Müller vom 31. Dezember 1953, abgedruckt in: Eugen Rosenstock-Huessy, Das Wagnis der Sprache. Ein aufzufindender Papyrus, hg. von Wilfried Gärtner, Michael Gormann-Thelen und Werner L. Hohmann, Essen 1997, 55. Siehe L. Stahl (Eugen Rosenstock-Huessy), Das Dritte Reich und die Sturmvögel des Nationalsozialismus, in: Hochland 28 (1931), 193–211, wieder abgedruckt in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 20 (1995), 16–36, hier 28. In dem Vorwort zu seiner Soziologie berichtet Rosenstock-Huessy von seinen Zweifeln am Titel des Werks und seiner letztendlichen Versöhnung mit diesem; siehe ders., Sozio­ logie, 2 Bde., hier Bd. 1: Die Übermacht der Räume, Stuttgart u. a. 1956, 5–14, hier 5 f. Dieses Vorwort als eine grundsätzliche Reflexion Rosenstock-Huessys über die Art und Weise seines Denkens ist beileibe nicht von bloß »geschichtlicher Bedeutung«, wie es die Herausgeber der Neuedition in Rosenstock-Huessy, Im Kreuz der Wirklichkeit, Bd. 1: Die Übermacht der Räume, 375, darstellen, v. a. dann nicht, wenn statt des Vorworts des Autors nun ein in jeder Hinsicht dürftiges Vorwort des neuen Verlags (!) an dessen Stelle steht, wofür jenes in den Anhang verbannt wurde. Zu Rosenstock-Huessys Verständnis von Soziologie siehe Knut Martin Stünkel, »Till Eulenspiegel ist der bessere Soziologe.« Eugen Rosenstock-Huessys Grundlegung der Soziologie, in: Rudolf Hermeier/Mark M. Huessy/Valerij Ljubin (Hgg.), Globale Wirt­ schaft und humane Gesellschaft. Ost-, West- und Südprobleme. Internationale Eugen Rosenstock-Huessy Konferenz 2005, Münster 2006, 215–229.

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ihn ausdrücklich mit einschließt.9 Dies ist aber für Rosenstock unvermeid­ lich, wenn eine neue Wissenschaft etabliert werden soll, die die Tatsache des Christentums ernst nimmt.10 Rosenstock sagt in seiner Radioansprache An die Russen pointiert: »Aber Soziologie – so schreit es ihr Name heraus – wurde in der Gegenwehr gegen das humanistische Gymnasium und die aka­ demische Welt gezeugt. Wir Soziologen wollen lieber auf die eleganten und korrekten Schulnamen verzichten, als die Leiden der Gesellschaft überhö­ ren.«11 Den Soziologen zeichnen also in seiner spezifischen Tätigkeit sowohl eine besondere Sensibilität als auch ein starkes Engagement aus. Dieses Engagement ist epistemologisches Prinzip: »Den Soziologen macht also gerade der Grad seiner heftigen Teilnahme. Die gleichgültigen Spießer verstehen nichts, weil sie unerschüttert gaffen und höchstens neugierig zugucken, wenn ein Unglück passiert. Heftigkeit hat nämlich mit Erkennen zu tun!«12 Das Engagement hilft dem Soziologen nicht nur zu verstehen, sie macht gleichzeitig seine Soziologie zu einer wesentlich zeitlichen Wissen­ schaft, insbesondere was die Zukunftsfähigkeit seiner Unternehmung angeht. »Die Heftigkeit des Leidens wird immer darüber entscheiden, wieviel Zukunft der Gesellschaft in der Lehre eines Soziologen miteingedacht ist. Und die Qualität an Zukunft, die seine Lehre einschließt, wird den Rang und den Wert seiner Soziologie bestimmen.«13

Es ist diese Bezogenheit auf die Zukunft, welche Rosenstocks Soziologie in besonderer Weise auszeichnen soll, sodass sie in vielfältiger Weise gegen 19 Diesen Grundsatz beschreibt Rosenstock-Huessy auf allgemeiner Ebene in seinem Auf­ satz Augustin und Thomas in ihrer Wirkung auf unser Denken: »Aber freilich, die Allge­ meingültigkeit der Urteile des Vernunftwesens Mensch gegenüber der Sinnenwelt, die transzendentale Einheit des in Raum und Zeit gestellten ›Beobachters‹ Mensch – dies Axiom der Neuzeit – erklärt nur die Haltung ›des‹ Menschen zur Welt, zur Natur. Diese Haltung versagt völlig Gott gegenüber wie innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Denn Gott ist nie nur Gegenstand der Erkenntnis, sondern er gibt sich zu erkennen, eben deshalb gibt es keine einfache Natur Gottes; und andererseits stellt in der menschlichen Gesellschaft die Nichtallgemeingültigkeit jedes Urteils gerade das Axiom dar, auf dem sich alle echte Gesellschaftserkenntnis aufbauen muß, aber auch kann.« Siehe ders., Augustin und Thomas in ihrer Wirkung auf unser Denken, in: ders./Joseph Wittig, Das Alter der Kirche, neu hg. von Fritz Herrenbrück und Michael Gormann-Thelen, 3 Bde., hier Bd. 2, Münster 1998, 97–111, hier 98. 10 Zu dieser neuen Wissenschaft im Sinne Rosenstock-Huessys, welche sich auf Paulus als Norm des wissenschaftlichen Denkens besinnt, siehe Knut Martin Stünkel, Erschaffung der Zukunft. Zeit bei Eugen Rosenstock-Huessy, in: ders. (Hg.), Ins Kielwasser der Argo, 139–172. 11 Eugen Rosenstock-Huessy, Die Fortschritte der Gesellschaft und die Soziologie (1959), in: ders., Friedensbedingungen der planetarischen Gesellschaft. Zur Ökonomie der Zeit, hg. und eingeleitet von Rudolf Hermeier, Münster 2001, 289–308, hier 292. 12 Ebd., 293. 13 Ebd., 295.

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das wissenschaftliche Neutralitätsgebot verstößt. An dieser Stelle ist Rosen­ stock unmissverständlich deutlich: »Die Soziologie ist nur denkbar in der christlichen Zeitrechnung. Denn erst das Christentum hat den Satz aufge­ stellt: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.«14 Entsprechend dieser »leidenschaftlichen Empirie« im Sinne von Franz Rosenzweigs »[r]adikalem Empirismus«15 bestehen für dessen Freund Eugen Rosenstock wissenschaftliche Ergebnisse nicht in einer bloßen Aneinanderreihung von Fakten, sondern vielmehr darin, dass gezeigt wird, dass jemand willens ist, für seine Aussagen verantwortlich zu sein, und sich somit selbst als zukunftsfähig und zukunftswillig erweist. Diese Zumutung richtet sich zuallererst an niemand anderen als an den Soziologen. Diese Herausforderung anzunehmen heißt, unmissverständlich deutlich zu machen, dass dieser sich nicht hinter seiner Autorität als Sachwalter bestimmter wissenschaftlicher Standards und Methoden verstecken möchte. Soziologie ist dann strenge Wissenschaft, wenn der Soziologe verantwort­ lich ist und handelt, wenn er bereit ist, zu antworten, das heißt auf die Herausforderungen zu antworten, die sich aus seiner forschenden Bemü­ hung ergeben. Er ist bereit, auf diese Antwort »festgenagelt«, das heißt auf ihr gekreuzigt zu werden.16 Das wiederum bedeutet, dass seine Antwort öffentlich werden muss, und dies geschieht in Sprache, im Gespräch, aber auch in der Gesprächsöffentlichkeit des Drucks. In dieser herausfordernden und unsicheren Situation benötigt der verant­ wortliche Soziologe dringend Hilfe. Die Hilfe jedoch kann nicht von seinen akademischen Kollegen kommen, die sich womöglich noch hinter einer etablierten Methode verstecken und eben nicht bereit sind, für ihre Aussagen persönlich die Verantwortung zu übernehmen. Sie kommt, so Rosenstock, vielmehr von Freunden, Kameraden, welche in einem Bund vereint und somit Bundesgenossen (Socii) sind.17 Es ist also eine Gruppe, ein Kreis befreundeter Individuen, welcher den Soziologen mit dem Hintergrund ver­ 14 Ders., Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung. Gastvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Münster, Westfalen, Sommersemester 1958, hg. von Rudolf Her­ meier und Jochen Lübbers, Münster 2002, 31. 15 Rosenstock-Huessy, Die Fortschritte der Gesellschaft und die Soziologie, 295. 16 In seinem Briefwechsel mit Konrad Thomas heißt es: »Nur das offene Tun, nicht, daß jemand etwas gelegentlich tut, ist von Belang für die Fortschritte unseres Geschlechts. Denn der Fortschritt hängt ab von denen, die sich auf etwas festnageln lassen, ziemlich oft an ein Kreuz.« Siehe Eugen Rosenstock-Huessy, Theologie ohne Zeitpunkt. Ein Brief­ wechsel mit Konrad Thomas, in: ders., Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politi­ schen und der kosmischen Zeit, Wien/Moers o. J. [1991], 51–82, hier 60. 17 In Die Fortschritte der Gesellschaft und die Soziologie heißt es über die »seltsame Bil­ dung« des Begriffs »Soziologie«: »Soziologie verkuppelt ein lateinisches Wort ›socius‹, der Kamerad, der Towarischtsch, und das griechische Wort ›-logia‹.« Siehe RosenstockHuessy, Die Fortschritte der Gesellschaft und die Soziologie, 292. Die Hybridität der kup­ plerischen Wortbildung bedingt dabei seine sachliche Fruchtbarkeit.

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sieht, den er braucht, um frei und verantwortlich sprechen zu können, oft­ mals motiviert durch den Widerspruch der anderen.18 Nicht nur der Einzelne, sondern auch die Gruppe gewinnt bei diesem Gespräch. Es kann nämlich, so Rosenstock, sein, dass sich im und durch das Gespräch eine Situation ergibt, in der eine bestimmte Gruppe individuell ver­ bunden auf eine bestimmte Weise antwortet, die er mit einem später, in einem Text seines Buches Der Atem des Geistes geprägten Ausdruck als »Symblysma« bezeichnet,19 den »gemeinsamen Aufbruch der Geister«,20 der sich darin äußert, »daß viele Stimmen laut werden, weil ein Geist über­ strömt.«21 Auf diese Weise wird eine Anforderung Rosenstocks an die Sozio­ logie erfüllt, nämlich, daß »Leute, die verschiedene Geburtsatteste haben, zusammen Zeugnis ablegen von der gemeinsamen Zukunft«.22 Mit dem Symblysma wird eine »neue Grundkategorie, welche die Soziologie braucht«, nämlich die der Gegenseitigkeit, gewonnen.23 Die Entdeckung die­ ses Symblysmas schreibt Rosenstock – für das er selbst nur das Wort, welches »kurz und auffällig genug ist, um sich einzubürgern«,24 gefunden zu haben in Anspruch nimmt – in seinem einschlägigen Aufsatz Symblysma oder der Überschwang der Jesuiten sechs Autoren jesuitischer Provenienz zu, nämlich dem im Text selbst ungenannten Peter Browe,25 dann Peter Lippert, Hugo und Karl Rahner, Carlo Passaglia und Hans Urs von Balthasar, dessen Schriften für ihn wohl die höchste symblysmatische Relevanz hatten.26 Dieses Symblsyma, übersetzt das »gemeinsame Überschäumen«, ist eine einprägsame Wortschöpfung, um einen zwar wohlbekannten, doch nicht 18 Siehe Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd. 1: Die Übermacht der Räume (1956), 12. 19 Siehe zu diesem Begriff grundlegend Jürgen Frese, Symblysma. Rosenstocks »soziologi­ sche« Entfaltung der Lehre vom Heiligen Geist, in: Stünkel (Hg.), Ins Kielwasser der Argo, 59–70. 20 Eugen Rosenstock-Huessy, Symblysma oder Der Überschwang der Jesuiten, in: Der Atem des Geistes, Wien/Moers o. J. [1991] (zuerst o. J. [1951]), 277. 21 Ebd., 278. 22 Ders., Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung, 10. 23 Rosenstock-Huessy, Der Atem des Geistes, 292. 24 Ebd., 285. 25 Zu Browe siehe Frese, Symblysma, 65. 26 Auch an anderer Stelle hat Rosenstock-Huessy von Balthasar als Denker des Symblysmas dargestellt: »Von Dostojewski und Nietzsche hat Urs von Balthasar in seiner ›Apokalypse der Deutschen Seele‹ gezeigt, daß einer sozusagen den anderen beschrieben habe, und daß sie in einem ›Symblysma‹ oder einer Gegenseitigkeit gesehen werden müssen.« Siehe ders., Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Moers 1987, 440. Hans Urs von Balthasar selbst benutzt für das Symblysma den Begriff der circumincessio, zunächst als Kennzeichnung des speziellen Verhältnisses der Brüder Karamasow und als letztlich umfassende Bestimmung der Menschheit. Siehe ders., Studienausgabe, hg. von Alois M. Haas, 7 Bde., hier Bd. 2: Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen. Teil 3: Im Zeichen Nietzsches, Freiburg i. Br. 1998 (zuerst o. J. [1938]), 232 und 407.

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wissenschaftlich anerkannten Prozess zu bezeichnen, nämlich das Wirken des Heiligen Geistes im Pfingstereignis.27 Rosenstock sieht seine Überlegun­ gen zu dem Symblysma als einen Beitrag zur Biografik: Es geht ihm um die bisher vernachlässigte »Geschichte ›biographischer Gruppen‹«, welche als ein »Kapitel in der Geschichte des Heiligen Geistes« dargestellt werden kann.28 Dessen Wirken geht einher mit einer einschneidenden Wende im Leben der Betroffenen. Eine Gruppe, deren gemeinsame Biografie durch ein symblysmatisches Ereignis, also wechselseitige Begeisterung, geprägt ist, erlangt eine besondere Art von Erkenntnis, eine Inspiration in Form eines verantworteten Wissens und einer verantwortlichen Wissenschaft. Das Symblysma ist somit zugleich Rosenstocks Antwort auf den Bedeu­ tungsverlust, welchen Pfingsten als gruppenbildende und sprachverleihende Inspiration im zeitgenössischen Christentum erlitt und welchen er wieder­ holt beklagt hat, beispielsweise in der Rede aus dem Jahr 1966 Pfingsten hat schlechte Zeiten.29 Angesichts dieser überragenden auch methodischen Bedeutung, die Rosenstock dem Pfingstereignis zuschreibt, ist es kein Zufall, dass im Kontext solcher Überlegungen der Name seines früheren Patmos-Gefährten, Karl Barth nämlich, und der Wunsch einer pfingstlichen Versöhnung auftauchen. Rosenstock schreibt: »Alle weltlichen Losungen des Parteigängertums müssen untergehen in der großen Wiederaufnahme (readmission) von Pfingsten; denn dies lehrt die wahre Vernunft.« Ohne jeweilige und fortgesetzte Wiederholung von Pfingsten schaffe nämlich, so Rosenstock, die Erinnerung an das ursprüngliche Pfingsten »nichts als Ver­ zweiflung«.30 Das Symblysma bezeichnet nach Rosenstock die Polyfonie des Heiligen Geistes.31 Diese Polyfonie ist mit den üblichen biografischen Kategorien, die bei einem intellektuellen Aufeinandertreffen verschiedener Individuen

27 Die Bedeutung des Pfingstereignisses für die Soziologie von Intellektuellengruppen wird eindringlich analysiert von Jürgen Frese, Intellektuellen-Assoziationen, in: Richard Faber/Christine Holste (Hgg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, 441–462, hier 442. 28 Rosenstock-Huessy, Der Atem des Geistes, 277. Über den grundlegenden Zusammen­ hang von Geschichte und Biografie bei Rosenstock-Huessy siehe Andreas Leutzsch, Geschichte der Globalisierung als globalisierte Geschichte. Die historische Konstruktion der Weltgesellschaft bei Rosenstock-Huessy und Braudel, Frankfurt a. M./New York 2009. 29 So der Titel einer Tonbandabschrift, siehe Eugen Rosenstock-Huessy, Pfingsten hat schlechte Zeiten, in: Stimmstein. Jahrbuch der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 2 (1988), 27–33. 30 Ders., Pfingsten und Mission, in: ders., Das Geheimnis der Universität. Wider den Verfall von Zeitsinn und Sprachkraft. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1950 bis 1957, hg. und eingeleitet von Georg Müller, Stuttgart 1958, 236–243, hier 236 und 243. 31 Siehe ders., Der Atem des Geistes, 287.

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angewandt werden, insbesondere mit dem in Biografien von Einzelnen gerne herangezogenen Gegensatz von »recht haben« und entsprechend »unrecht haben«, unvereinbar.32 Weniger theologisch und stärker soziologisch gespro­ chen: Rosenstock beschreibt mit dem Begriff »Symblysma« die im Wortsinn inspirierende, einschneidende Wirkung der dynamischen Auseinanderset­ zungen innerhalb von bestimmten Gruppen verschiedener Individuen und nimmt gleichzeitig das Christentum in seinen Aussagen ernst. »Nicht der alleinstehende Mönch, nicht der einsam schaffende Genius, aber die ihrer Eigenart in der Vermassung treubleibende Einzelgruppe wird den Heiligen Geist bezeu­ gen: vorübergehend und sterblich wie Ehe und Freundschaft, aber auch beseelt und durchgeistigt wie alle Pfingstgeschöpfe.«33

In einem solchen kreatürlichen Kreis geschieht Wahrheit, und zwar eine Wahrheit, die sich durch die Verantwortlichkeit des jeweiligen Individuums praktisch und öffentlich bewährt, einerseits gegenüber dem herausfordern­ den Ereignis, andererseits aber auch voreinander34 und vor einem äußeren Publikum.35 Manifest wird die Wahrheit im öffentlichen Sprechen, welches das Sprechen im gedruckten Erzeugnis von Verlagen, in Büchern und Zeit­ schriften, ausdrücklich einschließt. In Out of Revolution schreibt Rosen­ stock: »inspiration, genius, talents, or simply thought, language, writing, are not merely means for starring lonely individuals; they are uniting people in a common life.«36 Das Publizieren von Büchern als Ergebnis eines überwälti­ genden symblysmatischen Ereignisses wird somit zu einer Lebensnotwen­ digkeit: »Es ist kein Luxus, ein Buch zu schreiben; es ist ein Mittel, weiterleben zu können. Indem ein Mensch ein Buch schreibt, befreit er seinen Geist von einem ihn überwälti­ genden Eindruck. Ein Buch ist echt, wenn es nicht willkürlich geschrieben wurde, son­ dern geschrieben werden mußte, um den Weg frei zu machen für ein weiteres Leben und Tun.«37 32 Siehe ebd., 278. 33 Ders., Die Sprache des Westens, in: ders., Das Geheimnis der Universität, 56–63, hier 63. 34 »Kollegen sagen sich nicht die Wahrheit. Freunde sagen sich die Wahrheit. Kollegen schonen sich gegenseitig. Sie lassen sich jeder alleine.« Siehe ders., Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung, 244. 35 Die symblysmatische Soziologie der Gruppe hat Rosenstock-Huessy auch in anderen Bereichen gepflegt, so in seinen ökonomischen und betriebssoziologischen Arbeiten; siehe Knut Martin Stünkel, Werkstattaussiedlung, Ökodynamik und des Christen Zukunft. Die religiöse Ökonomie der Wirtschaft bei Eugen Rosenstock-Huessy, in: Swen Stein­ berg/Winfried Müller (Hgg.), Wirtschaft und Gemeinschaft. Konfessionelle und neureli­ giöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2014, 285–302. 36 Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution. Autobiography of Western Man, Provi­ dence, R. I./Oxford 1993, VIII. 37 Ders., Ich bin ein unreiner Denker. Vom Töchterlich-Werden des Denkens, in: ders., Das Geheimnis der Universität, 97–112, hier 97.

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Das Symblysma als ergreifendes und produktives Ereignis steht bei Rosen­ stock für eine »Einheit des Geistes«,38 welche auch mit Unzeitgenossen, das heißt »zwischen ganzen Epochen« denkbar ist. Dem Anspruch nach ist es diesem möglich zwischen verschiedenen religiösen Traditionen, ohne essen­ zielle Gefährdung einer Seite, zu vermitteln, denn »das ursprüngliche Pfingsten [war] nicht ein Phänomen der Bekehrung, sondern eines der viel­ sprachigen Offenbarung«.39 Symblysma, das ist Ausdruck einer sprachli­ chen Einheit, die mehr ist als die Summe der Sätze oder die Summe der Sprecher. In dieser Hinsicht ist das Symblysma eine Reformulierung von Rosenstocks früher Einsicht, dass die Sprache weiser ist als derjenige, der sie spricht.40 Auf den engen Zusammenhang von Symblysma und Patmos weist Rosenstock hin, wenn er in seinem Text Symblysma oder der Über­ schwang der Jesuiten über das Buch des jesuitischen Symblysmatikers Peter Lippert schreibt: »Die Schrift hätte von jedem Bewohner von Patmos, von jedem Herzen, das je in einer sakramentalen Gruppe gelebt hat, geschrieben werden können.«41

Leiden an Patmos Den Boden für ein symblysmatisches Erlebnis zu bereiten ist eine der gro­ ßen Aufgaben des Soziologen Rosenstock, der er sich sein ganzes Leben gestellt hat. Leicht drängen sich entsprechende Ereignisse und Bilder auf: das Leipziger Nachtgespräch 1913, die St.-Georgs-Ritterschaft, die Daim­ ler-Werkzeitung, die 1921 eröffnete Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main, die schlesischen Arbeitslager oder das Camp William James – und natürlich das Patmos-Projekt sowie das wohl auffälligste Vorhaben, die Zeit­ 38 Ders., Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bde., hier Bd. 1, Heidelberg 1963, 287. 39 Ders., Pfingsten und Mission, 239. 40 Siehe ders., Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchungen, Wei­ mar 1912, 144. 41 Ders., Der Atem des Geistes, 281. Die Rolle des neutestamentlichen Patmos für einen soziologischen Gruppenbildungsprozess hat Rosenstock in Die Sprache des Menschenge­ schlechts dargestellt: »Aber knien vor dem Priester, wie Markus vor Petrus, stehend plä­ dieren vor der Gemeinde wie Matthäus vor den Juden, sitzend lehren vor den Konfirman­ den, wie Lukas oder wie Paulus in seinen Briefen, liegend dem Ansturm der Gesichte erliegend wie Johannes auf Patmos – diese Handlungen versetzen den Seher auf Patmos in eine unlösliche Einheit mit Gott, den Priester mit der Gemeinde, den Missionar mit den Schülern, den Apostel mit seinen Gegnern. […] Wir beteiligen uns, wenn wir so sitzen oder stehen, an einer Leibesbildung, einer Korporation, zu dessen [sic] Gliedern oder Mit­ gliedern unser leiblicher Akt uns umprägt.« Siehe ders., Die Sprache des Menschenge­ schlechts, Bd. 1, 100.

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schrift Die Kreatur. Alle diese Versuche in der Soziologie der Gruppe haben den Anspruch, ein Symblysma zu ermöglichen, welches die jeweilige Ansammlung inspirierter Individuen zu einem »Pfingstgeschöpf«, also einer Kreatur im eigenen Sinne und nach eigenem Recht macht. Doch gibt es ein bestimmtes Problem, und zwar in der Bewertung dieser Unternehmen durch Rosenstock selbst. Eine kontinuierliche Entwicklungsli­ nie, etwa von den symblysmatischen Ereignissen des Patmos-Verlages zur Mitarbeit an der Zeitschrift Die Kreatur, zu zeichnen, scheint im Rückblick ein zweifelhaftes Unterfangen zu sein. Zwar gibt es auf der einen Seite durchaus eine entsprechende Genealogie, nicht zuletzt bei Rosenstock selbst, aber gerade bei ihm finden sich signifikante Unterschiede in der Bewertung beider ähnlich kurzlebiger Projekte. Während das »Kreatur«Projekt durchgehend auch und gerade in seiner zeitlichen Begrenztheit von Rosenstock als gelungen angesehen wird, ist ihm der Rückblick auf Patmos und seine ebenso kurze Lebensdauer eine Ursache des Bedauerns und ein Grund für bittere Vorwürfe, vor allem an seine damaligen Mitstreiter. Es scheint, dass es von allen Enttäuschungen seines Lebens dieses Scheitern war, das Rosenstock am tiefsten getroffen hat. Sein Denken, so scheint es, kreist um Patmos – ein Patmos-Kreis persönlicher Natur, welcher aber seine Biografie in ein bestimmtes Licht stellt. Rosenstock war sich dieser Obsession bewusst. In Symblysma oder der Überschwang der Jesuiten schreibt er sicher nicht ohne persönliche Betrof­ fenheit über die sakramentale Gruppe, welche man unschwer mit dem Pat­ mos-Kreis identifizieren kann: »Auf die sakramentale Gruppe, von der Lip­ pert spricht, kann man sich nicht abonnieren. Sie tritt ins Leben, und sie stirbt, und wehe dem, der sie festzuhalten sucht, wenn ihr Ende da ist. Er wird kreuzunglücklich im Versuch. Sein Herz nimmt Schaden.«42 Trotz die­ ser Warnung und trotz des Umstandes, dass schon »im Monat April 1922« sein »naiver Glaube an die unbesiegbaren Kräfte des Patmos-Geistes zugrundeging«,43 tut Rosenstock selbst auch späterhin genau dies. Er ver­ sucht, die vom Geist von Patmos beseelte Gruppe festzuhalten. Er allein, so äußert er sich wiederholt, habe in seinem Denken und Trachten die Flagge Patmos’ hochgehalten und werde dies auch weiterhin tun, während die damaligen Bundesgenossen, der eine früher, der andere später, die PatmosIdee verraten hätten und fahnenflüchtig geworden seien. Sie haben den bio­ grafischen Einschnitt, den nach seiner Meinung Patmos repräsentiert, nicht wahrgenommen oder verleugnet. In seiner Erinnerung an Hans Ehrenberg bezeichnet sich Rosenstock »als Treuhänder jenes Patmos, ach als der ein­

42 Ders., Der Atem des Geistes, 282 f. 43 Ders., Ja und Nein, 299.

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zige Treuhänder, der sich noch zu Patmos unverdrossen bekennt.«44 Auch alte und engere Freunde wie Rudolf Ehrenberg sind von diesem Verdikt nicht ausgenommen. Bezeichnend ist hier das Jahr 1947, in dem Rosenstock anklagende und fast schon resignierte Briefe an die ehemaligen Freunde und Bekannten in Deutschland schreibt, unter anderen an Leo Weismantel: »Lieber Leo! Wir haben unsere Einflußlosigkeit verdient. Wie Picht, wie Rudolf Ehren­ berg, wie Karl Barth, hast auch Du Patmos verleugnet. Alles steht in Deinem Lebens­ abriß drin, Werke und Werklein, Kleines und Großes. Aber das Nämchen Patmos fehlt. Das hast Du, sein Gründer, vergessen. Ich, der ich bloß der Stifter und beileibe nicht der Gründer von Patmos bin, sage Dir und allen damaligen, daß Euer Tun ohne Segen bleiben muß, weil ihr den Wiedergeburtstag in Euch verschüttet und vergessen habt. Es ist eine grausliche Erfahrung. Du könntest über dieses Versinken von Patmos in Euren Seelen ein sehr großes Drama dichten.«45

Die Anklage der Freunde hat mit ihrer veröffentlichten Selbstreflexion zu tun. Ihre Biografien, so wie sie Rosenstock in publizierter Form vorliegen, scheinen ohne das Ereignis Patmos auszukommen. Schlimmer noch, es tau­ chen Namen an dessen Stelle auf, welche mit dem symblysmatischen Geist und der Soziologie von Patmos nichts zu tun haben, und zudem wird so wei­ tergelebt, als habe die Wendung, die Patmos für Rosenstock bedeutet, nie stattgefunden. An sein Patenkind Maria, die Tochter Rudolf Ehrenbergs, schreibt er: »Die Verleugnung dieses Datums, durch das ein Bruch zwischen zweitem Millenium […] und drittem Jahrtausend entstanden ist, diese Verleugnung durch Deinen Vater, durch alle anderen Patmosglieder, beunruhigt und schmerzt mich tief. […] Ich werde mich nicht zufrieden geben, ehe die Patmosfreunde sich entschieden haben. Sag dei­ nem Vater, dass die Namen Spengler und Alfred Weber, wo mein Name zu stehen hatte, mich tief geschmerzt haben. Als ob man nie gelebt hätte! Ich und Gritli waren die Pat­ mos ›Seelenachse‹. ›Seelenachsen des Gewehres‹ sind unsichtbar und zerbrechlich. Und von der Macht, sie zu zerbrechen, hat meine Generation freien Gebrauch gemacht. Die Metabiologie Deines Vaters, Hans Ehrenbergs Autobiografie, Picht, Weismantel, Ernst Michel, alle versuchen einfach drauflos zu denken. Während uns doch die Wahr­ heit des Kreuzes 1918 enthüllt wurde, und wir uns seitdem nichts ausgedacht haben, sondern nur in einer neuen Zeit standen, in der es geboten war, andere Gedanken zu denken und andere Stoffe zu behandeln, als heut noch in den mit Examen und Dok­ torgraden beschäftigten sogenannten Hochschulen, die um ein Weltalter von uns getrennt sind.«46

44 Ders., Die störende Anwesenheit des Johannes, in: ders., Die Sprache des Menschenge­ schlechts, Bd. 1, 259–265, hier 265. 45 Zit. nach Gertrud Weismantel, Begegnungen. Eugen Rosenstock-Huessy und Leo Weis­ mantel, in: Lothar Bossle (Hg.), Eugen Rosenstock-Huessy. Denker und Gestalter, Würz­ burg 1989, 92–109, hier 103. 46 Brief Rosenstock-Huessys an Maria Ehrenberg vom 12. Juni 1947, in: Eugen Rosen­ stock-Huessy und Rudolf und Maria Ehrenberg. Ein Briefwechsel, hg. von Rudolf Her­

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Seine Mitstreiter haben sich an der Wahrheit nicht bewährt. Deutlich wird dies am Totschweigen der damaligen Freunde, also des notwendigen sozio­ logischen Resonanzraumes, insbesondere Rosenstocks47 selbst. Rosenstock verbindet hier Patmos aufs engste mit seinem eigenen Namen und dem sei­ ner Frau – in dieser Reihenfolge – und es sind beide, die seiner Meinung nach in den Schriften der Freunde vergessen oder gar durch andere Namen ersetzt worden sind.48 Zudem werden sie von der akademischen Praxis ver­ deckt, die es als solche nicht erlaubt, die 1918 enthüllte Wahrheit des Kreu­ zes wirklich zu denken. Durch ihr Verschweigen von Patmos werden Rosenstock die Biografien seiner ehemaligen Bundesgenossen problematisch. In einem Brief an Ernst Michel vom 18. September 1950 schreibt Rosenstock: »Ich habe ›Ehrlos-Heimatlos‹, welches Hitler vorhersagt (aus Der Hochzeit) in Pichts Haus 1919 vorgelesen, mit seiner ergriffenen Zustimmung. Und dann schrieb er seine Kriegsbulletins. 1919 gründete Weismantel den Patmosverlag, weil und als ich ihm auf dem Bahnhof Würzburg Den Selbstmord Europas vorlas. Jetzt hat er seinen Sohn sein Leben und seine Bibliografie schreiben lassen. Da kommt weder der Patmosverlag vor noch das Stück, das Weismantel selber in unseren Büchern damals veröffentlichte! Hans Ehrenberg erwähnt in seiner englischen Selbstbiografie den Patmosverlag nicht und auch meinen Namen, u. in seiner 1948 gedruckten Bibliografie fehlt seine beste

meier, in: Stimmstein. Jahrbuch der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 9 (2004), 51–55, hier 54. 47 Joseph Wittig, sein Freund und Mitautor des dreibändigen Werks Das Alter der Kirche, schreibt in einem Brief an Ernst Michel vom 11. Dezember 1947 im Hinblick auf dessen Buch Renovatio über die deprimierte Stimmung Rosenstock-Huessys: »Besonders freue ich mich, daß Sie dankbar Rosenstocks gedenken, der jüngst seinen Freunden Weizsäcker, Ehrenberg, Weismantel einen tieftraurigen Rundbrief schickte, daß wir alle unsere Her­ kunft von ihm verleugneten und ihn aus unserem neuen Leben ausschlössen. Mich nahm er in einem besonderen Briefe aus. Was können wir tun? Wir verdanken ihm viel; er müßte wieder unter uns sein. Amerika ist nicht das rechte Land für ihn. Aber auch für unser Land ist ihm nicht die rechte Sprache gegeben. Man muß ihn lieben und seine Feuer spüren, um ihn zu verstehen. Und wir haben noch nicht die Gemeinsamkeit eines neuen Lebens, wie er sich denkt.« Siehe Joseph Wittig, Kraft in der Schwachheit. Briefe an Freunde, hg. von Gerhard Pachnicke unter Mitwirkung von Rudolf Hermeier, Moers 1993, 451. 48 Überhaupt scheinen unterschiedliche Ansichten über die Rolle der einzelnen Mitglieder innerhalb des Kreises bestanden zu haben. In seiner Biografie über Hans Ehrenberg zitiert Günter Brakelmann einen Text Heinrich Berls über Kulturerneuerer in Baden aus den Jah­ ren 1922/23: »›Patmos‹ sucht die Erneuerung des Christentums aus dem Geiste der johan­ neischen Apokalypse. Leo Weismantel ist der Dramatiker dieses Kreises, das geistige Haupt ist Hans Ehrenberg, außerordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Heidelberg. Ehrenberg ist Protestant und Sozialist, die Verbindung mit Patmos – dem Gei­ ste der Katholizität – scheint äußerlich besehen ein Widerspruch. Aber ›Tragödie und Kreuz‹, Ehrenbergs Hauptwerk, löst diesen Widerspruch.« Siehe ders., Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland, 2 Bde., hier Bd. 1: Leben, Denken und Wirken. 1883–1932, Waltrop 1997, 131.

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und in Patmos verlegte Schrift: ›Die Heimkehr des Ketzers.‹ Rudolf Ehrenberg hat es ähnlich gehalten. Karl Barth hat ja schon 1923 das Einverständnis von 1919 verleugnet. Welches war das Einverständnis? Nun, dass wir uns von keinem Weltkrieg II mehr dumm machen lassen dürfen, weil Gottes Gericht über Europa schon ergangen sei! 1940 hat Barth dann doch den ›Antichrist‹ entdeckt, in [von?] dem Patmos ausging!«49

Patmos zu verlassen bedeutet somit, seine soziologische Zukunftsfähigkeit zu verlieren, die sich unter anderem in der Vorhersage von Ereignissen wie dem Auftauchen eines »Lügenkaisers« oder des von Barth erst 1940 ent­ deckten Antichrist äußert. Alle seine damaligen Mitstreiter sind nach Rosen­ stock von diesem Verlust, welcher ebenso ein Verlust ihrer wissenschaftli­ chen Integrität im Sinne seiner neuen soziologischen Wissenschaft ist, betroffen.

Der Kreis um den Patmos-Verlag Für Rosenstock selbst waren das Verlassen eingefahrener Gleise und der Aufbruch nach Patmos die erste und entscheidende Konsequenz, welche aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs für den wachen, das heißt erschütter­ ten Beobachter zu ziehen war. Als eine soziologisch sensible Aktion konnte dieser Aufbruch nur in einem Kreis von Freunden vollzogen werden. Der Aufbruch wurde so ein wissenschaftliches Statement, eine verantwortliche Antwort auf die Ereignisse, welche das ganze übrige Leben des Soziologen entscheidend beeinflusste In seinen autobiografischen Fragmenten be­ schreibt er diesen Prozess entsprechend: »Dieser Aufbruch aus alten Ordnungen konnte nur einigen Freunden bekannt gemacht werden. Von 1915 bis 1923 fühlte sich diese Freundesgruppe, als ob sie auf Patmos lebte und ›Patmos‹ nannten wir den Verlag, den wir 1919 gründeten und der uns die erste Bresche in den offiziellen Bücherwald schlagen sollte. Der Keim meines späteren Werks – wenn ich so sagen darf –, meines besonderen Beitrags stammt aus dieser Periode völliger Erneuerung und Überholung. Als ich 1933 mit meiner Frau in die Staaten einwanderte, war das nichts gegen unsere innere Einwanderung auf Patmos, die wir nach 1915 vollzogen.«50

Dieser Aufbruch ist eine Verpflichtung, an der sich die Verantwortung des Einzelnen bewährt – entsprechend fatal muss sich eine Rückkehr von Pat­ mos in die alten Ordnungen und Sicherheiten für die biografische Glaubwür­ digkeit der Betreffenden auswirken: »Wir waren nun bestimmt, nicht wieder 49 Eugen-Rosenstock-Huessy-Archiv, Bielefeld-Bethel, Brief Rosenstock-Huessys an Ernst Michel vom 30. Januar 1948 (Hervorhebungen im Original). 50 Rosenstock-Huessy, Ja und Nein, 294.

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zurückzugehen und den Rest unseres Lebens nicht der Rückkehr zur Norma­ lität, sondern der Norm dieser außerordentlichen Erfahrung zu widmen.«51 Der erneuten Rückkehr nach Patmos beziehungsweise dem Versuch geistig dort zu bleiben jedoch widmet Rosenstock nach seiner Rückkehr zur Uni­ versität einige publizistische Versuche, von denen er das dreibändige Werk Das Alter der Kirche, verfasst zusammen mit Joseph Wittig, als das anspruchsvollste bezeichnet: »1927 gab mir die Kameradschaft mit Wittig das Gefühl, noch immer mit einem Bein auf Patmos zu stehen.«52 Rosenstocks eigene Definition und Erzählung von Patmos ist folglich enthusiastisch: »Patmos verkörpert den Mittelpunkt des Heute, an dem ein Stück ewigen Lebens in die Zeiten einbricht, als das die Zeiten und Räume neu einrichtende Kreuz der sich wandelnden Zeiten und der verwandelten Räume.«53 Diese mannigfachen Wandlungen müssen sich auch in den Lebenserzählungen der Einzelnen niederschlagen. Patmos ist so der Ort, an dem das Kreuz, das heißt das »Kreuz der Wirklichkeit« als Kernkonzept rosenstockschen Denkens, vielleicht zum ersten Mal manifest sichtbar wird. Dieser Einbruch äußert sich in Sprache. In seiner Autobiografie beschreibt Rosenstock seine, wie er es nennt, drei sprachlichen »Wiedergeburten« in der Auseinandersetzung mit Franz Rosenzweig, Eugen May und Joseph Wittig und schließt eine Arbeitsanweisung an: »Es ist nicht die Aufgabe dieses Textes, die drei Wiedergeburten im einzelnen zu analy­ sieren; sie leben in mir, und nach meinem Tod erst mag der pathologische Anatom – als Stifter des Patmosverlags könnte ich das Wort patmologisch prägen – die Sektion kunstgerecht durchführen.«

Pathos und Patmos hängen also im Hinblick auf ihre spezifische Sprachlich­ keit für Rosenstock selbst eng zusammen. Sich selbst bezeichnet Rosenstock wiederholt als »Stifter« (beziehungs­ weise als »bloßen Stifter«) des Patmos-Verlags, den Schriftsteller und Reformpädagogen Leo Weismantel jedoch als seinen eigentlichen »Grün­ der«.54 Doch dies ist nur eine scheinbare Bescheidenheit. Zwischen Gründer 51 52 53 54

Ebd., 294. Ebd., 295. Ebd., 246. In Leo Weismantels Beitrag zu Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge, dem Drama Der Wächter unter dem Galgen findet sich ein Hymnus, der das symblysmatische Erlebnis thematisiert. Er ist einem friedenstiftenden Kanzler gewidmet, der vormalige Feinde unter einem Kaiser zu vereinen versteht: »Seht, die Sonne ging auf, da er gebot – / Und die ein­ sam sich wähnten, in Nächten verlassen / Sahn bei erleuchtetem Tag sich gesellig im Kreis von Freunden. / Einzelne, verlorne Töne, Schreie und Seufzer waren die Klagen, / Einzelne verlorne Töne das Lachen, die Freude, / All der einzelnen Menschen Leid und Lust hat er erlöst in der Vielheit, / Die gestaltend er schuf, den Menschen läuternd in Menschheit. / Wo ist ein Baum, der den Wald nicht erkennt und sein höheres Wesen? / Wo ist ein Lamm, das die Herde nicht erkennt, ihren Schutz gegen Wölfe? / Also hat er

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und Stifter gibt es einen Unterscheid: Wer gründet, zielt auf wenige Jahre. »Wer aber stiftet, der würde die Bäume einsäen, die in hundert Jahren Schat­ ten spenden.«55 Stiften wird so zu einer wahrlich zukunftsträchtigen Tätig­ keit. Es wird deutlich, dass Patmos für Rosenstock als dessen selbst ernann­ ten Stifter ein zentrales Anliegen gewesen ist, von dem er wohl zeitlebens gezehrt, an dem er aber auch ebenso lang gelitten hat. Umso drängender ist die Frage, warum das Unternehmen Patmos für Rosenstock trotz aller euphorischen Anfänge zu einer derart enttäuschenden, ja pathologischen Erfahrung geworden ist, einer Erfahrung, die auch der spätere Erfolg der Zeitschrift Die Kreatur nicht kompensieren konnte. In der Literatur findet man verschiedene Angaben darüber, wer zu dem »Patmoskreis« oder »Patmosbund« gerechnet werden kann. Auch finden sich viele unspezifische Angaben, wenn nicht ganz auf eine Bestimmung des Kreises von Personen verzichtet wird, die als Mitglieder dieser Gruppe gelten können.56 Nicht nur angesichts dieses Umstandes ist es vielleicht keine unwichtige Aufgabe, Mitglieder des Kreises als solche zu identifizie­ ren. Mitgliedschaft, so Rosenstock im ersten Band seiner Soziologie, grün­ det in Begeisterung57 – das scheint schon einmal alle Nichtchristen auszu­ schließen – und Symblysma ist seiner Bestimmung nach die polyfone Einheit dieses Geistes.

die Menschen gelehrt die Zäune der Liebe / Gegen Not und Gefahr um ihre Gemeinde zu pfählen.« Siehe ders., Der Wächter unter dem Galgen. Die Tragödie eines Volkes, Würz­ burg 1920, 43 f. Die lutherische Patmos-Einsamkeit ist hier transformiert zur Erlösung des Einzelnen in der Vielheit, die den Menschen begeistert zur Menschheit läutert. Es ist gut möglich, dass Weismantel hier bei der Beschreibung des segensreichen Wirkens des Kanzlers konkrete Personen aus seinem damaligen Umfeld im Auge hatte. 55 Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 1, 185. In Des Christen Zukunft heißt es über die Stifter Buddha, Laotse, Abraham und Jesus: »Stifter heißt für alles eine neue Grundlage legen; es ist der Akt des Ahnenpfahlsetzens, mit dem ein Mensch aus seiner Einsamkeit heraustritt und die vielen von ihrem Schicksal, nur einer unter vielen zu sein, befreit.« Siehe ders., Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, übers. aus dem amerikanischen Englisch von Christoph von der Bussche und Konrad Thomas, München 1955, 279. 56 Siehe etwa die biografische Skizze von Bernd Faulenbach in: Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, 9 Bde., Göttingen 1971–1982, hier Bd. 9, Göttingen 1982, 102– 126, hier 103; siehe ferner M. Darrol Bryant/Hans R. Huessy (Hgg.), Introduction, in: Eugen Rosenstock-Huessy. Studies in his Life and Thought, Lewiston, N. Y., u. a. 1986, 3–18, hier 7. 57 »Der Geist sieht die Menschen ohne Haut. Er läßt sie einander durchdringen. Dazu müs­ sen sie aus der Haut fahren. Und der Akt kraft dessen wir aus der Haut fahren, ist die Begeisterung. Alle Begeisterung eint körperlich Getrenntes. Sie macht Mitglieder. Ohne Begeisterung gibt es keine Mitgliedschaft. Zwischen körperlicher Abgetrenntheit und geistiger Mitgliedschaft muß also etwas vor sich gehen. Was vor sich geht, ist eine Ver­ mählung.« Siehe Rosenstock-Huessy, Soziologie, Bd. 1: Die Übermacht der Räume (1956), 144.

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Eine Schwierigkeit der Identifikation besteht in dem anspruchsvollen pub­ lizistischen Programm, welches sich mit dem Kreis verbindet. Nach einem Plan Leo Weismantels sollte eine ganze Verlagsgruppe (die spätere NeubauVerlagsgruppe) gegründet werden, bestehend aus drei Verlagen: dem Pat­ mos-Verlag, »der ein Haus sein will für den Christen. Christ: das ist der Ziel-Mensch, dem Eleusisverlag, der jene sammeln will, die sich keinem Namen verschreiben, es sei denn dem eigenen selbstgeschöpften. Wegmen­ schen … sie machen den Weg zum Ziel, dem Moriahverlag, – er will einen Ausblick schaffen für den Juden, der auf die Erlösung harrt und dem in der Schau des Ziels leicht wohl der Weg verschwindet.«58 Innerhalb dieser Neu­ bau-Verlagsgruppe sind also die einzelnen Religionen fein säuberlich ge­ trennt: Für suchende Heiden und für Juden ist Patmos ganz offensichtlich nicht der richtige Ort. Die grundsätzliche Idee der Verlagsgruppe NeubauVerlage hat Rosenstock in seinen autobiografischen Fragmenten wie folgt gekennzeichnet: »So wie es immer den Geistlichen, den Geistigen und den barmherzigen Samariter gibt, als drei, die begeistert sind, und doch in ganz verschiedener Weise, so wie es Priester, Professoren und Künstler geben muß, so muß es ewig und immer Moriah, Patmos, Eleusis geben, und Rosenzweig und ich, zusammen mit unseren Freunden vom Pat­ moskreis, sahen daher die Gründung dreier Verlage vor, die diese drei Namen tragen sollten. Es ist dann nur zum Patmosverlag gekommen. Das Haus Schocken war einen Augenblick der Moriah-Verlag. Und die Kreaturgruppe nahm wohl Eleusis vorweg.«59

Geistliche sind so mit Moriah, Samariter mit Eleusis und Geistige mit Pat­ mos verbunden. In einem Brief an Ernst Michel vom 30. Januar 1948 beschreibt Rosenstock das Unternehmen um die Neubau-Verlage im Hin­ blick auf aktuelle philosophische Trends, wobei einige überraschende Sama­ riter auftauchen, wie folgt: »Weizsaecker, Camus, Sartre, Heidegger – gewiss sie sind unsrer nachnietzeschen Zeit-genossenschaft unentbehrlicher eleusinischer Flügel. 1919 bestand der Plan, drei Verlage zu gruenden: Eleusis fuer die leckeren Heiden, Moriah fuer die Eternalisten, Patmos fuer die Inkarnationalisten. Es gibt eben nach Nietzsche eine den Geist selber dialogisierende Erkenntnis der Zeit als des ›ersten Koerpers‹. Da kann ich nun in drei Weisen sprechen: vom ewig urspringenden Inhaus [?], das sind die Eleusinischen Alphas, die ewig hervorkommenden. Vom ewig am Ziel angelangten Wir aus des ewi­ gen Israel Omega, und von der schöpferischen Mitte des: Heute habe ich Dich gezeugt, des Kreuzes her. In dieser Dreiheit der Sprecher innerhalb des ersten Koerpers, der Zeit, verklaeren sich Heidentum, Judentum, Christentum zu gegenseitiger Transpa­ renz.«60 58 Weismantel, Begegnungen, 108. 59 Rosenstock-Huessy, Ja und Nein, 246. 60 Eugen-Rosenstock-Huessy-Archiv, Bielefeld-Bethel, Brief Rosenstock-Huessys an Ernst und Nelly Michel vom 18. September 1950 (Hervorhebungen im Original).

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Obzwar das Gesamtprogramm der drei Verlage insgesamt übergreifender Natur war, ist die Zuordnung zu einem Verlag auf eine bestimmte Tradition beschränkt. Patmos gehört den Inkarnationalisten aus der schöpferischen Mitte des Kreuzes. Angesichts der vor allem (heilig-)geistlichen christlichen Prägung der Pat­ mosidee ist es somit höchst zweifelhaft, ob es statthaft ist, von Rosenzweig als einem Mitglied des Patmos-Kreises zu sprechen. Zwar dachte dieser darüber nach, seinen Stern der Erlösung bei Weismantel zu veröffentlichen, und engagierte sich auch emotional im zukünftigen Moriah-Verlag;61 eine Veröffentlichung jedoch käme für ihn nur dann infrage, wenn »Patmos« eben nicht der Name des gesamten Unternehmens werden würde.62 Rosen­ zweig scheint den engen Zusammenhang von »Pfingsten und Mission«, wel­ cher in Rosenstocks symblysmatischem Patmoskonzept zum Ausdruck kommt, deutlich gesehen zu haben.63 Will man Rosenzweig einschließen, so sollte man eher von dem Neubau-Kreis sprechen, von dem der Kreis um den Patmos-Verlag ein Teil war.64 Doch nicht nur in Hinsicht auf das Judentum, sondern auch mit Blick auf die suchenden Heiden ist Rosenzweig Patmos gegenüber skeptisch. Er schreibt an Rosenstock: »Man spürt dem Ding doch an, dass kein Heide an 61 »Ich habe aber heute Morgen gemerkt, wie sehr mir das Nebeneinander der Verlage schon selbst Herzenssache geworden ist (ganz abgesehn davon, dass der Moriah = V. mir nun ein Anfang beruflichen Lebens wird, das spüre ich deutlich)«. Siehe Brief Franz Rosen­ zweigs an Margrit Rosenstock vom 26. Oktober 1919, in: Franz Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer, mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig, Tübingen 2002, 453. Zur Diskussion um diese Ausgabe der »Gritli«-Briefe siehe Michael Zank, The Rosenzweig-Rosenstock Triangle, or, What Can we Learn from “Letters to Gritli”? A Review Essay, in: Modern Judaism 23 (2003), 74–98. 62 Siehe Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 27. August 1919, in: ders., Die »Gritli«-Briefe, 403. Siehe auch den kurz artikulierten Wunsch im Brief an Margrit Rosenstock-Huessy vom selben Datum in: ebd., 406: »Patmos nicht als Obername für alle drei ›Verlage‹«. 63 Zum Verhältnis von Rosenzweig und Rosenstock-Huessy siehe Knut Martin Stünkel, Wider die voreilige Versöhnung. Die widerwärtige Freundschaft von Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy, in: Stimmstein. Jahrbuch der Eugen-Rosenstock-HuessyGesellschaft 13 (2011), 69–91. Für den Dialog zwischen beiden macht Hans-Joachim Hahn auf die Bedeutung von Rosenstock-Huessys eigener Konversion aufmerksam, siehe ders., Akademischer Exzentriker, häretischer Christ oder »nichtjüdischer Jude«. Aspekte des Sprachdenkens bei Eugen Rosenstock-Huessy, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Insti­ tuts/Simon Dubnow Institute Yearbook 10 (2011), 69–87. 64 Dies schließt nicht aus, dass Rosenzweig durchaus jene Autoren schätzen konnte, die nach Rosenstock-Huessy eine symblysmatische Konzeption entwickelt haben. In einem Brief berichtet er über die Lektüre von Peter Lipperts Buch Die Psychologie des Jesuiten­ ordens, »den ich gleich anfing und noch am gleichen Abend auslas, so schön ist er.« Siehe Franz Rosenzweig, Briefe, unter Mitwirkung von Ernst Simon ausgewählt und hg. von Edith Rosenzweig, Berlin 1935, 661.

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der Wiege der Gründung gesessen hat.«65 Moriah kann also nur in strenger Trennung von Patmos existieren und Eleusis bleibt ein bloßes Gedanken­ spiel derjenigen, die sich zu Patmos rechnen. Ein Kandidat für Eleusis wäre wohl Oswald Spengler gewesen, dessen Heidentum sowohl Rosenzweig als auch Rosenstock als einen konsequenten Widerpart ihrer Position sehr loben,66 später befinden sich, wie Rosenstocks Brief an Michel zeigt, Camus, Sartre und Heidegger in dieser unentbehrlichen Position. Patmos ist also ein genuin christliches Unterfangen. Der Kern des Pat­ mos-Projekts sind entsprechend die Bücher vom Kreuzweg. Ihre christliche Prägung wird noch verstärkt durch ihre intrareligiöse Überbrückungsleis­ tung, denn, so Rosenstock: »Hier bildete sich das johanneische Reich abseits der Kluft zwischen katholisch und protestantisch. […] In diesen Büchern vom Kreuzweg brach die wirkliche eine Welt des ersten Glaubensartikels aus den Fiktionen der ›Staatenwelt‹, der ›christlichen‹ Welt, der kirchlichen Welt, der gesellschaftlichen Welt hervor.«67

Es lohnt sich, zur weiteren Bestimmung des Kreises einen Blick auf seine öffentliche Selbstdarstellung zu werfen, die sich von der nachträglichen Selbstbeschreibung einiger seiner Mitglieder, auch derjenigen von Rosen­ stock selbst, in signifikanter Weise abhebt. Von einem genuin antiakademi­ schen Impuls, wie er in Rosenstocks Briefen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck kommt, ist hier wenig zu spüren. Zwar wäre, wie Rosenstock im Rückblick schreibt, vor allem der nicht zustande gekommene Eleusis-Verlag für ein akademisches Publikum ansprechend gewesen;68 am Ende von Rosenstocks Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution wird jedoch die Serie Der Bücher vom Kreuzweg erste Folge wie folgt vorgestellt und beworben: »An ihr sind beteiligt ein Dichter, ein Philosoph, ein Volkswirtschaftler, ein Jurist, ein Physiologe, ein Pfarrer; nämlich: Leo Weismantel Dr. phil., Schriftsteller in Würzburg Hans Ehrenberg Dr. phil., a. o. Professor der Philosophie an der Universität Hei­ delberg Werner Picht Dr. rer. pol. Mitarbeiter im Preuß. Kultusministerium 65 Brief Rosenzweigs an Eugen Rosenstock-Huessy vom 27. Oktober 1919, in: Rosenzweig, Die »Gritli«-Briefe, 455. 66 Siehe hierzu Knut Martin Stünkel, Urfragen und Antworten. Spenglers Sprachphiloso­ phie. Das Neue Denken, in: Arne de Winde/Bart Philipsen/Sientje Maes (Hgg.), Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler (im Erscheinen). 67 Rosenstock-Huessy, Ja und Nein, 266. Unter den vielen Gegensätzen, welche nach Rosen­ stock-Huessy durch Patmos ihre Bedeutung verloren, befindet sich neben dem Gegensatz von Glauben und Wissen oder Kapital und Arbeit auch derjenige von »protestantisch« und »katholisch«, nicht jedoch derjenige zwischen Judentum und Christentum. Siehe ebd., 294. 68 Siehe ebd., 246.

Kybele oder Symblysma Eugen Rosenstock Rudolf Ehrenberg Karl Barth

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Dr. iur., Privatdoz. des Staatsrechts u. der deutschen Rechtsge­ schichte an der Universität Leipzig Prof., Dr. med., Privatdozent der Physiologie an der Universität Göttingen Pfarrer in Safenwil (Aargau)«

Diese Liste in dieser Gestalt als Anzeige für den Verlag ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie nennt zunächst den eigentlichen »Patmos­ kreis«: zwei Katholiken (Leo Weismantel und Werner Picht) und vier Pro­ testanten (Eugen Rosenstock, Rudolf und Hans Ehrenberg sowie Karl Barth), von denen außer Barth alle jüdische Wurzeln haben. Nicht zu diesem Kreis gerechnet werden können also die oftmals genannten Franz Rosen­ zweig und Viktor von Weizsäcker, weniger noch Martin Buber oder gar Fer­ dinand Ebner, die beide ebenfalls gelegentlich auftauchen. Alle sechs agieren symblysmatisch durch die Veröffentlichung ihrer Bücher. Sie vereint sodann nicht nur ihr Christentum allein. Angesichts der stolz hervorgekehrten akademischen Gelehrsamkeit (fünf Doktoren, zwei Privatdozenten, zwei Professoren) fällt schon der Letztgenannte, ein bloßer Pfarrer aus einem ohne Zusatz nicht kenntlichen Schweizer Dorf, auch durch seine Positionierung ein wenig aus dem illustren Kreis heraus. Zwar wird in diesem Text die Verschiedenheit der Profession besonders hervorgehoben, die gemeinsame akademische Provenienz ist jedoch ebenso deutlich unter­ strichen – sogar der Dichter Weismantel prunkt mit seinem Dr. phil., obwohl er ihn in seiner Berufung wohl nicht unbedingt nötig hätte. Die Bücher vom Kreuzweg als Zugpferd des Patmos-Verlags sind ein wenn nicht auf ein aka­ demisches, so doch auf ein entsprechendes Publikum zielendes Projekt, wel­ ches zunächst die akademische Disziplinarität und Disziplin überwinden will: nämlich sowohl hinsichtlich der einzelnen Fachbereiche wie auch der Einführung des Wirkens Gottes in den universitären Bereich. Eine Stelle in seiner Vorlesung Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung scheint ein spä­ ter (Selbst-)Kommentar Rosenstocks zu diesem Umstand zu sein. Rosen­ stock berichtet von seinem Besuch auf der Insel Patmos, die »eine römische Militär- und Bergwerkskolonie« gewesen sei.69 Diese Information ist wichtig zur Kennzeichnung des materiellen Rahmens der von Patmos ausgehenden Botschaft. Im Hinblick auf den Autor der Offenbarung schreibt er: »So hat sich Johannes unter der Herrschaft des Nero in Ephesus, denken Sie mal, und auf Patmos, wo er von den römischen Soldaten allein das Essen erhielt, losgesagt. Die Insel Patmos kann sich selbst nicht ernähren. Nur durch Lebensmitteltransporte konn­ ten diese Gefangenen da in dem Bergwerk am Leben erhalten werden. Ich bin selbst in der Höhle gestanden, wo der Apostel Johannes die Apokalypse geschrieben haben soll. Es sieht mir ganz so aus, als ob das der wirkliche Raum sein könnte: sehr abenteuerlich über dem Meer. Johannes auf Patmos, jeder auf Patmos lebte von der Gnade des römi­ 69 Ders., Die Gesetze der christlichen Zeitrechnung, 263.

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schen Staats. Von dem Pharao, dem Getreideverteiler, dem ›Großen Bruder‹ aus ›1984‹, auf dessen Wink man verhungert oder auf dessen Wink man satt gemacht wird. Johannes war tiefsinnig genug, um sich nicht einzubilden, dass er nicht römischer Untertan ist, weil er sich innerlich einbildet, es nicht zu sein: Er muß es sagen. Und wie soll er das? Er muß sich lossagen. Und so schreibt er an die Wand sozusagen – er hat sich vielleicht die Nägel dabei blutig geritzt: 666. Und indem er diese Lossagung voll­ zieht, wird er frei. Denn nun riskiert er dafür sein Leben und nun ist es erklärt.«70

Auch Rosenstock hat in dieser Patmos-Höhle gestanden, und auch er ist dabei vom »Pharao«, der Universität, alimentiert worden, zumindest mit symbolischem Kapital. Darauf wird in einem Akt der Selbsterklärung feier­ lich verzichtet und so die nötige Freiheit gewonnen – die, so mag man ergän­ zen, dem Anspruch nach selbst dann noch gewahrt wird, wenn man wie Rosenstock selbst nach wenigen Jahren zur Universität, zum Tier mit der Nummer 666, von dem er sich zuvor emphatisch losgesagt hat, zurückkehrt und ein Leben lang dort bleibt.71

Das Scheitern von Patmos Der Grund für das Scheitern des Patmos-Projekts lässt sich an der ersten Fraktion des Kreises exemplarisch ablesen, nämlich dem Bruch mit Karl Barth. Dieser vertraute dem Verlag denjenigen Text an, der ihn bekannt machte und der in nuce seine spätere Theologie enthielt. Schon der Titel die­ ses »Tambacher Vortrags«, »Der Christ in der Gesellschaft«, ließ auf eine soziologisch geprägte Fragestellung der Form Individuum und Gemein­ schaft schließen, welche zur Symblysmatik in einem direkten Zusammen­ hang zu stehen versprach. Und wirklich spricht Barth zu Beginn seiner Aus­ führungen auch einen entsprechenden Punkt an: »[…] wir werden wohl daran tun, den Zaun, der Juden und Heiden, sogenannte Christen und soge­ nannte Nicht-Christen, Ergriffene und Nicht-Ergriffene trennte, nicht wieder aufzurichten. Die Gemeinde Christi ist ein Haus, das nach allen Seiten offen ist […]«.72 Doch es wird schnell deutlich, dass bezüglich des beseelenden 70 Ebd., 266. 71 Die antiakademische Polemik Rosenstock-Huessys und seiner späteren Anhänger ist umso auffälliger, wenn man den Umstand bedenkt – auf den Hans-Joachim Hahn zu Recht hingewiesen hat –, dass Rosenstock-Huessy, von einigen Beurlaubungen abgese­ hen, fast ununterbrochen und die meiste Zeit in der Position eines Professors an der Hoch­ schule tätig war; siehe Hahn, Akademischer Exzentriker, häretischer Christ oder »nichtjü­ discher Jude«, 75 und 77. Die Funktion des Akademischen und Universitären im Sprechen und Denken Rosenstock-Huessys ist somit sicher nicht darin erschöpft, als das zu vermeidende Andere herzuhalten. 72 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1924, 33–69, hier 34.

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Geistes, der diese neue Gemeinde stiftet, zwischen der symblysmatischen Idee und Barths Konzeption gravierende Unterschiede bestehen. Zunächst ist der Christ des Vortragstitels nicht der Einzelne, sondern Christus in seiner Wirkung auf die Gesellschaft. Barth macht deutlich, dass »Gott […] heute weniger als je wohlfeil zu haben [ist]«73 und »der Heilige Geist der Pfingsten […] darum der Heilige Geist [war], weil er nicht menschlicher Geist war, auch nicht im besten, reinsten Sinn, sondern horribile dictu unter Brausen von Himmel und Bewegen der Stätte, da sie versammelt waren, in feurigen Zungen auf sie kam, ›senkrecht vom Himmel‹«.74 Der Geist äußert sich also nach Barth gerade nicht in unmittelbarer symblysmatischer Ergriffenheit, sondern als das ganz Andere: »Aus größter Distanz und eben darum aus größter Einsicht in die Dinge werden wir im Blick auf das regnum gloriae unsere Entschlüsse fassen und der Kurzschlüsse zur Rechten und zur Linken werden dabei allmählich weniger werden.«75 Der Verlust von Barth als Mitstreiter und zugleich als Gegenpol beraubte den Patmos-Verlag schon früh seines eigentlich symblysmatischen Charak­ ters, welcher auch Getrenntes zu vereinen imstande wäre. Allerdings war diese Entwicklung wohl unvermeidlich, denn es ist gerade das Symblysmati­ sche, welches den großen Abgrenzer Barth abstößt. Barth hat für diese Kon­ zeption jedoch eine andere Bezeichnung: »[I]ch sehe gewisse Analogien zwischen der Patmos-Religion und dem vorderasiati­ schen Kybelekult des Hellenismus. Bemerke nun, wie er [Rosenstock] sich dazu stellt: Nicht eben umsichtig, trotz des triumphierenden Tones, mit dem er uns zuletzt sogar unter die ›Schwachen‹ von Röm. 14 versetzt. Vielleicht gelingt es uns doch noch, die­ sen Mann mit seiner zappelnden Zweibeinigkeit zu beruhigen.«76

Die Beschreibung des Kultes der Mater Magna, der Kybele,77 der mit exzes­ sivem gemeinschaftlichem Gebrüll, mit Gesang und Tanz assoziiert wird, ist an dieser Stelle bezeichnend, ebenso wie das Attribut »gnostisch«78 (das heißt direkt mit dem Göttlichen in Verbindung stehend), mit dem Barth 73 74 75 76

Ebd., 37. Ebd., 67. Ebd., 68. Brief von Karl Barth an Eduard Thurneysen vom 22. März 1920, in: ders., Gesamtaus­ gabe, Teil 5: Briefe, hier Bd. 1: Briefwechsel 1913–1921, bearbeitet und hg. von Eduard Thurneysen, Zürich 1973, 376. 77 Rosenstock-Huessy selbst bespricht den Kybele-Kult in: ders., Die Gesetze der christli­ chen Zeitrechnung, 503 f. 78 Für Barth war der Patmos-Kreis im Rückblick eine akute Gefahr als derjenige, »der mich um 1919/20 mit seiner Gnosis überschwemmen und ersticken wollte«. Siehe Brief Karl Barths an K. H. Miskotte vom 12. Juli 1956, zit. nach Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, 154. Für sich selbst nimmt Rosenstock-Huessy in späteren Jahren in Anspruch, ein Verteidiger der Wahrheit gegen das Unkraut der Gnosis, das heißt im konkreten Fall gegen den modi­

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Rosenstock belegt. Dergleichen Sozialisationsformen müssen Barth fremd bleiben, er glaubt an ihnen zu »ersticken« und empfindet sie in ihrer Emphase als anmaßend: als etwas, das »jedes auftauchende Fünklein der unmöglichen Möglichkeit in die mögliche Möglichkeit einer Bewegung, einer Schule, einer ›Linie‹ oder eines ›Kreises‹, eines allerneusten Geschreis und Getues von Gottbegeisterten zu verwandeln und womöglich einen ent­ sprechenden Verlag zu begründen weiß, dessen Name schon von Anmaßung und sicherem Mißlingen Zeugnis gibt«.79 Ein Kreis, der zusammen die Stim­ men in Inspiration erhebt und sich so institutionalisiert, indem er das ganz andere pazifiziert, muss, so Barth in der zweiten Auflage seines Römer­ briefs, notwendig scheitern. In dieser Hinsicht rührt der Konflikt Barths mit der Patmos-Idee an einen zentralen Punkt und erweist sich als soziologischer Konflikt. Er spiegelt eine Diskussion wider, die mit Ferdinand Tönnies’ Differenzierung von Gesell­ schaft und Gemeinschaft in der Soziologie beginnt. Im Konflikt wird die Differenz zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft auf die Spitze getrieben, der emphatischen Gemeinschaft die nüchterne (kalte) Gesellschaft gegen­ übergestellt.80 In Des Christen Zukunft heißt es in Rosenstocks Soziologie des Vorortes unter Zuhilfenahme seines Kernkonzeptes, des Kreuzes der Wirklichkeit, etwa: »Das Kreuz der Wirklichkeit ist das unauslöschliche Zeichen des Zwiespalts, das in der ganzen Struktur des Lebens fest verwurzelt ist; eine Gesellschaft, die es unanständig findet, an den Qualen unserer Seelen Anteil zu nehmen, bürdet dem Einzelnen eine Last auf, für die er weitaus zu schwach ist. Nur zusammen können wir die verschiede­ nen Fronten des Lebens ausreichend meistern, können wir die Anspannung zur Ent­ scheidung, die uns dabei bereitet wird, aushalten und das Risiko der dabei unvermeidli­

schen Existenzialismus zu sein; siehe ders., Dich und Mich. Lehre oder Mode, in: ders., Das Geheimnis der Universität, 149–159, hier 149. 79 Karl Barth, Der Römerbrief, Zürich 151989, 406 (Erstausgabe 1922). 80 Siehe auch Rosenstock-Huessys Reflexion über die seelische Notwendigkeit des Begriffs der Gemeinschaft für das moderne, d. h. geistig und körperlich heimatlose »Arbeitstier Mensch« in seinem Text Die Verklärung der Arbeit. Dieses muss »die zerstörte, körper­ lich räumliche und geistige Heimat ersetzen durch die seelische Heimat. Deswegen bin ich so gegen Freizeiten, wo man keine freie Zeit hat. Die seelische Beheimatung verlangt noch etwas ganz anderes als Vorträge. Es handelt sich um ein Aufschließen der seelischen Kräfte. Daher der Begriff der Gemeinschaft, der heut in aller Munde ist, weil hier die see­ lische Heimat des Arbeitstiers Mensch geschaffen werden muß, eine Heimat, die den blo­ ßen Funktionär beseelt und adelt. […] Das Massenwesen des Arbeitsmenschen braucht nicht die Gemeinschaft, um in ihr unterzugehen, sondern um aus ihr erst wieder die Kraft zu einsamem und selbständigem seelischen Dasein sich neu schenken zu lassen.« Siehe Rosenstock-Huessy/Wittig, Das Alter der Kirche, Bd. 2, 262. Auf diese Weise durch die Kräfte der Gemeinschaft zur verantwortlichen Individualität ermächtigt, wird dem Mas­ sen- und Arbeitsmenschen nach Rosenstock-Huessy ein symblysmatisches Ereignis zuteil.

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chen falschen Entscheidungen ertragen. Neurosen und Nervenzusammenbrüche wuchern in den Vororten, weil es an jener Gemeinsamkeit fehlt, nach der die tieferen Nöte und Leidenschaften schreien.«81

Barths Denken wird von Helmuth Plessner in seinem Grenzen der Gemein­ schaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) soziologisch reformu­ liert: Es sind nicht die starken, symblysmatischen Bindungen, welche eine Gruppe zusammenhalten, sondern vielmehr die verachteten schwachen und förmlichen Beziehungen der Individuen.82 Eine Möglichkeit, mit Plessner in ein symblysmatisches Gespräch einzutreten, schlug Rosenstock jedoch ebenfalls aus.83 Für Rosenstock selbst bestand der Konflikt hauptsächlich in Barths Wei­ gerung, sein Solitärsein im symblysmatischen Sinn zu überdenken: »›Laßt uns mehr sein als Sieger‹, ruft Paulus im Römerbriefe. Aber Karl Barth 1919 hat trotz unseres Flehens nicht verstanden, daß er hätte rufen müssen: ›Laßt uns mehr sein als Theologen‹. Das war der Kampf zwischen ihm und mir. Und obwohl er als Sie­

81 Rosenstock-Huessy, Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne, 38 f. 82 In seinen frühen Schriften vertritt Plessner eine Wissenschaftskonzeption, die durchaus einige Berührungspunkte mit Rosenstock-Huessys soziologischer Konzeption aufweist. Im Rückblick auf seine Erstlingsschrift Die wissenschaftliche Idee (1913) schreibt er: »Mich hatte ein Problem gepackt, das man heute mit den Mitteln der Soziologie glaubt anpacken zu können: Die Tatsache der wissenschaftlichen Entwicklung als sozialer Pro­ zeß, der sich aus verschiedenen Ansätzen und Irrtümern über die Köpfe hinweg realisiert. Dabei lag der Nachdruck nicht auf dem, was Max Weber in seiner Rede ›Wissenschaft als Beruf‹ im Auge hatte, als vielmehr auf dem anonymen Prozeß steigender Logifizierung der Welt, der durch seine Idee – Idee im platonisch-aristotelischen Sinn, das heißt als Zug­ kraft verstanden – in Gang gehalten wird. Der Untertitel: ein Entwurf über ihre Form, sollte die Distanz zu der Seltsamkeit des Phänomens stetigen Fortschreitens wie durch seine Entfremdung hervorheben. So wurde ich auf eine im Grunde theologische Frage gebracht, eine Theologie des wissenschaftlichen Fortschritts, nicht im Sinne Hegels als Selbstentfaltung Gottes im Medium des Logos, sondern im Sinne moderner Forschung als offener Prozeß rastlosen Strebens, das kein Ende findet: Hos Eromenon.« Siehe Philo­ sophie in Selbstdarstellungen, hg. von Ludwig J. Pongratz, 2 Bde., hier Bd. 1, Hamburg 1975, 269–308, hier 273 f. 83 In einem Brief an René König vom 30. Mai 1956 beschreibt Plessner eine gescheiterte Kontaktaufnahme mit Rosenstock-Huessy, den Helmut Schelsky und König zum Soziolo­ gentag mit dem Thema »Tradition« einladen wollten: »Mit Rosenstock-Huessy habe ich schon vor Monaten korrespondiert und von ihm eine sehr pikierte Abfuhr erfahren. Er scheint sich aufgrund einer Begegnung im Jahre 1950 durch mich verletzt zu fühlen, bringt aber im übrigen als Argument vor, daß er in den Jahren vor 33 nie zum Mitglied der Gesellschaft gewählt worden sei. Im übrigen habe er sich geschworen, überhaupt keine Kongress-Vorträge mehr zu halten und Kongresse nach Möglichkeit zu meiden. Ich sehe deshalb keine Veranlassung mit ihm weiter in Verbindung zu treten. Natürlich ist er ein Mann besonderer Qualitäten, dessen Anwesenheit unserer Tagung sicher den enzyma­ tischen Zusatz des enfant terrible verliehen hätte. Ich ziehe dann aber doch Nürnberger und Landshut vor.« Siehe René König, Briefwechsel, hg. von Mario und Oliver König, Bd. 1, Opladen 2000, 229.

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Knut Martin Stünkel

ger dasteht und ich im tiefsten Incognito versunken bin, so bin ich trotzdem nicht widerlegt. Noch lebe ich desselben Glaubens: Laßt uns mehr sein als Sieger, laßt uns mehr sein als Theologen.«84

In einem wichtigen Abschnitt seines Aufsatzes Pfingsten und Mission beschreibt und inszeniert Rosenstock eine interessante Auseinandersetzung, die das gescheiterte Patmos mit seinem symblysmatischen Konzept gegen­ überstellend vergleicht. Er berichtet von einer besonderen Pfingsterfahrung, welche sich in der Kontroverse seines ehemaligen Patmos-Mitstreiters, des »großen protestantischen Theologen« Karl Barth, mit einem seiner jesuiti­ schen Gewährsmänner für das Symblysma, dem »Beichtvater der katholi­ schen Studenten« Hans Urs von Balthasar, äußerte. Letzterer habe, so Rosenstock, das Verlangen verspürt, »seinen eigenen Glauben mit Barths Einsichten wieder zu verbinden«, was aber – der an seiner Kirchlichen Dog­ matik arbeitende Barth nannte Roms Stellung antichristlich – wenig Aus­ sicht auf Erfolg zu haben schien. Von Balthasars Erfahrung in diesem ihn inspirierenden Gespräch war missionarisch, er zahlte den Preis für das hier stattfindende Pfingsterlebnis: Er »hörte auf, Jesuit zu sein; er entsagte dem Schutz und der Macht dieser Phalanx der römischen Leibwache«85 und schrieb ein Buch über Barths Theologie, zwar doch katholischer Priester bleibend, aber zugleich auch fragend »ob denn kein gemeinsamer Ausdruck bestände, in dem Barth und die Katholiken gemeinsam Gott preisen könn­ ten. Indem er inhaltlich Barths mächtige Wiedereinsetzung Christi in das Zentrum übernimmt, schlägt von Balthasar die gemeinsame Formel vor: die ganze Welt in Christus.«86 In der scheinbaren Niederlage, der Selbstaufgabe war von Balthasar jedoch mehr als der vermeintliche Sieger im Disput, mehr als der Theologe Barth. Auf diese Weise, nämlich in der Suche nach einer aus einer gemeinsamen Inspiration geborenen Sprache, die sich in einer Buchpublikation entladen und bewähren muss, handelt von Balthasar als verantwortlicher Wissenschaftler und gemäß dem symblysmatischen Prin­ zip. Es ist diese Methode, der pfingstliche Weg hin zur eigentlichen Mission, den Rosenstock entsprechend zu loben hat: »Dem Weglassen (pretermission) weltlicher Hindernisse, äußerer Zeichen und Würde folgt die Kraft, auf die Wahrheit des angeblichen Feindes zu hören, und ein neues Wort wird gesprochen, das sowohl Protestanten wie Katholiken bindet. Das ist Mission. Der Tisch ist gedeckt für das gemeinsame Mahl. Ite, missa est.«87

84 Eugen Rosenstock-Huessy, Glaube und Hoffnung, in: ders., Das Geheimnis der Universi­ tät, 262–273, hier 273. 85 Ders, Pfingsten und Mission, 241. 86 Ebd. 87 Ebd.

Gelehrtenporträt

Samuel Joseph Kessler

Translating Judaism for Modernity: Adolf Jellinek in Leopoldstadt, 1857–1865 When Adolf Jellinek (1821–1893) relocated his family from Leipzig to Vienna in the early months of 1857 to assume the post of Community preacher in Leopoldstadt, the young rabbi and scholar also entered a new phase in his intellectual life.1 Even a quick review of the works Jellinek pub­ lished on either side of his move to the Habsburg capital reveals a drastic, almost radical shift in the themes and style of his writing and thinking. Whereas in Leipzig he had attended mostly to scholarship, in Vienna he focused on his sermons, and specifically on formulating and developing a language that would link texts from the Jewish canon with the broader (and more amorphous) values of mid-nineteenth-century Enlightenment liberal­ ism. In that first decade in the Habsburg capital Jellinek used his responsibil­ ities as the leader of a rapidly transforming Jewish Community to formulate an interpretation of Jewish modernity, and to develop a language to explain the way traditional rabbinic life and texts could find meaningful and logical symbiosis with the broader tenets of German liberalism and Enlightenment rationalism. The social milieu of immigrant Vienna, I argue, is interwoven with the epistemological foundations of Jellinek’s vision of Jewish religious modernity. Jellinek’s fifteen years in Leipzig, from 1842 until 1857,2 had been ones of learning and maturation, as well as of remarkable intellectual accomplish­ 1

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For overviews of Jellinek’s life, see Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine fami­ lienbiographische Studie zum deutsch-jüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998; Moses Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek. Sein Leben und Schaffen. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde Wien in der 2. Hälfte des 19. Jahrhun­ derts, Vienna 1931. The issue of Jellinek’s official beginning in Vienna is somewhat a matter of interpretation, and therefore involves some confusion about dating. As part of the official hiring process by the Jewish Community (Gemeinde) of Vienna, Jellinek gave a sermon in the Seitenstet­ tengasse Tempel. Originally scheduled for 3 May 1856, the sermon was moved back to 1 November 1856. Because of this, Jellinek took up his duties in Vienna at the beginning of 1857, although the position had officially been awarded him at the end of 1856. Scho­ lars, therefore, have variously dated the beginning of his tenure in Vienna to 1856 or 1857 (with one outlier, dating it to 1858). For a history of these negotiations and the discussions between Jellinek and the Viennese Gemeinde, see Rosenmann, Dr. Adolf Jellinek, 68 f., and 76–78. For further discussion and dating, see Björn Siegel, Facing Tradition. Adolf Jellinek and the Emergence of Modern Habsburg Jewry, in: Jahrbuch des Simon-Dub­ now-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 8 (2009), 319–344, here 323, fn. 17; JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 393–419.

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Samuel Joseph Kessler

ment. His transition from young university student to the leader of a thriving Jewish Community – whose synagogue on Gottschedstraße was one of the grandest in the region – proved immensely successful.3 The friends and con­ tacts he made in Leipzig, both Jewish and non-Jewish, would remain close to him throughout his life. But above all, in Leipzig Jellinek had shown him­ self to be a promising scholar. At the University he studied with the famous orientalist Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888), with whom he grew close enough to later invite to stay at his home in Vienna during the meeting of the Deutsche Morgenländische Gesellschaft (German Oriental Society) in 1858. Jellinek likewise worked with Julius Fürst (1805–1873), lecturer in Hebrew at the university and editor of the important scholarly journal Der Orient.4 Following in the tradition of the founders of Haskalah and Wis­ senschaft des Judentums – among them Moses Mendelssohn (1729–1786) and Leopold Zunz (1794–1886) – Jellinek became one of the central figures of modern Jewish historical scholarship.5 Describing the ethos of this new “Science of Judaism,” Ismar Schorsch writes: “At the core of modern Jewish scholarship there is a new way of thinking about Judaism. Emancipation exposed Jews inexorably to the historical perspective: to understand the pre­ sent in terms of the past and the past in terms of itself.”6 Similarly, Michael A. Meyer notes that at the beginning of the nineteenth century, “Attention was drawn away from the ‘eternal verities’ of metaphysics

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Holger Preißler, Heinrich Leberecht Fleischer. Ein Leipziger Orientalist, seine jüdischen Studenten, Promovenden und Kollegen, in: Stephan Wendehorst (ed.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 245–268, here 254; and Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, Oxford 1990, 111. For the outlier, see Marsha L. Rozenblit, Jewish Identity and the Modern Rabbi. The Cases of Isak Noa Mannheimer, Adolf Jellinek, and Moritz Güdemann in NineteenthCentury Vienna, in: Leo Baeck Institute Year Book 35 (1990), 103–131, here 110. – I fol­ low the 1857 date here. For an overview of the history of the Leipzig Jewish Community, see the articles in Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, ed. by the Ephraim-CarlebachStiftung, Leipzig 1994; Kerstin Plowinski, Die jüdische Bevölkerung Leipzigs 1853 – 1925 – 1933. Sozialgeschichtliche Fallstudien zur Mitgliedschaft einer Großgemeinde (unpubl. diss., Leipzig University, 1991); and Wendehorst (ed.), Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. See Ismar Schorsch, Converging Cognates. The Intersection of Jewish and Islamic Stu­ dies in Nineteenth Century Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book 55 (2010), 3–36, here 29 f.; Preißler, Heinrich Leberecht Fleischer, 254; idem, Die Anfänge der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 145 (1995), 241–326, here 290 f.; Kempter, Die Jellineks 1820–1955, 39–48. Jellinek’s generation produced some of the most important minds for Wissenschaft des Judentums, among them Heinrich Graetz (1817–1891), Ludwig Philippson (1811–1889), Abraham Geiger (1810–1874), and Moritz Steinschneider (1816–1907). Ismar Schorsch, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, Hanover, N. H./London 1994, 152.

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toward the individual and empirical facts of history. Philosophy was employed to explain the course of human events.”7 Indeed, in a matter of decades – from the French Revolution to the close of the Napoleonic Wars – Judaism and Jewish philosophy in the German-speaking lands gained a third interpreter: joining the rabbis and Christian Hebraists were the maskilim, Jewish practitioners of Enlightenment-style learning, thinkers trained at uni­ versities in the newest forms of scientific historical and philological scholar­ ship.8 Following in the path of those maskilic pioneers, over the course of the 1840s Jellinek received a fully modern education at the university of Leipzig. Thereafter, between 1847 and 1855, he proceeded to publish ten books of history in the Wissenschaft mold (including the first volume of his seminal work, Beit ha-Midrash [House of Learning]) and numerous aca­ demic articles.9 By the time he set off for Vienna, Jellinek seemed destined for a career as a leading proponent of the scientific study of Judaism. Yet the writings that Jellinek produced during his first decade in the Habs­ burg capital stand in marked contrast to those he had completed in Leipzig.

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Michael A. Meyer, The Origins of the Modern Jew. Jewish Identity and European Culture in Germany, 1749–1824, Detroit, Mich., 1967, 144. See also Shmuel Feiner, Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Historical Consciousness, trans. from the Hebrew by Chaya Naor and Sondra Silverston, Oxford 2002; Amos Funkenstein, Per­ ceptions of Jewish History, Berkeley, Calif., 1993, 220–256; Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, Munich 2006; and Nils H. Roemer, Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Ger­ many. Between History and Faith, Madison, Wis./London 2005. The importance of philology to the development of Wissenschaft des Judentums remains to be more thoroughly investigated. For some preliminary research, see Anthony Grafton, Juden und Griechen bei Friedrich August Wolf, in: Reinhard Markner/Giuseppe Veltri (eds.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie. Eine Veröffentlichung des Leopold-Zunz-Zentrums zur Erforschung des Europäischen Judentums, Stuttgart 1999, 9–31; idem., Defenders of the Text. The Traditions of Scholarship in an Age of Science, 1450–1800, Cambridge, Mass., 1991; Dirk Hartwig, Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung. Perspektiven einer modernen Koranhermeneutik, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61 (2009), no. 3, 234–256; Gregor Pelger, Wissenschaft des Judentums und englische Bibliotheken. Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahrhundert, Berlin 2010. Jellinek’s books in that period included: Adolf Jellinek, Elischa ben Abuja, genannt Acher. Zur Erklärung und Kritik der Gutzkow’schen Tragödie “Uriel Acosta”, Leipzig 1847; idem, Moses ben Schem-Tob de Leon und sein Verhältniß zum Sohar. Eine histo­ risch-kritische Untersuchung über die Entstehung des Sohar, Leipzig 1851; idem, Bei­ träge zur Geschichte der Kabbala, 2 vols., Leipzig 1852; idem, Thomas von Aquino in der jüdischen Literatur, Leipzig 1853; idem, Auswahl kabbalistischer Mystik. Erstes Heft, Leipzig 1853; idem, Midrash eleh ezkerah [Legends of the Ten Martyrs], Leipzig 1853; Bet ha-Midrash [House of Learning]. Sammlung kleiner Midraschim und vermischter Abhandlungen aus der älteren jüdischen Literatur, Leipzig 1853; Beit ha-Midrash [House of Learning], 6 vols., Leipzig 1853–1877; idem (ed.), Philosophie und Kabbala. Erstes Heft, Leipzig 1854; idem, Über das Buch der Jubiläen und das Noah-Buch, Leipzig 1855.

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While he did publish two more volumes of Beit ha-Midrash, as well as a commentary on the Song of Songs: Shir ha-shirim. Derasha (1861), he devoted the majority of his attentions to the writing of sermons, which appeared in a three-volume edition between 1862 and 1866.10 These sermons represent something of a traditionalist turn in Jellinek’s work. Aside from Beit ha-Midrash and an additional commentary on the biblical book of Lamentations (Eicha), his earlier publications had focused primarily on extra-biblical texts, many of them medieval in origin and often only mini­ mally associated with the central Torah-and-Talmud core of rabbinic learn­ ing.11 His shift in Vienna, then, was both abrupt and, in some sense, out of character. Little about his work in Leipzig foreshadows the stylistic and the­ matic departure that his Leopoldstadt writings represent. Jellinek’s work changed again when he replaced Isaac Noah Mannheimer in 1865 as Vienna’s chief rabbinical leader and left suburban Leopoldstadt for the center of town.12 From then until his death in 1893, Jellinek returned to the writing of historical and ethnographic works as well as to more overt political treatises: between 1869 and 1886, he published four volumes of scholarship and maintained a lively correspondence with orientalists and philologists across Europe.13 Some contemporary academics, not finding much of enduring value in the historical works outside of Beit ha-Midrash, have mostly ignored the content of Jellinek’s writings altogether, instead focusing on what he can tell us about the political and social currents buffet­ ing Austrian Jewry in the second half of the nineteenth century.14 Other scho­ lars, who do see Jellinek as important to the history of Viennese Jewish reform, too quickly describe him as one link in a much longer chain, passing over his dual distinctions: methodological, in terms of his modes of arguing and speaking, and theological, in terms of his philosophy of Judaism.15

10 Idem, Predigten, 3 vols., Vienna 1862–1866. 11 Interestingly, a handful of these earlier works focused on Kabbalistic texts, a subject many of his Wissenschaft peers avoided and derided. 12 For an interpretation of Mannheimer’s place in Viennese Jewish modernity, see Rozenblit, Jewish Identity and the Modern Rabbi. For a general biography, see Moses Rosenmann, Isak Noa Mannheimer. Sein Leben und Wirken. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Kultusgemeinde Wien in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nebst einer Auswahl der politischen Reden und Schriften Mannheimers, Vienna/Berlin 1922. 13 These are: Adolf Jellinek, Der jüdische Stamm. Ethnographische Studien, Vienna 1869; idem, Zeitstimmen. Reden, 2 vols., Vienna 1870/71; idem, Der jüdische Stamm in nicht­ jüdischen Sprichwörtern, 3 vols., Vienna 1881–1885. For letters, see Archive of the National Library of Israel, Jerusalem, ARC. 4°1588, Adolf Jellinek Collection. 14 Among these are Benjamin Maria Baader, Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870, Bloomington, Ind., 2006. 15 Among these are Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph; Siegel, Facing Tradition; Rozenblit, Jewish Identity and the Modern Rabbi.

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In the pages that follow, I argue that when Jellinek arrived in Vienna he found a Jewish Community in need of a very specific sort of rabbinic voice. Whereas in some sense Isaac Noah Mannheimer appealed to the reformminded and wealthier Jews of the Viennese Gemeinde, Jellinek could speak to the more conservative immigrants, whose ranks grew each year.16 Robert Wistrich correctly notes that “[Jellinek’s] sermons of the 1860s can be seen as a faithful mirror of the aspirations and ideas of liberal Austrian Jewry,”17 and Björn Siegel comments that “[Jellinek’s] view was similar to Mannhei­ mer’s concept of moderate Reform.”18 Yet while acknowledging Mannhei­ mer’s immense influence on Jellinek,19 both Wistrich and Siegel underesti­ mate the unique rabbinic epistemology that runs through Jellinek’s writings. The Reform movement, as epitomized by such strong characters as Abraham Geiger (1810–1874), Samuel Holdheim (1806–1860), and Ludwig Philipp­ son (1811–1889), represented its own unique strand of Jewish intellectual innovation, one that Jellinek recognized but did not adopt.20 Similarly, the forerunners of the conservative movement, the rabbis of the Jewish Theolo­ gical Seminary in Breslau headed by Zacharias Frankel (1801–1875), also developed a set of critical methodologies and theological assumptions that, while vastly more influential as a school than anything Jellinek produced, likewise failed to capture either the spirit or purpose of Jellinek’s work.21

16 There is an interesting parallel to be made here – though I shall not pursue it – between Jellinek and Michael Sachs (1808–1864), a leading rabbinical figure of the Reform who took a more conservative line and eventually left the rabbinate. See Margit Schad, Rabbi­ ner Michael Sachs. Judentum als höhere Lebensanschauung, Hildesheim/Zurich/New York 2007. 17 Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 120. 18 Siegel, Facing Tradition, 325. 19 See Adolf Jellinek, Festrede am LXX. Geburtstage Seiner Ehrwürden des Predigers Herrn Isaak Noa Mannheimer (17. October 1863) im alten israelitischen Bethause gehalten, Vienna 1863; idem, Rede bei der Gedächtnissfeier für den verewigten Prediger Herrn Isak Noa Mannheimer, am 26. März 1865 im Tempel in der Leopoldstadt, Vienna 1865. 20 See Susannah Heschel, Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago, Ill./London 1998; Christian Wiese (ed.), Redefining Judaism in an Age of Emancipation. Compara­ tive Perspectives on Samuel Holdheim (1806–1860), Leiden 2007. See also Carsten Wilke, “Den Talmud und den Kant”. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Hildesheim/Zurich/New York 2003, esp. 295–302. 21 See Ismar Schorsch, Zacharias Frankel and the European Origins of Conservative Juda­ ism, in: Judaism 30 (1981), no. 3, 344–354; Andreas Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Hildesheim/ Zurich/New York 2000; idem, The Dilemmas of Moderate Reform. Some Reflections on the Development of Conservative Judaism in Germany 1840–1880, in: Jewish Studies Quarterly 10 (2003), no. 1, 73–87. – The rabbi who followed Jellinek at Leopoldstadt, Moritz Güdemann (1835–1918), was a disciple of the Seminary in Breslau, suggesting affinity – but not necessarily coterminous intent – between Jellinek’s thought and the Breslau school.

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As I set out below, Jellinek believed that he was employing traditional rab­ binic techniques in his attempt to translate Judaism into a modern idiom. His was not a case where liberalism trumped Judaism. Instead, Jellinek’s com­ munal voice was traditionalist in tone and modern in interpretation. He was “creative” in the way identified by Mordechai Breuer: “rooted in the desire and the ability to respond to the challenge of tradition by the new, the mod­ ern; not stubborn and purely passive rejection [of all things contemporary] but responding to them with activity and imagination.”22 That is, Jellinek’s writings found a way of being liberal within a traditionalist setting. They mediated the crosscurrents of German (non-Jewish) intellectual discourse and Jewish ritual, narrative, and historical consciousness. As Siegel further notes, “For Jellinek, the focus was not on the blind observance of religious rules, but rather centered on the preservation of religious, ethical and social ideals embodied in the Jewish scriptures and texts.”23 The first section of this article describes the community and politics that Jellinek encountered on arrival in Vienna. The second explores the ways I believe that Jellinek created a syncretic rabbinic Judaism from classical Jew­ ish texts and German Enlightenment principles. His rabbinic theology not only gave his writings a unique patina, but was also one of the core reasons why – in the midst of a very fractious religious Community – he was able to rise to such prominence. By embedding non-Jewish ideas in a Jewish matrix of language and examples, Jellinek invented a form of liberal modernity for his Community that was at once accessible and non-hostile to their tradition­ alist sense of Jewish history, practice, and peoplehood.

Jellinek’s Leopoldstadt In early 1856, Adolf Jellinek, then living in Leipzig, received a note from the Jewish Community in Vienna.24 In it, the governing body of Viennese Jewry invited Jellinek to assume a newly created rabbinical post in the neighborhood of Leopoldstadt, a historic town across the Danube Canal near the city center. The position, officially described as that of “preacher,” would be second in importance only to the one held by Isaac Noah Mannheimer, 22 Mordechai Breuer, Kreativität und Traditionsgebundenheit, in: Michael Graetz (ed.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, 113–120, here 113. All translation from the German, if not otherwise noted, are by the author. 23 Siegel, Facing Tradition, 325. 24 A description of the process of deciding on and inviting Jellinek can be found in Rosen­ mann, Dr. Adolf Jellinek, 74–77.

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who had presided over the Community since 1825, mainly from the Seiten­ stettengasse synagogue – also called the Stadttempel – in the town center, built in 1826.25 Though the Viennese Community of 1856 was still compara­ tively small, with the relaxing of Jewish settlement laws after 1848 the Com­ munity was planning for major growth. In the next half-century, tens of thou­ sands of Jews would move to Vienna, making the city the most densely Jewish metropolis in Central Europe.26 Accepting the position, Jellinek moved his family to Vienna. In Leopold­ stadt, Jellinek acted as both religious leader and social organizer for this new community of immigrant Jews. Unlike in Leipzig, where the city’s Jewish migrants had originated mainly in towns along the trade routes crisscrossing rural central Germany, the families moving to Leopoldstadt came from a much wider portion of Central Europe, and from milieus that varied greatly in religious observance, local custom, and interaction with non-Jewish cul­ ture. Instead of being the main rabbinic family in a small commercial city, Jellinek was now the preacher in what was fast becoming one of the most influential Jewish Communities in Europe. As others have written about at length, Viennese Jews were pioneers in almost everything. But the develop­ ment most keenly relevant to Jellinek was in the Community’s cautious but decidedly liberal religious reforms.27 The “Vienna Rite,” as their custom of prayer worship came to be called, while often contested, remained central to the Community’s sense of identity and cohesion well into the final decade of the nineteenth century. Paralleling the religious and cultural transformation which was slowly overtaking the Viennese Community, Jellinek’s move to Vienna likewise marked the beginning of many changes in the young rabbi’s intellectual mindset. Born and schooled in the Czech regions of the Austrian Empire, followed by a decade and a half residence in the non-Habsburg Kingdom of

25 Between the 1670 expulsion of the Jews from Vienna by Leopold I and the appointment of Moritz Güdemann to preside at the Leopoldstädter Tempel in 1869, the term “Rabbi” was not used for leaders of the Jewish Community in Vienna. Instead, the term “Predi­ ger,” (German for “preacher”), was employed, and was meant, first, as a sign of the Jews’ second-class status (they were not allowed official religious representation in the city), and later, as a sign of religious reform (“preacher” being more modern than “rabbi”). Jelli­ nek never assumed the title of Chief Rabbi, though it was officially presented to him at the very end of his life. Mannheimer likewise remained Prediger throughout his tenure in Vienna. Güdemann began to use it once he succeeded Jellinek as head of the Viennese Community, though likely this was motivated as much by intra-Jewish politics as out of reverence for the title itself. See Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 122. 26 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany, N. Y., 1983, 17 f. 27 See Rozenblit, Jewish Identity and the Modern Rabbi, 105 f.

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Saxony, Jellinek lived out the remainder of his life in Catholic Vienna, the heart of Habsburg political power. It was during these final decades that he began to take a greater interest in both communal and national politics. Though he never came to embrace the radical liberalism of his brother Her­ mann, after his move from Leopoldstadt to Seitenstettengasse in 1865 he took a much broader view of the Empire’s multi-ethnic and multi-cultural heterogeneity.28 These political observations and reflections provided him with material for some of his most provocative and politically interesting ethnographic writings.29 But much of that would come later, many years into his Viennese career. What Jellinek wrote during his first decade in the city was something differ­ ent altogether: sermons and articles that sought to find a continuum between the traditional world of Jewish textuality and the new social and intellectual space of mid-nineteenth century German liberalism. The concept of “liberal­ ism” has many definitions, and has long carried various social and political assumptions. To accurately describe the model of liberalism to which Jelli­ nek adhered the term here must suggest three separate, though interrelated, nineteenth-century phenomena. First, liberalism was about modifications to and alterations of traditional Jewish practice, especially as they were devel­ oped and fostered by scholars and rabbis in maskilic and Wissenschaft tradi­ tions. Such changes could affect anything from liturgy, e. g. what was included in the prayer book;30 to pedagogy, e. g. who attended and what was taught in Jewish schools;31 to the physical experience of religious practice, 28 For a study of his brother, Hermann (1823–1848), see Kempter, Die Jellineks 1820–1955, 48–80. The youngest of the three Jellinek brothers, Moritz (1824–1883), would become one of the most important entrepreneurs in modern Budapest. See Michael L. Miller, Going Native. Moritz Jellinek and the Modernization of the Hungarian Economy, in: Gideon Reuveni/Sarah Wobick-Segev (eds.), The Economy in Jewish History. New Per­ spectives on the Interrelationship between Ethnicity and Economic Life, New York/ Oxford 2011, 157–173. 29 These observations were first published in Jellinek, Der jüdische Stamm. Three additional volumes of collected ethnographic writings were published in the 1880s: idem, Der jüdische Stamm in nichtjüdischen Sprichwörtern. At the date of this writing, there is no substantive secondary scholarly literature on any of these works, though they receive mention and brief analysis in Kempter, Die Jellineks 1820–1955, 142 f. See also Johannes Sabel, Die Geburt der Literatur aus der Aggada. Formationen eines deutsch-jüdischen Literaturparadigmas, Tübingen 2010, 90–98. 30 For example, see Adam S. Ferziger, Exclusion and Hierarchy. Orthodoxy, Nonobser­ vance, and the Emergence of Modern Jewish Identity, Philadelphia, Pa., 2005, 1–17; Mor­ dechai Breuer, Modernity within Tradition. The Social History of Orthodox Jewry in Imperial Germany, New York 1992, 173–184. 31 For example, see Simone Lässig, Bildung als “kulturelles” Kapital? Jüdische Schulpro­ jekte in der Frühphase der Emanzipation, in: Andreas Gotzmann/Rainer Liedtke/Till van Rahden (eds.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800– 1933, Tübingen 2001, 263–298; idem, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital

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such as what rabbis wore and how synagogues were built.32 Second, liberal­ ism involved vast shifts within non-Jewish philosophy and intellectual life as an outgrowth of the Enlightenment, and is most often associated with uni­ versalizing ethical and cultural assumptions.33 Third, liberalism manifested as a political platform, expressed in the French Revolution of 1789, in the 1848 revolutions, and then intermittently by governments and political par­ ties until the First World War.34 Of course, the changes brought about by Enlightenment – and the ensuing battles to claim, elucidate, deny, or disown it – underpin and connect each of these three aspects of liberalism. Which is why, as Hans-Joachim Salecker observes, “[though what I have written here] achieves no definition of what liberalism actually means, […] it creates a panorama of different concepts of liberalism that have arisen as innovative responses to the upheavals of the turn of the [nineteenth] century.”35 Just such a panorama allows us to see the intertwining of ideas and ideologies at play within “liberal” culture in Jellinek’s era. In the spirit of political and social liberalism, perhaps the symbolic moment of Vienna’s transformation from medieval capital to modern urban center came in 1858, less than two years after Jellinek’s arrival, and in the same year the new synagogue in Leopoldstadt was completed. Jellinek’s arrival in the Danube metropolis corresponded with the beginning of liberal dominance in Viennese governance, a two-decade period that witnessed the massive reconstruction of the capital and an attempt to permanently solidify a new sort of enlightened bourgeois ethic.36 Over the course of 1858, the city’s public works department demolished the remaining sections of the capital’s medieval walled fortifications, which, almost exactly two centuries earlier, had withstood the siege of the Ottoman army, halting Islamic mili­ tary expansion into Central Europe and solidifying Habsburg rule. Yet even more than in its physical impact, the razing of the walls must be seen as part

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und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; Wilke, “Den Talmud und den Kant”, esp. 191–254 and 401–416; Simon Schwarzfuchs, A Concise History of the Rabbi­ nate, Oxford/Cambridge, Mass., 1993, 97–109. For example, see Eric K. Silverman, A Culture History of Jewish Dress, Oxford 2013; Carol H. Krinsky, Synagogues of Europe. Architecture, History, Meaning, Cambridge, Mass., 1985. See Hans-Joachim Salecker, Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz. Über die Bedingungen der Integration der Juden in Deutschland, Berlin 1999, 65–97. See David Weinstein, Art. “Nineteenth- and Twentieth-Century Liberalism,” in: The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy, ed. by George Klosko, Oxford/ New York 2011, 414–435. Salecker, Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz, 70. See Anthony Alofsin, When Buildings Speak. Architecture as Language in the Habsburg Empire and its Aftermath, 1867–1933, Chicago, Ill., 2006; Carl E. Schorske, Fin-de-Siè­ cle Vienna. Politics and Culture, New York 1981, 24–115.

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of a larger political transformation. Nine years after the failed March 1848 revolution, and a century into the intellectual foment of the Enlightenment, the inhabitants of Vienna were no longer merely crown subjects but rather bourgeois individuals in their own right.37 In many ways, the new buildings in Vienna offer in stone an interpretation of modernity very much in concert with those that Jellinek would come to espouse in his writings. “The modern world in all its aspects,” Egbert Klautke writes, “was created in urban contexts.”38 As Vienna spread out­ ward, construction and conglomeration of suburban towns and neighbor­ hoods occurred along axes that fed into the city’s new main artery, the Ring­ straße.39 When the agreement uniting the houses of Austria and Hungary was signed in 1867, Vienna unquestionably became one of the most impor­ tant centers of political and economic power in Central Europe, with its emperor, Franz Josef, presiding over a territory stretching from the borders of Russia to those of France, and from the Mediterranean Sea to the southern frontiers of Prussia. In the decades following 1848, the Jews of the Habsburg Empire migrated from the rural provinces to the urban centers in unprecedented numbers, seeking to capitalize on newly enacted emancipatory laws as well as the pro­ mises of “embourgeoisement” offered by transformations in all aspects of nineteenth century life.40 Though Leopoldstadt was one of the first areas to be heavily settled by immigrating provincials in the mid-nineteenth century, it also had a long early-modern history.41 A medieval town located on the islands between the Danube Canal and the Danube River east of the city cen­ 37 See David Tarot, Vienne et l’Europe central, Paris 2012, 171–188. 38 Egbert Klautke, Urban History and Modernity in Central Europe (Historiographical Review), in: The Historical Journal 53 (2010), no. 1, 177–195, here 177. 39 Ilsa Barea, Vienna. Legend and Reality, London 1966, 238–244. See also Schorske, Finde-Siècle Vienna, 24–115. For a socio-political account of the dismantling of walled cities in central Europe, see Yair Mintzker, The Defortification of the German City, 1689–1866, Washington, D. C./New York 2012. 40 David Sorkin, The Transformation of German Jewry, 1780–1840, New York 1987. For broader studies of this moment in Austrian and Austrian Jewish history, see Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914; Robert A. Kann, A History of the Habsburg Empire, 1526–1918, Berkeley, Calif., 1980, 318–342; Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. For a wide-ranging analysis of transformations in nineteenth-century life generally, see Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Munich 2009. 41 For an overview of construction and ordinances in pre-1848 Leopoldstadt (including three re-created survey maps of the suburb and its Danube island region), see Robert Meßner, Die Leopoldstadt im Vormärz. Historisch-topographische Darstellung der nordöstlichen Vorstädte und Vororte Wiens auf Grund der Katastralvermessung, Vienna 1962. For a general introduction, including a brief account of medieval Jewish settlement in the area before 1670, see Helga Gibs, Leopoldstadt. Kleine Welt am großen Strom, n. p. [Vienna] 1997.

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ter, in the sixteenth and seventeenth centuries Leopoldstadt was the only area in which Jews could live legally. From a hundred residents at the begin­ ning of the seventeenth century, by the time of the Edict of Expulsion in 1670 the neighborhood contained some two thousand Jewish families.42 Ori­ ginally referred to simply as Unterer Werd, which roughly means “the lower quarter” (Middle High German: island), after the 1670 expulsion it was renamed in honor of Holy Roman Emperor Leopold I, at whose order the Edict was promulgated.43 The geography of Leopoldstadt, situated in a Danube River floodplain outside Vienna’s defensive fortifications, provides something of a metaphor for the relation that the capital’s poorer Jewish immigrants (as well as many of its other working-class citizens) had with the city’s traditional brokers of power. The first new (officially-sanctioned) synagogue in Vienna since the Expulsion was (re)constructed on Seitenstettengasse, in the center of town, in 1826. It was where the chief rabbinical leader presided and the Jewish lay leadership kept its offices.44 Yet Leopoldstadt was less a satellite of the city center than it was a unique urban center in its own right. With its dense Jew­ ish population, the town retained those Jews who desired to live among other members of the Community. Well into the later decades of the nineteenth century, when more neighborhoods were made available for Jewish settle­ ment, Leopoldstadt kept its own mores and conventions. Indeed, while never being more than about 36 percent Jewish in total, it was home to half of the city’s entire Jewish population. By the turn of the twentieth century had gained the nickname Mazzesinsel (Matza Island), and remained until World War II the Viennese neighborhood with the highest density of Jewish inhabi­ tants.45 The Jews in Leopoldstadt came from all across the Empire, but in the 1850s and 1860s the largest numbers originated from the Habsburg crown

42 Gerson Wolf, Die Juden in der Leopoldstadt (“unterer Werd”) im 17. Jahrhundert in Wien, Vienna 1864, 3; Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 7. For another history of the Jewish Community of pre-1670 Leopoldstadt, see Hans Rotter/Adolf Schmieger, Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt, Vienna 1926. 43 Kann, A History of the Habsburg Empire, 1526–1918, 125 and 189; Gibs, Leopoldstadt, 12 f. 44 A history of the Seitenstettengasse Synagogue (Stadttempel), as well of the slow Jewish migration back into Vienna after the 1670 expulsion, is recounted in Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 3–61. A catalogue of religious objects and essays on the Jewish Community of Vienna is Karl Albrecht-Weinberger/Felicitas Heimann-Jeli­ nek (eds.), Judentum in Wien. “Heilige Gemeinde Wien.” Sammlung Max Berger. Histo­ risches Museum der Stadt Wien, Vienna 1987. 45 Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914, 78. See Ruth Beckermann (ed.), Die Mazzes­ insel. Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–1938, with an historical essay by idem, Vienna/Munich 1984.

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lands of Bohemia and Moravia, rural lower Austria, and the Empire’s Bal­ kan territories.46 As Helga Gibs recounts, the cultural life in Leopoldstadt reflected the desire of its population for upward mobility and entrance into the bourgeois classes. The neighborhood contained the largest dancehall in pre-1848 Vienna; its concert house hosted some of the most famous conduc­ tors in Europe; and it was the site of Vienna’s Nordbahnhof, the city’s rail link to the north.47 While these venues were neither built by nor for Jews, Jews certainly attended their events and took these trains. However, for many of the Jews in Leopoldstadt, some form of traditionalism remained the more natural religious disposition, with liberal changes continuing to repre­ sent a somewhat foreign, i. e. Christian, invention.48 In 1858, during the second year of Jellinek’s tenure, work was completed in the neighborhood on a large new synagogue, called the Leopoldstädter Tempel. Located on Wallisch-Gasse (now Tempelgasse), upon inauguration the Leopoldstädter Tempel became and remained, until its destruction on 9 November 1938, one of the grandest of Vienna’s Jewish houses of worship, representing a new era of wealth, affluence and stability for the Commu­

46 Robert Waissenberger, Judentum in Wien bis 1938, in: Albrecht-Weinberger/HeimannJelinek (eds.), Judentum in Wien, 18–28. On Bohemian and Moravian Jewry, see Michael L. Miller, Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipa­ tion, Stanford, Calif., 2011; Wilma Abeles Iggers (ed.), The Jews of Bohemia and Mora­ via. A Historical Reader, Detroit, Mich., 1992; Michael Brocke/Julius Carlebach (eds.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, part 1: Carsten Wilke, Die Rabbiner der Emanzi­ pationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, Munich 2004; Hillel J. Kieval, Autonomy and Interdependence. The Historical Legacy of Czech Jewry, in: David Altshuler (ed.), The Precious Legacy. Judaic Treasures from the Czechoslovak State Collections, New York 1983, 46–109; idem, Imperial Embraces and Ethnic Challenges. The Politics of Jewish Identity in the Bohemian Lands, in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 30 (2012), no. 4, 1–17; idem, Choosing to Bridge. Revisiting the Phenomenon of Cultural Mediation, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder/A Journal of History and Civilization in East Central Europe 46 (2005), no. 1, 15–27; idem, The Making of Czech Jewry. National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870–1918, New York 1988; idem, Languages of Community. The Jewish Experience in the Czech Lands, Berkeley, Calif., 2000. – Con­ trary to some accounts, Galician Jews did not arrive in mass numbers until the 1880s and 1890s. By then, Jellinek was presiding at Seitenstettengasse. 47 Gibs, Leopoldstadt, 30–44. See Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Vienna/Cologne/Weimar 21994. Robert Wistrich argues that before 1880 it seems unlikely that the largest percentage of Jews to migrate to Vienna were so-called Ostjuden from Galicia. Idem, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, 43. – The Nordbahnhof opened in 1838. It was rebuilt in 1865 in magnificent style. See Evelyn Klein/Gustav Glaser, Peripherie in der Stadt. Das Wiener Nordbahnvier­ tel. Einblicke, Erkundungen, Analysen, Innsbruck 2006. 48 Waissenberger, Judentum in Wien bis 1938; Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt, 147– 165.

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nity.49 Designed by German-born Viennese architect Ludwig von Förster (1797–1863), the Tempel had “[h]orseshoe arches and wiry cast-iron col­ umns” and an eastern wall “articulated with a monumental arch.”50 The street façade featured parallel minarets and was colored in Moorish-revival style, and, significantly, the building “no longer had to be hidden in the courtyard like the [Seitenstettengasse] synagogue’s entrance.”51 As Carol Krinsky notes, while the Leopoldstädter Tempel was built with space for an organ, “the fact that the congregation did not use [it] […] showed that the more liberal Jews wanted to come to terms with the more orthodox.”52 Mann­ heimer, who had an influential say in the synagogue’s practices (though he would never consistently preach there), was thoroughly against inclusion of an organ, on the grounds that it was too Christian. Debate over what sort of Judaism would be practiced inside the new syna­ gogue was both sharp and ongoing. Indeed, the entire creation and evolution of the Vienna Rite itself represents a deeply conflicted view about the mean­ ing and practice of modern Jewish religion. Mannheimer, whose education spanned both the religious and secular, was hired in 1825 specifically for his interest in creating a synagogue ritual that could respond to the liberal urban enlightenment that Vienna’s Jews hoped to make their own. Björn Siegel argues that much of Jellinek’s political success comes from his very close association with Mannheimer, and especially from his tenacity in arguing for a more liberal Vienna Rite well into the latter half of the nineteenth cen­ tury.53 But both Nikolaus Vielmetti and Marsha Rozenblit note that reform

49 See Bob Martens/Herbert Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens. Virtuelle Stadtspazier­ gänge, Vienna 2009, 21–30; Krinsky, Synagogues of Europe, 191–195. 50 H. A. Meek, The Synagogue, London 1995, 189. – Förster’s best-known works are all synagogues, though he himself was not Jewish: the Leopoldstädter Tempel in Vienna, the Dohány Street Synagogue in Budapest (also called the Great Synagogue), and the Kazinczy Street Synagogue of Miskolc, Hungary. The latter two remain standing, and all three were constructed in Byzantine/Moorish-revival style. See Kinga Frojimovics/Géza Komoróczy, Jewish Budapest. Monuments, Rites, History, New York 1999, 107 f. – Lud­ wig Förster, who contributed heavily to the plans for Vienna’s reconstruction, was the father of Emil von Förster (1838–1909), who designed a number of important buildings during the genesis of the Ringstraße. Janine Burke gives a brief account of Ludwig Förs­ ter’s role in the building of the Ringstraße as well as some common perception of Leo­ poldstadt, see idem, The Sphinx on the Table. Sigmund Freud’s Art Collection and the Development of Psychoanalysis, New York 2006, 28–30. 51 Krinsky, Synagogues of Europe, 191. 52 Ibid., 194. The other synagogues Förster designed also either included an organ or had a place for one. 53 Siegel, Facing Tradition, 324 f. See also Marsha L. Rozenblit, The Struggle over Reli­ gious Reform in Nineteenth-Century Vienna, in: AJS [Association for Jewish Studies] Review 14 (1989), no. 2, 179–221.

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came slowly to the Stadttempel.54 While nearly all of the Jews who lived in the Habsburg capital before 1848 were from the more affluent professions, and generally more welcoming of reform, they resisted the radical reforms being implemented in other German-speaking cities.55 Mannheimer, however, did make the German sermon a standard part of the Vienna Rite. It was in this genre that Jellinek most actively and thought­ fully engaged his talents during his years in Leopoldstadt. The sermons he published from that time reveal him to be a mature and sophisticated intel­ lectual, one who understood the challenges facing modern German-speaking Jewry. His writings are deeply empathic toward those who sought a conti­ nuation with the more conservative past, yet likewise focused with intensity and nuance on the present. As I discuss in the following section, in Leopold­ stadt Jellinek became intimately concerned with finding a way to mediate between enlightenment ideas and the historical practices and ethics that he believed formed the core of traditional Judaism.

Rabbi as Preacher Jellinek’s responsibilities in Leopoldstadt differed greatly from those of his rabbinical peers in the smaller, more rural regions of the Empire’s provinces. During his first decade in the capital, before he gained leadership over the entire Viennese Community, Jellinek was primarily a neighborhood preacher. This was a role uniquely suited to his personality and intellectual goals. Historically, the rabbi of a Community presided mainly over the civil and ritual responsibilities and obligations (as well as disputes) of his peo­ ple.56 The rabbi would have given lessons to his students and a shir – an elu­ cidation of that week’s biblical reading – on Sabbath afternoons to the Com­ munity, but was not likely to give a sermon during morning prayers. Instead, the rabbi might make a formal sermon a few times per year, as well as during 54 Nikolaus Vielmetti, Reform und Tradition im Neuen Stadttempel in der Seitenstettengasse zu Wien, in: Albrecht-Weinberger/Heimann-Jelinek (eds.), Judentum in Wien, 30–34; Rozenblit, Jewish Identity and the Modern Rabbi, 106. 55 For a history of the Reform movement in Germany, see Michael A. Meyer, Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism, New York 1988. 56 For the many-faceted role of the rabbi as Community leader, see Marc Saperstein, Leader­ ship and Conflict. Tensions in Medieval and Early Modern Jewish History and Culture, Oxford/Portland, Oreg., 2014; Shaul Stampfer, Families, Rabbis and Education. Tradi­ tional Jewish Society in Nineteenth-Century Eastern Europe, Oxford/Portland, Oreg., 2010; Daniel Frank/Matt Goldish (eds.), Rabbinic Culture and its Critics. Jewish Author­ ity, Dissent, and Heresy in Medieval and Early Modern Times, Detroit, Mich., 2008; and Schwarzfuchs, A Concise History of the Rabbinate.

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the High Holidays (Shabbat Shuva) and on the Sabbath before Passover (Shabbat ha-Gadol).57 His position outside of the study hall was primarily civil and psychological, dealing with the daily needs of the people while extensively educating only a few. Jellinek’s position in Leopoldstadt was very different from that traditional model.58 He was not brought to Vienna to spend his hours as a halakhic (reli­ gious legal) authority for small claims and disputes, although he was cer­ tainly trained for the role. Instead, following in the path of Mannheimer, his was one of the first recognizably “modern” rabbinical positions, where the ritual function of the synagogue, as opposed to the halakhic obligations of his Community members, was his central priority.59 The synagogue has long acted as the focal point of the Jewish Community. What was now different was that the synagogue functioned as the center of the rabbi’s life as well. The rabbi became overseer of the ritual life of the synagogue, as opposed to being arbiter of the legal lives of his Community with the synagogue (with its fairly simple and repetitive regulations) administered by laypersons. This transformation in the role of the rabbi is apparent in the title of Jellinek’s position: Prediger (preacher). It symbolized the centrality of the act of speaking to a multitude, over and above the intimacies of legal or interperso­ nal adjudication. For Jellinek in Vienna, the ritual and social functions of the new Tempel were predominant. While in Leipzig he had had time to pursue his academic interests, in Leopoldstadt he was responsible for all the ritual needs of his growing Community, like circumcisions, bar mitzvot, and weddings as well as weekly sermons. Observing Jellinek’s first decade in Vienna through the distance of history, we can see that, sometime around the date of his move, the young rabbi made a serious and profound personal decision. Rather than attempt to continue his remarkable scholarly productivity, he instead chan­ neled his energies into communal education and outreach through his ser­ mons. He experimented with ways of making his knowledge accessible. He returned to the classic rabbinic canon, not for historical interest, but with an eye toward the future of the Jewish people. In a way, Jellinek became less insular than he had ever been. Whereas the cosmopolitan scholar educated in Prague and Leipzig had previously written for a select crowd of fellow 57 For an example of a rabbinic contract that specified days of preaching, see Schwarzfuchs, A Concise History of the Rabbinate, 51–53. 58 For one account of the evolution of the German rabbi in the nineteenth century, see Schorsch, From Text to Context, 9–50. 59 Mordechai Breuer notes how these changes effected both Reform and neo-Orthodox Communities, with Samson Raphael Hirsch critiquing the over-emphasis on synagogue ritual found in liberal Communities. See idem, Modernity within Tradition, 44 f.

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academics, in Vienna, by turning to the traditional sources of Judaism and using them to explain contemporary intellectual theories and political affairs, he broadened his notion of what it meant to be a religious reformer, teacher, and “translator” of modernity. The idea of being a preacher, of giving a verbal elucidation of a traditional text in a form relevant to the present time and in a vernacular language, has a long history in Judaism. However, in the early part of the nineteenth century the job was transforming, leaving behind many of its medieval and early modern roots. By adopting Christian models, the sermon itself became a site of Jewish modernism and acculturation. Alexander Altmann, in his study on the German-Jewish sermon, noted a link between the rise of rationalism and the formalization of the weekly sermon in the closing decades of the eigh­ teenth century: “The sermon had evolved into a type of pulpit oratory decidedly different from the genre of the homily. It was not to be an exegetical discourse on Scriptural verses loosely strung together but was to be a disquisition on some definite theme based on a text and presented according to a well-defined pattern of component parts.”60

Indeed, this is precisely the model we see undergirding Jellinek’s sermons in the 1850s and 1860s. He was widely known as a gifted orator, but his impor­ tance arose not just from his rhetorical style. His linguistic choices concern­ ing the translation of Jewish ideas and principles into contemporary German are also singularly his own and represent a particular and interesting vision of and for Jewish modernity.61 When we look closely at Jellinek’s language and imagery – working neatly within the new tradition of sermon-as-disquisition described by Alt­ mann – we see that he was actually making a deeply interpretive translation of Jewish history, one that accentuated its links to the present ethos of liber­ alism. Yet of course, it is the very role of the rabbi himself to make mediated interpretations. Even the most supposedly exacting of readings is part of a regime of signs and symbols. Jellinek knew this and thought of himself as being embedded in just such an intellectual lineage.

60 Alexander Altmann, The New Style of Preaching in Nineteenth-Century German Jewry, in: idem (ed.), Studies in Nineteenth-Century Jewish Intellectual History, Cambridge, Mass., 1964, 65–116, here 68. He also noted: “An analysis of the theology of the sermon is still a desideratum.” Ibid., 65. 61 Clearly, Jellinek was deeply influenced by Mannheimer’s use of rabbinic sources in his sermons, none the more once he moved to Mannheimer’s city. See Altmann, The New Style of Preaching in Nineteenth-Century German Jewry, 79 f. But I retain the argument that Jellinek’s use of these traditional sources in his sermons was more pointedly social and philosophical, and were constructed to persuade his congregation that Judaism embo­ dies the same ethical values as German modernity.

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Interestingly, we can observe a linguistic dichotomy in Jellinek’s pub­ lished sermons that both hints at his communal rabbinic project in Vienna and demonstrates his link with and belief in traditional forms of Jewish knowledge creation and dissemination. What set Jellinek’s writing apart from a vast majority of his contemporary rabbinical colleagues in “modern” pulpits was his use of Hebrew footnotes in the published sermons. At an ear­ lier time, rabbis would often give their sermons in Yiddish but publish them in Hebrew. Jellinek both gave and published his sermons in German. Yet his references were always in Hebrew. And those Hebrew footnotes were to classical Jewish sources: Bible, Talmud, Midrash, and rabbinic commentary. With this in mind, Michael A. Meyer comments: “In contrast to the early style of Reform preaching, Jellinek did not dwell on general moral truths but on the specific teachings of Judaism. His elegantly crafted sermons were lavishly embellished with appropriate texts from Midrash and Talmud. Their dominant purpose, it seems, was to make his listeners proud of their particular Jewish heritage, to make them ‘feel good’ about being Jewish.”62

Meyer’s understanding of Jellinek’s sermons is to see them as motivational: Judaism not only contained essential moral truths, it had proven throughout the centuries that it could sustain and enhance them, creating a unique society that embodied and advanced both an ethical and a divine mission. One’s Jewish ancestors, Jellinek wanted his listeners to believe, were equally as enlightened concerning the world of culture and science as they them­ selves felt in the nineteenth century; in the same way as writers and philoso­ phers were quoting the Greek classics, Jews could cite Talmud. When they did so, instead of just finding law, as the Christian polemic insisted, they would find a universal moral code as sophisticated and thoughtfully designed as anything being taught in Humboldt’s Berlin or at Vienna’s uni­ versity on the Ringstraße. A further interpretation is to view Jellinek’s sermons and their GermanHebrew division as not only motivational but as also pedagogical. Though Germany had produced some exceptionally poetic translations of the Bible – not least of which was the Lutherbibel –, modern rabbis needed to reiterate that the God of Israel did not speak from Sinai in German.63 As the liturgical service in non-Orthodox congregations increasingly adopted Protestant cus­ toms, and as German (rather than Yiddish, which intrinsically reminds its 62 Meyer, Response to Modernity, 192. 63 For an examination of the concept of “Bildung” in this context, as well as about the acqui­ sition of the German language and translation, see Simone Lässig, Systeme des Wissens und Praktiken der Erziehung. Transfers und Übersetzungen im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Hahn et al. (eds.), Kommunikationsräume des Euro­ päischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig 2014, 15–42.

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speakers and reader of its Hebrew foundations) became the communal lan­ guage of Austrian Jewry, Jellinek’s consistent references and gestures to the core texts of Jewish theology and philosophy aimed to reinforce their older, illustrious status.64 If Jellinek could prove, both to Jews and non-Jews, that Judaism embodied the tenets of German liberalism and had done so at least since the time of the early rabbis if not since Sinai then, just as the antiquity of Greece brought honor to their thought, so too, perhaps, the antiquity of the Jews could bring honor (and thereby acceptance and equality) to them as well. Still, it remains a fact that by including Hebrew footnotes, Jellinek was excluding some portions of his Community from understanding and thereby engaging with his source. So while remaining every bit a man of the Enlight­ enment, who viewed knowledge as progressive and who believed that the Jews had a place in the European family of nations, Jellinek was also tradi­ tional in his view about the role of the rabbi when it came to the classical texts of Judaism. His was the lens through which his Community would come to know these writings, he believed. Those who had the learning to read and understand Hebrew could engage in the original. But for the main body of his Community, who did not have a deep religious education, his explanations and elucidations (in both literal and metaphoric terms, his translations) of the sources was the dominant vision of Judaism they received. This returns us to my central thesis: Jellinek’s writings during this period are deeply concerned with Jewish history and the continuing relevance of religious ritual for Jewish life in the modern era. Jellinek wrote: “We want to introduce [Judaism] in the midst of the grappling and contentions of our moment […] [so that we may] know how it responds to the important questions of our time; [we] want today to speak to and judge [Judaism] on some of the principle tasks with whose solution our age is occupied.”65

These words appeal to the soul of Judaism, looking not only at ritual stric­ tures but even more so at ethical wisdom and history. Judaism’s long history, he argues, is part of its great strength. Or to put Jellinek’s formulation into a more Hegelian discourse: “Life consists rather in being the self-developing whole which dissolves its development and in this movement simply pre­

64 See Yaacov Shavit/Mordechai Eran, The Hebrew Bible Reborn. From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism, Berlin/New York 2007; and Ran HaCohen, Reclaiming the Hebrew Bible. Ger­ man-Jewish Reception of Biblical Criticism, Berlin/New York 2010. 65 Adolf Jellinek, Der Talmud. Zwei Reden am Hüttenfeste 5625 (am 16. und 22. Oktober 1864), Vienna 1865, 21.

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serves itself.”66 Which is to say, for Jellinek rabbinic Judaism is a continual act of overcoming, a dissolving of the ideas and opinions of before by assim­ ilating them into new commentaries, which themselves allow Jewish culture to live inside a tradition that is, in a realistic sense, perpetually contempor­ ary. Following Hegel, in Jellinek’s formulation the preservation of Judaism across so many centuries is a distinctly Enlightenment act. It is its develop­ ing – its synthesis and overcoming – which allowed Judaism to remain ever perceptive to new trends in cultural and moral thought. This final ability to assimilate new moral thoughts is what Jellinek believed made the heart of the rabbinic project both eminently modern and sure to persist. As we turn now to look at some specific instances of Jellinek’s writing, a number of key themes emerge. First, Jellinek sought to bring together on equal terms the languages of Judaism and German modernity. By putting the Hebrew in the footnotes and writing a German text that was accessible, interesting, and focused heavily on the interpretation of traditional Jewish narratives, Jellinek was reforming and educating in a way that overtly demonstrated the importance of Judaism for a full and thoughtful contem­ porary life. The second key theme is Jellinek’s focus on the various ways in which Judaism espouses a care for the “other.” He argued that many of the univer­ sal values of liberalism are embodied in the textual and, more importantly, the ritual and dialogical history of Judaism. A Jewish life, he thought, that was not only cultivated through rabbinic and biblical texts but also validated by them, would help his Community to understand and integrate the nonJewish value systems they encountered in modern Vienna. Finally, we will see in these texts three interlinked ideas: Wahrheit, Freiheit, and Gerechtig­ keit (truth, freedom, and justice). In his search for an overlapping language between Judaism and the broader human experience, Jellinek relied heavily on these concepts, often though not exclusively in unison, and returned to them repeatedly, finding their referent in nearly every classic Jewish text, folktale, and ritual.

66 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phenomenology of Spirit, trans. by Arnold V. Miller with analysis of the text and foreword by J. N. Findlay, Oxford/New York 1977, 108.

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The “Other” and the “Stranger” In a clear example of his focus on the care of the “other,” Jellinek wrote in early summer 1861: “But is Judaism so indifferent to the healing of other people? Is it really so narrowminded and selfish that it does not care about its progress and the spreading of its truth? Certainly not! Forty-five times […] God focuses the Israelites on justice, love, and mercy toward the foreigner.”67

These words were spoken on Shavuot, the Feast of Weeks, the celebration of the giving of the Torah on Sinai to the Jewish people. Among all nations, Israel was chosen for a special set of laws and ordinances. As the rabbis ima­ gined it, the other peoples of the world were asked to accept the Torah and they refused, and only Israel accepted without precondition: “we will do and we will understand” (Ex 24:7). Yet Jellinek refocuses the scene. Reading the book of Ruth on Shavuot, he interprets, is a reminder that the values inherent in Judaism are universal and accepting. “What is this little Book of Ruth now on our Festival [of Sha­ vuot]? […] It is an ancient monument to Jewish forbearance, Jewish love, and Jewish loyalty.”68 Ruth is a foreigner, a non-Jew, who accepts the Jewish God and the moral codes of the Jews and is assimilated into the Jewish peo­ ple; indeed, she is abundantly rewarded, for she becomes great-grandmother to King David, the greatest of the biblical monarchs. What does Jellinek imply we should learn from this story? That the Jews have shown to the world: forbearance to history, love of stranger, and loyalty to those who share their values. That is, the story describes civic virtues, arguing thereby that the Jewish presence in non-Jewish lands should be something to value and not to fear. These issues appear again in a sermon from 1858 entitled “Love the Stran­ ger!”. The biblical text Jellinek cites (Dt 10:19),69 has long held an important place in Jewish law and theology; indeed, care for and inclusion of the stran­ ger (the non-Jew living among Jews) appears during some of the main litur­ gical moments of the Jewish week.70 However, in building on these estab­ 67 Jellinek, Predigten, vol. 1, Vienna 1862, 7. 68 Ibid., 4. 69 “Love the stranger [Heb.: the gär, the non-Jew who lives in one’s community] for you yourselves were strangers in the land of Egypt.” (Dt 10:19). 70 For example, in the Sabbath blessing on wine, it is recited that the stranger who lives in one’s midst must be allowed to rest as well. See David Novak, The Image of the Non-Jew in Judaism. The Idea of Noahide Law, Oxford 22011; David L. Lieber, Art. “Strangers and Gentiles,” in: Encyclopaedia Judaica, ed. by Michael Berenbaum and Fred Skolnik, 22 vols., here vol. 19, Detroit, Mich., 22007, 241 f.; and Daniel Sperber/Theodore Fried­ man, Art. “Gentile,” in: ibid., here vol. 7, 485–487.

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lished traditions, Jellinek argued two points: that the commandment to the Jews to love the stranger is unique among the nations; and that the commu­ nal legacy within the Jewish nation to uphold this commandment has remained strong throughout the centuries: “‘Love the stranger, for you were strangers in the land of Egypt.’ What a sublime, blessed law! What a triumph here celebrating the Jewish spirit, which lovingly gathers all strangers around it! Strike out the law books of the ancient peoples; inquire of Egypt, Assyria, Babylon, Greece, and Rome; inquire of the Middle Ages, with their blood fanaticism; inquire of the present age, with its clever statecraft; see if [any of their law codes] contain the three words: ‘Love the stranger!’”71

That the stranger is someone worthy of loving (Heb.: ahava), and of loving without desiring his or her conversion to one’s own creed, is a political phi­ losophy foreign to most times and places. Yet the Torah’s commandment “love the stranger” (ve-ahavtem et ha-gär) assumes, perhaps even encourages, that the stranger will remain outside the community of Jews, that the stranger might never become one’s kinsman. It also assumes that the stranger will reside at length in one’s midst. It is not a law about those who are passing through, about being kind to travelers and merchants. The Israe­ lites were strangers in Egypt for four hundred years, and the biblical law’s presumption is that the dominant community will maintain and respect – not just be peaceful to or benignly neglectful of, but actually engage with and accommodate – those who live among them but are not of their people. Moses Mendelssohn wrote similarly: “If a Confucius or a Solon lived among my contemporaries, I could, in accordance with the principles of my reli­ gion, love and admire the great man, without hitting on the ridiculous idea of wanting to convert a Confucius or a Solon.”72 Still, such rhetoric is only meaningful if groups outside of Judaism are also interested in developing a similar set of moral codes. As we see with Mendelssohn, Jellinek was invoking a form of liberal political philosophy that had already been developing in the latter half of the eighteenth century. Almost ninety years before this sermon, Thomas Jefferson put these ideas into writing: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights.” The French Declaration of the Rights of Man and of the Citizen of 1789 likewise enshrined: “Men are born and remain free and equal in rights. Social distinctions can be founded only on the common good.”73 71 Jellinek, Predigten, vol. 1, 104 f. 72 Moses Mendelssohn, Open Letter to Lavater, in: idem, Writings on Judaism, Christianity, and the Bible, ed. by Michah Gottlieb, trans. by Curtis Bowman, Elias Sacks, and Allan Arkush, Waltham, Mass., 2011, 10 (italics in original). 73 “Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne

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Yet in both cases, these political documents aimed to protect the right of individuals to maintain their differences within broader society. But Jelli­ nek’s argument in 1858 was that neither of these founding documents of political liberalism captured the two most essential aspects of the biblical injunction “love the stranger.” First, Jefferson and the French republicans had only enshrined “negative liberties,” to use Isaiah Berlin’s terminology: protecting in their texts “simply the area within which a man can act unob­ structed by others.”74 Jellinek, however, believed that one should love the stranger. That is, that one could be implored through law to reach out and be kind to the stranger. Because God is not the state, one is not imprisoned for ignoring God’s laws – Mendelssohn called this the “non-coercive” nature of Jewish religious law. Nevertheless, divine laws were still meant to show a person the right way to be. Jellinek thought that the bible had, in fact, cre­ ated the potential for “positive liberty” amongst the Jewish people, an impetus for responsible and thoughtful decision-making. One would not be stoned for disrespecting the stranger but one could be taught to choose to love the stranger. In this sense, God was taking a gamble on humanity.75 Jel­ linek, full of optimism, wanted in on the bet. Second, Jellinek believed that to fully internalize the imperative “love the stranger” one must remember the second part of the biblical command, “for you yourselves were strangers in the land of Egypt.” (Ex 23:9) Strangers might not be individuals. Even Mendelssohn, who was arguing for the same political rights for the Jews as was Jellinek, missed (or purposefully over­ looked) the gravity of the latter half of the phrase. Israel was a stranger in the land of Egypt for four hundred years, not individual Hebrews but the children of Jacob in its entirety. Therefore, even if the Jews might be stran­ gers in Europe for a thousand years, such a thing could only make this com­ mandment more essential. Not only, thought Jellinek, did the nations of Eu­ rope need to respect the right of individual Jews to practice their traditions, they needed to love the presence of the Jewish people – as a separate people – in their midst.

peuvent être fondées que sur l’utilité commune.” Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, see Legifrance. Le Service Public de la Diffusion du Droit, (23 April 2015). 74 Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, New York 1970, 122. 75 Berlin is particularly appropriate here, since he believed that “political theory is a branch of moral philosophy,” as Jellinek implicitly did. See ibid., 120.

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Truth, Freedom, and Justice Despite these many and important emphases on Judaism and the “other,” Jel­ linek was in no way uniform in his approach to the interpretation of tradi­ tional texts: he was concerned with internal Jewish questions as well as with relations between Jews and non-Jews. Wahrheit, Freiheit, and Gerechtigkeit (truth, freedom, and justice) transcended any specific event or moment; they were the Zeitgeist of his brand of modernity. Yet while he frequently extoled them he likewise recognized that they are not always for the good since they can be enemies of tradition and ritual. They do not respect history in the way that Jewish texts demand or expect. And often as not, that disrespect for ritual and history becomes an assault upon the Jews. On Shabbat Zakhor (the Sabbath immediately preceding the festival of Purim) in 1860, Jellinek argued forcefully against those who negate the Jewish contribution to civili­ zation. “Has not the Hebrew tribe, through its bible, more deeply impacted the freedom and morality of the nations than Greece through its artistic and literary creations?,”76 he asked. Here Jellinek was in direct confrontation with those intellectuals of the Enlightenment who retained their anti-Jewish prejudices, even as they passionately debated the concepts of freedom and morality. Such overt defenses of Judaism are not the only rhetorical device found in the sermons. More often, Jellinek sought to find subtle links between tradi­ tional practices and modern ideas. In one example of his concern for Ge­ rechtigkeit, Jellinek pointed out: “The Palm [used during the Jewish festival of Sukkot, the Feast of Booths, which occurs in September or October] is the image of the righteous, of the right, the strictly, impar­ tially right. Over everything the standpoint of the right is the most excellent mark of halakha [religious law].”77

The closed palm frond, straight and narrow, sharp at the edges but sturdy, was the central metaphor of halakha and Jellinek’s idea of the moral. “Where was the moral amongst the legal jargon,” Jellinek heard the enemies of Judaism crying out – it was there, in the halakha, he responded. By rhe­ torically associating morals with the sturdy and straight, invoking along the way the literal definition of halakha as the way, the road, the path, Jellinek interwove apologetics with traditional rabbinic interpretation. The place of 76 Jellinek, Predigten, vol. 1, 69. Abraham Joshua Heschel makes a similar argument in his essay No Religion is an Island (1965), where he argues that the values of contemporary Christianity necessitate the protection of the Jewish people, who are the original keepers of the Hebrew Bible. See idem, Moral Grandeur and Spiritual Audacity. Essays, ed. by Susannah Heschel, New York 1996, 235–250. 77 Jellinek, Der Talmud, 12.

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morality, and therefore of justice, was in the tall and strong center, made from traditional laws and practices. It is an argument again reminiscent of Moses Mendelssohn who asserted that Judaism received “revealed legisla­ tion,” which was not a unique form of revealed truth but simply a mechan­ ism for solidifying a code of ethics within the people. Because humanity is flawed and full of moral errors, “the lawgiver of [Israel] gave the ceremonial laws […]. Men must be impelled to perform actions and only induced to engage in reflection.”78 Yet Mendelssohn was at pains to stress that these ceremonial laws are merely to ensure a form of morality amongst the Jews equivalent to that which is practiced and preached in the other nations of the world. “Judaism,” he says, “boasts of no exclusive revelation of eternal truths that are indispensable to salvation.”79 Judaism, expressing its moral heritage through laws and ritual, is neither more nor less moral. It simply codified an already existing universal morality through different mechan­ isms. Yet again Jellinek pushes Mendelssohn’s argument one step further. The historical record of Judaism’s revealed legislation, he argues here and else­ where, suggests that Judaism is not only in full concert with Enlightenment, but quite obviously preceded Enlightenment. Whereas European thinkers only came to understand the separation of universal and particular moral systems recently, rabbinic Judaism has recognized just such a bifurcation for the better part of two millennia. Acknowledging the unique relationship between God and Israel by necessity requires God to have relationships with other nations as well. If the commandments for the Jews are unique to them, then God cannot leave the other people of the Earth without law or justice. Moreover, if such moral codes as God gives to the non-Jewish nations can­ not be in conflict with the moral codes of Israel, then there must be a univer­ sal system underlying the particularity of Judaism. This is why Jellinek says, “‘Love the stranger’ […] [for] every human being […] is loved by God.”80 In other words, for Jellinek, the Talmud gives Judaism a central role in the historical arc toward Enlightenment’s recognition of universal morality. In this way, Jellinek imagined the Talmud – and by extension, all tradi­ tional rabbinic texts – as functioning like a prism, taking the non-Jewish ele­ ments of the world and refracting them into a Jewish idiom and practice.81 What that new post-prismatic idiom might look like varied across time and 78 Moses Mendelssohn, Jerusalem, or, On Religious Power and Judaism (1783), trans. by Allan Arkush, Waltham, Mass., 1983, 118 f. (italics in original). 79 Ibid., 97. 80 Jellinek, Predigten, vol. 1, 105 f. 81 I am reliant on Abraham Joshua Heschel for this imagery of refraction from his final book: idem, Torah min ha-shamayim be-aspaklaryah shel ha-dorot [Torah from Heaven as Refracted through the Generations], 3 vols., London/New York 1962–1990.

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geography, but what Jellinek desired was for the Talmud’s method of mean­ ing making to open Judaism outward, helping it become a part of the conver­ sation of modernity: “The words of the Talmudic sages are at the same time as stepping stones, whilst also holding together the faith and the various types of human community through the teachings of justice, humanity and morality, which, they note, are instilled in every nation and every state through the principles of religious toleration, and by exhortations to peacefulness, which they preach aloud to the glory of God – who makes peace in His heights – so the Heavens can be witness to the harmonious and peaceful interaction of the enlightenment of the universe [zur Erleuchtung des Weltalls]!”82

In a sincere way, Jellinek wanted his Community to believe that the resources of the Jewish past could speak to the Jewish present. Furthermore, he wanted to convince them that rabbinic literature would be able to posi­ tively engage with whatever modernity created. The Talmud, one can almost hear him saying, was fundamentally a system of Enlightenment – motivated by the same philosophical questions and searching for the same political ends. This is an understanding of Enlightenment, it should be noted, focused not just on the people but on governments as well. Jellinek said that “justice, humanity, and morality […] are instilled in every nation and every state through the practice of religious toleration.”83 Compare those words with Kant’s famous essay, What is Enlightenment?: “When even a people may not decide for itself [the sort of freedom it wants,] can even less be decided for it by a monarch; for his lawgiving authority consists in his uniting the collective will of the people in his own. If only he sees to it that all true or alleged improvements are consistent with civil order, he can allow his subjects to do what they find necessary for the wellbeing of their souls.”84

Civil order and religious toleration are synonymous, Jellinek is reasoning. Torah and Talmud provide both a civil framework for equal rights among peoples, as well as care for the soul. In a real sense, Jellinek was setting the Talmudic sages as the originators of the idea of universal justice and human­ ity. Jews, long hated for their purported insularity, were really seen as incu­ bators of a broader world vision, since only through the Enlightenment have non-Jews come to recognize what Judaism understood and preached all along.

82 Jellinek, Der Talmud, 32. 83 Idem, Predigten, vol. 1, 105. 84 Immanuel Kant, An Answer to the Question: What is Enlightenment? (1784), trans. by James Schmidt, in: James Schmidt (ed.), What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and Twentieth-Century Questions, Berkeley, Calif., 1996, 58–64, here 62.

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By describing Judaism as if it had long embodied the new liberal philoso­ phies, Jellinek was in some ways creating a novel role for the rabbi and for Jewish texts, one that sought to place Judaism overtly into the lineage of European history and ideas. In his biblical exegesis, Jellinek continuously looked not toward law and history but toward goodness, righteousness, and lawfulness. He was interested in the cultivation of a certain type of moral life, one that he believed Judaism embodied but that ultimately transcended the particularities of the religion. He wrote: “And only in free realms of spirit [does one meet] arbitrariness and randomness, distance and alienation, from the path of the original human nature, from the way of law and justice.”85 Jel­ linek did not want a fully liberalized Jewish religion. He did not want a Jew­ ish philosophy of life, which could mean a way of being moral without ritual or practice. A “free realm of spirit” is an individual and isolated world, where people look inside themselves for moral truth, rather than to the texts and rituals of the past. Jellinek truly believed that the ancient Jewish sources embodied the interpretations he was finding within them. Such texts were both comforting and burdensome to the Jews of Leopoldstadt. They were their heritage, the texts of their fathers and mothers. But so too, these tradi­ tions weighed heavily, especially at a time when the promises of emancipa­ tion seemed so near at hand.

Conclusion As I have attempted to show, Jellinek recognized the gap between Jewish traditional discourse and Enlightenment discourse, and was able to bring a Jewish vocabulary into conversation and, so he believed, into harmony with modernity in the medium of the sermon. The need for Jellinek to interpret and address German-speaking liberal culture for the Jewish immigrant was acute from the start. His impassioned defenses of Judaism, alongside his obvious learning and ability to engender respect in non-Jewish scholarly and theological circles, represented for the Jews of Vienna the quintessence of emancipation. Michael A. Meyer thought that “to the Viennese Jewish leadership [Jellinek] must have seemed just the right man for their Jewish milieu: a religious leader who did not create ideological division, an accomplished preacher who provided his listeners with memorable artistic experiences, and a man who expressed their own feelings, reconfirming both Jewish loyalties and universal convictions.”86 85 Jellinek, Predigten, vol. 1, 39. 86 Meyer, Response to Modernity, 192 f.

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Unlike what the French had offered in 1789, which was for the Jew as Jew to be a fully emancipated individual but not to be part of a communal Juda­ ism, it appeared to many that the potentials of the German Enlightenment did not require the same total individualization. In Vienna, some members of the Community hoped that they could integrate and gain civil rights while remaining identifiably Jewish and part of a historic community. Vienna was socially and culturally vibrant in the 1850s and 1860s, and the immigrant Jews of Leopoldstadt had every intention of partaking in the city’s urban life. They were also, however, accustomed to a particular form of Jewish traditional discourse, a style of thinking and being that on the sur­ face contrasted sharply with the liberal, trendsetting, Catholic Vienna. What we see on the part of Jewish migrants to the city in the mid-nineteenth cen­ tury is that they did not all believe – and most assuredly Jellinek did not – that the urge to participate in German life de facto necessitated an abandon­ ment of Jewish tradition, either its discourse or ritual. It did, however, cause what we might now understand to be a sort of cognitive dissonance. Still, I argued here that this rapidly changing modern world, combined with the immense contrast between Viennese life and the rural provinces, necessi­ tated a sort of “leader of translation” for these immigrant and acculturating Jews, someone who could put modern life into a Jewish lexicon. Jellinek, I believe, proved to be just that leader. Over the course of many pages and many Sabbaths, Jellinek asked his congregation to see the relationship between the Jewish and non-Jewish world as something fluid and dynamic – an interaction without a requisite antagonism. Despite increasing political fractiousness within Judaism, inside Vienna and across the European world, and continued attacks on Jew­ ish practice and theology from Christians, Jellinek used his intellectual train­ ing and rhetorical skill to forcefully define a moderate center. His sermons are an example of his unapologetic religious equanimity. A gifted speaker, praised by one writer as “an oratorical poet or a poetic orator,”87 Jellinek attempted to pair his skill with words to his intellectual training. He sought to chart a path of religious synthesis, integration, and non-destructive trans­ formation, a path that would embrace the newly liberalizing culture of the capital without demeaning or forgetting the deeply traditional towns and lives that the Jews of Leopoldstadt – and in fact he himself – had only recently left behind.88

87 Julius David, Zum ersten Jahrzeitstage Dr. Adolf Jellinek’s, in: Die Neuzeit, 11 January 1895, 14 f., here 14. 88 This article is an early version of my doctoral thesis, being written for the University of North Carolina at Chapel Hill. I wish especially to thank Dr. Arndt Engelhardt of the Simon Dubnow Institute for his selfless help, encouragement, support, and friendship.

Dubnowiana

Arndt Engelhardt

Über Bewegung und Stillstand im öffentlichen Raum: Simon Dubnow und die russisch-jüdische Publizistik in den 1880er Jahren Die frühen literarischen und historiografischen Arbeiten von Simon Dubnow (1860–1941) fallen in eine Zeit des politischen Übergangs. Die Thronbestei­ gung Zar Alexanders II. 1855 und insbesondere die von ihm in Angriff genommenen sogenannten Großen Reformen (1860–1871), deren Kern die Abschaffung der Leibeigenschaft ab dem Jahr 1861 darstellte, hatten den Intellektuellen des Russischen Reichs Hoffnungen auf grundlegende politi­ sche Veränderungen gemacht – doch die Ermordung des Zaren im März 1881 beendete diesen Aufbruch abrupt. Unter seinem Sohn Alexander III. wurden viele der Reformen zurückgenommen und die Autokratie gestärkt; die gesellschaftlichen Konflikte verschärften sich erneut.1 Für den zum Zeit­ punkt des Attentats gerade zwanzigjährigen Dubnow waren diese Jahre von einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit dem universalen Ideal einer allgemeinen Geschichtsauffassung wie auch mit »kosmopolitischen« Ideen gekennzeichnet. Zugleich war er tagtäglich mit der repressiven Politik gegen die jüdische Minderheit konfrontiert, die weit über administrative Schikanen hinausging – vor allem die Pogrome der 1880er Jahre in Südruss­ land wurden für die russischen Juden zu einer existenziellen Bedrohung.2 So war Dubnows Publizistik jener Jahre von der Beschäftigung mit den politischen und kulturellen Strömungen in Westeuropa, einer eher positivis­ tischen Literaturkritik und dem intensiven Nachdenken über die Frage der jüdischen Emanzipation geprägt.3 Er bewies bei allen drei Themen eine hohe Sensibilität für den Geist der Zeit, schließlich befand auch er sich an einem »Scheideweg« seiner Bildungsgeschichte. Das Judentum war für Dubnow in 1

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Zur politischen und kulturellen Situation im zarischen Russland jener Zeit siehe v. a. John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question, 1855–1881, Cambridge/New York 1995, und Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley, Calif., u. a. 2002. Hierzu und zu den aus dieser kritischen Lage entstandenen politischen Bewegungen und Gegenstrategien siehe Eli Lederhendler, The Road to Modern Jewish Politics. Political Tradition and Political Reconstruction in the Jewish Community of Tsarist Russia, New York u. a. 1989. Siehe Robert M. Seltzer, Simon Dubnow. A Critical Biography of His Early Years (Diss., Columbia University, New York 1970); ders., Simon Dubnow’s »New Judaism.« Dia­ spora Nationalism and the World History of the Jews, Leiden 2014, 47–117. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 423–445.

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dieser Periode seines literarischen und publizistischen Wirkens »potentiell eine universale und real eine nationale Religion«.4 Somit betonte er in sei­ nem Wirken beides, den zeit- und ortsunabhängigen ethischen Status des Judentums als universalhistorisches Phänomen sui generis und den politi­ schen Aspekt der Unterdrückung der Juden im zeitgenössischen Russland – und er entwickelte hieraus kulturelle und politische Fragestellungen. In die­ sem Spannungsfeld bewegte sich auch die frühe Publizistik des jungen His­ torikers. In den Texten der 1880er Jahre findet sich demzufolge der gesamte frühe Bildungsweg Dubnows wieder: sein genuines Interesse an der jüdisch-reli­ giösen Tradition und sein starkes Verlangen nach innerjüdischen Reformen. Denn seine Kindheitserfahrungen in der Jeschiwa waren negativ gewesen und gerade deshalb war er fest davon überzeugt, dass Glauben und Intellekt, Religion und Wissenschaft keinen Widerspruch darstellen, auf jeden Fall nicht kategorisch voneinander separiert oder gar gegeneinander gerichtet werden sollten. Er interessierte sich als junger Mann für die Klassiker der Philosophie der Aufklärung, vor allem für die positivistische Philosophie Frankreichs und Englands, die er – im Gegensatz zum Denksystem Hegels, dessen Sprache er undurchdringlich fand und unter anderem wegen eines »inflationären Gebrauch[s] der Worte« kritisierte – als intellektuelle Befrei­ ung erlebte.5 Auf literarischem Gebiet war für Dubnow die deutschsprachige Dichtung ein wichtiges Bildungserlebnis, besonders Autoren wie Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine und Ludwig Börne. Anders als die deutsche Philosophie wurde die deutsche Literatur nachgerade zu seinem Vorbild. Dubnow war sich vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte – sein Großvater war ein weithin anerkannter Rabbiner, dessen Leben ganz und gar dem Studium der heiligen Schriften gewidmet war – der Reichweite seiner Entscheidung für ein reformiertes Judentum und gegen die religiöse Tradition sehr wohl bewusst. Mit dem Eintreten für ein aufgeklärtes, wis­ sensbasiertes modernes Weltbild stellte er sich gegen die Grundwerte der jüdischen Gemeinde und gegen die Überzeugungen seines Großvaters, was zu tragischen innerfamiliären Konflikten und zu einem Prozess der Entfrem­ dung führte. Bei einem seiner Besuche in seiner Geburtsstadt Mstislawl im Herbst 1884 während der hohen jüdischen Feiertage kam es zu einer Situa­ tion, in der sakrales Gesetz und säkulares Bildungsstreben eine ganz ähn­

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Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, hg. von Verena Dohrn, 3 Bde., Göttingen 2004–2005, hier Bd. 1, Göttingen 2004, 204. Ebd., 221.

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liche Phänomenologie ausbildeten, eine Szene, die Dubnow im Rückblick so beschrieb: »In zwei parallel verlaufenden Straßen saßen in ihren Arbeitszimmern zwischen Bücherschränken Großvater und Enkel. Der eine vertieft in die Weisheit des Talmud und der rabbinischen Schriften, die er an seine Zuhörerschaft weitergab, der andere ebenso eifrig vertieft in die neue Weisheit des Jahrhunderts, auch er hatte sein Audito­ rium, mit dem er mittels der Druckerpresse sprach, wenn es auch weit entfernt war, so war es doch weitaus größer.«6

Neben der Parallelität des Strebens nach Wissen und Bildung sowohl der älteren als auch der jüngeren Generation verweist dieses Zitat auch auf Unterschiedliches, vor allem auf die Differenz zwischen herkömmlicher Mündlichkeit und neuer Schriftlichkeit, also auf die Weitung der Perspektive und des Horizonts, die mit Zeitschriften und Büchern als Medien der Moderne verbunden war. Ziel des folgenden Beitrags soll es deshalb sein, aufzuzeigen, worin für den jungen Dubnow die »neue Weisheit des Jahrhunderts« bestand und warum gerade die Druckerpresse, also das im Aufstreben begriffene Ver­ lags- und Pressewesen, hier eine so wichtige Rolle spielte. Die individuelle Erfahrung des jungen Simon Dubnow belegt damit die Bedeutung und Reichweite der aufkommenden jüdischen Publizistik und der mit ihr verbun­ denen Lesekultur im russländischen Imperium ab den 1860er Jahren.7 In einem ersten Teil wird dargestellt, welcher Art das literarisch-publizistische Leben in St. Petersburg war, das Dubnow vorfand, als er die russische Hauptstadt im Juni 1880 erstmals besuchte; sie sollte anschließend für meh­ rere Jahre sein Lebensmittelpunkt werden. In diesem Teil liegt der Schwer­ punkt der Ausführungen auf der russischsprachigen jüdischen Publizistik, denn sie war es, der Dubnow über viele Jahre hinweg seine Arbeitskraft wid­ mete, hier bildete er seine politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Überzeugungen aus und legte sie der Öffentlichkeit dar.8 Ein zweiter Teil beschäftigt sich mit dem speziellen Thema der Zensur, der das gesamte lite­ rarische und intellektuelle Leben jener Jahre in Russland unterlag. Hier wird auch Dubnows besonderes Verhältnis zu seinem Freund, Förderer und darü­ ber hinaus intellektuellen Gegenüber Adolf E. Landau (1842–1902) beleuchtet, denn die Konflikte, die der junge Autor und der erfahrenere Redakteur und Herausgeber des Voschod (»Das Aufsteigen«; auch »Der

6 7 8

Ebd., 207. Siehe hierzu Jeffrey Veidlinger, Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, Bloo­ mington, Ind., 2009. Einen Überblick über die russisch-jüdische Publizistik seit den 1860er Jahren bietet Batja Val’dman, Russko-evrejskaja žurnalistika (1860–1914). Literatura i literaturnaja kritika [Die russisch-jüdische Publizistik (1860–1914). Literatur und Literaturkritik], Riga 2008.

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Osten« oder »Der Sonnenaufgang«) miteinander austrugen, veranschauli­ chen weniger die privat-persönliche Dimension zweier ambitionierter Intel­ lektueller als vielmehr die Rahmenbedingungen in einem autokratischen Russland während des Übergangs zu Massenprotest und Aufbegehren. Ein dritter und letzter Teil des Beitrags widmet sich sodann den deutschsprachi­ gen literarischen Vorbildern Ludwig Börne (1786–1837) und Heinrich Heine (1797–1856), die Dubnow in jener Zeit als ermutigende Leitfiguren für sein eigenes Denken und Schaffen betrachtete. Dubnow versuchte in dieser Phase seines Lebens, zwei disparate Traditio­ nen zusammenzudenken, die Errungenschaften der »deutschen« Haskala, wie Moses Mendelssohn (1729–1786) und die ihm nachfolgenden Maskilim sie repräsentierten, und die mystische Frömmigkeitsbewegung des osteuro­ päischen Chassidismus. Für den jungen Simon Dubnow wurde sein Heraus­ geber Adolf Landau zu einem Mentor. Als Publizist und als Historiker glei­ chermaßen entwickelte Dubnow in jenen Jahren wissenschaftliche und historiografische Vorhaben, die ihn noch lange Zeit beschäftigen sollten.9 Fast zwanzig Jahre lang blieb er dem Voschod treu, dieser wichtigen rus­ sisch-jüdischen Zeitschrift; hier veröffentlichte er fast alle seine Aufsätze, Rezensionen und in Fortsetzungen auch manche Erstfassung seiner Werke. Zu Beginn seiner Zeit beim Voschod gab er in der »Literarischen Chronik« jeder Nummer einen kritischen Überblick über aktuelle Neuerscheinungen und rezensierte wissenschaftliche Ausgaben, die in der St. Petersburger Redaktion aus aller Welt eintrafen. Auf diese Weise hatte Simon Dubnow die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und gleichzeitig seine wissenschaftlichen Interessen zu entwickeln. Er stellte hier auch erste Über­ legungen zu einem seiner Lebensthemen an, der Erforschung der Geschichte des Chassidismus. In späteren Jahren war er der einzige regelmäßig bezahlte Mitarbeiter des Unternehmens und gleichzeitig Ideengeber für mehrere pub­ lizistische Projekte Landaus. Insgesamt veröffentliche Dubnow im Voschod nicht weniger als 300 Aufsätze, Essays und Überblicksartikel, die sich der hebräischen und jiddischen Literatur zuwandten, aber auch Werken der rus­ sischen Literatur, die jüdische Themen berührten oder in denen Juden als handelnde Personen auftraten.10

19 Vgl. Viktor E. Kelner, Simon Dubnow. Eine Biografie, Göttingen/Oakville, Conn., 2010, 90–93. 10 Siehe hierzu die bibliografische Übersicht der im Voschod erschienenen Beiträge: A. R. Rumjancev, »Voschod« – »Knižki Voschoda«. Rospis’ soderžanija 1881–1906 gg. [Der »Voschod« – Die »Knižki [Büchlein] des ›Voschod‹«. Inhaltsverzeichnis der Jahre 1881 bis 1906], St. Petersburg 2001, bes. den einführenden Essay von Viktor E. Kelner, Voschod i ego izdatel’-redaktor A. E. Landau [Der Voschod und sein Herausgeber und Redakteur A. E. Landau], 7–46.

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Die Großstadt als Ort der Verdichtung: Zur literarischen Kultur in St. Petersburg Als Simon Dubnow im Juni des Jahres 1880 nach St. Petersburg kam, befand sich die Stadt mitten im Aufbruch in ein neues Zeitalter. Hier lebten an die 800 000 Einwohner, es gab eine Universität, zahlreiche höhere Insti­ tute, Akademien, Bibliotheken sowie Schulen und andere Bildungseinrich­ tungen mit Tausenden von Schülern und Studenten. Zudem erschienen hier jede Menge Zeitungen und Zeitschriften und die Mehrzahl der russischen Bücher. Hier war der Ort, an dem der Verwaltungsapparat und die politische und kulturelle Elite des Landes zusammentrafen. Doch St. Petersburg war auch eine Stadt, in der viele Nationen lebten. Es gab eine beträchtliche deutschsprachige Minderheit, auf den Straßen und in den verschiedenen Vierteln der Stadt hörte man Schwedisch und Finnisch sowie viele andere Sprachen des russländischen Imperiums. In St. Petersburg hatte sich eine zwar kleine, aber bedeutende jüdische Gemeinde etabliert, und die Zahl der jüdischen Studenten, die in diesem Umfeld eine höhere Bildung erwerben wollten, wuchs beständig. Insgesamt lebten zu Beginn der 1880er Jahre etwa 17 000 Juden in der Hauptstadt, jedoch war es schwierig, das Aufenthalts­ recht zu erlangen – viele bezeichneten sich deshalb offiziell als Hausange­ stellte oder Angestellte von Handwerkern und Händlern, um in der Katego­ rie »seltene Berufe« registriert zu werden.11 Gerade die Publizistik war in der Hauptstadt des Zarenreichs gebündelt, ein Großteil der intellektuellen Elite, Schriftsteller, Dichter und Journalisten lebten hier und arbeiteten für Druckereien und Verlage. Vor diesem politi­ schen und kulturellen Hintergrund etablierten sich auch einige der bedeu­ tendsten russischsprachigen jüdischen Verlagsunternehmungen in der Stadt, es fand zudem ein stetiger Zuzug aus anderen Orten und Zentren jüdischer Kultur wie Odessa, Riga, Warschau und Wilna statt.12 In St. Petersburg 11 Zur jüdischen Topografie St. Petersburgs im 19. Jahrhundert vgl. Mikhail Beizer, The Jews of St. Petersburg. Excursions through a Noble Past, hg. von Martin Gilbert, Philadel­ phia, Pa./New York 1989; Yvonne Kleinmann, Neue Orte – neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006; Anke Hilbrenner, Orte des jüdischen St. Petersburg, in: Karl Schlögel/Frithjof Benjamin Schenk/Markus Ackeret (Hgg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a. M. 2007, 77–93. 12 Zur russisch-jüdischen Presse der vorhergehenden Dekade und den Verbindungen der Maskilim zu Vertretern der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums wie dem His­ toriker Isaak Markus Jost (1793–1860) und dem Pädagogen Aaron (Arnold) I. Golden­ blum (1827–1913) siehe die Arbeit von Alexander Orbach, New Voices of Russian Jewry. A Study of the Russian-Jewish Press of Odessa in the Era of the Great Reforms, 1860– 1871, Leiden 1980, bes. 24, 33, 44, 66–68 und 77–80. Zu deutschen Juden als Kulturver­ mittlern im Zuge der Reform des traditionellen Bildungswesens jetzt Tobias Grill, Der Westen im Osten. Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783–

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erschienen ab Ende der 1870er Jahre die »Evrejskaja biblioteka« (Jüdische Bibliothek) sowie die Zeitschriften Razsvet (Die Morgendämmerung) und Russkij evrej (Der russische Jude). Auch eine hebräischsprachige Presse war im Entstehen, einer ihrer Gründer, Alexander Zederbaum (1816–1893), gab hier den wöchentlich erscheinenden Ha-Meliz (Der Fürsprecher) heraus. Diese sich etablierende jüdische Publizistik war in den 1880er Jahren ein wichtiges Forum der Entstehung und Verbreitung neuer, liberaler und auch radikaler, Ansichten und Ideen. Dort konnte erstmals, wenn auch häufig in klandestiner Form, vorsichtige Kritik an den bestehenden politischen und sozialen Verhältnissen formuliert werden. Es entwickelte sich im modernen Medium der jüdischen Presse mithin ein Kommunikations- und Denkraum, der zwar von einem Ort ausging, aber auch Anregungen aus dem gesamten Zarenreich aufnahm und mit Nachrichten und Ideen in Verbindung setzen konnte, die zur gleichen Zeit aus dem westlichen Europa eintrafen. In St. Petersburg war es möglich, die großen europäischen Zeitungen aus Lon­ don, Paris und Berlin neben den druckfrischen russischen Blättern zu lesen, sodass eine publizistische Öffentlichkeit begründet wurde, die an anderen Orten des Imperiums nicht hätte entstehen können.13 Nach seiner Ankunft in St. Petersburg widmete sich Simon Dubnow zunächst dem Selbststudium in den öffentlichen Bibliotheken der russischen Metropole und begann, da er nicht als Nachhilfslehrer arbeiten konnte, mit ersten Arbeiten für ebenjene russisch-jüdische Presse. Er las die eben erst ins Russische übersetzte Geschichte der Juden von Heinrich Graetz (1817– 1891) und plante, für die Presse eine Reihe von Skizzen über die Juden im Mittelalter zu schreiben: »Von den Fragen der Menschheit war ich nun also wieder zu national-jüdischen Problemen zurückgekehrt.«14 Sein erster wis­ senschaftlicher Artikel erschien schließlich im Russkij evrej unter dem Titel Einige Aspekte der Entwicklungsgeschichte jüdischen Denkens, und zwar genau in den Tagen der neuerlichen Pogrome in Südrussland im Frühjahr 1881, wenige Wochen nach dem Attentat auf Zar Alexander II.: »Über dem Land hing die schwarze Wolke der Reaktion.«15 Kurz darauf übernahm Dub­ now für den Chefredakteur des Razsvet Jakow L. Rosenfeld (1839–1885) die Rubrik »Auslandschronik«. Seine Aufgabe bestand darin, anhand 1939), Göttingen/Oakville, Conn., 2013. Zur Rolle Odessas als bedeutendes Zentrum der jüdischen Aufklärung in Russland siehe Steven J. Zipperstein, The Jews of Odessa. A Cultural History, 1794–1881, Stanford, Calif., 1991. 13 Zur Entstehung einer populären Lesekultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland, ihren unterschiedlichen organisatorischen und inhaltlichen Facetten siehe Jeff­ rey Brooks, When Russia Learned to Read. Literacy and Popular Literature, 1861–1917, Princeton, N. J., 1985. 14 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 150. 15 Ebd., 156.

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deutsch- und französischsprachiger Zeitungen wie der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, der Jüdischen Presse und der Archives israélites über die wichtigsten Ereignisse in Europa zu berichten und daraus eine fortlaufende Chronik zu erstellen.16 Bereits im September 1882 schrieb Simon Dubnow für den Voschod den Artikel Sabbatai Zewi und der Pseudomessianismus im siebzehnten Jahr­ hundert, in dem er sich neben einigen anderen Quellen vor allem auf das Werk und die Wertung von Heinrich Graetz bezog.17 Zur gleichen Zeit ent­ wickelte Dubnow eine erste politische Einschätzung der verschiedenen Möglichkeiten, wie die von Pogromen heimgesuchten russischen Juden auf diese neue Gefahr reagieren konnten. Sollten sie emigrieren und wenn ja, wohin? Sollten sie zunächst nach Westeuropa fliehen, oder, da dies nur eine Zwischenstation sein konnte, nach Amerika oder nach Palästina? Hierüber entspann sich in der zeitgenössischen Presse eine heftige Debatte. Eine rasche Besserung der Lage im Ansiedlungsrayon war schließlich nicht zu erwarten. Dubnow tendierte deshalb zur Emigration in das Freiheit und Demokratie verheißende Amerika. Eine weitere wichtige Debatte an jenem Epochenübergang betraf die Sprachenfrage. In welcher Sprache sollten die Juden zukünftig miteinander kommunizieren? Hier gab es Anhänger aller drei Optionen, für das Russi­ sche, das Jiddische und das Hebräische: »In der Zeitung selbst aber«, so schrieb Dubnow in seinen Memoiren, »riß die Diskussion um die Gleichbe­ rechtigung des ›Jargon‹ mit der hebräischen und der russischen Sprache nicht ab.«18 Dubnow selbst votierte damals nur für die Tolerierung des von der großen Mehrheit des jüdischen Volkes gesprochenen Idioms. Die Spra­ chenfrage war insofern eine entscheidende, als nach einer ersten Phase der Russifizierung im Zuge einer nachgeholten Aufklärung der Juden im russ­ ländischen Imperium nun aufgrund der repressiven und konservativen Poli­ tik und der antisemitischen Übergriffe gerade unter der intellektuellen Elite eine Entfremdung von der russischen Sprachkultur einsetzte.19 Es wurde neu 16 Zur europäischen Dimension der Allgemeinen Zeitung des Judenthums und der jüdischen Presse siehe die Hinweise bei Hans Otto Horch, Auf der Suche nach der jüdischen Erzähl­ literatur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837–1922), Frankfurt a. M./Bern/New York 1985, sowie Heidi Knörzer, »Champion[s] de la même cause«? La pensée politique des rédacteurs de l’»Allgemeine Zeitung des Judenthums« et des »Archives israélites« entre Allemagne et France (1848–1914) (thèse de doctorat de l’université de la Sorbonne nouvelle, Paris III, 2011); dies., La presse juive, espace poli­ tique transnational entre la France et l’Allemagne. Le cas des »Archives israélites« et de l’»Allgemeine Zeitung des Judenthums« (1840–1900), in: Archives Juives 46 (2013), Nr. 2, 81–96. 17 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 177. 18 Ebd., 168. 19 Siehe dazu die Hinweise bei Brian Horowitz, Jewish Philanthropy and Enlightenment in Late-Tsarist Russia, Seattle, Wash./London 2009, bes. 75–78.

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diskutiert, die zukünftige Sprache der Judenheiten zum kollektiven Verstän­ digungsmittel zu machen. Der maßgebliche Anteil Simon Dubnows an der Entwicklung des Jiddischen von einer alltäglichen Umgangssprache, die herablassend als »Jargon« bezeichnet wurde, zu einer vollgültigen Literatur­ sprache gerade mit seinen Arbeiten in der Nedel᾿naja chronika »Voschoda« (Wochenchronik des »Voschod«) wurde von dem Schriftsteller und Kritiker Shmuel Niger-Charney (1883–1955) rückblickend wie folgt charakterisiert: »He helped the writers whose chief medium was Yiddish to gain greater confidence in themselves, and, consequently, to achieve better results. He did in Russian that which others were doing in Yiddish: he prepared the soil for the organ of Jewish literary selfconsciousness – for Yiddish literary criticism.«20

Das Jiddische wurde damit auch als eine Bildungssprache etabliert, nicht zuletzt schrieb Simon Dubnow in den 1920er Jahren ein jiddisches Ge­ schichtslehrbuch für Kinder und war Gründungsmitglied des YIVO (Yidisher visnshaftlekher institut).21 Der Erzähler Mordechaj Spektor (1858–1925) und der heute viel bekanntere Schalom Alejchem (1859–1916) schrieben in ihren Memoiren, wie aufmerksam sie die Kritiken von Simon Dubnow gerade über eine sich neu formierende Generation jüngerer und realistisch orientierter Autoren lasen.22 Es gab jedoch auch Stimmen, die der russischen Sprache und der russisch-jüdischen Publizistik und Literatur als den mit der europä­ ischen Kulturentwicklung am ehesten verbundenen einen höheren Rang bei­ maßen. In späteren Jahren äußerte sich Dubnow positiv zur Berechtigung aller drei Sprachen im literarischen Diskurs. Ihm ging es um eine aufkläreri­ sche Demokratisierung der Ideen und um einen erweiterten Literaturbegriff, der sich nicht an einer Elite ausrichtete, sondern das ganze Volk ansprechen sollte. Im russländischen Imperium sollten die Juden Dubnows Meinung zufolge eine dreisprachige Literatur haben: in Russisch, Hebräisch und Jid­ disch. Er versprach sich hiervon einen literarischen Aufschwung, dessen Beginn er später in der Zwischenkriegszeit im Rückblick voller Stolz ver­ merken konnte.23 Gerade diesen vermeintlichen Gegensatz zwischen der Arbeit eines an der aktuellen Politik interessierten Literaturkritikers oder Journalisten und der 20 Samuel Niger-Charney, Simon Dubnow as a Literary Critic, in: YIVO Annual 1 (1946), 305–317, hier 308. 21 Siehe hierzu die deutsche Übersetzung Simon Dubnow, Jüdische Geschichte – für Kinder erzählt, aus dem Jiddischen von Jutta Schumacher, hg. von Marion Aptroot, Göttingen/ Oakville, Conn., 2012; Cecile Esther Kuznitz, YIVO and the Making of Modern Jewish Culture. Scholarship for the Yiddish Nation, New York 2014, bes. Kap. 1: »Language Rai­ sed to the Level of a Political Factor.« Yiddish Scholarship before YIVO, 17–43. 22 Siehe Niger-Charney, Simon Dubnow as a Literary Critic, 311–313. 23 Siehe hierzu kritischer Dan Miron, Simon Dubnow as a Literary Historian, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 10 (2011), 431–443.

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eines Historikers wies Niger-Charney zurück. Er sah beide Berufe eng mit­ einander verbunden, wenn er konstatierte: »For although not every journalist or publicist will develop into a historian, historians are very frequently jour­ nalists.«24 Die unterschiedlichen Modi des Schreibens ergäben sich daraus, dass der Historiker nun einmal mehr an den Geschehnissen der Vergangen­ heit interessiert sei, während der Journalist eher auf aktuelle soziale, politi­ sche und kulturelle Entwicklungen einzuwirken versuche. Jedoch schließe eine solche Unterscheidung das jeweils andere nicht aus. Die Bemühungen um die Entwicklung einer Gesellschaft und Gruppe seien viel enger mitein­ ander verbunden, als es die Zweiteilung in Historiker und Publizisten sug­ geriere. Die Publizistik erscheine in einer solchen Perspektive als eine Geschichte des Jetzt, während die Geschichtsschreibung häufig auf die Pub­ lizistik von einst rekurriere – und eben dieser Bezug charakterisiere den Stil historiografischen Schreibens. Damit verweist Niger-Charney auf die Mög­ lichkeit eines weniger ideologisch, sondern eher linguistisch orientierten und textbasierten Zugangs zum gesamten Œuvre Dubnows: »Both in the literary-critical and in the historical field Dubnow had to devote himself to the collection, selection, analysis, and interpretation of verbal materials. […] The for­ mer was interested in the written documents mainly as a source of literary enjoyment; the latter, as a source of information, or as a factor in the historical process. Yet both of them operate with the same type of material: literary documents.«25

Niger-Charney geht in seiner Einschätzung sogar soweit, Simon Dubnow als einen Grenzgänger zwischen Geschichtsschreibung und Literaturge­ schichte zu beschreiben, eine Position, der Dubnow sich durchaus bewusst gewesen sei, wenn er sich für seine Arbeiten zur Literatur das Pseudonym »Kritikus« zugelegt habe.26 Die berufliche und wirtschaftliche Situation insgesamt war für Dubnow in den frühen 1880er Jahren jedenfalls so frustrierend, dass er selbst an die Emigration und ein Studium im Ausland dachte. Er begann damit, sich intensiv darauf vorzubereiten: »Eifrig widmete ich mich damals auch dem Studium der französischen und deutschen Literatur. Jeden Rubel, den ich von meinem Honorar entbehren konnte, verwandte ich auf den Kauf von Büchern in den Buchläden Petersburgs für fremdsprachige Literatur, mitunter sparte ich mir das Geld dafür auch vom Munde ab. […] Stundenlang durchstö­ berte ich die Reihen der Bouquinisten auf dem Alexandrow-Markt, wo fremdsprachige Bücher in seltenen Ausgaben recht billig zu haben waren. Eines Tages erstand ich dort

24 Niger-Charney, Simon Dubnow as a Literary Critic, 305. 25 Ebd., 306. 26 Simon Dubnow zeichnete seine Beiträge mit verschiedenen Varianten seiner Namensini­ tialen und -endungen und er verwendete Pseudonyme, neben dem bereits erwähnten »Kri­ tikus« waren dies »S. Mstislawski« und »Externus« (ein »Außenstehender«).

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drei Bände Heine-Gedichte in einer Ausgabe, die noch zu Lebzeiten des Dichters erschienen war […]. Als ich Börnes Werke im deutschen Original wiederlas, mußte ich an jene Begeisterung denken, die ich als Jüngling beim Lesen der russischen Überset­ zungen empfunden hatte«.27

Dubnow kaufte fremdsprachige und insbesondere deutsche Literatur häufig in Antiquariaten, ebenso bei dem Buchhändler Walfred Erikson auf dem Wosnessenski-Prospekt.28 Ende Dezember 1885 zum Beispiel schaffte er vier Bände von George Eliot an, erschienen als eine Tauchnitz Edition in Leipzig.29 Zudem übersetzte Dubnow in den Jahren 1882 und 1883 für den Voschod literarische Texte aus dem Deutschen, unter anderem Erzählungen und Aufsätze von Leopold Kompert (1822–1886) und Ludwig Börne.30

Zarische Zensur als publizistische Realität: Der tägliche Kampf um das Wort Schon früh kam Dubnow mit der zarischen Zensur in Berührung und er ent­ warf im Umgang mit ihr verschiedene Strategien. In Russland waren jüdi­ sche Publikationen seit Dezember 1797 generell einer amtlichen Zensur unterworfen. Mag es zu Anfang beabsichtigt gewesen sein, mit dem Eingriff in Druckschriften die Literatur der Juden im Sinne eines obrigkeitsstaatli­ chen und autokratischen Ansatzes zu »bessern«, so überwogen ab Mitte des 19. Jahrhunderts die reine Repression und die amtliche Kontrolle.31 Die Zen­ sur war dabei nicht zentral, sondern lokal und regional organisiert, sodass es in den verschiedenen Rayons und Städten des russländischen Imperiums jeweils eigene Zensurkomitees und Zensoren gab, die durchaus widerstrei­ tende Urteile fällen und eigene Interessen verfolgen konnten. Ziel dieser staatlichen Eingriffe war es insbesondere, das Eindringen aufklärerischer und fortschrittlicher Ideen nach Russland zu verhindern. Dafür wurde ein zensurgestützter »Zaun um das Imperium herum« errichtet, so auch der 27 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 168 f. 28 Laut Adressbuch des deutschen Buchhandels 43 (1881), handelt es sich um W. Erickson & Co., Buch- und Musikalienhandlung in St. Petersburg, Besitzer waren W. Erickson und R. Lieckfeld, vgl. ebd., Abt. I, 84, sowie die Übersicht zu Buchhandlungen in St. Petersburg, ebd., Abt. VI, 314. 29 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 222. 30 Ebd., 178. 31 Siehe dazu die Arbeiten von Dmitrij A. El᾿jaševič, bes. ders., Pravitel’stvennaja politika i evrejskaja pečat’ v Rossii, 1797–1917. Očerki istorii cenzury [Regierungspolitik und jüdi­ sches Druckwesen in Russland, 1797–1917. Studien zur Geschichte der Zensur], St. Petersburg/Jerusalem 1999; ebenso John D. Klier, 1855–1894 Censorship of the Press in Russian and the Jewish Question, in: Jewish Social Studies 48 (1986), H. 3, 257–268.

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sprechende Titel der zu diesem Thema maßgeblichen Studie von Marianna Choldin aus den 1980er Jahren.32 Simon Dubnow notierte für das Jahr 1885, dass mit den scharfen obrigkeitsstaatlichen Eingriffen in jener Phase der politischen Reaktion und antijüdischen Repressalien die Öffentlichkeit ruhiggestellt wurde: »Das Land erstarrte derart, daß im öffentlichen Leben keinerlei Bewegung zu spüren war.«33 Mit den Maigesetzen von 1882, dem Provisorischen Reglement und den Empfehlungen der Kommission von Konstantin I. Graf von der Pahlen zwi­ schen 1883 und 1889 wurden Juden und ihre Druckerzeugnisse als »unver­ besserlich« angesehen; gerade die sich akkulturierenden, russischsprachigen und sich nach Europa ausrichtenden bürgerlichen Juden wurden scharf kon­ trolliert, während die Herausgeber eher traditionellen Schriftgutes, auch in hebräischer und jiddischer Sprache, von staatlicher Seite weniger behelligt wurden. Die zarische Zensur jüdischer Publikationen hatte damit im 19. Jahr­ hundert zwei übergreifende Funktionen: Zum einen diente sie dazu, die Obrigkeit über das Leben, die religiösen Bräuche und kulturellen Entwick­ lungen der Juden zu informieren. Dieses Wissen wurde von der Regierung für Verordnungen und für die Gesetzgebung genutzt. Die Zensurberichte ersetzten und ergänzten Polizeiberichte und vermittelten den Behörden wichtiges Material über die innerjüdischen Entwicklungen und Tendenzen. Andererseits konnte die zarische Regierung mit diesem Mittel einen starken Einfluss auf die jüdischen Gemeinschaften ausüben, indem sie restriktiv gegen kritische Nachrichten und Meinungen wie auch vor allem gegen deren Autoren vorging. Simon Dubnow begegnete beiden Bestrebungen und lernte mit ihnen umzugehen. Als er im Mai 1882 kurz nach der Veröffentlichung der neuen antijüdischen Gesetzgebung im Razsvet einen Leitartikel veröffentlicht hatte, erläuterte er seine diesem zugrunde gelegte Methode der »äsopischen Sprache«: »Die Hauptschwierigkeit bestand darin, das grausame Dekret des Zaren so zu verurtei­ len, daß die Zensur den Artikel nicht verbot. Wenn ich mir meine Improvisation heute ansehe, stelle ich fest, daß ich schon damals jene äsopische Sprache unserer unter Zen­ sur stehenden Presse beherrschte. Ich nutzte den Umstand, daß gleichzeitig mit Inkraft­ treten der provisorischen Bestimmungen ein Regierungsdekret über das Verbot jegli­

32 Marianna Tax Choldin, A Fence around the Empire. Russian Censorship of Western Ideas under the Tsars, Durham 1985. Siehe zu diesen Fragen auch Daniel Balmuth, Censorship in Russia, 1865–1905, Washington, D. C., 1979; sowie die Studie von I[rwin] P. Foote, The St. Petersburg Censorship Committee, 1828–1905, in: Oxford Slavonic Papers N. S. 24 (1991), 60–120; dort auf Seite 79 der Hinweis, dass Vil’yam V. Yuz (1836–1888), ein Mitglied des Zensurkomitees, 1884 seinen Posten verlieren sollte, da er kritische Berichte über die Situation der Juden in Russland ohne Kontrolle hatte passieren lassen. 33 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 215.

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cher ›Gewaltanwendung gegenüber Leib und Gut der Juden, die sich gleichberechtigt mit den anderen Untertanen seiner Majestät unter dem Schutz der allgemeingültigen Gesetze befinden‹, erlassen worden war, und stellte die Frage, wie dieses mit einem Dekret in Übereinstimmung zu bringen sei, das die Juden eines wesentlichen Teiles selbst jener beschnittenen Bürgerrechte beraubte, über die sie früher verfügt hatten.«34

Später bekam Simon Dubnow sogar einen halboffiziellen Auftrag von der Regierung, der also eher einen Versuch gelenkter Information der politisch einflussreichen Kreise darstellte: »Zensor Sabelin hatte einen russischen Herausgeber zu mir geschickt, der mir das Angebot unterbreitete, anläßlich der bevorstehenden Krönung anonym eine Broschüre über die Aufgaben der Herrschaft Alexanders III. zu verfassen. Zuerst wollte ich den Auftrag ablehnen, fand dann aber einen Ausweg aus der verzwickten Lage: Ich pries die Reformen von Alexander II. und zeigte auf, daß die neue Regierung eine Fortset­ zung der vorangegangenen werden müsse, wovon die Erklärung seiner Majestät im Krönungsfest zeugen werde. Dies war eine weitverbreitete Methode der unter Zensur stehenden Presse – unter dem Anschein erlaubter Hoffnungen und Wünsche die tat­ sächliche Regierungspolitik zu kritisieren. Was mit diesem anonymen Pamphlet weiter geschah, ist mir nicht bekannt, die fünfzig Rubel aber, die ich dafür erhielt, kamen mir sehr zustatten, um die Löcher in meiner Haushaltskasse zu stopfen.«35

Aufgrund zunehmender finanzieller Schwierigkeiten des Razsvet wechselte Dubnow schließlich zum Voschod von Landau: »Im Sommer 1882 hatte ich den Chefredakteur des ›Voschod‹ Adolf Landau aufge­ sucht, in der Hoffnung, bei ihm Arbeit zu finden. Landau bot mir an, bis zur Rückkehr des zuständigen Mitarbeiters – des russischen Schriftstellers E. K. Watson – die ›Aus­ landschronik‹ für die ›Wochenchronik des Voschod‹ zu übernehmen.«36

In diese Zeit fiel auch die Berichterstattung über neuerliche Ritualmordbe­ schuldigungen in Tiszaeszlár – ein früher Höhepunkt des nun wissenschaft­ lich argumentierenden ungarischen Antisemitismus –, die zum größten Teil Dubnow übernehmen musste.37 Er schrieb ab der zweiten Jahreshälfte 1882 für den Voschod, zunächst historische Beiträge und später umfangreiche Rezensionen zeitgenössischer Literatur. Von da an arbeitete er regelmäßig 34 Ebd., 173. 35 Ebd., 177. Der Zensor Aleksej I. Sabelin (geb. 1822), Absolvent der Moskauer Universi­ tät, war Historiker und seit 1872 Mitglied des Synod, der obersten Kirchenbehörde im Zarenreich. Er galt als gemäßigt, und Dubnow übersetzte für ihn aus dem Französischem einige Schriften des protestantischen Pastors Eugène Bersier (1831–1889) sowie histori­ sche Materialien zur Bauernbewegung während der Französischen Revolution. Vgl. ebd., 175; Foote, The St Petersburg Censorship Committee, 115 f. 36 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 173. 37 Siehe dazu zeitgenössisch Paul Nathan, Der Prozess von Tisza-Eszlár. Ein antisemitisches Culturbild, Berlin 1892, sowie Hillel J. Kieval, The Rules of the Game. Forensic Medicine and the Language of Science in the Structuring of Modern Ritual Murder Trials, in: Jewish History 26 (2012), 287–307.

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für die Zeitschrift, er betrachtete sie als das »führende Organ der russischjüdischen Literatur, das für eine ganze Generation von Intellektuellen prä­ gend war«.38 Er konnte sich hier relativ unabhängig äußern, denn die allge­ meine politische Ausrichtung der Redaktion war vor allem in der Nedel᾿naja chronika greifbar, weniger in den literarischen Kritiken für den Voschod. Im regulären Teil der Zeitschrift erschien im Jahr 1891 in russischer Sprache der folgenreiche Aufruf Simon Dubnows an die jüdischen Gemeinden zur Sammlung, Ordnung und Erforschung der eigenen Überlieferung für die his­ torische Arbeit am nationalen Gedächtnis der osteuropäischen Judenheit.39 Das Unternehmen des Voschod war eng an die Persönlichkeit Adolf Lan­ dau gebunden. Der 1842 in einem kleinen Städtchen in der Nähe von Kowno geborene Landau war fast zwei Jahrzehnte älter als Dubnow. Von 1855 bis 1862 hatte er am Rabbinerseminar in Wilna studiert, die Ideale der Haskala begeisterten ihn und früh schon schrieb er für die russisch-jüdische Presse. Im Jahr 1862 kam er nach St. Petersburg, um Rechtswissenschaften zu stu­ dieren. Er setzte seine publizistische Tätigkeit fort und konnte 1872 eine Druckerei und einen Verlag gründen. Als Autor, Redakteur, Herausgeber und Verleger vereinigte er in seiner Person jene Funktionen, die den Bedürf­ nissen der soeben sich etablierenden russisch-jüdischen Verlags- und Lese­ kultur entsprachen. So war er unter anderem Initiator der »Evrejskaja biblio­ teka« (Jüdische Bibliothek), einer im Jahresrhythmus erscheinenden Schriftenreihe zur Emanzipation der Juden in Russland. Ende des Jahres 1880 erhielt Landau die Erlaubnis, die Monatszeitschrift Voschod herauszu­ geben, der er später, 1882, noch die Zeitung Nedel᾿naja chronika »Voschoda« anfügte, wo er sein liberales Programm fortsetzte. Im Voschod sprach man sich für die Emanzipation der russischen Juden und deren bürgerliche »Ver­ besserung« aus und kritisierte – zwischen den Zeilen – die repressive Politik im Zarenreich. Die Zeitschrift ist, gerade mit ihrer ausführlichen Berichter­ stattung über die verschiedenen Pogrome in den 1880er Jahren, aus heutiger Sicht so etwas wie ein Archiv jüdischer Existenzerfahrung und sie spiegelt die reformorientierten Diskurse jener Jahre in besonderer Deutlichkeit. Der Voschod konnte den aufgeklärten russisch-jüdischen Intellektuellen bei einer Anfangsauflage von 1 000 Exemplaren, die sich auf über 2 800 Exemplare 38 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 179. 39 Simon Dubnow, Iz izucheniia istorii russkikh evreev i ob uchrezhdenii istoricheskogo obshchestva [Über das Studium der Geschichte der russischen Juden und die Einrichtung einer historischen Gesellschaft], in: Voschod 4 (1891), H. 9 (April/September), 1–91. Siehe die englische Übersetzung: ders., Let us Seek and Investigate. An Appeal to the Informed among us Who are Prepared to Collect Material for the Construction of a History of the Jews in Poland and Russia, eingeleitet und annotiert von Laura Jockusch, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 7 (2008), 343–382.

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im Jahr 1885 steigerte, ein Publikationsforum bieten.40 Landau besaß das besondere Privileg, dass seine Zeitschrift nicht der Vorzensur unterlag: »Während der Zensor gewöhnlich jegliche freie Meinungsäußerung bereits aus Manu­ skripten oder Korrekturfahnen mit roter Tinte strich, entschloß er sich hier nur im äußersten Falle dazu, eine bereits gedruckte Ausgabe der Zeitschrift zu konfiszieren. Landau nutzte dieses Privileg weidlich aus und placierte in seinen Blättern recht scharfe regierungsfeindliche Artikel. Oft lud man ihn in die Hauptabteilung für Presse­ wesen vor, hin und wieder wurde die aufsässige Zeitschrift vom Innenminister auch verwarnt, und im Jahre 1891 ließ der Minister die Zeitschrift nach einer dritten derarti­ gen Verwarnung sogar für ein halbes Jahr einstellen. Der Herausgeber jedoch war stolz auf die Strafmaßnahmen, die ihm gleichsam ein Zeugnis für seinen politischen Mut ausstellten. Chefredakteur Landau besaß noch eine weitere Eigenschaft – er ließ sämtli­ che Beiträge jener Autoren, die schreiben konnten, unredigiert und gab ihnen damit die Möglichkeit, die radikalsten Meinungen zu vertreten.«41

Die Auswirkungen der Zensur nahmen schon nach der Rückkehr Simon Dubnows aus Mstislawl im August 1885 spürbar zu; der Razsvet und auch der Russkij evrej waren bereits seit dem Vorjahr eingestellt. Einzig Landaus Zeitschrift existierte noch: »Lediglich der ›Voschod‹ konnte sich mit seinen beiden Ausgaben halten, der wöchent­ lichen und dem Monatsjournal, doch auch über ihm hing das Damoklesschwert der Zensur, nachdem das Ministerium ihn zweimal wegen ›schädlicher Tendenz‹, das heißt wegen seiner kritischen Berichterstattung über die Regierungsmaßnahmen gegen die Juden, verwarnt hatte.«42

1883 übernahm Dubnow im Voschod das Ressort für literarische Kritik. Er schrieb größere literaturkritische Artikel sowie Sammelrezensionen der aktuellen Veröffentlichungen und daneben an einer fortlaufenden Bibliogra­ fie. »Als Anhänger der russischen Literaturkritik, die sämtliche Bereiche von Philosophie und Publizistik mit einbezog, konnte ich in den Artikeln meine radikalen Überzeugun­ gen darlegen, wobei ich mehr auf den Anlaß der Bücher als auf ihren Inhalt einging.«43

Dubnow rezensierte die gesamte Spannbreite der literarischen Neuerschei­ nungen, unter anderem auch die russische Übersetzung des fünften Bandes der Geschichte der Juden von Heinrich Graetz, die von dem russisch-jüdi­ schen Historiker und Orientalisten Abraham (Albert) Harkavy (1835–1919) mit ausführlichen Anmerkungen versehen worden war. Bereits diese kriti­ 40 Zur Bedeutung von Zeitschriften in der russischsprachigen jüdischen Intellektuellenkultur siehe auch Verena Dohrn, Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integra­ tion im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Berlin 2008. 41 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 180. 42 Ebd., 216. 43 Ebd., 181.

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schen Arbeiten kündigten spätere Themen Dubnows an; so verwies er in die­ ser Rezension »zum ersten Mal auf die von mir später weiterentwickelte These über die Beziehung zwischen der zunehmenden talmudischen Geset­ zeskunde und der beträchtlichen Autonomie der Juden in Babylonien.«44 Dubnow setzte sich für die Entwicklung einer modernen jüdischen Literatur ein, die er an »europäische Schreibmaßstäbe« heranzuführen hoffte, und pflegte persönliche Beziehungen zu Autoren wie Grigorij Bogrov (1825– 1885) und Nikolaj Leskov (1831–1895).45 Später reflektierte Dubnow sein eigenes Arbeiten unter Pseudonym: »Kritikus war überhaupt außerordentlich streng in seinen Urteilen, denn er legte euro­ päische Kriterien an eine Literatur an, die sich gerade erst europäischen Formen anzu­ nähern begann. Er mußte gegen Primitivität ankämpfen und andererseits gegen die Nachahmung eines billigen Modernismus.«46

Dabei war Dubnow in seiner Rolle als Kritiker durchaus umstritten: »Die Rolle des Berichterstatters über Neuerscheinungen bescherte Kritikus aber nicht nur zahlreiche Freunde wie Schalom Alejchem und andere Autoren, sondern auch Geg­ ner unter jenen, die von seinen scharfen Reaktionen auf ihre ersten unreifen Werke ver­ letzt waren.«47

Dubnow entwickelte sich in jener Zeit zu einem starken Anhänger der Reform der Juden: »In einer Reihe historischer und literaturkritischer Artikel im Voschod vertrat ich beharrlich die Idee der Antiquiertheit der bisherigen Formen des Judaismus und der Notwendigkeit grundlegender Reformen. […] Meine Monographie ›Jakob Frank und seine christianisierende Sekte‹, die in den Voschod-Ausgaben 1883 erschien, war ent­ sprechend reformistisch gefärbt.«48

Dies kam vor allem in seinem Artikel Welche Selbstemanzipation brauchen die Juden? zum Ausdruck, in dem er auf die soeben in deutscher Sprache erschienene Schrift Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden des Journalisten und protozionistischen Den­ kers Leon Pinsker (1821–1891) rekurrierte. Nach Dubnows Auffassung sollte eine »Erneuerung des Judentums […] gleichzeitig von zwei Seiten her einsetzen – mit der bürgerlichen Emanzipation und der geistigen Selbst­ emanzipation«.49 In seinen Rezensionen lehnte er sich dabei, trotz einiger Kritik, zunächst an die Ideen des deutschen Reformjudentums an: 44 Ebd., 182. 45 Ebd., 182 f. Dort auch über die Verstümmelung eines Artikels von Simon Dubnow durch Leskov. 46 Ebd., 236. 47 Ebd., 237. 48 Ebd., 187. 49 Ebd., 188.

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»Leidenschaftlich verteidigte ich die westliche Sicht auf das Judentum als Religionsge­ meinschaft, die der Reform bedürfe, und sprach mich gänzlich gegen die nationale Konzeption aus, wobei ich mich auf Ludwig Philippson und seine Mitstreiter stützte – kurz, ich nahm eine Haltung ein, die ich fünfzehn Jahre später mit sämtlichen Mitteln historischer Beweisführung bekämpfen sollte.«50

Diese Artikelserie von Herbst 1883 wurde in der Öffentlichkeit durchaus kritisch aufgenommen, da sie den Eindruck einer revolutionären Proklama­ tion hinterließ. Jüdische Honoratioren wie Abraham Harkavy, der Professor für Medizin Nikolai Bakst (1842–1904) und weitere aus dem Umfeld von Baron Horace O. Ginzburg (1833–1909), des gesamtjüdischen Stadlans bei der russischen Regierung, wurden bei Landau vorstellig, um ihre Ablehnung kundzutun.51 Dabei ging es Dubnow vor allem um eine Antwort auf die drängende »jüdische Frage«, die er sich als einen Dreischritt aus Reform des Judentums, bürgerlicher Emanzipation und Bildungsreform vorstellte.52 Obwohl Dubnow in seinen Artikeln vor allem historisch argumentierte, wurde Landau nahegelegt, dass er als Autor für den Voschod nicht mehr tragbar sei; einige Abonnenten hätten sich beschwert: »Deshalb beschloß Landau mit meinem Einverständnis, meine Artikel vorerst nicht mit vollem Namen erscheinen zu lassen.«53 Dubnow schrieb also unter Pseudonym wei­ ter für den Voschod. Er wurde einer der wichtigsten Mitarbeiter von Adolf Landau, der ihn während seiner längeren Europareisen im Sommer mit der Leitung der Redaktion beauftragen wollte. In der zweiten Phase seiner Arbeit für Landau schrieb Dubnow weiter gegen den zunehmenden Antisemitismus an, so auch gegen die Schriften des Philosophen Eduard von Hartmann (1842–1906), er verwies auf die neu entstehende hebräischsprachige Publizistik sowie auf Kulturbilder aus dem Leben der galizischen Juden von Nathan Samuely (1846–1921). Gleichzei­ tig begann er sich mit der Geschichte der jüdischen Mystik von der Kabbala bis zum Chassidismus zu beschäftigen.54 Er rezensierte Theodor Mommsens Römische Geschichte, Ernest Renans Ursprünge des Christentums und Karl 50 Ebd., 190. 51 Ebd., 192. Der Sohn von Horace O. Ginzburg, David H. Ginzburg (1857–1910), begrün­ dete im Winter 1907/08 die »Kurse für Orientalistik«, in deren Rahmen Simon Dubnow Vorlesungen und Seminare abhielt. Siehe die Erinnerungen von Zalman Shazar, Baron David Günzberg and His Academy, in: The Jewish Quarterly Review N. S. 57 (1967), 1–17, zu Dubnow hier bes. 5–9. 52 Der letzte Teil dieser Serie erschien im Voschod unter Pseudonym in den Ausgaben Mai bis Juli 1885. Landau hatte den Artikel mit zurückhaltenden Anmerkungen ergänzt, auch um die Abonnenten und die kritischen St. Petersburger Honoratioren nicht zu verschre­ cken. Siehe Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 209. Die Serie hatte Landau angeblich 500 Abonnenten gekostet, siehe ebd., 216. 53 Ebd., 198. 54 Ebd., 216–218.

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Emil Franzos’ Novellensammlung Die Juden von Barnow.55 Dubnow befand sich jetzt an einem Wendepunkt, er schrieb, die »›Sturm-und-Drang‹Periode meines Lebens ging ihrem Ende entgegen, und es begann eine nach­ denklichere, ruhigere, vor allem historisch und psychologisch fundierte Bewertung der Erscheinungsformen des jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart.«56

Die Aufnahme liberaler Ideen durch Übersetzungen aus dem Deutschen – Ludwig Börne als Leitfigur Für seine Berichte im Voschod und für die eigenen Arbeiten griff Dubnow neben weiteren westeuropäischen Zeitungen und Zeitschriften vor allem auf die Allgemeine Zeitung des Judenthums zurück, die in Magdeburg seit Mai 1837 von Ludwig Philippson (1811–1889) redigiert wurde und über Jahr­ zehnte hinweg das zentrale Organ des deutschsprachigen Reformjudentums war.57 Gedruckt wurde diese Zeitung in Baumgärtners Buchhandlung zu Leipzig im Jahr 1881 in einer Auflage von 1 000 Exemplaren.58 Baumgärtner übernahm auch die Expedition und teilte dies im Adressbuch des deutschen Buchhandels wie auch im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel durch Anzeigen mit. Mit der Allgemeinen Zeitung des Judenthums eng verbunden war das von Philippson gegründete Institut zur Förderung der israelitischen Literatur, das von 1855 bis 1873 tätig war; zu den hier veröffentlichten Schriften gehörte unter anderem die Erstausgabe von gleich mehreren Bän­ 55 Siehe ebd., 224 f. 56 Ebd., 225 f. 57 Zu Leben und Werk Ludwig Philippsons siehe zeitgenössisch M[oritz Meyer] Kayserling, Ludwig Philippson. Eine Biographie, Leipzig 1898, sowie Johanna Philippson, The Phi­ lippsons, a German-Jewish Family 1775–1933, in: Leo Baeck Institute Yearbook 7 (1962), 95–118; dies., Ludwig Philippson und die »Allgemeine Zeitung des Juden­ tums«, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hgg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, 243– 291; Christhard Hoffmann, Analyzing the Zeitgeist. Ludwig Philippson as Historian of the Modern Era, in: Lauren B. Strauss/Michael Brenner (Hgg.), Mediating Modernity. Challenges and Trends in the Jewish Encounter with the Modern World. Essays in Honor of Michael A. Meyer, Detroit, Mich., 2008, 109–120; Andreas Gotzmann, Die Brillanz des Mittelmaßes. Ludwig Philippsons bürgerliches Judentum, in: Giuseppe Veltri/Chris­ tian Wiese (Hgg.), Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2009, 147–174. 58 Siehe hierzu das Adressbuch des deutschen Buchhandels 43 (1881), 1. Abthl., 19; sowie Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 479. Lässig nennt für die Jahre 1848 und 1861 die Auflagenhöhe von 1 600 Exemplaren der Allgemeinen Zeitung des Judenthums.

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den der Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart von Heinrich Graetz.59 Der Zusammenschluss beider Unternehmungen von Ludwig Philippson kann somit als ein Modell angesehen werden, das seit den 1860er Jahren von reformorientierten russisch-jüdischen Intellektuellen adaptiert wurde. Es gleicht der Evrejskaja enciklopedija (Jüdische Enzyklo­ pädie, 1906–1913), die als wichtige enzyklopädische Zusammenfassung zur osteuropäischen jüdischen Geschichte und Kultur im Verlag von Ilja A. Efron (1847–1917) erschien, dem St. Petersburger Verleger, der zwischen 1890 und 1907 die russischsprachige Adaption des brockhausschen Konver­ sationslexikons veröffentlicht hatte.60 Leipzig war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl der wich­ tigste Knotenpunkt des Verlagswesens in Zentraleuropa – dies vor allem auf­ grund des dort tätigen herstellenden Buchgewerbes, der großen Zahl von Druckereien und Buchbindereien, aber auch wegen der ansässigen Kommis­ sionsbuchhandlungen und Antiquariate. Die sächsische Handels-, Messeund Universitätstadt Leipzig war die Schnittstelle für den gesamten europä­ ischen Buchhandel, oder wie es im Adressbuch des deutschen Buchhandels für das Jahr 1855 hieß: »Leipzig ist der Hauptstapel- und Commissionsplatz des gesammten deutschen und zum Theil auch ausländischen Buch-, Kunst- und Musikalienhandels. Wie bedeutend allein das Commissionsgeschäft ist, wird schon daraus hervorgehen, dass gegenwärtig gegen 2 000 auswärtige Firmen von 77 hiesigen Commissionären besorgt werden.«61

Das Buchwesen im zarischen Vielvölkerimperium war in größerem Maß zentralisiert, die dort verkauften Presse- und Druckerzeugnisse als materi­ elle Träger des zeitgenössischen Wissens wurden teils importiert und adap­ tiert. Dazu waren die Buchhandlungen in St. Petersburg, Moskau, Wilna, Riga, Kiew und Minsk an das Leipziger System angeschlossen. Die Importe aus Westeuropa wurden kontrolliert, viele der Bücher und Zeitschriften wur­ den zensiert. Der »Kaviar« der russischen Zensoren – so wurden die Schwärzungen von missliebigen Stellen mit Tinte genannt – fand sich nicht nur auf Einträgen, die die Zarenfamilie oder aktuelle politische Entwicklun­ gen betrafen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel berichtet, dass Druckerzeugnisse in Russland als äußerst »brisant« galten: 59 Zum Institut für Israelitische Literatur siehe ebd., 501–503, sowie Nils Roemer, German Jewish Reading Cultures, 1815–1933, in: Aschkenas 18/19 (2008/2009), Nr. 1, 9–23, bes. 13–15. 60 Siehe dazu Erhard Hexelschneider, Vom deutschen »Conversations-Lexikon« zum russi­ schen »Enzyklopädischen Wörterbuch«. Zur Entstehungsgeschichte des Brockhaus/Jef­ ron, in: Manfred Hettling u. a. (Hgg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, 663–677. 61 Adressbuch des deutschen Buchhandels 17 (1855), 6. Abthl., 147.

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»Das Buch wird bei uns in Rußland in den leitenden Kreisen als ein stark wirkendes Mittel angesehen, und dementsprechend wird daher der Buchhandel in eine Reihe gestellt mit dem Handel mit Feuerwaffen, Schießpulver, Dynamit und ähnlichen gefährlichen Gegenständen.«62

Simon Dubnows Übersetzung einer Rezension von Ludwig Börne unter dem Titel Der ewige Jude erschien mit einem eigenen Vorwort im Novem­ ber- und Dezemberheft des Voschod im Jahr 1882.63 Diesem Text Börnes eignete eine besondere, diskursive Strategie. Der Autor hatte, quasi in einer zweiten Schicht des Textes, in der er heftige Kritik an einem judenfeindli­ chen Buch übte, seine Erfahrungen in der nichtjüdischen Umwelt verallge­ meinert und gleichzeitig Aussagen zur politischen und literarischen Kultur im Deutschland der 1820er Jahre getroffen. Börne sprach seine Leser in einem dichten, aufgeklärten und dialogischen Stil direkt an. Wenn Dubnow nun, fast sechzig Jahre später, diesen Text für den Voschod übersetzte, so kann man dies als eine Form der nachgeholten Emanzipation begreifen. In seinem Vorwort verband Dubnow das Wirken des Publizisten Börne mit dem Kampf für die Emanzipation der Juden und verwies dabei auf Heinrich Heine und Heinrich Graetz sowie auf dessen Geschichte der Juden. Dubnow hatte einen Aufsatz übersetzt, der in der zweibändigen russischen Ausgabe der Schriften Ludwig Börnes von I. Weinberg aus dem Jahr 1869 fehlte und dem er für die Entwicklung der politischen Kultur im zarischen Russland hohe Bedeutung beimaß. Dubnow konnte hier eine literarisch anspruchsvolle Methode aufzeigen, mit der auf antijüdische Vorwürfe zu reagieren war; zugleich verwies er mit der Übersetzung des Textes auf das Werk eines deutschsprachigen literari­ schen Publizisten, der in der Emanzipationsgeschichte der deutschen Juden eine wichtige Rolle gespielt hatte und der sich dem Kampf für die Freiheit des Geisteslebens verschrieben hatte. Indirekt richtete Dubnow damit auch das Augenmerk auf die politischen Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789, auf deren Verdienste um die rechtliche Gleichstellung

62 Traugott Pech, Vom russischen Buchhandel, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhan­ del 1905, H. 205, 7655, zit. nach Roswitha Loew, »… aber das Buch befindet sich in der Riemerreihe neben Pferdegeschirren, Kumten, Peitschen«. Aus den rußlandkundlichen Materialien des Leipziger »Börsenblatts für den deutschen Buchhandel«, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 5 (1995), 245–280, hier 247. Traugott Pech (1838–1913), sorbischer Buchhändler und Publizist, war langjähriger Russlandreferent des Börsenblatts und als Bibliograf und Übersetzer für den deutsch-slawischen Kulturtransfer tätig. 63 Das von Börne rezensierte Machwerk war Johann Ludolf Holst, Das Judenthum in allen dessen Teilen. Aus einem staatswissenschaftlichen Standpunkte betrachtet, Mainz 1821. Siehe S[imon] D[ubnow], in: Voschod 2 (1882), H. 11/12 (November/Dezember), 154– 198. Börnes Ausgangstext ist vollständig übersetzt auf den Seiten 160–198.

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der Juden in Westeuropa. Schließlich hatten die Juden, so bemerkte es Börne in seiner Rezension, während der Zeit der napoleonischen Gesetze »in Hamburg und Frankfurt volle Bürgerrechte [genossen] und – ich habe es gesehen – Ihr habt friedlich mit ihnen gelebt und manche Äpfelweinbrüderschaft mit ihnen getrunken. Noch einige Jahre länger der Gleichheit und Ihr hättet Eure Schwäche ganz überwunden.«64

Auch die von dem Staatswissenschaftler Ludolf Holst als Strategie des Ver­ steckens gedeutete Annahme neuer Namen, ein Thema, das während der Russifizierung der Juden ebenfalls eine große Rolle spielte, hatte Börne bereits als eine aufgrund historischer Erfahrungen geübte Form der Akkultu­ rierung bezeichnet: »Die Juden thaten Recht, die Welt und sich selbst dieses ihres Namens zu entwöhnen; denn die Vorstellung von Sclaverei und Unehre war mit diesem Namen unzertrennlich verbunden, und Worte, diese furchtbaren geheimen Oberen der Welt, regieren im Ver­ borgenen. Der Name Israeliten ist keine Gotteslästerung; er bedeutet nicht Männer über Gott, sondern Männer, die gottähnlichen Wesen gleich sind. Die Bibel gibt darü­ ber die nöthige Auskunft.«65

Abschließend hatte Börne auf die Latenz der antijüdischen Vorurteile ver­ wiesen und die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte als Grundlage eines zukünftigen gerechten Handelns gefordert: »An Euch wende ich mich jetzt, die Ihr gegen Juden nicht feindlich redet, sondern nur so handelt. Und wahrlich, unverständig tun, ist verständiger, als unverständig reden; denn Taten widerlegt man nicht. Ich liebe nicht den Juden, nicht den Christen, weil Jude oder Christ! Ich liebe sie nur, weil sie Menschen sind und zur Freiheit geboren. Freiheit sei die Seele meiner Feder, bis sie stumpf geworden ist, oder meine Hand gelähmt. Leben ist Lieben, Ihr aber seid Sclaven Eures Hasses.«66

Börnes Essay zog weite Kreise und wurde später, in der Epoche des rassis­ tisch begründeten Antisemitismus, als nachgerade klassische Verteidigungs­ schrift immer wieder aufgelegt.67 Ludwig Börne war Dubnow ein Vorbild. Als Juda Löb Baruch geboren, wurde Börne einer der größten deutschen Literaturkritiker und später zum Gegenspieler Heinrich Heines. Sein jugendlicher Konflikt zwischen Juden­ tum und Deutschtum gipfelte in dem im Alter von 21 Jahren geschriebenen Brief an seinen Vater, in dem er mutig fragte: 64 Ludwig Börne, Der ewige Jude, in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Inge und Peter Rippmann, 5 Bde., Düsseldorf 1964–1968, Bd. 2, 1964, 494–538, hier 528 (57 nach der Ausgabe Wien 1885). 65 Ebd., 535 f. (65, dto.) (Hervorhebungen wie im Original). 66 Ebd., 537 (66, dto.) (Hervorhebung wie im Original). 67 Siehe die Ausgabe: Ludwig Börne über den Antisemitismus. Ein Mahnruf aus vergange­ nen Jahren, Wien 1885.

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»Aber wenn ich darum zurückgesetzt werde, weil ich ein Jude bin, was bleibt mir dann übrig, als mit Wort und Schwert das graue Vorurtheil zu vernichten und meine Rettung in meinem Muthe zu suchen? Soll denn die erstorbene Zeit aus ihrem Grabe heraufstei­ gen, soll sich die Gegenwart verjüngen um zwanzig Jahre, und dem Schicksal befehlen mir eine Christin zur Mutter zu geben?«68

Damit war programmatisch angedeutet, dass nur eine bürgerliche Reform und Aufklärung der gesamten Gesellschaft den Juden die politische und humane Gleichstellung bringen konnte. In seiner Rezension Der ewige Jude richtete Börne an die Kritiker Mendelssohns, an überheblich arrogante Christen und eifernde Rabbiner gleichermaßen, die Frage: »Wenn Mendels­ sohn aus dem Umgange mit christlichen Gelehrten gewonnen, schmälert das seinen Wert?«69 Dabei hatte Ludwig Börne die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Öf­ fentlichkeit immer wieder gefordert und als dringende Voraussetzung für die politische Emanzipation verstanden. In der Ankündigung der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst« Die Wage hatte er bereits im Jahr 1818 geschrieben: »Wie zahlreiche Straßen und Kanäle, die durch das Gebiet eines Landes kreuzen, immer für Anzeichen eines gutgeordneten und reichen Staates gehalten worden, da viele Wege auf häufige Bewegung deuten, und durch sie große und mannichfaltige Kräfte sich verkünden, so zeugt es nicht minder von einem lebhaften Umtausche der Gedanken, wenn ihrer freien und schnellen Mitteilung viele Wege offen stehen.«70

Dubnow wie Börne ging es insbesondere um die Einrichtung eines Kommu­ nikationssystems, das die Artikulation alternativer Meinungen und liberaler Ideen einschloss. Auch polemischen und satirischen Journalismus verstan­ den sie beide als eine dialogische Einrichtung, die das gesamte Publikum, die gesamte literarische Öffentlichkeit vertrat, selbst wenn an ihr nicht die große Mehrheit der Bevölkerung teilhaben konnte – sei es aufgrund hoher Kosten für Zeitschriften und Zeitungen oder aufgrund noch unzureichender Lesefähigkeiten. 1886 rezensierte Simon Dubnow die eben erschienene Börne-Biografie des Journalisten und populären Literaturkritikers Konrad Alberti (1862– 1918) sowie die Geschichte der jüdischen Literatur (1885) von Gustav Kar­ 68 Abgedruckt bei Inge Rippmann, Börne-Index. Historisch-biographische Materialien zu Ludwig Börnes Schriften und Briefen, Berlin 1985, Anhang, 1167–1172, hier 1172. Zit. nach Willi Jasper, Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne. Eine Biographie, Hamburg 1989, 60. 69 Börne, Der ewige Jude, 510. 70 Ludwig Börne, Kritische Schriften, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Edgar Schu­ macher, Zürich/Stuttgart 1964, 306. Zit. nach Peter Uwe Hohendahl, Literaturkritik in der Epoche des Liberalisms (1820–1870), in: ders. (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur­ kritik (1730–1980), Stuttgart 1985, 129–204 und 353–360, hier 136 f.

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peles (1848–1909), Historiker, Journalist und später Mitbegründer des Ver­ bands der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, für den Voschod: »Hier zollte ich meinem jugendlichen Börne-Kult erneut Tribut. Ich hielt es für meine Pflicht, ihn gegen den Vorwurf, er habe sich um des persönlichen Vorteils willen taufen lassen, zu verteidigen, und wies nach, daß er dies tat, um im politischen Kampf größe­ ren Handlungsspielraum zu erlangen, und somit ein Marrane neuen Typs war.«71

Aus der Auseinandersetzung mit Karpeles entwickelte Dubnow eine eigene Auffassung über die Rolle und Aufgaben der jüdischen Literatur: »Ich vertrat hier meine Grundthese, daß die gesamte Geschichte der jüdischen Literatur von zwei parallel verlaufenden Richtungen gekennzeichnet sei – einer nationalen und einer universalen. In den biblischen Schriften ist es der Parallelismus von Tora und Pro­ pheten, in den nachbiblischen […] der von Halacha und Aggada […], in den mittelalter­ lichen Schriften ist es der Parallelismus von Rabbinismus und Religionsphilosophie und so weiter. Der Wandel in meinen historischen Anschauungen kommt darin zum Aus­ druck, daß ich hier vor allem die Wechselbeziehung dieser beiden Richtungen heraus­ stellte und weniger ihre Gegensätzlichkeit. […] Überhaupt läßt sich seit 1886 in meinen Arbeiten immer deutlicher eine Hinwendung zur evolutionären Methode der Erfor­ schung von Geschichte und Gegenwart erkennen statt der bisherigen revolutionären.«72

Später nahm Dubnow gerade vor diesem Hintergrund sein Nachdenken über die Sprache wieder auf, wobei vor allem seine Einschätzung der Rolle des Jiddischen in der jüdischen Kultur Osteuropas jener Zeit Folgen zeitigte.73

Zusammenfassung Das Verlags- und Publikationswesen der russischen Judenheit kann als ein vom deutschsprachigen Modell inspiriertes System beschrieben werden. Doch gab es hierzu auch eine Gegenbewegung, eine Migration des Wissens von Ost nach West, die vor allem in der zeitgenössischen Lesebewegung sichtbar wird. Schaut man etwa in den Katalog der 1880 gegründeten Biblio­ thek des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Königsberg aus dem Jahr 1910, so sind hier die ausleihbaren Titel für die über 170 Mitglieder in drei Kategorien aufgelistet: Man erkennt eine hebräische, eine deutsche und eine russische »Abteilung«; die jeweilige Nummerierung bezeichnet den Zeitpunkt der Anschaffung.74 Hier findet man auch die Bände des Voschod – 71 72 73 74

Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 229. Ebd. Ebd., 226. Katalog der Bibliothek des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1910.

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mit einer sehr niedrigen Nummerierung – und die Werke Simon Dubnows, etwa Die Grundlagen des Nationaljudentums in deutscher Übersetzung von Israel Friedländer (1876–1920) sowie in russischer Sprache einen Band der Allgemeinen Geschichte der Juden. Die öffentlichen jüdischen Bibliotheken und Lesehallen waren dabei von besonderer Bedeutung für die Formierung einer spezifischen Intellektuellenkultur unter den Juden des östlichen Euro­ pas, die Verbreitung bürgerlich orientierter Bildungs- und Lebensmodelle sowie die Ausbildung moderner, teilweise nationalisierender und konkur­ rierender Formen jüdischer Zugehörigkeit.75 Simon Dubnow entwarf in jener Zeit viele der später von ihm mit großer Energie vorangetriebenen größeren wissenschaftlichen Projekte. Vor allem die Arbeit für die russisch-jüdische Presse, namentlich den Voschod mit sei­ nem Herausgeber Adolf Landau, war es, die seine zukünftige historiografi­ sche Arbeit vorbereitete und hier, in dieser Zeit, lagen auch die Anfänge für eine spezifische Form des Schreibens, die eine weite, universale historiogra­ fische Ausrichtung mit detaillierten, quellenbasierten Analysen verband. Dabei spielten die Entstehung und die Möglichkeiten der neuen, modernen Publikationsformen und Medien des europäischen, verschiedene Sprach- und Kulturtraditionen verbindenden Verlagswesens eine entscheidende Rolle, die sich gerade in der sich allmählich diversifizierenden jiddisch-, hebräisch- und russischsprachigen Verlagslandschaft zeigte. In diesem kulturellen Segment wurden Publikationsmodelle westeuropäischer Publizisten und Verlage adap­ tiert, es wurden in diesem Übergang jedoch spezifische Formen der Verbrei­ tung des Wissens entwickelt, die sich an den Bedürfnissen der Lesegemein­ schaften im zarischen Imperium ausrichteten. Gleichzeitig konnten auf dem Wege einer solchen kreativen Adaption Strategien erprobt werden, die res­ triktive zarische Zensur zu umgehen und die russische Judenheit betreffende politische, gesellschaftliche und kulturelle Themen zu artikulieren. Vor diesem Hintergrund hatte die Tradition der Literaturkritik des Vor­ märz in Deutschland – wie sie Heinrich Heine und Ludwig Börne in der Auseinandersetzung mit der Restauration unter dem System Clemens Fürst von Metternichs repräsentierten – auf den Publizisten und Historiker Simon Dubnow in den 1880er Jahren einen entscheidenden Einfluss. Hier entdeck­ ten er und andere russischsprachige jüdische Intellektuelle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Spektrum an Modellen und Möglichkeiten, die Einschränkungen der Zensur zu umgehen und damit der kritischen Publi­ zistik eine Öffentlichkeit zu geben.

75 Siehe Veidlinger, Jewish Public Culture in the Late Russian Empire, 25–61.

Aus der Forschung

Gal Hertz

Spiegelmenschen: Karl Kraus und Franz Werfel über Sprache und Identität »Das Kunstwerk sei eine Spiegelung, aber die echte Kritik vermöge als die ›Spiegelung jener Spiegelung‹ eben mehr.« Karl Kraus1 »Das falsche Ich befreit, das wahre umgebracht, und schließlich unser Spiegelbild verloren. Nun bist auch du zum zweitenmal geboren!« Franz Werfel2

Werfels unheimlicher Spiegel: Zwischen Weininger und Kraus Im Jahr 1920 veröffentlichte Franz Werfel (1890–1945) sein Theaterstück Spiegelmensch. Magische Trilogie.3 Das faustische Drama handelt von der Reise des jungen Thamal in den Fernen Osten und seiner Suche nach Hei­ lung für seine gequälte Seele. In stiller Einkehr in einem buddhistischen Kloster öffnet er einen Vorhang und erblickt anstelle der Außenwelt nur sein eigenes Abbild in einem Spiegel. Konfrontiert mit diesem Bild, das er drin­ gend loszuwerden wünscht, greift er in seiner Wut nach einer Pistole und schießt auf den Spiegel. Statt jedoch mit dem Schuss die ihm so verhasste Spiegelung zu zerstören, verwundet er sich selbst, während das Spiegelbild lebendig wird und ihm freudig entgegenspringt. Das Wesen stellt sich ihm als Spiegelmensch vor. Dieser, von Thamal aus dem zerbrochenen Spiegel befreit, wird fortan sein ergebener Diener sein. Die beiden erleben die verschiedensten Abenteuer: Thamal tritt mythischen Monstern und bösen Zauberern entgegen, er wird ein Held und zugleich wie ein Gott verehrt. Währenddessen begeht er jedoch Schandtaten und Morde und verliert unter dem Bann des charismatischen Spiegelmenschen jedwede Moral. Der dra­ matische Wendepunkt findet sich im dritten Akt, als Thamal erkennt, dass 1

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Karl Kraus, Spiegelung, in: Die Fackel 622–631 (1923), 50 f., hier 50. Die Fackel wird im Weiteren mit F abgekürzt, es folgt die Angabe der Heftnummer und des Erscheinungsjah­ res. – Kraus geht hier ironisch auf eine Kritik Hermann Bahrs (1863–1934) ein. Franz Werfel, Spiegelmensch. Magische Trilogie, München 1920, 28. Ebd. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 449–476.

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er durch seine Heldenreise – obwohl sie ihm allerhand irdische Freuden bereitet hat – von seinem ursprünglichen Weg abgekommen ist. Seine Schussverletzung heilt nicht und er führt weiterhin ein elendes Dasein. Des­ halb beschließt er, sein Leben zu ändern: Er übernimmt Verantwortung für seine Missetaten und entlässt den Spiegelmenschen in die Freiheit. In der Hoffnung auf Gnade und Erlösung stellt Thamal sich dem himmlischen Richterspruch. Daraufhin verfällt der Spiegelmensch in einen Monolog, in dem er die Charakteristika eines zukünftigen Unternehmens formuliert, für das er von seinem besonderen Spiegeltalent Gebrauch machen kann: »Halt! Ich will unter die Propheten gehn, natürlich unter die größeren Propheten! Das Erste ist, ich gründe […] eine Zeitschrift und nenne sie: Die Leuchte? Nein! Der Kerzenstumpf? Nein! Die Fackel? Ja!«4 Die Allegorie von Thamals magischer Reise wird dem Wiener Publikum nur allzu vertraut gewesen sein, da sie ganz offensichtlich auf Karl Kraus (1874–1936) und dessen Zeitschrift Die Fackel verwies, und damit eine Kari­ katur des zeitgenössischen Kulturbetriebs lieferte. Als Werfels Verleger Kurt Wolff (1887–1963) das Manuskript des Stückes zum ersten Mal las, schlug er vor, ebenjene Zeilen zu streichen, und in der Tat wurden sie aus Angst vor einem öffentlichen Skandal bei der Wiener Premiere nicht verlesen.5 Wolffs Lesart, die den dämonischen Doppelgänger als reale Person begreift und damit die Handlung des Dramas vom Fiktionalen ins Real-Historische über­ führt, wirft wichtige Fragen zu dessen Anlage und Rezeption auf: Handelt es sich in der Tat um ein magisches Drama oder vielmehr um eine zeitgenös­ sische Parodie? Ist Thamals Odyssee, der expressionistischen Tradition fol­ gend, als ein innerer Konflikt zu verstehen, oder vielmehr als ein Duell mit einem Feind von außen? Neben einer literaturwissenschaftlichen Analyse des Dramas im Kontext von Werfels übrigem Schaffen kann die Beantwor­ tung dieser Frage auch Aufschluss über den ebenso heftigen wie fruchtbaren Austausch zwischen Werfel und Kraus geben – einen persönlichen und lite­ rarischen Konflikt zwischen zwei bedeutenden Autoren jener Zeit, in dem die Frage der »Spiegelung« eine zentrale Rolle einnimmt.6 4 5

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Ebd., 189. Kurt Wolff meinte: »Brieflich, telegraphisch, durch gemeinsame Freunde mündlich, ver­ suchte ich, Werfel zu bestimmen, eine darin [in Spiegelmensch] enthaltene Anti-KrausStelle zu streichen.« Ders., Briefwechsel eines Verlegers 1911–1963, hg. von Bernhard Zeller und Ellen Otten, Frankfurt a. M. 1966, zit. nach Martin Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«. Genetische Ausgabe und Kommentar, Göttingen 1996, 246. Die Verknüpfung von Wahrnehmungsformen des Jüdischen und der Spiegelmetaphorik stellte ein wichtiges Thema für das frühe 20. Jahrhundert dar. Der Topos des Spiegelns ist hierbei aufgrund der antisemitischen Vorstellung von einem jüdischen Hang zur Nach­ ahmung negativ konnotiert. Aus psychoanalytischer Sicht, die sich v. a. auf das Motiv eines dämonischen Doppelgängers bezieht, bedeutet »Spiegelung« ein Unheimliches.

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Für eine solche Untersuchung ist es zunächst entscheidend zu konstatieren, dass durch die implizite Gleichsetzung des Spiegelmenschen mit Karl Kraus nicht nur dessen kreative Fähigkeiten angezweifelt und als bloße Mimikry dargestellt werden, sondern auch ein antisemitisches Klischee bedient wird. Werfels Spiegelung bezieht sich auf die notorische Vorstellung – in der zeit­ genössisch wirkmächtigsten Weise formuliert von Richard Wagner in Das Judenthum in der Musik –, dass Juden, weil ihnen jeder Sinn für Authentizi­ tät fehle, niemals wirklich etwas produktiv erschafften, sondern stets nur spiegelten und imitierten.7 Diese Auffassung schlug sich nicht nur im antise­ mitischen Diskurs der Zeit nieder, sondern wurde auch von einigen jüdi­ schen Denkern aufgegriffen. Am weitesten hierin ging Otto Weininger (1880–1903), dessen Werke gleichermaßen auf Werfel wie auf Kraus ein­ wirkten.8 Weininger zufolge fehle Juden ebenso wie Frauen, und im Gegen­ satz zu »arischen Männern«, ein ganzheitliches oder geistiges Selbst. Sie besäßen kein Vorstellungsvermögen und seien ausschließlich der materiellen Welt verhaftet – ein Missstand, den sie mit Nachahmung zu kompensieren suchten: »Das große Talent der Juden für den Journalismus, die ›Beweglichkeit‹ des jüdischen Geistes, der Mangel an einer wurzelhaften und ursprünglichen Gesinnung – lassen sie nicht von den Juden wie von den Frauen es gelten: sie sind nichts, und können eben darum alles werden? Der Jude ist Individuum, aber nicht Individualität; dem niederen Leben ganz zugewandt, hat er kein Bedürfnis nach der persönlichen Fortexistenz: es fehlt ihm das wahre, unveränderliche, das metaphysische Sein, er hat keinen Teil am höheren, ewigen Leben.«9

Hier finden sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten für die weitere Be­ handlung des Themas. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Juden laut Weinin­

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Siehe dazu Paul Mendes-Flohr, Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity, Detroit, Mich., 1991; Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß. Antisemitis­ mus und die verborgene Sprache der Juden, aus dem amerikan. Englisch übers. von Isa­ bella König, Frankfurt a. M. 1993 (engl.: Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hid­ den Language of the Jews, Baltimore, Md., u. a. 1986); Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley, Calif., u. a. 1997. Alle hier erörterten Aspekte sind wichtig, jedoch ist darauf hinzuwei­ sen, dass Kraus und Werfel mit diesem Diskurs subversiv und ironisch umgehen und ihm eine alternative Option entgegensetzen. Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869. Edward Timms stellte fest, dass sich ein Großteil der Kraus-Werfel-Kontroverse um ihre gegensätzlichen Interpretationen von Weininger dreht. Siehe ders., Poetry, Politics and Personalities. The Kraus-Werfel Controversy, in: Joseph P. Strelka/Robert Weigel (Hgg.), »Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern.« Zu Franz Werfels Stellung und Werk, Bern u. a. 1992, 111–138. In meinem Beitrag möchte ich insbesondere die Art und Weise herausarbeiten, in der beide von Weiningers Kategorien abweichen. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien/Leipzig 1926 (zuerst 1903), 278 (Hervorhebungen im Original fett gedruckt).

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ger »nichts« seien, also ohne jede Möglichkeit zur Erzeugung einer stabilen und unabhängigen Identität. Dies wird bei Weininger besonders durch die Unterscheidung zwischen Individuum und Individualität hervorgehoben: Juden ermangele es eines inneren Selbst, einer Wurzel oder eines Ursprungs, damit seien sie ein Geschlecht ohne Charakter. Demnach besäßen Juden auch keine »Identität«, verneinten sogar komplett den so dominanten Identi­ tätsdiskurs jener Zeit. Diese vermeintliche Eigenheit lässt sie aber zu idealen Spiegeln werden und setzt sie zudem in ein inniges Verhältnis mit dem Medium der Sprache und der – oft als identitätsraubend verstandenen – Pra­ xis des Schreibens. Scott Spector zeigt auf, dass das Bild von dem Juden als der Negation von Identität auch die Dichotomie von Mann und Frau überlagert, auf die Wei­ ninger sich bezieht. »Der Jude« wird in Bezug auf den Geschlechterunter­ schied nicht nur als hybride Kategorie – als weiblicher Mann – herausge­ stellt, sondern als eine neue, subversive Gattung, welche die Grundlagen von Identität an sich herausfordert und unterhöhlt.10 Die Paradoxie einer sol­ chen Auffassung, auf die noch zurückzukommen sein wird, entging auch Karl Kraus nicht, der sie ironisch umschrieb: »Es müßte denn eine jüdische Eigenschaft sein, keine zu haben.«11 Gleichzeitig erlaubten es diese Katego­ rien, die Frage nach jüdischer Identität und nach Assimilation aus dem Bereich der jüdischen Kultur und Tradition in eine breitere soziale und lite­ rarische Debatte einzugliedern. Schließlich war die Suche nach dem wahren, authentischen Selbst ein zentrales Thema sowohl der Wiener Literatur des Fin de Siècle als auch des Prager Expressionismus, in dem Franz Werfel eine der hervorstechenden Persönlichkeiten war. Hierbei ist auch die Rolle von Journalisten jüdischer Herkunft in der zeitgenössischen Presse zu berück­ sichtigen: Oft wurden Juden als Verkörperung des dämonischen Charakters des journalistischen Mediums gesehen; umgekehrt wurde der Journalismus zur Manifestation jüdischer Negativität. In der Trilogie Spiegelmensch bestimmen diese Motive nicht nur die the­ matische Konzeption des Textes, sondern beeinflussen auch die Frage nach dem Genre. Erstens ist das ganze Stück eine Montage aus Motiven und Zita­ ten aus den unterschiedlichsten literarischen Quellen; zweitens versucht 10 Siehe Scott Spector, Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle, Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London 2000, 120: »If the Enlightenment (Weininger, like Steiner, starts with Kant) is the source for identifying the Jew as ‘shapeless’ rather than disfigured, qualified by a lack of substance rather than any positive feature, this move may ironically privilege woman/Jew to transcend form.« Spector schlägt hier eine »kleine Identität« vor, die durch eine starke Deterritorialisierung auf der einen Seite und den Versuch, diese Prinzipien auf die Spitze zu treiben, auf der anderen gekennzeichnet sei. 11 Kraus, Er ist doch ä Jud, in: F 386 (1913), 1–8, hier 8.

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hier, wie auch schon Werfel in seiner Erläuterung des Stückes betonte, der Dichter das Genre der Tragödie, die die Spannung zwischen Mensch und Welt behandelt, durch das des Mysterienspiels zu ersetzen, das sich auf die inneren Spannungen des Selbst konzentriert: »Die Auflösung des tragischen Kampfes der Individuen geschieht in der Katastrophe, die Auflösung des mystischen Kampfes im Individuum in der Umkehr, Konversion, Wiederge­ burt, d. h. in einer Erlösung der Positiven von der Negativen Persönlich­ keit.«12 Werfel hebt die Umwandlung und Wiedergeburt hervor, die der innere Kampf hervorbringen soll. Dieser Kampf zwischen Positivem und Negati­ vem ist bei Werfel nicht länger eine genuin jüdische Thematik, sondern wird zu einem allgemeinen Streben, das jedoch weiterhin Weiningers Dualismus verhaftet bleibt. Auch für Weininger ist dieser Sachverhalt ein gesamtgesell­ schaftlicher, der sich eher auf Idealtypen anstatt auf konkrete Gruppen oder Geschlechter bezieht. Für beide Autoren steht das Bild »des Juden« weder für ein Volk oder eine Rasse noch für eine Religion, Kulturgemeinschaft oder Tradition. Es stellt vielmehr ein Konzept dar, vergleichbar einer plato­ nischen Idee, in der eine ganze Reihe an sich menschlicher Eigenschaften gebündelt werden, die in der ganzen Menschheit existieren: »Wenn ich fürder vom Juden spreche, so meine ich nie den Einzelnen und nie eine Gesamtheit, sondern den Menschen überhaupt, sofern er Anteil hat an der platonischen Idee des Judentums. Und nur die Bedeutung dieser Idee gilt es mir zu ergründen.«13

Einer solchen Perspektive zufolge stehen »Juden« und »das Judentum« für negative soziale Vorstellungen und formlose Gegenmodelle zu jeglicher Subjektivität. Daraus lässt sich folgern, dass Werfel diesen Grundgedanken bewahren will anstatt ihn aufzulösen, um seinen eigenen theologischen Anarchismus zu gestalten.14 Die kulturelle wie auch persönliche Herausfor­ derung besteht für Werfel und Weininger darin, gegen diese vermeintlich »jüdische Haltung« zu opponieren. Ihnen zufolge ist es genau dies, was das Christentum ausmacht: »Christus ist der Mensch, der die stärkste Negation, das Judentum, in sich überwindet«.15 Identität – durch das Prisma des Chris­ 12 Franz Werfel, Dramaturgie und Deutung des Zauberspiels »Spiegelmensch«, in: ders., Gesammelte Werke, Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Litera­ rische Nachträge, aus dem Nachlass hg. von Adolf D. Klarmann, München/Wien 1975, 222–260, hier 223. 13 Weininger, Geschlecht und Charakter, 265. 14 »Der neue Christ sieht ein, daß es unmöglich ist, das Haus mit den Bausteinen des alten Bewußtseins zu bauen, deshalb ist sein politisches Bekenntnis der Anarchismus, das ist Zerstörung des alten Bewußtseins.« Werfel, Dramaturgie und Deutung des Zauberspiels »Spiegelmensch«, 223; siehe auch ders., Die Christliche Sendung. Ein Offener Brief an Kurt Hiller, in: ders., Gesammelte Werke, Zwischen Oben und Unten, 560–576, hier 571. 15 Weininger, Geschlecht und Charakter, 286.

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tentums betrachtet – kann damit niemals gegeben, sondern nur Ergebnis eines ständigen Kampfes sein, der auf der Verneinung der Nichtidentität basiert, der »Nullebene«, für die das Judentum steht. Die »jüdische Frage« muss hier also als eine »christliche Frage« verstanden werden: Identität und Individualität sind Kategorien, die erst aus der Bewältigung und Negation des Judentums entstehen. Eine solche Vorstellung von Konstitution durch Negation erzeugt jedoch wiederum ein neues Problem: Wie ist es möglich, eine männlich-christliche Identität auszubilden – dieses »M«, für das Weininger sogar so weit geht, es auf quasimathematische Art formelhaft darzustellen und auf eine unerschüt­ terliche metaphysische Wesensart gestützt zu beschreiben –, wenn diese eigentlich aus der Verneinung eines immanenten Mangels, einer Leere, eines Abgrunds herrührt? Werfel scheint sich dieses Problems durchaus bewusst gewesen zu sein. In seinen Kommentaren zu Weininger im Fragment gegen das Männergeschlecht16 versuchte er dieses Paradox aufzulösen, indem er die Unterscheidung auf diejenige zwischen »Wahrem« und »Falschem« abwälzt. Dabei bemühte er sich, seine duale Identität als »Christenjude« auf­ rechtzuerhalten, ja er beharrte darauf, diese Ambivalenz beizubehalten und sie nicht zu überwinden. In seinem Text Die Christliche Sendung17 entwi­ ckelte Werfel diese Ideen weiter und kritisierte den politischen Aktivismus des jüdischen Publizisten Kurt Hiller18 als fehlgeleitet, da dieser sein Inte­ resse an der »Realität« von der eigentlichen realen metaphysischen und spi­ rituellen Aufgabe ablenke. Ein ähnliches Argument kann auch mit Blick auf Werfels Biografie vorgebracht werden, insbesondere in Bezug auf seine Beziehung und spätere Ehe mit Alma Mahler, die eine wichtige Rolle in sei­ nem literarischen Werk spielte.19 Werfel dehnte den Dualismus in Weinin­ gers Geschlechterkategorien – die binäre Sexualität von Mann und Frau – aus und nahm in ihnen eine binäre Religionszugehörigkeit – Christentum und Judentum – wahr.20 Wie wir sehen werden, folgte Werfel diesem Dualis­ 16 Franz Werfel, Fragment gegen das Männergeschlecht, in: ders., Gesammelte Werke, Zwi­ schen Oben und Unten, 205–210. 17 Werfel, Die Christliche Sendung. Werfel stellt am Schluss fest: »Das Paradies, das Sie [Kurt Hiller] uns verkünden, ist ein Paradies der Gesetze, ist eine civitas dei, während das Paradies des Anarchisten eine societas dei ist.« Hier liegt für Werfel die Schnittmenge zwischen dem Christentum und dem Anarchismus mit seinen gegen den Staat gerichteten Implikationen. Statt sich dem politischen Aktivismus anzuschließen, wandte Werfel sich der Literatur zu. 18 Zu Hiller siehe jüngst Daniel Münzner, A Twisted Road to Pacifism. Kurt Hiller and the First World War, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 365–388. 19 Lionel B. Steiman, Werfel’s Identity as Jew and Christian, in: Strelka/Weigel (Hgg.), »Unser Fahrplan geht von Stern zu Stern.«, 97–110. 20 Nach der Veröffentlichung von Paulus unter den Juden über diese doppelte Zugehörigkeit gefragt, schrieb Werfel: »Atheist, Materialist, Nihilist darf ein Jude sein, ohne gescholten

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mus unnachgiebig; er löste das jüdische Vorhaben der Assimilation durch ein universelles spirituelles Bestreben ab, in dem die Juden als Überreste des dualistischen Kampfes zurückbleiben.21 Werfels Versuch, jenes Problem, das er bei Weininger erkannt hatte, zu überwinden, mündete jedoch in eine neue Herausforderung: Wie sollte er an den beiden Positionen festhalten können, schlossen sie sich doch gegenseitig aus? Wenn Werfel, angefangen mit seinen frühen, in dem Band Weltfreund gesammelten Gedichten bis hin zu seinen späteren, »katholischen« Romanen, in Richtung einer Abkehr und Überwindung des weltlichen Lebens wies – was sind dann der Ort und die Bedeutung des Poetischen? Wie kann Sprache, die sich mit Wahrnehmung und mit Dingen beschäftigt, zum Medium geistiger Erlösung werden?22 Es scheint, als habe Werfel die Lücke zwischen dem Sein und dem poetischen Ausdruck nicht schließen können und deshalb versucht, beide gleichsam zu überwinden – in gewissem Sinne ist dies eine Grundaussage seines Dramas Spiegelmensch. Die Identitätsproblematik und ihr Verhältnis zum Motiv der Spiegelung erhalten eine weitere Wendung, wenn man das Kunstmittel der Montage in Werfels Stück untersucht, das sich unter anderem Motiven aus Werken Johann Wolfgang von Goethes, Henrik Ibsens, Richard Wagners, E. T. A. Hoffmanns, Adalbert Stifters und Fjodor Dostojewskis bedient.23 Das Ergeb­ nis ist ein dichtes Gewebe aus Zitaten, die ihre Quellen auf dadaistische Weise imitieren – ein Vorgehen, das, wie Edward Timms beobachtete, stark von Kraus’ Montagetechnik beeinflusst worden ist.24 In diesem Sinne stellte der Spiegelmensch nicht nur eine theatrale Figur dar, sondern er bezeichnete ein ganzes literarisches Genre – oder mehr noch ein literarisches Symptom der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Aus diesem Grund wirkt es so, als habe der Spiegelmensch trotz des scheinbaren Erfolgs Thamals, sich endlich aus seinem Bann zu befreien, die Oberhand behalten, war es doch er, der fortan

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zu werden, aber mit freier Seele die Tragödie der christlichen Loslösung (vom Judentum) schreiben, darf er nicht!!!« Ders., Franz Werfel – Jude oder Christ?, in: ders., Gesammelte Werke, Zwischen Oben und Unten, 595 f., hier 596. Für Werfels religiösen Dualismus siehe Lionel B. Steiman, Franz Werfel. The Formation of a Non-Jewish Jew, in: Hans Wagener/Wilhelm Hemecker (Hgg.), Judentum in Leben und Werk von Franz Werfel, unter Mitarbeit von Katharina J. Schneider, Berlin/Boston, Mass., 2011, 1–18. In Die Christliche Sendung kritisiert Werfel Aktivismus als einen epistemologischen Feh­ ler, der an die Realität glaubt und sie bekräftigt. Stattdessen betont er: »Der neue Christ sieht ein, daß es unmöglich ist, das Haus mit dem alten Bewußtsein zu bauen, deshalb ist sein politisches Bekenntnis der Anarchismus, die Zerstörung des altes Bewußtseins.« Siehe ders., Die Christliche Sendung, 571. Für die verschiedenen Quellen und Einflüsse siehe Lothar Huber, Franz Werfel’s »Spie­ gelmensch«. An Interpretation, in: ders. (Hg.), Franz Werfel. An Austrian Writer Reasses­ sed, Oxford/New York/München 1989, 65–80. Timms, Poetry, Politics and Personalities.

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die Art und Weise sowie die Grammatik bestimmte, nach der sich die Flucht Thamals abspielte. Der symptomatische Charakter der Spiegelung findet sich beispielsweise in den folgenden Zeilen, die auch aus einer Ausgabe von Kraus’ Fackel stammen könnten: »ZWEITER BEWUNDERER (mit Operetten-Zungenfertigkeit) Eucharistisch und tomistisch, Doch daneben auch marxistisch, Theosophisch, kommunistisch. Gotisch kleinstadt-dombau-mystisch, Aktivistisch, erzbuddhistisch. Überöstlich taoistisch, Rettung aus der Zeit-Schlamastik Suchend in der Negerplastik, Wort- und Barrikaden wälzend, Gott und Foxtrott fesch verschmelzend, – Dazu kommt (wenn’s oft auch Last ist), Daß man heute Päderast ist … Also lautet spät und früh Unser seelisches Menü.«25

Im imaginären Land Cholshamba, Thamals Reiseziel, scheint man nicht die Abenteuer des »Wilden Ostens« zu finden, sondern eher den Klang eines Wiener Kaffeehauses. Die Figuren der heimatlosen Wanderer im Stück offenbaren nicht nur ihre weltanschauliche Beliebigkeit, sondern auch die mit ihr einhergehende Identitätskrise. Insofern ist der Ausschnitt nicht nur eine zutreffende Beschreibung der ideologischen Verwirrung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, von der zweifellos auch Werfel betroffen war, sondern er ist ein ironischer Wink auf den Bankrott möglicher Alternativen. Thamal, sich der Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst, will dennoch keinesfalls die Position des ironischen Kritikers einnehmen und die Hoff­ nungen auf Erlösung aufgeben. Er ist entschlossen, seine Reise zu beenden, und bereit, sein Leben zu opfern, um eine »Gott-ursprüngliche Gestalt«26 zu erlangen. An dieser Stelle interveniert der Spiegelmensch wie folgt: »THAMAL (begeistert) Ein Mysterium Ist jede Opfertat! Ah! Mich durchrasen Der Todes-Wahl beschworne Wonnen …

25 Werfel, Spiegelmensch, 129. 26 Ebd., 215.

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SPIEGELMENSCH (fällt ihm ins Wort) Phrasen ! (Zeigt ins Theater) Ganz recht, du stehst in einem Schauspielhaus. Du trinkst sehr edel Gift. Was folgt? Applaus! Es klatscht die Claque, es rast die Galerie. Doch unverändert alle kehren sie zur Raufe in den Stall zurück. Winkt dir am nächsten Morgen Glück, Wirst du die allerbeste Presse haben. Es schwärmt der Schmock, – du aber bist begraben. Ob du am Kreuz stirbst, ob im Rampenflaus. Es wird am Ende ein Erfolg daraus.«27

Was liegt hinter dem Vorhang? Nur noch ein weiterer, dieses Mal der des Theaters selbst. Alle Hoffnungen und alles Begehren werden jetzt zu »Phra­ sen«, ein weiterer Seitenhieb auf eines von Kraus᾿ bekannten Schlagwör­ tern.28 Die Welt des Theaters offenbart sich weder als Ausweg noch als Zufluchtsort, sondern ist selbst ganz in die Kulturindustrie und bürgerliche jouissance eingetaucht. Hier imitiert der Spiegelmensch nicht nur Kraus’ Schreibstil und Ausdruck, sondern er verkörpert auch dessen elitäre, zerstö­ rerische und kritische Haltung – eine Position, die Thamal beziehungsweise Werfel den Rest des Stückes hindurch verunglimpfen. Dem krausschen Standpunkt zufolge – wie er durch Werfels Spiegelmenschen dargestellt wird – hat das Theater seine Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen, ausgeschöpft, doch es kommt noch schlimmer. Der kraus­ sche Spiegelmensch behauptet sogar, dass es das transzendente Jenseits, das Thamal so verzweifelt sucht, gar nicht gibt. Selbst angesichts dieses letzten Vorhangs besteht Thamal darauf, dass Menschen von Natur aus metaphysische Eigenschaften haben, die weit über die Sprache hinausgehen, weiter noch als Wörter wie »Sehnsucht« und »Geist«. Um diese Seinsebene zu erreichen, muss Thamal seinen weltli­ chen – oder eher durch Worte erschaffenen – Körper transzendieren, sich aus der Spaltung zwischen dem Selbst und der Sprache befreien und so gerettet werden. Dies passiert durch ein zweites Wunder: In der letzten Szene des Stückes glaubt der verzweifelte Thamal, dass er nur durch den Selbstmord für seine Sünden büßen und erlöst werden kann. Als er aus dem Giftbecher trinkt, ist es aber der Spiegelmensch, der umkommt, und plötz­ lich verheilt Thamals Wunde auf wundersame Weise. Diese wenig originelle 27 Ebd., 212 f. 28 Z. B.: »Die Phrase ist das Ornament des Geistes«, in: F 279/280 (1909), 8.

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Szene zitiert Wagners Parsifal bis in den Wortlaut: auch dies ein typisches Beispiel, wie Werfel das ganze Stück hindurch genau in denjenigen Szenen mit der Montage und mit Zitaten arbeitet, die sich dem Streben nach Authentizität widmen.29 Bedeutet das etwa, dass der Spiegelmensch doch das letzte Wort behält? Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass das Motiv der Spiegelung nicht etwa mangelnder Kreativität oder redundanter Nachahmung geschul­ det ist, vielmehr zeigt es eine Krise der Subjektivität auf – ein Problem, das Werfel mit der modernen Welt assoziierte und das in seinen Augen im Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte. »Das ›Schicksal‹ der Tragödie ist die ausbruchsgespannte Sphäre zwischen den mit Individualität gelade­ nen Polen und Gegensätzen, schärfer gesagt, der Raum der notwendigen Mißverständnisse«, erläuterte Werfel das Stück.30 Er betonte, dass sich das Stück mit den vielschichtigen Verhältnissen von Ich und Spiegel-Ich, SeinIch und Schein-Ich, Wirklichkeit und Unwirklichkeit auseinandersetzt – einer Reihung von Gegenpolen, die alle miteinander in Verbindung stehen. »Wirklichkeit« bezeichnet hier nicht Alltagserfahrung, sondern dasjenige, das nur entstehen kann, wenn das falsche Selbst abgelegt wird. Insofern führt Thamals Reise von einer falschen Identität zu einer »wirklichen Subjektivi­ tät«. Dieser Prozess wird seinerseits vor dem Hintergrund eines literarischen Messianismus und eines alles verzehrenden Verlangens nach Erlösung ge­ dacht. Werfel stand mit diesen Vorstellungen nicht allein. Otto Weiningers Ideen wurden in Bezug auf die intensive Beschäftigung von Juden mit dem Schrei­ ben – vor allem in Journalismus und Literatur – weiter erörtert, wie etwa an der Kontroverse um Moritz Goldsteins (1880–1977) folgenreichen Text Deutsch-jüdischer Parnaß (1912) deutlich wird, einem weiteren Fall der jüdischen Spiegel-Symptomatik.31 Auch andere Vertreter des sogenannten Prager Kreises wie Hugo Bergmann (1883–1975) und Max Brod (1884– 1968) äußerten sich in ähnlicher Weise über diesen Sachverhalt.32 Von Werfel

29 Siehe Huber, Franz Werfel’s »Spiegelmensch«, 71. 30 Werfel, Dramaturgie und Deutung des Zauberspiels »Spiegelmensch«, 222. 31 Moritz Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart. Halbmonatsschau für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten 25 (1912), H. 11, 281–294. Goldstein geht in diesem Essay der Frage nach, warum so viele Juden als Schriftsteller und Journalisten tätig sind. Vermeintlicher Grund sei der unproduktive jüdische Charakter: »Ist es jüdisch, nur ein Spiegel zu sein, statt selbst zu schaffen? Ihr behauptet es, viele glauben es. Ich aber sage: nein!« Ebd., 289. Siehe zu dieser Debatte u. a. Manfred Voigts, Moritz Goldst­ eins »Deutsch-jüdischer Parnaß«. Politische Kampfschrift und unpolitisches Bekenntnis, in: Aschkenas 24 (2014), H. 1, 145–194. 32 Siehe Spector, Prague Territories, 68–104, der hier verschiedene Sprachoptionen in der kulturellen Situation des mehrsprachigen Prags diskutiert. Für Max Brod und Moritz

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wird Weiningers Bild des formlosen Juden, der ein Nichts ist, das wie ein Vampir kein Spiegelbild besitzt, in einen Spiegelmensch-Juden umgewan­ delt. Dieser stellt keine falsche Spiegelung dar, die das wahre Selbst ersetzen oder unterdrücken müsse, vielmehr ist er ein Zeichen des aufgeteilten Selbst.33 Diese Aufteilung findet jedoch nicht nur in der Seele, sondern auch in der Welt statt und gibt dem inneren Kampf eine erlösende Sinngebung. Die »falsche Welt« kann nicht einfach durch individuelles Bemühen trans­ zendiert werden, vielmehr bedarf es einer metaphysischen Transformation im Bereich der Gemeinschaft: eines »Ichbin«, das sich in ein »Wirsind« ver­ wandelt. Deshalb schlägt Werfel sowohl in dem Brief an Kurt Hiller mit dem Titel Die Christliche Sendung als auch in seiner Erläuterung zum Drama Spiegelmensch eine Umwandlung der individuellen psychologischen Kategorien in soziale und gemeinschaftliche vor, während er gleichzeitig an der widersprüchlichen subjektiven Struktur und der moralischen Hierarchie untereinander festhält.34 Diese Stoßrichtung liegt fernab der klassischen Frage nach jüdischer Identität und der übergeordneten Frage der Assimila­ tion, die für Werfel undenkbar war.35 Es gibt einen weiteren Aspekt des Identitätsparadoxes bei Weininger, den Werfel in Bezug auf Kraus weiterentwickelte. Wie wir bereits gesehen haben, besitzen Juden angeblich keine besonderen Eigenschaften und gelten

Goldstein bestand sie darin, jüdisches Schreiben in der deutschen Sprache zu begründen, obwohl beide dieses Unterfangen durchaus als paradox verstanden. Eine andere Option war die hebräische Sprache, die Bergmann befürwortete. Alle diese Zugänge betonten die Rolle der Sprache selbst, die nicht als ein neutrales Medium, sondern als Sphäre des Poli­ tischen angesehen wurde. Als Kontrast dazu sei hier auf das Jiddische als exterritoriale Sprache im Denken von Franz Kafka verwiesen, siehe Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem Franz. übersetzt von Burkhart Kroeber, Frank­ furt a. M. 1976. 33 Als Antwort auf Fragen nach der Veröffentlichung von Paulus unter den Juden schrieb Werfel: »Ich werde mich niemals taufen lassen! […] ich bin im Fühlen und Denken bewußter Jude!«, in: ders., Franz Werfel – Jude oder Christ?, 595. Für Werfels theologi­ schen Bericht über das jüdisch-christliche Verhältnis siehe ders., Von Christus und Israel, hier Nr. 24: »Theologumena«, in: ders., Gesammelte Werke, Zwischen Oben und Unten, 150–164. 34 Über das Verhältnis von »Sein-Ich«, »Schein-Ich« und »Spiegel-Ich« siehe Werfel, Dra­ maturgie und Deutung des Zauberspiels »Spiegelmensch«, 223 f. 35 Siehe Spector, Prague Territories, 102: »Indeed, as Werfel’s poems make clear, class and national consciousness belonged to the alienating modernity expressionism rejected. As for the salience of the generational (or ‘father-son’) conflict, in other centers of expressio­ nism the revolt against the father was a strike against materialism and bourgeois respecta­ bility. In German-Jewish Prague above all, however, the intensely liberal and assimilated generation of the expressionists’ parents was perceived as the sponsor of a fragmented and untenable society.« Es ist wichtig, eine solche Beschreibung als dialektisch zu verste­ hen und durch Kraus’ Polemik zu erkennen, dass diese Ablehnung eher einer permanen­ ten Auseinandersetzung und textuellen Bewegung als einer festen Position gleichkam.

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als »nichts«. Dies verdamme sie nicht nur zu Nachahmung und falscher Selbstinszenierung, sondern stelle ein akutes psychologisches Problem dar, das als Selbsthass bezeichnet werden müsse: »Wie man im anderen nur liebt, was man gern ganz sein möchte und doch nie ganz ist, so haßt man im anderen nur, was man nimmer sein will, und doch immer zum Teil noch ist. Man haßt nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat. Nur macht uns oft erst der andere Mensch darauf aufmerksam, was für unschöne und gemeine Züge wir in uns haben. So erklärt es sich, daß die allerschärfsten Antisemiten unter den Juden zu finden sind.«36

Während diese Vorstellung von Subjektivität als innerer Konflikt auf der Negation und der Überwindung dessen beruht, was ich als »jüdisches Spie­ gelstadium« bezeichne und was das eigentliche Herzstück des Dramas Spiegelmensch darstellt, ist es die Feindseligkeit als Projektion dieses vorge­ blichen jüdischen inneren Mangels, die im Zentrum des Angriffs Werfels auf Kraus in dem offenen Brief Die Metaphysik des Drehs liegt, der im folgen­ den Abschnitt besprochen werden soll.37 In den Augen des Nichtjuden erkennen Juden ihr abstoßendes Gegenbild, und weil sie dieses Bild bestätigt sehen, werden sie antisemitisch gegenüber sich selbst. Die Frage nach dem Selbsthass verweist hierbei nicht auf das Negieren der inneren jüdischen Verfasstheit, wie es aus christlicher Perspek­ tive der Fall sein könnte, sondern vielmehr auf die voreilige Identifikation mit der Bestätigung und Zustimmung. Somit ist der »jüdische Selbsthass« keine pathologisch-psychologische Reaktion, sondern das Ergebnis der Ein­ nahme eines christlichen Standpunkts, der diese Aufteilungen erst ermög­ licht: Materielles gegen Geistiges, Immanentes gegen Transzendentes, Wah­ res gegen Falsches, Original gegen Nachahmung etc. Anders gesagt ist das verhasste jüdische Selbst an und für sich ein christliches Bild, das zusam­ men mit den negativen Werten, die daran haften, den Hass erzeugt. Unge­ achtet der Unterschiede zwischen Weiningers Übertritt zum Protestantismus im Jahr 1902 und Werfels lebenslanger Ablehnung, trotz ständig bestätigter Hinneigung, zum Katholizismus überzutreten: Beide sahen das Judentum

36 Weininger, Geschlecht und Charakter, 263 f. (Hervorhebungen im Original fett gedruckt). Festzuhalten ist, dass Otto Weininger hier Theodor Lessings (1872–1933) Position antizi­ piert, dem er später, neben Karl Kraus, als Paradebeispiel für das Phänomen eines jüdi­ schen Antisemiten dient. Siehe Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthaß, Berlin 1930. 37 Werfel schreibt über Kraus in einer öffentlichen Erklärung im Jahr 1917: »Er ist der ange­ widerte Tonfall, das Wort, das die Zeitung sich selbst ins Ohr flüstert, während sie dekla­ miert. Er ist der gesamte Selbsthaß jener Welt, die er gestaltet und bekämpft.« Zit. nach Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 242.

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und die »jüdische Frage« in einem sprichwörtlichen christlichen Spiegel, einem Spiegel, der nicht nur die Entdeckungsreise ins wahre Selbst bestim­ men mochte, sondern sie zudem als metaphysische Reise inszenierte.

Weltfreund und Weltfeind: Die Kontroverse Vor dem Hintergrund, dass Kraus in den Vorkriegsjahren eine wichtige Rolle für den jungen, als Schriftsteller noch unbekannten Werfel spielte, kann seine Inszenierung des Dramas Spiegelmensch in gewisser Weise als »Vater­ mord« betrachtet werden. Ein solcher findet sich gleich zweimal im Stück: zunächst als Thamal seinen wirklichen Vater ermordet und später in der Abweisung des Spiegelmenschen als symbolischer Mord. Letzterer kann als eine Form des Auslebens von Werfels »Einflussangst« betrachtet werden; als ein Versuch, den Hohn zu bewältigen, der ihm von Karl Kraus und dem Prager Kreis allgemein entgegengebracht wurde und gegen den er seit dem Jahr 1916 zu polemisieren begann. Aber die Geschichte dieses Konflikts, die auch eine Art Dreiecksbeziehung umfasst, ist weitaus komplizierter, als ein Blick auf die bloßen literarischen Debatten es vermuten lässt.38 Das Ver­ hältnis der beiden Autoren, das im Frühjahr 1911 in einer Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung begann, verschlechterte sich ab 1913 zuse­ hends, bis es zu einem Streit kam, der sich langsam steigerte und 1921 in einer literarischen Auseinandersetzung dramatisch eskalierte. Der Spiegel­ mensch, der eine Phase in diesem Prozess markiert, kann in diesem Sinne als theatrale Provokation Werfels gelesen werden und wurde noch im selben Jahr mit Kraus’ Gegenstück Literatur oder Man wird doch da sehn beant­ wortet. Der Schlagabtausch nahm heftige Formen an, und selbst als Werfel ihn in den 1930er Jahren beenden wollte, fuhr Kraus fort, ihn bis zur letzten 38 Das Verhältnis von Karl Kraus und Franz Werfel war zunächst ein freundliches. Kraus druckte im Jahr 1911 vier Gedichte Werfels in seiner Zeitschrift ab, woraus sich ein Brief­ wechsel und mehrere Treffen ergaben. Siehe F 321/322 (1911), 31–33. Die vorerst posi­ tive Stimmung änderte sich mit dem Jahr 1913, als Werfel Rainer Maria Rilke (1875– 1926) und Sidonie Nádherný von Borutin (1885–1950) in Prag traf. Nádherný, die eine intensive und konfliktreiche Beziehung mit Kraus verband, erinnerte sich, dass sie wäh­ rend des Treffens von Werfel schlecht behandelt worden war, der später das Gerücht streute, dass Rilke in sie verliebt sei. Dieses Ereignis markiert den Bruch zwischen Werfel und Kraus, der ab April 1914 auch in der Fackel ausgetragen wurde. Siehe Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 235–239; Christian Wagenknecht/ Eva Willms (Hgg.), Karl Kraus – Franz Werfel. Eine Dokumentation, Göttingen 2011, 29–52 und passim. Zwar spielt auch das persönliche Motiv dieser Gegnerschaft für meine Fragestellung eine Rolle, jedoch sollen hier v. a. die literarischen Implikationen untersucht werden.

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Ausgabe in der Fackel zu verspotten. Insgesamt zog sich der Streit über mehr als zwanzig Jahre hin,39 mündete in Hunderte von Briefen, Dokumen­ ten und zwei große Theaterstücke hervor und verlangte vielen zeitgenössi­ schen Schriftstellern eine Stellungnahme ab, darunter Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler, Robert Musil, Franz Kafka und Max Brod. Im November 1916, im Anschluss an einen ebenso herben wie sarkasti­ schen Briefwechsel zwischen beiden Autoren sowie an Werfel gerichtete Beleidigungen in der Fackel, veröffentlichte Kraus das satirische Gedicht Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff.40 Das Gedicht war nicht an Werfel, sondern an dessen Verleger Kurt Wolff gerichtet, und die Satire zielte auf den literarischen Stil des Prager Kreises, dem Werfel angehörte.41 Das Gedicht verspottete nicht nur Pathos und klassizistische Ambitionen von dessen Mitgliedern (»Neue Weimarer«), sondern es suggerierte auch, dass deren Werke ausschließlich aus Nachahmungen bestünden, die nur Goethe und Schiller widerspiegeln, anstatt originäre Poesie hervorzubringen. In sei­ nem satirischen Gedicht benutzte Kraus das Deutsch-Jiddische – auch als Sprache des »Mauschelns« bekannt – und fügte Wörter wie »Gewure«, »Zwo« und »Leipzich« ein, um die jiddische Aussprache der Prager Schrift­ steller zu imitieren. Kraus’ Argument lautete, dass der Versuch dieser Auto­ ren, das »fremde Element« loszuwerden, zu einem falschen Stil, zu Vortäu­ schung und kaum zu künstlerischer Originalität führe. Diese Spiegelgeste findet sich auch im Gedicht wieder – Kraus ahmte auf satirische Weise den an Schiller angelehnten Stil von Werfels Gedicht Vater und Sohn42 nach. Zwei Dinge sind hierbei augenfällig: Trotz aller Animositäten berief sich Kraus weder auf das essentialistische Argument, dass jene Autoren als Juden keine »deutsche« Literatur schreiben könnten, noch verurteilte er ihre literarische »Assimilation« oder lehnte sie ab. Seine Kritik richtete sich viel­ mehr gegen den Versuch – den ich bereits in Bezug auf Weininger diskutiert habe –, Dichtung als geistiges Medium zu benutzen, das darauf abzielt, die konkrete Konfrontation mit der Realität durch ästhetizistisches Pathos zu 39 Werfel beendete die Polemik im Jahr 1929 einseitig, während Kraus mit seiner kritischen Betrachtung Werfels bis zur letzten Ausgabe der Fackel im Jahr 1936 fortfuhr. Siehe Wagenknecht/Willms (Hgg.), Karl Kraus – Franz Werfel, Kap.: Kraus’ letzte Attacken, 282–322. 40 F 443/444 (1916), 26 f. 41 Der Titel spielt auf ein Theaterstück Werfels an, siehe ders., Der Besuch aus dem Ely­ sium. Romantisches Drama in einem Aufzug, München 1920. 42 Siehe Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 239. Das Ver­ hältnis von Kraus zu Kurt Wolff ist in zahlreichen Briefen dokumentiert. Nur durch Wer­ fels Vermittlung einigten sich beide darauf, eine Reihe von Kraus’ Schriften im Verlag von Kurt Wolff zu veröffentlichen. Nachdem sich die Beziehung zu Werfel verschlechtert hatte, sagte Kraus dieses Vorhaben ab und kritisierte den Verleger für seine weitere Zusammenarbeit mit Werfel.

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ersetzen. Der zentrale Fluchtpunkt von Kraus’ Kritik lag auf den christlichen Erlösermotiven – wie dem Jüngsten Tag in Werfels Spiegelmensch – sowie auf einem literarischen Eklektizismus, womit er anzeigen wollte, dass die Prager Expressionisten auf der Suche nach einer neuartigen Form zunächst nur eine artifizielle Persiflage importierter Stile hervorbrachten. Zweitens bedeutete die Kritik eines nicht originären Stils nicht zwangsläufig, wie John Pizer bemerkt hat, dass Kraus ein eigenständiger Schöpfer gewesen sei oder sich als ein solcher wahrgenommen habe.43 Vielmehr trat er bewusst als Epigone auf, er entwickelte in seinem Schreiben eine Praxis des Zitierens und der schöpferischen Nachahmung und lobte überdies in seinen Aufsätzen die Techniken des Plagiats.44 Die Beschuldigung eines Lesers, seine Strophen von Werfel übernommen zu haben, beantwortete Kraus mit den Worten: »Denn mir war der Rhythmus des Werfelschen Gedichts so gut im Ohr wie ihm selbst, aber der meine saß mir tiefer und er war durch den Gleichklang mit solchem Original nicht umzubringen. Die Nachbildung des Nachbildners war erst durch jene Umstellung erreicht, die so recht den angemaßten Gefühlshabitus bezeichnet.«45

Die Botschaft bestand hier keinesfalls in der Sehnsucht nach dem Originä­ ren, das Kraus ja ablehnte, sondern vielmehr darin, dass Nachahmung und Nachbildung durchaus gültige Formen des Sprechens und der Literatur seien, solange sie auf die Rekonstruktion eigener Erfahrung, eigenen Gefühls und Tons abzielen und nicht mit dem Blick auf Transzendenz als bloßes Schmuckwerk verwendet werden. Es ging Kraus nicht so sehr um die Bedeutung, sondern vielmehr um die Theatralität der Sprache sowie um die Art und Weise, wie sie sich in verschiedenen Situationen und geschichtli­ chen Momenten verändert und verschiebt, wie sie durch die Rückkehr des Gleichen als etwas Unterschiedliches in Erscheinung tritt und diesen Effekt erzielt. Kraus vertrat damit ein Verständnis von Nachahmung, das sich auf eine innewohnende Iterabilität der Sprache (Jacques Derrida) bezog, ihren sich ständig wandelnden Charakter, den er als Gegenentwurf zu Werfels 43 John Pizer behauptet, dass v. a. Kraus’ Versuch einer sprachlichen Reinigung ihn dazu führte, Werfels Methode der Nachahmung und dessen wiederholtes Referieren auf Werke der deutschen Klassik zu kritisieren. Weiterhin argumentiert er, dass Kraus und Werfel durch die literarischen Doppelgänger eine Spiegelung der echten Identitäten erzeugten. Siehe ders., The Kraus/Werfel Polemic. The Double as a Sign of Modernism’s Originality Crisis, in: Colloquia Germanica 34 (2001), H. 1, 41–56. 44 Siehe z. B.: »So wurde ich der Schöpfer des Zitats, im Wesentlichen nicht mehr als das, wenngleich ich den Anteil der Sprachgestaltung auch an der Abschrift der Zeit nicht ver­ kleinert sehen möchte. Die Sprachkunst besteht da in der Weglassung der Anführungszei­ chen, in dem Plagiat an der tauglichen Tatsache, in dem Griff, der ihren Ausschnitt zum Kunstwerk verwandelt.« F 800–805 (1929), 2. John Pizer ist sich dieser Bezüge bewusst, besteht aber darauf, sie als polemische Praktiken einer Reinigung der Sprache und der Bewahrung der literarischen Tradition aufzufassen. 45 F 577–582 (1921), 59.

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unehrlichem, »ekstatischem« Sprechen beschrieb. Kraus griff dieses Argu­ ment wiederum auf, wenn er schrieb: »Ich erkannte die Möglichkeit, daß ich meine Strophe nur versetzen müßte, damit sie von einem andern wäre, wäh­ rend die seinige, wo immer sie stehen mag, von einem andern ist.«46 Kraus verteidigte kein Primat eines sprachlichen Ursprungs gegenüber der Nach­ ahmung und dem Plagiat. Weil niemand Sprache besitzen kann – was letzt­ endlich jedoch Werfels Ziel darstellte –, liegt die einzige Möglichkeit in der bewussten Nachahmung. Dies erfordere den berechnenden und oft heiklen Versuch, gleichzeitig eine Vertrautheit mit und einen Abstand von Sprache aufrechtzuerhalten, mithin zitathaft zu schreiben, ohne eine vollständige »Beherrschung« und machtvolle Aneignung der Sprache zu vollziehen; letztendlich in der Sprache als Medium gleichzeitig heimisch zu werden und die notwendige Fremdheit zu bewahren. In einer solchen Perspektive erscheint sprachliche Nachahmung in zwei Varianten: die erste benutzt Stil und Wörter anderer Autoren in einem Akt der Besitzergreifung – wie es bei Werfel geschieht –, während die zweite als Kritik ebendieses Besitzens fun­ giert, indem sie sich auf das expressive und theatrale Potenzial von Zitation konzentriert und somit ihren Wahrheitsgehalt nicht nur auf der Inhalts- und Bedeutungsebene verortet. Werfel hingegen verstand Kraus’ Kritik nicht auf diese Weise. Voller Wut und Unverständnis antwortete er in einem offenen Brief und beschuldigte Kraus, sein eigenes Ideal von der »Reinheit der Sprache« zu verraten. Um Kraus’ Versagen aufzuzeigen und zu verdeutlichen, wie dieser selbst dem »Mauscheln« verfalle, zitierte Werfel die folgenden Zeilen: »Aus dem Orkus in das Café Arco / dorten, Freunde, liegt der Nachruhm, stark o«. Werfel kri­ tisierte die ästhetische Qualität des Reims »Arco/stark o« und klagte, dass Kraus »dorten« statt »dort« schreibe, was nicht dem Hochdeutschen, son­ dern dem Mauscheln angehöre. Kraus’ eigene Worte benutzend, stellt Wer­ fel die rhetorische Frage: »Ist das wirklich die Sprache dessen, der die Spra­ che an allen jenen rächen will, die sie sprechen?«47 Wenn Kraus den Autoren des Prager Kreises vorwerfe, dass sie Goethe und Schiller imitierten und eine Sprache gebrauchten, die sie eigentlich nicht beherrschten, dann unterscheide sich der selbsternannte Richter Kraus kaum von ihnen. Wer denn hier Worte von wem stehle, fragte der gekränkte Werfel. Was als satiri­ sche Offensive gegen Werfel und die Prager Autoren geplant war, schlug auf Kraus zurück und sollte als Beweis für die Falschheit des scheinbar gut assi­ milierten, vermeintlich obersten Richters der deutschen Sprache gelten. Werfel erlaubte sich jedoch einen philologischen Fehlgriff, den Kraus wiederum für seine polemische Antwort zu nutzen wusste: Schließlich sei 46 Ebd. 47 Franz Werfel, Dorten, in: ders., Gesammelte Werke, Zwischen Oben und Unten, 559 f.

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»dorten« sehr wohl ein klassisches Wort der deutschen Sprache. Kraus druckte Werfels Brief in der Fackel ab, begleitet von einem vierzehnseitigen Antwortschreiben, in dem er zahlreiche Verwendungen des Wortes bei Goe­ the und Schiller bis zu Kant und Wieland belegte.48 Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass – obwohl Kraus’ Gedicht viele Worte aus dem Jiddischen enthielt – Werfel seinen »Gegenangriff« allein auf den Ausdruck »dorten« stützte. Dies bewies nach Kraus, dass für Werfel das Problem nicht in der bewussten Verwendung jiddischer Wörter – wie etwa »Gewure« – liege, sondern darin, dass diese nur dann als solche wahrgenommen werde, wenn ein Fremdwort aus Versehen in vermeintlich »reines« Hochdeutsch rutsche. Werfel zufolge offenbare ein solcher »Ausrutscher« nicht nur Kraus’ Ver­ stellungskünste, sondern demonstriere auch eine Pathologie – ein Jude, der sich assimilieren will, indem er die deutsche Kultur imitiert, der jedoch nie­ mals seine Andersartigkeit verstecken kann, die er am besten abzuwenden glaubt, indem er andere Autoren kritisiert. Kraus könne versuchen, dies zu verstecken, aber er sei und bleibe jedoch ein »mauschelnder« Jude. Die Frage nach der Rolle des Mauschelns macht den entscheidenden Unterschied zwi­ schen beiden Schriftstellern aus. Kraus erläuterte, dass er das Wort »dorten« verwende, weil es unter beides falle: das Hochdeutsche und den jüdischen Jargon. Für ihn bedeutete Mauscheln nicht die falsche Anwendung der deut­ schen Sprache, sondern die Fähigkeit, durch Sensibilität für Nuancen eine produktive Ebene der Entfremdung in die Hochsprache einzuziehen. Was Werfel als »unbewusst« brandmarkte, ist somit ein Missverständnis und meint die von Kraus intendierte Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, die nicht nur für dessen Vorstellung vom Poetischen ausschlaggebend war, sondern außerdem jeden Versuch problematisierte, ein eindeutiges Sprachverständ­ nis – sei es eins des Deutschen oder des Jiddischen – zu erzeugen.49 Ein weiterer Aspekt dieser folgenreichen Fehlinterpretation betraf das Verhältnis von Sprache und Realität. Während für Werfel (als guten Laca­ nianer avant la lettre) das Reale stets auf das Geistige verwies, das hinter den Worten angesiedelt ist – deshalb auch sein Hang zum Pathos und zu den komplexen Formen seines Schreibstils –, ging für Kraus die Kunst aus dem alltäglichen Material des Lebens hervor, Spiritualität war auf eine Gramma­ tik und Syntax angewiesen. Genau aus diesem Grund führte er zwar sein Leben lang eine Kampagne gegen die schnörkelige und dekorative Sprache des Feuilletons, andererseits finden sich bei ihm aus demselben Grund aber auch Wörter wie »Gewure« oder »zwo«. Kraus ging es nicht um die Reini­ gung seiner Sprache von fremden Elementen, um damit eine erfolgreiche 48 Siehe F 445–453 (1917), 134–147. 49 »Er kommt mir wie jeder Patient, in dessen Brust zwei Larven wohnen, psychoanalytisch bei und überprüft mich seiner Schwäche.« Ebd., 141.

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Assimilation zu belegen. Er gab der Sprache vielmehr stets einen Kontext und einen Sprecher, wobei das Mauscheln als Musterbeispiel für diese Hal­ tung steht. Oder, um es mit Kraus zu sagen: »Es kommt in der Kunst darauf an, wer mauschelt.«50

Die Sprache vor dem Gesetz Für den weiteren Verlauf der Debatte war es von Bedeutung, dass Werfel den Gebrauch der Mauschel-Rede in dem Gedicht Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff so wahrnimmt, als richte sie sich gegen seine eigene Assimila­ tion innerhalb der deutschsprachigen literarischen Szene. Dementsprechend warf er Kraus vor, dass er seinen eigenen jüdischen Hintergrund bloßstelle. Währenddessen versuchte Werfel, seinen assimilierten hochdeutschen Habi­ tus zu bekunden, scheiterte letztendlich aber an jener Bekundung. Dieses Argument entwickelte Werfel in einem offenen Brief an Kraus weiter, den er als Antwort auf dessen Beitrag Dorten in der Märzausgabe 1917 der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion veröffentlichte. In Die Metaphy­ sik des Drehs startete Werfel keine philologische Debatte, sondern unterzog die Psyche seines Gegenspielers einer Untersuchung, die sich ganz an die Vorstellungen Weiningers anlehnte. Kraus sei unfähig, sein eigenes geteiltes Selbst im Zaum zu halten, und projiziere deshalb sein fragmentiertes, negati­ ves Ich auf die Welt, so Werfel. Aus diesem Grund sehe er nur das Schlechte, Hässliche und Fehlerhafte im Leben, dem er Feindschaft und Wut entgegenbringe. Dies sei nicht nur der Zustand der Hysterie, ganz im Einklang mit dem zeitgenössischen Diskurs über Frauen und Juden, sondern auch ein physiologischer Zustand, der sich in Kraus’ körperlichen Gesten und seinem aufreibenden, ängstlichen Verhalten äußere. Kraus leide am Mangel eines kohärenten Selbst und fühle sich stets unsicher, leer und gehasst; daraus resultiere ein ständiger Reiz, andere zu attackieren. Unfähig, seinem Spiegelbild entgegenzutreten, sei er gezwungen, zwischen verschie­ denen Bildern zu changieren, und verbreite Unklarheit um sich herum, um eine unvorteilhafte Reflexion zu vermeiden. Diese Schizophrenie zwinge ihn in einen Teufelskreis der Selbsttäuschung, der ihn gegen jene imaginären Feinde schütze, die er in seinem Zustand der Paranoia überall erkenne. – Dies ist es, was Werfel als die »Metaphysik des Drehs« bezeichnete. Werfel wollte erkennen lassen, dass der geistige Zustand, den er seinem Kontrahenten unterstellte, weder das Ergebnis von Kindheitserfahrungen oder einem traumatischen Lebenslauf sei und auch nicht die Auswirkung 50 F 343/344 (1912), 21.

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des Wiener Umfelds. Vielmehr sei Kraus’ pathologische Psyche die Konse­ quenz einer latenten »Jüdischkeit«: »Als echter Jude sehen Sie in dem Begriff der Einheit einen höchsten absoluten Wert, aber der Dreh beginnt zu wirken, Sie zaubern Ihre Dualität aus sich hinaus und usurpie­ ren die Einheit in sich. Aber in diesem Dreh sind Sie nicht nur der Sohn Ihres Volkes, sondern vor allem der Sohn der Assimilation, jenes dunklen Zwanges, alle Spur hinter sich verwischen oder persiflieren zu müssen.«51

Obwohl Kraus seine jüdische Herkunft kaum erwähnte und schon 1911 zum Katholizismus übertrat, war, so Werfel, das Grundmuster seines Schaffens als Autor und Kritiker auf ebenjene »jüdische« Vorstellung zurückzuführen, die den Verlust der Einheit ebenso als gesetzt behauptete wie die Unfähig­ keit, ihn einfach hinzunehmen. Während Kraus glaube, sich komplett assi­ milieren zu können, ohne eine »Spur« zu hinterlassen, werde sein zwanghaf­ tes Bedürfnis nach Struktur und Vollendung zum »Spuk«, der überall Löcher und Fehler entdeckt und ihn nicht loslässt. Wie Edward Timms Stu­ die und andere Beiträge der Kraus-Forschung bereits herausgestellt haben, bediente Werfel sich in seinen Vorwürfen der Terminologie Weiningers, der das Judentum als soziale und mentale Seinsform begriff, die unfähig sei, geistige Einheit zu erlangen, und stattdessen einem hoffnungslosen Materia­ lismus verhaftet bleibe, der den geistigen Bereich der Wirklichkeit nicht zu bewältigen vermöge. Demnach nehme Kraus das Sein viel zu wörtlich und vergesse dabei die »Menschen und Dinge«, mithin die reale Welt: »Wort­ dienst Götzendienst. Das Gewissen konzentriert sich auf den Beistrich und nicht auf die wirkliche Beziehung. Auch hier der große Dreh.«52 Diese wichtige Bemerkung führt zurück zu der Frage, wie sich der »Bei­ strich«, also die Regeln der Sprache, als Teil der Schein-Welt zum ScheinIch verhält. Kraus ist das Paradebeispiel für einen nachahmenden Charakter des »Ichbin«. In Werfels Augen war er an jede mindere Form der Sprache gebunden und wünschte sich, jeden »Stadtklatsch zu einem kosmischen Ereignis [zu] machen.«53 Anstelle einer Seele, die Frieden in der menschli­ chen Gemeinschaft des »Wirsind« zu finden suche, sei Kraus im geistigen Ghetto seines »Ichbin« isoliert und von einem unendlichen Schuldbewusst­ sein beherrscht: »Welche Uhr schlägt das Ghetto in Ihnen? Ich glaube die elfte und nicht die zwölfte Stunde. Die zwölfte geht einen Schritt in der Wahrhaftigkeit weiter, erkennt den assimi­ latorischen Dreh und sagt nicht vestra culpa, sondern mea culpa.«54 51 Franz Werfel, Die Metaphysik des Drehs. Ein offener Brief an Karl Kraus, in: Wagen­ knecht/Willms (Hgg.), Karl Kraus – Franz Werfel, 98–109, hier 102. 52 Ebd., 106. 53 Ders., Spiegelmensch, 225. 54 Ders., Die Metaphysik des Drehs, 103.

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Diese Allegorie offenbart Werfels christlichen Blick auf die gescheiterte jüdische Assimilation: Kraus’ vermeintlich jüdische Frage wird in seiner dem »christlichen« Verständnis nach verfassten Antwort gründlich missver­ standen. Kraus᾿ Syndrom des »Drehs« ist für Werfel dessen Versagen, sein »Ichbin« abzulegen, was – wie an Werfels Figur des Thamal gezeigt werden konnte – einen notwendigen Schritt zur Erlösung darstellte. In der Erläute­ rung zu seinem Theaterstück schrieb Werfel: »Mit jeder Schuld also, die Thamal auf sich lädt, wächst die Wirklichkeit vom Spiegelmensch und seine Unabhängigkeit.«55 Ohne einen Weg aus der irdischen Welt der Sünde bleibe die ganze Menschheit in den verschiedenen Ausprägungen der Herrschaft des Spiegelmenschen gefangen, darunter alle Arten des politischen Aktivis­ mus: Liberalismus, Sozialismus und Zionismus. Für Werfel avancierte Kraus zum Vorbild der Spiegelwelt, da er alles im wahrsten Sinne wörtlich nehme: Er sei ein Mann der Worte, ein Richter56 durch das Auge des Geset­ zes (»Rechthaben und Unrechthaben«). Werfel fragte Kraus, ob er seine Spiegelwelt des Gesetzes hinter sich lassen könne, und fügte ein Zitat aus dem Talmud hinzu, das er wahrscheinlich nur vom Hörensagen kannte: »Ein Richter soll immer ein Schwert über sich hängen und den Abgrund der Hölle unter sich gähnen sehen.« (Yevamot, 109b) Dieser Vers scheint das Gesetz in Grenzen zu verweisen und den Richter zur Vorsicht zu gemahnen. Für die Fragestellung dieses Textes ist die Bedeutung des Verses jedoch weniger wichtig als Werfels Geste des Zitierens selbst, die voraussetzt, dass das Zitat in der Auseinandersetzung einen relevanten Verweis darstellt – als ob Kraus in einem Ghetto sitze und den Talmud lese. So verstanden, wären Kraus’ Stellung als Richter sowie seine pedantische Beschäftigung mit Sprache nur Symptome einer »Jüdischkeit«: des Lebens unter der Herrschaft des Geset­ zes. Dies wäre die Schuld, die er durch eine nachahmende literarische Assi­ milation zu unterdrücken suche.57

55 Ders., Dramaturgie und Deutung des Zauberspiels »Spiegelmensch«, 225. 56 Ders., Die Metaphysik des Drehs, 105. 57 Werfel steht mit diesem Gedanken nicht allein. Auch Edward Timms scheint dessen Sichtweise zu übernehmen, wie seine Definition der Kontroverse zeigt: »The fundamental question which runs through the Kraus-Werfel controversy is how identity may be consti­ tuted by language.« Ders., Poetry, Politics and Personalities, 129. Auch in der Art und Weise, wie Timms die Terminologie des Identitätsdiskurses benutzt, zeigt sich die Über­ einstimmung: »But the problem of how to establish a non-Jewish identity was to haunt both Kraus and Werfel for the rest of their lives. Each in his own way was committed to a strategy of assimilation.« Ebd., 123. Am problematischsten wird es in seiner Schlussfol­ gerung: »However fiercely he may ironize his uncouth mirror image, he could never trans­ cend his ethnic origins.« Ebd., 135. Dieses Urteil deutet nicht nur auf ein schwieriges Ver­ ständnis von Kraus und eine unkritische Lektüre von Werfel hin, sondern akzeptiert auch Weiningers Kategorien.

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Diese Vorstellung des »talmudischen Kraus« entwickelte Werfel in sei­ nem Theaterstück Paulus unter den Juden (1926) noch weiter, in dem er zwei konkurrierende Varianten der Erlösung anhand der Lehre des heiligen Paulus und der des Rabban Gamaliel vorstellte. In einer der letzten Szenen kniet Kraus als talmudischer Rabbiner vor Paulus – der als Werfel zu identi­ fizieren ist –, erkennt dessen Evangelium an und schwört dem Spiegelbild­ gott ab. Die Botschaft des Stückes wird in einer prägnanten Phrase auf den Punkt gebracht: »Jesus der Christus ist über dem Gesetz!« Es ist aufschlussreich, dass Kraus in seinen Antwortschreiben auf Die Metaphysik des Drehs trotz der darin enthaltenen Schmähung als selbsthas­ sender assimilierter Jude einen diesem Angriff zugrunde liegenden Aspekt – nämlich Werfels Anspruch, eine vollständige Analyse seiner Persönlichkeit und seines literarischen Schaffens vorgenommen zu haben – kaum erwähnt. Im Oktober 1917 schrieb Kraus eine Passage, in der er Werfels Angriff als der Psychoanalyse überantwortet bezeichnet, nur dass dieses Mal der Patient den Arzt beobachte. 1918 veröffentlichte er als Antwort einen 21 Seiten umfassenden, ausführlichen Essay unter dem Titel Ich und Ichbin,59 in dem er Werfels Poesie diskutierte und seinen »Feuilletonismus« mit seinem »Neupathos« verknüpfte, welcher einen »Mangel an Schwerpunkt« überde­ cken solle. Er erwähnt den »psychische[n] Geschlechtscharakter«,60 den Werfel in seinem Schreiben sehen will, während dieser seinen eigenen Stil als »unmittelbar und einfach«61 wahrnehme. Dieser jedoch, so führte Kraus aus, entspreche dem keinesfalls, stattdessen basiere sein Ausdruck auf ent­ liehenen Motiven und teils leeren Formulierungen. Anhand vieler Beispiele zeigte er unermüdlich auf, dass Werfels metaphysischer Schreibstil einem Akt der Spiegelung ohne Gegenstand ähnele: »Auf dem Wege von Christus fort, wieder auf dem Äserweg«.62 Kraus missachtete so nicht nur Werfels Anschuldigungen einer Latenz der jüdischen Identität, sondern er löste statt­ dessen eine umfassende literarische Debatte aus, in deren Zentrum die Frage nach dem »Ichbin« stand, nach dem poetischen Subjekt und der Art und Weise, wie es sich in Sprache, Rhythmus und Stil widerspiegelt – eine Frage, die in Kraus’ Verständnis nicht von einem ästhetischen Prinzip fest­ gelegt war, sondern von einem moralischen, einem Ausdruck von Lebenser­ fahrung an der Schwelle der Sprache. 58

58 Franz Werfel, Paulus unter den Juden. Dramatische Legende in sechs Bildern, Berlin/ Wien/Leipzig 1927, 69. 59 Karl Kraus, Ich und Ichbin, in: Wagenknecht/Willms (Hgg.), Karl Kraus – Franz Werfel, 117–148. 60 Ebd., 121. 61 Ebd. 62 Ebd., 123.

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Von der Transzendenz zur Dekadenz: Kraus’ Antwort Das Theaterstück Literatur oder Man wird doch da sehn, veröffentlicht im Jahr 1921, verfasste Kraus als Reaktion auf Werfels Drama Spiegelmensch; es kann somit als dessen theatraler Doppelgänger angesehen werden. In Anlehnung an Werfel untertitelte er es als Magische Operette in zwei Teilen – eine ironische Nachahmung, die sich auf die metaphysische Dimension beziehen sollte, die er zu dekonstruieren suchte. In dem Stück benutzte Kraus ebenfalls die Figur eines Spiegelmenschen, nur war dieses Mal der Spiegel gegen Werfel und dessen Milieu gerichtet. Er wandte sich nicht nur den in seinen Augen unangenehmen oder komischen Figuren der Expressio­ nisten zu, sondern legte zugleich Rechenschaft über das Konzept Spiegelung an sich ab. Wenn Werfels Intention darin bestand, Kraus als »Spiegelschrift­ steller« zu verhöhnen, ihn also als eine dämonische Figur erscheinen zu las­ sen, die durch ihre Spiegelbesessenheit die Falschheit des Schein-Ichs ver­ körpert und somit ein Jude bleibt, der keine Erlösung findet –, dann nahm Kraus das Spiegelargument wohl auf, bezog es jedoch nicht auf Phantasmen und mythische Visionen, um stattdessen mit seiner Hilfe und mit Mitteln der Satire hinter die Kulissen, auf den Entstehungsprozess dieser Literatur zu blicken. Folglich ist Literatur oder Man wird doch da sehn nicht auf einer Reise Richtung Osten und in einem fremden Land angesiedelt, sondern in einem Wiener Kaffeehaus. Aus Werfels zwölf Mönchen werden bei Kraus 26 Journalisten; aus den mythischen Kreaturen werden »Kibitzer«, die sich in einem Kaffeehaus versammeln, in dem weit und breit kein Kellner zu fin­ den ist. Manche Charaktere des Stückes werden namentlich erwähnt – darunter Max Brod, Franz Blei, Georg Kulka, Albert Ehrenstein und Rainer Maria Rilke –, während andere – der Schwarz-Drücker etwa – exemplarisch für eine mechanische Literaturproduktion stehen. Letzterer singt Das Lied von der Presse, das ebenjene Mechanisierung feiert. Bacchanten und Mä­ naden, pseudomythische und nietzscheanischen Figuren, bilden einen gleich­ sam repetitiven Chor, dessen Repertoire aus einer bloßen Mischung von Zitaten aus der expressionistischen Literatur, aus einem Dekadenzdiskurs und diversen Klischees aus der Presse besteht. Bei manchem Vers handelt es sich um ein wörtliches Zitat aus Werfels Spiegelmensch.63 Der Schauplatz Kaffeehaus macht aus Werfels wagnerianischem und faustischem Drama eine Seifenoper und Thamals Heldenreise zur Parodie. Die Figuren des kom­ plexen Stückes geben sich einem Redeexzess hin und erzeugen eine Kakofo­

63 Siehe Martin Leubners ausführlichen Vergleich, in: ders., Synopse zum Unruh-Gespräch der Mänaden, in: ders. (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 337– 345.

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nie aus Dialekten und Klängen; sie debattieren fortlaufend über literarische und poetische Stile sowie über die Rolle von Presse und Psychoanalyse. »CHOR DER BACCHANTEN […] Wir malen Gedichte, wir bauen an Bildern, wir haben Gesichte, die sind nicht zu schildern. Wohl aber zu lallen. Wir bellen, wir ballen. Wir malen, wir dichten, ohne uns zu verpflichten; die Blinden und Tauben, die müssen dran glauben. Wir wissen, es kann uns nix gschehn. Man wird doch, man wird doch da sehn.«64

Der Chor erzeugt den Eindruck, es handele sich um ein kollektives Vorhaben statt um eine persönliche Rivalität. Werfels literarisches Tun wird als Teil einer allgemeinen Tendenz dargestellt, die Qualität durch Quantität ersetzt, die poetische Schöpfung mit literarischer Massenproduktion verwechselt. Doch wenn dies das Verständnis von Literatur des Prager Kreises sein soll, was kann man, in Kraus’ Worten, dann da sehen? Die Spannung zwischen dem, was Literatur zu leisten verspricht, und dem, was sie tatsächlich produziert, steht im Mittelpunkt des Stückes. Die Handlung, soweit man sie als solche bezeichnen kann, kreist um den jungen Johann Wolfgang (ein leicht zu entschlüsselnder Verweis), einen jungen Dichter, der davon träumt, so talentiert und begabt wie der »große Dichter Werfel« zu sein. Neben einem Generationenkonflikt wird zudem ein Kon­ flikt über Genres und Stile ausgetragen. Dies zeigt auch die oben zitierte Passage aus dem Chor der Bacchanten, in der sich nicht nur literarische Stile und Motive vermischen, sondern in der auch ideologische und religiöse Kli­ schees zwar mit Pathos, aber ohne Überzeugung vorgetragen werden. Als weiteres Beispiel mag ein Monolog des Vaters dienen: »DER VATER No also, was hab ich gesagt, was sagt man, er redt kein Wort, das von ihm selber is! Er hat Gehör, doch keinen eigenen Ton, so wahr ich leb, was man da sagt, is wahr; gelesen hab ich, seine Sprache is von einem Klassiker, wie heißt er nur, 64 Zit. nach ders. (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 14 f.

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ja richtig Werfel, von dem alten Werfel, er hat sich ganz in ihn hineingelebt, man hört nur Frankfurts Laute und sein Weimarsch tönt akkurat, als obs von Werfel wär. Doch mir macht er nichts vor und ich erkenn ihn, ich hab ihn noch gekannt, wie er so klein war – wer denn wie ich? Jedoch an der Gewure, mit der ers macht, merk ich, er ist mein Sohn! Nur tuts mir leid, daß so viel Tüchtigkeit auf Schmonzes wird verwandt anstatt auf Tachles.«65

Diese Zeilen verdeutlichen, dass Kraus’ Problem nicht in der heimsuchen­ den Figur des Spiegelmenschen – also ihm selber – liegt, sondern im Mangel an Integrität und Charakter des jungen Johann beziehungsweise Werfel. Der Vater beschuldigt seinen Sohn, statt originäre Dichtung zu schaffen, ledig­ lich Werfel zu imitieren. Max Brod, der sich über das Stück echauffierte, war trotzdem davon überzeugt, dass dessen Urheber Werfels echten Vater porträtiert hatte, und sprach der fiktionalen Szene in Bezug auf den Genera­ tionenkonflikt eine gewisse Stichhaltigkeit zu.66 Dies führte das Spiegelmo­ tiv ad absurdum und deutete den expressionistischen Vater-Sohn-Komplex zu einer Debatte über Literatur und Nachahmung um. Der Vater unterschei­ det zwischen klarer und zielgerichteter »Tachles«-Rede und den von dem sogenannten Werfel-Imitator entliehenen Metaphern und Phrasen: »Schmonzes«.67 Der Unterschied selbst wird durch eine Mauschel-Rede getroffen; die Frage nach dem »Besitz der Sprache« durch eine hybride jüdi­ sche mimetische Rede gestellt. Dieses Problem von Besitz und verschobener Sprache bezieht sich konkret auf das, was ausführlich anhand von Werfels Spiegelmensch besprochen wurde, nämlich die Lücke zwischen dem Sein und dem Ausdruck. Wohin alle Figuren des Stückes auf verschiedene Weise streben, ist die Selbstinszenierung durch Zitieren und Nachahmen, meist unehrlich und übertrieben. Kraus wies in seinem Essay Aus der Sudelküche von 1921 auf diesen Punkt hin, indem er direkt auf den Spiegelmensch ant­ wortete und die Grundfragen darlegte, welche er später in Literatur satirisch weiterentwickelte. Über Werfels nachahmenden Stil äußerte er sich so: »Doch wird man diesem gastfreundlichen Ohr nicht bestreiten können, daß es doch am liebsten jene Klänge aufnimmt, in denen beide Tonfälle, des Suchers und des Versu­ chers, Psalter und Grille, zusammenschleimen wie die zwei Seelen, die ach in der Brust dieses Dichters wohnen, ihn aber beide zu den Gefilden hoher Ahnen heben.«68 65 Ebd., 21 f. 66 Siehe ebd., 370. 67 Zur Frage nach Schmonzes siehe Hans Peter Althaus, Mauscheln. Ein Wort als Waffe, Berlin/New York 2002. Während Althaus die negativen Aspekte von Kraus’ Mauscheln betont, möchte ich die hierin enthaltene Ambivalenz herausstellen. 68 Karl Kraus, Aus der Sudelküche, in: F 561–567 (1921), 53–68, hier 66.

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Für Werfel und auch für Kraus waren die Frage nach den Ausdrucksmög­ lichkeiten der Literatur und die nach der jüdischen Assimilation unmittelbar miteinander verbunden. Auch der Generationenkonflikt stellte für beide nicht nur eine Krise des Genres, sondern auch eine der Identitäten dar. Aber während für Werfel das auf Goethe verweisende Phänomen der »zwei See­ len in einer Brust« eine Allegorie auf die rivalisierenden jüdischen wie christlichen Identitätsvorstellungen und -projektionen darstellte – was er als faustisches Drama und in Weiningers Terminologie ausdrückte –, war der Sachverhalt für Kraus zuallererst ein Zitat, ein aus dem Kontext gerissener literarischer Verweis. Und dieser hatte sich in seinen Augen zu rechtfertigen: Was bedeutet es, auf der Suche nach einer authentischen (jüdischen) Iden­ tität Goethes Faust zu zitieren? Warum ist diese Suche durch eine Über­ frachtung mit Symbolen und Metaphern bereits vordefiniert? Wie ist es überhaupt möglich, beim Gebrauch entlehnter Wörter Originalität respektive Subjektivität zu erzeugen? Auch wenn diese Fragen nicht einfach zu lösen sind, zeigen sie doch Kraus᾿ differenzierte theoretische Position auf, die nicht etwa das Original gegen die Nachahmung verteidigte, sondern den Unterschied zwischen einer Nachahmung als bloßer Selbstinszenierung und einer poetisch-literarischen Nachahmung als Alternative zum Identitäts­ diskurs betonte. In diesem Sinne war das Problem der Figur des Johann beziehungsweise Werfels nicht das Mauscheln und dass seine Rede zu weit vom Hochdeutschen entfernt wäre, sondern das genaue Gegenteil: dass er nicht mauschelte. Johann (Werfel) versuchte, die Spannungen und Mehr­ deutigkeiten der Zitathaftigkeit zu übergehen, statt sie zu problematisieren. Dies bedeutet hingegen nicht, dass Kraus’ Kritik aus einer Vorstellung von literarischer Authentizität oder einem Anspruch herrührte, literarische Texte könnten »besessen« werden – schließlich wird dies in seinem Stück durch performative Rede gründlich kritisiert. Kraus folgend lässt sich somit behaupten, dass das Zitat von Goethes Dik­ tum der »zwei Seelen in einer Brust« sich nicht auf die Darlegung eines Stands der Dinge beschränkte – Fausts aufgewühlten »Geist« oder Werfels »deutsch-jüdisches Ich« –, sondern einen Sprechakt darstellte. Der Gebrauch bestimmter Wörter und Sätze kam in diesem Fall einer Geste der Selbst­ inszenierung gleich. Dieser Logik zufolge dürfe der Generationenkonflikt, ebenso wie das gesamte mit ihm einhergehende psychoanalytische Reper­ toire, nicht für bare Münze genommen werden. Vielmehr handelt es sich hier um diskursive Strategien, für die eine Erklärung nötig ist.69 Der Kern von 69 Ein interessanter Versuch einer solchen Rechtfertigung wird in Paul Reitters Studie unter­ nommen, die aufzeigt, wie die Frage nach Kreativität und Authentizität mit der sozialen Stellung jüdischer Intellektueller in der deutschsprachigen Welt zusammengeht. Reitter argumentiert, dass die literarischen Motive auch Symptome eines Generationenkonflikts

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Kraus’ Kritik an Werfel besteht darin, dass dieser, obwohl er sich von seiner jüdischen Identität distanzierte und dem Zionismus widerstand, sich dessen negative Energie für seine jüdisch-christliche Synthese, die darin bestand, Subjektivität auszubilden, zunutze machte. Für Kraus hingegen versagten beide Optionen und er stellte fest: »Ich bin nicht Jud genug, um ein Christ zu sein!«70 Stattdessen begrüßte er die Rolle des Epigonen, der alle gegebenen Standpunkte negiert und kritisch spiegelt.71 Es ist diese Spiegelstrategie, die Werfel und andere als Kraus’ selbsthassende jüdische Identität bezeichneten – eine Unterstellung, die Kraus nicht bestritt oder beiseite schob, sondern selber zitierte und in seine Literatur mit einschloss. Dies zeigt ein Beispiel, in dem sich der Vater über ihn äußert, ohne seinen Namen zu nennen: »DER VATER: […] ein eitler Mensch und ganz ohne Charakter. […] Er is von allem nur das Gegenteil. Was will er haben? Er is doch e Jud! […] RUFE: ›Das ist sein Vaterkomplex!‹, ›Selbsthaß des Judentums!‹, ›Alles was er kann, is’ uns nachjüdeln!‹, ›Epigone!‹ […]«72

Die Figur des Vaters gesteht ein, dass sie Kraus nicht leiden kann und ihm gegenüber ein Unbehagen verspürt. Die Rufer wiederholen all diese Behauptungen, die Kraus abwechselnd als Volksfeind, selbsthassenden Juden oder Träger eines ausgeprägten Vaterkomplexes darstellen. Es handelt sich weder um Wahrheiten noch Lügen, sondern um ideologische Rede, die auf Zitaten basiert, die in dem Text als Rufe, als das Wort der Straße erschei­ nen. Es ist dieses Phänomen der Worthülsen- und Parolenbildung, das Kraus während des Ersten Weltkriegs kritisierte und in Die letzten Tage der in der jüdischen Gesellschaft sind: ebenjener Krise der Tradition und der paradoxen Situa­ tion jüdischer Intellektueller, die an der Grenze zweier Kulturen standen und sich von die­ sem Spagat nicht freimachen konnten. Siehe ders, The Anti-Journalist. Karl Kraus and Jewish Self-Fashioning in Fin-de-Siècle Europe, Chicago, Ill./London 2008, 179: »Kraus prized opposing, mimetic tendencies: i. e., mirroring and quoting language. And in var­ ious ways he associated these tendencies with an unassimilated and ‘undomesticated’ Jewish culture. As I have stressed, it is as if establishing a truly radical position as a Jew­ ish journalist had to entail what amounted to a radical performance of German-Jewish identity.« 70 Karl Kraus, Nach zwanzig Jahren, in: F 508–513 (1919), 1–7, hier 6. 71 Siehe Joachim W. Storck, Karl Kraus. Ein Antipode der Identitäten, in: Ariane Huml/ Monika Rappenecker (Hgg.), Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien, Würzburg 2003, 99–118. 72 Zit. nach Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 55.

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Menschheit auf die Bühne brachte.73 Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Was für Kraus hier auf dem Spiel stand, war nicht sein persönliches Ansehen, sondern die Ablehnung eines Identitätsdiskurses und dessen pseu­ dopsychoanalytischer Festlegungen. Für Kraus befanden sich Identität und Subjektivität im Widerspruch zueinander: Identitätskategorien waren für ihn gesellschaftliche Stereotype und ideologische Zitate, folglich bewusst fabri­ ziert und gebildet, und zwar hauptsächlich durch die Presse. Er dagegen wollte für niemanden identisch sein, noch nicht einmal für sich selbst. Sub­ jektivität gründete sich jedoch auf einen persönlichen Standpunkt und basierte in diesem Verständnis weniger auf Positionen denn auf Negationen. Die Negation von Judentum und Christentum erlaubte es Kraus somit, sich als jemand vorzustellen, der sich niemals in gesellschaftlichen Rollen oder religiösen Kategorien heimisch fühlt. Sein Übertritt zum Katholizismus 1911, genauso wie seine Abwendung vom Christentum nach 1921, sind somit weder als Folge einer Identitätskrise oder »Teilung des Selbst« aufzu­ fassen noch als Ausdruck jüdischen Selbsthasses oder der Inkonsequenz eines Christen. Wie in der Spiegelmensch-Debatte deutlich wird, perfektio­ nierte Kraus vielmehr seine mimetischen Fähigkeiten der Reflexion und der Verdopplung, er sprach nicht durch, sondern über Sprache und erschuf dadurch ein Spiegelbild, das jede Rede entfremdete und problematisierte – sei es die des Christentums oder die des Militärs, die des Feuilletons oder die des jüdischen Jargons.

Tachles und Schmonzes – ein Fazit Scott Spector, der die komplizierte Verfasstheit des Prager Kreises diskutiert hat, konstatierte, dass in der Forschung eine »nachhaltige Analyse dieser ›aufgewühlten Subjektivitäten‹«74 fehle. Er schlug vor, ihre Werke und die sich an ihnen entzündenden Debatten jenseits der eingeschliffenen Muster des Assimilations- und Identitätsdiskurses neu zu denken, vor allem auch um die Tendenz zur Pathologisierung jener Standpunkte zu vermeiden. Es ist unstrittig, dass Kraus und Werfel neben ihrer Ablehnung dieses Diskurses auch eine »aufgewühlte Subjektivität« teilten. Beide gelangten, wenngleich mit gegensätzlichen Strategien, zur literarischen Subjektivität als einer Form der Identitätskritik. Für Kraus und Werfel konnte »Jüdischkeit« jedoch nicht 73 Siehe dazu Sigurd Paul Scheichl, Karl Kraus’ »Weltgericht«. Eine Bilanz, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 285–308. 74 »What has been lacking in the study of secular Judaism has been a sustained analysis of these ‘troubled subjectivities’«. Scott Spector, Forget Assimilation. Introducing Subjec­ tivity to German-Jewish History, in: Jewish History 20 (2006), H. 3/4, 349–361, hier 352.

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positiv konnotiert sein, vielmehr fungierte sie als Störung oder Problemati­ sierung. Werfel verstand die Krise der Identität, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, als Bruch zwischen dem wahren und dem falschen Selbst, der die Erscheinungen der modernen Welt fast ununterscheidbar mache. In eben­ diese Lücke sollte die von ihm ersonnene neue Religion eintreten – wobei es die Literatur sein sollte, die die Rolle der heiligen Schriften einnähme, wäh­ rend er selbst den neuen Paulus darstellte. Werfels Versuch, eine postexpres­ sionistische Erlösungsliteratur zu entwickeln, basierte jedoch auf der Rück­ kehr zu einem vorsprachlichen Moment – die sich mit einer lacanschen Wendung als Moment avant la lettre bezeichnen ließe. Während Werfel und Kraus den kritischen Zugang zu Sprache teilten, bestand für Werfel die Herausforderung in der Überwindung von Logos und Eros, wodurch eine metaphysische Schreibweise erlangt werden sollte, die jedes »Ichbin« trans­ zendiert, um ein neues »Wirsind« zu erschaffen. Kraus hingegen blieb der Sprache in ihrer materiellen, fast schon physischen Form fest verbunden, die jedem Versuch, das »Ich« durch ein ideologisches »Wir« zu rauben und zu entleeren, widerstand. Für ihn war Subjektivität, die ihren Ausdruck in Zitat­ haftigkeit und Spiegelung findet, nur durch die Unterbrechung des Identi­ tätsdiskurses zu erreichen. Die Kritik der Identität nahm bei Kraus in der deformierten und deformierenden Rede des jüdischen Jargons sowie des Mauschelns Gestalt an. Schließlich ist es genau dieses Verfahren, das Kraus in seiner Replik auf die Verleugnung des Mauschelns in Werfels Werk nutzt und das es ihm ermöglicht, ein alternatives Verständnis von literarischer und subjektiver Kreativität zu entwickeln. Der Konflikt zwischen beiden Auto­ ren kann somit auch als eine Diagnose »der inneren schrecklichen Lage [einer] Generation« gelesen werden, in der sich die Relation zwischen einer vermeintlichen deutschen Literatur und einer jüdischen Identitätskrise aus­ sprach, so wie es Franz Kafka in seinem berühmten Brief an Max Brod aus dem Jahr 1921 beschrieb, in dem er nach der Lektüre von Literatur oder Man wird doch da sehn zu dem durchaus ambivalenten Urteil kam: »So mauscheln wie Kraus kann niemand.«75 75 Franz Kafka, Briefe 1902–1924, hg. von Max Brod, Frankfurt a. M. 1975, 337 f., hier zit. nach Leubner (Hg.), Karl Kraus’ »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 209. Kafkas Brief ist ein weiteres herausragendes Zeugnis der gesamten Debatte um Sprache und jüdi­ sche Identität. Er enthält eine eigene Definition des Mauschelns als Nichtbesitz der Spra­ che. Nach Kafka kann die deutsch-jüdische literarische Tradition über dieses Verständnis, das das fremde Element und die Frage nach dem unmöglichen Besitz hervorhebt, gefasst werden. Siehe z. B. David Suchoff, Kafka’s Jewish Languages. The Hidden Openness of Tradition, Philadelphia, Pa., 2011. – Wesentliche Teile dieses Artikels sind im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes am Simon-Dubnow-Institut im Herbst 2014 entstanden. Für diese Gelegenheit wie auch die dort empfangene Gastfreundschaft danke ich dem Institut und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ein besonderer Dank richtet sich ferner an Professor Galili Shahar, auf dessen Arbeit viele der vorliegenden Ideen zurückgehen, sowie an Luca Beisel für die Unterstützung bei der Abfassung des deutschen Textes.

Literaturbericht

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»An Gott glaube ich nicht mehr« – Katholische Tradition und politische Theologie innerhalb der argentinischen Guerilla der 1960er Jahre In jener Nacht im März 1958, bevor der argentinische Journalist Jorge Ricardo Masetti (1929–1964) auf seiner Reise in die kubanische Sierra Maestra auf Fidel Castro treffen sollte, rastete er in einem provisorischen Lager der Guerilla. Damit der Besucher nicht unter freiem Himmel schlafen musste, hatte ihn der Kommandant in einer verlassenen, halb verfallenen Kapelle einquartiert. Und so schlief Masetti nach eigenem Bekunden unter einem großen, weißen Holzkreuz und einem Bildnis der Jungfrau Maria, das über einem kleinen Altar angebracht war, als am frühen Morgen Fidel Castro mit einer dämmrigen Lampe aus der Dunkelheit erschien, um ihn zu wecken.1 Diese Begebenheit sollte sich für den weiteren Verlauf seines Lebens und Wirkens als emblematisch erweisen. Fast auf den Tag genau sechs Jahre nach dem ersten Treffen von Castro und Masetti in der Sierra Maestra erklärte der argentinische General Julio Alsogaray (1918–1994) am 26. März 1964 gegenüber der Tageszeitung La Nación: »Wenn dies der sogenannte revolutionäre Krieg ist, dann hat dieser Krieg in Argentinien nun begonnen.«2 Seit Beginn des Jahres hatten sich aufseiten der Sicherheitsbehörden des südamerikanischen Landes Hinweise verdichtet, dass in der unwegsamen Gegend um Orán im Grenzgebiet zu Bolivien eine, wie der General hinzufügte, »Fraktion einer weitgefächerten subversiven Organisation, die nicht nur Verästelungen in unserem Land, sondern mutmaßlich auch Verbindungen ins Ausland hat«,3 operierte. Nach­ dem die Polizeikräfte das bergige Gebiet weiträumig umstellt hatten, wurde die nicht mehr als zwei Dutzend Kämpfer zählende Guerilla noch vor Ende des folgenden Monats zerschlagen.4 Die Verhöre der 18 festgenommenen 1 2

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Jorge Ricardo Masetti, Los que luchan y los que lloran [Jene, die kämpfen und jene, die weinen], Buenos Aires 1958, 101. »Si esto se llama guerra revolucionaria, esta guerra ya comenzó en la Argentina.« Julio Alsogaray, La vasta organización de la guerrilla tenía ramificaciones en otros países de América [Die umfangreiche Guerillaorganisation hatte Verzweigungen in andere Länder Amerikas], in: La Nación, 26. März 1964. »Una fracción integrante de una vasta organización subversiva con ramificaciones no solamente en el país, sino también presumiblemente, con conexiones en el exterior.« Ebd. Siehe hierzu auch Alberto Oscar Fernández, Crónica de una guerrilla [Chronik einer Gue­ rilla], in: Revista de Gendarmería Nacional, Nr. 8/9, 1965, zit. nach Gabriel Rot, Los orí­ JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 479–508.

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Überlebenden sollten die Vermutungen Alsogarays alsbald bestätigen und sogar noch bestärken: Die Gruppe hatte nicht nur materielle und personelle Unterstützung aus Havanna erhalten, sondern ihr Einsatz stellte den direk­ ten, von Ernesto »Che« Guevara (1928–1967) angeleiteten Versuch dar, die Kubanische Revolution auf das argentinische Staatsgebiet auszuweiten. Die unter dem Namen Ejército Guerrillero del Pueblo (Guerilla-Armee des Volkes; EGP) operierende Guerilla hatte, nach Aufenthalten in der Tschechoslowakei und Algerien, bereits zwischen Mai und Juni 1963 von Bolivien aus die Grenze zu Argentinien überquert und ein erstes Guerilla­ kamp in der Nähe des Flusses Bermejo errichtet. Die eigentliche Vorberei­ tung, die militärische Ausbildung sowie die strategische Planung, war jedoch zuvor auf Kuba erfolgt. Doch nicht Guevara selbst führte das Kom­ mando über die Männer, sondern einer seiner engsten Vertrauten: Jorge Ricardo Masetti. Der Argentinier, der 1958 vordergründig in die Sierra Maestra gereist war, um für seinen Arbeitgeber Radio El Mundo eine ausführliche Repor­ tage über die Bewegung Castros zu verfassen, hatte nach seiner Begegnung mit den charismatischen Revolutionären eine fundamentale Wandlung durchlaufen. War er während seiner Jugend Mitglied der ultranationalisti­ schen Alianza Libertadora Nacionalista (Nationalistische Befreiungsallianz; ALN) gewesen, die unter Berufung auf die Doktrinen des argentinischen Katholizismus und des europäischen Faschismus verbal und physisch die politische Linke und Juden verfolgte, verließ der zuvor tiefreligiöse Masetti die Insel als ein Anhänger der Kubanischen Revolution, der jegliche Verbin­ dung zur Kirche von sich wies. Im Verlauf seines zweimonatigen Aufent­ halts hatte er enge Beziehungen zu den Kämpfern aufbauen und vor allem das Vertrauen seines Landsmanns Ernesto Guevara und Fidel Castros gewin­ nen können. Kurz nach dem Sieg der Revolutionstruppen kehrte er auf die Karibikinsel zurück, um dort als Vertrauter Guevaras die Nachrichtenagen­ tur Prensa Latina aufzubauen. Anfang der 1960er Jahre entwickelte Masetti zusammen mit Ernesto Guevara das Vorhaben, dessen »Fokustheorie« auf ihr Heimatland Argentinien zu übertragen.5 Guevara hatte mit seiner Schrift La guerra de guerrillas (Der Guerillakrieg)6 eine voluntaristische Revolu­

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genes perdidos de la guerrilla en la Argentina [Die verlorenen Ursprünge der Guerilla in Argentinien], Buenos Aires 2010, 283. Jon Lee Anderson, Che Guevara. A Revolutionary Life, New York 1997, 408 und 538. Ernesto Guevara, La guerra de guerrillas, Havanna 1960 (dt.: Der Partisanenkrieg, Berlin 1962). Die Fokustheorie, v. a. in der von Régis Debray weiterentwickelten Form (Révolu­ tion dans la révolution? Lutte armée et lutte politique en Amérique latine [Revolution in der Revolution? Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika], Paris 1967), wurde zum zentralen theoretischen Referenzpunkt bewaffneter linker Gruppierun­ gen, so der Roten Brigaden in Italien, der Roten Armee Fraktion in Deutschland oder der Action Directe in Frankreich.

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tionstheorie entworfen, die besagte, dass bereits eine verhältnismäßig kleine Gruppe von entschlossenen Kämpfern durch den fokussierten Angriff auf strategisch wichtige Ziele und intensive politische Arbeit mit der Bevölke­ rung dazu in der Lage sei, einen gesellschaftlichen Umsturz zu katalysieren. Allerdings scheiterte die von Masetti angeführte Guerilla in Argentinien kläglich: Das für die Operation ausgewählte Territorium in Salta, dem nörd­ lichsten Bundesstaat des Landes, hatte sich als völlig ungeeignet erwiesen. Weder existierte eine quantitativ nennenswerte Landbevölkerung, die sich für den revolutionären Kampf hätte agitieren lassen können, noch waren – bis auf Ausnahmen – die wenigen Bauern der Gegend bereit, die Kämpfer materiell zu unterstützen.7 Bevor sie von den Sicherheitsbehörden festge­ nommen werden konnten, starben zwei der Kämpfer an Unterernährung, weitere auf der Flucht durch Unfälle; und auch Masettis Spur verliert sich, wie die seines Begleiters, in den Bergen Saltas, wo er allem Anschein nach verstarb. Auf den ersten Blick stellen sich die Ereignisse, die den rapiden Nieder­ gang einer der ersten in der Tradition der Kubanischen Revolution stehenden Guerillas in Argentinien herbeigeführt hatten, als die Geschichte eines unbe­ holfenen militärischen Fiaskos dar. Tatsächlich aber war das Unternehmen lange vor der Entdeckung durch die staatlichen Behörden zu einem Desaster geworden. Denn obwohl die Guerilleros kaum einen Schuss gegen den ver­ meintlichen Feind, die argentinischen Militärkräfte, hatten abgeben können, waren mehrere Menschen durch ihre Hand umgekommen. Im Verlauf ihres Bestehens führte die Gruppe drei interne Militärtribunale durch, die, biswei­ len auf Drängen Masettis, mit der im Reglamento de Justicia Militar N°1 (Bestimmungen über Militärgerichtsbarkeit Nr. 1) des EGP vorgesehenen Höchststrafe endeten: dem Tod durch Erschießen. Noch während die militärischen Vorbereitungen in Algerien liefen, fiel das erste Urteil gegen den heute nur noch als Miguel bekannten Kämpfer, der Masettis autoritären Führungsstil infrage gestellt und durch Kontaktauf­ nahme zu seiner Familie gegen die strikte Ordnung verstoßen hatte.8 Am 5. November 1963 ließ Masetti – die Gruppe operierte zu diesem Zeitpunkt 7

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Gabriel Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 220–222. Eines der wenigen Dokumente des EGP war ein offener Brief an die Bauern der Umgebung. Das EGP-Mitglied Henry Lerner erinnert sich an dessen Rezeption: »Es gab niemanden, dem wir ihn hätten geben können, es existierten weder ein Sozialgeflecht noch verarmte Mas­ sen. Wenn wir überhaupt mal jemanden antrafen, dann konnten sie nicht einmal lesen.« Ebd., 256. In Algerien befand sich die Gruppe aufgrund der guten Beziehungen Masettis zu Ben Bella und Houari Boumedienne. Die Ausführung der Exekution delegierten die Verant­ wortlichen des EGP an eine Einheit des algerischen Front de Libération Nationale, die den Verurteilten zwar abführte, jedoch ohne Wissen der Guerilla am Leben ließ. Vgl. Anderson, Che Guevara, 745.

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schon im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Argentinien – Adolfo Rotblat9 und wenige Wochen später, am 19. Februar 1964, auch Bernardo Groswald10 von den eigenen Kameraden erschießen. Folgt man den retrospektiven Dar­ stellungen aus dem Umfeld des EGP, war beiden zum Verhängnis geworden, dass sie den physischen und psychischen Belastungen des Lebens in den Bergen nicht länger standgehalten und durch ihren pathologischen Verfall die gesamte Gruppe belastet hatten.11 Henry Lerner konnte dem endgültigen Urteil durch die Intervention eines Vertrauten von Masetti gerade noch ent­ kommen.12 Ihn hatte Masetti in ähnlicher Weise schikaniert wie die beiden anderen Opfer. Erst viele Jahre später wurde Lerner sich eines bis dahin im Verborgenen gebliebenen Faktums bewusst: Gegenüber Jon Lee Anderson machte er deutlich, dass sowohl er als auch Rotblat, Groswald und Miguel allesamt jüdischer Herkunft waren.13 Vor dem Hintergrund der politischen Transformation Masettis wirft diese Gemeinsamkeit Fragen auf, insbesondere natürlich die nach der Möglichkeit einer Verbindung zwischen Masettis Vergangenheit in der offen antisemiti­ schen ALN und der jüdischen Herkunft seiner späteren Opfer. Doch neben dieser individuellen existiert eine weitere, tiefer liegende Ebene. Denn der von Masetti vollzogene Übergang von einer katholisch geprägten, rechtsna­ tionalistischen Organisation zu Gruppierungen, die ausgehend von der Kubanischen Revolution zum linksnationalistischen bewaffneten Kampf aufriefen, steht beispielhaft für die Lebensläufe diverser hoher Führungska­ der der sogenannten argentinischen Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre. Insofern möchte der vorliegende Beitrag, ausgehend von der For­ schungsliteratur sowie der publizistischen Rezeption des EGP und des poli­ tischen Wirkens Masettis, die Frage aufwerfen, welche geistesgeschichtli­ chen Konstellationen diesen zunächst als eigenwillig erscheinenden Übergang ermöglichten. Hierzu bedarf es neben der Analyse der individuel­ len Entwicklung des späteren Guerillakommandanten zunächst einer Dar­ stellung jener Traditionsbestände, die während der ersten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts zur Herausbildung eines spezifisch argentinischen Katholizismus führten, in dessen Narrativ nationalistische, von modernem wie religiösem Antisemitismus durchsetzte Topoi aufgenommen wurden. 19 Nom du Guerre »Pupi«. 10 Nom du Guerre »Nardo«. 11 La guerrilla del Che en Salta, 40 años después. Testimonio de Héctor Jouve [Die Guerilla des Che in Salta. 40 Jahre später. Zeugnis von Héctor Jouve], in: Pablo René Belzagui (Hg.), No Matar. Sobre la responsabilidad [Du sollst nicht töten. Über die Verantwor­ tung], Buenos Aires 2007, 11–29, hier 14 (Nachdruck des gleichnamigen Textes aus der Zeitschrift La Intemperie, Córdoba 2004); Ricardo Rojo, Mi amigo el Che [Mein Freund Che], Buenos Aires 1968, 142 f. 12 Ciro Bustos, Che Wants to See You, London/New York 2013, 155. 13 Anderson, Che Guevara, 558.

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Unnachgiebiger Katholizismus Jorge Ricardo Masetti wurde 1929 in Avellaneda, einem von Industrieanla­ gen geprägten Vorort der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, geboren. Seinem Großvater José Masetti war während der Ägide des reaktionären Caudillos Alberto Barceló (1873–1946),14 der den Ort zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit eiserner Hand regierte, ein beachtlicher sozialer Auf­ stieg gelungen. Als Sohn mittelloser italienischer Einwanderer 1880 als Zehnjähriger ins Land gelangt, hatte er sich im Laufe seines Lebens bis zum Schatzmeister des renommierten Fußballvereins Racing Club und Vorsitzen­ den der Hygienekommission in Barcelós Partido Provinical hinaufgearbei­ tet. Er hatte sich, wie Masettis Witwe Conchita Dumois Sotorrío später schreibt, selbst zu jener Art Caudillo entwickelt, »der die Menschen und ihre Stimmen lenkte«.15 Masettis Eltern hingegen vermochten es nach dem Tod des Großvaters 1928 nicht, den einmal erlangten sozialen Status aufrecht­ zuerhalten, und sahen sich bald mit dem schrittweisen Verlust ihrer gesell­ schaftlichen wie ökonomischen Stellung konfrontiert. In dieser Situation der Unsicherheit wandte sich die Familie Masettis – vorangetrieben von der Mutter, die als achte Tochter analphabetischer Einwanderer aus Galicien aufgewachsen war – in tiefer Ergebenheit der Religion zu.16 Diese auf familiärer Ebene vollzogene Verschiebung war nicht nur Aus­ druck eines biografischen Bruchs. Vielmehr spiegelt sich in ihr eine in den 1930er Jahren manifest werdende gesamtgesellschaftliche Entwicklung, deren Ursprung bis in die Kolonialzeit zurückreicht und eng mit einer der profundesten geistesgeschichtlichen Traditionen des Landes verwoben war: dem Katholizismus. Für dessen Genese weist die Forschungsliteratur nahezu einhellig auf die zentrale Bedeutung der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun­ derts hin.17 Während der 1930er und 1940er Jahre gelangte eine Entwick­ 14 Zu Barceló siehe Ricardo Vicente, La Avellaneda de Barceló en la década infame [Avella­ neda von Barceló während der Infamen Dekade], Buenos Aires 2011; Norberto Folino, Barceló y Ruggierito. Patrones de Avellaneda [Barceló und Ruggierito. Die Herrscher über Avellaneda], Buenos Aires 1971. 15 Conchita Dumois Sotorrío/Gabriel Franchossi Molina, Jorge Ricardo Masetti. El Coman­ dante Segundo [Jorge Ricardo Masetti. Der Zweite Kommandant], Havanna 2012, 35. 16 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 31 f. 17 Loris Zanatta, Del estado liberal a la nación católica. Iglesia y ejército en los orígenes del Peronismo [Vom liberalen Staat zur Katholischen Nation. Kirche und Armee in der Ent­ stehung des Peronismus], Buenos Aires 1996; Fortunato Mallimaci, El catolicismo integ­ ral en la Argentina (1930–1946) [Der integrale Katholizismus in Argentinien (1930– 1946)], Buenos Aires 1988; Roberto Di Stefano/Loris Zanatta, Historia de la iglesia argentina. Desde la Conquista hasta fines del siglo XX [Geschichte der argentinischen Kirche. Von der Entdeckung Amerikas bis zum Ende des 20. Jahrhunderts], Buenos Aires 2000; Miranda Lida, Catolicismo y sociedad de masas en Argentina, 1900–1950 [Katholi­ zismus und Massengesellschaft in Argentinien, 1900–1950], Rosario 2009.

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lung zu einem Höhepunkt, die unter Rückgriff auf einen zuvor für das Frankreich des 19. Jahrhunderts von Émile Poulat18 geprägten Terminus als catolicismo intransigente (Unnachgiebiger Katholizismus) beziehungsweise catolicismo integral (Integraler Katholizismus) bezeichnet werden kann und in erster Linie durch die Rekonfiguration des Verhältnisses zwischen Katho­ lizismus und Kirche auf der einen und Politik und Gesellschaft auf der ande­ ren Seite bestimmt ist. Um diese während des ersten Lebensjahrzehnts Jorge Ricardo Masettis kulminierende Transformation nachvollziehbar zu machen, bedarf es zunächst jedoch eines geschichtlichen Rückgriffs. Mit der Erteilung des Patronatsrechts 1508 an die spanische Krone über­ trug Papst Julius II. dem iberischen Königshaus den Auftrag zur Missionie­ rung des neu entdeckten Amerikas sowie die dafür notwendige Besetzung sämtlicher kirchlichen Ämter. Von Beginn der Kolonialisierung an waren die Kirche und ihre Verkündigung damit an die politischen und gesellschaft­ lichen Prämissen der hispanischen Herrscher gebunden.19 Das daraufhin unter spanischer Herrschaft errichtete Regime einvernehmlich entschlosse­ ner Religiosität etablierte eine Gesellschaftsordnung, in der, zumindest juris­ tisch betrachtet, sämtliche Mitglieder ein und demselben Glauben angehör­ ten. Von einer Beziehung zwischen Staat, Kirche und Gesellschaft zu sprechen ist vor diesem Hintergrund, wie Roberto Di Stefano und Loris Zanatta in ihrer 2009 erschienenen Geschichte der argentinischen Kirche darlegen, anachronistisch. Denn, so führen die Autoren aus, die zivilen und klerikalen Autoritäten bildeten bis ins 18. Jahrhundert keine disparaten Insti­ tutionen, vielmehr deckten sie unterschiedliche Bereiche in der Ausübung ein und derselben Macht ab.20 Im 18. Jahrhundert geriet die Machtausübung der spanischen Krone in Lateinamerika immer weiter in eine Krise. Die in diesem Zuge angestreng­ ten Bourbonischen Reformen, die auf eine politische Rationalisierung der Kolonialherrschaft zielten, sollten sich – so legt die Forschungsliteratur

18 Èmile Poulat, Intégrisme et catholicisme intégral. Un réseau secret international antimo­ derniste [Fundamentalismus und integraler Katholizismus. Ein internationales antimoder­ nistisches geheimes Netzwerk], Paris 1969; ders., L’Église, c’est un monde. L’ecclésios­ phère, Paris 1986, 14. Geprägt hatte Poulat den Begriff für jene Strömung innerhalb der Katholischen Kirche, die sich entschieden gegen die Moderne, gegen Liberalismus und Säkularisierung im Nachklang von Aufklärung und Französischer Revolution zur Wehr gesetzt hatte. 19 Walther L. Bernecker, Spanische Geschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1999, 23. 20 Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 26. Grundlegend zur Geschichte der Kirche in Argentinien auch das über 15 Jahre hinweg entstandene zwölfbändige Werk von Bruno Cayetano, Historia de la Iglesia en la Argentina [Geschichte der Kirche in Argentinien], Buenos Aires 1966–1981.

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dar21 – nachhaltig auf die Säkularisierung der Region auswirken. Der Voll­ zug der Reformen trug maßgeblich dazu bei, dass sich das bislang äußerst diverse religiöse Leben um die kirchlich legitimierten Pfarrer zentrierte und diese gleichzeitig als zivilisatorische Vehikel einzusetzen begann, die ihre Gemeindemitglieder in moralischen Dingen unterrichteten und sie zu will­ fährigen Untertanen des aufklärerischen Herrscherhauses in Spanien erzo­ gen. Die Reformen legten auf diese Weise einerseits das Fundament für die spätere Herausbildung einer einheitlichen argentinischen Kirche, anderer­ seits hatten sie entscheidenden Anteil an der Verbreitung der europäischen Aufklärung.22 Über eine für die Zeitgenossen eher beiläufige, vor diesem Hintergrund jedoch bedeutsame Begebenheit legen Di Stefano/Zanatta Bericht ab. Als im Jahr 1806 englische Schiffe die Mündung des Rio de la Plata belagerten und die britischen respektive protestantischen Truppen drohten, Buenos Aires dauerhaft zu besetzen, hatten die kirchlichen Autori­ täten gegenüber diesen in einem Brief darauf hingewiesen, dass die Religion »dazu aufruft, den säkularen Autoritäten zu gehorchen« und »verbietet gegen sie zu intrigieren, wie auch immer ihr religiöses Bekenntnis sein mag«.23 Hier zeigte sich nicht nur die Schwäche der iberischen Kolonialherr­ schaft, die nicht mehr in der Lage war, die Souveränität über eines der wich­ tigsten Handelszentren in der Neuen Welt zu behaupten. Deutlich wird auch, dass aufseiten des Klerus bereits eine Vorahnung um sich griff, die als orga­ nisch betrachtete Verbindung zwischen Kirche und Staat könne brüchig wer­ den. Die institutionelle Krise der spanischen Krone, die sich in der Loslösung der La-Plata-Staaten ab 1810 manifestierte, traf aufgrund der engen Ver­ schränkung von Kirche und Staat in gleichem Maße auch den Klerus. Aller­ dings, und darauf weisen sowohl José María Ghio in seiner Studie über die katholische Kirche in der argentinischen Politik24 als auch Di Stefano und Zanatta hin, gerieten vorerst weder die Religiosität noch der Katholizismus

21 John Frederick Schwaller, The History of the Catholic Church in Latin America. From Conquest to Revolution and Beyond, New York/London 2011, 96–116; David Rock, Argentina 1516–1987. From Spanish Colonization to Alfonsín, Berkeley, Calif., 1987, 59; Robert McGeagh, Relaciones entre el poder político y eclesiástico en la Argentina [Beziehungen zwischen der politischen und der kirchlichen Macht in Argentinien], Bue­ nos Aires 1987, 18; Roberto Di Stefano, Por una historia de la secularización y de la laici­ dad en la Argentina [Für eine Geschichtsschreibung der Säkularisierung und des Laizis­ mus in Argentinien], in: Quinto Sol 15 (2011), 1–30, hier 4. 22 Di Stefano, Por una historia de la secularización y de la laicidad en la Argentina, 4. 23 »La religión ›manda obedecer a las autoridades seculares‹ y ›prohibe maquinar contra ellas, sea cual fuere su fe‹.« Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 202. 24 José María Ghio, La iglesia católica en la política argentina [Die katholische Kirche in der argentinischen Politik], Buenos Aires 2007, 22–25.

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als solcher in Bedrängnis. Es ist das »régimen de cristianidad«,25 das sich spaltet, also die geradezu symbiotische Verbindung zwischen kirchlicher Macht, politischer Macht und Zivilgesellschaft. Die neue politische Führung der jungen Republik bemühte sich jedoch, jetzt, da die hispanische Autorität weggebrochen war, den klerikalen Apparat weitgehend zu erhalten, da die­ ser über akzeptierte Strukturen der Machtausübung verfügte, an denen es ihr noch mangelte. Dennoch bedeutete die Unabhängigkeit auch mit Blick auf die Vorherrschaft der katholischen Kirche einen irreversiblen Bruch.26 Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachdem die Repu­ blik sich hatte konsolidieren können, wurde jene Rückbesinnung auf die kirchliche Legitimität immer mehr verdrängt. Seinen sichtbarsten Ausdruck fand dieser Umschwung in der Verfassung von 1853, die erstmals die These von der Staatskirche hinterfragte und die juristische Unterscheidung von Staatsbürger und Glaubensanhänger anerkannte. Die Verabschiedung der Verfassung markiert für Argentinien den Anbruch einer liberalen Phase, während der sich das Land zunehmend der Moderne öffnete und die Ein­ wanderung aus Europa gezielt förderte.27 Ausschlaggebend für den damit einhergehenden rapiden Wandel der gesellschaftlichen Struktur waren dem argentinischen Soziologen Gino Germani (1911–1979) zufolge die einset­ zende Massenimmigration aus Europa, die Ausbildung einer säkularen Bil­ dung sowie eine wirtschaftliche Prosperität. Zwischen 1869 und 1896 ver­ doppelte sich die Bevölkerung des Landes, weite Teile des bis dahin inkommensurablen und dem staatlichen Zugriff entzogenen Territoriums wurden unter die Kontrolle des Staates gebracht, der durch Steuereinnahmen aus dem internationalen Handel befähigt wurde, seine administrativen, erzieherischen und rechtlichen Funktionen auf nahezu das gesamte Gebiet auszuweiten. Vor allem aber gelangte mit den Einwanderungswellen aus Europa liberales und positivistisches Gedankengut ins Land, das von dem in den urbanen Zentren schnell wachsenden Proletariat umgehend aufgenom­ 25 Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 201. 26 Schwaller, The History of the Catholic Church in Latin America, 117–142; Di Stefano/ Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 201; Di Stefano, Por una historia de la seculariza­ ción y de la laicidad en la Argentina, 6; Fortunato Mallimaci, Catolicismo y liberalismo. Las etapas del enfrentamiento por la definición de la modernidad religiosa en América Latina [Katholizismus und Liberalismus. Die Etappen der Auseinandersetzung um die Definition religiöser Moderne in Lateinamerika], in: Jean Pierre Bastian (Hg.), La modernidad religiosa. Europa latina y América Latina en perspectiva comparada [Die reli­ giöse Moderne. Latinisches Europa und Lateinamerika in vergleichender Perspektive], Mexiko-Stadt 2004, 19–44, hier 22–25; Graciela Ben-Dror, The Catholic Church and the Jews. Argentina, 1933–1945, Lincoln/London 2008, 21 f. 27 Juan Bautista Alberdi, Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina [Fundamente und Ausgangspunkte für die politische Organisation der Argentinischen Republik], Santiago de Chile 1852.

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men wurde. Zunehmend wurde die als naturwüchsig betrachtete Verbindung zwischen katholischer Kirche und Staat grundlegend infrage gestellt. Die hieraus resultierende laizistische Offensive der liberalen Staatsführung kul­ minierte zwischen 1881 und 1888 in einigen auf weitere Säkularisierung drängenden Gesetzen. Diese betrafen die Zulassung der Berufung vor zivi­ len Gerichten im Falle einer Verurteilung durch ein kirchliches Gericht; die Institutionalisierung des zivilen Standesamts; die Säkularisierung der Fried­ höfe; und die Zulassung der Zivilehe. Des Weiteren schaffte das Gesetz 1420 zur »laizistischen, gebührenfreien und obligatorischen Bildung« den verpflichtenden katholischen Religionsunterricht in den Schulen ab.28 Die weit in das bürgerliche Leben hineinreichenden Privilegien und rechtlichen Kompetenzen der Kirche wurden also immer weiter in die Zuständigkeit des Staates übertragen – ein Prozess, der von der Hoffnung, das Religiöse werde zukünftig allein auf den Bereich des Privatlebens beschränkt sein oder aber gänzlich verschwinden, begleitet war.29 Jene Konfrontation zwischen Kirche und Moderne war keine Besonder­ heit Lateinamerikas oder Argentiniens, sondern sie reflektierte die vorausge­ gangenen Entwicklungen und Auseinandersetzungen in Europa. Insbeson­ dere in Spanien und Frankreich hatten Liberalismus und Antiklerikalismus die Hegemonie der Kirche bereits seit der Aufklärung und der Französischen Revolution infrage zu stellen begonnen. Um dieser Entwicklung zu begeg­ nen, hatte Papst Pius IX. 1864 den Syllabus errorum30 veröffentlicht. Diese achtzig umfassenden Thesen über theologische und philosophische Verfeh­ lungen der Moderne richteten sich entschieden gegen Liberalismus, Demo­ kratie und Sozialismus. Papst Leo XIII., der 1878 auf Pius folgte, setzte des­ sen Politik fort, ist doch seine 1891 publizierte Enzyklika Rerum Novarum31 ein Exempel für die Forderung nach Rechristianisierung der Gesellschaft und Widerstand gegen den aufziehenden Klassenkampf. Bereits im Jahr nach dem Syllabus war Buenos Aires in den Status einer Erzdiözese erhoben und damit auch kirchenrechtlich erstmals als eigenständige, vom ehemaligen 28 Hierzu Gino Germani, Política y sociedad en una época de transición de la sociedad tradi­ cional a la sociedad de masas [Politik und Gesellschaft in einer Epoche des Übergangs von der traditionellen Gesellschaft zur Massengesellschaft], Buenos Aires 1962, 179– 232; sowie Néstor T. Auza, Católicos y liberales en la generación del 80 [Katholiken und Liberale in der Generation der 80er], Buenos Aires 1975, 25; Nélida Baigorria, Ley 1420. Orígenes, vigencia y proyección [Gesetz 1420. Ursprünge, Gültigkeit und Projektion], Santa Fe, N. Mex., 1984, 145; Fortunato Mallimaci/Roberto Di Stefano, Religión e imagi­ nario social [Religion und gesellschaftliche Vorstellungen], Buenos Aires 2001, 19. 29 Fortunato Mallimaci, Religión, Modernidad y Catolicismo Integral en Argentina [Reli­ gion, Moderne und Integraler Katholizismus in Argentinien], in: Perfiles Latinoamerica­ nos [Lateinamerikanische Profile] 2 (1993), 105–131, hier 109. 30 Pius IX., Encyklika, und Sybilla erlassen am 8. Dezember 1864, Leipzig 1903. 31 Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum, Bonn 1948.

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Kolonialreich unabhängige Landeskirche etabliert worden. Es wurde deut­ lich, dass in einer Gesellschaft, die ihren Bürgern erstmals die Möglichkeit einräumte, sich bewusst als katholisch zu definieren – oder dies nicht zu tun –, die Einflussnahme auf öffentliche Debatten notwendig war. Das hie­ raus erwachsene Geflecht katholischer Intellektueller und Organisationen sowie deren dezidiert klerikaler Periodika war durch die offene Ablehnung des liberalen Individualismus, des Sozialismus und durch die Affirmation hierarchisch strukturierter Gesellschaften von jeher der scheinbar natur­ wüchsige Alliierte der konservativen Elite, die sich auf gleiche Weise der Modernisierung der Gesellschaft widersetzte.32 So wie die der Kirche ver­ bundenen Fraktionen sich vornehmlich aus der argentinischen Ober- und Mittelschicht rekrutierten und das liberale, anarchistische oder sozialistische Gedankengut sich innerhalb des vornehmlich von Immigranten geprägten urbanen Industrieproletariats verbreitete – so entwickelte sich neben diesem an der Rolle der Kirche entzündeten Konflikt zur Jahrhundertwende eine an der nationalen Zugehörigkeit ausgerichtete Spaltung der Gesellschaft.33 In jene Zeit fällt, befördert von den Pogromen im Russischen Zarenreich zwischen 1881 und 1885, der Beginn der jüdischen Einwanderung, in deren Verlauf sich bis 1914 über 115 000 Juden, zumeist aus dem östlichen Europa, in Argentinien ansiedelten.34 Maßgeblich unterstützt hatte diese Emigration der deutsch-jüdische Philanthrop und Unternehmer Baron Mau­ rice de Hirsch (1831–1896). 1891 gründete er die Jewish Colonization Asso­ ciation, die in Nordamerika, Mexiko, Brasilien und vor allem Argentinien Ländereien aufkaufte und osteuropäischen Juden die Möglichkeit bot, in den dort etablierten Agrarkolonien eine neue Heimat zu finden.35 Mit seiner 1910 publizierten Erzählung Los gauchos judíos (Die jüdischen Gauchos) sollte Alberto Gerchunoff dem Engagement Hirschs ein literarisches Denk­ mal setzen. Gerchunoff synthetisierte in seiner Prosa die osteuropäisch-jüdi­ sche mit der argentinisch-gauchesken Erfahrungswelt und entwarf das Sied­ lungsprojekt Hirschs als utopisches Versprechen jenseits der erlebten Diskriminierung. Damit legte er als Erster ein literarisches Zeugnis über die jüdische Emigration nach Argentinien vor.36 Als Jorge Ricardo Masetti 32 Ghio, La iglesia católica en la política argentina, 38–41; Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 360. 33 David Rock, Antecedents of the Argentine Right, in: Sandra MacGee Deutsch/Ronald H. Dolkart (Hgg.), The Argentine Right. Its History and Intellectual Origins, 1910 to the Pre­ sent, Wilmington, Del., 1993, 1–34, hier 22 f. 34 Graciela Ben-Dror, Art. »Argentinien«, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antise­ mitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Länder und Regionen, Berlin 2008, 29–36, hier 29. 35 Haim Avni, Argentina y la historia de la immigración judía, 1810–1950 [Argentinien und die Geschichte der jüdischen Immigration], Jerusalem 1983, 131. 36 In der Encyclopaedia Judaica heißt es über seine Schrift: »It was the first Latin-American

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1963/1964 drei seiner Kameraden zum Tode verurteilen ließ, lebten mittler­ weile knapp 450 000 Juden in Argentinien. Nach den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Israel und Frankreich beherbergte das südamerikanische Land damit den fünftgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil weltweit.37 Doch anders als es der optimistische Tonfall Gerchunoffs suggeriert, hatte es bereits 1891 öffentliche Anfeindungen der jüdischen Einwanderer gege­ ben. Nachdem 1890 die Börsenkurse eingebrochen waren, veröffentlichte Julián Martel in der Tageszeitung La Nación (Die Nation) zwischen dem 24. August und dem 4. Oktober mit großem Erfolg bei Publikum und Kriti­ kern den Fortsetzungsroman La Bolsa (Die Börse).38 Angelehnt an die Abhandlung La France juive (Das jüdische Frankreich) des französischen Antisemiten Édouard Drumont,39 machte er in dieser Novelle jüdische Ban­ kiers für die Krise verantwortlich und rekurrierte gleichzeitig erstmals inner­ halb des argentinischen Publikationswesens auf den Topos der jüdischsozialistischen Weltverschwörung. Die Wirkung des Buches sollte nicht überschätzt werden, doch dient es als Indikator einer gesellschaftlichen Stimmungslage. Während sich die kirchliche Zeitung La voz de la Iglesia (Die Stimme der Kirche) im Zuge der sich kurz darauf ereignenden Affäre um Alfred Dreyfus40 wohl auch durch Martel veranlasst sah, innerhalb der heftigen öffentlichen Debatten eine unverhohlen antisemitische Position ein­ zunehmen,41 sollte La Bolsa noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Geheiß der monumentalen Studie Ricardo Rojas, Historia de la litera­ tura argentina (Geschichte der argentinischen Literatur), Pflichtlektüre in den Schulen des Landes werden.42

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account of emigration to the New World as well as the first work of literary value to be written in Spanish by a Jew in modern times.« Art. »Gerchunoff, Alberto«, in: Encyclo­ paedia Judaica, Bd. 7, Jerusalem 1971, 434. Zum Wandel in der Wahrnehmung von Gerchunoffs Arbeit siehe auch die zweite Auflage der Encyclopaedia Judaica, Florinda F. Goldberg, Art. »Gerchunoff, Alberto«, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, Detroit, Mich., u. a. 22007, 506. Leon Shapiro, World Jewish Population, in: American Jewish Year Book 64 (1964), 424– 432, hier 426 und 428. Julián Martel (José María Miró), La Bolsa. Estudio social [Die Börse. Sozialstudie], Bue­ nos Aires 1981. Éduard Drumont, La France juive. Essai d’histoire contemporaine, Paris 1886. Siehe hierzu den Beitrag von Joachim Kalka in diesem Band. Alicia Benmergui, Antisemitismo en Argentina [Antisemitismus in Argentinien], in: Guillermo Lipis (Hg.) Nueva Sion. Periodismo Crítico. De lo comunitario a lo nacional 1948–2003 – Los últimos años [Neues Zion. Kritischer Journalismus. Von der Gemeinde zum Nationalen 1948–2003 – Die letzten Jahre], 197–230, hier 206. Zur allgemeinen Entwicklung des Antisemitismus in Argentinien siehe u. a. Ismael Viñas, Los judíos y la sociedad argentina. Un análisis clasista retrospective [Die Juden und die argentinische Gesellschaft. Eine retrospektive klassenbewusste Analyse], in: Controversia 1 (1983), 71–111; Leonardo Senkman (Hg.), El antisemitismo en la Argentina [Der Anti­ semitismus in Argentinien], Buenos Aires 1986; Raanan Rein, Argentina, Israel y los

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Im Gegensatz zu den am Ende des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung der Kirche eher pessimistischen Aussichten erlebte Argentinien in den ersten Dekaden des folgenden Säkulums eine Renaissance des Katholizismus. Auf den Schlachtfeldern des Ersten Welt­ kriegs, in den Arbeiteraufständen und Revolutionen zwischen 1919 und 1921 und während der Weltwirtschaftskrise hatten sich die positivistischen Überzeugungen, die in der Weltgeschichte einen unaufhaltsamen Fortschritt am Werk gesehen hatten, aufgelöst. Endgültig kam die liberale Phase jedoch erst 1930 zu ihrem Ende. Unterstützt von katholischen, konservativen, aber auch sozialistischen Fraktionen, putschte das Militär unter General José F. Uriburu (1868–1932) am 6. September des Jahres erfolgreich gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Juan Hipólito Yrigoyen (1852–1933).43 Bereits angesichts der virulenten »Klassenfrage«44 hatte die Kirche in Argentinien ab 1910 begonnen, ihre von der modernen Gesellschaft abge­ schottete Zitadelle zu verlassen und sich in Form sozialer Organisationen gegenüber den unteren Schichten zu öffnen. Religiöse Rückbesinnung sollte diesen als Gegenentwurf sowohl zum kapitalistischen Individualismus als auch zum sozialistischen Kollektivismus präsentiert werden.45 Mit der Machtübernahme Uriburus wirkten die kirchlichen Organisationen nun er­ neut auf die umfassende Durchdringung sämtlicher politischer und öffent­ licher Bereiche durch den Katholizismus hin. Hierfür machten sie sich ins­

judíos. Encuentros y desencuentros, mitos y realidades [Argentinien, Israel und die Juden. Begegnungen und Unstimmigkeiten, Mythen und Realitäten], Buenos Aires 2001; Daniel Lvovich, Nacionalismo y antisemitismo en la Argentina [Nationalismus und Antisemitis­ mus in Argentinien], Buenos Aires 2003. 43 Ronald Dolkart, The Right in the Década Infame, 1930–1943, in: McGee-Deutsch/ders., The Argentine Right, 65–98, hier 65–74. 44 Sichtbarstes Beispiel der gesellschaftlichen Spannungen in Argentinien war die soge­ nannte Semana Trágica (Tragische Woche) im Januar 1919. Im Zuge eines von Kommu­ nisten und Anarchisten organisierten Generalstreiks kam es zu mehrtägigen Ausschreitun­ gen zwischen Arbeitern und Polizeikräften, in deren Verlauf über 700 Menschen starben. Siehe hierzu Julio Godio, La Semana Trágica de enero de 1919 [Die Tragische Woche im Januar 1919], Buenos Aires 1985. In diesem Kontext ereignete sich ebenfalls der erste Pogrom nationalistischer Gruppierungen gegen jüdische Bürger in Buenos Aires. Hierzu Haim Avni, ¿Antisemitismo estatal en la Argentina? A propósito de los sucesos de la Semana Trágica – Enero de 1919 [Staatlicher Antisemitismus in Argentinien? Anlässlich der Vorfälle der Tragischen Woche – Januar 1919], in: Coloquio [Kolloquium] 4 (1982), 49–67; Victor Mirelman, The Semana Trágica of 1919 and the Jews in Argentina, in: Jewish Social Studies 37 (1975), 61–37; Marcelo Dimentstein, En busca de un pogrom perdido. Diáspora judía, política y políticas de la memoria en torno a la Semana Trágica de 1919 [Auf der Suche nach einem verlorenen Pogrom. Jüdische Diaspora, Politik und Erinnerungspolitik hinsichtlich der Tragischen Woche von 1919], in: Sociohistórica 25 (2009), 103–122. 45 Ghio, La iglesia católica en la política argentina, 66 f.; Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 377.

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besondere den in der Weltwirtschaftskrise aufgeflammten Nationalismus zunutze. Da in Argentinien aufgrund seiner Einwanderungsgeschichte kein allgemeingültiges Narrativ existierte, das sich als Projektionsfläche nationa­ ler beziehungsweise nationalistischer Identifikation geeignet hätte, die über­ wiegende Mehrzahl der argentinischen Bevölkerung unabhängig von ihrer Herkunft jedoch der katholischen Kirche angehörte, gelang es konservativen Vertretern im Verlauf der 1930er Jahre, den Katholizismus gleichsam als Substitut und Bedingung der nationalen Zugehörigkeit zum argentinischen Volk zu etablieren.46 Insofern der Katholizismus in dieser Rolle sowohl auf die Überzeugungen der breiten Masse der Bevölkerung als auch auf die doktrinäre Synchronisa­ tion von Politik, Religion, Sozialem und Privatem zielte, unterschied sich das als catolicismo integral bekannt gewordene Phänomen entschieden von dem bisher geläufigen barocken Katholizismus kolonialer Prägung. Der politischen Konzeption des argentinischen Konservatismus entsprechend richtete sich der »Unnachgiebige Katholizismus« gegen die bisher ange­ strebte Verlagerung des Religiösen in den Bereich des Privaten und griff sämtliche Formen des Liberalismus und der Moderne an, die er für den gegenwärtigen Niedergang der Gesellschaft verantwortlich machte.47 Während die politischen Aktivitäten der katholischen Zirkel mit der Grün­ dung der Acción Católica48 1931 ein Organ erhielten, das sämtliche katholi­ sche Initiativen unter die rigide Leitung der klerikalen Autoritäten zu stellen vermochte, fand die intellektuelle Produktion katholischer Denker und Theologen in der von Gustavo Franceschi geleiteten Wochenzeitung Crite­

46 Loris Zanatta, Perón y el mito de la nación católica. Iglesia y Ejército en los orígenes del peronismo (1943–1946) [Perón und der Mythos von der katholischen Nation. Kirche und Armee zur Zeit der Entstehung des Peronismus], Buenos Aires 1999. 47 Michael A. Burdick, For God and the Fatherland. Religion and Politics in Argentina, Albany, N. Y., 1995, 13–44; Fortunato Mallimaci/Huberto Cucchetti/Luis Donatello, Caminos sinuosos. Nacionalismo y catolicismo en la Argentina contemporánea [Heimtü­ ckische Wege. Nationalismus und Katholizismus in Argentinien], in: Francisco Colom/ Angel Rivero (Hgg.), El altar y el trono. Ensayos sobre el catolicismo politico latinoame­ ricano [Der Altar und der Thron. Essays über den politischen Katholizismus in Latein­ amerika], Barcelona 2006, 155–191. 48 Omar Acha, Activismo y sociabilidad en las jóvenes de la Acción Católica en la ciudad de Buenos Aires (1930–1945) [Aktivismus und Gemeinschaftssinn unter den Jugendli­ chen der Katholischen Aktion in Buenos Aires (1930–1945)], in: Cuadernos de Historia [Hefte zur Geschichte], 12 (2011), 11–33; ders., Tendencias de la afiliación en la Acción Católica Argentina [Neigung zur Mitgliedschaft in der Katholischen Aktion Argentinien], in: Travesía [Überfahrt] 12 (2010), 7–42; Fortunato Mallimaci, Movimientos laicales y sociedad en el período de entreguerras. La experiencia de la Acción Católica en la Argen­ tina [Laizistische Bewegungen und Gesellschaft während der Zwischenkriegszeit. Der Fall der Katholischen Aktion in Argentinien], in: Cristianismo y Sociedad [Christentum und Gesellschaft] 108 (1991), 35–71.

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rio (Die Meinung) ihr Pendant,49 die Graciela Ben-Dror in ihrer Forschungs­ arbeit über das Verhältnis von Kirche und Judentum in Argentinien während des Zweiten Weltkriegs als »unbestrittene Stimme der argentinischen Kir­ chenhierarchie«50 bezeichnet. Auf den Seiten der Zeitschrift sowie in eige­ nen Büchern entwickelten katholische Priester und Laien im Verlauf der 1930er Jahre aus einer Melange von christlichem Antijudaismus und moder­ nem Antisemitismus, Nationalismus, Antiliberalismus und von Kommunis­ musfeindschaft das ideologische Fundament des catolicismo integral. Auf­ grund ihrer weitläufigen Verbreitung und des drastischen antisemitischen Furors sind die Werke Kahal (Gemeindevertretung; 1935) und Oro (Gold; 1935) von Hugo Wast,51 El judío en el misterio de la Historia (Der Jude im Mysterium der Geschichte; 1936) und Un juicio católico sobre los proble­ mas nuevos (Ein katholisches Urteil über neue Probleme; 1937) des Priesters Julio Meinvielle, Los Judíos (Die Juden; 1939) und Habla el Padre Filippo (Es spricht Vater Filippo; 1941) des Priesters Virgilio Filippo sowie Confa­ bulación contra la Argentina (Verschwörung gegen Argentinien; 1941) und Totalitarismo, Liberalismo, Cristianismo (Totalitarismus, Liberalismus, Christentum; 1941), die Franceschi selbst verfasste, von entscheidender Bedeutung. Die hier aufgerufene Ideologie konzentriert sich wohl am anschaulichsten in Hugo Wasts Vorwort zur zweiten Ausgabe von Oro, in dem es heißt: »Der Ausruf ›Tod den Juden!‹ wollte immer Synonym des ›Lang lebe das Vaterland!‹ sein.«52 Um die Verwirklichung der hier entworfenen Gesellschaftstheorie zu erreichen, vollzogen die Vordenker des catolicismo integral eine offensive Hinwendung zum Faschismus. Bei Meinvielle heißt es in seiner theologi­ schen Abhandlung Hacía la cristianidad (Zum Christentum; 1940), der Nationalsozialismus sei, »paradoxerweise, das Vorzimmer des Katholizis­ mus […], dessen scheußlicher Stiefel«53 Frankreich von den antichristlichen Elementen gereinigt habe. Als Papst Pius XI. am 19. März 1937 in seiner Enzyklika Divini redemptoris den atheistischen Kommunismus verurteilte, erhielt er in Argentinien einmütigen Zuspruch. Seine wenige Tage später 49 Die Zeitschrift wurde zunächst als Magazin der literarischen Avantgarde publiziert und konnte Autoren wie Jorge Luis Borges oder Eduardo Mallea für Beiträge gewinnen. Ab 1930 stand sie unter der Leitung von Enrique P. Osés, seit 1932 unter der von Franceschi. 50 Ben-Dror, The Catholic Church and the Jews, 248. 51 Pseudonym von Gustavo Martínez Zuviría; zu Wast: Daniel Lvovich, Una mirada sobre el antisemitismo en la década del 1930. El Kahal-Oro de Hugo Wast y sus comentaristas [Ein Blick auf den Antisemitismus in der Dekade der 1930er. Kahal-Oro von Hugo Wast und seine Kommentatoren], in: Sociohistórica. Cuadernos del CISH [Hefte des CISH (Zentrum für Forschungen zur Sozialgeschichte)] 4 (1999), 131–150. 52 Hugo Wast, Oro, Buenos Aires 1935, 3. 53 Zit. nach Uki Goñi, Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin 2006, 46.

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veröffentlichte Enzyklika Mit brennender Sorge hingegen, in der er den deutschen Faschismus scharf angriff, fand kaum Beachtung, führte jedoch dazu, dass die katholischen Zirkel begannen, sich weniger auf den National­ sozialismus als vielmehr auf die spanische Falange und den italienischen Faschismus unter Mussolini zu beziehen.54 Für den argentinischen Katholi­ zismus kommt Ben-Dror dementsprechend zu dem Schluss, dass »die anti­ semitischen Priester und Laien […] innerhalb des katholischen Denkens die Norm und nicht die Ausnahme«55 darstellten. Spätestens mit dem Eucharisti­ schen Weltkongress 1934 in Buenos Aires, an dem mehrere Hunderttausend Gläubige teilnahmen, wurde deutlich, dass dieser Katholizismus sich als Massenbewegung zu reorganisieren begann und die laizistische Phase zu beenden verstanden hatte.56 Die Militärjunta des Grupo de Oficiales Unidos (Gruppe der vereinten Offiziere; GOU), die – mit dem Ziel Argentiniens Neutralität im Zweiten Weltkrieg zu wahren und die Hinwendung der Arbeiterklasse zu sozialisti­ schen Positionen zu verhindern – 1943 die Regierung an sich gerissen hatte, erhob den catolicismo integral zur Staatsdoktrin: Schlüsselpositionen wur­ den mit katholischen Funktionären besetzt; Hugo Wast/Gustavo Martínez Zuviría revidierte als Bildungsminister das Gesetz zur säkularen Bildung und führte die katholische Lehre erneut als Pflichtfach in den Schulen ein; die Schächtung von Tieren und der Verkauf koscheren Fleisches wurden untersagt und jiddische Publikationen verboten.57 Kurzum: die Zugehörig­ keit zur argentinischen Gesellschaft und Nation wurde über den katholi­ schen Glauben definiert.

Revolutionäre Unnachgiebigkeit Vor dem Hintergrund einer Kindheit, die von der Rückbesinnung auf religi­ öse Werte und der Ausformung einer katholisch imprägnierten Staatsdoktrin geprägt war, ist es wenig verwunderlich, dass Jorge Ricardo Masetti seine ersten politischen Erfahrungen nicht aufseiten der politischen Linken 54 Di Stefano/Zanatta, Historia de la iglesia argentina, 432. 55 Ben-Dror, The Catholic Church and the Jews, 251. 56 Fortunato Mallimaci/Luis Miguel Donatello, Del desencanto con el progreso a la con­ strucción de una hegemonía católica. Del golpe de 1930 al primer peronismo [Von der Enttäuschung über den Fortschritt zur Konstruktion einer katholischen Hegemonie. Vom Putsch 1930 bis zum ersten Peronismus], in: Julio Pinot/Fortunato Mallimaci (Hgg.), La influencia de las religiones en el estado y la nación Argentina [Der Einfluss der Religio­ nen auf Staat und Nation Argentinien], Buenos Aires 2013, 127–148, hier 129. 57 Ben-Dror, Art. »Argentinien«, 32.

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machte. Vielmehr gehörte der damals 15-Jährige ab 1945 der Alianza Liber­ tadora Nacionalista (ALN) an, einer zu Gewalt neigenden Straßenorganisa­ tion, die im Namen des catolicismo integral die direkte Konfrontation mit den zumeist linksgerichteten politischen Gegnern suchte. Sein langjähriger Weggefährte Rogelio García Lupo schrieb 1997 diesbezüglich: »Er [Masetti] war nicht nur kein Kommunist, sondern während einer Etappe seines Lebens militanter Nationalist und suchte auf der Straße mit der all seinen Aktivitäten eigenen Passion die direkte Konfrontation mit den Kommunisten.«58 Die 1937 aus der Unión Nacionalista de Estudiantes Secundarios (Natio­ nalistische Union der Sekundarstufenschüler) hervorgegangene ALN fir­ mierte bis 1943 zunächst unter dem Namen Alianza de la Juventud Naciona­ lista (AJN; Allianz der Nationalistischen Jugend).59 Angeführt von Juan Queraltó rezipierte die Gruppierung die bereits dargestellten Topoi des katholischen Nationalismus der 1930er Jahre: Ablehnung des Liberalismus, der parlamentarischen Demokratie und des Kommunismus unter Rückbezug auf Versatzstücke des europäischen Faschismus. In zweierlei Hinsicht sollte die Organisation jedoch für den Nationalismus60 zukunftsweisende Modifi­ kationen einführen: Einerseits grenzte sie sich entschieden vom Elitismus der 1930er Jahre ab und warb aggressiv um die Sympathien der schlechter gestellten Gesellschaftsschichten, indem sie sich selbst als Trägerin eines populären, der Arbeiterschaft entspringenden Willens darstellte. Anderer­ seits bettete sie, als logische Konsequenz ihrer Interpretation der argentini­ schen Realität, den Antiimperialismus als fundamentale Kategorie in ihr politisches Selbstverständnis ein.61 Insbesondere während der 1940er Jahre fungierte die ALN als mittlerweile größte nationalistische Organisation,62

58 »No solamente no fue comunista, sino que durante una etapa de su vida fue militante nacionalista y se enfrentó a los comunistas en las calles, con la pasión que siempre desple­ gaba en sus actos.« Rogelio García Lupo, El misterio de dos olvidos [Das Mysterium zweier Vergessen], in: Clarín [Flügelhorn], 23. März 1997. 59 Zur spezifischen Entwicklung der AJN siehe Marcus Klein, Argentine Nacionalismo before Perón. The Case of the Alianza de la Juventud Nacionalista, 1937–1943, in: Bulle­ tin of Latin American Research 20 (2001), 102–121. 60 Um die unterschiedlichen Formen des Nationalismus in Argentinien kenntlich zu machen, schlagen einige englischsprachige Werke für die Bezeichnung des Phänomens während der 1930er Jahre den aus dem Spanischen übernommenen Terminus nacionalismo vor. So beispielsweise Sandra McGee Deutsch, Las Derechas. The Extreme Right in Argentina, Brazil, and Chile, 1890–1939, Stanford, Calif., 1999; dies./Dolkart (Hgg.), The Argentine Right; Klein, Argentine Nacionalismo before Perón. 61 Ebd., 103. 62 Die Zahlen hierzu sind nicht eindeutig: Queraltó selbst sprach in einem Interview von 20 000 Sympathisanten. Juan Queraltó, Interview von Gerardo Bra, in: Todo es Historia [Alles ist Geschichte] 216 (1985), 68–71, hier 68; Marysa Navarro Gerassi, Los naciona­ listas [Die Nationalisten], Buenos Aires 1969, 91–105, geht von 11 000 aus, Sandra McGee Deutsch, Las Derechas, verweist hingegen auf 30 000 bis 50 000.

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wie Michael Goebel herausgearbeitet hat, auf diese Weise als entscheidende Schnittstelle zwischen Nationalismus, Katholizismus und Peronismus.63 Neben seiner Mitgliedschaft in der ALN64 arbeitet Masetti bis in die 1950er Jahre hinein für Zeitungen, die wie Cabildo (Gemeinderat)65 ein klar antisemitisches oder wie Pregón (Ausruf) und die Tageszeitung Tribuna (Rednerpult) von Lautaro Duradoña y Vedia und Fernández Unsain ein radi­ kal rechtsnationalistisches Profil aufwiesen. Die Alianza, deren Vordenker Ramón Doll Materialismus, Intellektualismus und Judentum als die »Geschwüre des Landes«66 bezeichnete, firmierte zu jenem Zeitpunkt, als Juan Domingo Perón (1895–1974) aus der Diktatur des GOU als Staatsprä­ sident Argentiniens hervorging, neben den Insignien »Lang lebe das Vater­ land!«, »Lang lebe Perón!« und »Lang lebe Jesus Christus!« unter der unverhohlenen Forderung »Tod den Juden!«.67 Insofern kann davon ausge­ gangen werden, dass der spätere Comandante Segundo (Zweiter Komman­ dant) der EGP in den ersten Jahren seiner politischen und journalistischen Aktivität die hier formulierten Weltanschauungen weitestgehend geteilt haben muss68 – zumal er 1955, als Perón, der sich mittlerweile durch die von ihm vorangetriebene Trennung von Staat und Kirche mit den klerikalen Autoritäten überworfen hatte,69 von einem Bündnis aus katholischer Kirche und Militär gestürzt wurde, noch immer als militanter Katholik auf die Ereignisse reagierte und nicht etwa als Peronist. Die Vergeltungsangriffe von Peronisten auf Kirchen in Buenos Aires hatte er mit derartiger Vehe­ 63 Michael Goebel, A Movement from Right to Left in Argentine Nationalism? The Alianza Libertadora Nacionalista and Tacuara as Stages of Militancy, in: Bulletin of Latin Ameri­ can Research 26 (2007) 3, 356–377, hier 360. 64 Lediglich für den Zeitpunkt seines Eintritts liegen Daten vor; wann er sich von der Grup­ pierung distanzierte, ist unklar. Hierzu wiederum García Lupo: »Efectivamente, Masetti ingresó a la Alianza por el año 1945. Tambien lo hicieron Rodolfo Walsh, Ernesto Gia­ chetti y un hermano de éste. Al ingresar a la Alianza yo tenía 14 años y Masetti 15 ó 16.« (Tatsächlich ist Masetti im Jahr 1945 in die Allianz eingetreten. Das Gleiche taten auch Rodolfo Walsh, Ernesto Giachetti und einer seiner Brüder. Als ich selbst in die Allianz eintrat, war ich 14 Jahre alt und Masetti 15 oder 16.) Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 36. 65 Zu Cabildo siehe Ben-Dror, The Catholic Church and the Jews, 103, 164 und 227 f. 66 Ramón Doll, Acerca de una política nacional [Zur nationalen Politik], Buenos Aires 1939, 63; Raanan Rein, Argentina, Israel, and the Jews. Perón, the Eichmann Capture and after, Bethesda 2003, 33. 67 Michael Goebel, Argentina’s Partisan Past. Nationalism and the Politics of History, Liver­ pool 2011, 73; Ben-Dror, The Catholic Church and the Jews, 226. 68 Um diese Annahme abschließend zu klären, wäre eine Auswertung des Quellenmaterials zu den entsprechenden Publikationen vonnöten, die vor Abschluss dieses Artikels nicht geleistet werden konnte. 69 Siehe hierzu Cristian Buchrucker, Nacionalismo y peronismo [Nationalismus und Pero­ nismus], Buenos Aires 1987, 384; David Rock, La Argentina autoritaria. Los nacionalis­ tas, su historia y su influencia en la vida pública [Das autoritäre Argentinien. Die Nationa­ listen, ihre Geschichte und Einfluss auf das öffentliche Leben], Buenos Aires 1993, 187.

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menz verurteilt, dass die von ihm zu dieser Zeit geführte, an sich unpoliti­ sche Illustrierte Cara y Ceca (Gesicht und Kreuz70) an den internen Ausei­ nandersetzungen zerbrach.71 Der hier nochmals hervortretende religiöse Eifer darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Masetti sich während der 1950er Jahre immer weiter von der in den Peronismus inkorporierten ALN distanziert hatte und sein politisches Engagement der professionellen Tätigkeit als Journalist gewichen war. Im Februar 1957 publizierte Herbert L. Matthews in der New York Times seine Reportage Cuban Rebel is Visited in Hideout über das Leben Fidel Castros in der Sierra Maestra und machte die kubanischen Revolutionäre damit erstmals international bekannt.72 Im selben Jahr begann Masetti in der Auslandsredaktion des Hauptstadtsenders Radio El Mundo zu arbeiten, wo es ihm gelang, finanzielle Unterstützung für eine Recherchereise auf die Karibikinsel, wie Matthews sie unternommen hatte, zu akquirieren. Sowohl Rogelio García Lupo als auch Ricardo Rojo, der Masetti mit einem Empfeh­ lungsschreiben den Kontakt zu Fidel Castro vermittelt hatte, stimmen darin überein, dass es nicht die ideologische Überzeugung war, die den jungen Reporter 1958 nach Kuba trieb, sondern eine Melange aus beruflichem Ehr­ geiz, Abenteuerlust und dem Wunsch, sein bürgerliches Leben hinter sich zu lassen.73 Die Lektüre des einzigen von Masetti verfassten Theaterstücks La noche se prolonga (Die Nacht dauert an), das unmittelbar vor dessen Abreise entstand, legt hingegen eine weitere Interpretationsebene offen: Die unmiss­ verständlich an die persönliche Biografie Masettis angelehnte Hauptfigur ist im Verlauf der Handlung einer Reihe politischer Deprivationen und Repres­ salien ausgesetzt, die sie, von sämtlichen politischen Bewegungen ent­ täuscht, desillusioniert zurücklassen. Und so schließt das Stück mit der rhe­ torischen Frage des Protagonisten: »Und jetzt […] wohin soll ich mich wenden?«74 Als das Stück am 9. Januar 1959 in Buenos Aires uraufgeführt wurde, hatte Masetti bereits eine Antwort auf diese Frage gefunden. Nachdem es Masetti zu Beginn des Jahres 1958 geglückt war, in die Sierra Maestra zu gelangen und dort ausführliche Interviews mit Fidel Castro und Ernesto Guevara zu führen,75 kehrte er vorerst nach Buenos Aires zurück. Dort erschien im Herbst desselben Jahres, während des Siegeszugs der 70 In Argentinien die beiden Seiten einer Münze. 71 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 48. 72 Herbert L. Matthews, Cuban Rebel is Visited in Hideout, in: New York Times, 24. Februar 1957, 1 und 34. 73 Rojo, Mi amigo el Che, 166; Rogelio García Lupo, Masetti. Un suicida [Masetti. Ein Selbstmörder], in: Marcha [Der Marsch], Nr. 1254, 14. Mai 1965, 17. 74 Zit. nach Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 53. 75 So führte er beispielsweise das erste bekannte Radiointerview mit Castro, das am 14. April 1958 vom Revolutionssender Radio Rebelde ausgestrahlt wurde und anschließend Ver­ breitung auf dem gesamten Subkontinent fand.

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Kubanischen Revolution, unter dem Titel Los que luchan y los que lloran (Jene, die kämpfen und jene, die weinen) seine ausführliche Reportage über die Sierra Maestra.76 Der Text schildert den Kampf der kubanischen Guerilla von innen und ist zur gleichen Zeit Zeugnis der Metamorphose seines Autors zum castristischen Revolutionär. Masetti zeigte sich tief beeindruckt sowohl vom Charisma der Guerilleros als auch von offensichtlichen Verbes­ serungen, die deren Politik für die Zivilbevölkerung in den von ihnen kon­ trollierten Gebieten bedeutete. Er seinerseits konnte durch sein beharrliches Engagement das Vertrauen der Revolutionsführer gewinnen und kehrte auf persönliche Einladung Guevaras am 9. Januar 1959 nach Havanna zurück, um sich ganz der Revolution zu verschreiben.77 Gemeinsam mit Rogelio García Lupo (geb. 1931) und Rodolfo Walsh (1927–1977) baute er dort als Guevaras direkter Untergebener die Nachrichtenagentur Prensa Latina als Gegengewicht zu den nordamerikanischen Marktführern United Press und Associated Press auf.78 Ab 1962 begannen Masetti und Guevara, im Ver­ deckten eine Guerillagruppe aufzubauen, die die Ziele der Kubanischen Revolution nach Argentinien tragen sollte.79 Im Frühjahr 1963 gelang es Masetti mit einer Handvoll Kameraden über Algerien nach Bolivien zu reisen und von dort aus im Norden Argentiniens ein streng an den guevaristischen Prinzipien des Guerillakampfes orientier­ tes Foco80 zu etablieren. Die Gruppe firmierte unter dem Namen Ejército Guerrillero del Pueblo (EGP), Masetti selbst übernahm als Comandante Segundo – eine Anleihe bei dem berühmten Gauchoroman Ricardo Güiral­ des’ Don Segundo Sombra (dt.: Das Buch vom Gaucho Sombra) sowie Ver­ weis auf Che Guevara als Comandante Primero und dessen ebenfalls der Gaucholiteratur entlehntes Pseudonym Martín Fierro – die militärische und ideologische Leitung. Trotz der Rückversicherung aus Kuba und des Zulaufs weiterer Rekruten aus argentinischen Großstädten geriet die Expedition, wie oben beschrieben, zum militärischen Desaster. Ohne eine nennenswerte Aktion ausgeführt zu haben, wurde der EGP im März 1964 von den Sicher­ heitsbehörden des Landes zerschlagen. Zwei der Kämpfer starben bei Gefechten mit der gendarmería, weitere auf der Flucht durch Unfälle oder Unterernährung, während die 18 Überlebenden festgenommen wurden und langjährige Haftstrafen verbüßen mussten.81 76 77 78 79 80

Masetti, Los que luchan y los que lloran, Buenos Aires 1958. Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 84. Anderson, Che Guevara, 408. Ebd., 538. Foco bezeichnet eine relativ kleine, zumeist im Verdeckten operierende Gruppe von Kämpfern, die ohne die Beteiligung breiterer Bevölkerungsteile versucht, die Vorbedin­ gungen für einen politischen Umsturz herbeizuführen. 81 Ebd., 592.

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Widerhall Anders als im Falle seines Ziehvaters Ernesto Guevara, der bereits zu Leb­ zeiten zur Symbolfigur der aufkeimenden Neuen Linken aufgestiegen war und nach seinem Tod 1967 in Bolivien alsbald international zum ebenso ver­ klärten82 wie entleerten Sinnbild linker Revolutionsmythologie83 aufstieg, sollte Jorge Ricardo Masetti keine vergleichbare posthume Ikonisierung erfahren, obwohl sein Leben ebenso wie die Umstände seines Todes ausrei­ chend Anknüpfungspunkte dafür gegeben hätten. Im direkten Nachklang der endgültigen Zerschlagung der Guerilla Ende April 1964 bildeten sich, zumeist den ehemaligen urbanen Unterstützernetzwerken des EGP entwach­ send, zunächst Gruppierungen, die sich als direkte Nachfolgeorganisationen der Gruppe um Masetti betrachteten. Insbesondere innerhalb der entstehen­ den Neuen Linken, die sich enthusiastisch auf die Kubanische Revolution bezog, konnten sie, allen voran die Brigada Masetti und der Comando de la Revolución Argentina (Kommando der argentinischen Revolution) in Bue­ nos Aires, Strahlkraft entfalten.84 Die Mehrzahl der Fraktionen der argentinischen Linken, Überbleibsel der in Auflösung befindlichen Kommunistischen sowie der fragmentierten Sozialistischen Partei, aber auch trotzkistische Organisationen und dem Internationalismus verpflichtete Autoren, changierten in ihrer Rezeption hingegen zwischen grundlegender Solidarität mit den politischen Zielen des 82 Die entsprechenden Äußerungen übersteigen das darstellbare Maß bei Weitem. Beispiel­ haft steht jedoch, auch aufgrund der Bedeutung ihres Autors für diesen Kontext, die Aus­ sage Jean-Paul Sartres: »The man was not only an intellectual but also the most complete human being of our age: as a fighter and as a man, as a theoretician who was able to further the cause of revolution by drawing his theories from his personal experience in battle.« Zit. nach Marianne Sinclair, !Viva Che! Contributions in Tribute to Ernesto “Che” Guevara, London 1968, 102. Dies gilt ebenfalls für Wolf Biermanns Lied vom Comandante Che Guevara, in dem dieser als »Christus mit der Knarre« bezeichnet wird (ders., Comandante Che Guevara, Es gibt ein Leben vor dem Tod, Schallplatte, CBS 1976); sowie, diese Mystifizierung antizipierend, für die im Kursbuch erschienenen Nach­ rufe von Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger: Peter Weiss, Che Guevara!, in: Kursbuch 11 (1968), 1–6; Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze, in: Kurs­ buch 11 (1968), 151–169; ebenso für Bolívar Echeverría, Che Guevara. Hasta la victoria siempre [Che Guevara, Immer bis zum Sieg], in: Horst Kurnitzky (Hg.), Kritik des bür­ gerlichen Anti-Imperialismus, Berlin 1968. 83 Zur historiografischen Auseinandersetzung mit der Mythologisierung Che Guevaras im Speziellen und lateinamerikanischen Revolutionen im Allgemeinen vgl. David Kunzle, Chesucristo. The Fusion in Image and Word of Che Guevara and Jesus Christ, Berlin 2014; Gerd Koenen, Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt, Köln 2008; Nikolaus Werz, Revolutionsmythen zu Lateinamerika, in: APuZ 41–42 (2010), 32–40; Stephan Lahrem, Faszination Che, in: ebd., 41–46; Stefan Rinke, Revolutionsmythen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760–1830, München 2010. 84 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 302.

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EGP und ebenso fundamentaler Kritik an dessen strategischer Ausrichtung. So richtete sich die trotzkistische Zeitung Palabra Obrera (Arbeiterstimme) bereits im März 1964 mit aufrichtigem »Gruß und Sympathie« an jene »hel­ denhaften Versager«,85 die sich mit so bewundernswertem wie nutzlosem Mut in einen aussichtslosen Kampf geworfen hatten. Sie warf ihnen gleich­ sam vor, aufgrund ihrer völligen Loslösung von der Arbeiterklasse, ihrer zumeist universitären Bildung und bürgerlichen Herkunft die konkreten politischen Umstände der unterdrückten Schichten nicht wahrgenommen zu haben und folglich nicht befähigt gewesen zu sein, eine Verankerung in der breiten Masse der Bevölkerung auszubilden. Stattdessen habe sich der EGP, angetrieben von der Ungeduld seiner Mitglieder, auf rein technische Pro­ bleme wie die Bereitstellung von Material und Waffen sowie die Versorgung kapriziert und sei deshalb von Anbeginn zum Scheitern verurteilt gewesen.86 Doch diese operativen Mängel, so gab der prominente Vordenker des sozia­ listischen Flügels des Peronismus John William Cooke in einem Interview 1964 zu verstehen, sind »sekundär […] und verblassen angesichts des Res­ pekts, den diese Gruppe von Patrioten, die zu den Waffen griff, um einem für das Land nicht tolerierbaren System die Stirn zu bieten, verdiente.«87 Ähnlich interpretierte der französische Autor Régis Debray, der 1967 gemeinsam mit Guevara nach Bolivien aufbrechen sollte, die Vorgänge – zunächst in der Pariser Zeitung Les Temps Modernes88 und kurz darauf in der argentinischen Zeitschrift Pasado y Presente (Vergangenheit und Gegen­ wart),89 deren Redaktionsmitglieder den EGP von Córdoba aus unterstützt hatten. Mit dem Wissen um den weiteren Verlauf seiner politischen Aktivität überrascht es wenig, dass Debray den EGP lediglich aus der Perspektive der Guerillatheorie zu analysieren versuchte. Innerhalb dieses Kontextes kommt er zu dem plausiblen Schluss, die Gruppe in Salta habe den strategischen Fehler begangen, in einem Land wie Argentinien, in dem mehr als die Hälfte

85 »Palabra Obrera se dirige a esos heroicos fracasados, no oculta su saludo y simpatía […].« Palabra Obrera 358, 24. März 1964, zit. nach Rot, Los orígenes perdidos de la guer­ rilla en la Argentina, 302. 86 Ebd. 87 »Pero eso es secundario, confinado a lo estrictamente operativo, y cede ante el respeto que me merece un grupo de patriotas que empuña las armas para hacer frente a un sistema intolerable para el país.« No estoy con la guerrilla [Ich stehe nicht hinter der Guerilla], in: Alianza. Boletín Extra, Juni 1964. 88 Régis Debray, Le Castrisme. La Longue Marche de l’Amérique latine [Der Castrismus. Der lange Marsch Lateinamerikas], in: Les Temps Modernes 224 (1965), 1172–1237. 89 Ders., El Castrismo en América Latina [Der Castrismus in Lateinamerika], in: Pasado y Presente 7–8 (1964–1965), 122–158. Der Text von Debray stieß einige Jahre später auch in Deutschland im Umfeld der Studentenbewegung auf reges Interesse, nicht zuletzt auf­ grund der Herausgeberschaft Rudi Dutschkes. Ders., Der lange Marsch. Zusammenge­ stellt und mit Vorwort versehen von Rudi Dutschke, München 1968.

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der Bevölkerung in den urbanen Zentren lebte, ihren Fokus auf die Landbe­ wohner auszurichten. Masetti habe das kubanische Modell in Argentinien imitieren wollen, ohne sich mit den dortigen Eigenheiten zu befassen. Nahezu beiläufig erwähnt Debray, »die offiziellen Zahlen sprechen von einem Dutzend Verhafteten, sechs Toten, einige durch Unterernährung, andere hingerichtet«,90 und verweist damit erstmals öffentlich auf die Erschießungen, verzichtet jedoch darauf, die Opfer oder die Täter näher zu bestimmen. Zumindest für das Unterstützernetzwerk in Córdoba existieren Belege, dass die erste Hinrichtung – jene von Adolfo Rotblat (Pupi) am 5. November 1963 – noch während der Guerillatätigkeit des EGP bekannt wurde.91 Wie das Tagebuch des EGP-Mitglieds Hermes Peña ausweist,92 reiste José Aricó als Repräsentant der Gruppe in Córdoba im Dezember nach Salta, um sich mit Masetti zu unterreden. Die maßgeblich aus der Redaktion der Zeitschrift Pasado y Presente um Aricó, Héctor Schmucler und Oscar Del Barco beste­ hende Gruppe, die zu den einflussreichsten intellektuellen Zirkeln der Neuen Linken gehörte,93 zeigte sich ob des autoritären Verhaltens Masettis und des Todes von Pupi äußerst besorgt. Zwar setzten sie den Comandante Segundo rhetorisch unter Druck, brachten ihr Unbehagen jedoch nicht öffentlich zum Ausdruck oder brachen die Beziehungen ab.94 Letztlich wohl auch deshalb, weil Masetti – wie Oscar Del Barco sich erinnert – die Publi­ kation der Zeitschrift finanziell erheblich unterstützte.95 Unklar ist dabei, inwiefern innerhalb der Linken generell Kenntnis von den Exekutionen und insbesondere der jüdischen Herkunft der Opfer bestand. Alberto Szpunberg, Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine und nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Teil der Brigada Masetti in Buenos Aires, erinnert sich:

90 Ders., El Castrismo en América Latina, 128: »Las cifras oficiales indican una docena de detenidos, seis muertos, algunos de hambre y otros fusilados.« 91 Bustos, Che Wants to See You, 165. 92 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 195. 93 Zu Bedeutung und Wirken der Gruppe siehe Raúl Burgos, Los Gramscianos argentinos. Cultura y política en la experiencia de Pasado y Presente [Die argentinischen Gramscia­ ner. Kultur und Politik in der Erfahrung von Pasado y Presente], Buenos Aires 2004. 94 Letztes Interview mit Arico: Estudios. Revista del Centro de Estudios Avanzados de la Universidad Nacional de Córdoba [Studien. Zeitschrift des Zentrums für fortgeschrittene Studien der Nationalen Universität von Córdoba] Nr. 5 (1995), 59 f.; Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 195. 95 Néstor Kohan, Héctor Agosti y la primera recepción de Gramsci en la Argentina [Héctor Agosti und die erste Rezeption von Gramsci in Argentinien], in: ders., De Ingenieros al Che. Ensayos sobre el Marxismo argentino y latinoamericano [Von Ingenieros zu Che. Essays über argentinischen und lateinamerikanischen Marxismus], Buenos Aires 2000, 173–189, hier 187.

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»In diesem Moment [1964–1966] hatten wir keine Ahnung von den Hinrichtungen, weder von Pupi noch von Nardo. Bis heute […] wusste ich nicht, dass ›El fusilado‹ [Miguel] Jude war. Wir hatten keine Ahnung von all diesen Dingen und haben erst spä­ ter davon erfahren.«96

Einer breiteren Öffentlichkeit wurden die Fälle 1968 bekannt. In dem Jahr publizierte Ricardo Rojo – jener Anwalt, der Masetti den Kontakt zu Fidel Castro vermittelt hatte – unter dem Titel Mi amigo el Che (Mein Freund Che) seine Erinnerungen an Guevara und die revolutionäre Guerilla. Darin warf er erstmals Fragen zur Vergangenheit des Comandante Segundo in der ultranationalistischen ALN auf und schilderte Details zu den Hinrichtungen von Adolfo Rotblat und Bernardo Groswald.97 Rojos Darstellung erwies sich als richtungsweisend für große Teile der späteren Rezeption der Ereignisse.98 Die Exekutionen deutete er als Ausdruck des bis zur Neurose gesteigerten moralischen Niedergangs der Gruppe, deren Mitglieder sich im Moment der Bewusstwerdung des politischen Scheiterns gegen jene Vertreter richteten, die die Guerilla durch ihren physischen Verfall oder aber ihre hypothetische Desertion in ihrem Fortbestehen gefährdet hätten.99 Die auch bei Rojo keine Erwähnung findende jüdische Herkunft der Opfer spielte in den Debatten um den EGP während der nachfolgenden Dekaden keinerlei Rolle. Sein Buch hatte zwar den vehementen Widerspruch zweier ehemaliger Kämpfer des EGP hervorgerufen, den sie in der für die Neue Linke paradigmatischen Zeitschrift Cristianismo y Revolución (Christentum und Revolution) äußerten. Allerdings richtete sich ihre Kritik in erster Linie gegen Rojos Umgang mit Quellenmaterial aus Polizeiakten.100 Die Mehrzahl der Beiträge zum EGP beschränkte sich auf die Untersuchung strategischpolitischer Topoi; darauf, ob die Guerillastrategie versuche, als militärische Vorhut die revolutionäre Aktion der Masse zu substituieren, oder ob sie als vornehmlich kleinbürgerliches und nicht proletarisches Phänomen als anti­ revolutionär anzusehen sei.101 Im Verlauf des Jahrzehnts bildeten die hieran 196 Interview mit A. Szpunberg, Buenos Aires, 18. Dezember 2012. 197 Rojo, Mi amigo el Che, 142 f. 198 Einen Überblick über verschiedene Standpunkte gibt Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 238–251. Rot unterscheidet hier zwischen zwei Interpretations­ kategorien, nach denen die Hinrichtungen von verschiedenen Autoren bewertet werden: moralisch-abstrakt sowie instrumentell-militärisch, wobei erstere sie zumeist verurteilen und letztere zu Relativierungen tendieren. 199 Rojo, Mi amigo el Che, 142 f. 100 Federico Evaristo Méndez/Juan Héctor Jouvé, Carta abierta a Ricardo Rojo [Offener Brief an Ricardo Rojo], in: Cristianismo y Revolución [Christentum und Revolution] 11 (November 1968), 13. 101 Siehe hierzu beispielsweise die in Cristianismo y Revolución erschienenen Beiträge: Los Guerrilleros de Salta [Die Guerilleros von Salta], 13 (April 1969), 4–7; Los condenados de Salta [Die Verurteilten von Salta], 16 (Mai 1969), 13; Escriben los Guerrilleros de Salta

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sich anschließenden Auseinandersetzungen die Grundlage für eine andauernde Kontroverse innerhalb der argentinischen Linken,102 die sukzes­ sive zu deren Spaltung in eine traditionelle, dem Partido Comunista und dem Partido Socialista verbundene Fraktion und eine stärker am kubani­ schen Vorbild ausgerichtete Neue Linke führte.103 Vor dem Hintergrund des im Juni 1966 erfolgten Militärputsches von General Juan Carlos Onganía (1914–1994), der kurz nach seiner Machtübernahme begann, die Gesell­ schaft von oben herab umzuordnen, sämtliche politischen Parteien verbot und rigide gegen Gewerkschaften und die Autonomie der Universitäten vor­ ging,104 mag ein rationales, auf Veränderungen drängendes Politikverständ­ nis plausibel erscheinen und erklären, weshalb die opaken Elemente von Masettis Lebenslauf im Speziellen wie auch innerhalb der politischen Kon­ zeptionen im Allgemeinen lange Zeit unausgesprochen blieben. Die Auseinandersetzung mit den bis dahin ignorierten beziehungsweise kaum wahrgenommenen Hintergründen begann erst im Verlauf der 1990er Jahre nach der Rückkehr Argentiniens zur Demokratie, um sich, wenn auch

desde la Carcel [Es schreiben die Guerilleros von Salta aus dem Gefängnis], 18 (Juli 1969), 26–35. Eine Ausnahme bilden die beiden Nachrufe auf Masetti, die seine langjähri­ gen Kameraden Rodolfo Walsh und Rogelio García Lupo für das prestigeträchtige Uru­ guayer Magazin Marcha verfassten. Während Walsh Masetti als überzeugten Guerillero präsentierte, der sein Leben nach dem Ideal kubanischer Helden wie Che Guevara, Camillo Cienfuegos oder Barbarroja Piñero gestaltete und sich derart zum Vorbild einer ganzen Generation eigne, zeichnete García Lupo das bereits im Titel seines Artikels evozierte Bild eines romantischen Selbstmörders, der, das Schicksal des profanen Bürgers ablehnend, einen heroischen Tod gesucht habe, um sich auf ewig in die aufgerufene Ahnenreihe berühmter Revolutionäre einzuschreiben. Rodolfo Walsh, Masetti, un guerrillero, in: Mar­ cha, Nr. 1254, 14. Mai 1965, 18; García Lupo, Masetti. Un suicida, in: ebd., 17. 102 Zur Rezeption der Kubanischen Revolution in Lateinamerika nach wie vor lesenswert: Boris Goldenberg, Lateinamerika und die Kubanische Revolution, Köln/Berlin 1963. 103 Das Zerwürfnis über den Umgang mit der Kubanischen Revolution und dem bewaffnetem Kampf wird in der Forschungsliteratur neben dem alles überlagernden Konflikt, der aus der Prohibition des Peronismus ab 1955 resultierte, als einer der ursächlichen Faktoren für die Herausbildung der Neuen Linken in Argentinien angesehen: Maria Cristina Tortti, El viejo partido socialista y los orígenes de la nueva izquierda: 1955–1965 [Die alte Sozialistische Partei und die Entstehung der Neuen Linken: 1955–1965], Buenos Aires 2007; dies., Izquierda y »nueva izquierda« en la Argentina. El caso del Partido Comunista [Linke und »Neue Linke« in Argentinien. Der Fall Kommunistische Partei], in: Sociohis­ tórica 6 (1999), 221–232; Carlos Altamirano, Bajo el signo de masas (1943–1973) [Unter dem Zeichen der Massen (1943–1973)], Buenos Aires 2001; Claudia Hilb/Daniel Lutzky, La nueva izquierda argentina: 1960–1980. Política y violencia [Die argentinische Neue Linke: 1960–1980. Politik und Gewalt], Buenos Aires 1984; Oscar Teran, Nuestros años sesentas. La formación de la nueva izquierda intelectual en la Argentina 1956–1966 [Unsere sechziger Jahre. Die Gründung der intellektuellen Neuen Linken in Argentinien], Buenos Aires 1991; Beatriz Sarlo, La Batalla de las Ideas (1943–1973) [Der Kampf der Ideen (1943–1973)], Buenos Aires 2001. 104 David Rock, Argentina 1516–1987, 342–346.

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langsam, zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal zu verstärken. Zwi­ schen 1996 und 1997 erschienen vier opulente Biografien zum Leben und Wirken Ernesto Guevaras105 und lösten eine regelrechte Che-Manie aus. Ins­ besondere Anderson thematisierte dabei auch die Guerillaoperation Masettis und wies, basierend auf den Aussagen der EGP-Mitglieder Ciro Bustos und Henry Lerner, auf den kaum beachteten Umstand hin, dass Adolfo Rotblat, Bernardo Groswald und genauso Miguel (El fusilado) jüdischer Herkunft waren.106 Und auch Henry Lerner selbst sah sich nach seiner Ankunft im Kamp der Guerilla Schikanen und persönlichen Anfeindungen durch Masetti ausgesetzt, der ihn, genauso wie zuvor schon Rotblat, beschuldigte, desertieren zu wollen – ein Vergehen, auf das die Todesstrafe stand. Er und Bustos fürchteten daher, der Comandante Segundo werde auch ihn erschie­ ßen lassen. Lerner, der gleichfalls aus einer jüdischen Familie stammte, zeigt sich davon überzeugt, dass Masetti ihn als Juden diskriminiert habe und äußert die Vermutung, zwischen den Hinrichtungen und Masettis Vergan­ genheit habe eine kausale Verbindung bestanden.107 Bustos, der sowohl die Fälle von Rotblat und Groswald als auch die Aussagen von Lerner in seinen 2007 erschienenen Memoiren El Che quiere verte (Der Che wünscht dich zu sehen)108 ausführlich schildert und eng mit Anderson bei dessen Arbeit zu Guevara zusammengearbeitet hat, weist diese These jedoch zurück. Aller­ dings deutet er auf Folgendes hin: »Masetti was aware of the marked percentage of Jews in our urban network. In fact, the Argentine Left as a whole were either Jewish themselves or married to Jews. Half the EGP national leadership was Jewish. Masetti knew this but he had never said anything to me, although it was my responsibility. Besides, it was impossible to imagine Masetti being anti-Semitic given his relationship with Che.«109

105 Paco Ignacio Taibo II, Vida de Ernesto Guevara, también conocido como el Che [Das Leben von Ernesto Geuvara, auch bekannt als der Che], Mexiko-Stadt 1996; Jorge Casta­ ñeda, La vida en rojo [Das Leben in Rot], Mexiko-Stadt 1997; Pierre Kalfón, Ernesto Guevara. Una leyenda de nuestro siglo [Ernesto Guevara. Eine Legende unseres Jahrhun­ derts], Barcelona 1997; Anderson, Che Guevara. 106 Anderson, Che Guevara, 527, 555 und 558. 107 Ebd., 555; Bustos, Che Wants to See You, XIX und 155. 108 Spanische Erstausgabe von Bustos, Che Wants to See You: ders., El Che quiere verte. La historia jamás contada del Che [Che möchte dich sehen. Die nie zuvor erzählte Geschichte des Che], Buenos Aires 2007. 109 Bustos, Che Wants to See You, 155 f. Zur überproportionalen Beteiligung von Juden an der argentinischen Linken siehe Beatrice Gurwitz, La creacion de un judaismo politizado. Mundo Israelita, identidades colectivas y una propuesta politica judeo-argentina, 1960– 1970 [Die Bildung eines politisierten Judaismus. Mundo Israelita, kollektive Identitäten und ein jüdisch-argentinischer Politikansatz], in: Emmanuel Kahan u. a. (Hgg.), Margina­ dos y consagrados. Nuevos Estudios sobre la Vida Judía en la Argentina [Marginalisierte und Geweihte. Neue Studien über das jüdische Leben in Argentinien], Buenos Aires 2011, 287 f. Das schillerndste Beispiel hierfür ist David Graiver, der als Finanzier die

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Während Bustos in seinem Urteil ambivalent bleibt – insofern als er ledig­ lich davon spricht, es sei unmöglich gewesen, sich Masetti als Antisemiten vorzustellen, was die retrospektive Einschätzung offenlässt –, weist Gabriel Rot in seiner Studie über den Comandante Segundo und dessen EGP Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina diese Deutung mit dem Argument, sie bezöge sich nur auf dessen diffuse Persönlichkeit, entschie­ den zurück.110 Insofern Rot insbesondere Anderson vorwirft, die Guerilla durch die Darstellung der »Perversionen« ihres Kommandanten generell delegitimieren zu wollen, verfolgt er ein klar erkennbares politisches Kalkül, nämlich die grundlegenden Strukturen weder aufzudecken noch sie per se infrage zu stellen.111

Ausblick Augenfällig ist, dass Masettis Werdegang mit dem vieler Führungskader in den linksgerichteten Guerillaorganisationen Argentiniens der nachfolgenden Dekade korreliert. So waren der Schriftsteller und spätere Montonero Rodolfo Walsh und der ebenfalls ins linke politische Lager gewechselte Journalist Rogelio García Lupo zur selben Zeit wie Masetti Mitglieder der ALN; die Gründungsmitglieder der größten und einflussreichsten linkspero­ nistischen Gruppierung, der Montoneros, Fernando Abal Medina (1947– 1970) und Carlos Gustavo Ramus (1947–1970) sowie Rodolfo Galimberti (1947–2002), Dardo Cabo (1941–1977) oder José Luis Nell (1940–1974), die allesamt zentrale Positionen in der Organisation bekleideten, zählten ihrerseits zu Beginn ihrer politischen Aktivitäten zu der sich direkt auf den Nationalsozialismus beziehenden antisemitischen Organisation Tacuara.112 linksperonistische Guerilla der Montoneros unterstützte. Mit der erneuten Machtüber­ nahme der Militärs im Jahr 1976 erfuhr die jüdische Partizipation an der Linken ihre tragi­ sche Wendung. Denn ebenso wie in dieser sind Juden gemessen am Bevölkerungsanteil auch unter den Opfern der Diktatur des Proceso de Reorganización Nacional deutlich überrepräsentiert. Hierauf deuten Edy Kaufman/Beatriz Cymberknopf, La dimension judia en la represion durante el gobierno militar en la Argentina (1976–1983) [Die jüdi­ sche Dimension in der Repressionsgeschichte während der Militärregierung in Argenti­ nien (1976–1983)], in: Senkman (Hg.), El Antisemitismo en la Argentina, 260. 110 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 238. 111 Ebd. 112 Richard Gillespie, Soldiers of Perón. Argentinas Montoneros, Oxford 1982, 48–52; o. A., Dos Peronistas, dos Montoneros. Para eso vivieron, por eso murieron [Zwei Peronisten, zwei Montoneros. Dafür haben sie gelebt, dafür sind sie gestorben], in: El Descamisado [Der ohne Hemd], Nr. 17, 11. September 1973, 5; Daniel Gutman, Tacuara. Historia de la primera guerrilla urbana argentina [Tacuara. Geschichte der ersten argentinischen Stadt­

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Für diesen Übergang von rechtsgerichteten Gruppierungen der 1930er und 1940er Jahre zu jenen der Neuen Linken zugerechneten Guerillas weist die neuere Forschungsliteratur dem Nationalismus essenzielle Bedeutung zu. In der Cambridge History of Latin America, »Seismograf kanonisierter Forschung«,113 konstatiert Alan Angell, dass sich die Montoneros »rightwing nationalist ideas that had inspired the neo-fascist movements of the previous decades«114 bedient haben. David Rock weitet diese Diagnose aus, wenn er schreibt, die Nationalisten der Nachkriegszeit haben entscheiden­ den Einfluss auf die revolutionäre Linke in Argentinien ausgeübt. Und zwar insofern, als diese von jenen den Kult autoritärer Führerschaft geerbt sowie das Bestreben, eine radikale Gegenkultur zu begründen, übernommen habe.115 Der ebenfalls den Nationalismus ins Zentrum seiner Studie The Ori­ gins of Argentina’s Revolutionary Right rückende Historiker Alberto Spek­ torowski kontrastiert insbesondere die peronistische Linke mit der Rechten und resümiert: »Peronist Right and Left were the revolutionary and conservative sides of the ‘national socialist’ path, and they aspired to assault the liberal state, bourgeois society, and finan­ cial capitalism. Both defended some type of national syndicalism, praised violence, and espoused a mythical notion of the ‘people’. It is thus not surprising that the Monto­ neros recruited their rank and file particularly from sectors defined as nationalist Catholics, thereby indicating a movement from Catholic right to nationalist left.«116

Michael Goebel hebt hingegen mit Blick auf die vorhandene Forschungslite­ ratur zwei Aspekte hervor. Einerseits wird gerade die Periode der Kubani­ schen Revolution kaum beachtet. Konkret heißt das, dass die 1950er und 1960er Jahre zumeist ausgespart bleiben. Andererseits fokussieren die meis­ ten Autoren – damit korrelierend – auf die quantitativ wie qualitativ bedeut­ samste Gruppierung, die peronistische Guerilla Montoneros,117 die ab Ende der 1960er Jahre vornehmlich in Buenos Aires wirkte.118 Der EGP ist in der Folge – obwohl sie, wie der eingangs erwähnte General Julio Alsogaray richtig antizipierte, am Beginn des »revolutionären Kriegs« stand, dem

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guerilla], Buenos Aires 2003; Alberto Spektorowski, The Origins of Argentina’s Revolu­ tion of the Right, Notre Dame, Ind., 2003, 209. Goebel, A Movement from Right to Left in Argentine Nationalism?, 356. Alan Angell, The Left in Latin America since 1920, in: Leslie Bethell (Hg.), The Cam­ bridge History of Latin America, 11 Bde., hier Bd. 8, Cambridge/New York 1991, 163– 232, hier 204. David Rock, Authoritarian Argentina. The Nationalist Movement, its History and its Impact, Berkeley, Calif., 1993, XIV f. Spektorowski, The Origins of Argentina’s Revolutionary Right, 209. Siehe hierzu v. a. die umfassende Arbeit Gillespie, Soldiers of Perón. Goebel, A Movement from Right to Left in Argentine Nationalism?, 366.

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Argentinien sich in den nachfolgenden Dekaden gegenübersah – nur wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Auf den ersten Blick lassen sich im Fall Masetti Indizien finden, die die Erklärung seiner scheinbaren politischen Transformation, wie die gegenwär­ tige Forschungsliteratur sie anbietet, sinnvoll erscheinen lassen. So hatte er selbst im Vorwort zu seiner Reportage Los que luchan y los que lloran seine Motivation wie folgt beschrieben: »Ich gestehe, dass ich Buenos Aires voller Zweifel verlassen habe. Meine Meinung über Batista war natürlich klar. Aber es galt herauszufinden, wer die Personen waren, die ihn stürzen wollten, und wessen Interessen sie folgten. […] Wir Argentinier wollten wissen, wer der Mann war, der die Revolution anführte, was die Bewegung des 26. Juli war, welche Ziele sie verfolgte und wer sie finanzierte. Wir wollten wissen, ob die Kugeln, die gegen Batista geschossen wurden, in Dollar, in Rubel oder in Britischem Pfund bezahlt wurden. Oder ob Lateinamerika die verblüffende Ausnahme erlebte, dass eine kurz vor dem Triumph stehende Revolution vom eigenen Volk finanziert würde.«119

Masetti rezipierte die Kubanische Revolution nicht als eine sozialistische oder kommunistische, sondern als eine nationalistische. Hierauf verweist ebenfalls die in seinen Bericht aufgenommene Passage eines Gesprächs mit Ernesto Guevara. Von Masetti danach befragt, was es mit dem Kommunis­ mus Fidel Castros auf sich habe, gibt dieser zur Antwort: »Fidel ist kein Kommunist. Wäre er einer, hätte er wenigstens ein paar mehr Waffen. Aber diese Revolution ist ausschließlich kubanisch. Oder besser gesagt, lateinamerika­ nisch. Politisch könnte man Fidel und seine Bewegung als ›revolutionär nationalistisch‹ bezeichnen.«120

Dementsprechend kann also zunächst davon ausgegangen werden, dass Masetti die Kubanische Revolution und in der Folge seine Übertragung ihrer Direktiven auf den argentinischen Kontext als nationalistische Befreiungs­ bewegung wahrnahm. Schaut man jedoch genauer hin und bezieht man die Fundierung des argentinischen Nationalismus in den religiösen Traditions­

119 »Confieso que salí de Buenos Aires lleno de dudas. Mi opinion sobre Batista estaba for­ mada, por supuesto. Pero había que averiguar quiénes eran los que trataban de voltearlo y a qué intereses respondían. […] Los argentines queríamos saber quién era el hombre que encabezaba la revolución en Cuba, qué era el Movimiento 26 de Julio, qué aspiraciones tenían y quién lo financiaba. Queríamos saber si las balas que se disparaban contra Batista eran pagodas en dólares o en rublos o en libras esterlinas. O si se daba en Latinoamérica la desconcertante excepción de que una revolución en marcha hacia el triunfo, fuese financiada por el propio pueblo.« Masetti, Los que luchan y los que llora, 32 f. 120 »Fidel no es comunista. Si lo fuese, tendría al menos un poco más de armas. Pero esta revolución es exclusivamente cubana. O mejor dicho, latinoamericana. Políticamente podría calificárselo a Fidel y a su movimiento, como ›nacionalista revolucionario‹.« Ebd., 83.

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beständen des Katholizismus mit ein, drängen tiefere Schichten an die Ober­ fläche. Kurz nach seiner Rückkehr aus Kuba hatte Masetti, der sich noch vor sei­ ner Abreise als tiefgläubiger Katholik verstand und ausnahmslos der sonn­ täglichen Messe beiwohnte, gegenüber seiner Schwägerin erwähnt: »Ich weiß nicht, ob ich noch an einen Gott glaube.«121 Sein einstiger religiöser Eifer war offenbar immer mehr der Ernüchterung hinsichtlich »himmlischer Dinge« gewichen. Er hatte – um das ursprüngliche Bild zu revozieren – sei­ nen im Verfall begriffenen Glauben verlassen, um dem aus der Dunkelheit erscheinenden Licht Fidel Castros zu folgen. Dabei stammte Castro selbst, wie er in einem Gespräch mit dem Befreiungstheologen Frei Betto angab, das 1985 unter dem Titel Fidel y la religión (Fidel und die Religion) veröf­ fentlicht wurde, aus einer tief religiösen Familie und hatte zudem eine Aus­ bildung an jesuitischen Gymnasien durchlaufen, die selbstverständlich den katholischen Dogmen gehorchte.122 Obwohl Castro sich selbst nicht als reli­ giösen Menschen bezeichnet, ist es in diesem Kontext doch bemerkenswert, dass er Frei Betto gegenüber erklärt: »Ich bin davon überzeugt, daß diesel­ ben Pfeiler, die heute die Basis für das Opfer eines Revolutionärs sind, ges­ tern die Basis für das Opfer der Märtyrer für ihren religiösen Glauben waren.«123 Castro verweist hier auf die Wesensverwandtschaft zwischen Revolutionären und strenggläubigen Christen, auf eine strukturelle Ähnlich­ keit, die den Gedanken an die von verschiedenen Autoren124 formulierte »Wahlverwandtschaft« zwischen religiösen Eschatologien und profanen Weltinhalten evoziert. Masettis Wendung vom reaktionären Katholizismus zur Kubanischen Revolution und die spätere Aufnahme des bewaffneten Kampfes, der gegen alle weltlichen Widerstände die Doktrinen des »revolu­ tionären Nationalismus« umzusetzen strebte, ließe sich in diesem Sinne als Ausdruck eines grundlegenden Säkularisierungsprozesses interpretieren, in dessen Verlauf christlich-eschatologische Momente in das politisch-utopi­ sche Heilsversprechen der individuellen Befreiung durch die Revolution übersetzt wurden. Eine solche Deutung ginge über die bisherige Beobach­

121 Rot, Los orígenes perdidos de la guerrilla en la Argentina, 57. 122 Frei Betto, Fidel y la religión. Conversaciones con Fidel Castro, Havanna 1985 (dt.: Nachtgespräche mit Fidel, Berlin 1987, hier 15, 44 und 62). 123 Betto, Nachtgespräche mit Fidel, 77. 124 Neben Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollstän­ dige Ausgabe, München 2004, wären hier v. a. Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 1996; Karl Löwith, Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago, Mich., 1949; Eric Voegelin, Die Politischen Religionen, Stockholm 1939; sowie Michael Löwy, Rédemption et utopie. Le judaïsme libertaire en Europe cen­ tral [Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken], Paris 1988, zu nennen.

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tung, der scheinbare politische Übertritt von der Rechten zur Linken sei durch deren gemeinsame Bezugnahme auf nationalistische Topoi ermöglicht worden, hinaus und förderte gleichsam Erkenntnisse hinsichtlich der inneren Logik vergleichbarer politischer Entwicklungen im Westen. Dies zu eruieren bedarf jedoch genauer Arbeit am Quellenmaterial, die es in Zukunft zu leis­ ten gilt.125

125 Der Autor bereitet gegenwärtig seine Promotion zu dem hier umrissenen Themenfeld vor.

Abstracts Michael Birnhack Rechts- und Sprachkulturen im Widerstreit: Der Copyright-Prozess um die Schriften Theodor Herzls in Israel This article tells the story of the first copyright case litigated in Israel, in 1950 to 1954. At stake were the writings of no less than Theodor Herzl (1860–1904), commonly referred to as the Visionary of the Jewish State. The dispute, which thus far has not been discussed in the literature, was about ownership: who controlled the writings of the Zionist leader, fifty years after his death? The case forced the court to investigate publishing contracts that were made under German law and fit them into the local (Israeli-British) law. The commercial dispute between two publishers encap­ sulated and reflected multiple tensions, between an individual whose life work was at stake and a powerful institution; between private ownership of writings of substantial importance and public ownership; between the image of the European Jew and the new, Hebrew Jewish person; between German and Hebrew. All tensions were transformed into a legal discourse, where a foreign law found its way into a local legal framework. The case was dra­ matic, but ended up in an anti-climax. This unusual litigation provides us with a window to trace the meeting of two different legal cultures, at a highly sensitive time. Lukas Böckmann »An Gott glaube ich nicht mehr« – Katholische Tradition und politische Theologie innerhalb der argentinischen Guerilla der 1960er Jahre From 1959 onwards, Argentina experienced an increase in politically moti­ vated violence until in 1976 the military overthrow of Proceso de Reorgani­ zación Nacional ceased these hostilities. Most of the groups that tried to challenge the political order were strongly inspired by the successes of the Cuban Revolution under Fidel Castro and Ernesto Guevara. One of the first organizations carrying out guerilla operations in Argentina was the Ejército Guerrillero del Pueblo (EGP) led by Jorge Ricardo Masetti. Before turning to armed struggle in 1959, Masetti in his early years was an activist of the ultranationalist youth organization Alianza Libertadora Nacionalista (ALN), founded on the ideals of anti-modern as well as anti-Semitic Catholicism. Throughout the guerilla operations of the EGP, the group held internal tribu­ nals against three of its own members, all of whom faced the maximum pen­ alty of the death sentence. They all had one thing in common: They were JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 509–517.

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young men from Jewish family backgrounds. This paper discusses the more recent historiography of Argentine Catholicism and its influence on the emergence of the Argentine guerillas. C. K. Martin Chung Repentance: The Jewish Solution to the German Problem This article develops the biblical idea of “turning” (tshuva) into a conceptual framework to analyze the area of contemporary German history commonly referred to as “coming to terms with the past” (Vergangenheitsbewältigung). It examines a selection of German responses to the National Socialist past, their interaction with Jewish responses, and their affinities with the biblical notion of “repentance.” In demonstrating the victims’ influence on German responses, the essay suggests that the latter should be assessed and under­ stood as a “model for coping with the past” in a relational rather than national paradigm. By establishing the similarity between such responses and the idea of umkehren or Buße tun (as tshuva is invariably translated into German), this essay advances the argument that the religious texts from the Old Testament encapsulating this idea are viable intellectual resources for dialogue among victims, perpetrators, and bystanders as well as for the dis­ cussion of later generations about guilt and responsibility, justice and repara­ tion, remembrance and reconciliation. It thus falls perhaps amongst the greatest ironies of the twentieth century, in which Nazi Germany had sought to eliminate each and every single Jew within its reach, that postwar Ger­ mans have depended on the Jewish solution of repentance as a feasible way out of their unparalleled “national catastrophe,” their unprecedented “spiri­ tual ruin.” Diether Döring Eine ambigue Berufung: Eugen Rosenstocks Lehrjahre an der Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main The early years of the Weimar Republic were a time of new departures and crisis. New democratic rights and the expansion of the social welfare state demanded the creation of new possibilities for acquisition of qualifications for leadership cadre drawn from the working class. Professors from the Frankfurt Foundation University (Sinzheimer, Oppenheimer), together with communal politicians, conceived the idea of the Academy of Labor at the Goethe University Frankfurt am Main, established with funding from the Prussian government in the spring of 1921. In the preceding autumn, Eugen Rosenstock had also participated in the deliberations with a detailed memo.

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His views met with the agreement of the Prussian government and it then appointed Rosenstock as the director of the new institution. This essay describes Rosenstock’s influence, in particular his impact on the shaping of the curriculum for the new course of studies and the assembling of a circle of lecturers to which many local initiators of the project belonged. In addi­ tion to presenting a picture of Rosenstock’s successful work, the article also shows how contradictory conceptions about content and method, along with differences regarding organizational questions that existed between Rosen­ stock and several of the university teachers, ultimately led to a situation where after the end of the first year of studies, Rosenstock resigned from his post as head of the Academy. Tobias Ebbrecht-Hartmann The Missing Scene: Entebbe, Holocaust, and Echoes from the German Past When in 1979 the US-American miniseries Holocaust by Marvin J. Chomsky was shown on German television, commentators emphasized its impact on the public historical consciousness of West Germany. But Holo­ caust was not the first encounter of the German audience with one of Chomsky’s historical dramas. Already in January 1977, Victory at Entebbe had turned some cinemas into battlefields over how the film interpreted and commemorated the Air France hijacking by a German-Palestinian com­ mando and the subsequent Israeli rescue mission at Entebbe airport in June 1976. Of great controversy was a scene depicting the selection of Jews and Israelis as hostages. This proved a painful reminder for the German audience of the country’s Nazi past. Following the broadcast of Holocaust, public dis­ course, above all among the German New Left, who rejected the miniseries as a consumerist Hollywood product and Zionist propaganda tool, drew fre­ quent comparisons to the Entebbe incident and its dramatization by Chomsky. This article reviews the selection scene in Victory at Entebbe in light of the visual memory of the Holocaust, which was significantly shaped by Chomsky’s successful “follow-up” Holocaust, as well as in the context of the political events following the screening of Victory at Entebbe in Ger­ many and the partly violent reactions of the German Left. Theresa Eisele Unerwünschte Uraufführungen: Das Deutsche Miserere und die Jüdische Chronik 1966 in Leipzig In 1966, two compositions premiered in Leipzig that had been withheld from the public for years: Deutsches Miserere (German Miserere) and Jüdische Chronik (Jewish Chronicle). Whereas the first one was composed

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by Paul Dessau (1894–1979) in American exile, the second arose from a col­ laboration between East and West German composers encouraged by Des­ sau. Both compositions broach the issue of Nazi atrocities. The article traces Dessau’s efforts to bring both works to the stage in the German Democratic Republic, and connects the compositions’ belated reception to historical debates and events of the postwar period in divided Germany. It further examines the specific circumstances that enabled both premieres in 1966. Arndt Engelhardt Über Bewegung und Stillstand im öffentlichen Raum: Simon Dubnow und die russisch-jüdische Publizistik in den 1880er Jahren The article explores Simon Dubnow’s journalistic activity in the Russian language during his time in St. Petersburg in the 1880s, and more generally the culture of Jewish periodicals and reading in the Russian Empire at the time. The essay describes literary life in the Russian capital against the back­ drop of political, cultural, and scientific developments as well as the impact of censorship on all aspects of literary and intellectual life in the Tsarist Empire. From 1882 onwards, Dubnow worked for the leading periodical Voschod (Sunrise) of Adolf E. Landau (1842–1902). As a journalist, he wrote regular columns on recent literary publications and political events, and was later the sole permanent employee among the staff. His articles in those years dealt inter alia with renowned literary figures like Ludwig Börne (1786–1837) and Heinrich Heine (1797–1856), who were considered ideolo­ gically liberal and progressive writers of their time. Beyond the discussion of Dubnow’s contribution, the article seeks to examine the possibilities of modern forms of publication, and points to the importance of European pub­ lishing for the development of journalism in Yiddish, Hebrew, and Russian. Robert S. C. Gordon Gray Zones: The Heterodox Left and the Holocaust in Postwar Italian Culture The article examines key leftist cultural responses to the Holocaust in post­ war Italy, focussing on the 1950s to 1960s, but with a framing discussion of the 1980s and 1990s. The case study from the 1980s is the appropriation of Primo Levi’s Holocaust-related notion of the “grey zone” in debates on Fas­ cism, Nazism, collaboration, and Resistance. In the 1950s and 1960s, con­ versely, orthodox leftist interpretations of the Holocaust examined the geno­ cide through the lens of the Resistance. There were, however, key exceptions and the essay goes on to examine four further case studies of unusually vital or significant engagements with the Holocaust between 1953

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and 1967 that emerged from individuals or groups loosely located in a het­ erodox or non-aligned left cultural field. Gal Hertz Spiegelmenschen: Karl Kraus und Franz Werfel über Sprache und Identität The article focuses on the literary controversy between Karl Kraus (1874– 1936) and Franz Werfel (1890–1945), which flared for nearly two decades. Central in this bitterly fought altercation, which also drew in leading figures of the literary world at the beginning of the twentieth century, were ques­ tions about mimicry and originality, Jewish alterity and assimilation, lan­ guage and self-portrayal, along with the relation between literature and reli­ gion in general. Unlike previous research, which has tended in the main to stress the personal facets of the debate, and has done philological analysis of the associated polemic pamphlets, this essay examines in particular the ideo­ logical and conceptual aspects of the conflict. Questions are raised about the contradictory strategies with which the two authors conceptualized literary subjectivity as a critique of the discourse of identity. Since being Jewish was unable to furnish a positive point of reference, neither for Kraus nor for Wer­ fel in their social situation, it constituted for both men principally a critical and problematic element of disturbance, manifested in a distorted manner of speech, the so-called Jewish “jargon” or so-called mauscheln. Hertz argues that this distorted form of speech was what Werfel wished to dissociate him­ self from and sought to transcend by means of his literary work. And it was what Kraus, in the course of the long drawnout dispute, not only mobilized as a counterattack against Werfel, who denied mauscheln, but also devel­ oped further into an alternative conception of literary and subjective creativ­ ity. Joachim Kalka Im Allgemeinen oder im Besonderen? Proust und die Affaire Dreyfus In his Festvortrag for Dan Diner, “General or Special? Proust and the Drey­ fus Affair,” Joachim Kalka retells (as far as this is possible) the complex, shabby and sinister Dreyfus affair which started with the defamatory identi­ fication of the Jewish officer Alfred Dreyfus as a German spy in 1894, a cause célèbre which divided the entire French nation. The novelist Marcel Proust was deeply concerned and became a passionate Dreyfusard; however, the many traces this interest has left in his vast novel À la recherche du temps perdu are more subtle and ambiguous than a naïve reader might expect. We may believe Céleste Albaret, who in her memoir argued warmly

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that it was not Proust’s half-Jewish family background which motivated his sympathy for Dreyfus’ cause but his general concern with justice and humanity, yet personal emotion and abstract principle seem both involved – which leads to the larger phenomenon that historically Jews have often seen their special position in society as a personal obligation to further the cause of general justice. Kalka considers the fact that in the work of all three cano­ nical authors generally acknowledged as the most important for the first half of the twentieth century – Kafka, Joyce, Proust – Jewishness plays a central part (and, in a deliberate digression, points out that all three are further uni­ ted by a concern for Halbschlaf, the strange terrain between sleep and wak­ ing, emotion and reason). He obliquely evokes a central question of histori­ cal Jewish identity: the relationship between the special “marginal” position and the centrality of general moral concern. Samuel Joseph Kessler Translating Judaism for Modernity: Adolf Jellinek in Leopoldstadt, 1857–1865 In early 1857, Adolf Jellinek left Leipzig to become the rabbi of the Leo­ poldstadt Tempel in Vienna. Jellinek remained in Leopoldstadt until 1865, when he moved to the Stadttempel in the center of the city and assumed the duties of chief rabbi, following in the steps of Isak Noa Mannheimer. This article describes how, during his eight years in the Habsburg capital, Jellinek used his responsibilities as one of the leaders of a rapidly transforming Jew­ ish community to formulate a unique interpretation of Jewish modernity, developing a language to explain the way traditional rabbinic life and texts could find meaningful and logical symbiosis with the broader tenets of Ger­ man liberalism and Enlightenment rationalism. It is shown that the social milieu of immigrant Vienna is interwoven with the epistemological founda­ tions of Jellinek’s vision of Jewish religious modernity. The first section describes the community and politics that Jellinek encountered upon arrival in Vienna. The second section explores the ways that Jellinek created a syn­ cretic rabbinic Judaism from classical Jewish texts and German Enlighten­ ment principles. Hilla Lavie An Ambivalent Relationship: Representations of Germany and Germans in Israeli Cinema, 1950–1990 The article explores the filmic representations of Germans and Germany in Israeli cinema between 1950 and 1990. It discusses how the image of Ger­ many was shaped in the context of Israeli sociopolitical discourse, and emphasizes the role of cinema within the dialogue between political rheto­

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ric, national memory and collective images. The essay focuses on the ways these films reflect the significant impact that Israeli-German relations had on the construction of a national Holocaust memory, and in particular the central notion of victimhood, in Israel. Investigating the ambivalent features of Israeli attitudes toward West Germany since the signing of the reparation agreement (1952), other critical and challenging narratives are revealed which, albeit not openly discussed in public, were addressed cinematically. Therefore, films that challenged or dismantled conventional Israeli concepts and taboos regarding Germany, such as immigration to Germany, Jewish revenge against the National Socialists and Israeli-German-Palestinian rela­ tions, are at the heart of this article. Hannah Maischein Das Vergessen der Augenzeugen: Schuld im polnischen Holocaust-Film Starting with the publications of Jan T. Gross on what he calls “the events at the periphery of the Holocaust” there is a heated debate about the behavior of the Polish “bystanders” (Raul Hilberg) of the Holocaust. How can this encounter of a Western image of the Poles as perpetrators and the prevalent Polish self-image as victim and hero be so explosive? After giving an outline of how the Polish eye-witnesses were forgotten in the West, the paper explores how the Poles forced the forgetting of negative aspects of Polish behavior towards the Jews themselves. Examples from movies about the Holocaust in the post-war era range from feature films, documentaries, short films to episodes of a TV-series that were made between the end of the war and the 2000s. The analysis shows the complex entanglement between state bureaucracy, film production and society that crystalized in movies. That is why these visualizations represent, repress and form the perception of guilt of the Polish eye-witnesses. Svetlana Natkovich Questionable People: The Figure of the Criminal in the Literature of Russian-Jewish Authors, 1862–1884 This essay deals with the representation of the modern Jewish experience in the context of criminal narratives in the literature of Jewish authors in postreform nineteenth century Imperial Russia. It sheds light on the link between the legal and social status of the Jews in Tsarist Russia, the models of iden­ tity and behavior associated with them in Russian public discourse and lit­ erature, and the models of subjectivity formulated in the Hebrew and Rus­ sian writings of Jewish authors between the 1860s and 1880s, emphasizing

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the instrumental role of criminal characters and narratives in this process. It argues that this role was shaped, among others factors, by the unique posi­ tion of Russian-Jewish intellectuals vis-à-vis the labels of transgression pro­ jected on them by the Jewish tradition on the one hand and Russian social structures and dominant discourse on the other. The essay pinpoints various strategies for fashioning plausible models of modern Jewish subjectivity within the constraints imposed by these structures, traditions, and dis­ courses. Matthias Naumann Krieg in der Gegenwart und Erinnerung an die Schoah: Verflechtungen und Fragmentierungen im israelischen Theater In Israeli theater, the representation of the Holocaust is often integrated into a discourse about political violence. Based on the analysis of several plays about the Israeli-Arabic wars and the Palestinian conflict, the article depicts the Hebrew theater of the late 1940s to the 1990s as an associative space in which questions of self-defense and ethical behavior among soldiers were connected to Holocaust remembrance. While Joshua Sobol’s Ghetto, for example, can be understood as a critical comment against the background of the Lebanon War, Job’s Passion by Hanoch Levin addresses violence and suffering in a more universal manner. Both plays reveal how the depiction of events serves as a platform on which Israel’s military self-conception is negotiated. Martin Otto »Habilitandenjahrgang 1912« – Wege und Wirkungen einer rechtshistorischen Generation Eugen Rosenstock-Huessy was part of the 1912 age-group in German legal history. In this year, six young gifted lawyers gave their inaugural lecture at the famous Legal Department of Leipzig University (Juristenfakultät). Con­ nected by common creeds in science and society, they formed a scientific network of high density. Not confined to legal history, they faced the legal challenges of industrial society. While three lawyers died young, Rosen­ stock-Huessy belonged to the “survivors.” In Rosenstock-Huessy’s future writing the agenda of the “1912 age-group” can still be vividly noted. Inka Sauter Dialogische Revisionen – Über die Versuchungen des Protestantismus The article investigates the so-called Leipziger Nachtgespräch, a religious dispute between Franz Rosenzweig and Eugen Rosenstock-Huessy in the

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year 1913 and its repercussions in Rosenzweig’s thought. In the Leipziger Nachtgespräch, Rosenstock-Huessy, who previously had converted to Pro­ testantism, confronted Rosenzweig with a Christian point of view. In the aftermath of the dispute, Rosenzweig himself considered a conversion to Protestantism. However, a few months later he revisited this decision and now opted to be a self-conscious Jew in the modern world. During the years of World War I, he sharpened this new position in an intellectual exchange with Rosenstock-Huessy and thus formed the key concept of his opus mag­ num The Star of Redemption. The article follows the impact of the Protestant thought Rosenzweig was faced with in the dispute on his philosophy of Judaism. Knut Martin Stünkel Kybele oder Symblysma? Eugen Rosenstock und der Kreis um den Patmos-Verlag The essay deals with the idea of Patmos in the biography of Eugen Rosen­ stock-Huessy and its reflection in his work. The circle around the Patmos Publishing House is described in terms of the individuals who comprised it and the religious orientation of the publishing house. Patmos is interpreted as an early example of Rosenstock’s sociological concept of “Symblysma,” which appears as a category, derived from Christian forms, for describing the biography of intellectual groups. The failure of Patmos, experienced by Rosenstock as a traumatic event upon which he reflected intensively, and in particular the conflict that arose here with Karl Barth, can, Stünkel argues, be read as a fundamental theological-sociological dispute regarding Rosen­ stock’s key concept of “Symblysma.” Yfaat Weiss »Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist«: Die Hebräische Universität in der Skopusberg-Enklave The UN Partition Plan for Palestine, known as UN Resolution 181, envi­ sioned Jerusalem as a Corpus Separatum, an international city, open and accessible to believers of the three monotheistic religions – reality however did never catch up with this ideal. While the city was divided as a result of the 1948 War, Mount Scopus in its Northern part with the Hebrew Univer­ sity and Hadassah Hospital acquired an exceptional status. Until 1967 it existed as an enclave amid Jordanian territory, split into a Jordanian and Israeli sector under UN control. The paper sheds light on the fate of the Hebrew University of Jerusalem, a contested space encapsulated and frozen in the midst of national conflict and armed struggle.

Contributors Michael Birnhack is a Professor of Law at Tel Aviv University, where he tea­ ches intellectual property and privacy law. He received his doctoral degree at NYU School of Law in 2000. From 2000 to 2007 he taught at the Faculty of Law at the University of Haifa, and moved to Tel Aviv in 2007. His work on copyright history covers intellectual history, as well as the legal history of intellectual property in Mandate Palestine and Israel. Publications: The Telegraph and Power Struggles in the Palestinian News Field, 1925–1933, in: Kesher [Connection] 45 (2013), 49–56 (Heb.); Mandatory Copyright. From Pre-Palestine to Israel, 1910–2007, in: Ysolde Gendreau/Uma Suther­ sanen (eds.), A Shifting Empire. 100 Years of the Copyright Act 1911, Chel­ tenham/Northampton, Mass., 2013, 84–115; Colonial Copyright. Intellec­ tual Property in Mandate Palestine, Oxford 2012. Lukas Böckmann studied Romance languages and literature, Iberian and Latin American history as well as philosophy at the universities of Cologne, Veracruz and Buenos Aires. He completed his diploma in September 2013 with a thesis on Judaism and the Argentine New Left during the 1960s. He is currently working as an editorial assistant at the Academy Project at the Simon Dubnow Institute, “European Traditions – Encyclopedia of Jewish Cultures,” headed by Professor Dan Diner. For his PhD project he analyzes the emergence of Argentine guerilla movements within the context of mod­ ern secularization. C. K. Martin Chung holds a PhD from the University of Hong Kong (2014). He is currently Research Assistant Professor of the European Union Aca­ demic Programme at Hong Kong Baptist University. In 2007 he earned his MA degree in European Studies from the University of St. Joseph, Macau, where he was also lecturer. His research is concerned with the different religious concepts in German Vergangenheitsbewältigung (coming to terms with the past) and with Sino-European comparisons. Publications: From Nation to Region. Comparing Joint History Writing in Europe and East Asia, in: Andreas Vasilache/Reimund Seidelmann/José Luis de Sales Mar­ ques (eds.), States, Regions and the Global System. Europe and Northern Asia-Pacific in Globalised Governance, Baden-Baden 2011, 229–244. Diether Döring, following an apprenticeship in the chemical industry, stu­ died economics and sociology at the Goethe University Frankfurt. There, he received his PhD in 1971. He has taught Social Security Policy and Finan­ cial Sciences at the Akademie der Arbeit in Frankfurt and European Social JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 519–527.

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Policy at the Goethe University. His main research field concerns interna­ tional comparison of welfare state development and social security systems with a special focus on health systems, labor market policy, and old age pen­ sions. He was elected for several periods as head of the Akademie der Arbeit at the Goethe University in Frankfurt. Furthermore, he is head of Königstei­ ner Forum and Preller Foundation, as well as a member of Eugen Kogon’s advisory board. Publications: Wie werden wir morgen leben?, Frankfurt a. M. 2012 (ed.); Armut und soziale Ausgrenzung, Berlin 2009 (ed.); Früh­ erkennung und struktureller Wandel. Eine Untersuchung am Beispiel des Finanzsektors im Wirtschaftsraum Frankfurt-Rhein-Main, Düsseldorf 2007 (together with Michael Erhardt); Sozialstaat, Frankfurt a. M. 2004; Die Zu­ kunft der Alterssicherung. Europäische Strategien und der deutsche Weg, Frankfurt a. M. 2002; Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt a. M. 1999 (ed.). Tobias Ebbrecht-Hartmann holds a PhD from the Freie Universität Berlin where he also earned his MA degree in Film Studies, New German Litera­ ture and Political Science. He was research assistant at the Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, and postdoctoral fellow in the program “Media of History – History of Media” at the Bauhaus-Universität Weimar and the International Institute for Holocaust Research Yad Vashem. Currently he is lecturer in Cinema Studies at the Department of Communication and Jour­ nalism and the DAAD Center for German Studies at the Hebrew University in Jerusalem. His research focuses on German social and cultural postwar history, docudrama, archives, film heritage and German-Israeli relations as reflected in cinema and television. Publications: Locked Doors and Hidden Graves. Searching the Past in “Pokłosie” [Aftermath], “Sarah’s Key,” and “Ida,” in: Gerd Bayer/Oleksandr Kobrynskyy (eds.), Holocaust Cinema in the Twenty-First Century. Images, Memory, and the Ethics of Representa­ tion, New York 2015 (forthcoming); Film als Archiv. Archiv, Film und Erin­ nerung im neueren israelischen Kino, in: Alf Lüdtke/Tobias Nanz (eds.), Laute, Bilder, Texte. Register des Archivs, Göttingen 2015, 73–90; Über­ gänge. Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte, Berlin 2014; History Runs through the Family. Framing the Nazi Past in Recent Autobiographical Documentary, in: Robin Curtis/Angelica Fenner (eds.), The Autobiographical Turn in Germanophone Documentary and Experi­ mental Film, Rochester, N. Y., 2014, 194–209; Geschichtsbilder im media­ len Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. Theresa Eisele studied media and communication, as well as theater studies at Leipzig University and Complutense University of Madrid. She received her MA degree in 2015 with a thesis on the dramatist Jacinto Grau and his

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recollection of early modern traditions of avant-garde theatre. During her studies, she worked as a student assistant at the Institute for Theater Studies at Leipzig University, and earned a journalistic scholarship from the Institute for the Training of Journalists and Communication Research at Passau Uni­ versity. She has been an academic assistant at the Simon Dubnow Institute since 2014. Publications: Art. “Rhapsody in Blue,” in: Enzyklopädie jüdi­ scher Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ed. by Dan Diner, vol. 5, Stuttgart 2014, 209– 215; Sterbende Stiere – oder von der Kunst des aufgeklärten Todes, in: Tier­ studien. Tiere und Tod 3 (2014), no. 5, 103–116. Arndt Engelhardt studied medieval and modern history, general and com­ parative literature, and German language and literature at the universities of Leipzig and Coimbra, Portugal. He received his PhD at Leipzig University in 2011 with a thesis on Jewish encyclopedias in the nineteenth and twenti­ eth centuries. Since 2006 he has been Assistant Director of the Simon Dub­ now Institute for Jewish History and Culture, and since summer 2015 a fel­ low at the Franz Rosenzweig Minerva Research Center at the Hebrew University of Jerusalem funded by the German Research Foundation (DFG). His current research focuses on Jewish printing and publishing cultures in the nineteenth century. Publications: Bildung und Teilhabe. Moritz Veit als Verleger im Zeitalter der Emanzipation, in: Stephan Braese/Daniel Weidner (eds.), “Meine Sprache ist Deutsch.” Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970, Berlin 2015, 107–128; Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015 (ed. together with Susanne Zepp); Arsenale jüdischen Wissens. Zur Entstehungsgeschichte der “Encyclopaedia Judaica,” Göttingen/Bristol, Conn., 2014; Moritz Steinschneider’s Notion of Encyclopedias, in: Reimund Leicht/Gad Freudenthal (eds.), Studies on Steinschneider. Moritz Stein­ schneider and the Emergence of the Science of Judaism in Nineteenth-Cen­ tury Germany, Leiden/Boston, Mass., 2012, 109–135; Kaleidoscopic Knowl­ edge. On Jewish and Other Encyclopedias (thematic focus, ed. together with Ines Prodöhe), in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon-DubnowInstitute Yearbook 9 (2010), 231–521. Robert S. C. Gordon is Serena Professor of Italian and Fellow of Gonville and Caius College, University of Cambridge, where he has taught since 1998 and where he also obtained his PhD in 1993. Previously he taught at the University of Oxford. He concentrates on the literature, film, and cultural history of modern Italy and has published widely on the work of Pier Paolo Pasolini, the work of Primo Levi, responses to the Holocaust in Italy and in contemporary visual culture. Publications: Holocaust Intersections. Geno­

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cide and Visual Culture at the New Millennium, Oxford 2013 (ed. together with Axel Bangert); The Holocaust in Italian Culture, 1944–2010, Stanford, Calif., 2012; Introduction to Twentieth-Century Italian Literature, London 2005; Primo Levi’s Ordinary Virtues. From Testimony to Ethics, Oxford et al. 2001; Pasolini. Forms of Subjectivity, Oxford 1996. Gal Hertz received his PhD from the University of Tel Aviv, with a disserta­ tion titled “Words not as Words. Critique of Language, Ideology and Identity in the Work of Karl Kraus” (2014). He is a postdoctoral Minerva fellow at the Center for Literary and Cultural Research Berlin (ZfL), and a research fellow at the Minerva Humanities Center at Tel Aviv University. His current project is “Critique of Language as Critique of Morals. Theatricality of Ambivalence.” Publications: Karl Kraus’s Citationality. Between War Experience and Poetic Language, in: Galili Shahar (ed.), Texturen des Krie­ ges. Körper, Schrift und der Erste Weltkrieg, Göttingen 2015, 145–164; Karl Kraus, World War I and the Issue of Wartime Criticism, in: Zmanim [Times] 130 (2015), 76–80 (Heb.); Zwischen einer Urne und einem Nachttopf. Karl Kraus’ Kritik des Ornaments, in: José Brunner (ed.), Erzählte Dinge. Mensch-Objekt-Beziehungen in der deutschen Literatur, Göttingen 2015, 113–125; Between Theology and Aesthetics. Baruch Kurzweil’s Literary Criticism, in: Chidushim [Insights] 16 (2012), 29–49 (Heb.). Joachim Kalka lives as a critic and translator in Leipzig. In 1996, he was awarded the Johann Heinrich Voß Prize of the German Academy for Lan­ guage and Literature (who accepted him as a member in 1997) for his work as a translator, comprising some 120 titles. In 2014 he was awarded the Johann-Friedrich-von-Cotta-Literatur- und Übersetzerpreis der Landes­ hauptstadt Stuttgart. In 2009 the Bavarian Academy of the Fine Arts elected him as a member. His essays have been published in four volumes by the Berenberg Verlag: Gaslicht. Sammelbilder aus dem 19. Jahrhundert, Berlin 2013; Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen, Berlin 2012; Hoch unten. Das Triviale in der Hochkultur, Berlin 2008; Phantome der Aufklärung. Von Geistern, Schwindlern und dem Perpetuum mobile, Berlin 2006. Samuel Joseph Kessler received his BA in History from New York Univer­ sity and MA in Religious Studies from the University of North Carolina at Chapel Hill. He is currently a doctoral candidate and teaching fellow in the Department of Religious Studies at UNC Chapel Hill. His research focuses primarily on nineteenth-century Jewish responses to Enlightenment and the history of science. He also works on topics in postmodern theory (Foucault) and twentieth-century English literature (Roth, Malamud, Durrell). His dis­

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sertation, entitled “The Scientific Rabbinics of Adolf Jellinek: Tradition and Enlightenment in Nineteenth Century Austro-German Jewry,” examines the life and works of Adolf Jellinek, rabbi in Vienna from 1857 to 1893. Publi­ cations: Foucault and the Holocaust. Epistemic Shift, Liminality, and the Death Camps, in: Dapim. Studies on the Holocaust 28 (2014), no. 3, 139– 154; Religion and the Public University, in: Philosophy and Public Policy Quarterly 31 (2013), no. 1, 19–27; Systematization, Theology, and the Baro­ que “Wunderkammern.” Seeing Nature After Linnaeus, in: Heythrop Jour­ nal, DOI: 10.1111/heyj.12002 (4 June 2013); The Sacredness of “Secular” Literature. A Case Study in Walter Benjamin, in: Journal for Cultural and Religious Theory 12 (2012), no. 1, 100–114. Hilla Lavie received her MFA in Film Directing at the Department of Film and Television Studies of Tel Aviv University and, at the same university, her MA in Film Studies and History. Key areas of her research were IsraeliGerman relations and Israeli cinema. In 2014 she was awarded the Goldhirsh Prize of Ben-Gurion University for Outstanding MA Thesis in Holocaust Studies. Currently she is a PhD candidate at the Richard Koebner Minerva Center for German History at the Hebrew University, Jerusalem. Her research focuses on representations of Israel in German cinema since 1968. In spring 2014 she was a research fellow at the Simon Dubnow Institute, and received a scholarship at the Freie Universität Berlin for the academic year of 2015/2016 as part of student exchange program. She is the editor of the Koebner Center’s magazine Slil. Online Journal for History, Cinema and Television and director of documentary films as well. Hannah Maischein studied cultural and media studies and Eastern European history at Hildesheim University, Jagiellonian University of Cracow and LMU Munich. She received her PhD at LMU Munich in 2014 and published her dissertation in 2015. She was a visiting scholar at New York University, a visiting lecturer at LMU Munich and a Research Assistant at Museum Neukölln in Berlin. She curated exhibitions, such as “Back to the Future – Romantic Tradition in Polish and German Contemporary Art” (Berlin/Poz­ nań 2007) and “Speechless Objects as Triggers – Thoughts on Theodoros Boulgarides” (Munich 2014/2015). She currently works at the Munich City Museum (Münchner Stadtmuseum) on a project focused on migration (“Migration moves the city”) carried out by the Munich City Museum and the Munich City Archives in cooperation with the University of Göttingen and LMU Munich. Publications: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung, Göttingen/Bris­ tol, Conn., 2015; After Jedwabne. “Shameful and Hidden History is Not Specifically Polish” (Interview together with Zofia Lipecka), 2014, (16 September 2015); Contradictory Evidence Seen in the Same Photo­ graph. A Global Icon and Particular Memories, in: Genre. International and Interdisciplinary Journal of Literature and the Arts at CSULB 31 (2012), 14–37; Ecce Polska. Studien zur Kontinuität des Messianismus in der pol­ nischen Kunst des 20. Jahrhunderts, Hildesheim/Zurich/New York 2012; Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen, Munich 2011 (ed. together with Monika Heine­ mann, Monika Flacke, Peter Haslinger, and Martin Schulze Wessel). Svetlana Natkovich holds a PhD from the Department of Hebrew Literature at Ben-Gurion University of the Negev (2012). In 2001 she earned her BFA in the Department of Film and Television of Tel Aviv University, followed by an MA degree in 2006. In 2013 she was a Rothschild postdoctoral fellow at the Taube Center for Jewish Studies at Stanford University. Since 2014 she has been Minerva postdoctoral fellow at the Simon Dubnow Institute. Publications: Bein ananei zohar. Yetzirato ha-sifrutit shel Vladimir (Ze’ev) Zhabotinsky ba-hekasher ha-ḥevrati [Among Radiant Clouds. The Literature of Vladimir (Ze’ev) Jabotinsky in its Social Context], Jerusalem 2015; Elisha Ben Abuya, The Hebrew Faust. On the First Hebrew Translation of “Faust” within the Setting of the Maskilic Change in Self-Perception, in: Naharaim 8 (2014), no. 1, 48–73; The Debate about the Jews and Russian Literature (1908) as a Milestone in the History of Theorization of Jewish Literatures, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 22 (2014), no. 1–2, 471–483; A Land of Harsh Ways. “Tristan da Runha” as Jabotinsky’s Social Fantasy, in: Jewish Social Studies 19 (2013), no. 2, 24–49; Ben Abuya, Spinoza ve-Acosta. Mi dmuyot liminaliyot legiborey mofet shel ha-haskala [Ben Abuya, Spinoza and Acosta. From Lim­ inal Figures to Exemplary Heroes of Jewish Enlightenment], in: Zehuyot [Identities] 2 (2012), 55–71; Pulmus “Mashber ha-Marxism” ve-gibush tfi­ sotav ha-ideologiot ha-mukdamot shel Jabotinsky, 1898–1903 [The Polemics Regarding the “Crisis of Marxism” and the Formation of Jabotinsky’s Early Ideological Perceptions, 1898–1903], in: Iyunim be-tekumat Yisrael [Stu­ dies in the Revival of Israel] 22 (2012), 1–24. Matthias Naumann studied theater, film and media studies, German litera­ ture and Jewish studies in Frankfurt, Tel Aviv and Paris. He holds an MA in theater studies from Goethe University Frankfurt. In 2007/2008 he was responsible, together with Stefanie Plappert, for the academic concept and realization of the Norbert Wollheim Memorial at said university. He works as author, translator (translations include plays by Hanoch Levin, Yonatan Levy, and Maya Arad from Hebrew into German), dramaturge, and pub­

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lisher. He presented his plays at the “Lange Nacht der Autoren” at Deutsches Theater Berlin and at the Heidelberger Stückemarkt. In 2002, he was cofounder of the artist group manche(r)art, and in 2011, of the Berlin-based publishing house Neofelis Verlag. Publications: (Repeating) Family Wars. From “Ibsen in Rehavia” to “Lehi, a B-Movie,” in: Zahava Caspi/Gad Kay­ nar (eds.), Another View. Israeli Drama Revisited, Be’er Sheva 2013, 271– 280 (Heb.); Der Moment Fatzer. Kriegsdiskurs und Theater, Gemeinschaft und Verrat, in: Alexander Karschnia/Michael Wehren (eds.), Kommando Johann Fatzer, Berlin 2012, 51–61; Chöre des Kapitalismus. Künstlerische und nicht-künstlerische politische Artikulationen, in: Nebulosa. Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 2 (2012), 85–95; Conceptions, Connotations, and/or Actions. The Figuration of Jewish Characters in Heinar Kipphardt’s Plays, in: Edna Nahshon (ed.), Jews and Theater in an Intercultural Context, Leiden/Boston, Mass., 2012, 103–120; Der Löwe und die Löw/innen. Das sich wandelnde Auftreten eines Wappentiers kriegerischer Politik, in: Rainer Pöppinghege (ed.), Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn et al. 2009, 161–179; Dramaturgie der Drohung. Das Theater des israelischen Dramatikers und Regisseurs Hanoch Levin, Marburg 2006. Martin Otto studied law at Goethe University Frankfurt am Main where he received his PhD in 2007. From 2007 to 2012, he taught at the Legal and Economic Department at the University of Bayreuth. Since 2012 he has been teaching in the Legal Department at the FernUniversität (Open University) in Hagen. His current research project focuses on the history of German family law, especially the family name (§ 1355 BGB). Publications: Geschichte des deutschen Patentrechts, Tübingen 2015 (ed. together with Diethelm Klippel); “Mein Fachkollege Koellreutter ist zwar gewiß kein Genie.” Briefe von Kurt Wolzendorff an Carl Schmitt 1920/21, in: Schmit­ tiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts n. s. 2 (2014), 53–86; Naturrecht und Staat in der Neuzeit. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013 (together with Jens Eisfeld, Louis Pahlow, and Michael Zwanzger); Vom “Evangelischen Hilfswerk” zum “Institut für Staatskir­ chenrecht”. Ulrich Scheuner (1903–1981) und sein Weg zum Kirchenrecht, in: Thomas Holzner/Hannes Ludyga (eds.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts. Ausgewählte begrifflichsystematische, historische, gegenwartsbezogene und biographische Bei­ träge, Paderborn et al. 2013, 551–569; Ulrich Biel (1907–1996) – graue Eminenz der (West-)Berliner Politik. Eine erste biografische Annäherung, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2011, Berlin 2011, 285–304; Gefühltes Staatskirchenrecht. Staatskirchen­ recht in der DDR zwischen “Kirche im Sozialismus” und Opposition, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 56 (2011), no. 4, 430–452; The

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Birth of Human Rights from the Spirit of Enlightenment. A Short History, in: Kennedy Gastorn/Harald Sippel/Ulrike Wanitzek (eds.), Justice and Dig­ nity for All. Current Issues of Human Rights in Tanzania, Dar es Salaam 2010, 135–152; Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb. Erwin Jacobi (1884–1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiser­ reich und DDR, Tübingen. Inka Sauter studied philosophy, mathematics, as well as Medieval and Mod­ ern History at Leipzig University, and completed her M. A. degree in Sep­ tember 2011. She is a doctoral student at the Simon Dubnow Institute for Jewish History and Culture at Leipzig University. Since April 2014, she has held a scholarship of the Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Her PhD pro­ ject “Secularization and Thinking of History. A Jewish Perspective in the Crisis of Historicism” focuses on the reflections on history in the work of Franz Rosenzweig within the intellectual context of the Wissenschaft des Judentums. Knut Martin Stünkel studied philosophy, history and literary studies at the University of Bielefeld. He received his PhD in 2002 for a study on Heideg­ ger’s work (“Formal anzeigendes Philosophieren. Heideggers Denken 1916–1976”). Since 2008 he has worked as postdoctoral researcher at the Käte Hamburger Kolleg “Dynamics in the History of Religion” at Ruhr Uni­ versity Bochum (RUB). His current research interest focuses on the phe­ nomenology of religious contacts and the emergence of the notion of reli­ gion. Publications: Transcending Words. The Language of Religious Contact between Buddhists, Christians, Jews and Muslims in Premodern Times, Bochum 2015 (ed. together with Görge K. Hasselhoff); Una sit reli­ gio. Religionsbegriffe und Begriffstopologien bei Cusanus, Llull und Mai­ monides, Würzburg 2013; Ins Kielwasser der Argo. Herforder Studien zu Eugen Rosenstock-Huessy. Festschrift für Gerhard Gillhoff zum 70. Geburts­ tag, Würzburg 2012 (ed.). Yfaat Weiss is Professor and Vice Dean of Research at the Hebrew Univer­ sity of Jerusalem. She teaches in the Department of Jewish History and directs the Franz Rosenzweig Minerva Research Center for German-Jewish Literature and Cultural History. From 2008 to 2011, she headed the School of History at the Faculty of Humanities at the Hebrew University. From 2001 to 2007, she was director of the Bucerius Institute for Research of Con­ temporary German History and Society at Haifa University. Her research is centered in particular on questions of belonging, nationality and memory in the context of European Jewish and Israeli history. Publications: Jean Améry. “… als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement”, Paderborn 2014

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(ed. together with Ulrich Bielefeld); Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns, Paderborn 2013 (ed. together with Amir Eshel); Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib – Haifas ent­ eignete Erinnerung, Hamburg 2012; Lea Goldberg. Lehrjahre in Deutsch­ land 1930–1933, Göttingen 2010; Hebrew Youth. Lea Goldberg’s Letters from the Province 1923–1935, Tel Aviv 2009 (ed. together with Giddon Ticotsky; Heb.); Staatsbürgerschaft und Ethnizität. Deutsche und polnische Juden am Vorabend des Holocaust, Munich 2000; Schicksalsgemeinschaft im Wandel. Jüdische Erziehung im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938, Hamburg 1991.