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German Pages [116] Year 2020
Grace Blakeley
Das Buch der linken Star-Ökonomin Grace Blakeley jetzt auf Deutsch. STOLEN deckt auf, weshalb die Wirt-
e Welt vor So retten wir di pitalismus dem Finanzka
schaftspolitik nach der Finanzkrise vor allem dem obersten 1 Prozent zugutekam, und warum uns nur der demokratische Sozialismus vor einem neuen Crash und der Klimakatastrophe bewahren kann. Eine unverzichtbare Lektüre. »Bringt Ihnen bei, wie Sie mit Ihren Kindern über Marxismus sprechen.« —— Financial News
brumaireverlag.de
Schon im Sommer 2021 soll in Ostdeutschland die größte Batteriefabrik der Welt entstehen. Der Multimilliardär Elon Musk verspricht, in Brandenburg 12.000 Arbeitsplätze in Teslas neuer Gigafactory zu schaffen. Während das einige feiern, fühlen sich andere an die Energiewende erinnert: Versprachen Regierung und Unternehmen nicht schon um die Jahrtausendwende, dass eine Menge gut bezahlter und sicherer Jobs entstehen würde? Der Osten wurde damals zum Labor für die Energiewende und soll es jetzt bei der Elektromobilität wieder werden. Die Geschichte zeigt aber, dass die Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf einen Job angewiesen sind, immer dann das Nachsehen haben, wenn sie nicht ausreichend organisiert sind. In Ostdeutschland traf das nach 1989 in besonderer Weise zu, weil die Schocktherapie von Kohl, Waigel, Sarrazin & Co in kürzester Zeit alles privatisierte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Anstelle blühender Landschaften gab es beleuchtete Wiesen – brachliegende Gewerbegebiete und Straßen ins Nichts. Statt der unsichtbaren Hand des Marktes gab es den brutalen Griff der Treuhand, der knapp drei Millionen Menschen arbeitslos machte. Klar ist, der Staatssozialismus war ein gescheiterter Versuch – ökonomisch wie politisch und ökologisch. Dennoch wurde bis zuletzt um seine Reformierbarkeit gerungen. Daraus lernen wir, dass Sozialismus nach echter Demokratie verlangt. Kein Staat, keine Partei kann dauerhaft über die Menschen hinweg entscheiden, ohne dabei auf Repressionen zu setzen. Neben dem bundesdeutschen Erinnerungstheater um Bananen, Stasi und FKK-Strände hinterlässt die DDR einen ganzen, fast schon vergessenen Kulturraum: Menschen mit eigenen Lebensweisen, eigener Küche und über Jahrzehnte gewachsenen Überzeugungen. Dass die Einheit kein Arrangement auf Augenhöhe ist, zeigt die doppelte Abwertung, die Ostdeutsche bis heute erfahren: durch die Ungleichheit zwischen Ost und West und die zwischen Oben und Unten. Wer das nicht versteht, nimmt in Kauf, dass die Af D die angestaute Wut instrumentalisiert. Angesichts dieser großen Herausforderungen denkt die deutsche Linke viel zu kleinlich und defensiv, wenn sie darüber streitet, ob die Tesla-Fabriken in Brandenburg erwünscht sind oder nicht, ob die E-Autos so groß sein dürfen wie Panzer oder ob von einem gewerkschaftsfeindlichen Eigentümer die Schaffung guter Arbeitsplätze erwartet werden kann. Diese Diskussion ist Ausdruck eines fehlenden linken Gegenentwurfs zu den Gigafactories des Kapitalismus, ohne den wir dazu verdammt bleiben, dem Klimawandel hilflos zuzusehen. Nur wer eine selbstbewusste Politik für den Osten vertritt, kann ihn auch gewinnen. Wir müssen deshalb nicht gleich wieder Trabis bauen (auch wenn sie sehr schick waren), aber wir brauchen ein Wirtschaftsprogramm für Ostdeutschland, das seinen Namen verdient: große Investitionen und eine Industriepolitik, wie man sie auch in den deindustrialisierten Gebieten Westdeutschlands benötigt. Diese Ausgabe ist sicher kein fertiger Plan, aber ein Wegweiser. Ines Schwerdtner & Ole Rauch
Martin Neise
I. Vom Feeling her ein ostdeutsches Gefühl Seite 20
INHALT
Ost New Deal
Jacobin Ausgabe 3 Winter 2020
38
Energiekolonie Ost Alexander Brentler
44
Zurück nach Zwickau Ines Schwerdtner
Das Silicon Valley der DDR
60
Caspar Shaller
72
Schöne Empirie: Inventur 76
Die Homo-Wende Lotte Thaa
84
Dem Junkerland sein Untergang Anne Zetsche
Die Wolfsmanagerin
Kleine Freuden
Am Pranger 8 Odins Erben
6
Loren Balhorn
Ich als Ossi … Ines Schwerdtner
102
Kulturpalast Der Weg der Brötchen in den Sozialismus Ronald M. Schernikau
108
Rechte Dandys Julian Göppfarth
Interview mit Christa Luft
Jedediah Britton-Purdy
Jorinde Schulz
10
Seite 64
Drängende Fragen 12 Ein Monster des Marktes
Zeitkapseln Nina Milanović
92
IV. Die Ministerin
Seite 30
Interview mit Steffen Mau
III. Land der kleinen Leute
Hans Thie
II. Green New Deal von unten Seite 21
88
58
The Internet Speaks
Klassiker der Ostküche – auf westdeutschen Tellern Julian Koller
70
Callis Treuhand Benjamin Knödler
112
Luna Wolters’ Horoskop
Weil Kommunikation das
ALLES FÜR DEN GROSSEN VORSITZENDEN @lefriba
Ein Bernie-Poster? RLY? Linker Personenkult? Diese Zeitung ist so durch.
IM OSTEN GEHT DIE SONNE AUF @le_oho_n
Wer Jacobin nicht liebt soll den Westen verlassen
IM WINDSCHATTEN @Christian Luckhardt
Drachentöter Biermann als linker Dissident und Beispiel im Text? Was kommt als nächstes? Gauck als Widerstandskämpfer? Ich habe mich so gefreut, als ich hörte, dass das Jocobin auf deutsch erscheint … es waren auch ein paar gute Texte dabei, aber ihr seid einfach nur ne Hippe Sozen Zeitung in Deutschland, nur ein Schatten der US Jacobin …
😔
The Internet Speaks Herz einer guten Beziehung ist
UNSERE LUNA HAT IMMER RECHT @snowparrotK
Antwort an @Chris_Hoeland Kommies und Zukunftsvorhersagen waren schon immer zwei Paar Schuhe
🤷
WIR SIND DIE MITTE @morvjn
Einige Schweizer Journalisten betrachten den steinzeitstalinistischen »Jacobin« als seriöse Quelle
@philia72351592
PLANWIRTSCHAFT > PHANTASIEWIRTSCHAFT @Dok_Eve
Ist das jacobin mag nicht selbst ein post-leninistisches Magazin?
Antwort an @FutureHpodcast und @jacobinmag_de Studenten im 1. Semester können sich ja gerne futuristisch austoben, aber wenn richtig die Hütte brennt und die Future Historie komplett auf dem Spiel steht, brauchte man schon einen Plan von einer Wirtschaft mit Plan, der taugt. Ihr berauscht Euch an Euren Phantasien.
@KappeRote
Is Jacobin auf Deutsch nicht eher sozialdemokratisch?
@roter_julian_v2
jacobin ja ganz nett, aber gibt es noch andere liberale blätter die ihr empfehlen könnt?
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Kleine Freuden
Vivek Chibber Das ABC des Kapitalismus
ZEITSCHRIFT FÜR KRITISCHE SOZIALWISSENSCHAFT
Politische Organisierung ist schwierig, politische Bildung muss es nicht sein.
Schwerpunktthemen Nr. 199: Politische Ökonomie
des Eigentums (2/2020)
Nr. 200: Probleme des
Einzelheft: € 15,–
Klassenkampfs – heute (3/2020) Nr. 201: Die Politische Ökonomie des Krieges (4/2020) Nr. 202: Green New Deal!? (1/2021)
Jetzt auch als Hörbuch für die ruhigen Tage:
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L T I iri llus ore ext am tr at n B : H io al äf n ho el : rn e
Thermidor
Odins Erben Auf den Äckern Ostdeutschlands leben artamanische Faschisten ihren Traum aus, Nachfahren einer arischen Herrenrasse zu sein. Was treibt sie an? »Unser Sein verdanken wir wesentlich Eltern und Ahnen. Wir bekennen uns zur Verehrung unserer Ahnen und wollen ihr Andenken an kommende Geschlechter weiterreichen.« So lautet das »Artbekenntnis« der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V., einer von mehreren Gruppierungen der sogenannten »Siedlerbewegung«, die seit den frühen 1990er Jahren verstärkt in der Fläche Mecklenburg-Vorpommerns Fuß fasst. Diesen braungrünen Faschistinnen und Esoterikern geht es darum, jenseits der bundesdeutschen Metropolen – wo »der Individualisierungsgrad und die fremdländische Bevölkerungsdichte« bekanntlich höher sind – die Gebräuche der germanischen Volksgemeinschaft neu zu beleben und Rückzugsorte zu bilden, wo Neonazis ungestört ein »artgemäßes« Leben auf dem Land pflegen. Schließlich können alle – auch Braungesinnte – ein bisschen Grünfläche im Alltag gut vertragen. Als Inspiration für diese Gemeinschaften, die Natur und »Art« gleichermaßen bewahren
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wollen, dient die völkisch-esoterische Szene, die im späten Kaiserreich entstand und in der Weimarer Republik zur vollen Blüte kam. Vor allem der Bund Artam, auch Artamanen-Gesellschaft genannt – eine »ritterliche deutsche Kampfgemeinschaft auf deutscher Erde«, wie dessen Gründer Willibald Hentschel es ausdrückte –, unterfüttert bis heute die ideologische Basis der Siedlerbewegung. Während die Artamanen der 1920er Jahre die ostpreußische Provinz ins Auge fassten, um neuen »Lebensraum« zu erschließen und polnische Saisonarbeiter von deutschen Bauernhöfen zu verdrängen, kommen die heutigen Siedlerinnen und Siedler meistens aus alten westdeutschen »Sippen« (Szeneterminologie für Nazi-Großfamilien) und tragen ihr reaktionäres Weltbild zurück in das ländliche Mecklenburg, wo ihre Bewegung einst entstand. Die Neo-Artamanen ahmen ihre historischen Vorbilder verblüffend akkurat in Symbolik, Sprache und Gestik nach. Ihre Höfe verzieren sie mit nordischen Runen oder Abbildungen der Irminsul, einer heiligen
Am Pranger
Thermidor Säule aus dem frühen Mittelalter, die Rechte und Esoterikerinnen bereits seit Generationen für sich reklamieren. Ihre Rückbesinnung auf mittelalterliche und heidnische Symbolik soll damals wie heute vor allem eine Botschaft transportieren: Die Männer und Frauen, die sich auf die »deutsche Scholle« zurückziehen, seien nicht einfach ein Haufen ausländerfeindlicher Hippies, sondern Hüter einer arischen Herrenrasse, die früher oder später wieder über die Geschicke Europas und vielleicht sogar der Welt bestimmen soll. Bis es jedoch soweit ist, bauen sie Kartoffeln an und engagieren sich immerhin für den Schutz der deutschen Wälder. Wie Herr der Ringe, bloß (noch) rechter Was bringt jemanden dazu, im Jahr 2020 auf ein heruntergekommenes Rittergut zu ziehen, abgespeckte HitlerjugendUniformen zu tragen und vormodernes Handwerk zu praktizieren? Damals, als sich die völkische Bewegung im Anmarsch befand, war immerhin nicht undenkbar, dass diesen Siedlern die Zukunft gehören würde. Ihre Gemeinschaften wuchsen rasant, sie gründeten eine Reihe neuer »Gaue« und Höfe, und konnten die gerade entstehende nationalsozialistische Bewegung mit ihren Vorstellungen von »Rassenhygiene« und einer organischen Verknüpfung von Blut und Boden entscheidend beeinflussen. Nicht zufällig haben zahlreiche Nazi-Funktionäre ihre Karrieren bei den Artamanen angefangen, auch wenn Hentschel selbst bereits 1932 wieder aus der Partei ausgetreten sein soll. Seit dem Sieg über Nazideutschland sind solche völkischen Vorstellungen jedoch aus dem gesellschaftlichen Mainstream verbannt. Rechtes Gedankengut mag nach wie vor weit verbreitet sein, doch es nimmt andere Formen an, wird anders vermarktet und in entscheidenden Punkten ideologisch gemäßigt. Die allerwenigsten Menschen –
Odins Erben
selbst unter denjenigen, die keine Leute aus anderen Ländern in ihrer Nachbarschaft haben wollen – können etwas mit heidnischen Julfesten anfangen, geschweige denn mit der Vorstellung einer arischen Volksgemeinschaft. Vielleicht macht aber genau das den Reiz der Siedlerbewegung aus. Wer sich nach der politischen Dramatik des 20. Jahrhunderts sehnt, findet vielleicht etwas Trost bei diesen »authentischen und echten Ur-Nazis«, wie sie Anna Prizkau von der FAZ einmal nannte. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir auf der Linken ein ähnliches Phänomen: Möchtegern-Bolschewiki und -Operaisti, die die Lösungen für die politische Hängepartie unseres Jahrhunderts im Vermächtnis des Vergangenen suchen. Ob Neo-Artamanin oder Kneipen-Kommunist – das Flüchten in eine heldenhafte Geschichte ist ein Symptom unserer heldenarmen Gegenwart. Doch der oberflächliche Vergleich von links und rechts hat seine Grenzen: Die NeoArtamanen und ihresgleichen haben sich als ein wirksames aktivistisches Reservoir für größere rechte Formationen wie die NPD und nun auch die Af D erwiesen. Immer wieder tauchen Siedler in den Reihen dieser Parteien auf und belegen damit, dass sie trotz ihres Hangs zu mittelalterlicher Folklore durchaus in der Lage sind, etwas in der kosmopolitischen Moderne zu bewegen. Ob sich auch die Revolutionsnostalgiker unserer Tage für einen Demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts nützlich machen können, muss sich hingegen erst noch herausstellen. Um uns den Rechten wirksam entgegenzustellen, brauchen wir kein Liverollenspiel der Jahre 1917 oder 1968, sondern ein politisches Programm, das Stadt und Land versöhnt und Menschen zusammenbringt, egal wo sie herkommen, wie sie aussehen, oder welche schrägen Kostüme sie in ihrer Freizeit tragen.
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I T I iri llus nes ext am tr at Sch : H io äf n we el : rd e tn er
Girondisten
Ich als Ossi … Wir brauchen wirklich nicht noch mehr narzisstische Texte, die erzählen, wie es ist, ein Ossi zu sein. Hohle Identitätspolitik hilft nur jenen, die sie produzieren, die Masse der Menschen hat davon überhaupt nichts. Nicht wenige Karrieren gründen darauf, aus der eigenen Identität einen Verkaufsschlager zu machen. Das ist nicht per se verwerflich, nützt aber den Menschen nichts, die diese Identität teilen, aber von der Karriere nichts abbekommen. In den letzten Jahren baute so eine ganze Generation von Journalistinnen und Autoren ganz auf ihr Ostdeutschsein. Sie erkannten, dass da etwas anders war an ihnen, das natürlich zum Ausdruck gebracht werden musste. Und es verkaufte sich praktischerweise auch ganz gut. Findige Zeitungsmacher haben aus dieser Idee der ganz besonderen Identität gleich eine eigene Rubrik gemacht: die Zeit im Osten. Natürlich nur im Osten als Beilage in der großformatigen Zeitung enthalten – am Ende würden die Wessis noch etwas erfahren und vielleicht empört das Abo kündigen, weil das ja alles mit ihrer Identität nichts zu tun hat.
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Warum aber sollte eine Reportage von der polnischen Grenze die Stuttgarter nicht interessieren? Vielleicht hat ja jemand in Cottbus ähnliche Erfahrungen mit dem Strukturwandel gemacht wie jemand in Bochum. Aber nein. Man leistet sich sogar einen Korrespondenten für den Osten, weil man natürlich »authentisch« aus diesem anderen Land berichten will. Der Einheit leistet man wahrlich einen Bärendienst mit dieser ewig weitergeführten Trennung. In der wohl gutgemeinten Absicht, ostdeutsche Geschichten zu erzählen, gibt man sich selbst ganz westlich und verbannt genau diese Erfahrungen in einen Teil der Zeitung, dem man selbst lieber nicht zu nahe kommen will. Das Anderssein wird zelebriert und bewusst festgezurrt. Die Auseinandersetzung hat kein Ziel, sie ist Selbstzweck.
Am Pranger
Girondisten
Wer hat, der kann Wie ist es also, ostdeutsch zu sein, wie fühlt es sich an? Auf Spurensuche gehen meist diejenigen, die es sich leisten können oder meinen, etwas zu sagen zu haben. Am liebsten sprechen sie dabei über sich selbst. Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein von Jana Hensel und Wolfgang Engler ist eines dieser Bücher, aber es ließen sich zig weitere anführen, die alle dieselbe Geschichte erzählen: Ostdeutsche Erfahrungswelten sind durch den Zusammenbruch des Systems vollkommen anders als westdeutsche. Eigentlich eine banale Feststellung, die aber bedeutungsschwanger immer wieder ausgebreitet werden muss. Von »Erfahrungsräumen« und »Identitäten« ist da bei Hensel die Rede, von Konflikten mit den Eltern (ist das spezifisch ostdeutsch?) und Übersetzungsleistungen ins Westdeutsche. Man habe sich als diese »in der marginalisierten Position Sprechenden« besser selbst kennengelernt als die Westdeutschen das von sich sagen könnten.
Den Sozialismus fasst man, wenn überhaupt, mit der Pinzette an. So als wäre er ein überwundenes System, bloß ein Staat, nicht aber Bestandteil von gelebten Erfahrungen und Vorstellungen von sich und anderen in der Welt. Wer statt von materiellen Realitäten nur von Identitäten spricht, schert sich meist wenig um widersprüchliche Haltungen, um Nöte und die Klassenunterschiede im Osten. Es geht einfach nur darum, wer zu sein. Mit dieser Haltung kann man sich auf Bestsellerlisten wiederfinden und doch als marginalisiert wahrnehmen. Das Problem liegt also nicht darin, dass man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Der Austausch darüber kann in der Tat heilsam sein. Zur Weltanschauung erhoben, endet die Behauptung
Ich als Ossi …
von Identitäten jedoch in politischer Selbstbezogenheit. In vielen Fällen läuft sie darauf hinaus, dass eben jene auf ihre ostdeutsche Identität Versessenen eine Quote in den bundesdeutschen Eliten fordern. Im Endeffekt sichert man sich selbst und ein paar anderen Leuten mit dem gleichen Klassenhintergrund den einen oder anderen guten Buchvertrag oder eine Honorarprofessur. Den größten Teil der Ost- wie der Westdeutschen schert diese Form von Symbolpolitik jedoch wenig. Was bleibt, ist eine hohle Identitätspolitik, die die Widersprüche im Osten selbst vernebelt. Sie zeigt nicht, wer nach der Wende gewonnen und wer verloren hat, sie ebnet regionale Unterschiede ein, vor allem aber macht sie Klassenunterschiede unkenntlich. Sie vermittelt eine PseudoIdentität ostdeutscher Akademikerinnen und Akademiker, die mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit der Veränderung der Umstände, unter denen die Menschen im Osten leben. Die ganze Identität ernstnehmen Wer über den Osten spricht, darf von Arbeitslosigkeit und sozialen Rissen nicht schweigen. Wer wirklich an die materiellen und kulturellen Grundlagen dieser Gesellschaft gehen will, sollte das sozialistische Erbe in all seinen Widersprüchen miteinbeziehen. Es geht nicht um hohle Phrasen, sondern um die wirklichen Erfahrungen derjenigen, die über den Tisch gezogen wurden, um Unzufriedenheiten, um gebrochenen Stolz. Die Alternative besteht nicht darin, eine ostdeutsche Identität zu leugnen, im Gegenteil: Sie muss in ihrem vollen Sinne eingeholt werden. Dann wird kenntlich, dass die ostdeutsche Erfahrung für ein gemeinsames linkes Projekt unabdingbar ist.
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Ein Monster des Marktes Text: Jedediah Britton-Purdy Übersetzung: Thomas Zimmermann Illustration: Raphael Berg
Nach der Präsidentschaft Donald Trumps muss es darum gehen, die Demokratie aus dem Würgegriff des freien Marktes zu befreien. Donald Trump ist jedermanns Monster. Das Wort »Monster« kommt vom lateinischen monstrum, was soviel heißt wie Vorzeichen, Warnung oder Offenbarung – wie auch in »Demonstration«. Nach Trumps Wahlniederlage will man nun wissen, oder glaubt man zu wissen, was seine verlogene, chaotische und hetzerische Amtszeit über das Land offenbart, das ihm zum Aufstieg verholfen hat. So wurde er zum Beispiel als der »erste weiße Präsident« bezeichnet, insofern er der erste von 44 weißen Männern im Amt war, der aus Ablehnung für einen schwarzen Präsidenten gewählt wurde. In diesem Sinne müsste er auch der erste männliche Präsident genannt werden, schließlich war er der erste, der eine Frau um dieses Amt gebracht hat. Diese beiden Prädikate fangen wesentliche Aspekte Ein Monster des Marktes
der Politik des gekränkten weißen Mannes ein, die Trump im Wahlkampf und im Weißen Haus verfolgt hat. Sie zielen auf die Bedeutung von Rassismus und Frauenfeindlichkeit »in der DNA« der US-amerikanischen Gesellschaft, die unter dem Druck des demografischen Wandels und der Forderungen nach echter Gleichberechtigung der Geschlechter zum Vorschein gekommen ist. Trump war aber auch der erste kapitalistische Präsident. Er ist sicherlich nicht der erste gewesen, der dieses System verherrlicht hat – aber er war der erste, dessen Amtsanspruch auf seiner angeblichen Fähigkeit gründete, aus viel Geld noch mehr Geld zu machen, anstatt auf politischen, militärischen oder anderweitigen öffentlichen Verdiensten. Er war auch nicht der erste Entertainer im Amt – das war vor ihm schon der Schauspieler Ronald Reagan, 13
und allgemein waren in den letzten hundert Jahren immer jene Präsidentschaftskandidaten im Vorteil, die das jeweils neueste Medium zu bespielen verstanden. Aber er war der erste Präsident dieser neuen Ära fragmentierter Öffentlichkeiten, in der Wahlerfolge durch die leidenschaftliche Unterstützung politischer Nischen erzielt werden, die sich in erster Linie über gemeinsame Feindbilder definieren. Trump ist der Präsident der Ära Twitter-FoxNews-MSNBC, in der das Ressentiment das politische Gefühl schlechthin ist, und alle meinen, einer gefährdeten Minderheit anzugehören. Dabei war er zugleich auch der erste nihilistische Präsident. Seine Kampagne und seine Präsidentschaft hätte es in dieser Form ohne die Auflösung des Unterschieds zwischen Politik und Marketing niemals geben können. Diese Linie war schon längst verwischt und unzählige Male übertreten worden, aber unter Trump verkam das Regieren vollends zu einem bloßen Aufhänger für den jeweils neuesten Pitch. Seine Präsidentschaft war der Kipppunkt, an dem der langsame Erosionsprozess des Politischen in dessen völlige Transformation umschlug. Prinzipienlosigkeit war für Trump bereits gängige Geschäftspraxis, lange bevor sie zu einer politischen Praxis wurde. Sein kapitalistischer Appeal und sein politischer Nihilismus sind letztlich zwei Seiten derselben Medaille. Trumps untrügliches Gespür für leichtgläubige Kundschaft und leicht zu plündernde Geldtöpfe führte ihn schließlich von zwielichtigen Immobiliengeschäften und BrandingExperimenten wie der Premium-Fleischwarenmarke »Trump Steaks« zu den Vorwahlen der Republikanischen Partei und schließlich ins Weiße Haus. Abgesehen von der Nähe zum US-Finanzministerium bietet Letzteres noch eine Vielzahl weiterer Geschäftsmöglichkeiten – zumal 14
für einen Mann mit einer so großen und unternehmerischen Familie. Der Marktplatz und die Wahlurne Diese Beobachtungen laufen auf eine grundlegende Erkenntnis über das Leben in einer kapitalistischen Demokratie wie den USA hinaus: Um seine Stabilität und Legitimität zu wahren, muss dieses System die Sphären von Marktwirtschaft und Staatsbürgerschaft voneinander getrennt halten.
Auf dem Markt werden die Menschen nach ihrer Fähigkeit beurteilt, Renditen auf Investitionen zu erzielen. Dabei wird praktisch jede nicht gesetzlich untersagte Methode der Profitmacherei gebilligt – das Senken der Löhne, das Unterminieren der Sozialversicherung, das Offshoring von Arbeitsplätzen, die Sabotage von Gewerkschaftsarbeit und das Vorgaukeln vermeintlich wundersamer Eigenschaften der zu verkaufenden Produkte. Der Markt ist das Reich, in dem der Egoismus waltet, in dem Reichtum Autorität gleichkommt und grundlegende Ungleichheiten als selbstverständlich hingenommen werden. Die Staatsbürgerschaft dagegen ist die Sphäre, in der wir gemeinsam entscheiden, in welche Richtung es mit unserem Land gehen soll. Hier steht das Gesetz in der Pflicht, die grundsätzliche Gleichbehandlung und Chancengleichheit der Menschen zu Drängende Fragen
gewährleisten. Walt Whitman, der Dichter der Demokratie, schrieb einmal: »Every atom belonging to me as good belongs to you« – jedes Atom, das mir gehört, gehört genauso gut dir. Das ist und bleibt die Idee der Staatsbürgerschaft. Doch die Sphären von Markt und Staatsbürgerschaft lassen sich nicht voneinander fernhalten. Gegen das Charisma des Reichtums ist auch die Politik nicht gefeit. Abhängigkeit und Gefügigkeit ver-
schwinden nicht einfach, wenn wir die Grenze zwischen einer auf Ungleichheit beruhenden Wirtschaft und einer der Vorstellung nach egalitären Staatsbürgerschaft überschreiten. Vor allem aber endet das Profitstreben nicht an den Grenzen von Recht und Staat. »Der Markt«, wie wir dieses Streben höflicherweise nennen, kolonisiert die Politik. Er entdeckt, dass eine der besten Möglichkeiten, sich Vorteile zu verschaffen, darin besteht, Kontrolle über das Gesetz – oder den Staat, der die Gesetze macht – zu erlangen. Politik-Unternehmerinnen und NormenEntrepreneure weiten die Techniken der Gewinnerzeugung auf die Sphäre des Politischen selbst aus und machen aus dem Staat etwas, das des Nihilismus wirklich würdig ist. Es kommt der Tag, an dem er nicht mal mehr fähig ist, auch nur den Anschein aufrechtzuerhalten, dass Politik etwas anderes Ein Monster des Marktes
wäre als der Markt – ein Ort, an dem wir als Gleiche handeln und kollektive Kontrolle über unsere Lebensumstände ausüben. Wenn sich die Gesellschaft der USA von den vergangenen vier Jahren erholen will, muss sie die Demokratie vom freien Markt zurückerobern, dessen Inkarnation Trump darstellt. Alle haben das Recht, zu kaufen Die Verwechslung von Demokratie und Markt ist älter als die Trump-Präsidentschaft und reicht weit über sie hinaus. 2020 beschrieb die gamifizierte TradingApp Robinhood ihre »Mission« als »Demokratisierung des Finanzwesens«. »Demokratisierung« bedeutet in diesem Fall, die Barriere für die Partizipation an Gewinnen und Verlusten im Kasino des Marktes zu senken. Schon sechs Jahre zuvor wurde der Handel mit Kryptowährungen als »Demokratisierung der Wall Street« bezeichnet. Zur selben Zeit behauptete man, Bitcoin sei der Versuch, »Währung und Zahlung zu demokratisieren«. 2011 versprach die Online-Jobbörse Monster, »die Personalrekrutierung zu demokratisieren«, indem sie massenhaft Arbeitssuchende an potentielle Arbeitgeber vermittelte. Wenn man erst einmal angefangen hat, darauf zu achten, sieht man sie plötzlich überall: Versprechungen über Versprechungen, die verheißen, die Werbung, das Design, das Direktmarketing, die Medizin oder was auch immer zu »demokratisieren«. Einige dieser Barrieren abbauenden Innovationen ermächtigen tatsächlich ihre Nutzerinnen und Nutzer. Die meisten jedoch verschärfen lediglich die Verletzlichkeit des Lebens gegenüber dem Markt, indem sie den ohnehin schon unerbittlichen Beschuss mit spekulativen Wettangeboten, aufdringlichen Anzeigen und prekären Jobs noch intensivieren, und dem Ganzen obendrein den Anschein eines 15
» Alle Alternativen zu demokratischer Politik wurden ausprobiert, und alle sind sie gescheitert.«
aufregenden neuen Horizonts der Freiheit verleihen. Vielleicht ist es nicht überraschend, dass der Markt einen so notorisch unterbestimmten Begriff wie »Demokratisierung« für sich einnehmen würde. Doch bei aller Liebe der Wirtschaftswelt für Worte wie »Disruption« – es waren keine Werbeleute, die diese Neuerung herbeiführten. 2010 erklärte eine Professorin der Harvard Business School, der Apple-Mitbegründer Steve Jobs hätte »das Computing demokratisieren« wollen, indem er es »den Massen bequem zugänglich« machte. Im selben Jahr versprach Robert Zoellick, der damalige Präsident der Weltbank und frühere Handelsbeauftragte von George W. Bush, durch freien Zugang zu den Datenbeständen seiner Bank die Entwicklungsökonomie zu »demokratisieren«. Bereits 2009 verstand die New York Times die Vorläufer von Robinhood als eine »Demokratisierung des Investments«. 2007 sprach sie sogar von einem Trend zur »Demokratisierung der plastischen Chirurgie«, womit gemeint war, dass Menschen mit einem Haushaltseinkommen von unter 30.000 Dollar im Jahr, die in vielen Fällen zudem nicht krankenversichert waren, ihre kosmetischen Eingriffe mit Krediten finanzierten. Schließlich, so die Times, richte sich das Einkommen bekanntermaßen nach der Attraktivität. »Ich habe für mein Auto einen Kredit aufgenommen«, so wurde die vielsagende Erklärung einer Patientin wiedergegeben, »warum sollte ich nicht auch für mein Gesicht einen Kredit aufnehmen?« Es handelt sich dabei nicht um einen zufälligen Missbrauch des Demokratie-Begriffs. Er wurzelt im Internet-Optimismus der 1990er und frühen 2000er Jahre, als man glaubte, dass Open Source die Software, Seiten wie Wikipedia das Wissen und Nachrichtenblogs die Berichterstattung demokratisieren würden. Als sei
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dem nicht genug, sollte das Internet sogar die Demokratie selbst demokratisieren, indem es den Menschen die Möglichkeit gab, sich online zu organisieren. Heute wissen wir – und wir hätten es schon damals wissen können –, dass uns das Internet stattdessen die größten Monopole der Weltgeschichte, ein Aufblühen von Verschwörungstheorien und anderen »alternativen« Wissensformen sowie einen Hobbesschen OnlineKrieg aller gegen alle bescheren würde. Die dem zugrundeliegende Verwirrung über Demokratie und Markt ist nur eine respektablere Version der Verwirrung, die Trump als Präsident verkörpert hat. Der Markt lässt – wie auch die Demokratie – alle teilhaben und bietet ihnen ein Forum, in dem sie ihre Überzeugungen und Vorlieben zum Ausdruck bringen können. In diesem Sinne sind sie beide egalitär. Auch organisiert der Markt – wie die Demokratie – unser Zusammenleben mitunter dadurch, dass er verstreute Ansichten und Werte zusammenführt, wenn auch nicht durch Wahlen, sondern durch Käufe. So ist das allgemeine Kaufrecht als ein leicht verständliches Konzept von Demokratie zum allgemeinen Wahlrecht hinzugetreten und hat es zu einem gewissen Grad ersetzt. Diese Verschiebung führte dazu, dass der egalitäre Geist der Demokratie fortan als ein Einreißen von Marktbarrieren verstanden wurde – als ein Zurückdrängen von »Experten«-Wissen und allem, was der Verbraucher-Investorin bei der Finanzplanung für ihr überschüssiges Kleingeld im Weg stand. Das täuschte darüber hinweg, dass ein durchgreifender Markt nicht so sehr eine Spielart der Demokratie darstellt, als vielmehr eine Art Bizarro-Demokratie – ein Gegenteil, das gerade durch seine unbehagliche Ähnlichkeit tatsächlicher Demokratie abträglich ist. Drängende Fragen
Die Politik der Trump-Jahre Sowohl Trump als auch seine Opposition haben sich auf diese und andere Alternativen zu demokratischer Politik verlassen. Während das Weiße Haus nach Art einer Direktmarketingkampagne mit integriertem Live-Kommentar zu den Wall-StreetIndizes betrieben wurde, hofften die Demokraten zunächst darauf, dass die Märkte Trump für seine Vetternwirtschaft, seine erratischen Gesten in Sachen Industriepolitik und seine vermeintlich ohne jede Rücksicht geführten Handelskriege abstrafen würden. Als klar wurde, dass sich das Kapital unter Trump durchaus wohl fühlte, wandte sich der Mainstream der Demokratischen Partei stattdessen den »Normen« zu, gegen die der Präsident am laufenden Band verstieß – was sicherlich stimmte, jedoch auf eine elitäre Moral hinauslief, die sich nicht als Antrieb einer wahrhaft demokratischen Politik eignet. Die Führung der Demokratischen Partei hoffte, dass die Verfassung, die Gerichte und die vom Ex-FBI-Chef Robert Mueller verkörperte Rechtsstaatlichkeit Trump zu Fall bringen würden. Nicht nur, dass nichts dergleichen geschah – nach seiner Wahlniederlage musste man sich sogar Sorgen machen, dass dieselben Gerichte dem Volk die Entscheidung aus der Hand nehmen und Trump doch noch den Sieg zuschieben könnten. Alle Alternativen zu demokratischer Politik wurden ausprobiert, und alle sind sie gescheitert. Beinahe hätte diese entmutigende Erfahrung den Lebensgeist der Politik selbst erstickt – doch er hat es überstanden.
Eine der hoffnungsvolleren Entwicklungen während der Trump-Jahre war, dass die Demokratische Partei daran erinnert wurde, dass Politik bedeutet, Mehrheiten zu erringen, Wahlen zu gewinnen und so an die Regierung zu gelangen. Das liegt vor allem daran, dass Trump erst der zweite USPräsident der Moderne war, der ins Weiße Haus einzog, ohne eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben – in jedem anderen Wahlsystem, das nicht durch eine Institution wie das US-amerikanische Electoral College verfälscht ist, hätten die drei Millionen Stimmen Differenz zu Hillary Clinton eine herbe Niederlage bedeutet. (George W. Bush erhielt im Jahr 2000 etwa eine halbe Million Stimmen weniger als sein Kontrahent Al Gore – auch eine Niederlage, aber eine deutlich knappere.) Während Trump unerbittlich dafür angegriffen wurde, den Geist und Wortlaut der Verfassung zu zersetzen, verdankte er ihr allein seine Präsidentschaft. Die Trump-Administration war der Schlussstein für die Befestigung der Herrschaft einer Republikanischen Partei, deren gesamte Strategie darauf aufbaut, populäre Minderheiten in konstitutionelle Mehrheiten umzuwandeln. Sie verlässt sich dabei auf das institutionelle Dreieck aus dem Weißen Haus, dem Senat – den sie allein kontrolliert, obwohl sie nur rund 45 Prozent der Bevölkerung vertritt –, und den Bundesgerichten, zu deren Besetzung es nur eine Nominierung des Präsidenten und die Zustimmung des Senats benötigt. Von den neun Richterinnen und Richtern am Obersten Gerichtshof der USA wurden nun fünf durch einen minoritären Republikanischen Senat bestätigt, und davon wiederum drei von einem minoritären Präsidenten ernannt – keinem anderen als Donald Trump. Die richtige Art von Konflikt In der Erleichterung, der Erschöpfung und dem Ekel nach Trumps Rauswurf aus dem Weißen Haus wird der Impuls 17
aufkommen, zu sagen, dass der gesamte Konflikt der letzten Jahre ein einziger Fehler war. Dieser Impuls ist nur natürlich und insbesondere dem Biden-Stil wesentlich – doch er ist nur zur Hälfte richtig. Das kaputte politische System der USA erlaubt es, dass Minderheiten Wahlen gewinnen und die Macht übernehmen, und ist zugleich zu fragmentiert, als dass eine Regierung effektiv arbeiten könnte. Damit produziert es tatsächlich die falsche Art von Konflikten. Da sich positive Zukunftsprojekte wie der Green New Deal häufig selbst für diejenigen Wählerinnen und Wähler utopisch anfühlen, die sie unterstützen, fällt die politische Mobilisierung in vielen Fällen darauf zurück, vor der existenziellen Bedrohung durch die Gegenseite zu warnen – sie setzt auf die panische Angst vor dem, was die anderen tun könnten. Anstatt als eine potentiell gestaltende Mehrheit, wird jede politische Gruppierung in erster Linie als eine potentiell gefährdete Minderheit angesprochen – das gilt auch für die Anhängerschaft von Trump, die ihrer Meinung nach von allen am meisten bedroht ist. Alles wird politisiert – vom Essen über den Urlaub bis hin zur Alltagssprache. Zugleich ändert die Politik wenig an den materiellen Bedingungen, unter denen wir ein sicheres oder unsicheres Leben führen und die uns Macht verleihen oder sie uns nehmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir tatsächlich den falschen Kampf gekämpft haben – den Konflikt der narzisstischen Projektion und Paranoia, den Trump gestaltet und gewollt hat, da er anders nicht hätte gewinnen können. Aber das bedeutet nicht, dass der Konflikt an sich der Fehler war. Der Konflikt ist die notwendige Grundlage der Politik – es geht nur darum, ihn produktiv zu machen. Die Niederlagen der Demokratischen 18
Partei bei den Senats- und Kongresswahlen, das Versäumnis, die Regierungen der Bundesstaaten zu erobern, bevor diese demnächst die Kongresswahlbezirke neu einteilen, und die signifikanten Stimmenverluste bei Latinos haben gezeigt, dass der politische Schlachtruf »Wir sind nicht Trump« eine knappe Mehrheit der Bevölkerung und – dank einer Reihe hauchdünner Vorsprünge in einzelnen Staaten – auch eine bedeutende Mehrheit der Wahlleute des Electoral College einnehmen kann. Aber um wirklich regieren zu können, reicht das nicht. Bernie Sanders’ Aufruf zu einer »politischen Revolution« war die unmissverständlichste Aussage über die Aufgabe der Demokratie, die die USA seit Jahrzehnten zu hören bekommen haben: Demokratien sollen Mehrheiten dazu befähigen, die Kontrolle über ihre eigenen Institutionen zu übernehmen und die Bedingungen ihres gemeinsamen Lebens neu zu bestimmen. Die Notwendigkeit dieser Art von Politik ist nur umso deutlicher geworden, je mehr die USA im Zuge der Covid-19-Pandemie in eine immer grausamere Ungleichheit abgedriftet sind. Aber die politischen Erbinnen und Erben dieser Kampagne werden größere Hürden zu überwinden haben als den minoritären Präsidenten Donald Trump. Sie werden gegen die verbündeten Kräfte des freien Marktes und einer zu Ungunsten der Mehrheit geschriebenen Verfassung ankämpfen und die Demokratie aus deren Umklammerung befreien müssen – aus den Fängen einer Verbindung also, die es uns allzu leicht macht, die uns auferlegten Beschränkungen als eine Form von Freiheit misszuverstehen. Jedediah Britton-Purdy ist Professor der Rechtswissenschaft an der Columbia Law School in New York. In deutscher Übersetzung erschien zuletzt sein Buch Die Welt und Wir (Suhrkamp, 2020). Drängende Fragen
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In Anbetracht der politischen Situation im Osten kann man als fortschrittlich gesinnter Mensch schon mal verzweifeln. Die Neue Rechte sahnt nicht nur bei Wahlen ab, sondern vermag es geschickt, ihr Weltbild und ihre Politikangebote mit den Abwertungs- und Deklassierungserfahrungen großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung zu verbinden und so tief in die Vorstellungswelt der Menschen einzudringen. »Tja«, könnte man da sagen, »die Ossis sind einfach fremdenfeindliche und rassistische Provinzler, die noch nicht gelernt haben, was Demokratie und Toleranz bedeutet.«
dikaler Kritik und Pose und schmettern den verdutzten proletarischen Ossis das ewige Lied vom falschen Bewusstsein entgegen. Diese szenelinke Strategie führt uns aber in die politische Bedeutungslosigkeit und nicht zu einer Massenbewegung, die die Herrschenden angreift und ein besseres Leben für die arbeitende Klasse erkämpft.
Unterhält man sich mit einem gewöhnlichen Ostdeutschen mittleren Alters über Politik und die Lage des Landes, bekommt man zumeist Folgendes zu hören: »Nach der Wende wurden wir von vorne bis hinten verarscht. Von heute auf morgen haben sie uns die Wessis vor die Nase gesetzt, Doch diese arrogante Attitüde – zumeist vorgetragen von in jedem Betrieb und in jedem Amt, weil wir selber angebWestdeutschen, die nie einen Fuß in ostdeutsche Gefilde lich nichts wussten und nichts konnten. Dann wurde man gesetzt haben, aber auch zunehmend von linken und libe- vor die Tür gesetzt und musste zusehen, wo man bleibt. ralen Ostdeutschen – bringt uns nicht nur nicht weiter, son- Alles haben sie platt gemacht.« Diese Erzählung, die von dern führt uns in die Irre. Denn wie ließe sich dann erklären, Herabsetzung und Verachtung handelt, aber auch von dass SPD, Grüne und Linke / PDS bei den Wahlen zwischen Selbstbehauptung und der Abwehr gegen die marktradi1994 und 2009 im Osten zusammen 53 bis 61 Prozent kale Schocktherapie, die vom westdeutschen Kapital erreichten? Selbst 2013, nach dem kompletten und seinen Handlangern durchexerziert wurde, Zusammenbruch der SPD im Osten, kamen ist hunderttausendfach in Kneipen und bei die drei Parteien noch auf 45 Prozent. Das Familienabenden zu vernehmen. Potenzial für einen solidarischen und zukunftsgewandten Osten ist also da. Nur Diese trotzige Opfergeschichte, die erst wie können wir es wiederbeleben? der Linken, dann der Af D zu Wahlerfolgen und Einfluss verhalf, eignet sich jedoch nicht, um den Menschen im Osten ein sozialistiWie jedes linke politische Prosches Projekt wie den Green jekt muss auch das Programm New Deal näherzubringen. einer demokratischen und nach‑ Denn unter diesem Vorzeichen haltigen Wirtschaftsordnung an erscheint jeder Wandel – ob po‑ die Vorstellungswelten der Besitiv oder negativ – als von auvölkerung und der arbeitenden ßen aufgeherrscht, als eine Bedrohung, gegen die man sich Klasse anknüpfen. Andernfalls wehren müsste. Wenn es etwas hängen noch die besten Vorhaben lose in der Luft und die argibt, wonach sich Ostdeutsche beitende Klasse kann unsere sehnen, dann danach, endlich tollen, am Reißbrett entworfeüber das eigene Leben bestimnen Vorschläge nicht auf die eimen und ihre soziale Umwelt gene Lebenssituation beziehen, eigenständig zum Besseren vergeschweige denn unsere Vorändern zu können. Der sozialisstellungen zu ihren eigenen matische wirtschaftliche Aufbruch, chen. den wir brauchen, kann sich nicht auf ein Opfernarrativ stützen – denn darin fehlt der AkLinke neigen allzu oft dazu, die alltäglichen Einstellungen der teur, auf den es ankommt: die arbeitenden Klasse als falsch arbeitende Klasse des Ostens. und vom Kapitalismus verhunzt Stattdessen sollten Sozialistinabzutun. Sie ergehen sich in ranen und Sozialisten im Osten an 22
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andere Versatzstücke der ostdeutschen Mentalität anknüpfen. Denn es zeigt sich, dass die Einstellungen, Erfahrungen und Werte vieler Ossis nicht nur gut mit einem sozialistischen und ökologischen Zukunftsprojekt vereinbar sind, sondern geradezu nach ihm verlangen.
Die Ostdeutschen sind ein praktisch veranlagtes Völkchen. Der Kultursoziologe Wolfgang Engler beschrieb die DDR einmal als »arbeiterliche Gesellschaft«, also eine Gesellschaft, in der die arbeitende Klasse zwar keine politische Macht hatte, wohl aber kulturell und sozial dominierte. Der Status der Einzelnen war durch ihre Erwerbsarbeit bestimmt, über die sie sich ihren Platz in der Gesellschaft wortwörtlich erarbeiteten und zugleich Gemeinschaftlichkeit und Zusammenhalt entwickelten. Auch dreißig Jahre nach der Wende wirken diese Einstellungen fort. Welche junge Ostdeutsche musste nicht schon mal über ihre Eltern und Großeltern schmunzeln, die mit großem Elan ihre Datsche herrichten, mit Enthusiasmus an ihrer uralten Schwalbe werkeln oder noch den letzten freien Winkel in der Wohnung mit einer selbstgezimmerten dunkelbraunen Kommode verunstalten. Der Osten ist ein Landstrich voller Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit Genugtuung auf das mit den eigenen Händen Erschaffene blicken. Daraus ziehen die Menschen ihre Selbstachtung, daraus ziehen sie ihren Stolz. Damit geht auch eine große Skepsis gegenüber jenen Gesellschaftsschichten einher, die nicht in gleicher Weise »handfeste« Arbeit verrichten. Vierzig Jahre politischer Bevormundung durch die SED, gefolgt von dreißig Jahren wirtschaftlicher Bevormundung durch westdeutsche Eliten, haben ein großes Misstrauen gegenüber allen Formen von Establishment wachsen lassen. Unternehmerinnen und Unternehmer, die nicht selber Vom Feeling her ein ostdeutsches Gefühl
arbeiten, sondern andere für sich arbeiten lassen, sind den Ostdeutschen suspekt. Diese moralische Ressource ist wie gemacht für Sozialistinnen und Sozialisten, die der arbeitenden Klasse im Osten zu ihrem Recht verhelfen wollen. Eine Prise linker Populismus gegen »die da oben« fällt hier auf fruchtbaren Boden. Allerdings hat diese arbeiterliche Alltagskultur auch einen Haken: Die Abneigung gegen jedes Establishment erstreckt sich ebenso auf jene Kultureliten, aus denen sich viele Jungkader unserer Bewegung rekrutieren. Eine weltläufige Essayistin beispielsweise, die ihr Geld mit dem geschriebenen Wort verdient, ist für viele nicht weniger verdächtig als die Mächtigen in Politik und Wirtschaft. Das hat in erster Linie mit der Erfahrung von Bevormundung in der Vergangenheit zu tun: Erst meinte die SED, dem gewöhnlichen Volk erklären zu müssen, wie es zu denken und zu leben habe; dann waren es die Vertreterinnen und Vertreter des marktwirtschaftlichen Systems, die dem vermeintlich ahnungslosen Homo Sovieticus kapitalistische Eigenverantwortung, Ellbogenmentalität und Selbstvermarktung einbläuten. Ostdeutsche Sozialistinnen und Sozialisten, die meinen, politische Veränderung durch Verhaltensvorschriften herbeiführen zu können, landen dann auch folgerichtig in Leipzig-Connewitz oder Dresden-Neustadt, wo sie es sich in einem Biotop von Gleichgesinnten gemütlich machen.
Die sozialen Umbrüche der Wen‑ dezeit wurden von vielen Menschen im Osten unseres Landes auch als biografische Erschütterungen erfahren. Der politische Journalist Robert Misik hat es einmal wie folgt auf den Punkt gebracht: »Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich 23
weiterentwickelst oder ein Start-up gründest. Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst.«
bilden auch heute noch ein industrielles Zentrum in Ostdeutschland.
Das Projekt einer nachhaltigen und demokratischen Wirt- Kurzum: Der Osten der Republik hat schon früher einmal schaft muss deshalb bei allen Umbrüchen auch soziale Si- die modernste Technik hergestellt und die produktivsten cherheit verkörpern. Diese »konservative« Komponente Anlagen gebaut. Durch die kollektive Anstrengung arbeimüssen wir Sozialistinnen und Sozialisten ebenfalls kom- tender Menschen entstanden hier neue Industrien. Nun munizieren, andernfalls wird diese weit verbreitete Ab- ist es wieder an der Zeit, das Land neu aufzubauen – mit wehrhaltung der arbeitenden Klasse im Osten jegliches klimafreundlichen Technologien und Wirtschaftskreisläuprogressive Vorhaben ausbremsen. fen sowie gut bezahlten, gewerkschaftlich organisierten Jobs. Eine sozialistische Partei, die Erfolg haben will, muss anstelle des ostdeutschen Opfermythos die Renaissance des Die Ostdeutschen wissen, was es heißt, zu improvisieren Ostens in den Mittelpunkt ihrer politischen Erzählung rü- und sich umzustellen. Aus Schutt und Asche haben sie ein cken. Sie muss ein positives und widerständiges Bild des kleines Land aufgebaut – trotz der Reparationszahlungen Ostens vermitteln, in dem die Menschen sich aufmachen, an die Sowjetunion. Sie haben den wirtschaftlichen Kahldie heimischen Landstriche wiederzubeleben und mit den schlag nach der Wende überlebt und sich wieder aufgerapneuesten klimafreundlichen Technologien und Industrien pelt, haben Arbeitsämter, Ich-AGs und Arbeitsbeschafauszustatten. fungsmaßnahmen überstanden und sich einen kleinen Wohlstand aufgebaut. Das wäre gar nicht so weit hergeholt. Mitte des 19. Jahrhunderts prägten die Krupp-Gruson Werke in In Ostdeutschland weiß man anzupacken. Aber Magdeburg eine ganze Region und waren der dieses Mal gibt es einen Unterschied: Die MenGeburtsort des Schwermaschinenbaus in schen werden nach ihren eigenen StanDeutschland. Die Werften in Rostock dards, Bedürfnissen und Wünschen anund Stralsund bauten die modernspacken, um aus ihren Städten und ten Schiffe Europas. Und die LeuDörfern wieder belebte und solidanawerke bei Halle waren zu Zeiten rische Gemeinschaften zu machen – der Weimarer Republik das größfrei von Hass, dafür mit Frohsinn te Hydrierwerk des Landes und und Leichtmut.
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»Meine Herren, wir bauen keine Autos mehr.« Das ver- Arbeitsplätzen, häufig in regionaler Konzentration. Dass kündete US-Präsident Franklin D. Roosevelt den ungläu- gleichzeitig neue Jobs entstehen, ist für die aufkommende bigen Chefs von Ford, Chrysler und General Motors im Wut ein schwacher Trost. Wenn dann noch der typische Dezember 1941. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor brau- Öko-Talk und die rechthaberische Verzichtslyrik hinzuche Amerika die riesigen Produktionshallen in Detroit für kommen, wird der vermeintliche Aufklärer schnell zum Feind des getretenen Strukturwandel-Opfers. Das zeigt die Massenproduktion von Bombern und Geschützen. sich nun auch im Westen, in Stuttgart, Wolfsburg und anWas damals der Krieg gegen den japanischen und deutschen derswo. Der Osten kennt das schon lange. Faschismus war, ist heute der Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe. »Meine Damen und Herren, wir verbrennen nicht mehr Öl, Gas und Kohle. Mit dem größtmöglichen Tempo steigen wir aus und vervielfachen unsere Nachdem das morsche DDR-Gebäude im Herbst 1989 zerInvestitionen in Wind, Sonne und Speicher, in saubere fallen war, gab es in der aufgewühlten Reform-Republik Verkehrssysteme, in emissionsfreie Gebäude und in Was- eine kurze, aber intensive Zeit des Aufbruchs, der Ideen, serstoff für eine klimaneutrale Industrie.« Diese selbstbe- des individuellen und kollektiven Veränderungswillens. Dewusste Haltung einer imaginären Kanzlerin wäre nötig, mokratie, Selbstbestimmung, Eigenständigkeit der Betriewenn das Pariser Klimaabkommen tatsächlich gelten soll. be und Reisefreiheit waren die Zentralthemen, aber die Damit den fossilen Interessen und ihren Finanziers klar Bewahrung der Natur gehörte auch prominent dazu. Hätte wird, was die Stunde geschlagen hat, würde sie ergänzen: es damals schon den Green New Deal als zusammenfas»Wir werden so mutig sein wie einst Roosevelt mit seinem senden Namen für den reformatorischen Eifer gegeben, er New Deal. Mehr Gemeinwirtschaft, die öffentliche Hand hätte gepasst. als strategischer Investor, Ermutigung für unsere Communities, straffe Regeln für die Banken, Steuersätze für die Aber dann kam die ersehnte D-Mark, die sich schnell als Superreichen nahe 100 Prozent – all das brauchen wir auch Industrie-Guillotine erwies. Die Treuhand verschleuderte heute.« an die westlichen Stiefbrüder, was übrigblieb. Der fatale Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« begünstigte die Amerikas Realität vergangener Tage klingt wie eine ferne im Westen sitzenden Alteigentümer, brachte eigentumsUtopie. Deshalb bleibt einstweilen nur der mühsame Weg, rechtliches Chaos und lähmte die Investitionen in Ostden fossilen Wahnsinn mit Bewegungen und Kampagnen deutschland. zu attackieren und die Regierungen zur ökologischen Vernunft zu zwingen. Wie wird dabei das gemeine Volk Das Freiheitsversprechen der Einheit war schön und real. zum Partner der Aktivistinnen und AktivisAber der Industrie-Shutdown war auch real, nur leider ten? Dieses Rätsel ist bislang ungelöst. nicht schön. Im Wochenrhythmus wurden GroßUmbau der Industriegesellschaft heißt betriebe geschlossen, Leben entwertet. Die menauch Wegfall von hunderttausenden talen Langzeitfolgen sind immer noch spür-
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bar: Wut, Zynismus, Depression, Sprachlosigkeit zwischen Aber das EEG hatte und hat bis heute einen regionalpoliOst und West. Zeichen des Aufbegehrens wie die Hallenser tischen Konstruktionsfehler: Windenergie an Land, die Eier-Attacke auf Helmut Kohl im Mai 1991 oder zwei Jah- wichtigste Säule der Energiewende, sorgt kaum dort für re später der Hungerstreik der Kali-Kumpel von Bischoffe- Jobs und Einkommen, wo die Windräder stehen. rode blieben leider Episoden. Schnell wieder Jobs, egal welche – das war die Parole. Kein Wunder, denn in manchen Theoretisch hätten auch die Ostdeutschen in Ökostrom Orten lebte die Hälfte der Menschen von Arbeitslosenstüt- investieren können. Aber ihnen fehlte das Geld oder – nach ze und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. dem Wirrwarr der 1990er Jahre – der Mut. Der Osten hatte Windflächen, der Westen investierte. So flossen die ÖkoFür Luft, Gewässer, Gesundheit und deutsche Klimabilanz Renditen genauso in die falsche Richtung wie vorher die war die Einheit ein großer Gewinn. Massenhaft wurde sa- Eigentumstitel an den ehemals Volkseigenen Betrieben. So niert, dreckige Produktion gestoppt. Die Städte wurden entstand in den Weiten von Sachsen-Anhalt, Brandenburg schöner, die Straßen besser und die Züge schneller. Mit und Mecklenburg-Vorpommern eine Öko-Pampa mit Disviel öffentlichem Geld lockte man die privaten Investitio- ko-Effekt. Wer des Abends die Leuchtfeuer an der Nabe nen. Dresden, Jena, Leipzig und Potsdam robbten sich lang- der Windräder sieht und weiß, dass sich mit den Karbonsam an westdeutsches Niveau heran. flügeln irgendwo weit weg auch die Kontostände drehen, der wird schnell zum Wutbürger. Landkreise, deren ÖkoKreative Experimente alternativer, auch ökologischer Geld- bilanz exzellent ist, die aber ökonomisch fast nichts davon verwendung wurden allerdings nicht toleriert. Und wenn haben, sind offensichtlich nicht optimal. doch einmal ein lokaler Mandatsträger es wagte, Gesetze zu dehnen und Bestimmungen zu umgehen, die einfach Es hätte auch ganz anders kommen können. In Dänemark nicht passten, waren schnell jene West-Gesandten mit sind lokale Genossenschaften und Kommunen die wichtigs»Buschprämie« zur Stelle, die für die überfällige Belehrung ten Investoren. Die Renditen bleiben zu Hause. In Nordsorgten. Die Folgen waren um die Jahrtausendwende über- friesland tun sich Bürgerinnen und Bürger zusammen und all zu besichtigen: Gehwege nach DIN-Norm, aber kaum investieren gemeinsam. Wenn Ökologie und Finanzen noch Einwohner. Aufwendige Haltestellen ohne Buslinien. Hand in Hand gehen, ändert sich auch das ästhetische EmpVoll erschlossene Gewerbegebiete als beleuchtete Schafwei- finden: Aus den störenden Spargeln werden graden. Hochregallager am Autobahnkreuz ohne jede Verflech- zile Säulen, die in die Zukunft weisen. tung mit der Region. Je aktiver Städte und Gemeinden die Energiethemen selbst in die Hand nehmen, desto geringer Am 27. September 1998 wählten die Ostdeutschen zu 60,8 ist die Gefahr einer nur passiProzent die rot-rot-grünen Parteien und schickten Helmut ven Ökologisierung, umso gröKohl in Rente. Gerechtigkeit und Modernisierung mit öko- ßer ist die Wahrscheinlichkeit, logischem Touch – das kam auch im Osten an. Aber die dass sich vor Ort die notwendiErwartungen wurden wieder enttäuscht. In seiner ersten gen Kenntnisse und Fähigkeiten Amtszeit entlastete Kanzler Schröder die Unternehmen bilden. Ein erfolgreiches Beispiel und Vermögenden, in der zweiten präsentierte er dem Volk ist die österreichische 4000die Rechnung: schlechte Löhne, geringere Rente, weniger Sozialstaat, Hartz IV und Ein-Euro-Jobs. Immerhin gab es den Geniestreich des SPD-Abgeordneten und Eurosolar-Präsidenten Hermann Scheer, der auch für den Osten zu einer Chance hätte werden können: das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), von Scheer durchs Parlament geboxt und seit dem 1. April 2000 in Kraft. Mit Preisgarantien für zwanzig Jahre, einer gesicherten Netzeinspeisung und wirksamen Innovationsanreizen lenkte das EEG die Stromerzeugung in die gewünschte Richtung. Green New Deal von unten
Einwohner-Stadt Güssing. Sie stand Ende der 1980er Jahre vor genau den Problemen, die später Ostdeutschland heimsuchten: Strukturschwäche, hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung. Zu jener Zeit begann der ÖVP-Bürgermeister Peter Vadasz mutig und weitblickend den ökonomischen Schatz der ökologischen Erneuerung zu bergen.
haben und alles können? Allein aus Varchentin mit seinen 200 Seelen flossen jährlich 300.000 D-Mark an Ölscheichs und Stromkonzerne – das war unsere erste Rechnung und Rapsöl unsere erste Antwort. Alles selbst machen, was man selbst machen kann, dabei sind wir dann geblieben, Schritt für Schritt.«
Mit dem vor Ort reichlich vorhandenen Holz als UniversalRohstoff für Strom, Wärme und Kraftstoffe, mit neuen Nahwärmenetzen, mit Wind, Sonne und mit der Kommune als Unternehmer hat Güssing nicht nur seine Energieversorgung revolutioniert, sondern auch den wirtschaftlichen Turnaround geschafft. Hunderte Arbeitsplätze sind entstanden, nicht nur unmittelbare Energie-Jobs. Parketthersteller kamen nach Güssing, weil man mit dem kommunalen Heizkraftwerk Wärme-Holz-Kreisläufe zum beiderseitigen Vorteil organisieren konnte. Selbst Forschung und Entwicklung bietet die kleine Stadt in ihrem »Europäischen Zentrum für Erneuerbare Energien«.
Der Zaubertrank vom eigenen Acker, in der Hofmühle selbst gepresst, speiste Tornows gesamten Maschinenpark und die Traktoren der Umgebung. Vor allem aber war das »Projekt Dieselersatz« die Initialzündung für Blockheizkraftwerke, die Strom und Wärme liefern, für einen eigenen kleinen Schlachthof, für ein Dorfrestaurant, für die Holzverwertung, für Arbeit und Einkommen, für die Überzeugung, dass regionale Kreisläufe funktionieren können. Tornows Unglück hieß Peer Steinbrück. Der damalige Bundesfinanzminister ließ 2007 die Regeln für Biokraftstoffe neu ordnen: Beimischungsquoten an der Tankstelle statt Steuerbefreiung für Rapsöl und andere alternative Antriebe. Das war das Ende für das Herzstück des Varchentiner Modells.
Im Oktober 2009 pilgerten 35 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Mecklenburg-Vorpommern ins El Dorado der erneuerbaren Energien, um das Modell Güssing kennenzulernen und für ihre Gemeinden zu adaptieren. Aber die Zähigkeit von Herrn Vadasz hat nicht jeder. Und in Deutschland sind den Bürgermeisterämtern enge Grenzen der wirtschaftlichen Betätigung gesetzt. Nach dem Güssing-Trip ist deshalb nicht viel geschehen, obwohl gerade der Nordosten Deutschlands mit seinem Flächenreservoir und seiner hochproduktiven Landwirtschaft die Energiewende zum eigenen Vorteil selbst in die Hand nehmen könnte. Wie man das macht, zeigt Andreas Tornow, Landwirt mit 1.600 Hektar unterm Pflug, von mächtiger Gestalt wie Obelix und scharfsinnig wie Asterix. »Ende der 1990er Jahre«, erzählt Tornow in seinem Varchentiner Hauptquartier, dem früheren Pfarrhaus, »standen wir vor einer einfachen Frage. Sehen wir weiter zu, wie unsere Dörfer allmählich sterben oder besinnen wir uns darauf, dass wir alles 28
Aktuell sind die Braunkohle-Regionen die Green-New-Deal-Labore. Im Rheinland, im Mitteldeutschen Revier und in der Lausitz wird sich zeigen, ob das geplante Auslaufen der Braunkohle-Verstromung auch der Beginn von neuen Perspektiven ist. Am Fördergeld mangelt es nicht. Bis 2038 sollen 40 Milliarden Euro fließen. Für jeden der rund 20.000 Braunkohle-Jobs gibt es zwei Millionen Euro Strukturhilfe. Was tun mit diesem Pfund? Was soll man neu aufbauen, wenn es in einem entwickelten Land kaum einen Mangel an Konsum- und Investitionsgütern gibt, wenn das ökonomische Basisproblem, das Güterangebot, praktisch erledigt ist? Selbstverständlich wollen alle drei Reviere Defizite ihrer jeweiligen Infrastruktur beseitigen. Der Abschlussbericht der Kohle-Kommission enthält eine lange Liste: mehr Umgehungsstraßen, bessere und schnellere Bahnverbindungen, flächendeckende Digitalisierung, Technologietransfer, Ost New Deal
ein breites Spektrum von Energieprojekten. Die heute üblichen Schlagworte ökologischer Modernität fallen zwar, aber auf der Höhe der Zeit ist man trotzdem nicht. Noch immer herrscht die alte Förder-Ideologie: Kommunen und Regionen sollen sich hübsch machen und private Investitionen anlocken. Für diesen Umweg gibt es keinen guten Grund. Städte und Regionen könnten auch selbst investieren, wenn man nicht nur in der Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Wasser, Müll), sondern überall den dummen Grundsatz aufgeben würde, dass »privat« immer Vorrang vor »öffentlich« hat. Dem Beispiel Güssing folgend würden öffentliche Energieanbieter mit realistischen Konzepten regionaler Energieautonomie auf erneuerbarer Basis entstehen. Inspiriert von Pontevedra in Spanien oder Hasselt in Belgien wären die Innenstädte autofrei. Regionale Agrarkreisläufe, kompetentes und ökologisches Handwerk statt Wegwerfen und Neukaufen, öffentliche Online-Plattformen vernetzter Regionalwirtschaft, kommunale »Fab Labs« für die TechnikFreaks – all das ist möglich und wird längst in Europa und anderswo erfolgreich realisiert. Massenhaft brechen Pioniere mit dem Gewohnten, verwandeln Bedenken in Taten. Aktivistinnen verlassen den üblichen Pfad, probieren aus, was gestern noch waghalsig schien. Selbst manche Unternehmerinnen und Unternehmer, Landwirte und Geschäftsführungen öffentlicher Betriebe dehnen den Rahmen des Möglichen, weil sie sich ihrer ökologischen Verantwortung stellen wollen.
Dieser moralische Impuls braucht politischen Rückenwind. Deshalb ist die Zeit reif, in Kommunalverfassungen, in Finanzierungs- und Verkehrsplänen, in Vergabe- und Energiegesetzen die vielfältigen Hindernisse für eigenständiges, kommunales Handeln zu beseitigen, die Schuldenbremse als Universalblockade abzuschaffen und massenhaft öffentliche Investitionen zu erlauben. Das EEG garantierte privaten Investorinnen und Investoren Einspeisevergütungen für zwanzig Jahre. Warum sollte diese auf einen langen Zeitraum angelegte Verlässlichkeit nicht auch für Projekte gelten, die dem Wohl aller dienen? So könnte eine Gemeinwirtschaft mit einem mehrdimensionalen »Return on Initiative« entstehen: schnellere und kostengünstigere Energiewende, mehr Souveränität statt Abhängigkeit von externen Investoren, Stärkung der kommunalen Demokratie und der lokalen Steuerbasis. Kommunen dieser neuen Art wären weit mehr als heute wirtschaftlich handlungsbefugt und handlungsfähig. Noch Green New Deal von unten
besser wäre es, sie mit Bürgerentscheiden und mit dem Gebot vollständiger Transparenz zu demokratisieren. Die Kommunen wären dann nicht mehr Bittsteller gegenüber privatem Kapital, sondern selbst die dringend gesuchten Gemeinwohl-Unternehmer. Attraktive Optionen für mehr Lebensqualität bei deutlich reduziertem Ressourcenverbrauch wird es nur geben, wenn sie systemisch angelegt sind. Solche Optionen können Märkte prinzipiell nicht bieten. Die Privatwirtschaft kann singuläre Öko-Effizienz hervorbringen, aber keine systematische. Verbrauchsarme Autos, aber keine öko-effizienten Verkehrssysteme. Öko-Häuser, aber keine ökologisch sinnvollen Siedlungsstrukturen. Effiziente Heizungen und Elektrogeräte, aber keine nachhaltigen Energiesysteme. Bio-Lebensmittel, aber keine Bio-Agrarsysteme. Große ökologische Effekte sind nur dann zu erzielen, wenn man nicht nur auf einzelne grüne Produkte, sondern auch und vor allem auf integrierte grüne Systeme setzt. Was in Ostdeutschland längst klar auf der Hand liegt, das gilt jetzt auch für den Westen: Die neue Wirtschaft muss nicht nur »Green« sein, sondern auf einem New Deal aufbauen, also einer gerechten Neuverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen. Das bedeutet: Garantien für die vom Wandel negativ Betroffenen, massive Umverteilung von Einkommen und Arbeit, drastische Korrektur der Vermögensverhältnisse und Ausbau des öffentlichen Sektors. Wenn angesichts ökologischer Großgefahren alles auf dem Spiel steht, darf uns keine Gewohnheit, keine Regel und keine Ordnung zu heilig sein, um sie über den Haufen zu werfen.
Mehr zum Green New Deal: Hans Thie Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft, Hamburg: VSA Verlag, 2013. 29
Interview: Loren Balhorn, Fotografie: Marten Körner
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Ich kam darauf, weil ich da ein Defizit sah. Zwei gegensätzliche, womöglich sogar verfeindete Gesellschaften vereinigen sich – das ist doch eigentlich das spannendste soziologische Experiment, das man sich vorstellen kann. Da würde man annehmen, dass es etliche soziologische Bücher auf dem Markt gibt, die das von allen Seiten beleuchten – aber mir ist keines eingefallen, das ich vorbehaltlos weiterempfehlen würde. Das Thema der Vereinigung wurde von vielen für eine nahezu abgeschlossene Sache gehalten, obwohl man doch noch immer so viele Unterschiede und erkennbare Unwuchten antrifft. Das wollte ich auf eine Art und Weise beschreiben, die sich abhebt von den Büchern, die aufs politische System fokussieren, sich mit der Partei und Staatsführung, mit der ideologischen Doktrin, mit Staatssicherheit und solchen Dingen beschäftigen. Als Soziologe wollte ich die Gesellschaft als solche ernst nehmen und von innen heraus erzählen, möglichst ohne Scheuklappen und unvoreingenommen.
Ich habe unglaublich viele Reaktionen auf das Buch bekommen. Selbst neoliberale und konservative Star-Publizisten haben mir Mails geschrieben und gesagt: »So haben wir die DDR noch nie kennengelernt.« Die DDR ist ja fast immer aus ihrem Scheitern heraus beschrieben worden, und das habe ich zu vermeiden versucht, auch wenn ihre Defekte eine zentrale Rolle spielen. Ich habe mich erst einmal gefragt: Wie haben die Leute gelebt? Warum haben sie sich an dieses System gebunden? Wie sah die Organisation des Alltags aus? Welche Wohnformen spielten eine Rolle? Das hat das Buch vielleicht gerade für Westdeutsche interessant gemacht. Vor allem aber glaube ich, dass durch die dreißig Jahre seit der Wiedervereinigung eine Art Karenzzeit vergangen ist, sodass man nun anders darüber sprechen kann und sich nicht mehr in die ideologischen Gräben hinein begeben muss. Ich denke, das wechselseitige Interesse hat sich nochmal verstärkt und das Verhältnis etwas aufgelockert. Natürlich gibt es nach wie vor diesen Blick auf die jammernden Ostdeutschen, die jetzt schon wieder ankommen. Das wird man auch nicht ganz wegbekommen. Aber wenn man
sich jetzt die Rede des Bundespräsidenten zum 3. Oktober Ja, das war sozusagen ein »Herkunfts-Bonus«, den ansieht, dann stehen da zum Teil Sätze drin, die die Ostich aktiv genutzt habe. Es stand die Frage im Raum, ob ich deutschen mit großer Ernsthaftigkeit in den Diskurs einein Buch schreiben möchte, in dem ich selber in meiner beziehen. Sachen, die die Medien im Nachhinein nicht so eigenen Verwicklung unsichtbar werde, oder eines, in dem intensiv aufgegriffen haben, wie es notwendig gewesen ich explizit mache, aus welcher biografischen Perspektive wäre, etwa ein Bekenntnis dazu, dass es auch Fehler der Wiedervereinigung gab, dass man Kritik an der Treuhand, heraus ich schreibe und analysiere. Ich fand das letztere ehrlicher, obwohl es als der unwissen- der Privatisierungspolitik und vielem anderen zulassen sollschaftliche Zugang gilt. Aber man könnte auch sagen, es ist te, und dass es eine einseitige Veränderungszumutung für viel wissenschaftlicher, wenn man die Prämissen der eige- den Osten gab. nen Analyse offenlegt. Zugleich darf man sich dadurch nicht kompromittieren und in seinen Analysemöglichkeiten beschränken. Sicher ist diese Entwicklung im Osten sowas wie eine Alarmglocke gewesen. Pegida und die Af D-Wahler32
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folge haben das unterschwellige Grollen der Ostdeutschen sichtbarer gemacht als zuvor, wobei man das keinesfalls in eins setzen sollte. Das Problem besteht darin, dass auch diese Akteure politisieren, was hier im Osten nicht gut gelaufen ist, und man ihnen nicht in die Hände spielen möchte. Der Diskurs darf nicht unter den Tisch fallen, man darf ihn aber auch nicht so führen, dass er bei der Af D oder anderen rechtspopulistischen Gruppen einzahlt. Man muss beim Öffnen der Diskursräume darauf achten, dass man die Balance findet und nicht in so eine Jammer-Kultur verfällt, in der sich die Anhängerschaften der Af D bestätigt fühlen können.
ihren Möglichkeiten der Reproduktion dieser Klassenstruktur, indem man den Zugang ihrer Kinder zu höherer Bildung stark beschränkte, und das Leistungsprinzip durch das Kaderprinzip überlagerte. Loyalitätsbindung war wichtiger als eine starke Qualifikationsorientierung. Die DDR ist in Folge dessen eine kleinbürgerliche Gesellschaft oder eine Gesellschaft der kleinen Leute geworden, die Ostdeutschland in gewisser Weise bis heute geblieben ist.
Zu Anfang haben viele Parteifunktionäre noch davon gezehrt, dass sie selber Widerstandskämpfer waren oder Verfolgte des Nazi-Regimes. Der vollständige Elitenwechsel in der Gründungs-DDR hat erstmal einen sozialen Aufwärtssog erzeugt. Unglaublich viele Leute aus einfachen und einfachsten Schichten sind in Spitzenpositionen gelangt. Im Westen sah die Elitenrekrutierung natürlich anIch verstehe sie als eine stark nivellierte Gesellschaft ders aus, da gab es mehr Kontinuität. Dass die Erfahrung mit Klassen auf dem Papier, aber relativ geringen sozialen dieser ersten DDR-Generation eine des Zugewinns an Unterschiede in der Lebensweise oder in Form ausdifferen- Sozialstatus war, hat politische Bindungen und eine Zuzierter Klasseninteressen. Natürlich gab es da die Arbeiter stimmung zum System erzeugt. und Bauern und die Klasse der Intelligenz, aber was die Ab den 1970er Jahren galt in der DDR eine andere Art von DDR und die anderen sozialistischen Staaten vor allem Sozialvertrag, der nicht mehr über Aufstieg funktionierte, gemacht haben, ist die Entbürgerlichung der Gesellschaft sondern über Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs, voranzutreiben, indem sie die Besitzklassen abschafften mit Wohnraum, mit sozialer Sicherheit. Das hat die Leute und Eigentum zu etwas Lästigem machten – selbst der Be- an die DDR gebunden. Und als in den 1980er Jahren klar sitz eines Mehrfamilienhauses hat mehr Kosten verursacht wurde, dass dieser Vertrag ökonomisch nicht nachhaltig als Einkommen gebracht. Viele bürgerliche Gruppen ver- war, löste sich diese Bindung auf. Zugleich wurden die Forließen die DDR gen Westen. Alle anderen wurden in eine derungen nach Demokratie und Freiheit lauter. arbeitnehmerische Kultur und Position gebracht, sodass die Klassen nicht mehr in Konflikt zueinander standen und nur noch wenig Reibereien miteinander hatten, sondern
wie Tortenschichten übereinander lagen. Dann gab es die Ich beschreibe die DDR in meinem Buch ausführTendenz zur Herausbildung einer neuen Klasse der Intel- lich als repressive Gesellschaft, auch die Zudringlichkeiten ligenz, also einer Expertenklasse mit akademischer Aus- der Stasi, und dass die DDR letzten Endes die eigenen bildung, die die höheren Positionen besetzte. Diese Klasse Menschen einschließen musste. Das spielt eine große Rolhat man wieder herabzudrücken versucht, sowohl in ihren le. Trotzdem ist es so, dass die Leute in den 1970er und Bestrebungen der Differenzierung nach oben als auch in 1980er Jahren eine DDR-Identität aufgebaut hatten und Land der kleinen Leute
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sich keine kleine Gruppe mit dem Sozialismus arrangierte. Es war nicht so, dass die Leute jeden Tag aus ihrer Wohnung gingen und das Gefühl hatten, sie würden von der Stasi verfolgt. Das hat für die meisten Leute im Alltag keine herausragende Rolle gespielt. Das galt für die, die mit dem System in Konflikt gerieten. Aber das war eine gesellschaftliche Minderheit. Viele andere haben sich in dieser Art »kommoder Diktatur« eingerichtet. Das mag erschreckend sein, aber soziologisch ist das die korrekte Beschreibung.
Ja, ein starkes strategisches Moment war von Anfang an da, das ist bekannt. Trotzdem glaube ich, dass die Kohl-Regierung naiv war in dem Sinne, dass sie sich das Ganze einfacher vorgestellt hatte und glaubte, dass ihre Politik zu etwas wie einem friktionsarmen Hereinholen von Ostdeutschland in den Westen führen würde. Die Folgeprobleme, die wir heute beobachten, wurden nicht vorhergesehen. Man hat die institutionelle Struktur des Westens einfach in den Osten transferiert, und die Reserve-Eliten des Westens gleich dazu, während die alten ostdeutschen Eliten entlassen wurden. Das ist ein sehr enttäuschungsanfälliger Prozess, weil immer alles, was nicht klappt, sehr einfach den westdeutschen Eliten zur Last gelegt werden kann. Bei der Treuhand hingegen hat man die Verantwortung vom Politischen getrennt. Wenn die Treuhand nicht so eine große Unabhängigkeit gehabt hätte, sondern stärker politisch und parlamentarisch aufgestellt gewesen wäre, dann hätte es eine viel größere Übergangskrise gegeben. So hat sich viel Wut an der Treuhand entladen und ist letzten Endes ins Leere gelaufen, weil sich die Politik von all dem freimachen konnte. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass man viel stärker in die Köpfe der Menschen hätte investieren müssen, damit sie Eine eigenständige ostdeutsche Medienlandschaft sich dieses Projekt der Wiedervereinigung und der Transformation in ein neues Gesellschaftsmodell hätten zu eigen gab es schon nach wenigen Monaten nicht mehr, was auch Verständigungs- und Aufarbeitungsprozesse erschwert hat. machen können. Da fehlte ein Mobilisierungsschub. Außerdem müsste man mit Jürgen Habermas sagen, dass Die Ostdeutschen wurden in eine Artikulationsschwäche es der Anschluss der ostdeutschen Öffentlichkeit an die gebracht, konnten kaum noch etwas am Gang der Dinge bundesrepublikanische Öffentlichkeit samt der Medien verändern. Man darf nicht vergessen: In den 1990er Jahren verunmöglicht hat, dass sich die ostdeutsche Gesellschaft sind die Leute zu Zehntausenden auf die Straße gegangen, findet und sortiert, um überhaupt so etwas wie ein kollek- um gegen die Treuhand zu demonstrieren. Alle Umfragen, tives Interesse auszubilden. Die Öffentlichkeit, die Wirt- die wir aus den 1990er Jahren haben, sehen bei den Ostschaft, die gesamte politische Kultur ist mit einem Mal deutschen massive Kritik an der Vereinigung. 70, 80 Prozusammengebrochen, ohne dass man dafür in irgendeiner zent der Leute sagten damals, das es nicht richtig laufe. Zwei Drittel sagten sogar, dass sie durch den Westen koWeise Ersatz gefunden hat. lonialisiert wurden. Aber es gab für diesen Prozess keine Revisionsklausel. Man hat weder die Privatisierung noch die Eins-zu-eins-Über34
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tragung von Institutionen hinterfragt und in einem demokratischen Prozess miteinander ausdiskutiert, sondern einfach die einmal eingeschlagene Linie durchgezogen, ungeachtet der Schäden und des Widerspruchs. Das Motto lautete: Es gibt keine Alternative. Ihr habt einmal im Frühjahr 1990 mehrheitlich die Allianz für Deutschland gewählt, jetzt gibt es keine Möglichkeit der effektiven Mitsprache und Mitgestaltung dieses Prozesses mehr.
Inmitten der neuen Wohnblöcke von Rostock-Lütten Klein bleibt auch für jüngsten Bürger genug Platz. Fotografie: Jürgen Sindermann
Ich würde nicht sagen, dass die Wiedervereinigungsakteure die Revolution gestohlen haben. Es gab einen starken Willen, schnell zur Einigung zu kommen, nachdem diese Option auftauchte. Die Wiedervereinigung war eben auch eine Einladung in eine schon existierende Wohlstandsdemokratie, die man sonst selber mit Mühe über Dekaden hätte aufbauen müssen. Für viele Leute war das ein attraktives Modell, und die Bürgerrechtler und die linken Bewegungen sind dabei an den Rand gedrängt worden. Es gibt die These, dass die Bürgerrechtler schon in der DDR eine Sondergruppe waren und wenig Verbindung zur allgemeinen Bevölkerung hatten. Ich würde diese beiden Gruppen nicht so stark gegeneinander setzen. Aber zugleich ist klar, dass man mehrheitlich gar nicht mehr über mögliche Alternativen diskutieren wollte. Schon im Dezember lag die Wiedervereinigung mit dem Zehn-Punkte-Plan von Kohl auf dem Tisch. Dadurch waren die gesamten runden Tische und Dialogformen, die sich gerade erst zu etablieren begannen, gleich wieder obsolet. Die DDR ist fast schon in den Schoß der Bundesrepublik hinein kollabiert.
Ich glaube zu dem damaligen Zeitpunkt hatte die DDR kaum noch Überlebensmöglichkeiten. Sie hatte keine credibility bei ihren Bürgern mehr. Man nahm das sozialistische Erlösungsversprechen nicht mehr für bare Münze, man wollte aus der Enge des DDR-Staats ausbrechen. In dem Moment, als die Grenze aufmachte, war klar, dass die DDR nicht mehr überlebensfähig ist, sondern dass sie externe Stabilisatoren durch starke Grenzen und die Schutzmacht Sowjetunion benötigt.
Das war damals in der Diskussion, aber ich glaube es war eine unrealistische Option. Das Zeitfenster war sehr schmal. Es war nicht klar, wie lange Gorbatschow den Türspalt offen hält und überhaupt an der Macht bleibt. Die Land der kleinen Leute
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Sowjetunion war ja auch ein bröckelndes Imperium. Auch waren nicht alle West-Alliierten begeistert, dass es zur deutschen Wiedervereinigung kommen könnte. Und wenn man in dem Moment noch eine Verfassungsdiskussion geführt hätte – bei der vielleicht rauskäme, dass man nicht mehr Mitglied der NATO sein wolle –, ich glaube, da hätte man die Chance vergeben. Ich denke aber, man hätte nach der Wiedervereinigung in einen Verfassungsprozess hinein gehen können, allein schon um die Ostdeutschen stärker symbolisch zu integrieren.
Bei all meiner Skepsis gegenüber dieser Partei, die aus der Vergangenheit herrührt und die ich auch nicht ganz loswerden kann, hat sie natürlich ein Drittel der Ostdeutschen mitgenommen und in das politische System integriert. Ein Verbot der SED-PDS hätte die Leute parteipolitisch in eine Art Obdachlosigkeit hineingetrieben und wahrscheinlich eine außerparlamentarische Protestbewegung hervorgerufen, wie wir sie heute auf der anderen Seite des politischen Spektrums kennen. In diesem Sinne hatte die Weiterexistenz der PDS durchaus einen pazifizierenden Effekt.
Da wäre erstens die demografische Frage: Ostdeutschland ist eine entleerte, geschrumpfte und überalterte Gesellschaft, zudem stark maskulinisiert. Zweitens hat Ostdeutschland keine voll ausgeprägte demokratische Kultur. Dafür gibt es mehrere Gründe, die zum Teil aus der DDR stammen, aber auch im Vereinigungsprozess noch einmal verhärtet wurden. Der vorpolitische Raum der Zivilgesellschaft ist in Ostdeutschland unterentwickelt. Und drittens ist da sicherlich die nach wie vor schwache ökonomische Entwicklung. Dass sich nur ein kleinteiliger Familienkapitalismus entwickelt hat, keine großen Dax-Unternehmen im Osten beheimatet sind und es eine riesige Vermögenskluft gibt zwischen Ost und West, die sich offensichtlich auch nicht ohne weiteres schließt. Die reichsten Ostdeutschen sind heute Westdeutsche. Man könnte dann noch die Elitenschwäche Ostdeutschlands hinzunehmen, die sich in fast allen gesellschaftlichen Sektoren zeigt.
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Steffen Mau zu Besuch in seinem Heimatort Lütten Klein.
Die Frakturen sind in den Kernstrukturen angelegt, daher sind Reparaturmöglichkeiten nicht so einfach zur Hand. Davon, dass sich Ost und West einmal besser zuhören, verschwindet nicht die Vermögensungleichheit. Man braucht den Diskurs, er ist notwendig, aber nicht hinreichend. Es gibt neuerdings einige Veränderungen auf der kulturellen Ebene, ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein und eine größere Differenzierung innerhalb Ostdeutschlands entlang von Stadt und Land oder auch Boom-Regionen und zurückbleibenden Regionen. Damit bietet sich die Chance, Ostdeutschland anders zu codieren und ein neues Selbstverständnis auszubilden. Da sind jüngere Generationen gefragt, neue Identitätsbezüge auszuprägen, die anders sind als die nostalgische und rückwärtsgewandte OstIdentität der 1990er Jahre. Bei den wirtschaftlichen Fragen braucht es eine Ansiedlung von Unternehmen, eine Stärkung der ostdeutschen Universitäten und eine Reform der Vermögensbesteuerung, die aber auf allgemeine Fragen von Ungleichheit und regionalen Disparitäten ausgerichtet sind. Das wäre also nichts spezifisch Ostdeutsches.
Der Sozialismus wird im Osten ja besser bewertet als im Westen, obwohl es ihn im Osten gegeben hat. Bei der Frage, ob der Sozialismus auch gute Dinge beinhaltet, bejahen das im Osten fast doppelt so viele Leute. Ich kenne Ostdeutsche, die nach Schweden ausgewandert sind und sagen, da wäre es so, wie man sich die DDR vorgestellt hatte. Da geht es letzten Endes um soziale Errungenschaften, starke Infrastruktur, Daseinsvorsorge, auch Solidarität, und nicht so exzessive Ungleichheiten. Das sind Dinge, mit denen Ostdeutsche noch sehr viel anfangen können. Ob das Label des Sozialismus noch zum Verkaufsschlager führen könnte? Das ist eine andere Frage, die ich eher verneinen würde. Aber das, was sich dahinter verbirgt, wird in der Regel ganz gut bewertet. Sicher nicht mit der Eigentumsform und auch nicht mit dem Einparteiensystem, das in der DDR vorgeherrscht hat, aber durchaus mit der Verpflichtung, dass Eigentum zur Produktion öffentlicher Güter herangezogen werden sollte. Da, glaube ich, könnten viele Ostdeutsche mitgehen.
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Text: Alexander Brentler, Illustration: Marvin Traber
rgendwann um das Jahr 1168, so will es die Legende, ne bitter benötigten Solarjobs – 2018 war mit der Pleite erlitt ein Gespann beim Durchqueren einer Mulde von Solarworld endgültig Schluss. Der Traum der sächsiim Erzgebirge Radbruch, wobei ein silbrig glänzen- schen Solarindustrie war ausgeträumt. der Stein aus dem Flussbett geschleudert wurde. Die Kunde verbreitete sich in ganz Mitteleuropa – über die folgenden 800 Jahre entstand an dieser Stelle die Stadt Freiberg, und die Neuankömmlinge durchlöcherten den Boden zu Wer von Freiberg aus den Zug Richtung Berlin über Leipzig ihren Füßen auf der Suche nach Silber, Zinn, Blei und zu- nimmt, wird es irgendwann aufgeben müssen, die Windletzt, im Auftrag der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesell- kraftanlagen am Rande der Strecke mitzuzählen. Dazwischen reihen sich Freiflächen-Solaranlagen auf den sandischaft (SDAG) Wismut, für kurze Zeit auch nach Uran. gen Wiesen der Mark. Wer hingegen Richtung Cottbus Wer heute im Besucherzentrum des Lehr- und Forschungs- aufbricht, wird den riesigen Tagebau Welzow-Süd zu Gebergwerks »Reiche Zeche« eine Tour bucht, kann Stunden sicht bekommen, in dem sich die gigantischen Schaufelrad‑ damit verbringen, die schier endlosen Stollen zu erkunden, bagger auf der Suche nach Braunkohle durch die Lausitz die über Jahrhunderte in das Gestein getrieben wurden, nagen und weder vor Feldern, noch vor Wäldern oder Dörzuerst mit Hammer und Meißel, danach mit Schwarzpul- fern haltmachen. ver, schließlich mit Druckluft und Dynamit. Ende der 1960er Jahre schloss die DDR-Regierung die letzte Grube, Ob fossil oder erneuerbar, der Osten ist Deutschlands doch die Schornsteine der metallverarbeitenden Betriebe Energieregion Nummer eins. Zu DDR-Zeiten half der bilqualmten weiter, nur um kurz nach der Wiedervereini- lige Braunkohlestrom beim Wiederaufbau einer industrielgung allesamt zu erlöschen. len Infrastruktur – insbesondere in der energieintensiven Chemieindustrie – mit allen ihren schmutzigen NebenwirDie Stadt erlebte die ganz normale postindustrielle Mise- kungen. Doch in den frühen 1990er Jahren verschwanden re Ostdeutschlands – bis zum Anbruch des neuen Jahrtau- die Betriebe, die die fossile Energie einstmals massenhaft sends, als sich auf einem Gelände in der Nähe des Bahnhofs benötigten, und der Strom aus Jänschwalde oder Boxberg ein neuer Industriebetrieb ansiedelte: Solarworld, ein zwei floss zunehmend in den Westen. Billiges Land in der EbeJahre zuvor in Bonn gegründeter Vertrieb von Photovoltaik- ne bat seit der Jahrtausendwende ideale Bedingungen für Anlagen – einer damals exotischen Technologie, deren Wind und Solar. Besonders seit sie der Atomenergie abgeHauptanwendungsbereich noch kurz zuvor in der Raum- schworen hat, stillt die Bundesrepublik ihren Energiehunfahrt gelegen hatte –, baute in Freiberg eine eigene Produk- ger mit Vorliebe im Osten. tionsanlage für sogenannte Wafer, also Siliziumplatten, die aus einem Kristall geschnitten werden. Bereits 2016 produzierte Mecklenburg-Vorpommern 147,7 Prozent seines Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Etwa zehn Jahre lang liefen die Geschäfte gut, vor allem Energien, vor allem Windstrom. Ein großer Teil ging also dank der Energiewende und der von Rot-Grün geschaffe- als Export in den Westen. In Brandenburg waren es im nen Subventionsprogramme für Strom vom eigenen Dach. selben Jahr 73,2 Prozent, hinzu kam noch eine erhebliche Doch 2011 kürzte die schwarz-gelbe Bundesregierung ab- Menge an Braunkohlestrom. Nordrhein-Westfalen hinrupt die Einspeisetarife für Solarstrom, und die Inlands- gegen konnte seinen Strombedarf nur zu 12,3 Prozent aus nachfrage brach ein. Etwa zur gleichen Zeit strich die EU- erneuerbaren Quellen decken, Baden-Württemberg zu Kommission eine Reihe von Zöllen und machte es asia‑ 21,4 Prozent. tischen Solarmodulherstellern ungleich einfacher, nach Europa zu exportieren. Nach und nach verlor Freiberg sei- Der Stromexport half, zumindest eine rudimentäre industrielle Struktur zu erhalten. Ohne Braunkohle und Windstrom wäre der Osten sicher nicht besser dran. Doch profitiert haben davon in erster Linie einige wenige Landbesitzerinnen und Investoren. Die Menschen in der Region, wie die Mitarbeiter von Solarworld in Freiberg, müssen mit Strukturen leben, über die sie keinerlei Kontrolle haben, und die sich jederzeit zu ihren Ungunsten verändern können. 40
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Arbeiterinnen und Arbeitern, sondern bei Handwerkerinnen, Häuslebauern und landwirtschaftlichen GroßbetrieDer gigantische Umbau des deutschen Energiesystems, den ben lag. Über die Einspeisevergütungen sicherten sie sich wir aktuell erleben, begann mit dem Sieg der SPD bei der ihren profitablen Anteil am frisch privatisierten EnergieBundestagswahl 1998. Als Koalitionspartner holte man markt, finanziert durch einen regressiven Zuschlag auf der sich die mit 6,7 Prozent damals noch recht marginalen Stromrechnung anstelle einer progressiven EinkommensGrünen ins Boot, die stark in der Anti-Atomkraft-Bewe- besteuerung, sodass ärmere Haushalte, die einen größeren gung verankert waren. Ihre energiepolitischen Forderun- Teil ihres Einkommens für Energie aufwenden müssen, begen waren allerdings alles andere als mehrheitsfähig: 1998 sonders belastet wurden. wollten 72 Prozent der Bevölkerung die Atomenergie weiter nutzen. Bei der Entwicklung von Technologien und dem Aufbau neuer Energie-Infrastrukturen verließ man sich ganz auf Ein Zugeständnis an die Grünen war das 2000 in seiner privatwirtschaftliche Akteure. Die Erneuerbaren waren in Erstfassung verabschiedete Erneuerbare-Energien-Gesetz den Anfangsjahren noch viel zu teuer, die Technologien (EEG), das Einspeisevergütungen für privat und genicht ausgereift. Ihre Preise mussten falwerblich produzierten Solar- und Windstrom len, und zwar schnell. Ein solches festlegte. Für Atomkraftwerke wurden Restdeflationäres Umfeld bedarf eistrommengen vereinbart, die das Ausstiegsgentlich einer vorausschauend datum etwa auf das Jahr 2020 festsetzten. planenden Politik, um sich Zwar spielte der Klimaschutz durchaus nicht zu einem volatilen bereits eine Rolle – 1997 hatte sich die Boom-and-Bust-Markt zu Bundesrepublik mit der Unterzeichentwickeln. Genau das ist nung des Kyoto-Protokolls zu völkeraber geschehen. rechtlich bindenden Emissionsreduktionen verpflichtet –, in der öffentlichen Während der gewerkWahrnehmung kam der Abkehr von der schaftliche OrganisationsAtomenergie jedoch eine größere Bedeugrad in der traditionellen tung zu. Energiewirtschaft hoch ist, sind Arbeiterinnen und Arbeiter Die seither weltweit vielfach kopierte Grundarin der neuen Energiebranche einchitektur des EEG, die einen neuen Mittelstand der deutig schlechter gestellt. Laut einer Energieproduzenten schuf, schloss nahtlos an die zwei JahUmfrage der IG Metall aus dem Jahr 2013 verre zuvor begonnene Liberalisierung des Strommarkts an: dienten sie im Vergleich zu anderen Betrieben des verarSeither herrscht im Stromnetz ein – allerdings in vielen beitenden Gewerbes fast 900 Euro weniger im Monat, bei Hinsichten stark regulierter – Wettbewerb sowohl auf Pro- gleichzeitig häufig unbezahlter Mehrarbeit. Viele von ihduktions- als auch auf Vertriebsseite. nen waren mit dem Lohnniveau unzufrieden, nur die Hälfte bekam Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Trotz guter Noten Obwohl die Grünen schon damals ein heterogener Zusam- bei der Arbeitssicherheit konnte sich nur eine Minderheit menschluss waren, konnte man sie in den späten 1990ern vorstellen, den Job bis zur Rente durchzuziehen. Arbeit nicht als Marktradikale bezeichnen. Doch auch sie waren in der Wind- und Solarbranche bietet also keine sicheren vom damaligen Zeitgeist geprägt. Schröder sah sich selbst Zukunftsperspektiven und ist zudem wenig attraktiv. Da als Teil des von Bill Clinton und Tony Blair eingeschlage- braucht man sich nicht zu wundern, dass die ostdeutsche nen dritten Wegs: Jeglicher Restimpuls zu einer gestalten- Arbeiterklasse die Energiewende nicht als echte Chance den Politik war dem Staat auszutreiben, von massenhaften auf eine bessere Zukunft wahrnimmt. Privatisierungen erhoffte man sich neue wirtschaftliche Dynamik. Die ersten Jahre von Rot-Grün markierten den Höchstwasserstand des Neoliberalismus in Deutschland: Jeden Sonntagabend lieferte die ARD mit Sabine Christian- Man muss es dem globalisierten Kapitalismus lassen: Er sen Propaganda für den Markt. hat die Kosten für klimafreundliche Energiequellen deutlich senken können. Seit dem Jahr 2010 ist der Preis von Die Energiewende war eines der wenigen positiven, gestal- Solarstrom um 82 Prozent gefallen und liegt in den meistenden Projekte der Regierung Schröder. Doch ihre Archi- ten Regionen der Welt mittlerweile weit unter den Kosten tekten wussten genau, dass die Macht in Deutschland um für neue Gas- oder Kohlekraftwerke. Doch erstens bedeudie Jahrtausendwende schon längst nicht mehr bei den tet ein solch deflationäres Marktumfeld, dass gute ArbeitsEnergiekolonie Ost
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bedingungen fast zwangsläufig auf der Strecke blieben. Und zweitens hätte es diese Investitionen nie gegeben, wenn Regierungen wie die von Schröder oder später Obama nicht durch massive Subventionen und Garantien in Vorleistung gegangen wären.
Wind- und Solarparks gehören in die Hand der Allgemeinheit. Im Osten, der auch in Zukunft Deutschlands wichtigste Energieregion sein wird, könnten regionale Produktionsgesellschaften in der Trägerschaft von Landkreisen Billige Energie aus Wind und Sonne verdanken wir also oder kommunalen Zweckverbänden diese Rolle übernehdurchaus bewusster staatlicher Industriepolitik, nur wur- men. Einerseits könnte so die demokratische Partizipation de diese auf die arbeiterfeindlichste Art durchgeführt, die an der Planung von Anlagen erhöht und die Übernutzung nur möglich war. Doch auch Produzenten von neuen Ener- bestimmter Gebiete vermieden werden, andererseits liegietechnologien haben es nicht leicht: In einen dauerhaft ßen sich damit Jobsicherheit und Arbeitsbedingungen in deflationären Markt trauen sich nur die gewagtesten Ka- der Branche deutlich verbessern. pitalistinnen und Kapitalisten. Die zusätzlichen Einnahmen könnten den strukturschwaGanz anders sieht es beim Betrieb von Wind- und Solar- chen und alternden Regionen die nötigen Mittel für eine parks aus. Hier handelt es sich im Wesentlichen um bessere öffentliche Infrastruktur verschaffen. Die tatsächein Rentenmodell: Hat man die Produklichen Umweltbeeinträchtigungen durch den Betionsgüter einmal erworben, ist datrieb von Windparks und Solaranlagen sind nach nur vergleichsweise gerinminimal und nicht mit der Vergiftung von ger Arbeitsaufwand nötig, Spree und Elster durch den Braunkohleabbau zu vergleichen, die die Menum sie betriebsbereit zu halten. Bei einer Windturschen seit Jahrzehnten stillschweibine fallen etwa 75 Progend im Gegenzug für sichere, zent der Kosten beim gut bezahlte Jobs hinnehmen. Bau und nur ein Viertel Hinter vordergründigen Einwänden gegen die neuen Anlabeim Betrieb an. Beim gen verbirgt sich oft WiderSolarstrom ist das Verhältnis teilweise noch stand gegen die sehr reale extremer. Für Gewirtschaftliche Fremdbestimmung. Das Argument, dass werkschaften sind das Fensterscheiben und Hauskatzen schlechte Ausgangsbe- dingungen, da Streiks miteine sehr viel größere Bedrohung unter extrem lang anhalten für Vögel darstellen als Windparks, müssen, um die Produktion zu zieht in der Provinz besser, wenn beeinträchtigen. Für die EnergieWindkraft den Dorfladen, die Landarztproduzenten hingegen sind die Risipraxis und die wiedereröffnete Regionalbahnken gerade auf dem stark regulierten Enerlinie mitfinanziert. giemarkt oft minimal. Auch in der Innovationspolitik ist ein Umdenken nötig. Der Der Betrieb von Solarparks und Windkraftanlagen gleicht erneuerbare Strom muss in Zukunft nicht nur produziert, in dieser Hinsicht also eher dem Besitz von Immobilien als sondern auch gespeichert werden. Die benötigten Technoklassischem Unternehmertum. Deutschlands Superreiche, logien existieren zwar schon, marktreif sind die jedoch noch wie die Samwer-Brüder, Gründer von Rocket Internet (dem nicht. Die Ausnahme bilden Pumpspeicherkraftwerke, die Tech-Konzern hinter Zalando und Delivery Hero) haben es schon seit Jahrzehnten gibt. Sie sind jedoch eher dazu dies erkannt und stecken ihre Milliarden zunehmend nicht geeignet, kurzfristige Lastspitzen abzufangen, und sie lasnur in Wohnungen, sondern auch in Solar-und Windkraft- sen sich nicht überall errichten. werke. Mit zunehmender ökonomischer Attraktivität verdrängt das Großkapital die eher mittelständischen Struktu- Es muss also in weitere Speichermethoden wie Redox-Flowren in der neuen Energiewirtschaft, wie sie sich die Grünen Batterien und vor allem in die Wasserstoffelektrolyse inin den 1990er Jahren noch vorstellten. Genau deswegen ist vestiert werden. Hierbei handelt es sich um großtechnische die Energiewirtschaft, wie auch der Wohnungsmarkt, da- Anlagen – eine kleinteilige Struktur wie bei der Energieprofür prädestiniert, von der öffentlichen Hand übernommen duktion wird sich im Bereich der Speicherung eher nicht zu werden. Die Gesellschaft hat kein Interesse daran, die- etablieren. Dies verlangt nach einer stärker gestaltenden se Gelddruckmaschinen den Eliten zu überlassen. Industriepolitik, die vor allem auf staatseigene Unterneh42
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men setzt. Vorbild könnte der dänische Staatskonzern Ørsted sein, dem der vollständige Umbau vom Gasförderer zum weltweit größten Betreiber von Offshore-Windparks innerhalb nur weniger Jahre gelang. Eine bewusste staatliche Industriepolitik könnte in der Energieregion Ostdeutschland eine neue industrielle Struktur um die neuen Speichertechnologien aufbauen, die auch attraktive Exportprodukte anzubieten hätte. Hierbei müssen verschiedene technologische Pfade erprobt werden, was jedoch bedeutet, dass manche Jobs innerhalb weniger Jahre wieder obsolet werden können und Rückschläge mit eingepreist werden müssen. Im Rahmen einer umfassenden Transformation jedes technische Detail im Voraus festzulegen, ist eine Sache der Unmöglichkeit. Staatliche Beschäftigungsgesellschaften, die auch die Arbeiterinnen und Arbeiter der Kohleindustrie aufnehmen würden, könnten die persönlichen Risiken einer solchen dynamischen Industriepolitik minimieren, sodass beim möglichen Scheitern eines Projekts nicht auch die Menschen scheitern. Ihre Beschäftigten wären festangestellt und würden je nach Bedarf für den Aufbau und die Weiterentwicklung der Speicherinfrastruktur eingesetzt werden. Nur so wird der ökologisch gebotene rasche Wandel auf gesamtgesellschaftliche Akzeptanz stoßen.
Im Juli 2020 wurde bekannt, dass der schweizerische Maschinenhersteller Meyer Burger die ehemalige Fabrik von Solarworld erworben hat. Das Unternehmen, das bisher Produktionsanlagen für die Photovoltaik-Industrie anbietet, will nun auch selbst auf dem Solarmarkt mitmischen und dafür in Freiberg wieder Module fertigen, während in Bitterfeld-Wolfen eine Zellfertigung entstehen soll. Ein eher riskantes Manöver, so die weitverbreitete Meinung in der Branche. Es gibt also durchaus auch privatwirtschaftliche Initiativen für eine grüne Industrie im Osten. Genau wie bei Tesla in Grünheide oder dem Batteriewerk des chinesischen Herstellers CATL in Arnstadt bei Erfurt ist allerdings unsicher, ob sie allein der Region eine langfristige industrielle Perspektive bieten können. Auf jeden Fall sollten es die Gewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) zu einer besonderen Priorität machen, diese neuen Betriebe schnell gewerkschaftlich zu organisieren, damit die Hauptprofiteure der nächsten Phase des Wandels nicht wieder anderswo sitzen.
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Wenige Kilometer vor der Stadt erkennt man bereits den Kirchturm Werdaus. Die Einwohnerzahl sinkt seit 2000 trotz Eingemeindung der anliegenden Dörfer konstant. 44
ZURÜCK NACH ZWICKAU Text: Ines Schwerdtner Fotografie: Raphael Berg
Schon der Titel ist ein bisschen gelogen. Wenn ich »zurückfahre«, dann nicht nach Zwickau, sondern nach Werdau. Es ist ja üblich, dass man immer die nächstgrößere Stadt als Herkunft angibt, um nicht näher darauf eingehen zu müssen. In Zwickau steht das VW-Werk, gibt es Arbeit, bleibt ein Hauch Perspektive. »Werde« hingegen, das sagen alle, »liegt am Arsch der Erde«. Genauer liegt Werdau in der Arschritze des ansonsten ganz schönen Pleißentals. Die Pleiße fließt als ein kleines Bächlein mitten durch die Stadt und legitimiert mehrere neue, EUfinanzierte Brücken. Früher bekam ich bei der Anfahrt auf der B175 – pünktlich beim Hügel kurz vor der neuen Pleißentalklinik – Herpes an den Lippen. Das Kribbeln kündigte an, dass nun Ferien waren, die wir, wie immer, in Werdau bei der Familie verbringen würden. Wir kamen planmäßig immer nach dem Mittagsschlaf meiner Großeltern an. Meine Oma machte Kaffee, mein Vater fragte, wie jedes Mal, ob sie sich bei den Löffeln verzählt habe. »Man bekommt ja einen Herzkasper von der Brühe.« Für mich gab es eine Tasse warme Milch, auf der sich eine Haut bildete, die ich abZurück nach Zwickau
stoßend fand, über die ich aber nicht meckern wollte. In die Milch mischte ich, wie die Erwachsenen, noch ein paar Löffel Kaffeeweißer. Mit Ausnahme von Familienfeiern, bei denen auch Kaffeesahne gereicht wurde, blieben meine Großeltern stur bei diesem fragwürdigen Milchpulver. Ich liebte es. Dieses Mal gibt es kein Kribbeln am Herpeshügel, dabei hatte ich mich auf so ziemlich jede mögliche körperliche Reaktion eingestellt. Alles ist gut. Wir befinden uns in der Kleingartenanlage auf der Anhöhe. Der mit kleinen Steinchen gepflasterte Weg bis an den hintersten Garten ist unerwartet kurz, früher war er für mich ein ganz eigener Kosmos. Links vorne Onkel Bernds Garten, mediterran angehaucht mit Steinmauer, eingebauter Dusche und zwei riesigen Bananenpflanzen, die sich in den sächsischen Himmel ranken, als wären sie das normalste Gewächs in Werdau. Etwas weiter rechts Onkel Franks Garten, die helltürkise Holzlaube verwittert, links Tante Ilonas und Onkel Haralds Fleck, dunkelbraun und fast ohne Pflanzen. Bloß der Garten von Onkel Jens ist nicht mehr wiederzuerkennen. Der große Kirschbaum fehlt. Und Onkel Jens. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. 45
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Fenster Marke Eigenbau: Plattenbau im neuen skandinavischen Chic, in Kombination mit dem eigenwilligen Hochbeet. Aktuelles Kapitel
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»Der Riss durchzog eben nicht nur Regionen, er reichte bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein.« Dann von ganz hinten die Stimme von Onkel Andreas. Wie alle aus diesem Teil der Familie hat er ein lautes Organ. Er grüßt mich freundlich, aber wie eine Fremde. Dabei blickt er unsicher über die schnurgerade Hecke. »Ich bin’s, Ines«, sage ich, woraufhin er die Augen konzentriert zusammenkneift. »Ines … Ines … hilf mir mal«, bis er ein lautes »Schwerdtnor!« ausstößt. Sofort lädt er uns in den Garten ein und bietet Bier an, er hat auch Alkoholfreies. Wir winken freundlich ab und bekommen eine giftgrüne Apfellimo. Alles beim Alten, »nur die Frau ist neu«, lacht er. Er erklärt ihr: »Das is die Klenne vom Eberhard, der viel zu früh gestorben ist.« Der Kloß im Hals drängt in einem Schwall von Tränen nach oben. In der Familie kommt immer alles direkt auf den Tisch – oder wird für immer verschwiegen. Dazwischen gibt es nichts. Wir erzählen, dass wir eine Zeitschrift über den Osten machen. »Aha, freie Künstler also.« Da Künstlerinnen neben Politikern und Rechtsverdrehern für meine Familie die unterste Berufsgruppe darstellen, wechsel ich schnell das Thema und frage nach dem neuen Hochbeet. Stolz zeigt er seine neuen Bauten. Alle meine Onkel waren das, was ich als Kind pauschal unter »Handwerker« abspeicherte, menschliche Allzweckwaffen. Irgendwie konnten sie alles bauen und anlegen: die Laube meiner Großeltern, Zäune, Teiche, Häuser, Mauern, und nun auch Hochbeete aus Badewannen. »Auf zwee Betonpfählen liescht die Wanne, das hält ewisch.« Das Gewächshaus hat er auch selbst gebaut, aus transparenter Dachpappe. Hält mindestens zehn Jahre. 48
Die neuen großen Fenster an der Laube hat er sich mitgenommen, als bei der alten Plattenbausiedlung im Stadtteil Sorge vor ein paar Jahren alles abgerissen wurde. Solche Fenster wollte er schon zu DDR-Zeiten haben. Und im Baumarkt hätten sie 800 Euro gekostet. So erzählt er es und grinst diebisch. Genau so wie er grinste, wenn er beim Kartenspiel – wie meine Oma und vermutlich auch der ganze Rest der Familie – zu schummeln versuchte. Wie viele Abende wir am Tisch in einem der Gärten verbrachten und zockten. Die Familie zerbrach irgendwann nach der Wende. Genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren. Ich erinnere mich nur, dass in einem Streit ein roter Kühlschrank Thema war, dann Reisen nach Spanien, die einige machten und andere nicht, Trennungen, Geld, Umzüge und tausend Dinge, die wir als Kinder nicht verstanden. Erst heute kann ich das Zusammenbrechen meiner Familie auch als Folge des Strukturwandels begreifen. Der Riss durchzog eben nicht nur Regionen, er reichte bis tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein. Darüber sprachen die Erwachsenen allerdings nicht, zumindest nicht explizit. So blieben diese Zusammenhänge immer im Dunklen. Überhaupt sprachen die Erwachsenen eine seltsame Geheimsprache, was nicht nur am Sächsisch lag, sondern auch am derben Humor und den Codes gegen die Obrigkeit. Ich versuchte mir aus den unbekannten Abkürzungen und Begriffen einen kindlichen Reim zu machen. Warum wir etwa nach Tschechien zu den »Fidschimärkten« fuhren und dort Zigaretten in Stangen über die Grenze brachten, erschloss sich mir nicht, aber es war jedes Mal aufregend. Meine Oma hatte diesen Röntgenblick und konnte durch die Packung sehen, ob es sich um gestopfte Zigaretten handelte oder Original West. Sie feilschte mit diesen, in meinem Augen armen »Fidschis«, von deren Herkunft ich nicht den Hauch einer Ahnung hatte, um den letzten Pfennig. Dass sie sie nach dem abgeschlossenen Geschäft auch noch »beschissene Amis« nannte, verkomplizierte die Sache zusätzlich. Was suchten amerikanische Vietnamesinnen im Erzgebirge? Sie sammelten eimerweise Pilze und Blaubeeren, und wir kauften sie bilOst New Deal
Seit dem letzten Besuch der Gartenanlage in Werdau sind einige Jahre vergangen. Aktuelles Kapitel
Caesciet esequosandit et haritaquis voloreheni aut lant alignitate nos etObitiori assimus. Est, officiae sa dolori con eum ut lis as consequatae 49
lig, aber niemand erklärte diese Umstände. Als Onkel Jens plötzlich eine vietnamesische Frau samt drei Kindern hatte, sorgte das zwischenzeitlich nicht wirklich für Aufsehen, aber für abwechslungsreichere Küche und Wanddekoration. Stundenlang starrte ich auf die »Gemälde« aus Glas, türkis oder pink leuchtende Flüsse mit Glitzer. Die Inneneinrichtung blieb zum Teil, auch als die Frau, deren Namen sich niemand merkte, wieder verschwand. Wenn wir durch die alten Straßen fuhren, beschwerte sich mein Vater übers »Abtreibungspflaster«, lange bevor ich die Bedeutung auch nur erahnen konnte. Ich wusste, beim Honni war alles anders, aber wer genau dieser Mann war und was diese Stasi, die in mehreren gutlaufenden Witzen vorkam, damit zutun hatte, blieb mir ein Rätsel. In meinem Kopf war Honni eine Figur wie das Sandmännchen: Irgendwie wachte er über die Menschen, aber nicht auf die gute Art. Richtig gefährlich schien er mir aber auch nicht zu sein, hatte er doch so einen niedlichen Namen. Dass meine Mutter Spinnerin gewesen war, wusste ich halbwegs, hielt das aber eher für eine beleidigende Aussage über ihren Geisteszustand und weniger für einen echten Beruf. Wie sollte es auch ein seriöser Beruf gewesen sein, wenn es ihn gar nicht mehr gab. Mal wurde bei der IFA gebaut, mal eine Fabrik »weggeruppt«. Die IFA wirkte wie ein fernes Ziel am anderen Ende der Stadt, ein Mythos. Dass dort Anhänger im Kombinat für Fahrzeugbau produziert wurden und die Fabrik 1990 schloss, blieb hinter dem Akronym verborgen. Ich wurde Zeugin, wie eine Industriestadt zerbrach und fast alle ihre Jobs verloren, doch ich verstand davon gar nichts. Wir holen Onkel Achim, der vom anderen, ruhigeren Teil der Familie kommt, am Kranzberg ab. Hier stehen die Platten noch. Sie sind, wie alles, was angeblich saniert wurde, gelb oder grün angestrichen worden. Ein ästhetisches Verbrechen der Nachwendejahre. Als könnte man den Verfall einfach übertünchen. Es hat eine ganz eigene Tragik, dass
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»Dass meine Mutter Spinnerin gewesen war, wusste ich halbwegs, hielt das aber eher für eine beleidigende Aussage über ihren Geisteszustand und weniger für einen echten Beruf. Wie sollte es auch ein seriöser Beruf gewesen sein, wenn es ihn gar nicht mehr gab. die Plattenbauten dadurch noch hässlicher wurden als zuvor. Dabei standen die Platten auf dem Kranzberg sowieso nur durch Zufall dort. Sie waren eigentlich für Berlin bestimmt gewesen, aber der Transport war zu teuer. Zum Glück für meine Großeltern, die Onkel Achim bald auch nach oben auf den Kranzberg holte. »So große Kichen haste sonst net«, sagt er, immer noch stolz. So verbrachten wir die Ferien in der Platte am Kranzberg oder in der Laube im Garten. Dann ging es zurück in den Westen. Wir wurden in der Familie weiterhin geduldet, weil wir ja wegen der Arbeit weggezogen waren. Die Spinnerei war zu und auch mein Vater wurde als Heizer nicht mehr gebraucht, dabei hatte er gerade erst eine Umschulung vom Koch zum Facharbeiter gemacht. Nur durch Onkel Günni, den Tausendsassa, der frühzeitig rüber machte, bekam auch mein Vater einen neuen Job. Auch wenn wir Ost New Deal
Fragt man Onkel Achim nach der See, kommt man aus dem Gespräch nicht mehr heraus. Selbst beim Skatspielen spricht er noch von Luv und Lee.
In den 1980ern gebaut, galten die Plattenbauten am Kranzberg als Luxus. Zu Geburtstagen quetschte sich die halbe Familie in das Wohnzimmer meiner Großeltern.
dafür ironischerweise in ein ebenso hässliches graues westdeutsches Haus zogen, das der Platte nicht unähnlich war: Wir waren jetzt Wessis. Der Riss war da, nicht mehr zu kitten. Mit Onkel Achim fahren wir runter in die Stadt. Wir wollen uns die alten Spinnereien und Tuchfabriken ansehen. Die alte Tuchfabrik Otto Ullrich steht noch im Zentrum der Stadt, natürlich außer Betrieb. Das Relief zeigt die Werktätigen, Männer und Frauen an Webstühlen, beim Schneiden und Zusammenlegen von Stoffen. Sie ist eine der letzten Fabriken, die nicht schon abgerissen oder in ein Pflegeheim umgebaut wurde. »Schöne hohe Decken«, sage ich zu einer dieser neu-alten Pflegeeinrichtungen mit riesigen Fabrikfenstern im Zentrum der Stadt. »Ja, aber wer soll das alles heizen« entgegnet Onkel Achim gewohnt pragmatisch. Im Dreieck Werdau-Crimmitschau-Glauchau lag das Zentrum der Textilproduktion in der DDR, man exportierte vor allem in den Westen, erzählt Onkel Achim. Bis 1989 gab es 46 volkseigene Betriebe in der Textilindustrie, die sich nach der Wende als »nicht konkurrenzfähig« erwiesen. Der Zufall entschied, welche Stadt danach an der neugebauten Autobahn liegen und eine Chance haben würde, ihre Firmen zu behalten oder neue zu gründen. Crimmitschau hatte Glück, Werdau hingegen lag spätestens ab dann tatsächlich am Arsch der Erde. Unser Rundgang durch die Innenstadt ist für alle Beteiligten ein wenig enttäuschend. Viel ist abgerissen worden. Selbst die 1879 erbaute Brauerei aus roten Backsteinen steht nicht mehr, was selbst Onkel Achim überrascht. Sie nannten das Bier nach dem Braumeister »Kuschel-Bräu«. Zu DDR-Zeiten konnte man zu jeder Stunde ein Fass von ihm bekommen, selbst wenn es Sonntagabend war. Er warf dann die Schlüssel runter, bezahlen konnte man später. In den 1970er Jahren, als die Kombinatsbildung anstand, wurde das Werdauer Bier erst in den VEB Zwickau und dann 1984 in das VEB Getränkekombinat Karl-Marx-Stadt »eingemeindet«. Man wusste beim Sachsenbier also nie, ob man welches aus Chemnitz oder Werdau trank. Außer eben man holte es sich direkt bei Kuschel. Er erlebte nicht mehr, wie seine Brauerei nach der Wende ein zweites Mal nach der Kombinatsbildung Zurück nach Zwickau
»Der Zufall entschied, welche Stadt danach an der neugebauten Autobahn liegen und eine Chance haben würde, ihre Firmen zu behalten oder neue zu gründen. enteignet wurde – diesmal von den Wessis. Man wollte sie nicht weiterführen, die Treuhandanstalt wies Rückforderungsansprüche der Besitzerfamilie zurück. Vor unserem alten Wohnhaus in der ehemaligen Straße der Befreiung lässt uns die italienische Mieterin, die an diesem Tag allerlei Schund im Innenhof verkauft, wissen, dass das Haus eine »Katastroph« sei und wir besser keine Fotos machen sollten. Beim Einzug halfen damals alle Brüder, es war eine dieser Großaktionen: »Da waren mehr Orbeider in der Wohnung als wie de Wohnung hattest«, lächelt Achim. Die Anekdote über diesen Umzug hörte ich im Laufe meines Lebens etliche Male, ohne ihr wirklich Beachtung zu schenken. Ich merke erst jetzt, wie die Wehmut über eine verlorene Gemeinschaft auch mich ergreift. Als könnte allein die Nacherzählung dieses Moments kurz vor dem Zusammenbruch sowohl der DDR als auch unserer Familie etwas rückgängig machen. Unsere letzte Station dieser kleinen Reise war einst die Heimat der Männer in der Familie: der Segelverein an der Talsperre. Ihr über Generationen hinweg erhalten gebliebener Hang zum Maritimen ließ sich in der sächsischen Provinz nur so am Leben halten, dass man auf der kleinen aber beschaulichen Koberbachtalsperre segelte und sich danach im Clubhaus ein Bier gönnte. Onkel Achim fuhr als Soldat bei der Marine über die Ozeane und mein Vater als 53
Links: Die Sportschule Werdau wurde nach der Wende grundsaniert, samt Pool. Rechts: Die Altbauten hingegen zerfallen. 54
Aktuelles Kapitel
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Die Kinder der Familie verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit in der Sportschule. Etwas davon ist geblieben.
Schiffskoch auf großen Tankern. Der Gründungsmythos handelt aber von meinem Großvater und seinem im Zweiten Weltkrieg untergegangen U-Boot. Seitdem sind die Schwerdtners »auf See«. Die See war das wohl größte Stück Freiheit. Waren die Hintern seiner Neffen wund, brachte mein Vater Penaten-Creme aus dem Intershop mit (auf See verdiente man Westgeld) und als Onkel Achims damalige Frau sich mit ihrer Vorliebe fürs Russische einen Samowar wünschte, tauschte mein Vater in Schweden Schnaps gegen Kaugummi, den er wiederum bei den Russen gegen die heiß ersehnte Teemaschine eintauschte und am Hafen mit einer alten Zollerklärung in die DDR schmuggelte. Heute wirken zwar alle müde, in den Erzählungen über solche jugendliche Schlitzohrigkeit blitzt aber immer wieder etwas Lebendiges auf, etwas, das sich mit den grauen Bildern von der DDR nicht zusammenbringen lässt. Heute stinkt sogar das Wasser der Talsperre, weil es nicht mehr in Bewegung ist und langsam gammelt. Früher färbte sich die Pleiße mal Blau, mal Rot, je nachdem wie die Stoffe gefärbt wurden. Weder die DDR noch die BRD haben hier ein wirklich funktionales Ökosystem zustande gebracht. Aber die Sowjets, betont Onkel Achim immer wieder, hatten wenigstens Stahl, der ewig hält. Also richtige Schiffe. Nicht zu vergleichen mit den »Joghurtbechern« aus dem Westen. »Aber heude darf ja alles nisch mehr halten.« Auch das Clubhaus gehört einem neuen Besitzer, der mit dem Segelverein nichts mehr am Hut haben will. Man geht nicht mehr hin. Als wir raus aus der Ritze fahren und den Geruch der Talsperre hinter uns lassen, frage ich mich, wie diese Region einen weiteren Strukturwandel überstehen will. Wie anzuknüpfen wäre an die Geschichte, ohne sie zu verklären. Wie man Menschen das Gefühl geben kann, nicht am Arsch der Erde zu leben.
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Klassiker der Ostküche auf westdeutschen Tellern Text: Julian Koller Illustration: Miriam Häfele
ls ich vor Jahren der bayerischen Tristesse entsagte, kam ich nicht nur ziemlich geschichtsvergessen, sondern auch kulinarisch ahnungslos in Berlin an. Dem Haushalt einer alleinerziehenden Mutter mehrerer Kinder entwachsen, orientierte sich die mir bekannte Küchenpraxis an drei Prinzipien: Minimalismus, Bezahlbarkeit und Wiederholung. Ein Hang zur Sinnesfreude und die späte Bekanntschaft mit meinem aus Kampanien stammenden, pausenlos mediterrane Gerichte zubereitenden Erzeuger veranlassten mich jedoch, ehrgeizig gegen die alte Formel anzukochen. Trotz dieser Leidenschaft brauchte es eine Dekade und einige Nachhilfe in historischen Klassenfragen, bis schließlich mein Interesse an der Küche der ehemaligen DDR geweckt wurde. Dabei begegnete ich nicht nur einigen meiner Lieblingszutaten, sondern auch den genannten Prinzipien vollbeschäftigter Mütter auf ganz neue Weise.
Verkannte Köstlichkeiten: vom kleinen Fleisch-Snack bis zum Festessen bietet die Ostküche alles, was das Herz begehrt.
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Ost New Deal
Ragout Fin (Würzfleisch) Als überregionale Speerspitze der DDR-Küche kam das Ragout fin ganz oben auf meine Liste. Genau genommen bereitete ich Würzfleisch zu, für das anstelle des »feineren«, damals jedoch raren Kalbfleischs gegartes Schweinefleisch mit Pilzen in einer Mehlschwitze gratiniert wird. Bevor man dann die Käsehaube durchsticht, wird die heiße Delikatesse noch in Worcestersauce gebadet. Ein Hidden Champion im Osten, zeigt sich Letztere hier von ihrer vielleicht besten Seite. Fazit: Veritables Soulfood, das Flexitarier zur Sünde treibt! Soljanka Kulinarische Einflüsse kamen auch aus den Bruderstaaten in das sozialistische Ostdeutschland, um dort adaptiert zu werden. Darunter auch die süß-säuerliche Nummer eins unter den DDR-Suppen: Soljanka. Unausweichlich sind hier Gewürzgurken und Paprikaschoten, was aber dazwischen noch so rumschwimmt, variiert je nach Region und Wurstfach. So habe auch ich die Gelegenheit genutzt, um die Restbestände meiner Ostküchen-Eskapade zu verbraten – darunter Landwurst, etwas Speck mit Letscho und sogar Mett vom Igel. Und doch: Am Ende löffelte ich ein feines Süppchen, das nach allerlei neuen Variationen ruft. Jägerschnitzel Nicht zu verwechseln mit dem pilzigen Pendant aus der BRD, wagt das Jägerschnitzel Ost die Kombination aus panierter Jagdwurst, Spirelli und Tomatensauce. Die Tomaten kommen dabei gern aus Ketchupflaschen, diese wiederum traditionell aus Werder. So sehr dieses einfache Gericht für die DDR steht, lassen sich – wie so oft – Parallelen zur Heimat ziehen. So standen in den 1960er Jahren Nudeln mit Ketchup regelmäßig auch auf den Tischen bayerischer Arbeiterinnenfamilien. Allerdings: Der leicht beißende Geschmack frittierter Wurst übertrifft den raubeinigen Leberkäse auf der Intensitätsskala doch um einiges. Senfeier mit Kartoffeln Als Ende der 1960er Jahre die staatlich organisierte industrielle Hühnermast hochgezogen wurde, um Broiler (im Westen: Brathähnchen) für alle Bürgerinnen und Bürger der DDR zu garantieren, wurde damit zugleich auch der Konsum von Eiern angeregt. Dazu kam die verbreitete Vorliebe für große Mengen Bautz’ner-Senf, als Beilage das beste Knollengewächs des Landes, und es entstand, was nicht nur damals Familien im Osten, sondern unter anderem auch mich heute glücklich macht. Dazu: Einen Eierlikör, weil – warum nicht. Aktuelles Kapitel
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Was nach dem Set eines Star Trek-Verschnitts aussieht, ist in Wirklichkeit das Innere des größten Computerherstellers der DDR.
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Text: Caspar Shaller
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er im kalifornischen Silicon Valley beheimatete bezeichnen. Ursprünglich vom US-amerikanischen Mathetechnologische Fortschritt lässt die Herzen vieler matiker Norbert Wiener nach dem Zweiten Weltkrieg entTechnikbegeisterter höher schlagen. Auch Linke wickelt, stieß sie im Osten zunächst auf große Ablehnung. sind davon nicht ausgenommen: Wenn man sich nur die Der Vorwurf lautete, die Kybernetik sei bürgerlich und Automatisierung und Digitalisierung zu eigen machen apolitisch. könnte, stünde dem sozialistischen Paradies nichts mehr im Wege. Doch es ist nicht das erste Mal, dass Sozialistin- Dabei war dieser Forschungszweig gerade für das System nen und Sozialisten ihre Hoffnungen auf technologische der Planwirtschaft attraktiv. Die Planerinnen und Planer im Osten standen vor dem Innovation setzen. Das unter Salvador Allende Problem, ständig große in Chile begonnene Projekt Cybersyn und der Mengen von Daten erheben Ansatz eines sozialistischen 5.000 zusätzliche Internets in der Sowjetunion und verarbeiten zu müssen. Computer sind dafür Beispiele. Aber Wie viele Tonnen Brot des Modells A7100 auch die Computerindustrie braucht Thüringen im Janulaufen in Dresden der DDR hält Lektionen für ar? Welche Hosen sollen die vom Band, in Berlin bekommt der uns bereit, was wir von der Genossinnen und Genossen Technologie erwarten kön- PC1715 sogar einen in Berlin in vier Jahren eigenen Slot nen – und was nicht. kaufen können? Wie viele auf einer Parade. Schrauben benötigen die Fabriken in Leipzig nächsten Sommer? Zur Zeit des Mauerfalls verfügte die DDR über die am Über all diese Fragen entschied eine weitesten entwickelte MikHandvoll Mathematikerinnen und roelektronikindustrie unter Parteifunktionäre in einem Büro in den sozialistischen Ländern. Berlin. Der Volkseigene Betrieb Die Kybernetik versprach diese PlaKombinat Robotron ging nung zu dezentralisieren. Eine digital 1969 aus einer Reihe von vernetzte Wirtschaft, in der die Bedürf‑ Vorgängerfirmen hervor, nisse von Haushalten, Fabriken und darunter den Büromaschinenwerken VEB Optima in Geschäften in Echtzeit erhoben werErfurt und VEB »Ernst Thälmann« in Sömmerda. In den den könnten, hätte eine flexible und anpassungsfähige Pla1980ern arbeiteten fast 70.000 Menschen in den zwanzig nung ermöglicht. Durch die Technologie schien eine GeBetrieben des Kombinats. Dort produzierte man Schreib- sellschaft in Reichweite, die nicht zentral von oben gelenkt, maschinen, Drucker und Fernseher. Doch vor allen Dingen sondern von unten – von den Menschen – geplant würde. war Robotron für seine Computer bekannt: Die schrank- Der Spiegel berichtete, dass eine Gruppe junger Ingenieugroßen R300 standen in manch einem Volkseigenen Betrieb rinnen und Ingenieure in der DDR ihren Rechner »die und auch kleinere Personal Computer wie der A5120 oder Funktionärsguillotine« nannte. der EC1835 fanden sich in vielen Büros und Privathaushalten. Computer sollten ein Teil des Alltags in der DDR Der wichtigste Denker der DDR auf dem Gebiet der Kywerden. Damals übertrug das Radio Programmierunter- bernetik war der Philosoph Georg Klaus. In den 1960ern richt und sogar Computerprogramme, die man auf Kasset- verwendete Klaus die auf den ersten Blick politisch neutte aufnehmen und dann auf seinen Rechner spielen konnte. rale Sprache der Kybernetik, um grundlegende Fragen des Lebens im Staatssozialismus zu diskutieren: das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaftsplanung und sogar, ob die Partei wirklich von sich behaupten konnte, ein höheres BeDoch wozu brauchte die kleine DDR eine eigene Compu- wusstsein zu verkörpern. Könnte es nicht sein, dass die Partei terindustrie? 1967 berichtete das westdeutsche Magazin dem Computernetzwerk in Sachen InformationsverarbeiDer Spiegel von einer seltsamen neuen Sprache, die in die tung unterlegen war? Reden von Walter Ulbricht eingezogen war: der Sprache der Kybernetik. Es war auch die Sprache einer neuen Ge- Klaus stellte zwar kritische Fragen, verstand die Kyberneneration von Ingenieurinnen und Theoretikern. Die Ky- tik aber nichtsdestotrotz als eine gut kommunistische Wisbernetik beschäftigt sich mit Informationsfluss und Selbst- senschaft. Er behauptete sogar, Karl Marx sei der erste Kyregulierung von Systemen; sie ist die mathematische und bernetiker gewesen. Der Technikbegeisterte Ulbricht war theoretische Grundlage dessen, was wir heute als Internet damit gewonnen. So wie Lenin die Elektrifizierung zum 62
Ost New Deal
Doch nicht nur der Handel mit dem Westen war ein Problem. Auch der Austausch mit anderen sozialistischen Ländern stellte sich als ökonomisch unbefriedigend heraus. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – so etwas wie eine sozialistische OECD – wies jedem Land eine wirtschaftliche Rolle zu: Ungarn stellte Pegasus-Busse her, die Tschechoslowakei war für Trams und Schuhe verantwortlich, und die Sowjetunion versorgte alle mit billigem Öl und Gas (das findige Staaten teurer in den Westen weiterverkauften). Der DDR war in diesem System die Rolle Die Kybernetik fiel jedoch schnell wieder in Ungnade. Als der High-Tech-Produzentin zugewiesen. Das bedeutete Erich Honecker 1971 Generalsekretär wurde, verkündete jedoch, dass sie höchst forschungs- und arbeitsintensive er: »Es ist erwiesen, dass Kybernetik und Systemforschung Produkte exportierte, um dafür vor allem Rohstoffe und Pseudowissenschaften sind.« Doch das änderte nichts am schwerindustrielle Produkte zu erhalten. Auf Dauer rechneInteresse der Partei an anderen Feldern der Hochtechno- te sich das volkswirtschaftlich nicht – die Computer- und logie. Als die Wirtschaft in den 1970er Jahren schwächelte, Halbleiterindustrie der DDR schwoll auf eine Größe an, die verstärkte sich sogar der Druck auf Informationstechno- für das kleine Land nicht zu stemmen war. logien und Automatisierung. Das Kombinat Robotron sollNicht nur verschlang der Computersektor Unmengen an te der DDR helfen, die Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Ressourcen – es gelang ihm dabei nicht einmal, den interDas Problem war nur, dass weder der kurze Höhenflug nen Bedarf zu decken. 1989 stellte die DDR lediglich ein der Kybernetik, noch die Verklärung der Automatisierung Fünftel so viele Computer her wie Österreich –nicht gerader Logik des wirtschaftlichen Bedarfs folgte. Die Partei- de ein großer Player auf dem Weltmarkt. Der Traum von elite hatte die Computerindustrie dazu auserkoren, die Ulbricht und Klaus, durch Automatisierung und schnelle Datenübertragung die Planwirtschaft Planwirtschaft zu rationalieffizienter zu gestalten, war zum sieren, war aber nicht bereit, Scheitern verurteilt. Die Produkte ihre Institutionen entsprevon Robotron waren nicht nur spärchend zu verändern und ihr lich verfügbar, sie waren oft bereits hierarchisches System zu beim Launch veraltet. Ein ostdeutdezentralisieren. Informascher Witz aus der Zeit spricht Bände: tionstechnologien sollten »Robotron erreicht Weltmarktfühsozialen Wandel und polirung: Das Werk in Karl-Marx-Stadt tische Reformen ersetzen. produziert den ersten begehbaren Honecker sagte 1987 einem Mikrochip der Welt.« westlichen Reporter, die IT versetze die DDR in die LaDie Zukunft Die Ressourcen und die Arbeitsge, ihren vertrauten Kurs in des Sozialismus ist Detailarbeit. kraft, die für den Aufbau einer der Wirtschaftspolitik weiautarken Computerindustrie terzuführen, trotz aller inaufgebracht wurden, fehlten ternationaler Probleme. dann an anderen Stellen, etwa bei der Modernisierung der FaUnd es gab einige solcher Probleme, an denen briken des Landes. Die Histodie kommunistische Computerindustrie rikerin Dolores L. Augustine krankte. Das erste und größte war das CoComkommt gar zu dem Schluss, das Embargo, ein 1950 von den USA verhängtes überdimensionierte MikroelekAusfuhrverbot für High-Tech-Produkte in den tronik-Programm habe maßgebsozialistischen Osten. Damit war die DDR von der technologischen Forschung im Westen abge- lich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR beischnitten – es sei denn man kaufte die Computer und getragen. Denn technologischer Fortschritt ist kein Ersatz Mikrochips illegal auf dem Weltmarkt. So entstand ein für politische Neuerungen. reger Schmuggel von Bauteilen und Zubehör über Länder wie Finnland in den Ostblock. Die erwähnten R300 und EC1835 sind streng genommen Kopien von IBMComputern.
nächsten Ziel des Kommunismus erklärt hatte, sollte nun die Elektronik den Sozialismus auf eine neue Stufe heben. Denn um die Versprechen der Kybernetik einzulösen, braucht es einiges an Gerät: Nicht nur die Computer an sich, sondern auch allerlei Mikroelektronik, Halbleiter und Kabel. Das Zentralkomitee beschloss, die DDR zu einer Vorreiterin auf dem Gebiet der Elektronik zu machen.
Das Silicon Valley der DDR
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Interview: Max Trecker, Fotografie: Paul Lovis Wagner
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Ich hatte von Moskau aus Gelegenheit, in alle sozialistischen Länder zu fahren und dort viele Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen. Auch konnte ich von dort aus – das Internationale Institut war bei der UNO akkreditiert – nach New York, nach Washington, nach Genf reisen, was ich von zu Hause aus wahrscheinlich nicht gekonnt hätte. Ich möchte die Erfahrung nicht missen, als ich das erste Mal nach New York kam. Ich steige aus dem Taxi vor meinem Hotel und das erste, was ich sehe, ist ein Bettler mit
Es gab eine organisierte Arbeitsteilung zwischen den sozialistischen Staaten, die ich allerdings für kaum tragfähig hielt. Der RGW setzte sich zusammen aus bereits weit entwickelten Ländern, wie der DDR und der Tschechoslowakei, dann welchen, die sich auf mittlerem Niveau befanden, wie Polen und Ungarn, und aber auch Ländern wie Rumänien und Bulgarien und später noch der Mongolei, Vietnam und Kuba. Diese Länder passten vom ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Potenzial überhaupt nicht zusammen – vom Lebensstandard nicht, von den Mentalitäten zum Teil auch nicht. Es war ein politisch, nicht öko-
einem riesigen Schild: »Please, help me, I am hungry!« In nomisch begründeter Block. Aber der Gedanke war, dass Moskau war das auch nicht üppig mit der Esserei, aber alle Gelegenheit bekommen sollten, nicht nur RohstofflieMenschen auf der Straße, die um ein Stück Brot bettelten, feranten zu sein, sondern auch Fertigerzeugnisse mit zu habe ich keine gesehen. Das war die Zeit, als New York völ- produzieren. So wurde die Idee der Baugruppenkooperalig pleite war. Die Müllberge ragten fast bis an den ersten tion geboren. Stock der Gebäude. Aber der Fahrstuhl im Empire State Beim Mähdrescher zum Beispiel: Da haben die einen das Building, der rauschte in Sekunden bis nach oben. Da habe Chassis gebaut, die anderen den Motor, die dritten die Räich verstanden: Sozial ist das hier ganz schön trist, aber tech- der und wieder andere die Sensen. Gut gedacht! Am Ende nisch sind die uns um Welten voraus. passte das alles aber nicht richtig zusammen. Keiner wollSolche Erfahrungen hätte ich vielen Menschen gewünscht. te einen Mähdrescher »made in Comecon« kaufen, alle Denn so lernt man zu schätzen, was man zu Hause hat, aber wollten Mähdrescher »made in GDR«. Ich finde, die EU sieht zugleich, wo man nicht nur nachholen, sondern besser macht heute etwas Ähnliches. Ihre Ausweitung ist politisch werden muss als die anderen. Das war dann auch mein An- begründet. Diese Länder, die vom ökonomischen Potenspruch, als ich wieder nach Hause an die Hochschule kam. zial, von der Mentalität, von der Geschichte und vom Lebensstandard her überhaupt nicht zusammenpassen, nur über Geld zusammenzubinden, das birgt Schwierigkeiten.
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Ost New Deal
Handlungen: Wo die Eigentümer dieser früheren Betriebe noch lebten, oder ihre Erben, da sollten sie diese zurückDu kannst mir glauben, ich habe nicht zu Hause ge- bekommen. Das fiel auf großen Zuspruch. Außerdem habe sessen und gewartet, dass mich hoffentlich jemand anruft. ich mich für die Gewerbefreiheit eingesetzt: Wer es sich Hans Modrow wurde von der Volkskammer beauftragt, zutraut und auch bereit ist, das unternehmerische Risiko eine neue Regierung zu bilden. Ich hatte ihm im Namen zu tragen, sollte sich selbstständig machen dürfen. der Hochschule dazu gratuliert und ihm gesagt, dass wir bereitstehen, wenn er Hilfe braucht. Anderthalb Tage später kriege ich einen Anruf von der Kader-Abteilung des Ministerrates. Ich wurde gebeten, mich mit Hans Modrow zu treffen. Der ging davon aus, dass die nächsten Wahlen in der DDR im Mai 1990 stattfinden und Was wir nicht wollten, war eine Privatisierung von die politische Konstellation danach eine andere sein würde Kombinaten in Schlüsselbereichen wie Schwerindustrie, als die, in die ich eintreten sollte. Aber dass das Wahlergeb- Energiewirtschaft, Wasserwirtschaft und Elektroindustrie. nis nachher so unerhört für die Allianz für Deutschland aus- Dort wollten wir Bereiche herauslösen, die nicht zum Kernfallen würde – die erreichten fast 50 Prozent damals – das geschäft gehörten. Damals brauchte jedes Kombinat eine hatten wir nicht erwartet. Also wir wussten, dass wir nicht Bauabteilung, eine Transportabteilung und so weiter. Denn jahrelang Zeit haben würden, aber dass es nur drei Mona- wenn es vorhatte, etwas zu bauen, dann konnte es nicht an te gehen würde, das ahnten wir nicht. den Markt gehen und Kapazitäten kaufen. Stattdessen musste man alles unter einem Dach haben. Das war unproduktiv und das wollten wir verändern. Vor allen Dingen wollten wir die Betriebe modernisieren. Ich denke, wir konnten allein durch die Art und Wei- Aber wir wollten sie nicht privatisieren und schon gar nicht se liefern, wie wir uns präsentiert haben, und mit den Men- auf Hauruck. Auch Bereiche der öffentlichen Daseinsvorschen in den Dörfern, in den Städten, in den Kommunen sorge wie das Gesundheits- und das Bildungswesen sollten umgegangen sind. Das war schon ein Plus für uns, dass wir nicht dem Profitprinzip unterworfen werden. Dann kam überhaupt zugehört und versucht haben, die ersten Schrau- am 6. Februar 1990 die Meldung, dass Bundeskanzler Kohl der DDR-Bevölkerung anbietet, alsbald die D-Mark zu ben zu stellen. Ich war schockiert gewesen, als Günter Mittag, der Chef übernehmen und damit im Ausland nicht mehr als Deutdes Wirtschaftsressorts im ZK der SED, im Jahr 1972 die sche zweiter Klasse angesehen zu werden. Die DDR-
noch privaten und halbstaatlichen kleinen und mittleren Bevölkerung war mehrheitlich – mehrheitlich beginnt ja Betriebe enteignete und in die Kombinate einschloss. Das schon ab 51 Prozent – begeistert. Sie unterlag nämlich dem hat so viel Produktivität, so viel Elan, so viel Innovations- Irrtum, dass wir alles, was uns am DDR-Alltag recht und geist eingeschränkt oder sogar abgetötet. Das war schon lieb war, behalten, und die harte D-Mark noch dazu krieein Sargnagel damals für die DDR-Wirtschaft. gen würden. Dann wären wir die Kings. Das rückgängig zu machen war dann eine meiner ersten Aber das war ein Riesenirrtum, denn wie aus der GeschichDie Ministerin
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te bekannt ist: Wer das Geld gibt, hat das Sagen. Und daran ließ der Westen keinen Zweifel.
Finanzminister Waigel sagte im Bundestag ganz offen: Liebe Landsleute im Osten! Wir geben euch das Beste, was wir haben – die harte D-Mark und die soziale Marktwirtschaft. Aber ihr müsst einsehen, dass das was kostet. Wir müssen dafür Kredite aufnehmen und dazu brauchen wir Pfänder. Und ein solches Pfand ist das Volkseigentum – das muss privatisiert werden. Die Privatisierung des Volkseigentums war der Preis für die Währungsunion. Ohne das hätten die im Westen das nicht gemacht. Kohl machte dieses Angebot ja nicht aus Liebe zu seinen »Brüdern und Schwestern« im Osten. Dem Kohl stand das Wasser bis zum Hals. Auch nach geöffneter Grenze gingen ja weiter jeden Tag Hunderte Menschen in die alten Bundesländer. Und das stieß bei der Westbevölkerung nicht gerade auf Zustimmung. Das konnte Kohl nicht verkraften. Er wusste, wenn das so bleibt, war seine Wiederwahl gefährdet. Mit diesem Währungsangebot an die Ostbevölkerung hat Kohl also erstens seine Westler befriedet. Die konnten aufatmen, denn er gab ihnen zu verstehen: Wenn die im Osten die D-Mark haben, dann bleiben die zu Hause und ihr seid eure Sorgen los. Und den Ostlern versprach er blühende Landschaften.
Es hätte andere Möglichkeiten der Entstaatlichung gegeben als die Hauruck-Privatisierung. Das sage nicht nur Christa Luft in ihrem Wohnzimmer in Ostberlin. ich, sondern auch viele prominente westdeutsche Ökonomen. Dass nicht alles verstaatlicht bleiben musste, das war kurs kaputt gemacht worden. Daraufhin nahmen Westauch unsere Überzeugung. unternehmen diese Märkte ein. Wie in Thüringen hätten Wenn in einer Kleingartenanlage die Äpfel alle in einer Wo- in jeder Region Unternehmen ausfindig gemacht werden che reif werden und verkauft werden müssen, was gibt es müssen, die weltweit gefragte Produkte herstellen, beschäfda für Möglichkeiten? Am Ende werden fast alle verschenkt, tigungsintensiv sind und für Ausbildungsplätze sorgen. In weil sich nicht genug Käufer finden. Bei einem Zusammen- jeder Region hätte man wenigstens einen solchen Leuchtprall von großem Angebot und mangelnder Nachfrage sin- turm erhalten können, indem man das Unternehmen zuken die Preise. So war das auch mit den Ost-Betrieben. Das mindest befristet zu Landeseigentum macht. Es wäre möghätte sich verhindern lassen. lich gewesen, die Industrie in der DDR, die auf die Lieferung Beim Volkseigenen Betrieb (VEB) Carl Zeiss Jena ist das von Öl- und Gasausrüstungen an die Sowjetunion speziazum Beispiel anders gelaufen. Das aus ihm hervorgegan- lisiert war, zu erhalten. Diese Werke waren zum Beispiel gene Unternehmen Jenoptik blieb das erste Jahrzehnt nach in Sachsen und Sachsen-Anhalt konzentriert. Da gab es der Wende in thüringischem Landeseigentum. Der Betrieb immer noch Kapazitäten, da gab es Spezialisten, die unter hat auch Federn lassen müssen, aber insgesamt hat er den Bedingungen ewigen Eises und ewigen Frostes die Technik Transformationsprozess viel besser als andere überstanden, montiert und gewartet haben. Aber Vorschläge, Ausrüstunweil sich die Landesregierung in der Verantwortung sah, gen zu liefern gegen Öl- und Gasbezug, also befristete für den Erhalt und die Neugewinnung von Märkten zu sor- Tauschgeschäfte zu machen, hatten keine Chance. Man gen. Die Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel sah sich für hätte auch die Mitarbeiterkapitalbeteiligung forcieren und solche Dinge nicht verantwortlich. Sie meinte, die Märkte in bestimmten Bereichen genossenschaftliches Eigentum seien zusammengebrochen. Aber die waren nicht zusam- ausweiten können. Es gab viele Möglichkeiten, aber alle mengebrochen, sondern durch den gewählten Währungs- wurden abgelehnt. Man sah die Chance, mit einem Feder68
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machen, noch und nöcher. Irgendwann wird der wieder durchlöchert und bei Neubauten hilft er sowieso nicht. Ich sage: Grund und Boden darf kein Spekulationsobjekt sein!
Ich lehne das Wort Kolonialisierung in diesem Zusammenhang ab. Nicht weil es nicht Merkmale gibt, die einer Kolonialisierung entsprechen, wie den Austausch von Eliten, die Aufhebung von Gesetzen und so weiter. Sondern weil die Menschen in der DDR eine Wahl hatten. Sie konnten wählen und haben sich so entschieden. Die Kolonien in Afrika und Asien hatten keine Wahl, das ist der Unterschied. Aber dass man sich im Westen für Götter hielt und den Osten für eine Art Hölle, das war ähnlich. Und wenn wir das nicht überwinden, dann wird es mit der deutschen Einheit überhaupt nichts.
Was heißt Chancen? Was gemacht werden müsste, ist natürlich alles teuer. Da wäre zum Beispiel das System der Besteuerung, das ist seit der Deutschen Einheit unverändert geblieben. Nach wie vor müssen Konzernfilialen, die sich hier im Osten befinden, ihre Gewinne in den Mutterländern der Konzerne versteuern. Das heißt, wenn hier Gewinn erwirtschaftet wird, aber das Mutterunternehmen sitzt in Nordrhein-Westfalen, dann geht das Steueraufkommen dorthin und wird dann mit einer großzügigen Geste als Transfer hierher zurückgegeben. So etwas gehört geändert! Wenn wir uns den ländlichen Raum ansehen: Im strich im Osten das zu machen, was im Westen Praxis war. Grunde bleiben dort nur die Alten. Die Jungen sind weggegangen, der Arbeit wegen. Dann wird noch die letzte Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten. Buslinie eingestellt. Die Zuglinien wurden ausgedünnt. Die Arztpraxen sind weg, die Geschäfte sind weg. Da braucht Es gab viel volkseigenen Grund und Boden in der man sich doch nicht wundern, wenn keiner mehr dort bleiDDR. Wenigstens den hätte man nicht privatisieren sollen. ben will, und dass das ein Eldorado wird für diejenigen, die Denn wie schon John Stuart Mill gesagt hat: »No man made die Ländereien rundherum schon besitzen und jetzt noch the land«, keiner hat das Land gemacht. Obwohl das den Rest billig aufkaufen wollen. Zumeist sind das agrarGrundgesetz den Titel »Gemeineigentum« kennt und ferne »Investoren« wie Versicherungen, Kaufhausketten, schützt, fanden hier bevorzugt Privatisierungen statt. In Stiftungen und so weiter. Die schaffen keine Arbeitsplätze der Zeit nach der Wende war Grund und Boden das grüne vor Ort. Sie kommen im Frühjahr mit eigenen Maschinen Gold – und das ist es ja bis heute. Es durfte nichts übernom- auf Tiefladern und ebenso im Herbst zur Ernte. Sie braumen werden vom Leben in der DDR. chen für den Traktor einen Fahrer und vielleicht noch eiIn der Folge wird aus Ackerland Bauland gemacht – mit nen, der ein bisschen aufpasst, dass alles funktioniert. riesigem Gewinn für die Besitzer. Und wenn gebaut wird, Das demografische Problem ist also auch eines der Deutgeht der explodierende Preis von Bauland in die Miete ein. schen Einheit. Das Steuersystem verändern, mehr im OsEs gibt Untersuchungen, wonach 80 Prozent der Mietstei- ten sozialisierte Menschen in Führungspositionen berufen, gerungen der letzten zehn Jahre auf Bauland-Preiserhöhung Unternehmenszentralen im Osten ansiedeln und die ländzurückgehen. Das ist inzwischen eines meiner Lieblingsthe- lichen Räume pflegen, sodass sie attraktiv werden für Menmen. Ich bin auch ein bisschen auf die Linken sauer, dass schen, die nicht so mobil sind, aber dennoch ihre Heimat sie das nicht stärker aufgreifen. Man kann Mietpreisdeckel lieben. Das wären zum Beispiel Chancen. Die Ministerin
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Callis Treuhand Text: Benjamin Knödler
Von der ostdeutschen Fußballgeschichte nach der Wende bleibt das Bild des gewitzten Wessis. Dabei wurde der Fußball wie alle anderen Bereiche schlicht einverleibt. ie späten Neunziger waren eine Zeit, in der das Geld merklich Einzug hielt in das Fußballgeschäft. Die Bundesliga wurde zunehmend zum Event, bei der Sportsendung ran auf dem Privatsender Sat.1 sprang der Moderator Reinhold Beckmann in roter Jeansjacke herum. Reiner Calmund passte da hervorragend rein – schwer und vergnügt gab er Interviews, klopfte Sprüche als rheinische Frohnatur, wurde inszeniert als Macher, auf dessen Homepage noch heute zu lesen ist, er habe Leverkusen, »die einst ›Graue Maus‹ zu einem internationalen Top-Klub« geformt. Das Image des cleveren Managers hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Nicht, dass es ein wirklich bewusster Vorgang gewesen wäre, er weiß davon nichts. Aber Reiner Calmund – oder Calli, wie der langjährige Manager des Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen auch genannt wird – ist eine dieser Figuren des deutschen Profifußballs, die irgendwie immer und überall präsent waren. Das hat auch mit seiner Rolle in den Wendejahren zu tun. Denn Calmund wird gern als derjenige dargestellt, der als Manager von Bayer 04 Leverkusen – dem Club mit dem großen Pharmakonzern im Rücken – als erster die Chance erkannte, die der Mauerfall für westdeutsche Profiklubs darstellte. Am 14. November 1989, wenige Tage nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze, schickte er Leverkusens Jugendbetreuer Wolfgang Karnath zu einem Länderspiel zwischen der DDR und Österreich. Für die DDR ging es damals um die Qualifikation für die WM 1990, für die Talentscouts westdeutscher Klubs um die Top-Spieler aus dem Osten. Die DDR-Nationalmannschaft verlor das Spiel und qualifizierte sich nicht für die WM, doch für Calmund war das Feld bereitet – getreu dem Motto, das er oft bemühte, wenn 70
er auf diese Zeit angesprochen wurde: »Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.« Schon bald darauf wechselte Andreas Thom, 1988 Fußballer des Jahres in der DDR, für über drei Millionen Mark vom Berliner Verein BFC Dynamo zu Bayer 04 Leverkusen. Etwas später folgte ihm Ulf Kirsten. Und eigentlich hätte auch Matthias Sammer – der, wie auch Kirsten, zuvor bei Dynamo Dresden unter Vertrag war – zu Leverkusen wechseln sollen. Dass er stattdessen zum Vf B Stuttgart ging, hatte mit einer Intervention von Helmut Kohl zu tun. Dresdner Funktionäre hatten sich über den Ausverkauf ihrer Spieler beklagt: Dass ein einziger Klub – noch dazu finanziert von einem westdeutschen Großkonzern – die besten Spieler der DDR an sich riss, war nicht das beste Signal. »Vielleicht waren wir ein bisschen forsch«, gab Calli später in einem Interview zu. Zugleich betonte er aber, immer fair verhandelt zu haben – eine Selbsteinschätzung, der auch ehemalige DDR-Funktionäre nicht wirklich widersprechen. In den folgenden Jahren wurde Ulf Kirsten das Gesicht von Bayer Leverkusen und Torjäger des Jahrzehnts. Matthias Sammer wurde mit Stuttgart Meister, später eine prägende Gestalt bei Borussia Dortmund. Beide wurden deutsche Nationalspieler, Sammer 1996 sogar Europameister. So wurden die Profispieler des Ostens, während längst noch nicht alle Wunden verheilt waren, ohne viel Federlesen der Westerzählung einverleibt. Das mag auch damit zu tun haben, dass es der Ostfußball nach der Wiedervereinigung schwer hatte. Die Top-Spieler waren gegangen, die Kombinate und Ministerien, die die Vereine getragen hatten, wurden abgewickelt, und sich in einem neuen System zurechtfinden zu müssen, war ein Wettbewerbsnachteil. Ralf Minge, eine Legende bei Dynamo Dresden, sagte einmal in einem Interview über die Wendejahre: »Wir hatten vom Kapitalismus keine Ahnung.« Dresden spielte noch ein paar Jahre in der Bundesliga und stieg 1995 ab. Hansa Rostock hielt sich – mit Unterbrechungen – insgesamt über zehn Jahre in der Bundesliga. In den Nullerjahren spielte Energie Cottbus einige Saisons in der ersten Liga. Große Erfolge blieben allerdings aus. Die Spieler, die ihre Karrieren in der DDR begonnen hatten oder in Ostvereinen ausgebildet worden waren, wie etwa Michael Ballack, Bernd Schneider oder Jens Jeremies, spielten im Profifußball der BRD weiterhin eine große Rolle. Sie stehen für das »Sommermärchen« oder für Erfolge ihrer Vereine. Ihre Geschichte und die des DDR-Fußballs war in der öffentlichen Wahrnehmung dagegen von untergeordneter Bedeutung. Im Vordergrund steht noch heute die Erzählung des gewieften westdeutschen Managers Reiner Calmund, der sich das Tafelsilber des Ostens sicherte. Es ist eben immer die Frage, wessen Geschichte erzählt wird – und wie. Benjamin Knödler ist Online-Redakteur beim Freitag. Callis Treuhand
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Schöne Empirie: Inventur Gestaltung: Markus Stumpf Inhalt: Fabian Vugrin, Linus Westheuser
Kunterbunte Raufasertapeten sind nicht die einzigen Überbleibsel der DDR. Jahrzehnte des Staatssozialismus und eine abrupte Angleichung an den Westen haben Spuren hinterlassen.
Die doppeltfreie Ehefrau In der DDR stand die Förderung der Familie—aber nicht notwendigerweise der Ehe—im Vordergrund. Es war vergleichsweise einfach, sich scheiden zu lassen, so brauchte man zum Beispiel keinen Anwalt: Die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen wurde als die Grundlage der Gleichberechtigung angesehen. Die BRD hingegen förderte die traditionelle Ehe und das Modell des männlichen Alleinverdieners. Scheidungen konnten nur zu hohen Anwaltskosten und bis 1977 nur aufgrund einer »schuldhaften Verletzung der ehelichen Pflichten« durchgeführt werden. In der prekären Zeit nach der Wende brach die Zahl der Scheidungen im Osten dramatisch ein, zugleich sank die Geburtenrate.
Ehescheidungen pro 10.000 Ehen 140 120 100 80 60 40 20 0
1978
1986
DDR / Neue Länder
BRD
1991
2001
(Quelle: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 12 / 2005)
21 %
verdienen Frauen in Westdeutschland im Schnitt weniger als Männer
Gleichheit in der Ungleichheit Das generelle Lohnniveau ist in den neuen Bundesländern noch immer etwa 17 Prozent niedriger als in den alten. Der Gender-Pay-Gap (also der Unterschied des durchschnittlichen Gehalts von Männern und Frauen für gleiche Tätigkeiten) ist hingegen im Osten deutlich kleiner. Lokal kehren sich die Vorzeichen sogar um: In Cottbus verdienten Frauen in den vergangenen Jahren im Schnitt fast 500 Euro mehr als Männer. (Quelle: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, 2020; Bundesagentur für Arbeit)
7 %
verdienen Frauen in Ostdeutschland im Schnitt weniger als Männer
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Ost New Deal
Die beste Prophylaxe »Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe« lautete ein Slogan der DDR-Führung: Seit den 1950er Jahren wurden die Bürgerinnen und Bürger der DDR umfangreich und verpflichtend gegen ansteckende Krankheiten geimpft. Kinder oft auch ohne das Einverständnis der Eltern. Für viele Ostdeutsche sind Schutzimpfungen daher heute noch selbstverständlich. Die Überlegenheit des DDR-Impfsystems wurde auch für politische Propaganda genutzt. So bot die SED-Führung der Bundesrepublik demonstrativ drei Millionen Impfdosen an, als das Ruhrgebiet 1961 mit einer Polio-Epidemie zu kämpfen hatte. Die BRD lehnte ab.
Impfquote für die saisonale Grippe im Jahr 2013 / 2014 bei Personen ab 60 Jahren
65 %
im Kreis Demmin, MecklenburgVorpommern (Insgesamt im Osten: 53,8 %)
13,5 %
im Kreis Schwäbisch-Hall, Baden-Württemberg (Insgesamt im Westen: 32,8 %)
(Quelle: »Versorgungsatlas« Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland)
Westen:
2.828 t / km 3,8 t / km 10,8 t / km 2
Kohlenstoffdioxid
2
Schwefeldioxid
2
Emissionen im Jahr 1989
Stickoxide
Umweltschutz auf dem Papier In anderen Punkten wurde es mit der Volksgesundheit nicht so genau genommen. Die DDR gründete zwar eines der ersten Umweltministerien der Welt, ihre Bürgerinnen und Bürger wurden jedoch erheblichen Umwelt- und Luftverschmutzungen ausgesetzt. Nirgends in Europa war die Schwefeldioxidbelastung so hoch wie im Ostdeutschland der 1970er und 80er Jahre – vor allem wegen der intensiven Verbrennung von Braunkohle. Atemwegs- und Hauterkrankungen waren die Folge. (Quelle: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU))
Osten:
3.148 t / km 48,5 t / km 6,2 t / km 2
Kohlenstoffdioxid
2
Schwefeldioxid
2
Stickoxide
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Die Bananenfrage Das sogenannte »Bananenprotokoll« der Römischen Verträge, maßgeblich von Konrad Adenauer vorangetrieben, ermöglichte ab 1957 den unbegrenzten und zollfreien Import von Bananen in die BRD. Die Südfrucht wurde zum Politikum und sollte nicht zuletzt einen ostdeutschen Luxusneid befeuern. Dabei war die Banane in der DDR nicht immer so rar, wie heute erzählt wird. Noch in den 1970er Jahren konsumierten die Ostdeutschen vergleichbare Mengen (zum Beispiel kubanischer) Bananen wie der Westen. Doch in den 1980er Jahren kam es zu einem Einbruch der Importe, das Fehlen von Bananen wurde zum Symbol der Mangelwirtschaft. Als hätten die Menschen etwas aufzuholen, schoss nach der Wende der ost-deutsche Bananenkonsum zunächst durch die Decke. Erst in den 2000er Jahren kam es zur »Bananeneinheit«.
Durchschnittlicher jährlicher Bananen verbrauch pro Kopf 1974—2004
(Quelle: The World Banana Economy, 1970-1984: Structure, Performance, and Prospects von Food and Agriculture Organization of the United Nations, eigene Berechnungen; GPF nach Eurofruit 10/1991; Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), eigene Berechnungen)
9, 9 k
g
1983
7,4 k g
04 20
1991
1984
kg 9,0 kg 7,6
,2 9
5
2 k
Os
te n
g
8 4,
kg
91 19
197
8,
kg kg
We ste n
∅ 19 78 –79
20 0
g
9 4 ,2
∅ 1
9 974–7 ,1 7 k
1978
1982
7,1 kg 2,5 kg
1984
kg 4,2
1
Tennis vs. Volleyball In Bayern und Baden-Württemberg sind mehr als dreimal so viele Menschen Mitglied in einem Tennisverein als in den neuen Bundesländern. Das Kollektivspiel Volleyball wurde in der DDR dagegen besonders gefördert—und ist im Osten noch heute beliebter als im Westen. In den Ost-Bundesländern ist die Mitgliedschaft in Volleyballvereinen bis zu viermal so hoch wie in Westdeutschland. (Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, »Vielfalt der Einheit« 2020)
Höchstanteil der Mitglieder in Tennisund Volleyballvereinen an allen Sportvereinsmitgliedern in Prozent 2019 / 2020
Westen: 7,2%
74
Osten: 4,4%
Ost New Deal
Beim Eigentum hört die Demokratie auf In der DDR gab es nur einen Großeigentümer: den Staat. Den Arbeiterinnen und Arbeitern gehörten die Firmen nur dem Namen nach. Im demokratischen Kapitalismus ist das Eigentum nicht weniger exklusiv. Nur etwa 1,8 Prozent der Deutschen besitzen heute größere Firmenbeteiligungen. Fast alle von ihnen, und 96 Prozent der Millionäre, leben in den alten Bundesländern. (Quelle: Sozio-ökonomisches Panel (SOEP), DIW)
Anteil der Aktionärinnen und Aktionäre (in Prozent) an der Bevölkerung mit einer Beteiligung an Unternehmen von von mindestens 10 Prozent.