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German Pages VII, 309 [312] Year 2020
Christina Henkel
Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext Interkulturalitätskonzepte zwischen Theorie und Praxis
Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext
Christina Henkel
Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext Interkulturalitätskonzepte zwischen Theorie und Praxis
Christina Henkel Göttingen, Deutschland Zgl. Dissertation an der Georg-August-Universität Göttingen, 2019.
ISBN 978-3-662-61960-5 ISBN 978-3-662-61961-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung
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Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung 2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Kulturbegriff: Verortung von Kultur – Kultur als Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Kulturthemenforschung – Wandernde Blickwinkel . 2.1.3 Interkulturelle Germanistik als Fremdheitsfach – Xenologie und fremdkultureller Alltag . . . . . . . 2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Konzept der Alltagswelten und die Konstruktion von Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Symbolischer Interaktionismus – Interaktion, Handlung und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Konstruktivismus und die kulturalistische Wende – Der interaktionistische Konstruktivismus . . . . . 2.3 Zusammenführung: Beobachter*in und Blickwinkel . . . .
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Grounded Theory Methodologie (GTM) 3.1 Konstruktivistische Grounded Theory Methodologie 3.2 Die Forscher*in als Beobachter*in . . . . . . . . . . 3.3 Forschung als Interaktion und Konstruktion . . . . . 3.4 Transkriptionssysteme – Transkribieren als Tätigkeit 3.5 Kodieren als Herzstück . . . . . . . . . . . . . . . .
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Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen – Akteur*innen als Beobachter*innen und erzählende Konstruktivist*innen 4.1 Die konstruktivistische Bedeutung von Narrationen für das Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 11 11 17 20 23 25 35 41 47 53 57 60 62 64 66
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Inhaltsverzeichnis
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Sample . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Das Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Gesprächspartner*innen . . . . . . . . 4.2.3 Die Gespräche – Interviewverlauf, Memos, ling, Reflexionen . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . Samp. . . .
5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt 5.1 Vorstellung des Modells der Interaktionsmatrix . . . 5.2 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 „Chinabild“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 „Kulturschock“ . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Fremdheit und die Konstruktion von Identität 5.2.5 Raum – Quartier . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6 Sozialwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.7 Kommunikation (Sprache) . . . . . . . . . . 5.2.8 Blickwinkel – Verstehen und Anerkennung . 5.2.9 Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
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79 79 80 84 89 90 93 95 106 123 139 156 175 195 215 238
6 Fazit 6.1 Integration – Interaktion – Inklusion . . . . . . . . . . . . 6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen für den Studienaufenthalt im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Geltungsbereich der Interaktionsmatrix . . . . . . . . . .
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7 Literaturverzeichnis
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8 Anhang: Zusammensetzung des Sampling (Verzeichnis der Gesprächspartner*innen)
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Interaktionsmatrix als Erfahrungsschema Abbildung 2: Kodenetzwerk . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3: Trias zur Lebensweltgestaltung . . . . . Abbildung 4: Gulou-Campus . . . . . . . . . . . . . .
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91 94 158 163
1 Einleitung Menschen verlassen aus den unterschiedlichsten Gründen und mit diversen Motivationen ihre Lebenswelt, um sich entweder in einer anderen nur kurzfristig aufzuhalten oder aber auch langfristig anzusiedeln. In der klassischen Migrationstheorie unterscheidet man zwischen den sogenannten Push- und Pull-Faktoren, die in der Regel von einer dauerhaften Migration in Kombination mit Integration und/ oder Assimilierung ausgehen. Selbst die moderne Migrationsforschung, die sich auf transnationale soziale Räume fokussiert, geht von einem dauerhafteren, wenn auch flexiblen Zustand aus (vgl. Pries 1998: 79f.). Deutsche Student*innen im Bachelor und Masterstudium zieht es immer wieder ins Ausland, um sowohl die Welt kennenzulernen als auch ihren Lebenslauf aufzuwerten und anschließend wieder zurückzukehren. Für sie sind Auslandsaufenthalte essenziell. Nicht nur der eigene Lebenslauf, sondern auch die Globalisierung erscheint gestaltbar. Abgesehen vom Erwerb so genannter „hard skills“ beziehungsweise formaler Qualifikationen geht es um den Gewinn von Schlüsselqualifikationen wie zum Beispiel Interkultureller Kompetenz (vgl. Reimann 2017: 27f; Lüsebrink 2016: 8f.; Bolten 2012; Heringer 2012; Treichel/ Mayer 2011: 273f.). Wierlacher schreibt dazu, „[...] interkulturelle Kompetenz sei die Fähigkeit, sich adäquat und flexibel gegenüber den Erwartungen der Kommunikationspartner aus anderen Kulturen zu verhalten, sich der kulturellen Differenzen und Interferenzen zwischen eigener und fremder Kultur und Lebensform bewusst zu werden und in der Vermittlung zwischen den Kulturen mit sich und seiner Herkunft reflektierend identisch zu bleiben“ (Wierlacher 2003a: 258).
Interkulturalität ist ein dynamisches Konzept, das sich nach Bolten „[...] im Wesentlichen auf die Dynamik des Zusammenlebens von Mitgliedern unter© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_1
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schiedlicher Lebenswelten auf ihre Beziehung zueinander und ihre Interaktion untereinander bezieht“ (Bolten 2012: 39). Kompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, wahrzunehmen und zu beobachten, das Aufgenommene zu verarbeiten und im Idealfall angemessen durch Kommunikation und Interaktion zu handeln. Immer mehr Student*innen entscheiden sich daher für einen Auslandsaufenthalt in der Hoffnung, entsprechende Erfahrungen zu sammeln und sich so für den globalen Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Denn, so Wierlacher:
„An vielen Orten zugleich fremd und heimisch zu sein, zählt zu den Grunderfahrungen unserer Zeit. [...] Viele Menschen werden in Zukunft freiwillig oder unfreiwillig einer Berufstätigkeit innerhalb einer für sie fremden Kultur nachgehen und tagtäglich mit Ausländern interagieren und kooperieren müssen. [...] Folglich wird die Befähigung zur qualifizierten interkulturellen Kommunikation für immer mehr Menschen zu einer Art ’intellektueller Grundausstattung’ werden“ (Wierlacher 1993: 9).
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich anhand einer Fallstudie mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen von 30 deutschen Student*innen während ihres Auslandsstudiums in China. Dafür bietet die Interkulturelle Germanistik (im Folgenden auch IKG) einen Komplex unterschiedlicher Konzepte, die im Verlauf der Arbeit diskutiert werden sollen. Theoretische Überlegungen zur Konstruktion von Wirklichkeit und zu interaktionistischen Ansätzen ermöglichen eine Annäherung daran, wer oder was auf welche Weise Einfluss auf die oben genannte „intellektuelle Grundausstattung“ ausübt. Im Zuge der Globalisierung gehört der Wettbewerb um die klügsten Köpfe in der internationalen Hochschullandschaft zum täglichen Geschäft der Hochschulen. Auf struktureller Ebene wird viel dafür getan, um jungen Akademiker*innen Auslandserfahrung und Austausch zu ermöglichen, denn Student*innen sollen auf die globalisierte Welt vorbereitet werden. Als potenzielle Führungskräfte sollen sie zukünftig dabei helfen, zusammen mit internationalen Partner*innen Lösungen für die unterschiedlichsten Probleme der Globalisierung, wie zum Beispiel Ressourcenknappheit, Umweltfragen und Nahrungsverteilung zu finden. Zudem sollen sie durch
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diese Integration in internationale Forschungsdiskurse die Synergieeffekte kultureller Vielfalt als Forschungsressource nutzen. Und „[...] von immer mehr Menschen wird eine Mehrsprachen- und Mehrkulturenkompetenz und ein begründetes Wissen von Eigenheit, Andersheit und Fremdheit als Teil ihrer intellektuellen Grundausstattung benötigt und erwartet“ (Wierlacher/ Albrecht 2003: 280). Denn unterschiedliches Denken fördert neue Lösungen und Strategien. Deutschland und China haben im Vergleich sehr auslandsmobile Student* innen und sind beliebte Gastländer für die Student*innen des jeweils anderen Landes (vgl. Fritsche 2011: 4). Die Gruppe chinesischer Student*innen ist die größte Gruppe der ausländischen Student*innen in Deutschland1 . Im Jahr 2014 studierte die bisher größte Zahl deutscher Student*innen in China, nämlich 8.193 (vgl. Statistisches Bundesamt 2017: 31). Es gibt bereits einige Veröffentlichungen vor allem chinesischer Deutschland-Alumni, die chinesische Student*innen in Deutschland zum Thema machen (vgl. Zhou 2010; Sun 2010; Guan 2007). Größere Untersuchungen speziell zu deutschen Student*innen in China und ihren Erfahrungen wurden bisher allerdings nicht durchgeführt oder veröffentlicht, abgesehen von einer Fallstudie über vier Student*innen beziehungsweise Praktikant*innen, die in Qingdao in Gastfamilien lebten (vgl. Lauterbach 2010). Seit den 1990er Jahren gibt es keine wissenschaftlichen Publikationen zu deutsch-chinesischen Hochschulkooperationen außerhalb des Broschürenbereichs2 . „Chinesische Universitäten als ,strategische Partner‘ gefragt“ titelt ein Artikel der Außenstelle Peking des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der das Programm des DAADs zur Förderung der Vertiefung internationa-
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Vgl. Fritsche (2011: 4): China: ca. 548.000, Indien: ca. 185.000, Südkorea: ca. 115.000 und Deutschland: 94.000. Dies ergab eine Literaturrecherche im Gemeinsamen Verbundkatalog (GVK) zu den entsprechenden Stichworten „China“, „Deutschland“, „Studierende“, „Studenten“, „Studium“ (Stand: Januar 2013). 2019 erschien das „Jahrbuch Angewandte Hochschulbildung 2016“, das Deutschland und China als strategische Partner im Bereich der angewandten Hochschulbildung thematisiert (vgl. Cai/ Lackner: 2019).
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ler Kooperationen deutscher Hochschulen vorstellt3 . Auf subjektiver Ebene kann es dabei Elemente geben, die sowohl erfolgsfördernd als auch erfolgsmindernd für den Studienerfolg im Ausland sind. Laut Fritsche stellte der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW) beispielsweise fest:
„Unsere aktuelle Sozialerhebung zeigt: Internationale Studierende haben große Schwierigkeiten, Kontakt zu deutschen Kommilitonen und zur deutschen Bevölkerung herzustellen. Das ist ein großes Problem für den Studienerfolg. Wer isoliert bleibt, studiert auch nicht erfolgreich. [...] Hochschulen sind erst dann internationalisiert, wenn die ausländischen Studierenden nicht einfach nur da sind, sondern wenn es einen echten Austausch mit ihnen gibt“ (Fritsche 2011: 4f.).
Ausgangspunkt der vorliegenden Forschung ist die Frage danach, in wie weit die im Zitat genannten Zusammenhänge auf deutsche Student*innen in China übertragen werden können. Wie kann Isolation überwunden und ein echter Austausch gestaltet werden? Was bedeutet Integration in Bezug auf Studierendenbiographien? In der Regel sind Studienaufenthalte zeitlich begrenzt, und die meist baldige Rückkehr ist stets präsent. Lassen sich derlei Aussagen zum Studienerfolg überhaupt treffen? Oder anders gefragt: Wie nachhaltig ist der Auslandsaufenthalt hinsichtlich der zukünftigen beruflichen Verortung? Diese Arbeit geht deshalb vor dem Hintergrund der Konzepte von Integration und Nachhaltigkeit auch der Frage nach, ob und in wie weit Integration stattfindet, wie die Auslandserfahrung auf individueller Ebene wahrgenommen wird und welche Prognosen die Akteur*innen für ihre Biographie mit Blick auf China abgeben. Voller Bilder und Erwartungen reisen deutsche Student*innen in eine andere Lebenswelt, um sich bewusst und/ oder unbewusst mit eigenen und fremden Konstruktionen kultureller Selbstauslegungen auseinanderzusetzen. Wie diese Auseinandersetzung abläuft und wie die Akteur*innen de-/ re-/ konstruierend ihre interkulturelle Kompetenz erwerben, steht im Zentrum dieser Dissertation. Es wird untersucht, welche Bedeutung kulturelle 3
Vgl. http://www.daad.org.cn/aktuelles/chinesische-universitaten-als-strategische-part ner-gefragt-neues-daad-programm-fordert-vertiefung-internationaler-kooperationendeutscher-hochschulen; (Stand: 19.05.2014).
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und lebensweltliche Interaktionen bei der Re-/De-/ Konstruktion von Lebenswelt haben und welche Faktoren beziehungsweise Kategorien als Kompass für kulturelles Handeln und die Deutungsarbeit dienen. Aus der Begegnung der „eigenen“ Lebenswelt mit anderen beziehungsweise fremden Lebenswelten wird ein „Drittes“ geschaffen, das als Kapital (für den Arbeitsmarkt) mit nach Hause genommen wird. Was wissen die Student*innen von ihrem Zielland, welche Bilder haben sie im Kopf und wo kommen diese her? Diese Fragen sind relevant, da sie einen großen Teil der Wahrnehmungs- und Deutungsgrundlagen vor und während des Auslandsaufenthaltes ausmachen. Die Student*innen werden beeinflusst durch Medienberichte über China, die zwischen Faszination und Romantik schwanken, von Exotismus und Fremdheit geprägt sind und vom Kontrast zwischen Ursprünglichkeit und Moderne handeln. China ist ebenso für sein Essen und den Konfuzianismus, aber auch für Mao und Verstöße gegen Menschenrechte und das Ein-Parteien-System bekannt. Mögliche Informationsquellen sind neben dem Internet in der Regel semi-wissenschaftliche Erfahrungsberichte von Manager*innen und anderen beruflich Entsandten, die anekdotischen Evidenzen gleichen, oder Veröffentlichungen von Alt-Sinolog*innen, die sich eher im Bereich Landeskunde einordnen lassen. Ebenso wichtig ist die Frage nach der Motivation für den Studienaufenthalt, die häufig mit dem Bild von China als Wirtschaftswunder und seiner auch zukünftig zu erwartenden Machtposition in Zusammenhang steht. Der Wunsch, daran teilzuhaben und davon zu profitieren, kann ebenso als rationale Strategie für den Lebenslauf und die gesellschaftliche Positionierung betrachtet werden, wie der eher emotionale Wunsch nach Selbstverwirklichung oder einem kosmopolitischen Selbstverständnis. Für den Auslandsaufenthalt stellen sich folgende konkrete Fragen: Wie geht es den deutschen Student*innen in China? Kann es so etwas wie Integration geben, wenn die Student*innen a) nur auf Zeit da sind, b) kaum Chinesisch sprechen und c) in einem Wohnheim nur für ausländische Student*innen leben? Kann ein Aufenthalt in China – ob kurz oder lang – letztendlich so nachhaltig wirken, dass er sich auch auf den zukünftigen Berufsweg auswirkt? In wie weit ist der Anspruch auf Integration im vorliegenden Zusammenhang überhaupt notwendig? Gibt es alternative Konzepte? Bei all diesen Fragen soll der Fokus auf der Praxis kulturellen Handelns und der (Selbst-)
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Verortung in China als fremdkulturellem Kontext liegen, aber auch innerhalb der Ausländer*innencommunity unter Deutschen und Internationalen. Bei der Untersuchung der Möglichkeit von Integration im internationalen Hochschulraum müssen nicht nur quantitativ die räumlichen und zeitlichen Perspektiven institutioneller Maßnahmen, sondern auch die individuellen sozialen Dimensionen von interkulturellen Studierendenbiographien betrachtet werden. Die qualitative Forschung stellt hier einen geeigneten Zugang dar, denn im Zentrum der hier vorliegenden Forschung steht die Untersuchung dessen, wie die beobachtenden Akteur*innen verstehen und Sinn zuschreiben. Die erste, theoretische Ausgangsebene der Untersuchung sind Theorien der De-/ Re-/ Konstruktionen4 und in wie fern die Akteur*innen diese in ihren Konstruktionen von Wirklichkeit erfahren oder mitgestalten. Dabei ist nicht nur interessant, welchen Sinn sie ihrer Umgebung zuschreiben, sondern wie sie diesen entwickeln. Die Grundannahme dabei ist, dass Menschen Wirklichkeit gestalten, indem sie interpretierend handeln. In einer fremdkulturellen Wirklichkeit wie in China, zu studieren, bedeutet sich fortwährend im Vollzug kultureller Praktiken zu befinden. Inhaltlich wird sich die Dissertation daher unter anderem mit (Fremd-) Erfahrungen beschäftigen, die eng mit Erwartungen und dadurch mit dem jeweiligen Chinabild und dem Akt des Vergleichens (von beispielsweise Deutschland und China) verknüpft sind. In wie weit haben Konstruktionen wie Selbstund Fremdzuschreibungen Einfluss auf Integration? Diese Frage kann nicht frei von Zeit und Raum beantwortet, das heißt konkret, nicht ohne die Rahmenbedingungen für das Leben und Studieren im fremdkulturellen Kontext untersucht werden. Erst dann ist es möglich, Veränderungen im Umgang mit dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ als mögliche Zeichen für den Erwerb Interkultureller Kompetenz oder sogar integrativer Leistungen zu deuten. Daraus lassen sich anschließend im Idealfall Hypothesen bezüglich der Frage der Nachhaltigkeit entwickeln. Auf einer zweiten, theoretischen Ebene soll anhand von Konzepten aus der Interkulturellen Germanistik ein Beitrag zur Verknüpfung von Theorie und 4
Im Weiteren werden aus Gründen der Lesbarkeit der Begriff Konstruktion und seine grammatikalischen Versionen gebraucht, wobei die Prozesse der Dekonstruktion und Rekonstruktion impliziert werden.
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Praxis geleistet werden, indem die Rahmenbegriffe5 des Fachs praktische Anwendung finden. Dabei soll auch untersucht werden, inwieweit Begriffe der IKG zur Erklärung von Interaktion und der Verstehens- beziehungsweise Erwerbsprozesse von Interkultureller Kompetenz beitragen können. Die Begriffe der Interkulturellen Germanistik in ihrer kulturthematischen Prägung sollen bei den Untersuchungen gleichzeitig Material und Werkzeug sein. Im Idealfall kann die Arbeit anhand dieser Rahmenbegriffe für die praktische Untersuchung im Sinne einer kulturthematischen Praxis sowie die Darstellung beziehungsweise theoretische Aufbereitung der verschiedenen Konzepte eine eigenständige Systematik liefern. Da es sich um eine empirische Untersuchung im Sinne der Grounded Theory Methodologie (im Folgenden auch GTM) handelt, steht im Mittelpunkt nicht die Überprüfung von Thesen, sondern das Vorhaben trägt im Idealfall zur Thesengenerierung selbst bei. Die empirische Studie steht dabei sowohl in der Tradition der sinnverstehenden Phänomenologie als auch der Ethnomethodologie. Sie basiert auf einer ethnographischen Annäherung an die Interviewpartner*innen und bedient sich der Methoden der Beobachtung und Teilnahme. Empirische Arbeiten mit interkultureller Perspektive werden zwangsläufig mit einem dynamischen Kulturbegriff konfrontiert. Findet die Untersuchung darüber hinaus – wie hier – mit nationalem Bezugsrahmen statt („deutsche Studierende in China“), kann die Forschung Gefahr laufen, in den (bipolaren) Kulturvergleich mit all seinen wissenschaftlichen Risiken hineinzugeraten. Das Feld der (Bildungs-) Migration ist von vorneherein Kultur beladen. Die Grounded Theory Methodologie ermöglicht mit ihrem Zugang zum jeweiligen Phänomen von der Ebene der Akteur*innen aus („bottom up“) und dem Prinzip der Offenheit, eventuelle vortheoretische Überstülpungen zu vermeiden. Weiterhin ermöglicht sie während des Forschungsprozesses, das Nachdenken über den eigenen, kulturell geprägten Blickwinkel und dessen Relativierung. Die GTM ist geprägt von ständiger Reflexion und dem beständigen Vergleich einzelner Textstellen bis hin 5
Diese sind in alphabetischer Reihenfolge: Anerkennung, Bildung, Blickwinkel, Dialog, Distanz, Empathie, Fremdheit, Grenze, Höflichkeit, Interdisziplinarität, Interkulturalität, Kritik, Kultur, Lernen und interkulturelles Lernen, Lesen Professionalität, Schweigen, Tabu, Toleranz, Vergleichen, Vermittlung und Wissen (vgl. Wierlacher/ Bogner 2003: 199–343).
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zu den übergeordneten Kategorien während des gesamten Forschungsprozesses und stellt somit das geeignete Werkzeug zur Abbildung der sowohl bewussten als auch unbewussten Konstruktionsprozesse der Akteur*innen dar. Im an die Einleitung anschließenden Kapitel sollen zunächst die spezifischen Perspektiven der Interkulturellen Germanistik als Kulturwissenschaft herausgearbeitet werden, um dann die damit verknüpften Konzepte von „Kultur“ vorzustellen. Im Anschluss daran sollen die Forschungsansätze des Fachs in Bezug auf Kulturthemen und die daraus resultierenden Forschungskonzepte und Rahmenbegriffe, die in dieser Arbeit zum Tragen kommen, exploriert werden. Im nächsten Kapitel werden die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Forschung vorgestellt, auf dem die oben genannten Konzepte später in der Analyse operationalisiert werden. Im Zentrum dieses Kapitels stehen ausgewählte Perspektiven auf Lebenswelten und deren Gestaltung durch die Akteur*innen. „Die genaue Beschreibung von Lebenswelten soll einem besseren Verständnis spezifischer kultureller Selbstverständlichkeiten, Handlungsformen und -strategien beitragen, um Strukturen und Muster ihrer sozialen Reproduktion sowie ihre Eigenrationalitäten zu erkennen“ (Flick 2000: 106). Zur Erklärung, wie die Akteur*innen Lebenswelt konstruieren, werden Konzepte der IKG mit interaktionistischen und konstruktivistischen Perspektiven argumentativ verknüpft, da bei der Betrachtung von Lebenswelt eine interaktionistische Perspektive zum Tragen kommt. Diese findet ihren Niederschlag in der Grounded Theory Methododologie, die untersucht, wie Menschen etwas tun. Im Methodenkapitel werden anschließend zunächst der Zugang zum Feld sowie die Akteur*innen vorgestellt, im darauffolgenden Teil stehen die spezifischen Rahmenbedingungen des Felds im Zentrum. Die Resultate werden später im Analysekapitel auf neuer Ebene aufgegriffen werden, was im Forschungsverlauf die praktische Abbildung theoretischer Konzepte des Fachs auf Akteur*innenebene ermöglichte. Im Analyseteil werden diese Konzepte dann als Kategorien der Akteur*innen präsentiert. Es wird gezeigt, wie deutsche Student*innen in China interkulturelle Lebenswelten unter Nutzung spezifischer Begriffe und Konzepte, die sowohl im Wissenschafts- als auch im Alltagsdiskurs zirkulieren, konstruieren. Die Begriffe werden als Deutungswerkzeuge der Akteur*innen aufgedeckt.
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Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine qualitative Forschung, deren Auswertungsverfahren computergestützt erfolgt. Thematisch lässt sich die Studie interdisziplinär verorten. Die praktische Bedeutung der Interkulturellen Germanistik, in der sich diese Dissertation verortet, ist dreigeteilt: ihre Arbeiten dienen der Fort- und Weiterbildung, sie ist Dienstleister mit praxistauglichem Kulturbegriff und ebenso wissenschaftliches Fach mit theoretischen Konzepten und einem dynamischen Kulturbegriff. Alltags- oder lebensweltliche Konzepte besitzen Potential für die wissenschaftliche Theoriebildung. Durch die Auseinandersetzung mit den deutschen Student*innen in Nanjing (China) und ihrer Lebenswelt, können Erfahrungen gewonnen, sowie Haltungen, Beobachtungen und Reflexionen analysiert und eventuelle Mechanismen und Regelhaftigkeiten offengelegt werden. Die individuelle Ebene bei Auslandsaufenthalten, die zum größten Teil fremdfinanziert werden, ist sowohl in ihrem wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten von Interesse. Die individuellen Erwartungen, Erkenntnisse, Strategien und Reflexionen der Akteur*innen bilden wichtige Bausteine auch für die Institutionen, die Auslandsaufenthalte fördern. Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, ein theoretisches Modell zur praktischen Unterstützung von interkultureller Interaktion zu entwickeln, die Integration oder im Idealfall Inklusion fördert.
2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung 2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft Das Programm der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG) versteht „[...] interkulturelle Germanistik nicht nur als eine Sprach- und Literaturwissenschaft, auch nicht nur als Fremdsprachendidaktik des Deutschen, sondern [...] [sieht] in ihr eine gegenwartsorientierte philologisch akzentuierte Kulturwissenschaft mit Eigenschaften einer vergleichenden Kulturanthropologie“ (Wierlacher 1994: 40). Gleich zu Gründungsbeginn definiert Wierlacher das Fach als Disziplin, die vor allem perspektivisch vorgeht und die er daher „[...] in die fünf Komponenten Literaturforschung (und Literaturlehrforschung,) Sprachforschung (und Sprachlehrforschung), Deutsche Landeskunde, Fremdheitslehre und Kulturkomparatistik gegliedert [...]“ (Wierlacher 1994: 41) hat. Die Interkulturelle Germanistik versteht sich als angewandte, mehrdimensionale Kulturwissenschaft (vgl. Wierlacher 1994 & 2001; Wierlacher/ Albrecht 2003: 288) mit einem ebenso offenen wie mehrdimensionalen Kulturbegriff. 2.1.1 Kulturbegriff: Verortung von Kultur – Kultur als Lebenswelt Kultur liegt nie bereits konstituiert vor, sondern wird von den individuellen Akteur*innen durch gesellschaftliches Handeln konstruiert. Die Akteur*innen sind zugleich „Reiter und Tragende“ (Bausinger 1975: 9). Dies führt laut Srubar zu einer „Auflösung des Kulturbegriffs in eine Vielzahl von sinnkonstituierenden Praktiken“ (2009b: 130). Daher konzentriert sich der forschende Blick über nationale Grenzen hinweg auf Vernetzungen von Lebenswelten und interkulturelle Prozesse. Diese Perspektive hat eine Wende © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_2
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
in der Betrachtung von Kultur als klar abgrenzbare Einheit sowie den „Aufbau einer Kulturthemenforschung als Bedingungsforschung interkultureller Kommunikation“ (Wierlacher 2001: 347) zur Folge. Praktisch führte dies zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit in kulturthematischen Feldern wie beispielsweise Migration, Interkulturalität oder Fremdheit. „Kultur ist gewissermaßen a priori interdisziplinär; Kulturwissenschaft erlaubt nicht ohne weiteres den Rückzug auf in sich geschlossene Felder“ (Bausinger 1999: 220 [Hervorhebung im Original]). Aus einer Vielzahl von Methodenschulen entstand das Konzept der „Hybridisierung“ (Benthien/ Velten 2002: 7), das einen Methoden- und Perspektivenpluralismus beschreibt, der auf Überschneidungen, Vernetzungen und gegenseitigen Ergänzungen basiert. Die entstandene Theorielandschaft, die interdisziplinären Ansätze und die Triangulation von Daten und Methoden ermöglichen es, den Blick auf die Pluralität von Lebenswelten zu schärfen. Bereits in den 1960er und 70er Jahren entwickelte sich die Einsicht, dass man mit dem Begriffskomplex der Performanz – je nach Übersetzung auch Performativität genannt – als theoretisches Begriffsfeld und Konzept nicht nur interdisziplinär arbeiten, sondern auch den Fokus vom Textzentrierten zum Handlungszentrierten verschieben kann (vgl. Velten 2002: 219). Dahinter steht die Einsicht, dass Kultur oder als „Kultur“ Konnotiertes nicht nur in Texten und in der Kommunikation, sondern auch in Performanzen hervorgebracht werden kann (vgl. FischerLichte 1998; Sasse 2002). Als Bahn brechende und Weg bereitende Wende gilt in den Kultur- und Sozialwissenschaften der so genannte linguistic turn. Die zentrale Erkenntnis ist, dass Wirklichkeit durch Sprache und Kommunikation konstruiert wird. Es folgte eine Vielzahl von cultural turns, die der linguistic turn wie einen roten Faden durchzieht (vgl. Bachmann-Medick 2014: 33). Die cultural turns wandeln den linguistic turn ab und verschränken Sprache mit anderen Wahrnehmungs- und Handlungsdimensionen (vgl. Bachmann-Medick 2014: 43f.). Ein Beispiel für eine dieser Varianten ist der interpretive turn, der seine Anfänge in der amerikanischen Kulturanthropologie hat. Er ermöglichte mit der Metapher von der „Kultur als Text“ (vgl. Bachmann-Medick 1996) das, was als Kultur verstanden wird, verschiedenartig zu lesen. Für die Germanistik, die sich traditionell mit Texten beschäftigte, öffnete sich damit der Blick für Praktiken und (Sprach-) Handlungen (vgl. Bausinger 1999: 217). Diese sind wichtige Komponenten für
2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft
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die Annäherung an ein Gesamtverständnis und können beispielsweise auf Konstruktionen, Tradierung, Sinn- und Zeichenbildung sowie Funktionen und Wirkungen untersucht werden (vgl. Benthien/ Velten 2002: 20; Barthes 1964). Der germanistische Textbegriff erweitert sich um einen (kulturellen) Kontext (vgl. Wierlacher 1996: 555). Die cultural turns haben nicht nur der Germanistik eine Vielfalt von Fragestellungen erschlossen und zugleich die Untersuchungsbereiche Text und Sprache um andere Medien erweitert. Sie führten auch zu einer umfassenden kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen in den Geisteswissenschaften, zu einem Austausch von Forschungsgegenständen, einem Methodenpluralismus und zu neuen Perspektiven:
„Selbstauslegung und Inszenierung, Körperlichkeit und Handlungsmacht, aber auch die Politik sozialer und interkultureller Differenzen mit ihren Übersetzungs- und Aushandlungspraktiken rücken in den Vordergrund, darüber hinaus visuelle Einsichten, Bildwahrnehmungen und Kulturen des Blicks sowie Räumlichkeit und Raumbezüge sozialen Handelns, schließlich gar die unhintergehbare Materialität von Erfahrung und Geschichte“ (Bachmann-Medick 2014: 8).
Der interpretative turn gab den Impuls einer kulturwissenschaftlichen Forschungswende (vgl. Bachmann-Medick 2014: 58f). Allerdings verleitet dessen Leitvorstellung von „Kultur als Text“ dazu, davon auszugehen, dass allen Gegenständen eine Lesbarkeit zugrunde liegt. Es ist jedoch klar, dass zum einen der Begriff der Kultur definitionslos ist (vgl. Bausinger 2003: 271f.) und zum anderen seit den genannten turns der Textbegriff seine Konturen verliert (vgl. Bachmann-Medick 2014: 13f.). Wenngleich trotzdem – oder gerade deshalb – neue Gegenstandsbereiche freigelegt werden, können die Begriffe Kultur und Text an sich nicht (mehr) als Deutungswerkzeuge oder Ausgangspunkte zur Erkenntnisgewinnung dienen. Sie müssen zunächst beschreibende beziehungsweise umschriebene, dynamische Begriffe bleiben. Der Textansatz des interpretive turn wird vom performative turn dynamisiert und lenkt die „[...] Aufmerksamkeit von Text und Bedeutung hin zu Darstellung und performativer Praxis“ (Bachmann-Medick 2014: 38). Die teilweise gleichzeitigen Entwicklungen der turns trugen der Annahme Rechnung, dass Sprache nicht allein Wirklichkeit konstruieren
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
kann: „Vielmehr erwies es sich als notwendig, den für diese Konstitution fundierenden Zusammenhang von Handeln, Denken und Sprechen in seiner Ganzheit zu betrachten“ (Srubar 2009a: 11). Das Verständnis von Kultur als gelebter Praxis findet sich auch in den Cultural Studies, weshalb diese eine starke Bedeutung für die Erweiterung germanistischen Erkenntnisinteresses und ihrer Gegenstandbereiche haben; auch wenn es bezüglich der britischen und der deutschen kulturwissenschaftlichen Wissenschaftstraditionen kulturspezifische und institutionelle Unterschiede gibt (vgl. Neumann/ Nünning 2012: 1).
„Das vielfältige Bedeutungsgeflecht Kultur ist der gemeinsame Gegenstand von cultural studies und Fremdkulturwissenschaften, wobei ein wichtiger Unterschied darin besteht, daß cultural studies sich nicht als Disziplin verstehen und Fremdsprachenphilologien als Fremdkulturwissenschaften anwendungsorientiert sind, d. h. sie daher in Theorie und Praxis Forschungs- und Lehraufgaben verfolgen“ (Hudson-Wiedenmann 1999: 187f. [Hervorhebungen im Original]).
Die Cultural Studies zeichnen sich nicht nur durch ihre theoretische und methodische Interdisziplinarität und Offenheit aus. Es lassen sich mehrfach Anknüpfungspunkte zu den verschiedenen turns, wie zum Beispiel zum interpretive turn als auch zum performative turn entdecken (vgl. BachmannMedick 2006; Benthien/ Velten 2002). Denn auch die Arbeiten der Cultural Studies stellen unter anderem den Versuch dar, gesellschaftliche Strukturen als Text zu lesen. Die symbolischen Ordnungen von dem, als „Kultur“ Konnotierten und seiner Bedeutung für den Einzelnen werden dabei unter anderem im Hinblick auf ihre Identität (-sleistung) erschlossen. Kultur ist in erster Linie als gelebte Praxis oder die Gesamtheit von Lebensweisen zu verstehen, wodurch der Blick auf die Akteur*innen und ihre individuellen Praxen geöffnet wird. Basis der gesamten Forschung ist das Verständnis vom Menschen als „deutendes und handelndes (Kultur) Wesen“ (Klein 2008: 51), das zwischen der eigenen Handlungsfähigkeit und den bestehenden Strukturen Kultur produziert beziehungsweise konstruiert und bereits konstituierte Kultur erfährt. Nehmen Menschen in der Praxis einen großen Teil ihrer Erfahrungen in Kultur-Kategorien wahr, so ermöglichen
2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft
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die cultural turns durch ihre analytischen Blicköffnungen, diese Kategorien zu ergründen – „seien es die Erfahrungen von Globalisierungsverlusten, von ungleichen Machtverhältnissen, gescheiterten Übersetzungsprozessen oder interkulturellen Missverständnissen“ (Bachmann-Medick 2014: 47). Bei der Analyse der Daten wird deutlich, dass trotz der kritischen theoretischen Überlegungen zum Umgang mit dem Kulturbegriff, Kulturkonzepte mit Relevanz in der lebensweltlichen Praxis der Akteur*innen kursieren. Reflektierend, interpretierend und verstehend werden Handlungsspielräume von den Individuen interagierend aufgebaut, erweitert und erhalten. Somit erhält Kultur den Charakter eines Handlungsrahmens oder Ortes, an dem je nach Deutung Kämpfe oder Spiele (vgl. Rao 2005) um kulturelle, soziale und auch politische (Macht-) Positionen und Identitäten ausgetragen werden. Dies geschieht meist über Sinnproduktionen und Alltagspraxen. Bei den Arenen, in denen diese Kämpfe oder Spiele ausgetragen werden, handelt es sich jedoch nicht um einfache konkrete Orte im Sinne von Territorien, sondern um Lebenswelten, die bereits konstituiert sind und gleichzeitig in Interaktionen konstruiert werden. Um die Beziehung „Kultur – Ort“ näher zu beleuchten, muss an dieser Stelle auf Homi Bhabhas viel zitierte Aufsatzsammlung „Die Verortung der Kultur“ verwiesen werden. Diese stellt den Versuch dar, Kultur in Übergängen und Zwischenräumen zu verorten, denn dort finde verhandelnde oder übersetzende Kommunikation statt (vgl. Göhlich 2010: 317). In Bhabhas Betrachtungen passieren Interaktionen zwischen zwei sozialen Gruppen mit verschiedenen kulturellen Traditionen und Machtpotentialen. Diese Verhandlungen münden nicht unbedingt in eine Diffusion der beiden beteiligten Kulturtraditionen. Dies würde zu einem displacement (vgl. Ikas 2009: 2), einer Entortung der beteiligten Gruppenmitglieder von ihren Ursprüngen führen. Weiterhin vertritt Bhabha die Annahme, dass eine neue, gemeinsame, so genannte hybride Identität performativ hervorgebrachte würde. Hybridisierung ist als Praxis kultureller Neuschöpfung zu verstehen (vgl. Bhabha 2000: 5). Auch Hall nimmt an, dass kulturelle Vermischung „[...] möglicherweise nicht zur Verdrängung des Alten durch das Neue, sondern zur Schaffung hybrider Alternativen, die Alt und Neu dynamisch verbinden [...]“ (Hall 2002: 97) führe. Als Vertreter des postcolonial turn liegt das Hauptaugenmerk beider Autoren vor allem auf der Kritik an der Kolonialisierung und ihren Nachwirkungen
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
in meist literarischen Diskursen. Unter Berücksichtigung der Kolonialgeschichte kann Hybridität auch als kulturelles Produkt der europäischen Besatzung kolonialisierter Gebiete im Sinne einer „Verwestlichung“ gesehen werden und Eurozentrismus fördern (vgl. Hall 2002: 97): eine ethnisch definierte, marginalisierte Minderheitskultur trifft auf eine ethnisch definierte privilegierte Mehrheitskultur, was letztendlich ebenfalls zu einer Entdynamisierung von „Kultur“ führt, denn in der Regel handeln die Individuen zwischen zwei „Kulturen“. Problematisch ist, dass der Zwischenraum, das Dazwischen oder auch thirdspace auf eine Dichotomie zweier Räume oder „Kulturen“ verweist, die es so nicht gibt, da Kulturen stets auf Austausch angewiesen sind (vgl. Wierlacher 1993: 60). Während die Individuen und die Handlungen dynamisch charakterisiert sind, impliziert diese Perspektive einen statischen kulturellen Ort. Beide „Kulturen“ sind definiert; nämlich als A oder B, als voneinander unterschieden und Homogenität in sich implizierend, wodurch das Dazwischen von Aushandlungsprozessen und der Verwischung von Differenzen geprägt ist. Es wird zwar kulturell bedeutsam agiert, aber Differenz ist dort nur noch bedingt auszuhandeln. Trotz dieser Kritik ist die Idee des Dazwischen für die vorliegende Arbeit interessant. Denn der in dieser Studie untersuchte Auslandsaufenthalt deutscher Student*innen bedeutet Migration auf Zeit, die einen starken Übergangscharakter hat. Ebenso kann die Wohnsituation der deutschen Student*innen in China als Zwischenraum betrachtet werden, wie im Analyseteil ausgeführt werden wird. Auch bedeutet die von den Akteur*innen gesuchte Entortung keine prekäre Situation, sondern ist zunächst eine explizit gewünschte Erfahrung. Ein weiteres Paradoxon an Bhabhas Ansatz wird bereits in der Überschrift seines Aufsatzes deutlich. Nicht nur der Artikelgebrauch in der deutschen Übersetzung, sondern auch der Anspruch der Lokalisierung, nämlich der Verortung der (einen) „Kultur“, widerspricht einem erweiterten, dynamisch verstandenen Kulturbegriff. Der Wunsch, „Kultur“ an einen Ort binden zu wollen, ist für die Betrachtung von interkulturellen Konstruktionsprozessen und lebensweltlichen Vernetzungen ungeeignet, denn „Kultur“ kann nicht als klar abgrenzbare Einheit betrachtet werden. Ebenso wenig ist von einer Kongruenz von Sprache oder spezifischer Denkweise auszugehen. Kultur an Orte zu binden kann problematisch sein, Kultur als Praxis zu verstehen weniger. Dies erfordert im Theoriekapitel eine weitere
2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft
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Beschäftigung mit dem Verständnis von Kultur als Lebenswelt und der Beschreibung von Alltagswelt als sozialer Wirklichkeit, wie sie zunächst nur in der Soziologie und Kulturanthropologie betrieben wurde. „Eine germanistische Fremdkulturwissenschaft aber, [...] wird dieses Defizit in ihrem eigensten Interesse ausfüllen müssen, weil nicht nur die Literatur, sondern auch die fremdkulturelle Alltagswirklichkeit zum intendierten oder aktualisierten Erfahrungsfeld [...] gehört“ (Wierlacher 1980: 2). Zunächst jedoch folgt eine Darstellung interkultureller Leit- und Rahmenbegriffe anhand der fachspezifischen Kulturthemenforschung. 2.1.2 Kulturthemenforschung – Wandernde Blickwinkel Diskurse zu Phänomenen interkultureller Relevanz sind geprägt von unterschiedlichen Begrifflichkeiten. Schon alleine die Auseinandersetzung mit dem Kultur-Begriff macht dies deutlich. So sind viele Begriffe nicht nur von einer starken Dynamik geprägt, sondern sie unterscheiden sich auch häufig in der interdisziplinären Kommunikationspraxis (vgl. Neumann/ Nünning 2012). Der Begriff der Grenze beispielsweise erfährt in den Politikwissenschaften eine andere Konnotation als in der Geographie oder der Interkulturellen Germanistik. Manche Begriffe kursieren auch im nicht-wissenschaftlichen Alltag, aber haben dort eine andere Bedeutung als das wissenschaftlich gebrauchte Pendant, wie später in der Analyse der Akteur*innengespräche gezeigt wird. Mit der Kulturtheoretikerin Mieke Bal verstanden, sind Begriffe oder Konzepte unverzichtbare Werkzeuge der Intersubjektivität. Sie ermöglichen die Diskussion auf Basis einer gemeinsamen Sprache und bieten „miniature theories“ (vgl. Bal 2002: 22). Die Begriffe kreuzen nicht nur interdisziplinäre akademische Felder, sondern sie wandern hin und her, was sie zu „travelling concepts“ (vgl. Bal 2002) macht. Die Begriffe beziehungsweise Ideen und Konzepte sind sowohl für die wissenschaftliche Analyse, nämlich die hier angewandte Kategorienbildung in der Tradition der Grounded Theory Methodologie, als auch für die Akteur*innen intellektuelle Werkzeuge. Im Alltag erhalten sie performative, also handelnde Bedeutung. Begriffe beziehungsweise Konzepte gestalten Alltag und sind gleichzeitig dessen Produkte, denn sie konstruieren und verändern die Objekte, die sie deuten (vgl. Bal 2002: 33). Die Interkulturelle Germanistik
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
bietet ein Konglomerat an Konzepten und perspektivischen Orientierungen, um interkulturelle Lebenswelten und deren Konstruktionen, die unter anderem mit operativen Begriffen arbeiten, zu erschließen. Bernd von Thum hat Wierlachers Forderung nach themenorientierter Forschung aufgegriffen (Thum 1985: XV–LXVII) und auf die kulturthematischen Konzepte (engl.: Themes of Culture) des amerikanischen Sozialanthropologen Morris E. Opler (vgl. Opler 1969) aufmerksam gemacht. „Kulturthemen (Themes of Culture) sind dem Konzept Oplers zufolge explizite oder implizite dynamische Einstellungen, die verhaltensbestimmend sind. Sie sind in jeder Kultur vorhanden und zumeist existieren mehrere Themen gleichzeitig nebeneinander“ (Hudson-Wiedenmann 1999: 201 [Hervorhebung im Original]). Diese Kulturthemen seien Opler zufolge durch ihre Häufigkeit zu identifizieren. Thum präzisiert diese Idee, indem er dazu rät, den Akzent von einer unspezifischen Quantität, auf die diskursive Qualität der entstehenden Leitbegriffe zu setzen und herauszufinden, ob diese von mehreren Medien zugleich behandelt werden (vgl. Hudson-Wiedenmann 1999: 202). Kulturthemen sind komplex. Sie besitzen eine dynamische und eine kontinuierliche Ebene; dabei sind sie immer auch kulturvariant. Das heißt, dass eine junge Frau vermutlich das Thema Arbeit anders betrachtet als ein alter Mann. Weiterhin ist ein bestimmtes Kulturthema eventuell nur in einem bestimmten Kontext oder zu einer bestimmten Zeit relevant. Kulturthemen beschäftigen sich mit den weniger dynamischen Ausprägungen von Kultur. Ein Beispiel dazu ist das Thema Essen: Es wandelt sich vielleicht was und wie gegessen wird, doch gegessen wird immer. Kulturthemen strukturieren zunächst unüberschaubare, komplexe, kulturelle Phänomene und sind so wichtige Werkzeuge der Akteur*innen bei der Erschließung von fremdkultureller Lebenswelt. Weiterhin steht kein Kulturthema für sich alleine. Nachdenken über das Essen einer Kultur führt zu anderen Spuren oder Kategorien und in jedem Fall zum Nachdenken über das Eigene. Ebenso werden Erklärungsbedürftigkeiten oder kulturspezifische Varianzen aufgedeckt. Es gibt kulturelle Themen, die innerhalb, außerhalb und zwischen wie auch immer definierten und gestalteten kulturellen „Einheiten“ existieren. Sie sind konstituiert und konstruiert, das heißt, sie werden von den Akteur*innen einer kulturellen Lebenswelt gestaltet und von den Akteur*innen einer fremdkulturellen Lebenswelt, die von außen eintreten, vorgefunden. In einer Fremd-
2.1 Germanistik als Kulturwissenschaft
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kultur ist Alltagswirklichkeit das Feld der Fremdkultur, dessen Erfahrung am intensivsten Fremdheit wahrnehmen lässt. Fremdheit ist ein zentrales Kulturthema, das im Verlauf der hier vorliegenden Forschung immer wieder zum Tragen kommt: „Fremdheit bedeutet Gegensatz zum Gewohnten. Daher erleben wir die Fremdheit eines Landes dort am eindrücklichsten, wo dessen Wirklichkeit, besonders seine Alltagswirklichkeit, von der unseren abweicht“ (Watzlawick 1979: 21). Im folgenden Kapitel wird daher das Thema Fremdheit „als kulturkonstitutive Deutungskategorie“ (Albrecht 2012) mit Blick auf das Fach intensiver elaboriert. Die Interkulturelle Germanistik, die sich wie oben ausgeführt als angewandte Kulturwissenschaft versteht und die perspektivisch vorgeht, besitzt eine Auswahl an Rahmenbegriffen. Diese Grundbegriffe bilden einen Rahmen für Überlegungen zur Analyse und Theoriebildung. Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit konzentriert sich auf Kultur als Konstrukt und die dadurch zu verstehende fremdkulturelle Wirklichkeit. Die Rahmenbegriffe sind auf Anwendung ausgerichtet und praxisorientiert. Häufig stehen sich Thema und Gegenthema gegenüber, wie zum Beispiel fremd und eigen. Relevant bei der Erforschung sind erweiterte Faktoren, wie sich beispielsweise diese Konzepte wandeln, wo Grenzen gezogen werden, und wie die konkreten Bildungsinhalte (Toleranz, Auslandserfahrung, Sprachkenntnisse) aussehen, die den Blickwinkel mitformen. Kulturthemen stehen nicht allein und sind auch nicht binär strukturiert, sondern sie bilden ein Netz aus Begrifflichkeiten und alltäglichen Realitäten. Der Ansatz aus der Kulturthemenforschung ist für die Analyse der Interviews der vorliegenden Forschung interessant, denn durch die Methode der Kodierung kann im ersten Schritt die Häufigkeit bestimmter Themen dokumentiert werden. Insbesondere durch das so genannte in-vivo-Kodieren, können bestimmte, feste Begriffe aus den Daten gewonnen werden. Im zweiten Schritt erfolgt dann die Auseinandersetzung damit, ob diese Begriffe von mehreren Akteur*innen verwendet werden, beziehungsweise welche diskursive Qualität den Themen und Begriffen innewohnt. Durch die computergestützte, qualitative Forschung ist es hier möglich, anhand der Kodes ein Netz von Themen, Gegenthemen, Neben- und Unterthemen zu erschließen, das die Grundzüge der Kultur beziehungsweise Konstruktion von Lebenswelt durch die Akteur*innen sichtbar macht. Dies ermöglicht eine praktikable Reduktion der Komplexität und
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
gleichzeitig den Erhalt von Vielfalt und Dynamik. Denn: „Sie [die kulturwissenschaftliche Germanistik] reflektiert auf den ethnologischen Kulturbegriff: Kultur als Art und Weise, mit dem Leben umzugehen und fertig zu werden“ (Bausinger 1999: 224). Kultur besitzt eine stark aktive Komponente und ist gleichzeitig „Rahmen und Ausdruck von Lebenswelt (Bausinger 1980: 25)“. Die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis kann am lateinischen Begriff hospes verdeutlicht werden, der auf Deutsch „Gast“ und „Fremder“ (vgl. Wierlacher/ Albrecht 2003: 297) zugleich bedeutet, und der zusätzlich alltagspraktisch mit dem Kulturthema „Essen“ verknüpft ist. „Zum Begriffsnetz der Xenologie gehören außer >Alterität< und >Andersheit< auch die Begriffe >AnerkennungDistanzGastGrenzeInitativeKultur< und >ToleranzfremdFremder Fremdheitswissen< nennen“ (Wierlacher/ Albrecht 2003: 281 [Hervorhebung im Original]). Leitziel ist es, „[...] bei der Bewältigung täglicher Aktualität des Umgangs mit Anderem und Fremden begründet kategoriale Hilfe leisten zu können“ (Wierlacher/ Albrecht 2003: 282)“. Dabei geht es darum, „[...] die übergeordnete Frage nach der weltaufschließenden Ausbildung des Ich in der Begegnung mit dem Fremden [...]“ (Wierlacher/ Al1
Zur Begriffsgeschichte vgl. Wierlacher/ Albrecht 2003: 281f.
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
brecht 2003: 283), zu beantworten. Während im Deutschen von Xenologie beziehungsweise Fremdheitsforschung gesprochen wird, ist im internationalen Wissenschaftsdiskurs der Begriff der Alteritätsforschung geläufiger. Abweichendes wird zunächst als Andersheit erkannt. Das Andere kann ebenso bekannt, wie fremd sein. Fremdheit ist damit ein Interpretament der Andersheit (vgl. Wierlacher/ Albrecht 2003: 284). Erst durch Irritation oder Störung wird das Andere zum Fremden (vgl. Matter 2011: 11). „Fremdheit“ ist ein relationaler beziehungsweise reziproker Begriff, der ohne das Gegenüber nicht existieren kann. Bei der Betrachtung von Fremdem wird beinahe automatisch der Blickwinkel auf das Andere und Fremde überprüft. Dies bedeutet gleichzeitig immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen (vgl. Wierlacher 1994: 47). Weiterhin gibt es verschiedene Grade von Fremdheit, bei denen das Fremde für uns mehr oder weniger normal und alltäglich ist (vgl. Krusche 1980; Münkler/ Ladwig 1997; Stagl 1997; Waldenfels 2010) oder Diskurse, in denen „[...] das Fremde Ergebnis eines Aktes [ist], den man als Fremdmachen bezeichnen kann (...)“ (Köstlin 2011: 23; vgl. auch Reuter 2002). Andere Kulturen werden in der Regel durch den Filter des eigenen Blickwinkels im Sinne eines eigenen kulturellen Vorverständnisses gesehen. Zur Verbesserung des Fremdverstehens spielen Wahrnehmung und Reflexion eine wichtige Rolle. Idealerweise wird so die Kompetenz entwickelt, zunächst über den eigenen kulturellen Rahmen und anschließend interkulturell beziehungsweise zwischen-kulturell kommunizieren zu können und miteinander einen mitunter destruktiven Ethnozentrismus zu überwinden. Das gegenseitige Verstehen setzt also Selbstverstehen und Selbstreflexion voraus:
„Interkulturelle Praxis beginnt nicht damit, daß der eine jeweils die Erklärungsbedürftigkeit des anderen feststellt; vielmehr geht es darum, in der Vorwegnahme des fremden Außenblicks den eigenen Blick so auf die eigene Position zu lenken, daß deren Erklärungsbedürftigkeit sichtbar wird. So gesehen besteht der je eigene Anteil an interkultureller Praxis zunächst einmal in intrakultureller Tätigkeit“ (Wierlacher 1994: 50).
2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen
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Eine grundsätzliche Funktion der Xenologie liege in der „[...] durch die Kenntnis des Anderen begründeten Selbstaufklärung und Selbstdistanzierung [...]“ so Assmann und Assmann (Assmann/ Assmann 1990: 39). Der wechselseitige Austausch geschieht dabei sowohl verbal als auch non-verbal, im Besonderen durch Beobachtung und Reflexion. Das Verstehen des Fremden und des Selbstverstehens basiert auf Akten interpersonaler Kommunikation, Interaktion und Bedeutungszuschreibung, wobei Eigenes und Fremdes Bezugsgrößen und nicht Kontraste darstellen. Fremdes, Anderes und Eigenes sind dynamische Konzepte mit starkem Konstruktionscharakter und das Darüber-Reden kann selbst als Konstruktionsleistung betrachtet werden. Der Primat der Interaktion vor Verortungsversuchen von Kultur gilt nicht nur für die Interkulturelle Germanistik und macht den Alltag und alltägliche Themen zum Forschungsgegenstand. Wierlacher versteht „unter ,Ästhetik des Alltags‘ [...] das Schärfen der Wahrnehmungsfähigkeit des Lesers die Entwicklung und Entfaltung eines offenen Blicks für den eigenund fremdkulturellen Alltag und das Alltägliche, [...] des konstruktiven Sehens, der kreativen Hinwendung – und nicht der emphatischen Verachtung“ (Wierlacher 1980: 2f.). Fremdverstehen bedeutet für die Akteur*innen Kultur lesen lernen, sich selbst zu formulieren (vgl. Krusche 1980: 13) und sich ihres Blickwinkels bewusst zu werden, beziehungsweise sich eine Verstehensposition zu erarbeiten. Im Theoriekapitel werden die Strömungen eklektizistisch vorgestellt werden, die den Menschen als aktiven Gestalter von Wirklichkeit ins Zentrum der Betrachtungen stellen. Die Gewichtung von Handeln, Denken beziehungsweise Deuten und Kommunizieren respektive Interagieren ist dabei ebenso vielfältig wie die dialektische Struktur zwischen Individuum und Lebenswelt. 2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen: Konstruktivistische Perspektiven auf Lebenswelten im interkulturellen Kontext In „Handbuch interkulturelle Germanistik“, einem Grundlagenwerk des Fachs setzt sich Klaus Müller in dem Kapitel „Konstruktivistische Perspektiven kultureller Wirklichkeit“ (Müller 2003: 88–96) mit dem konstruktivistischen Charakter von Lebensrealität und den Bedeutungszusammenhängen von Kultur und Interaktion auseinander. Wenn, wie unter anderem in der
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
Interkulturellen Germanistik, „Kulturen als Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Müller 2003: 88) angesehen werden, stellt sich die Frage nach fremdkulturellen Konsequenzen und „[...] auf welchen Überlegungen und Befunden die Ansicht basiert, dass eine ,soziale Wirklichkeit‘ aktiv durch komplexe Generalisierungen und Interaktionen der Mitglieder einer Kultur oder Gesellschaft ‚konstruiert‘ werden muss und nicht etwa als objektive Realität einfach vorgegeben ist“ (Müller 2003: 88). Im folgenden Kapitel werden konstruktivistische Ideen als interdisziplinäres Programm vorgestellt (vgl. Hennen 1994: 133), das an eine lange geisteswissenschaftliche Denktradition anknüpft. Für die vorliegende Forschung erfolgt zunächst eine Herleitung von theoretischen Ansätzen zu dem Begriff der „Lebenswelt“ sowie zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit und dem Symbolischen Interaktionismus hin zum Interaktionistischen Konstruktivismus. Diese Vorüberlegungen münden im anschließenden Kapitel in die Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory (vgl. Charmaz 2014). Philosophiegeschichtlich hat die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Subjekts zur Welt eine lange Tradition, die nicht unbedingt linear verläuft. Dem entsprechend ist die Vorstellung der hier dargestellten, theoretischen Ansätze eklektizistisch geprägt. Teilweise entwickeln sie sich aneinander entlang, bauen aufeinander auf oder verlaufen parallel zueinander. Sie sind nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch personell miteinander verwandt. So war zum Beispiel der gedankliche Vater des Sozialbehaviourismus Georg Herbert Mead, für dessen Arbeit sein Schüler Herbert Blumer später den Begriff Symbolischer Interaktionismus geprägt hat, mit John Dewey befreundet, einem bekannten Vertreter des Pragmatismus. Auch Alfred Schütz, der die phänomenologische Soziologie begründet hat, war mit Meads Arbeiten vertraut, auch wenn er sich primär an Max Weber und dem Philosophen Edmund Husserl orientiert hat. Alfred Schütz war wiederum der Lehrer der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologen Peter Berger und Thomas Luckmann, die sich mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit beschäftigen.2 Allen Kon2
Für die ideengeschichtliche Herleitung, die bereits vielfach und wiederholend rezipiert wurde, werden hier die ausführlichen Standardwerke von Abels 2007 und Bonß 2013 herangezogen. Dies ermöglicht eine kurze eklektizistische Darstellung mit dem Schwerpunkt auf für die Analyse Relevantes.
2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen
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zepten liegt ein handlungsorientierter Ansatz zu Grunde und sie gelten als Bezugstheorien für den Konstruktivismus und seine Strömungen.3 Der Fokus auf den konstruktiven Charakter von (Alltags-) Wissen dient im Sinne einer Metaperspektive als Grundlage für die interdisziplinären Betrachtungen im Zusammenhang mit der Konstruktion von Lebenswelten im interkulturellen Kontext. Dabei werden zentrale Konzepte herausgearbeitet, die sich sowohl in der Theorieentwicklung der oben genannten Ansätze als auch in der Interkulturellen Germanistik wiederfinden, und die für die vorliegende Forschung relevant sind. Die vorgestellten Konzepte konzentrieren sich nicht nur auf die verstehende Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Phänomene, sondern stellen das Individuum als handelnden und Sinn gebenden Akteur, sowie seine Erfahrung von gesellschaftlicher Wirklichkeit ins Zentrum der Betrachtungen. Ausgangspunkt ist das Alltagshandeln beziehungsweise Alltagswissen, sowie Sinn- und Bedeutungszuschreibungen in verschiedenen Interaktionen, die, wie im hier vorliegenden Setting, kulturell gerahmt werden. Durch Beobachtungen, Beschreibungen und Reflexionen verarbeiten die Akteur*innen ihre Umwelt und positionieren sich nicht nur räumlich, sondern leisten auch Identitätsarbeit an sich und anderen. Zentrale Begriffe der Ansätze finden sich in den Kategorisierungen des Analysekapitels wieder. Am Beispiel des konstruktivistischen Begriffs des „Beobachters“ oder des Begriffs des „Blickwinkels“ aus der Interkulturellen Germanistik wird die Konzentration auf diese Beschreibungen deutlich. Dadurch stellen die Begriffe selbst geeignete Analysewerkzeuge beziehungsweise Kernkategorien im Sinne der Grounded Theory Methodologie dar. 2.2.1 Das Konzept der Alltagswelten und die Konstruktion von Wirklichkeit Die Beschäftigung mit der Welt, die uns umgibt, beginnt wissenschaftlich mit dem Begriff der „Lebenswelt“. Lange war dieser Begriff bei geisteswissenschaftlichen Betrachtungen ein eher impliziter Grundgedanke. Die Lebenswelt wurde erst selbst zum Forschungsbereich durch Edmund Husserls Befund über die „Krise der europäischen Wissenschaften“ im Jahr 1936. 3
Ausführliche Herleitung des Interaktionistischen Konstruktivismus in Reich 2009a und 2009b.
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
Ihm zufolge gründe alle Wissenschaft in der Lebenswelt und das Vergessen dessen habe zur Krise der modernen, europäischen Wissenschaften geführt (Husserl 2012). Das Konzept der Lebenswelt habe im Sinne Husserls die Funktion, einer Wissenschaft Boden und Fundament zu verleihen (vgl. Welz 1996: 82f.). Als Lebenswelt bezeichnet Husserl die als selbstverständlich vorausgesetzte Welt sinnlicher Erfahrungen, die nicht hinterfragt wird, bis Unstimmigkeiten auftreten. Er führt als Beispiel interkulturelle Begegnungen an, bei denen Menschen mit anderen Wahrheiten als den eigenen konfrontiert werden (vgl. Husserl 2012: 150). Da dies dem hier vorliegendem Forschungsgegenstand entspricht, erfolgen nun zunächst einige theoretische Überlegungen zur Phänomenologie der Lebenswelt oder auch Mundanphänomenologie beziehungsweise Ethnophänomenologie (vgl. Schnettler 2008). Das Ziel der Lebensweltanalyse ist die Analyse des Sinn-Verstehens, ausgehend von den Erfahrungen der Akteur*innen und die Konstitution ihres Wissens (vgl. Hitzler/ Eberle 2000: 110–112). Der phänomenologische Zugang zur Lebenswelt ermöglicht hier die nähere Untersuchung lebensweltlicher Fragmente im sozio-kulturellen Kontext und bietet den Ausgangspunkt ihrer Konstruktionen. In die Sozialwissenschaften erhielt Lebenswelt ihren Einzug durch Alfred Schütz (Schütz 1932). Schütz unterscheidet die Begriffe der Lebenswelt und der sie umgebenden Alltagswelt, die auch synonym als „Lebenswelt des Alltags“ beziehungsweise „alltägliche Lebenswelt“ bezeichnet wird (vgl. Bonß 2013: 175). Die Welt des Alltags ist eine intersubjektive Kulturwelt: „Sie ist intersubjektiv, da wir in ihr als Mensch unter Menschen leben, an welche wir durch gemeinsames Einwirken und Arbeiten gebunden sind, welche wir verstehen und von welchen wir verstanden werden. Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutungen ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurechtzufinden und mit ihm ins Reine zu kommen. Dieser Sinnzusammenhang entspringt [...] menschlichem Handeln [...]“ (Schütz 1971: 11).
Die von Schütz im Anschluss an Edmund Husserl entwickelte phänomenologische Lebensweltanalyse versteht das Subjekt als Produzent*in von
2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen
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Wirklichkeit(en). Dabei handelt es sich um ein pragmatisches Konzept, das davon ausgeht, dass Lebenswelt durch Handlung generiert wird, denn „[...] Alfred Schütz beschreibt die Konstitutionsbedingungen einzelner sozialer (Teil-) Wirklichkeiten und wichtige Basisannahmen mit deren Hilfe Gesellschaftsmitglieder einander als ,Wirklichkeitserzeuger‘ wahrnehmen und mit ihnen kooperieren“ (Müller 2003: 88). Die Erzeugung von Wirklichkeit ist mit Schütz pragmatisch gesehen erst einmal handelnd. Er unterscheidet zwischen Handeln und Handlung: „Der Begriff ,Handeln’ soll einen ablaufenden Prozeß menschlichen Verhaltens bezeichnen [...]. Der Begriff ,Handlung’ soll das Ergebnis dieses ablaufenden Prozesses, also das vollzogene Handeln bezeichnen“ (Schütz 1971: 77). Die Ergebnisse des Handelns gehen als Erfahrungen in den Wissensvorrat über, der weiteres Handeln beeinflusst. Hier wird die Relevanz von Interaktion für die Gestaltung von Lebenswelt und damit für die Teilhabe an der Konstruktion von Bezugsschemata für Sinnkonstruktionen und zukünftige Handlungen deutlich. In intersubjektivem Handeln beziehungsweise in Interaktionen passieren nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste Prozesse. Die durch Handeln entstandene Handlung hinterlässt Konstitutionen beziehungsweise Rahmen, die erneut Basis für Konstruktionen sind. Erlebnisse werden in Erfahrungen verwandelt, mit denen Wirklichkeit konstruiert wird. Das Subjekt ist bei Schütz nicht solipsistisch, sondern durch die bloße Existenz in konstituierte Kontexte eingebunden und durch die Wahrnehmung dieser Umwelt mit Erkenntnis verbunden. Besonders im Prozess des Handelns, welches Schütz als Kategorie des Verhaltens betrachtet (vgl. Schütz 1993: 73–74), vollzieht sich Intersubjektivität. Dieser Intersubjektivität der Alltagswelt kann sich primär durch „[...] eine Analyse der im alltäglichen Wissen und in der Alltagssprache repräsentierten kulturellen Symbole sowie der Sinnsetzungs- und Typisierungsleistungen der sozialen Akteure“ (Bonß 2013: 175) genähert werden. Sinn ist ein dynamisches Konzept, dass im Handeln und durch die Verarbeitung von subjektiven Erfahrungen konstruiert wird. Eine weitere Form dieser Verarbeitung und gleichzeitig Ergebnis der Interaktion stellt neben der Sinngebung die Typisierung dar. Daraus ergibt sich das „Postulat der Erforschung des gemeinten Sinnes fremden Handelns“ (Schütz 1932: 16). Handeln wird also auf Basis von intersubjektiven Strukturen vollzogen ebenso wie durch wechselseiti-
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
ge Typisierungen, die den jeweiligen Kontext beziehungsweise die Situation rahmen. Teilbereiche der Alltagswelt sind somit für das Individuum (ver-) handelbar. Voraussetzung für erfolgreiche Handlungen sind geteilte Gemeinsamkeiten, wie zum Beispiel ähnliche Motivstrukturen von Personen. Fremdes kann für uns zwar Sinn haben, doch es muss nicht unbedingt derselbe Sinn sein, den der Andere damit verbindet. Mit „Sinn“ ist hier der gemeinsam geteilte Wissensvorrat gemeint. Schütz erläutert diesen anhand so genannter Weil- und Um-zu-Motive: „Indessen das Um-zu-Motiv, ausgehend vom Entwurf, die Konstituierung der Handlung erklärt, erklärt das echte Weil-Motiv aus vorvergangenen Erlebnissen die Konstituierung des Entwurfs selbst“ (Schütz 1932: 100 [Hervorhebungen im Original]). Während Um-zu-Motive auf ein zukünftiges, zu erwartendes Handlungsziel ausgerichtet sind, orientieren sich Weil-Motive an vergangenen Erfahrungen (vgl. Schütz 1971: 80–83). Erst gemeinsame Motive erlauben es den Akteur*innen, Handlungen aufeinander zu beziehen oder zu koordinieren, was letztendlich in die Vergewisserung der sozialen Welt mündet. Dieser Ansatz öffnet den Blick auf die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Motivationen und Sinnorientierungen der Akteur*innen. Menschen handeln und interagieren miteinander sinnhaft, wobei der gemeinsam geteilte Wissensvorrat sowohl rational/ bewusst als auch nicht emotional/ unbewusst ist. In alltäglichen Interaktionen und aus den dort gewonnenen Erfahrungen werden Typen. Typisierungen und Konstruktionen haben eine ordnende Funktion und gewähren bis zu einem gewissen Grad Handlungssicherheit. In weiteren Erfahrungen können diese bestätigt, umgestaltet oder auch verworfen werden. Für Schütz existiert der Sinn nicht per se, sondern die Sinngewinnung kristallisiert sich erst in der Retrospektive: „Der reflexive Blick, der sich einem abgelaufenen, entwordenen Erlebnis zuwendet und es so als ein von allen anderen Erlebnissen in der Dauer wohlunterschiedenes heraushebt, konstituiert dieses Erlebnis als sinnhaftes“ (Schütz 1932: 73). Dabei gilt Sinn als „eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgrösse, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft“ (Schütz/Luckmann 1984:13). Sinndeutungen sind Konstruktionen, die dabei helfen Unbekanntes mit Bekanntem in Deckung zu bringen: „Wahrgenommenes und Erlebtes erscheint uns nur in einem Horizont der Vertrautheit und des bereits Bekannten als Einzigartig. [...] Indem die In-
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teraktionspartner Ereignisse in ihrer gemeinsam soziokulturellen Umwelt gleichzeitig und in ganz ähnlicher Weise wahrnehmen, konstituiert sich eine intersubjektive Basis“ (Bonß 2013: 178 [Hervorhebung im Original]). Von besonderer Bedeutung für intersubjektives Agieren ist die Wechselseitigkeit der Perspektiven, die Schütz mit den beiden Idealisierungen „Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte“ und „Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme“ (Schütz 1971: 13) zusammenfasst. Für die vorliegende Forschung sind diese Grundannahmen nicht nur von Bedeutung, da sie es ermöglichen Fremdverstehen zu erfassen. Beide Annahmen sind die Voraussetzung für Erfahrung und erklären gleichzeitig, wie gemeinsames Wissen und dadurch eine gemeinsame, objektiv gegebene Alltagswelt konstruiert wird, in der wir spezifische Handlungen und Reaktionen auf unsere Handlungen erwarten können. Berger und Luckmann führen die Gedanken Schütz‘s zur Konstitution von Wirklichkeit aus „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ (Schütz 1932) in „Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ (Berger/ Luckmann 1969) weiter. Unter Bezugnahme auf das konstitutive AlltagsweltenKonzept von Schütz konzentrieren sich Berger und Luckmann auf den Konstruktionsgedanken sozialer Wirklichkeit und die Rolle des Individuums dabei. Auf Basis des gemeinsam geteilten Alltagswissens produzieren die Akteur*innen intersubjektiv beziehungsweise sozial eine Welt, die für sie wahr, also wirklich ist. Erfahrungen bestimmen Interaktion und Handeln in der Welt. Diese Prozesse etablieren die objektive, das heißt, gesellschaftlich geteilte und sozial konstruierte Wirklichkeit auf Grundlage gemeinsam geteilten Alltagswissens (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 63). Vor allem Sprache, Symbole und handlungsvereinfachende Routinen bieten dabei Sicherheit und Gewissheit (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 69f.) Hier wird die Bedeutung von Sprache als Werkzeug zur Generierung von Wirklichkeit, dem Aufbau eines gemeinsamen Wissensvorrates und intersubjektiv geteilter gemeinsamer Relevanz- und Sinnstrukturen deutlich. Sprache ist „[...] das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft und füllt sie mit sinnhaltigen Objekten“ (Berger/ Luckmann 1969: 25). Unmittelbarer Kontakt konstituiert Wirklichkeit. In der Vis-à-Vis-Situation, der „fundamentalen Erfahrung des Anderen“ (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 31) werden Typen überprüft und gegebenenfalls neu gebildet. Dies geschieht rezi-
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prok. Hier passieren Konstitution und Konstruktion. Das Individuum macht Erfahrungen und verbindet diese mit einer Handlung, die aufgrund dieser Erfahrung zukünftig passieren müsste. Es entstehen neue Handlungskonzepte und Erwartungshaltungen (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 34 f.). Typenbildungen haben objektiv dabei die Funktion, Handlungen des Anderen voraussehbar und erwartbar zu machen, womit Handlungssicherheit hergestellt werden soll. Allerdings besteht dabei die Gefahr der Stereotypisierung oder der Frustration bei Fehltypisierung: „Wenn die subjektive Wirklichkeit intakt bleiben soll, so muß die Konversationsmaschine gut geölt sein und ständig laufen. Das Reißen der Fäden, der Abbruch der sprachlichen Kontakte, ist für jede subjektive Wirklichkeit eine Gefahr“ (Berger/ Luckmann 1969: 165). Hauptinteresse des sozialkonstruktivistischen Ansatzes von Berger und Luckmann sind also die Integration des Individuums in die Gesellschaft und der Erwerb von Alltagswissen (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 16). Sie interessieren sich darüber hinaus jedoch auch für objektive Strukturen, wie Sozialisation und Institutionalisierungen bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Unter vielen subjektiven Wirklichkeiten gibt es eine Alltagswelt, die von Intersubjektivität geprägt ist und von allen Individuen ähnlich gesehen wird (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 25). Diese unterliegt einer Wirklichkeitsordnung, die sich durch die Anordnung verschiedener Objekte nach spezifischen Mustern auszeichnet. Dadurch erscheint die Wirklichkeit bereits objektiviert und wird als normal und selbstverständlich angesehen, wodurch dem Subjekt wiederum Sicherheit vermittelt wird (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 24). In der intersubjektiven Alltagswelt versorgt die Sprache die Subjekte „[...] unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt [...] die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der die Alltagswelt [...] sinnhaft erscheint (Berger/ Luckmann 1969: 24). Bewegt sich das Subjekt, das sich der Vielfalt von Wirklichkeiten bewusst ist, von einer zur anderen, sprechen Berger und Luckmann von der Erfahrung eines Schocks, den sie mit dem Erwachen aus einem Traum vergleichen (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 24). Sozialisation wird bei Schütz, sowie bei Berger und Luckmann dem Nicht-Rationalen zugeordnet. Durch die Begegnung mit Unerwartetem werden rationale Sinnsetzungsprozesse und die Justierung von Handlungen initiiert. „Interaktionen zwischen ganz Fremden ohne gemeinsamen Alltagswelthorizont lassen wir
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[Berger/ Luckmann; Anmerkung der Autorin] einstweilen außer acht“ (Berger/ Luckmann 1969: 33). Gerade hier möchte die vorliegende Arbeit allerdings gedanklich anknüpfen. Der hier nachgezeichnete phänomenologische Blick auf Wirklichkeit und Gesellschaft lässt sich auf das offene Kulturkonzept der Interkulturellen Germanistik übertragen. Sprache, Typisierungen und Habitualisierungen als kulturelle Symbole sind Hervorbringungen menschlichen Handelns und gestalten gleichzeitig die Menschen. Daran anlehnend stellt sich im Kontext der vorliegenden Forschung auch konkret die Frage nach der Bedeutung von Sprache beim Wechsel von einer kulturellen Lebenswirklichkeit in eine andere. „Symbole und symbolische Sprache werden [...] tragende Säulen der Alltagswelt und der ,natürlichen‘ Erfahrung [...] [von] Wirklichkeit. [...] Die Sprache stellt semantische Felder oder Sinnzonen her, die wiederum durch Sprache abgegrenzt werden“ (Berger/ Luckmann 1969: 42). Ob und inwieweit die Grenze der Sprache der Grenze der Intersubjektivität und damit der Wirklichkeit entspricht, wird später in der Analyse thematisiert werden. Geteiltes Wissen über die gesellschaftliche Alltagswelt und der Austausch darüber bestimmen die Interaktionen und konstruieren Wirklichkeit (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 43). Objektiv Vorhandenes wird im Wechselspiel von Subjekt und alltäglicher Lebenswelt konstruiert. Berger und Luckmanns Definition von Alltagswelt als Erkenntnisobjekt orientiert sich zwar an Schütz, aber im Zentrum ihres Ansatzes ist sie stark an Meads Symbolischem Interaktionismus orientiert, da in ihrer Konzeption soziale Interaktion und sprachliche Symbole im Zentrum der Analyse stehen: „Obgleich der gesellschaftliche Wissensvorrat die Alltagswelt integriert und nach Zonen der Vertrautheit und Fremdheit differenziert darbietet, macht er sie als Ganzes doch nicht durchsichtig. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint uns immer als eine Zone der Helligkeit vor einem dunklen Hintergrund“ (Berger/ Luckmann 1969: 46). Im folgenden Abschnitt soll noch einmal kurz zusammengefasst werden, was sich zum einen für die Analyse des Datenmaterials und zum anderen für die weiteren theoretischen Gedankengänge als hervorstechend erwiesen hat: Die zentralen Begriffe Handeln und Sinngebung stammen aus der Alltagspraxis. Schütz interessiert, wie Sinnzusammenhänge hergestellt werden und berücksichtigt dabei auch die Funktion von Intersubjektivität. Er sieht die Alltagswelt der Menschen als sinnhaft aufgebaute, das heißt konstituierte
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Wirklichkeit. Das Handeln der Menschen in der Alltagswelt ist eng mit Sinn verbunden. Sinn setzt sich bei Schütz aus Sinnsetzungs- und Verstehensprozessen der Akteur*innen zusammen. In diesen Prozessen haben sich die Handelnden in der Sozialwelt wiederum selbst konstituiert „[...] und zwar in Deutungsvorgänge fremden und Sinngebungen eigenen Verhaltens, deren sich der einzelne in Selbstauslegung bewußt wird“ (Schütz 1932: 9 [Hervorhebungen im Original]). Interaktion ist also eng mit Sinngebung und Verstehen verbunden. Beide Prozesse sind Handlungen des Subjekts. Wenn das Subjekt nicht in der Lage ist, in Interaktionen Sinn zu erkennen – wenn sich zum Beispiel Unvorhergesehenes oder vom eigenen Verständnis anderes ereignet –, erscheint die sonst als selbstverständlich wahrgenommene Lebenswelt problematisch. Das Subjekt nimmt nicht nur seine Umwelt als fremd wahr, sondern wird auch sich selbst als fremd bewusst. Im doppelten Sinne konstituieren und konstruieren die Akteur*innen gleichzeitig. Zugespitzt formuliert ist die konstituierte Welt das, was das „einsame Ich“ (vgl. Schütz 1932: 105) vorfindet und erfährt. Bei Berger und Luckmann ist die Auseinandersetzung mit der Welt intersubjektiv und besitzt dadurch konstruktiven Charakter. Sowohl Berger und Luckmann als auch Schütz gehen davon aus, dass kein Mensch ohne Erfahrung und Wahrnehmung der Umwelt existiert. Welche Erfahrungen Individuen miteinander in Beziehung setzen, hängt sowohl bewusst als auch unbewusst vom subjektiven Blickwinkel oder Standpunkt ab (vgl. Schütz 1971: 12f.): „Zunächst werden wir jedoch die weiteren Konstruktionen untersuchen, die im Alltagsdenken auftauchen, sobald wir beachten, daß diese Welt nicht meine private Welt ist, sondern eine intersubjektive Welt, das heißt, daß mein Wissen von der Welt nicht privat, sondern von vorneherein intersubjektiv oder vergesellschaftlicht ist. Für unseren Zweck genügt es, drei Aspekte dieses Problems der Sozialisierung des Wissens kurz zu behandeln: a) die Reziprozität der Perspektiven oder die strukturelle Sozialisierung des Wissens; b) der soziale Ursprung des Wissens oder die genetische Sozialisierung des Wissens; c) die soziale Verteilung des Wissens“ (Schütz 1971: 12).
Die handelnden Akteur*innen deuten auf Basis ihrer individuellen, sozialen, biographischen und genetisch transportierten Erfahrungen ihre Umwelt,
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ihre Gegenüber und auch sich selbst. Dadurch gestaltet sich jedes Subjekt eine Lebenswelt, die aus unzähligen Fragmenten besteht. „Infolgedessen sind dem Deutenden stets nur fragmentarische Ausschnitte des fremden subjektiven Sinnzusammenhangs zugänglich. Jede Sinndeutung kann daher nicht mehr sein als ein Näherungswert“ (Hitzler 2000: 15). Damit rückt das Subjekt als (sinnhafte) Handlungen generierende*r Akteur*in als erkennende*r Beobachter*in in die Rolle der einzig „wahren“ Expert*in bei den Betrachtungen von Lebenswelt und somit ins Zentrum der Forschung. Sowohl die Akteur*innen als auch die Wissenschaft verwendet Typisierungen, um über den anderen nachzudenken (vgl. Schütz 1932: 158). Die Gesprächspartner*innen ordnen und erkennen wieder. In der Retrospektive, der für die hier vorliegende Forschung geführten Interviews, dient das Sprechen über eine Handlung auf subjektiver Ebene der Selbstreflexion, auf objektiver, wissenschaftlicher Ebene der Kategorienbildung:
„Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln [...] seiner Wissenschaft zu erklären versucht“ (Schütz 1971: 7).
Die objektive Wissenschaft rekonstruiert so bereits im Alltag hergestellte, subjektive Sinnkonstruktionen. Die Sinndeutungen der Akteur*innen im Alltag sind Konstruktionen 1. Grades und die Transformation in wissenschaftliche Typenbildungen sind Konstruktionen 2. Grades. Für die Erforschung der Bewusstseins- und Erfahrungsebene der Akteur*innen ist eine Rückbindung an die Motive, Wissensstrukturen, Relevanzen, Strategien und Routinen beziehungsweise Habitualisierungen notwendig. Wissenschaftliche Beobachter*innen und deren Konstruktionen von Lebenswelt werden ohne die Berücksichtigung der Akteur*innen zu bloßen Überstülpungen. Allerdings bleibt das Verstehen des Anderen immer unvollständig, denn Lebenswelten setzen sich aus einer Vielzahl von Bedeutungen und Sinnzuschreibungen zusammen. Für wissenschaftliche Betrachtungen heißt das,
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dass der Zugang zum Verstehen dieser Bedeutungen, ihrer Entstehung und ihrer Sinnhaftigkeit konstruierend ist.
„Diese Sinnhaftigkeit kann ausgesprochen situationsspezifisch und kurzlebig, sie kann aber auch (fast) völlig situationsunabhängig und dauerhaft sein; sie kann rein subjektiv, sie kann aber auch (in einem jeweils zu bestimmenden Ausmaß) sozial ,gelten‘. Denn natürlich lebt jeder Mensch in seiner eigenen Lebenswelt als dem Insgesamt seines konkreten Erfahrungsraums. Aber alle Konkretionen lebensweltlicher Strukturen sind auch intersubjektiv geprägt. [...] Gemeinsame Überzeugungen erst ermöglichen und bestimmen unser Alltagsleben, das immer ein Zusammenleben ist. In gewisser Weise ,teilt‘ das Subjekt seine je konkrete Lebenswelt mit anderen“ (Hitzler 2000: 115 [Hervorhebung im Original]).
Verstehen „passiert“ durch Wahrnehmung und Interpretation, die wiederum Handeln beeinflussen oder vom Handeln selbst beeinflusst werden. Für die empirische Wissenschaft hat diese zur Folge, dass die zu erforschende Wirklichkeit, bereits gedeutet und konstruiert wurde. Die Akteur*innen sind demnach selbst explorierend und semi-wissenschaftlich tätig in der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Die Gespräche beziehungsweise Interviews über die Welt, die sie umgibt, sind als Reflexionsleistungen und konstruierende schöpferische Tätigkeit zu werten. Zur Erforschung der Wahrnehmung, des Handelns und der Verstehensprozesse, um nur einige Fragmente der Wirklichkeitskonstruktionen zu nennen, ist die Annäherung über das Subjekt notwendig. Das gilt auch dann, wenn die Konstruktionen scheinbar objektiv definiert werden, denn auch dies geschieht letztendlich über die Bewusstwerdung des Subjekts: „Damit erscheinen die sozialen Akteure als aus alltagspragmatischen Motiven heraus rational Handelnde, die in rationalen Typisierungen und Konstruktionen auf der Basis eines gemeinsam geteilten alltäglichen Wissensvorrates sich ihrer sozialen Welt nicht nur vergewissern, sondern diese auch hervorbringen beziehungsweise konstruieren“ (Bonß 2013: 189). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der entscheidende Gedanke bei der Betrachtung von Lebenswelt im kulturellen Kontext die zentrale Annahme ist, dass das Subjekt erst in Interaktion mit
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seiner Lebenswelt Identität und Sinn herstellt und somit untrennbar mit verschiedenen Lebenswelten verbunden ist. Es folgt die Auseinandersetzung mit dem Symbolischen Interaktionismus, um das Verständnis von Interaktion als Handlung und das Verhältnis zu Bedeutung nachzuzeichnen. 2.2.2 Symbolischer Interaktionismus – Interaktion, Handlung und Bedeutung Interaktionistische Perspektiven betonen das Subjekt, das durch Interaktion und Kommunikation Wirklichkeit situativ aushandelt. Sie bieten Anknüpfungspunkte an konstruktivistische Überlegungen und die hier angewendete Forschungspraxis der Grounded Theory Methodologie (vgl. Charmaz 2014: 261). Als gedanklicher Vater des Symbolischen Interaktionismus gilt George Herbert Mead. Handeln und Denken konstituieren die Interaktion, in der sich das Individuum beständig befindet. Das vernunftbegabte Individuum und seine soziale Umgebung gestalten sich gegenseitig, wobei Mead in Sozialisierungsprozessen gewonnenes Bewusstsein und Identität als Voraussetzung für Handeln versteht. Handeln selbst weist auf Bedeutungen hin. Wobei die Produktion von Bedeutung selbst eine Handlung darstellt und eng an Symbole, wie zum Beispiel Sprache, gebunden ist. Die Symbole selbst sind wieder mit materiellen Bezugspunkten verknüpft. Dies erleichtert den Akteur*innen die Anerkennung der Symbole, was sie zu signifikanten, das heißt, gemeinsam geteilten Symbolen macht. Dadurch ist das handelnde Individuum eng mit seiner Umwelt verbunden und greift selektiv in diese ein. Im Zentrum steht bei Mead somit die kreative Interaktion auf Grundlage von gemeinsam geteilten Symbolen (Mead 1934). Dabei betrachtet er nicht nur die offensichtliche Handlungsebene, sondern auch unsichtbare Denkund Bewusstseinsprozesse, wobei Bewusstsein selbst wieder das Ergebnis sozialer Prozesse ist, die die Akteur*innen erfahren und reflektiert haben (vgl. Bonß 2013: 149–161). Vor allem verbale und non-verbale Kommunikation gilt als signifikantes Symbol für die menschliche Interaktion (vgl. Abels 2007: 17). Wichtig ist dabei, dass die Symbole dieselbe Bedeutung für alle an der Interaktion Beteiligten haben. Das heißt, Erfahrungen von erfolgreichem, beziehungsweise sinnvollem Handeln werden verallgemeinert und symbolisiert abgespeichert, als Symbole, die auf einen allgemeingülti-
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gen Sinn verweisen. Bedeutungen werden also pragmatisch und erfolgsorientiert zugeschrieben und in der nachfolgenden Betrachtung und Reflexion als „wahr“ festgelegt. Ferdinand de Saussure spricht hier auch von der Arbitrarität von Zeichen (vgl. Sassoure 1967). So werden zum Beispiel Gesten mit spezifischen Handlungen in Verbindung gebracht. Diese Sinnzuschreibungen gehören ebenso wie das Verstehen zur alltäglichen Interaktion. Eine rational gesteuerte Geste kann eine Handlung abbilden oder auch auslösen, wodurch das Individuum nicht nur die einzelne Geste, sondern auch die Interaktion bewusst oder unbewusst steuern kann. Mead teilt Handlungen in die vier ineinander verlaufenden Phasen Impuls (stage of impulse), Wahrnehmung (stage of perception), Manipulation (stage of manipulation) und Vollendung (stage of consummation) ein (vgl. Mead 1938: 3–23). Wahrnehmung besitzt alle Elemente einer Handlung. Sie verlangt eine gewisse Sensitivität für einen Impuls und die daraus resultierende Antwort. Beide Elemente sind eng mit Erfahrung verknüpft und führen zur Vollendung der Handlung. Auch soziale und gesellschaftliche Verhaltenserwartungen sind eng mit Handlungen verbunden, denn: „Soziale Interaktion ist immer auch wechselseitige Sozialisation“ (Abels 2012: 408). Sozialisation ist zum einen der Prozess der Eingliederung in die Gesellschaft und zum anderen ein Prozess der Identitätsentwicklung. Identität wird im Zusammenhang mit sozialer Handlung und deren Wechselwirkungen geformt. Gleichzeitig ist sie vom Lernen der Sprache oder symbolischen Bedeutungen der jeweiligen Gesellschaft abhängig (vgl. Charmaz 20014: 266). Sie ist somit ein dynamischer Prozess, bei dem Haltungen und Erwartungen sich selbst und dem anderen gegenüber immer wieder überprüft und gleichzeitig auch die Handlungen neu koordiniert werden. In der Interaktion mit Anderen ist die Fähigkeit der Rollenübernahme Voraussetzung (vgl. Abels 2007: 24f). Rollenübernahme setzt also zunächst Beobachtung, dann Interpretation und schließlich die Justierung von Perspektive beziehungsweise des Blickwinkels voraus. Vor allem über Sprache werden Wissen über Situationen, Interpretationen und Erklärungen ausgetauscht:
„[...] Interaktion beinhaltet eine doppelte Konstruktion: ego versetzt sich nicht in ,die‘ Rolle alters, sondern in eine Rolle, wie ego sie
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aufgrund seiner Erfahrung vermutet, und ego deutet nach der Interpretation der Reaktionen alters zum Zwecke der nächsten Interaktion nicht irgendeine Rolle an, sondern die, die ego hier und jetzt spielen will. Aber ego und alter schreiben einander auch nicht irgendeine Rolle zu, sondern eine, die der Andere spielen soll“ (Abels 2012: 409 [Hervorhebungen im Original]) .
Das Individuum handelt bei Mead autonom und doch ist es eng mit seiner Umwelt verbunden, denn die kontextuellen oder situativen Bedingungen beeinflussen die Handlungen. Erst nach seinem Tod wurde Meads Sozialbehaviourismus durch seinen Schüler Herbert Blumer unter dem Namen Symbolischer Interaktionismus in dessen 1969 erschienener Aufsatzsammlung „Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus“4 bekannt.
„Der Begriff symbolisch bezieht sich auf die sprachlichen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens; Interaktion hebt darauf ab, dass Menschen nicht auf ihr Gegenüber hin, sondern in wechselseitiger Beziehung zu einander gemeinsam handeln. [...] Die Konzepte Handlung und Handlungsinstanz stehen im Mittelpunkt der interaktionistischen Theorien des Selbst und des Interaktionsprozesses. Handlungen beziehen sich auf Erfahrungen, die für die Person in reflexiver Weise Bedeutung erlangen. Der Begriff der Handlungsinstanz beschreibt den Ort der Handlung in der Person selbst, in der Sprache oder in anderen Strukturen und Prozessen“ (Denzin 2000: 137 [Hervorhebungen im Original]).
Meads Annahme, dass Handeln bedeutungsanzeigend ist, wird bei Blumer vor allem an die Interaktion gebunden. Denn ohne Interaktion kann es für ihn keine Bedeutungsproduktion geben. Auch der Zugang zur Gesellschaft, beziehungsweise die Teilhabe an der sozialen Welt, bleibt den einzeln Handelnden ohne die Fähigkeit symbolisch interagieren zu können verwehrt. Die Aushandlung der Symbole kann nur durch Interaktion wechselseitig 4
Die Aufsatzsammlung ist unterschiedlich übersetzt und herausgegeben worden. Hier wird aus der aktuellsten Version von Bude und Dellwing aus dem Jahr 2013 zitiert werden. Aus Gründen der Lesbarkeit wird direkt auf Blumer 2013 verwiesen.
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vollzogen werden. Sprache und Wissen haben dabei die Funktion, Wirklichkeit zu strukturieren. Erst soziales Handeln und kontinuierliche Sinndeutungsprozesse ermöglichen die Bildung eines sozialen Gefüges beziehungsweise einer Gesellschaft, was bedeutet, dass für die Betrachtung von sozialen Prozessen oder sozialer Wirklichkeit der Zugang subjektzentriert sein muss. Die in sozialen Handlungsprozessen gewonnene Erfahrung und das Bewusstsein sind der Schlüssel für die Bedeutungsverleihung und das Verstehen von Sinn sowohl in der bekannten Alltagswelt als auch in einer anderen oder fremden Alltagswelt. Im Zentrum steht zum einen die Frage nach dem menschlichen Zusammenleben und zum anderen, wie Menschen die von ihnen in Interaktion geschaffene Welt wahrnehmen und reflektieren. Bedeutung kommt nicht aus einem Objekt heraus, sondern Menschen formen Bedeutung durch das, was sie mit dem Objekt machen. Damit ist Bedeutung mit Handlung eng verbunden und dominiert die Handlungskonzepte der Akteur*innen. Aus Blumers Aufsatz sind vor allem die „drei Prämissen“ bekannt, die diese Handlungsorientierung deutlich machen.
„Die erste Prämisse besagt, dass Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. [...] Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, ausgeht oder aus ihr erwächst. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegneten Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden“ (Blumer 2013: 64).
Bedeutung ist ebenso das Ergebnis von Interpretation beziehungsweise Sinnsetzungen und Sinndeutungen innerhalb der Interaktion und ist an diese gebunden. Dabei treten die Akteur*innen sowohl als Individuen als auch im Kollektiv auf. Soziales, gemeinsames Handeln entsteht aus Perspektive des symbolischen Interaktionismus im Prozess des gegenseitigen Interpretierens und aufeinander Abstimmens der individuellen Handlungen, bei denen sich die Akteur*innen gegenseitig beobachten. Blumer rückt damit den Prozess des Verstehens in den Fokus. Gerahmt wird dieser Prozess durch das Symbolhafte, also die jeweiligen Bedeutungszuschreibun-
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gen. Existieren gemeinsame Deutungsmuster, wiederholen sich die Handlungsmuster, denn die Akteur*innen steuern ihre eigenen Handlungen in der Erwartung eben dieser Muster. Diese Erwartungen beeinflussen zwar Handlungen, doch nur bis zu einem gewissen Punkt, denn letztendlich sind Symbole und Bedeutungen in der Interaktion veränderbar. Das heißt auch, dass soziale Konzepte wie „Gesellschaft“ und „Kultur“ nicht als unveränderbar gegeben existieren, sondern durch Handlungen und Interaktionen, in denen die Akteur*innen durch kommunikative Leistungen, wie Gesten und den Austausch signifikanter Symbole – zum Beispiel Sprache – handeln, konstruiert werden: „Um einem anderen anzuzeigen, was zu tun ist, muss man das Anzeigen vom Standpunkt des anderen vornehmen [...]. Solch gegenseitige Rollenübernahme ist das sine qua non von Kommunikation und wirksamer symbolischer Interaktion“ (Blumer 2013: 74 [Hervorhebung im Original]). Symbolischer Interaktionismus ist also eine dynamische theoretische Perspektive, die das Individuum und menschliche Handlungen wie die reziproke Konstruktion von Identität oder gesellschaftlicher beziehungsweise kultureller Wirklichkeiten interpretativ erforscht. Ideengeschichtlich markiert der Symbolische Interaktionismus den Übergang vom normativen zum interpretativen Paradigma. „Der Begriff des ,Interpretativen Paradigmas‘ deutet [...] in der doppelten Weise an, [...]: Menschen sind ,von Natur aus Kulturwesen‘, sie leben immer und notwendig ,kulturell‘ und in ,Kulturen verstrickt‘“ (Keller 2012: 5). Für die interkulturelle Perspektive heißt das, dass die Handlungen, Deutungen und Erwartungen im als eigen wahrgenommenen Kontext einen beständigen Charakter haben. Interaktion ist nicht nur ein Handlungs-, sondern auch ein Interpretationsprozess, was im interkulturellen Kontext noch verstärkt wird. Menschen reagieren als Antwort darauf, wie sie die jeweiligen Situationen deuten. Das eigene Handeln und das der anderen beeinflusst diese Situationen sowie das Handeln selbst, das möglicherweise neu ausgerichtet wird. Außerhalb des so genannten Eigenen oder auch ihrer Alltagsroutine können problematische Situationen und auch neue Chancen von den Akteur*innen neue Handlungsstrategien verlangen. Die Begriffe der „Interpretation“ und „Interaktion“, wie hier aus dem Symbolischen Interaktionismus hergeleitet, sind somit zentrale Begriffe, über die die handlungsfähigen und dynamischen Akteur*innen Wirklich-
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keiten erschaffen. Dabei leugnet der Symbolische Interaktionismus keineswegs die Kontextgebundenheit der Akteur*innen:
„Jeder Einzelne handelt in der Praxis als sozialer Akteur, auch wenn sein Handeln von strukturbildenden Regeln, materiellen Ressourcen und den strukturierten Prozessen begrenzt wird, die mit seiner Klassenlage, seinem Geschlecht, seiner rassischen und ethnischen Zugehörigkeit, seiner Nationalität und seiner lokalen Gemeinschaft zusammenhängen“ (Denzin 2000: 138).
Jedes Individuum ist Teil eines Kontextes beziehungsweise einer Lebenswelt und steht immer wieder unterschiedlichen Lebenswelten gegenüber, die es zuerst betrachten und dann interpretieren muss. Jede Beobachtung eines Individuums ist abhängig vom jeweiligen Standpunkt. Für die vorliegende Forschung eröffnen sich damit die ersten Kategorien der Analyse. Die deutschen Student*innen sind in der Regel kulturspezifisch sozialisiert und bewegen sich im Zuge ihres Auslandsaufenthalts gezielt aus der eigenen, als gegeben hingenommenen sozialen Welt mit ihren gewohnten Handlungsmustern in eine neue Situation. Nach Mead greifen die Akteur*innen in die Umwelt ein und selektieren nach Bedeutsamkeit, denn Interaktion verläuft auf Grundlage von gemeinsam geteilten Symbolen. Als besonders signifikantes Symbol betrachtet er die Sprache, denn Wirklichkeit wird durch Sprache und Wissen strukturiert, wobei Bewusstsein, Erfahrung und Handlung erst zum Verstehen befähigen. Erfahrungen wiederum werden durch Handlungen generiert, die aus einer Interpretation hervorgehen: „Im Wesentlichen besteht das Handeln eines Menschen darin dass er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt in Betracht zieht und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt“ (Blumer 2013: 81). Die daraus resultierenden sozialen Handlungen formen sowohl den Menschen als auch die Lebenswelt. Dabei lässt sich das Handeln sowohl auf Kontext und Standpunkt des Individuums zurückführen als auch auf Motive und Sinn, Einstellungen oder Anforderungen von Situation und Rolle, da diese als vororientierende Muster handlungsbestimmend sind. Der Kontext beziehungsweise die Situation wird zum Gegenstand der Betrachtungen und von den Akteur*innen subjektiv je nach Erwartung an die Situation oder an
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andere Akteur*innen interpretiert. Mit Hilfe des Symbolischen Interaktionismus lässt sich aus Perspektive der Akteur*innen untersuchen wie diese Situationen deuten und verstehen, ohne den Kontext und die hohe Dynamik menschlicher Interaktionen zu negieren. Nicht die Strukturen und Diskurse produzieren Subjektivität und Erfahrungen, sondern diese sind ebenso wie die Struktur „das Ergebnis dialogischer Prozesse“ (vgl. Denzin 2000: 138). Das Ziel einer solchen Untersuchung ist das Verstehen und Erklären gesellschaftlicher, beziehungsweise hier kultureller Konstruktionen von Wirklichkeit. 2.2.3 Konstruktivismus und die kulturalistische Wende – Der interaktionistische Konstruktivismus Im Kern geht es um die Herstellung individueller und kollektiver Lebensrealität interagierender Akteur*innen, sowie um deren Verortung im hergestellten Gefüge. Unter dem Begriff des Konstruktivismus versammeln sich die unterschiedlichsten erkenntnistheoretischen Strömungen. Sie unterscheiden sich unter anderem methodisch oder bezüglich des Gegenstandes. Zentral ist jedoch für die meisten Varianten des Konstruktivismus die Grundannahme, dass durch Betrachten nicht nur Erkenntnis über einen Gegenstand gewonnen wird, sondern der Gegenstand selbst durch den Prozess des Betrachtens und Erkennens konstruiert wird (vgl. Pörksen 2015: 5). Im Gegensatz zu anderen Konstruktivismen liegt beim Interaktionistischen Konstruktivismus der Schwerpunkt nicht auf Sprache, sondern auf der Betrachtung von Lebenswelt und wie dieser Gestaltungsprozess abläuft. Der Interaktionistische Konstruktivismus dient unter anderem dem methodologischen Zugang und ermöglicht es, die Perspektive der Akteur*innen als Teilnehmer*innen und Beobachter*innen zu berücksichtigen. Dies ist für die vorliegende Forschung von Bedeutung, da die reale Interaktion der deutschen Student*innen mit der kulturellen Lebenswelt in China nur bedingt über Sprache und Teilhabe, sondern vielmehr über Teilnahme und Beobachtung „passiert“. Der Interaktionistische Konstruktivismus versteht sich als eine sozial-kulturelle Orientierung, die einen konstruktivistischen Beobachteransatz mit kulturtheoretischen Ansätzen verbindet (vgl. Hickmann 2004). Dabei wird die Situationsgebundenheit der Beobachter bezie-
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hungsweise ihr Standpunkt in Kontext und Interaktion betont. Vor allem geht es darum, wie etwas (zum Beispiel eine Handlung) oder jemand eine oder mehrere Wirklichkeiten herstellt. Dabei ist „[d]ie zentrale Aussage aller konstruktivistischen Theorien [...] die Konstruktivität und Beobachterabhängigkeit von Wahrnehmung, Wirklichkeit und Erkenntnis und daraus folgernd die Ablehnung universalistischer Geltungsansprüche“ (Wilden 2013: 19). Im Folgenden sollen die hier herangezogenen interdisziplinären Grundlagen für die hier betrachteten Konstruktionen von Wirklichkeit beziehungsweise Lebensrealitäten im interkulturellen Kontext weiter konkretisiert und mit Blick auf den interaktionistischen Konstruktivismus geschärft werden. Eine allgemeine Herleitung des Konstruktivismus findet sich bei Pörksen. Er unterscheidet grob zwei Lesarten der konstruktivistischen Strömungen: die naturalistisch und die kulturalistisch orientierte Perspektive. Den Konstruktivismen sei ein prozesshaftes und dynamisches Verständnis gemeinsam:
„Es sind die Bedingungen, die eine Wirklichkeit erzeugen und überhaupt erst hervorbringen, die interessieren. [...] Die Konstruktion von Wirklichkeit erscheint nicht als ein planvoller, bewusst steuerbarer Vorgang; es handelt sich nicht um einen intentionalen Schöpfungsakt, sondern um einen durch die Auseinandersetzung mit der konkreten Umwelt in vielfacher Weise bedingten Prozess, der von biologischen, soziokulturellen und kognitiven Bedingungen bestimmt wird. [...] Maßgeblich ist für den Diskurs, wie bereits angedeutet, stets die Orientierung am Beobachter und an der beobachtenden bzw. der erkennenden Instanz: Jeder Akt der Kognition beruht, so nimmt man an, auf den Konstruktionen eines Beobachters – und nicht auf der mehr oder minder exakten Übereinstimmung der Wahrnehmungen mit einer beobachterunabhängigen Realität. Zentral ist das Postulat der Beobachterrelativität [...] Die Operation des Beobachtens lässt sich [...] formal als die Einführung und Weiterbearbeitung von Unterscheidungen und Bezeichnungen bestimmen“ (Pörksen 2015: 11 [Hervorhebungen im Original]).
Beobachter*innen treffen also Unterscheidungen, vergleichen und benennen. Die Wahl der beschreibenden, Wirklichkeit konstruierenden Begriffe
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ist also eine Entscheidung für den einen und gegen den anderen Erklärungsansatz. Ihr geht die Operation des Vergleichens (vgl. Matthes 1992) voraus: „Die Wahl der Anfangsunterscheidung wird als eine Fundamentaloperation des Denkens begriffen, sie erzeugt in der Korrelation mit anderen Unterscheidungen und Bezeichnungen Wirklichkeiten, die man vermeintlich in einem externen, von der eigenen Person abgelösten Raum vermutet. Jeder Beobachter ist über die gewählte Unterscheidung, diesem Urprinzip der Realitätskonstruktion, mit dem Unterschiedenen verbunden und erzeugt über die Art und Weise der Beschreibung unvermeidlich immer auch Elemente der Selbstbeschreibung, die potenziell ihrerseits wiederum andere Beobachter zu Untersuchungen und Einschätzungen motivieren können“ (Pörksen 2015: 12).
Die in der vorliegenden Arbeit angestellten Beobachtungen der Beobachtungen der Akteur*innen durch die Forscherin sind hierbei als Beobachtungen zweiter Ordnung zu betrachten, die der Frage nachgehen, „[...] wie und mit Hilfe welcher Unterscheidungen sich diese ihre Realität verfügbar machen. [...] Auch die Beobachtung zweiter Ordnung – dies ist erst die genuin konstruktivistische Perspektive – wird eingestandenermaßen ihrerseits selbst als eine beobachterspezifische Konstruktion verstanden, die keinen privilegierten Zugang zu einer absoluten Wirklichkeit beansprucht“ (Pörksen 2015: 12 [Hervorhebung im Original]).
Diese Perspektive nimmt die oben genannten Konstruktionen 1. und 2. Grades nach Schütz auf (vgl. Schütz 1971: 7) und erweitert diese um die Beobachterperspektive (vgl. Reich 2009a). Hier wird eine weitere zentrale Denkfigur des Konstruktivismus deutlich: Beobachter*in und Erkenntnis sind nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in reziprokem Verhältnis. Die Beobachter*in und der jeweilige Kontext beeinflussen und bestimmen Beobachtungs- und Erkenntnisprozess. Dies resultiert aus der Auffassung, dass es keine empirische Objektivität und damit keine absolute Wahrheit gibt, sondern eine Vielzahl von Wirklichkeitskonstruktionen. In sei-
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nem zweibändigen Schlüsselwerk „Die Ordnung der Blicke“ initiiert Kersten Reich unter ausführlicher Berücksichtigung der ideengeschichtlichen Vorläufer und Bezugstheorien den Interaktionistischen Konstruktivismus. Dabei setzt Reich „[...] konsequent auf einen kulturalistischen Ansatz [...], der sowohl an Traditionen des methodischen Konstruktivismus als auch des Pragmatismus anschließt“ (Neubert 2015: 387). Konstruktivistische Ansätze
„[...] stellen gegenwärtig ein bedeutendes Potential in den Sozialund Kulturwissenschaften dar, da sie in ihrer Grundanlage inter- bzw. transdisziplinär auftreten und angesichts der Pluralität wissenschaftlicher Ansätze, der Methodenvielfalt und sehr unterschiedlicher praktischer Verwendungsweisen von Wissenschaft neue erkenntnisleitende Fragestellungen und Lösungsvorschläge zur Viabilität sozialer und kultureller Deutungen ermöglichen“ (Reich 2001: 356).
Bisher erfolgt die Verknüpfung von Theorie und Praxis vor allem in den Erziehungswissenschaften beziehungsweise in der Pädagogik. Der Interaktionistische Konstruktivismus berücksichtigt Handlungen in lebensweltlichen und kulturellen Kontexten und macht somit das Subjekt zur handlungsfähigen Akteur*in unter Einbeziehung der subjektiven Beobachter*innenposition. Die Beobachtung selbst ist relevante Handlung bei der interkulturellen und lebensweltlichen Interaktion. Im Gegensatz zu anderen Konstruktivismen liegt beim Interaktionistischen Konstruktivismus der Schwerpunkt nicht auf Sprache, sondern auf der Betrachtung von Lebenswelt und wie dieser Gestaltungsprozess abläuft. Seine Grundannahmen knüpfen unter anderem an die Cultural Studies und an phänomenologische Betrachtungen von Lebenswelt an. Im Kern geht es um die Herstellung individueller und kollektiver Lebensrealität interagierender Individuen, sowie um deren Verortung im Sinne einer sozialen Orientierung im hergestellten Gefüge. Unter der Prämisse, den Interaktionistischen Konstruktivismus als „[...] Ausdruck einer Kulturentwicklung und kultureller Praktiken zu verstehen [...]“ (Reich 2015), ermöglicht er die Analyse der Bedeutung kultureller und lebensweltlicher Interaktionen bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Die Akteur*in als
2.2 (Meta-) Theoretischer Rahmen
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„[...] Beobachter ist [...] vielmehr zugleich immer auch Teilnehmer von kulturellen Vorerfahrungen und in gesellschaftlichen Kontexten und Handlungen vorfindlichen und entwickelten Werten, Normen, Konventionen, die ihn als Akteur im Rahmen von Vorverständigungen handeln lassen. Das Zusammenspiel dieser drei Perspektiven der Beobachter, Teilnehmer und Akteure in kulturellen Kontexten gehört zu den besonderen Kennzeichen von Reichs Variante einer konstruktivistischen Beobachtertheorie“ (Neubert 2015: 390 [Hervorhebungen im Original]).
Reichs interaktionistischer und kulturbezogener Blickwinkel führte zu einer kulturalistischen Wende des Konstruktivismus (vgl. Neubert 2015: 388) und ermöglicht Reflexionen des (kulturellen) Kontextes. Wird dieser Kontext, nämlich die Beobachtungs- und Wahrnehmungsvoraussetzungen, die auch Handlungsvoraussetzungen sind, übersehen, nennt Reich dies „[...] eine Rache der Lebenswelt, wenn die Kontextvergessenheit sich dann unbemerkt in die Konstruktionen eingeschlichen hat und vom Kritiker entlarvt werden kann“ (Neubert 2015: 391). Produktionen von Konstruktionen basieren auf Handlungen. Diese Handlungen wiederum werden vom jeweiligen Kontext beeinflusst. Beobachtung und Deutung gelten als Handlungen. Bei der sich weiter unten anschließenden Analyse der Gespräche über die Beobachtungen der Akteur*innen vor Ort heißt das:
„Die Daten liegen nicht einfach vor, um abgebildet zu werden, sondern sie werden ausgewählt, sie sind durch Selektion (,selectivity‘) und Auswahl (,choice‘) in unseren Handlungen bestimmt. Insoweit findet ein ,mapping‘ statt – oder, wie wir heute klarer sagen – eine Konstruktion von Wirklichkeiten, die wir als Karten mit den äußeren Territorien oder gewinnbaren Daten abgleichen. Diese Konstruktionen, [...] auch da ist Dewey schon sehr aktuell, sind immer provisorisch, zeitgebunden, damit grundsätzlich in jeder Zeit offen für Veränderungen, Verbesserungen, Verwerfungen“ (Reich 2009a: 76).
Im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus, der Wirklichkeit für unmöglich hält und daher auf den Wahrheitsbegriff verzichtet, besitzt der interaktionistische Konstruktivismus ein Wahrheitsverständnis im Sinne von
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
Viabilität. Das heißt, dass gemeinsame Aussagen über Lebensbereiche, die zu einer Verständigung und Koordination von Interaktion führen, gangbar sind und diese Wirklichkeitskonstruktionen Gültigkeit besitzen (vgl. v. Glasersfeld 1996: 104), auch wenn klar ist, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Wahrheit ist relativ. Dem schenkt der interaktionistische Konstruktivismus durch die Kategorie der kulturelle Viabilität Berücksichtigung, „[...] um zu verdeutlichen, dass auch die wissenschaftlichen Wahrheiten immer eine Kontextprüfung nach sich ziehen müssen“ (Reich 2009a: 77). Es gibt drei Ebenen konstruktivistischer Reflexion: Rekonstruktion, Dekonstruktion und Konstruktion. Zugespitzt gilt es für eine Interaktion, den Kontext, beziehungsweise „[...] die zu Grunde liegenden Handlungsfolgen entweder als eingegangene und bereits unterstellte Handlungsvoraussetzung zu rekonstruieren oder zumindest zu diskutieren, welche Handlungen als Voraussetzung angesetzt werden könnten oder bedeutsam sein mögen“ (Reich 2009a: 82 [Hervorhebung durch die Autorin]). Die dekonstruierende Reflexion ermöglicht die Relativierung dominanter und zu überholender Deutungen. Sie erlaubt die erneute „Be- und Umschreibung von Kontexten“ (Reich 2009a: 82). Handlungen zeigen die Akteur*innen konstruktiv als Erschaffende neuer Wirklichkeiten: „Es ist hier die Handlung und die Handlungsfolge, die als konstruktiver Akt ihre Rechtfertigung zunächst qua Tun herstellt, was so lange unproblematisch bleiben mag, bis ein Beobachter anfängt, sie für sich zu re/de/konstruieren. Auch der Rekonstruktivist tut in diesem Falle etwas, d.h. er konstruiert sich etwas, was er als Handlungsfolge deutet. Es ist nicht die Wirklichkeit der Handlungsfolge, die sich eindeutig im Beobachter abbildet oder widerspiegelt, sondern die Deutungsmacht der logischen Folge, die uns der Beobachter als Beschreibung liefert und die nun z.B. als eine Aussage [...] erscheint“ (Reich 2009a: 82f.).
Das Subjekt rückt als Beobachter*in in den Vordergrund. Es wird deutlich, dass nicht nur die Beobachter*innenposition, sondern auch der lebensweltliche Kontext im Sinne eines Blickwinkels bei interkulturellen Handlungen von zentraler Bedeutung sind. Das Verhältnis des Individuums zum Konglomerat aus Beobachten, Erkennen, Lernen und Deuten ist wechselseitig.
2.3 Zusammenführung: Beobachter*in und Blickwinkel
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Die Beachtung und Reflexion auch des Unbewussten im Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit haben im Interaktionistischen Konstruktivismus Relevanz. Er unterscheidet sich von anderen Konstruktivismen durch seine Kulturoffenheit und ist Ausdruck einer kulturellen und sozialen (interaktiven) Sicht (vgl. Reich 2009a: 9). Vor allem in der Konstruktion neuer Blickwinkel und der Konstruktion bisheriger Blickwinkel unter Berücksichtigung der Bedeutung von Kultur steckt das Potential des Interaktionistischen Konstruktivismus. Es folgt nun die Zusammenführung des Beobachter*innenbegriffs mit einem Rahmenbegriff aus der Interkulturellen Germanistik: dem des Blickwinkels. 2.3 Zusammenführung: Beobachter*in und Blickwinkel Die Verwandtschaft der Begriffe „Beobachter*in“ und „Blickwinkel“ ist, wie oben beschrieben, theoretisch auf die geteilten philosophischen Grundideen und praktisch auf das gemeinsame Forschungsinteresse zurückzuführen. Ursula Wiedenmann und Alois Wierlacher beschreiben im Grundlagenwerk „Handbuch interkulturelle Germanistik“ den Blickwinkel als Verstehensrahmen für die Gegenstände kulturwissenschaftlicher Disziplinen (vgl. Wiedenmann / Wierlacher 2003: 210). Die Anfänge des Blickwinkels als theoretischem Konzept leiten sie aus dem Sammelband „Die andere Welt. Studien zum Exotismus.“ aus dem Jahr 1987 von Thomas Koebner und Gerhard Pickerodt her. Dort wird vom „europäischen Blick auf die andere Welt“ und dessen Realität konstituierenden Charakter gesprochen. Ebenso wie im ethnologischen Sprachgebrauch, finden auch hier kulturelle Standortgebundenheit und ihre Einflüsse auf Handlungen und Denken Berücksichtigung (vgl. Wiedenmann / Wierlacher 2003: 210). Darauf basierend elaboriert Wierlacher, den Begriff des „Blickwinkels“ im Kontext des reziproken Verhältnisses von „fremd“ und „eigen“ (vgl. Wierlacher 1989): Dem Eigenen wird das Andere gegenübergestellt, woraus sich letztendlich der Blickwinkel ergibt. Er ähnelt unter anderem dem ethnologischen Sprachgebrauch im „[...] Kontext des Problemfeldes der kulturellen Standortgebundenheit und ihrer Prägung unserer Praxis des Wahrnehmens und Denkens“ (Wiedenmann/ Wierlacher 2003: 211). Schließlich wurde der Begriff „Blickwinkel“ 1996 von Wierlacher und Wiedenmann im Tagungsband des Düsseldorfer
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
Kongresses für interkulturelle Germanistik 1994 in die Theoriebildung eingeführt (vgl. Wierlacher / Wiedenmann 1996) und später im „Handbuch interkulturelle Germanistik“ wie folgt definiert:
„Theorie und Gegenstand einer Kulturwissenschaft sind sowohl ein Resultat individueller Auffassungen als auch das Produkt kultureller Kategorisierungen der Realität [...]. Dieser generelle Verstehensrahmen soll im Folgenden universalistisch als Blickwinkel begriffen und dieser Begriff als Rahmenbegriff interkultureller Germanistik eingeführt werden“ (Wiedenmann / Wierlacher 2003: 210 [Hervorhebung im Original]).
Wiedenmann und Wierlacher gehen bei ihrer Definition von der geometrischen Form des Blickwinkels aus:
„Ein Blickwinkel besteht aus zwei ,Seiten‘, ,Schenkeln [sic!] oder ,Geraden‘, wie die Geometrie sagt; diese Geraden lassen sich zwanglos als Repräsentationen des Fremden und des Eigenen, der individuellen und kollektiven Identität des Einzelnen oder auch der Blickstellungen von Kommunikationspartnern konkretisieren, denen ein gemeinsamer Ausgangspunkt eignet “ (Wiedenmann / Wierlacher 2003: 212).
Von der geometrischen Form ausgehend, stellt der Ausgangspunkt der Blickwinkelgeraden individuelle Erfahrungen dar und innerhalb der Geraden spannt sich ein Handlungsfeld auf, in dem Wissen, speziell interkulturelle Kompetenz und/ oder Sprachkompetenz konstruiert und gewonnen werden. Während des Auslandsaufenthalts, beziehungsweise der Zeit in der Fremde, werden bisheriges Alltags- beziehungsweise Weltwissen im Kontext neuer kultureller Praktiken überprüft, erweitert und gegebenenfalls eine neue Wirklichkeit gestaltet. Weiterhin sei laut Wiedenmann und Wierlacher ein Blickwinkel im Gegensatz zur Perspektive, die im alltäglichen Sprachgebrauch auf eine mögliche Entwicklung hinweise, vielmehr als beschreibbare Ausgangs- und Handlungsposition zu verstehen:
2.3 Zusammenführung: Beobachter*in und Blickwinkel
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„Mit eben dieser Bedeutung aber ist der Ausdruck ,Blickwinkel‘ für die Zwecke interkultureller Germanistik gut geeignet, weil er eine geometrische Grundbedeutung besitzt, die eo ipso deutlich macht, dass unsere konstitutiven Sehweisen, Rezeptionspositionen und Verstehensrahmen keine naturwüchsigen Bedingungen wissenschaftlichen Handelns, sondern Funktionen unserer individuellen und kollektiven Einstellungen sind; der Ausdruck bringt als Kompositum von ,Blick‘ und ,Winkel‘ sehr viel deutlicher die Verknüpfung naturaler und kulturaler Bedingungsfaktoren unserer Erkenntnis zur Anschauung als die anderen genannten Wörter und der viele verschiedene Vorstellungsinhalte umfassende Perspektivbegriff“ (Wiedenmann / Wierlacher 2003: 212).
In der vorliegenden Arbeit geht es darum, den Begriff des „Blickwinkels“ nicht nur als Ausgangs- und Handlungsposition der Forschenden, sondern auch der Beforschten anzuwenden. Die hier zu Wort kommenden Gesprächspartner*innen sind handlungsfähige Akteur*innen mit validen Deutungs- und Handlungsmustern. Diese Muster wiederum stellen als solche Gegenstand und Grundlage interkultureller Kommunikation dar (vgl. Wiedenmann / Wierlacher 2003: 212); auch wenn sie zunächst nicht wissenschaftlich motiviert sind. Der Begriff des „Blickwinkels“ betont besonders die Konstruktivität von Wahrnehmung (vgl. Wierlacher 1996: 32). Beobachter*innenperspektiven werden durch die in den jeweiligen Kulturen5 angebotenen Deutungs- und Handlungsmuster geprägt, die wiederum Grundlagen interkultureller Interaktionen darstellen: „Da der Mehrwert des ,produktiven Blicks‘ in seiner Fähigkeit liegt, Verhältnisse mit anderen Augen sehen zu lassen, Alternativen zu entwickeln, differente Sehweisen zu eröffnen und also Innovation zu erleichtern, gründet die praktisch-kulturelle Rolle Fremder im Kulturwandel in der Annahme der Herausforderung der neuen Lebenswelt, veränderte Denk- und Handlungsbedingungen wahrzunehmen, Problemlösungen zu entwickeln, um in veränderten Verhältnissen bestehen zu können“ (Wierlacher 1993: 104). 5
„Kulturen“ wird hier als offen definierter Begriff verstanden. Es kann sich beispielsweise sowohl um ethnisch-national definierte Kulturen, als auch um Subkulturen oder Fachkulturen handeln.
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
Die Einbeziehung des Blickwinkels unter dem Individuen das Fremde, Andere oder Eigene sehen, ist notwendig, da diese das Bedeutungsmanagement und die Begriffskonstruktionen, sowie die Begründungszusammenhänge der Akteur*innen lesbar machen. Der Blickwinkel nämlich ist Prozess und Ergebnis der Produktion von Wirklichkeit beziehungsweise Lebenswelt. Interkulturalität ist kein Zustand; Interkulturalität ist soziale Praxis. In der Regel wird sie in einer face-to-face Interaktion zwischen zwei Akteur*innen aus unterschiedlichen kulturellen Orientierungen ausgehandelt (vgl. Lüsebrink 2005: 7) und im Zwischenraum dieser Begegnung wird interkulturell agiert beziehungsweise kommuniziert (vgl. Maletzke 1996: 37). „Mit dem Begriff der Interkulturalität werden somit Interaktionsformen bezeichnet, bei denen die Interaktionspartner sich wechselseitig als unterschiedlich kulturell geprägt identifizieren“ (Gutjahr 2002: 346). Beobachten wird dabei immer auch zur Selbstbeobachtung, es wird verglichen und unterschieden. So wird kulturelle Wirklichkeit als Konstrukt erst wahrnehmbar und kommunizierbar gemacht. Dabei fungiert Kultur als Referenzsystem, wobei jedoch die Gefahr eines Kulturalismus im Sinne unzulässiger Verallgemeinerungen jedoch nicht aus den Augen verloren werden darf (vgl. Kaschuba 1995). Im Kontext des Gegenstandes der hier vorliegenden Arbeit bedeutet das, dass die Akteur*innen möglicherweise etwas als kulturell anders oder „typisch chinesisch“ deuten, was jedoch im Grunde wesentlich vielschichtiger ist und möglicherweise durch eine politische oder soziale Situation beeinflusst wurde. Eine vermeintliche Überbetonung von Kultur liegt allerdings in der Natur der Sache, da die Akteur*innen gezielt eine andere, beziehungsweise fremde Kultur erfahren wollen. Die Student*innen, deren Erfahrungen anhand der in Nanjing geführten Interviews in dieser Arbeit noch ausführlicher dargestellt und diskutiert werden, entwickeln Positionen und Blickwinkel bewusst und unbewusst. Wie sich in der Analyse zeigen wird, ist eine der Hauptmotivationen für den Auslandsaufenthalt in China, „Blickwinkel zu gewinnen“ und als Ressource mit nach Hause zu nehmen. Gewonnene Blickwinkel beziehungsweise Deutungsund Handlungsmuster beeinflussen wiederum Interaktion, Integration und Nachhaltigkeit des Aufenthaltes. Handlungsfähigkeit und speziell interkulturelle Kompetenz sind nicht nur wichtiges Kapital vor Ort, sondern stellen auch einen Mehrwert für die eigene Biographie dar. Die Gesprächspart-
2.3 Zusammenführung: Beobachter*in und Blickwinkel
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ner*innen suchten das Fremde, sie wollten es erleben und erlernen; und sie wollten sich auch fremd fühlen, um interkulturelle Kompetenz zu erwerben und Beobachter*innen in spezifischen Kulturräumen sein. Wirklichkeit und (Lebenswelt-) Wissen kann nicht ohne das Bewusstsein über dessen konstruktivistischen Charakter generiert werden. Dabei ist die Reflexion über die Konstruktion im Rahmen von kulturellen Kontexten und Praktiken im Alltag und die Beobachtung derselben notwendig. Hier kommen sowohl die Ebene der Akteur*innen, als auch die Ebene der Forschungsperspektive zum Tragen. Handwerklich spielt die Bewusstheit des konstruktiven Charakters auf Forschungsebene eine wichtige Rolle, „[...] denn nur der, der sich selbst kennt, kann andere erforschen“ (Brednich 2001: 88). Inwieweit ein Bewusstsein des konstruktiven Charakters auf der Ebene der Akteur*innen zu finden ist, wird die Analyse zeigen. Um die Wirklichkeiten der Subjekte theoretisch zu erfassen, erfolgt im Weiteren die Konstruktion und Analyse der aus den Interviews gewonnenen Daten. Dabei werden theoretische Anknüpfungspunkte der Cultural Studies genutzt, die ebenfalls mit der Grundannahme von der Bedeutung subjektiver Reflexionen arbeiten. Zusammen mit der Grounded Theory Methode ermöglichen sie einen geeigneten praktischen Zugang, denn: Studien im Sinne der Grounded Theory Methode „[...] operieren mit der Re-/ Konstruktion von Gegenstandsbildern [sic!] aus unterschiedlichen Positionen bzw. unterschiedlichen Blickwinkeln“ (Breuer 2010: 121 [Hervorhebung durch die Autorin]). Gemeinsam mit den Gesprächspartner*innen konnten unterschiedliche Perspektiven auf den Forschungsgegenstand im Sinne einer Perspektiventriangulation (vgl. Dieris 2009: 46) herausgearbeitet werden. Laut Flick wird in der Sozialforschung die Betrachtung eines Forschungsgegenstandes von mindestens zwei Perspektiven aus als „Triangulation“ bezeichnet (Flick 2000: 309). Die für die Grounded Theory Methode interessanten Daten sind bereits subjektiv geprägt. Die Akteur*innen interpretieren, konstruieren und reflektieren innerhalb ihrer jeweiligen Situationen und Kontexte. Der Plural ist an dieser Stelle bewusst gewählt, um deutlich zu machen, dass es auch hier ganz im Sinne der Lebenswelten viele gibt. Für die Seite der Forscherin gilt dasselbe. Das Verhältnis und der Blick auf das Untersuchte beziehungsweise Beobachtete ist nicht ohne Standpunkt oder Verstehensposition zu leisten (vgl. Wierlacher 1996: 41f.). Barbara Dieris
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2 Konzeptioneller Rahmen und (inter-)disziplinäre Einbettung
beschreibt den Erkenntnisgewinn durch die Zusammenführung unterschiedlicher Blickwinkel sehr treffend mit der viel zitierten Fabel „Die blinden Männer und der Elefant“ (Dieris 2009: 47). Zur Veranschaulichung soll sie hier kurz zusammengefasst werden, auch wenn es in den unterschiedlichen Versionen zu kleineren Abweichungen kommt: Sechs blinde Männer untersuchen durch Ertasten einen Elefanten. Jeder hat nur ein Körperteil vor sich. Durch das Zusammenführen der einzelnen Wahrnehmungen, rekonstruieren sie dabei einen Elefanten. Als Wirklichkeit wird dann ein Elefant verstanden, der sich anfühlt wie eine Wand und der einen Speer als Stoßzahn, eine Schlange als Rüssel, einen Baum als Bein, einen Fächer als Ohr und ein Tau als Schwanz besitzt. Erkenntnisgewinn hat also nichts mit einer einzigen Wirklichkeit zu tun, sondern ist das, was Menschen aufgrund ihrer Wahrnehmung konstruieren. Das Ziel der Triangulation ist weiterer Erkenntnisgewinn bis zur Sättigung und nicht die Suche nach der einen Wahrheit oder Wirklichkeit. Die Männer sehen ihren Elefanten, der eine Wand mit Speer, Baum, Fächer und Tau ist. Für die hier untersuchten Interviews und die unterschiedlichen Gesprächspartner*innen bedeutet das, dass sie unterschiedliche Informationsquellen und unterschiedliche Konstruktionen des Phänomens darstellen. Bei den Daten handelt es sich um erzählte Blickwinkel, die gleiche, aber eben auch sehr verschiedene Standpunkte bei den Deutungen und Konstruktionen ihrer je individuellen Beobachtungen und der Präsentation ihres Verstehens oder erlernten Kultur-Wissens deutlich machen.
3 Grounded Theory Methodologie (GTM) In der Regel hat die qualitative Forschung den Anspruch, Lebenswelten aus Sicht der Akteur*innen zu beschreiben. Dabei sind durch die Multiperspektivität vieler Akteur*innen zahlreiche Beschreibungen möglich, wahr und von Interesse, um ein potentielles Gesamtbild zu skizzieren. Bei der Untersuchung von Prozessen der Konstruktion von kulturell konnotierten Wirklichkeiten kann es nur einen empirischen Zugang geben. Für die vorliegende Fallstudie wurden zur Analyse der Konstruktionen von Lebenswelten, sozialen Handlungen und der Interpretationsprozesse im Sinne von Selbstund Fremdbeobachtungen verschiedene Forschungsstile kombiniert, unter anderem beispielsweise die interaktionistischen Forschungskonzepte und die der Grounded Theory Methodologie. Diese vereinen Prinzipien, die sowohl von der qualitativen Sozialforschung und den Kulturwissenschaften, wie auch der Interkulturellen Germanistik geteilt werden. Im Sinne einer strategischen Offenheit, unterliegt der gesamte Forschungsprozess im Idealfall einer möglichst offenen Grundhaltung geprägt von einem reflexiven Selbstverständnis. Die Grounded Theory Methodologie ist ein Forschungsstil (vgl. Breuer 2010: 40; Legewie/ Schwervier-Legewie 2004) zur Datenerhebung und Klassifizierung der gewonnenen Daten anhand eines spezifischen Kodierparadigmas. Als theoretische Basis für die GTM dienen die vorgestellten interaktionistischen Ansätze des Symbolischen Interaktionismus (vgl. Bryant/ Charmaz 2007: 20f.; vgl. Charmaz 2016) und des Interaktionistischen Konstruktivismus (Reich 2009). Beiden Ansätzen ist die Grundannahme von der Bedeutung subjektiver Reflexionen gemein. Die Grounded Theory Methodologie ermöglicht einen geeigneten praktischen Zugang zur Wahrnehmungs-, Konstruktions- und Reflexionsebene der Akteur*innen. Kathy Charmaz, die zentrale Vertreterin des konstruktivistischen Ansatzes in der GTM, sieht hier die Stärke einer Verknüpfung von Theorie und Methode © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_3
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
(vgl. Charmaz 2014: 261). Auch Adele Clarke, die die GTM um die Situationsanalyse erweitert, sieht in der Verknüpfung von GTM und Symbolischem Interaktionismus ein kraftvolles Theorie-Methoden-Paket (vgl. Clarke 2012: 44f.). In der Literatur wird sowohl der Begriff „Grounded Theory Methodologie“ als auch der Begriff der „Grounded Theory Methode“ benutzt. Dabei kommt es vor allem im deutschsprachigen Raum zu der Kritik, dass die GTM keine Methodologie im Sinne eines „[...] Systems aufeinander abgestimmter und konsistenter theoretischer wie epistemologischer Aussagen, welche die Methoden der Datensammlung, der Datenfixierung und der Datenanalyse schlüssig und restlos begründen, sondern vielmehr im Wesentlichen eine Sammlung von Praktiken und Techniken [...]“ (Reichertz/ Wilz 2011: 56) ist. Hier soll trotzdem die im amerikanischen übliche Bezeichnung Grounded Theory Methodologie (GTM) verwendet werden, da es sich bei der GTM nicht um eine einzelne Methode, sondern um einen Komplex ineinandergreifender Verfahren handelt. Die oben beschriebenen Ansprüche einer deutschen Methodologie nach dem Ideal der Schlüssigkeit und restlosen Begründung sind genauso wenig real existent, wie Objektivität oder ein*e neutrale*r Beobachter*in. Während die GTM das Forschungsverfahren beziehungsweise die Strategie der Theorieentwicklung bezeichnet, benennt die Grounded Theory (GT) das Ergebnis dieses Verfahrens, die Theorie (vgl. Mey/ Mruck 2011). Das Wort grounded wurde im Deutschen mit „gegenstandsbegründet“ übersetzt, was „in den Daten begründet“ meint:
„Auf Basis von Erfahrungsdaten aus alltagsweltlichen Kontexten werden – von einer vorläufigen Problematisierungsperspektive ausgehend – theoretische Konzepte und Modellierungen entwickelt und dabei fortwährend rekursiv an die Erfahrungsebene zurückgebunden. Die entsprechende Theorie eines sozialen Weltausschnitts bzw. eines Problemthemas wird ,gegenstandsbegründet‘ herausgearbeitet (,grounded‘)“ (Breuer 2010: 39).
Die Bezeichnung grounded weist auf das Idealziel der GTM hin, nämlich die Generierung einer aus den gewonnenen Daten begründeten Theorie. Im Sinne der GTM geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht um die
3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
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Überprüfung einer Hypothese, die aus theoretischem Vorwissen generiert wurde, sondern um die organisierte, kontrollierte und regelgeleitete Aufdeckung beziehungsweise die Konstruktion einer Theorie aus den Daten. „Regelgeleitet“ bedeutet an spezifischen Gütekriterien orientiert. Laut Glaser und Strauss, den Begründern der GTM, sind dies Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Vertrauenswürdigkeit (vgl. Glaser/ Strauss 2010: 235f.). Franz Breuer, einer der stärksten Vertreter einer reflexiven Grounded Theory, hat die Gütekriterien, die Ines Steinke (2000: 324f.) für die Qualitative Forschung allgemein aufgestellt hat, wie folgt als Ideal für die Grounded Theory Methodologie zusammengefasst: • „Intersubjektive Nachvollziehbarkeit: Dokumentation des Forschungsprozesses, Interpretationen in Gruppen, Anwendung kodifizierter Verfahren; • Indikation des Forschungsprozesses: Geeignet des qualitativen Vorgehens, Angemessenheit der Methodenwahl, der Transkriptionsregeln, der Samplingstrategie, der Einzelentscheidungen im Gesamtkontext, der Bewertungskriterien; • empirische Verankerung: Verwendung kodifizierter Methoden, Aufweis von Textbelege, Verwendung Analytischer Induktion, Ableitung prüfbarer Prognosen, kommunikative Validierung; • Limitation: Austesten bzw. Angabe der Grenzen des beanspruchten Geltungsbereichs durch Fallkontrastierung und Suche nach abweichenden Fällen; • Kohärenz: Konsistenz des Aussagensystems, Widerspruchsfreiheit; • Relevanz: praktischer Nutzen; • reflektiere Subjektivität: Selbstbeobachtung des Forschers, Reflexion der Forschungsbeziehung“ (Breuer 2010: 109f.).
Die Anwendbarkeit dieser Kriterien unterscheidet sich je nach Erkenntnisinteresse und Variante der GTM. So unterscheiden sich beispielsweise der Anspruch an Objektivität, die Rolle von Vorwissen und Reflexivität im Forschungsprozess oder die Frage danach, ob Widersprüche als Störung oder
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
als Teil des Materials behandelt werden. Zum Erreichen von Gütekriterien erfolgen Datenerhebung, Analyse und Theoriebildung durch Wiederholung und Verschränkung. Forschen im Sinne der Grounded Theory Methodologie versteht sich als iterativer Prozess. Der Forschungsprozess
„[...] erfordert einen ständigen Wechsel zwischen Handeln (Datenerhebung) und Reflexion (Datenanalyse und Theoriebildung). Analyse und Theoriebildung beginnen bereits mit dem ersten erhobenen Datenmaterial, sie dienen in all ihrer Vorläufigkeit als Startpunkt für eine fortlaufende Präzisierung der Forschungsfrage und für kontinuierliche Hypothesen- und Theoriegenerierung [...]“ (Mey/ Mruck 2011: 23).
Auch die computergestützte, qualitative Datenanalyse schafft Transparenz und Nachvollziehbarkeit im Sinne der Gütekriterien. Per Klick können mit Hilfe spezifischer Computerprogramme Verbindungen und Verhältnisse nachgezeichnet und dargestellt werden, sowie Kategorien und Unterkategorien gebildet werden. Auch Textstellen können verknüpft und mehrfach von unterschiedlichen Kategorien besetzt werden, wodurch Relationen dargestellt werden können. Für die vorliegende Forschung wurden die Daten mit Hilfe der Software MAXQDA organisiert und analysiert. Die größte Differenz zwischen der klassischen GTM nach Glaser und Strauss (1967) und der neueren reflexiven (vgl. Breuer 2010) oder der konstruktivistischen Ausrichtung (vgl. Charmaz 2014) ist die durch Glaser und Strauss geforderte Zurückhaltung beziehungsweise Objektivierung gegenüber theoretischem Vorwissen sowie die Annahme einer möglichen neutralen Beobachtung durch die Forscher*innen (vgl. Hohage 2016: 114f.). Hier wird die zentrale Rolle des Vorwissens in der Theorie- und Methodendebatte deutlich, denn es stellt sich die Frage, welches Wissen aus den Daten kommt (ermergence) und welches Wissen den Daten eine bestimmte Interpretation aufzwingt (forcing) (vgl. Glaser 1992; vgl. Kelle 2011). Dies führte in den 1990er Jahren zu einem Paradigmenwechsel, nämlich zur konstruktivistischen Wende der Grounded Theory, deren zentrale Vertreterin Kathy Charmaz ist. Sie fordert für die GTM, „[...] den Forschungsprozess in seiner Gesamtheit als Herstellungsprozess zu betrachten und Beobachter und
3.1 Konstruktivistische Grounded Theory Methodologie
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beobachtete Akteure bzw. Phänomene gleichermaßen in ihrer Situiertheit in Raum, Zeit und Kultur zu reflektieren [...]“ und betont, „[...] dass die Ergebnisse empirischer Forschung stets als Konstruktion zu betrachten sind, die auf einem Co- Produktionsverhältnis zwischen Beobachter und Beobachteten beruhen“ (Hohage 2016: 108). Daher bezeichnet Charmaz bei ihren Gegenüberstellungen, unter Berücksichtigung der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung durch die Trennung von Glaser und Strauss, die klassische GTM als objektive GTM (vgl.Charmaz 2008: 401f.; vgl. Charmaz 2011: 196), auch wenn die strikte Abgrenzung nicht ohne Kritik ist (vgl. Strübing 2014: 99; vgl. Hohage 2016: 109). 3.1 Konstruktivistische Grounded Theory Methodologie Die klassische beziehungsweise objektive Grounded Theory Methodologie nach Glaser/ Strauss hatte das Ziel aus Daten eine Theorie im Sinne einer universellen Wahrheit zu generieren. Wichtig war dabei zu Anfang nicht die Rolle der Forscher*innen, sondern das genaue Befolgen der von Glaser und Strauss aufgestellten Verfahrensschritte. Das Wissen der Forscher*innen und ihr Einfluss auf die Datenerhebung und Analyse spielte zunächst keine Rolle (vgl. Reichertz/ Wilz 2016: 52f.). Während die objektivistische GTM induktiv arbeitet, was bedeutet, dass die Erkenntnis hauptsächlich aus dem Material hervorgeht, geht die konstruktivistische Grounded Theory Methodologie (im Folgenden auch kGTM) davon aus, dass Wissen schon vorher existiert und stärker als bisher für den Forschungsprozess reflektiert werden muss. Dies findet durch bestimmte Forschungsstrategien, größtmögliche Reflexivität und die Abduktion als Forschungslogik praktische und theoretische Anwendung: „Die objektivistische Grounded-Theory-Methodologie geht – dem Positivismus folgend – von der Entdeckung von Daten in einer Außenwelt durch neutrale, aber sachkundige Beobachter/innen aus, deren Konzeptualisierungen, aus den Daten entspringen‘. Daten sind von der Beobachtung unabhängige Tatsachen, die nach objektivistischer Auffassung ohne Vorurteil oder Vorverständnis betrachtet werden sollten. Demgegenüber wurzelt die konstruktivistische Groun-
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
ded-Theory-Methodologie im Pragmatismus und in einer relativistischen Epistemologie. Sie geht von multiplen Wirklichkeiten – und von multiplen Perspektiven auf diese Wirklichkeiten – aus. Daten sind weder unabhängig von denen, die beobachtet werde, sondern sie werden durch Interaktion gemeinsam konstruiert“ (Charmaz 2011: 192).
Auch wenn Charmaz die konstruktivistische Grounded-Theory-Methodologie von der objektivistischen abgrenzt, übernimmt die kGTM „[...] den induktiven, komparativen, emergenten und offenen Ansatz der klassischen Version von Glaser und Strauss“ (Charmaz 2011: 219). Die konstruktivistische Ausrichtung setzt eine Sensibilität der Forscher*innen heraus, die im Sinne des Symbolischen Interaktionismus als Teil des Feldes in der Lage sind, zu sehen, zu ordnen und zu verstehen. Die Abduktion selbst ist nicht das Ergebnis dieser Betrachtungen, sondern Ausgangspunkt oder Impuls: „Abduktives Denken entspringt der Erfahrung, führt zu logischen, aber kreativen Schlussfolgerungen und nutzt die Überprüfung dieser Schlussfolgerungen anhand von Hypothesen, um zu einer plausiblen theoretischen Erklärung der Erfahrung zu gelangen“ (Charmaz 2011: 192). Die Forscher*innen wechseln mehrfach zwischen dem Feld und der hierin zu leistenden Datenerhebung, der Datenanalyse und einer Konzeptionalisierung der Grounded Theory, um zu erklären und Kategorien zu entwickeln. Dabei werden sie von theoretischem Vorwissen und persönlicher Erfahrung – auch „theoretische Sensibilität“ genannt (vgl. Glaser/ Strauss 2010: 62f.) – unterstützt. Obwohl Strauss seine Forschungslogik selbst als induktiv bezeichnet, gibt es Arbeiten, die Strauss eine durchaus abduktive Forschungslogik zusprechen (vgl. Reichertz 2011: 60f.). Denn schon bei Strauss gibt es das Ideal des größtmöglichen Kontextwissens für die Forscher*innen, dass einerseits durch die Kenntnis vieler Theorien, andererseits durch einen Erfahrungsschatz generiert wird (vgl. Strauss 1994: 36f.). Die hier angewendete Grounded Theory ist konstruktivistisch reflexiv orientiert. Das heißt, für die Analyse von sozialen Welten werden ebenso die wissenden als auch die forschenden Subjekte als Expert*innen herangezogen. Dabei geht man nicht von universellen Wahrheiten oder forschender Autorität aus. Vielmehr gehört das Bewusstsein für die Begrenztheit von Perspektiven, der Situiertheit von Wissen und die Anerkennung von Differenz ebenso zum
3.1 Konstruktivistische Grounded Theory Methodologie
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Forschungsprozess wie die Konstruktion sozial oder kulturell vortypisierter Deutungsarbeit auf Seiten der Akteur*innen und der Forschung. Empirische Forschungsergebnisse sind dem entsprechend als Konstruktionen zu betrachten, die in der Interaktion zwischen Beobachter*innen und Beobachteten produziert werden. Die Forschungsergebnisse sowie die im Idealfall generierte Theorie sind Interpretationen (vgl. Charmaz 2014: 17). Durch eine selbstreflexive Komponente (vgl. Breuer 2010) wird dem Anspruch Rechnung getragen, dem Forschungsprozess und den Ergebnissen gegenüber ebenfalls das Vorwissen der Forscher*innen zu berücksichtigen. Dies geschieht in der hier vorliegenden Arbeit, indem die Interviews als Gespräche zwischen zwei Beobachter*innen verstanden werden.
„Es ist erforderlich, dass wir uns selbst, unsere Forschungssituation, den Forschungsprozess und seine Erzeugnisse genau betrachten. Wir können lernen, unsere Standpunkte zu erkennen, neue Perspektiven einzunehmen und uns so in andere Richtungen wenden als Kolleg/innen, die sich ausschließlich auf ihre Forschungsteilnehmenden konzentrieren. Auf diese Weise können wir genau betrachten, wie wir die Wirklichkeit konstruieren und rekonstruieren“ (Charmaz 2011: 183 [Hervorhebung im Original]).
Der konstruktivistische Ansatz der kGTM hat im Gegensatz zur klassischen GTM nicht die Generierung einer allgemeinen Theorie, sondern die Entwicklung von situationsbezogenem Wissen zum Ziel (vgl. Charmaz 2011: 190):
„Die konstruktivistische GTM [...], versteht Wissen als sozial hergestellt, anerkennt multiple Standpunkte sowohl der Forschungsteilnehmer/innen als auch der Forscher/innen und nimmt eine reflexive Haltung gegenüber unseren Handlungen, gegenüber Situationen und Teilnehmenden im Forschungs-Setting und auch gegenüber unseren eigenen analytischen Konstruktionen ein [...]“ (Charmaz 2011: 184).
Zu untersuchende Phasen der Erkenntnis existieren sowohl auf Seiten der Akteur*innen als auch der Forscherin. Die neutrale Beobachter*in gibt es
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
nicht und bereits im Theorieteil wurde die Rolle der Beobachter*in für Interaktion und Erkenntnis ausführlich diskutiert. Im Folgenden soll dies praktisch nutzbar gemacht werden. 3.2 Die Forscher*in als Beobachter*in Während Vertreter*innen einer objektivistischen Herangehensweise „nur“ Besucher*innen der Lebenswelt der Akteur*innen sind, tauchen Vertreter*innen eines konstruktivistischen Ansatzes so weit wie möglich in eine solche ein. Sie wissen um die Relativität und Bedingtheit der Daten sowie um die Subjektivität ihrer Beobachtungen. Die Forscher*innen sind gleichermaßen Übersetzer*innen der Daten und sie sind sich bewusst, dass die Analyse aufgrund der Prozesshaftigkeit des ganzen Forschungskomplexes situational und unvollständig ist.
„Eine reale Welt existiert, sie ist aber nie unabhängig von den Betrachter/innen, die sie von multiplen Standpunkten aus sehen können und deren Sichtweisen sich von den Standpunkten und Wirklichkeiten der Forschungsteilnehmer/innen unterscheiden können. Selbstverständlich können Handlungen von Forschungsteilnehmer/innen auch scharfe Differenzen untereinander offenbaren. Die konstruktivistische GTM geht davon aus, dass wir Wissen produzieren indem wir uns mit empirischen Problemen auseinandersetzen. Wissen beruht auf sozialen Konstruktionen. Wir konstruieren Forschungsprozesse und die Produkte der Forschung, aber diese Konstruktionen finden unter existierenden strukturellen Bedingungen statt, ergeben sich in emergenten Situationen und werden von den Perspektiven, Privilegien, Positionen, Interaktionen und geografischen Standorten der Forscher/innen beeinflusst“ (Charmaz 2011: 184).
Der Forschungsprozess ist von einem interaktiven Charakter geprägt. Die interaktive Teilnahme gilt als Methodik „[...] für eine Rahmung und Anleitung von Untersuchungen subkultureller Felder, ,kleiner sozialer Welten‘ und der Probleme und Sichtweisen ihrer Mitglieder mithilfe interaktiver Teilnahme der Forschenden [...]“ (Breuer 2010: 39). Die Akteur*innen – das gilt in demselben Maße für den vorliegenden Forschungsgegenstand –
3.2 Die Forscher*in als Beobachter*in
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sind nicht bloßes Forschungsobjekt, sondern Gesprächspartner*innen beziehungsweise Expert*innen und die Forscherin wird im Reflexionsprozess selbst zum Gegenstand. Dies soll nicht im Sinne einer Nabelschau verstanden werden, sondern bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial und den methodischen Folgerungen. Dazu gehören unter anderem die Fragen danach, welche Vorerfahrungen die ersten Kodes beeinflussen könnten und was miteinander verglichen wird (Breuer 2010: 136f.). Die hier notwendige theoretische Sensibilität ist geprägt durch die eigene Lebenserfahrung als Mitglied der Lebens- und Erfahrungswelt „Studienstandort China“ und der regelmäßigen Rezeption von Literatur und Medien mit den Schwerpunktthemen „Leben im Ausland“ und „Chinaaufenthalt“. Zu Beginn der hier vorliegenden Datenerhebung lebte die Verfasserin bereits etwas mehr als drei Jahre im chinesischen Nanjing. Durch den eigenen Auslandsaufenthalt entwickelte sich ein allgemeines Interesse am Alltag deutscher Student*innen in der Universitätsstadt Nanjing. Der Zugang zum sozialen Feld war bereits vorhanden, da sie selbst als deutsche Studentin ein Jahr in China studiert hatte und anschließend dortblieb, um zunächst als Ortslektorin und dann als DAAD-Lektorin mit chinesischen Student*innen zu arbeiten. Als Akteurin des Feldes beobachtete sie nicht nur andere, Chinesen wie Nicht-Chinesen, sondern auch sich selbst. Der Blick war dabei geprägt vom Hin- und Herpendeln zwischen Feldbezug, nämlich dem persönlichen Alltag in China und wissenschaftlicher Distanznahme bei der Datenerhebung und -auswertung. Gleichzeitig stand die Forscherin im Austausch mit den ausländischen Student*innen und deren Lebenswelt im Privaten, aber auch mit chinesischen Student*innen über die eigene Tätigkeit als Lektorin. Die Daten bestehen letztendlich nicht nur aus den Interviews, sondern auch aus der aktiven Teilnahme im Feld und Beobachtungen, wodurch ein weiter Datenbegriff entsteht. Die Interviews wurden im Forschungskontakt interaktiv innerhalb der gemeinsamen Umgebung geführt. Als Forscherin und Gesprächspartnerin gibt es keine vermeintliche Objektivität oder unangemessene Einwirkungen auf das Gespräch. Vielmehr können eigene Wahrnehmung und Reflexionen durch Ansprechen und die Einladung diese zu hinterfragen und zu diskutieren, für den Erkenntnisprozess fruchtbar gemacht werden. Somit ist die Gesprächsform das Interviews als interpersonelles Drama zu betrachten: „Der Interviewer kann sich dabei in
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
der Position des Regieführenden wie des Mitakteurs betrachten“ (Breuer 2010: 63). Ein Interview wird zu einem Gespräch, in dem Wahrnehmungen und Deutungen interaktiv reflektiert und (selbst-) kritisch hinterfragt werden. „Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, wenn sich der Forschende im Laufe des Gesprächs in seiner Haltung zur behandelten Thematik (etwa durch vorsichtiges Ansprechen eigener Erfahrungen, Haltungen, Reflexionen) ’sichtbar macht’ bzw. zu erkennen gibt, um so ergänzende Erzählungen, gemeinsame Abwägungen und Vertiefungen von Überlegungen anzuregen. [...] Häufig herrscht auch die Befürchtung unangemessener Einflussnahme auf den Gesprächspartner und den Gesprächsverlauf. Reaktive Effekte sind in Situationen dieser Art jedoch unvermeidlich – davon war bereits die Rede: Als Gesprächsteilnehmer beeinflusse ich ihn so, wie der auch mich beeinflusst. Es kann nicht darum gehen, diese Auswirkungen zu vermeiden – es kommt vielmehr darauf an, mit ihr reflektiert umzugehen und sie zu einer positiven Erkenntnisquelle zu machen“ (Breuer 2010: 64).
Dieses Sichtbar-Machen der Forscher*innen führt zu Überlegungen, in wie weit sich Forscher*innen und Gesprächspartner*innen gegenseitig beeinflussen, zum Beispiel durch eine Änderung der Gesprächsführung. So waren im vorliegenden Fall die ersten Gespräche stärker am Leitfaden orientiert und öffneten sich im weiteren Verlauf durch gewonnene neue (Ein-) Blicke. Auch auf Seiten der Akteur*innen ist aufgrund der Nachgespräche davon auszugehen, dass die Gespräche Einfluss auf die zukünftige Auseinandersetzung und Reflexion über China hatten. Die Interaktionseffekte sind somit als Ressource zu verstehen. 3.3 Forschung als Interaktion und Konstruktion Als forschende Akteur*in ist die Forscherin Teil des Felds. Als Deutsche in Nanjing, speziell im Universitätsviertel um den Gulou-Campus verortet, kreuzen sich die Wege mit anderen Deutschen zwangsläufig. Gerade zu Beginn des Semesters ergab sich der ethnographische Zugang ins Feld beinahe automatisch, da sich innerhalb der Alltagsgestaltung vor Ort Einladungen
3.3 Forschung als Interaktion und Konstruktion
63
und Veranstaltungen ergaben, bei denen sich die Autorin in der Lebenswelt der dort so genannten „Internationals“1 bewegte und diese ebenso mitkonstruierte. Deutsche und andere „Internationals“ besuchen die in der Regel verpflichtenden Chinesischsprachkurse auf dem Gulou-Campus, essen zusammen in Restaurants um den Campus herum und besuchen abends die gleichen Bars und Clubs. Für die Rolle als Forscher*in, die also die Lebenswelt der Akteur*innen selbst erlebt hat, bedeutet das, dass nicht frei von subjektiven Vorerfahrungen gesprochen werden kann:
„Der Kontakt zwischen Forscher/in und Untersuchungspartner/in findet in dieser [gemeinsam geteilten Lebens-] Welt statt, ist eine Form von Interaktion in einem bestimmten sozialen Rahmen, der eine wesentliche Einflussgröße für den interpersonalen Kontakt und dessen Inszenierung darstellt – und damit für das, was bei wissenschaftlichen Untersuchungen an Erkenntnis zu Tage gefördert wird“ (Breuer 2010: 20f).
Der Blickwinkel auf die alltagsweltlichen Lebenserfahrungen verortet sich einmal innerhalb und einmal außerhalb der Lebens- und Erfahrungswelten. Die Perspektive auf die Lebenswelt der Akteur*innen ist also mehrdimensional. Das formale und informale Verständnis von Lebenswelten ist als großer Gewinn der Grounded Theory Methodologie zu sehen. Beide Beobachter*innenpositionen, die der Akteur*innen, als auch die der Forscherin befinden sich im Wechselspiel von Selbst- und Fremdbeobachtungen. Die Akteur*innen werden von der Forscher*in zu Objekten konstruiert, während diese gleichzeitig im Prozess der Fremdbeobachtungen selbst Objektmodellierungen vornehmen. Ein*e Akteur*in ist somit zu verstehen
„[...] – als ein Wesen [...], das grundsätzlich in der Lage ist, über sich selbst, über seine Verbindungen mit der gegenständlichen, sozialen und geistig-kulturellen Umwelt, über seine Weltwahrnehmungen und 1
Während die Chines*innen alle Nicht-Chines*innen als lˇaowài ( - Ausländer*innen) bezeichnen, benennen diese sich selbst in der dominierenden Verkehrssprache Englisch als „Internationals“ oder unter Deutschen als „Internationale“.
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
-deutungen, seine Lebensgeschichte, seine sozialhistorische Einbindung zu reflektieren und Auskunft zu geben – sowie diese auch mit zu gestalten“ (Breuer 2010: 19).
Forscher*innen bieten eine Interpretation an, die vom eigenen Vorwissen und Blickwinkel abhängig ist, weswegen die Datenerhebung und -auswertung mehr Konstruktion und Interpretation als Entdeckung ist und somit eine reflexive Haltung im Forschungsprozess notwendig macht. Die GTM baut
„[...] auf Wahrnehmungssensibilitäten, Deutungskompetenzen und sprachliche Fähigkeiten des Wissenschaftlers [...] [auf], die er in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen erworben hat. Diese sozialen und kognitiven Praktiken werden in bestimmter Weise expliziert, systematisiert, elaboriert sowie einer selbst-/kritischen Hinterfragung bzw. Absicherung unterzogen“ (Breuer 2010: 39).
3.4 Transkriptionssysteme – Transkribieren als Tätigkeit Transkriptionen sind Interpretationen (vgl. Stanitzek 2002: 7) von Reflexionen der Gesprächsteilnehmer*innen, die diese selbst erst interpretieren müssen, um sie im Gesprächsprozess äußern zu können. Die Verschriftlichung des Gesagten ist selektiv re-/ konstruierend (vgl. Breuer 2010: 66). Transkriptionen bewegen sich zwischen der praktischen Machbarkeit einer möglichst realen Abbildung des Gesprächsprozesses und der subjektiven Wahrnehmung beziehungsweise den Konstruktionen der transkribierenden Person. Ein Beispiel hierfür sind die Setzung von Kommata oder ein neuer Satzbeginn. Es existieren unterschiedliche Transkriptionssysteme (vgl. u.a. Ehlich/ Rehbein 19762 ; Hoffmann-Riem 1984; Selting u.a. 19983 ; Kuckartz 2008; Dresing/ Pehl 2015) mit einem je eigenen Anspruch auf Detailtreue. 2 3
HIAT-System: Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen. Hauptfelder sind die Linguistik und Konversationsanalyse. GAT- System: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem. Hauptfeld ist die Konversationsanalyse.
3.4 Transkriptionssysteme – Transkribieren als Tätigkeit
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Je nach Ausrichtung – zum Beispiel linguistischem Forschungsinteresse oder der Konzentration auf eine inhaltliche Analyse – werden Intonationen, Lautstärke und Dehnungen in die Transkriptionen mit aufgenommen. Die hier vorliegenden Transkriptionen sind, so weit wie möglich, wortgetreue Abschriften des Gesagten nach erweiterten Regeln, wonach beispielsweise auch Wiederholungen, Bestätigungssignale, Stottern und Pausen markiert sind. So wurden zum Beispiel Phasen der Überlegung durch eine Klammer und ein bis drei Auslassungspunkte gekennzeichnet. Insgesamt wurden Entscheidungen, welche Textmerkmale berücksichtigt werden sollen und welche Art von Informationsverlust akzeptabel ist, zugunsten der Lesbarkeit und des Textflusses getroffen – es gilt: Inhalt vor Sprache. So wurden zum Beispiel Intonationen geglättet. Soweit möglich wurden Pausen, Dialekte und nonverbale Zeichen mitberücksichtigt. Sprechpausen werden in zwei Längen differenziert: kürzere Pausen werden durch „(.)“ markiert und längere sind durch „(. . . )“ gekennzeichnet. Auch Laute der Überlegung (zum Beispiel „Ähm“ oder „Hm“) sowie unvollständige Worte und Unverständlichkeiten wurden mitaufgenommen. Ebenfalls aus Gründen der Lesbarkeit wurden den Gesprächsfluss fördernde Füllwörter und -laute des aktiven Zuhörens wie „Hm“ oder „okay“ in doppelt eckiger Klammer im Fließtext und nicht in einer Extrazeile eingefügt. Zur Verdeutlichung sei hier eine Darstellung des angewandten und vereinfachten Transkriptionssystems angelehnt an Lamnek (2010)4 angezeigt: (siehe Tabelle auf der nächsten Seite) Die Verschriftlichung des Mündlichen ist dabei stets als ein Prozess zu verstehen, um Erzähltes lesbar zu machen, wobei die Darstellungsmöglichkeiten jedoch nicht unproblematisch sind: Eine zu große Auswahl an Transkriptionselementen stört die angestrebte Lesbarkeit beziehungsweise Lesbarmachung, eine zu kleine Auswahl führt im schlimmsten Fall zu Datenverlust oder Missinterpretation.
„Je präziser und detaillierter die Verschriftlichung ausgearbeitet wird, desto unreliabler wird sie [...]. Realibilitäts-Streben setzt eher ’flache’ Transkriptionen in Vorteil. [...] Transkriptionen sind Angebote 4
Online-Material zu Lamnek 2010 (Stand: 22.11.2014).
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
(.) (. . . ) []
[[hm]] A: Text, Text [B: Textüberschneidung Textüberschneidung] . . . Text, Text. , , etc.
kurze Pause, kurzes Absetzen längere Pause [Handy klingelt]; [schüttelt den Kopf] als Marker nonverbaler Gesten bzw. interviewunabhängiger Ereignisse Einwürfe der Interviewerin Textüberschneidungen oder Unterbrechungen Anonymisierung
möglicher Lesarten von Interaktionsereignissen, Erlebensweisen der Situations-/ Interaktions-Beteiligten wie auch der nachträglichen Rezipientinnen“ (Breuer, 1999: 252f.).
Gemäß dem Analysestil der Grounded Theory Methodologie wurden im Falle der hier angestrebten Datenerhebung die allerersten Interviews zeitnah verschriftlicht, um die ersten Analyseergebnisse in die folgenden Gespräche einfließen zu lassen. Wie bereits erwähnt, zeichnen sich Studien im Sinne der GTM durch ihre Offenheit und einen stark explorativen Charakter aus. Zu Beginn einer Studie ist demzufolge noch unklar, was für den weiteren Forschungsprozess oder die Theorieentwicklung relevant ist und was nicht. Die Entwicklung der ersten Kategorie-Ideen aus den Transkriptionen heraus findet daher begleitend statt und wird im Verlauf des Forschungsprozesses in so genannten „Memos“ festgehalten. Memos sind Notizen von auf die gewonnenen Daten bezogenen Überlegungen und Reflexionen zu Zusammenhängen und Hypothesen, die im Sinne eines Forschungstagebuchs regelmäßig notiert werden. 3.5 Kodieren als Herzstück Das Kodieren gilt als Herzstück der Grounded Theory Methode und ermöglicht es idealerweise, „theoretische Konzepte und Strukturen extrahieren und destillieren zu können“ (Breuer 2010: 69). Kodieren bedeutet die
3.5 Kodieren als Herzstück
67
Zuordnung (aufgezeichneter Phänomene oder Ereignisse) zu einem auf Kategorien basierenden theoretischen Vokabular, also zu verallgemeinernden Begriffen. Für die vorliegende Forschung bietet sich diese Methode auch durch ihre „konsekutiv- iterativ- rekursive[n] Strategie[n] des Hin und Her, des Vor und Zurück zwischen Datenerhebung, Konzeptbildung, Modellentwurf und Modellprüfung sowie der Reflexion des Erkenntniswegs“ (Breuer 2010: 69) an. Dies trägt vor allem dem begleitenden Charakter des hier vorliegenden Forschungsvorhabens Rechnung: Jedes Semester trafen neue Student*innen in Nanjing ein, wodurch sich ein natürlicher Zyklus und die Möglichkeit zur Multiperspektivität ergeben hat. Bereits der erste Studierendenzyklus wurde teilweise in die erste Konzeptbildung und in die weitere Datenerhebung miteinbezogen, sodass durch die Kodierung „Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt“ und so prozessual „aus den Daten Theorien entwickelt werden“ konnten (Strauss/ Corbin 1996: 39). In der klassischen beziehungsweise objektiven GTM besteht das Kodierverfahren aus den drei Schritten offenes, axiales und selektives Kodieren. Diese Kodierprozeduren können sowohl aufeinander folgen als auch immer wieder neu durchlaufen werden. Zunächst soll hier kurz das weit verbreitete Kodieren nach Strauss und Corbin vorgestellt werden, um anschließend auf das Kodierverfahren von Kathy Charmaz mit seiner spezifischen Zielsetzung und Re-/ Konstruktionslogik zu sprechen zu kommen. Die Datenanalyse und Kodierung wurde mit Hilfe der computergestützten Datenanalyse durchgeführt. Kodes emergieren aus den Daten und führen zu datenbegründeten Kategorien oder im Idealfall zu Theorien. Dabei sollten die Kodes und Kategorien Gegenstandsnähe haben und doch Idealisierungen und Abstraktionen darstellen:
„Es gibt bestimmte allgemeine Fragen, die gleichsam automatisch an die Daten gestellt werden können. Jede Frage regt eine Reihe spezifischerer und davon abgeleiteter Fragen an, die wiederum der weiteren Entwicklung von Kategorien, Eigenschaften und ihren Dimensionen dienen. Diese grundlegenden Fragen lauten Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel? und Warum? (Strauss/ Corbin 1996: 58 [Hervorhebungen im Original]).
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
Bei der Sichtung der ersten Transkriptionen wählen Forschende aus, was nach dem momentanen Verständnis relevant zu sein scheint. Die ersten Kodes oder potenziell späteren Kategorien werden dicht am Text und möglichst offen gebildet, auch bekannt unter dem Stichwort des offenen Kodierens. Während des offenen Kodierens werden Konzepte identifiziert und Kodes mit anderen Kodes in Beziehung gesetzt, Daten werden befragt und miteinander auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin verglichen. Dies geschieht anhand von Assoziationen und Interpretationen, der Markierungen von spezifischen Begriffsbildungen und Mehrfachnennungen, die sowohl Wort für Wort, Satz für Satz oder in einem Textsegment passieren. Die Kodes werden benannt, selektiert und sortiert. Dabei ist zu unterscheiden zwischen theoretischen und so genannten in-vivo-Kodes (vgl. Breuer 2010: 77f.). Die theoretischen Kodes sind Erfindungen beziehungsweise Abstraktionsleistungen, Wortschöpfungen oder Anknüpfungen an existierende wissenschaftliche Konzepte. In-vivo-Kodes sind demgegenüber von den Gesprächspartner*innen übernommene Begriffe. Die durch das offene Kodieren aufgebrochenen Daten werden beim axialen Kodieren wieder neu zusammengefügt und zu Kategorien gruppiert, die die Basis einer Grounded Theory darstellen. Strauss und Corbin haben das axiale Kodieren in vier simultane, voneinander getrennte analytische Schritte eingeteilt: „a) das hypothetische In-Beziehung-Setzen von Subkategorien zu einer Kategorie [...]; b) das Verifizieren dieser Hypothesen anhand der tatsächlichen Daten; c) die fortgesetzte Suche nach Eigenschaften der Kategorien und Subkategorien und nach der dimensionalen Einordnung der Daten [...], auf die sie verweisen; d) die beginnende Untersuchung der Variationen von Phänomenen [...]“ (Strauss/ Corbin 1996: 86 [Hervorhebungen im Original])
Erste, hypothetische Kategorien werden miteinander verglichen und klassifiziert, wodurch neue Kategorien und Subkategorien entstehen. Beim axialen Kodieren ist für die Suche nach Relevanz und Zusammenhängen die
3.5 Kodieren als Herzstück
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Technik des Vergleichens zentral (vgl. Glaser/ Strauss 2010: 115f.). Beim selektiven Kodieren schließlich werden die Kategorien des axialen Kodierens weiter abstrahiert und theoretisch sortiert. Zwar ist es möglich, dass mehrere zentrale Kategorien sichtbar gemacht werden (vgl. Breuer 2010: 92), doch im Idealfall emergiert eine zentrale Kernkategorie, um die die anderen Kategorien der jeweiligen Forschungslogik entsprechend angeordnet werden (vgl. Breuer 2010: 75). Die ausgewählte Kernkategorie stellt das konzeptionelle Zentrum der entwickelten Theorie dar. Aus der Wahl der Kernkategorie ergibt sich idealerweise die so genannte Story Line (vgl. Strauss/ Corbin 1996: 94f.), der rote Faden der Geschichte, der Bogen für die Ergebnisdarstellung, die Fokussierungsperspektive der Themenbearbeitung beziehungsweise die gegenstandsbezogenen Theorie (vgl. Breuer 2010: 92). Das Kodieren im Sinne der Grounded Theory Methodologie hat nicht den Anspruch, die eine Wahrheit herauszufinden, sondern es geht um die Entdeckung und Komposition möglicher Bedeutungen und Sinnebenen unter dem Aspekt des jeweiligen Blickwinkels. Jede Verständnisvariante ist mit einer spezifischen Beobachter*innenperspektive verbunden.
„Beim Kodieren geht es nicht um das Herausfinden des wahren Sinns, der wahren Be-/Deutung im Einzelfall [...]. Das herauszufindend ist nicht Ziel und Anspruch der Kodierprozedur in der GTM – und diese Charakteristik unterscheidet sie von Deutungsverfahren wie beispielsweise der Psychoanalyse oder der so genannten Objektiven Hermeneutik. Vielmehr steht das Entdecken, Sammeln, Zusammenstellen möglicher Lesarten, potentieller Bedeutungen, Sinnebenen und -aspekte von Daten, eines Textsegments o. Ä. im Mittelpunkt: Auf welche durchaus unterschiedlichen Weisen kann man die Aussage bzw. eine bestimmte sprachliche Ausdrucksweise verstehen? Und welche Voraussetzungen oder Implikationen sind mit den jeweiligen Verständnisvarianten verbunden (Prä-Konzepte, Perspektiven, Werthaltungen u. Ä.)? [...] Das Ziel besteht nicht in der Diagnose von Merkmalen, Intentionen o. Ä. einer spezifischen Person. Die Daten eines Untersuchungsteilneh-
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
mers werden vielmehr dazu benutzt, um Vorstellungen über Grundkonzepte, Komponenten, Dimensionen, Bedingungsgefüge, Verlaufsmuster o. Ä. zu entwickeln, die zu einer Beschreibung der möglichen Varianten von Phänomenen und Prozessen in einem Handlungsfeld oder in einer Subkultur sowie zu deren Verständnis und Erklärung beitragen können“ (Breuer 2010: 78f. [Hervorhebungen im Original]).
Strauss und Corbin und vorher Strauss (1993) und Glaser (1978) haben unterschiedliche Kodierungskonzepte angeboten, die hier nur kurz genannt werden sollen.5 Strauss‘ Paradigmatisches Modell, das später in seiner aktualisierten Form auch „Kodierparadigma“ genannt wird, zeichnet sich durch seine interaktionistische Handlungsorientierung aus. Dessen Kausalitätslogik sollte jedoch kritisch gesehen werden, da diese der angestrebten Offenheit der GTM durch die Festlegung apriorischer Grundannahmen widerspricht (vgl. Breuer 2010: 85; Glaser 1992). Gleiches gilt für die sogenannte Bedingungsmatrix (Strauss/ Corbin 1996: 132f.): „Mit Hilfe dieser Matrix können sogenannte Bedingungspfade rekonstruiert werden: Die Ursachen und Konsequenzen eines Phänomens, einer Handlung, einer Interaktion lassen sich dabei über die unterschiedlichen Ebenen hinweg fokussieren und spezifizieren“ (Breuer 2010: 89). Auch Glasers Konzept der Kodierfamilien besitzt kausalen Charakter, da er nicht zuletzt Kodes unter anderem zu „Kausalitäts- und Prozess- Familien“ (vgl. Glaser 1978: 72f.) zusammenfasst. Kathy Charmaz, deren Doktorvater Anselm Strauss war und die vom Pragmatismus und von Glasers Konzept der Kodierfamilien beeinflusst wurde (vgl. Charmaz 2011: 183), kritisiert: „[...] Strauss’s Coding paradigma and Glaser’s theoretical codes appear to undermine one of the basic principles of GTM: an openminded, framework- free orientation to the research domain at the outset“ (Bryant/ Charmaz 2007: 18). Das Kodierverfahren der konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie zeigt trotz aller Debatten Gemeinsamkeiten zu Glaser, zu Strauss und zu Strauss/ Corbin; und ist dennoch anders. Das Kodieren ist hier drei5
Zu Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Glaser und Strauss speziell zum Kodieren und den unterschiedlichen Schwerpunkten in der Entwicklungsgeschichte gibt es zahlreiche Abhandlungen (vgl. Mey/ Mruck 2011: 36f.; Bryant/ Charmaz 2007: 31f.; Charmaz 2011; Breuer 2010: 85f.).
3.5 Kodieren als Herzstück
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geteilt: initial, focused und theoretical coding (vgl. Thornberg/ Charmaz 2014). Initial und focused coding sind eigenständige Phasen, zwischen denen Forschende hin und her wechseln können. Das theoretical coding folgt auf den ersten beiden Phasen (vgl. Charmaz 2014: 150). Überspitzt ausgedrückt entspricht das initial coding dem offenen Kodieren und das focused coding dem selektiven Kodieren. Zum axialen Kodieren nimmt die konstruktivistische Grounded Theory eine kritische Haltung ein. Das Kodierparadigma wird als zu eng angesehen, was zu einem technisierten und schwerfälligen Forschungsprozess führe. Die kGTM postuliert stattdessen offene und flexible Leitlinien und präferiert die Konturierung der Kategorien, deren Ausdifferenzierung und Priorisierung, sowie die Bestimmung von Relationen im focus coding (vgl. Hohage 2016: 118). Dies geschieht vor allem durch beständiges Vergleichen unter Einbeziehung theoretischer Perspektiven. Mögliche Vergleichstätigkeiten sind: • „[...] vergleichen und gruppieren von Kodes, und vergleichen von Kodes mit in der Entwicklung befindlichen Kategorien; • vergleichen von Ereignissen (z.B. von sozialen Situationen, Prozessen oder Interaktionsmustern); • vergleichen gleicher oder ähnlicher Phänomene, Handlungen oder Prozessen in unterschiedlichen Situationen und Kontexten; • vergleichen von Personen (ihren Überzeugungen, Situationen, Handlungen, Darstellungen oder Erfahrungen); • vergleichen von Daten der gleichen Person zu unterschiedlichen Zeitpunkten; • vergleichen spezifischer Daten mit den Kriterien der Kategorie; • vergleichen von Kategorien im Rahmen der Analyse“ (Hohage 2016: 119 [dt. Übersetzung nach Thornberg/ Charmaz 2014: 159f.]).
Ziel ist die Untersuchung möglicher Beziehungen zwischen den Kodes beziehungsweise Kategorien aus der Initial und der Focused Coding- Phase mit Hilfe von herangezogenen Theorien und Ideen. Dies setzt die von Glaser
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3 Grounded Theory Methodologie (GTM)
propagierte Theoretische Sensibilität („Theoretical Sensitivity“, 1978) voraus (vgl. Charmaz 2014: 150f.). Theoretische Sensibilität ist als fachliches oder persönliches Vorwissen zu sehen. Bei Glaser ist das Theoretical Coding an die Kodierfamilien angelehnt und hat leitenden Charakter, während bei Charmaz größtmögliche Offenheit propagiert wird. Bei der Frage nach der Berücksichtigung vorheriger theoretischer Konzepte für die Forschung unterscheidet sich das Kodiersystem der klassischen GTM von der kGTM. Im Gegensatz zur GTM ist das Kodieren der konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie eng verbunden mit der Integration von theoretischem oder persönlichem Wissen in den Forschungsprozess (vgl. Hohage 2016: 109). Somit rücken hier das Subjekt und seine Konstruktionsleistungen in den Vordergrund und unterstreichen den subjektiven Ansatz vor der Struktur und dem Wunsch nach Objektivierungen und Abstraktionen. Theoretical Coding folgt in der kGTM abduktiver Forschungslogik (vgl. Thornberg/ Charmaz 2014: 160f.). Die kGTM gilt somit als Erneuerung der klassischen GTM und ist „[...] ein erheblicher qualitativer Sprung. Dieser verschafft der GTM nicht nur eine höhere Anschlussfähigkeit an aktuelle Diskurse in den Sozialwissenschaften [...], vielmehr entwickelt sich hieraus [...] ein spezifischer Forschungsstil, der perspektivisch darauf ausgerichtet ist, die Relevanz der Wissensbestände der Forschenden sowie der Wissenschaft als Diskursfeld anzuerkennen, und dem Untersuchungsfeld, den Stimmen der Interaktionspartner im Forschungsprozess, bewusst mehr Raum zu bieten, als Strauss oder Strauss/Corbin dies in ihren Konzeptionen der GTM getan haben“ (Hohage 2016: 122).
Das Kodieren kann als Verbindung zwischen den Daten und der Theorie betrachtet werden (vgl. Charmaz 2014: 113). Die aus den hier vorliegenden Daten entwickelten Kodes selbst zeigen, wie die Forscherin die Daten ausgesucht und sortiert hat. Beispielsweise, wurden analytische Ideen, die im Sinne einer abduktiven Forschungslogik während der Feldforschung beziehungsweise Feldbeobachtung oder den Gesprächen entstanden, in der Regel in Memos festgehalten. Die ersten Kodes aus dem Initial Coding wurden sehr nah an den Daten festgelegt. Sie porträtieren Bedeutungen und
3.5 Kodieren als Herzstück
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Handlungen, sowie die eigenen Erklärungen der Akteur*innen. Gleichzeitig stellen sie eine Konzeption dessen dar, was in den Daten passiert. Die Kategorisierungen und Hierarchisierungen aus dem Focused Coding, sowie die Benennung derselben hebt diese Konzeption auf die theoretische Ebene (vgl. Charmaz 2014: 18, 113f.). Im Folgenden werden zunächst das Setting und die konstruktivistische Bedeutung von Narrationen vorgestellt, um anschließend die einzelnen Kategorien und die daraus entwickelte Konzeption einer Interaktionsmatrix vorzustellen.
4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen – Akteur*innen als Beobachter*innen und erzählende Konstruktivist*innen Im Vorangegangenen wurde der konstruktive Charakter der vorliegenden Forschung auf theoretischer und methodischer Ebene dargelegt. Dieser soll im Weiteren für die Analyse praktisch nutzbar gemacht werden. Die konstruktivistische Perspektive, die hier vertreten wird, bezieht sich jedoch nicht nur auf die Forschungsebene, sondern auch auf die Ebene der Akteur*innen. Laut dem Konstruktivisten Heinz von Förster sei Objektivität die Illusion, dass Beobachtungen ohne eine*n Beobachter*in gemacht werden könnten (vgl. von Glasersfeld 2008: 17). Lebenswelt ist entsprechend eine geistige Konstruktion, in der die Beobachter*in Teil der Beobachtung ist. Die Akteur*innen sind vielfältig in multiple Lebenswelten eingebunden und positioniert. Besonders der Aufenthalt in einer anderen oder fremden kulturellen Lebenswelt erfordert eine beständige Selbstreflexion, permanente Neuverortung und Identitätsarbeit. Bei der Erforschung der subjektiven Ebene von Lebenswelt ist zum einen deren Beschaffenheit, aber auch der Standpunkt der Beobachter*in von Interesse. Beobachten und Verstehen sind eng miteinander verknüpft. Dem Standpunkt für die Beobachtung und für das Verstehen als geistige Konstruktion kann sich primär über Erzählungen angenähert werden. Zur Erschließung von Realitätskonstruktionen, alltäglichen Erfahrungen, Handlungspraxen und Sinngebungen der Akteur*innen bieten sich in der Regel qualitative Interviews an (vgl. Schlehe 2003: 73). Sie ermöglichen die Exploration des Alltagswissens der Interview-, beziehungsweise Gesprächspartner*innen über soziale und kulturelle Kategorien wie fremd und eigen sowie der Konstruktionsleistungen der Akteur*innen. Laut Hopf bieten sie weiterhin die „[...] Möglichkeit, Situationsdeutungen oder Handlungsmotive in offener Form zu erfragen, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert und offen zu erhe© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_4
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
ben, und durch die Möglichkeit der diskursiven Verständigung über Interpretationen [...]“ (2000: 350) zu reflektieren. Im Prozess eines Interviewgesprächs textualisieren die Erzähler*innen ihre mentalen Konstitutionen indem sie diese zur Sprache bringen. Daher folgt zunächst die Darstellung des Erzählens als Mittel der Akteur*innen, um die sie umgebende Wirklichkeit sinnhaft zu ordnen. 4.1 Die konstruktivistische Bedeutung von Narrationen für das Feld „Konstituiert sich soziale Wirklichkeit symbolisch, gewinnt die Kommunikation, die Sprache und der sprachliche Austausch eine besondere Bedeutung. Durch ihn läßt sich ein Zugang zur Wirklichkeit Anderer finden“ (Matt 2001: 91). Das Erzählen ist die Symbolisierung von Erlebnissen und Wahrnehmungen. Handlungen selbst können nicht sprechen, sie müssen erzählbar gemacht werden. Durch die Vertextung von Erfahrungen, werden diese erst intersubjektiv nachvollziehbar und können gedeutet und diskutiert werden. Erzählen ist dabei ein interaktiver Vorgang (vgl. Matt 2001: 94) zwischen Erzähler*in und Zuhörer*in, wobei die Rollen auch vertauschbar sind. Weiterhin dient das Erzählen der Konstruktion von Wirklichkeit und der Bestätigung und Plausibilisierung von Wirklichkeit (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 169). Verstehen ist mit Beschreiben und Vergleichen verbunden, wobei Differenzen und Ähnlichkeiten zur eigenen Kultur von Interesse sind. Ohne Vergleiche ist kein Verstehen möglich und das Bekannte dient hierbei stets als Ausgangsperspektive beziehungsweise Blickwinkel. Nicht nur innerhalb der interkulturellen Interaktion ist der Vergleich eine Technik, mit deren Hilfe Akteur*innen Positionen und damit Blickwinkel des Eigenen und des Fremden verorten. Der Vergleich ist eine alltägliche, vorwissenschaftliche Praxis um sich die Welt zu erklären und sich und andere (darin) zu verorten. Dabei werden neue (Handlungs-) Räume gestaltet, die mehr oder weniger klar umrissen sind und dadurch Zwischenräume ermöglichen. Der Vergleich von Bekanntem mit Unbekanntem schafft eine scheinbar objektive Wahrnehmung, die im Erfahrungsaustausch mit den Erzählungen anderer verglichen und in ihrer Sinnhaftigkeit gestärkt werden. Man kann sagen, dass geteilte Erfahrungen eine gemeinsam geteilte Lebenswelt konstruieren. Für die vorliegende Fallstudie hat sich herausgestellt, dass die
4.1 Die konstruktivistische Bedeutung von Narrationen für das Feld
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Interviewpartner*innen als Alltagswissenschaftler*innen im Gespräch verschiedene Kulturthemen beschreiben, anhand derer sie sich und ihre Blickwinkel positionieren und als „wahr“ bestätigen (vgl. Matthes 1992). Dies geschieht in der Regel über die Erzählungen von Schlüsselerlebnissen oder anekdotischen Evidenzen. Im Laufe des Auslandsaufenthaltes lässt sich beobachten, dass eine Aneinanderreihung beispielhafter Erlebnisse erfolgt, die als chinaspezifische Erfahrungsmuster wahrgenommen und konstruiert werden: „Doing culture ist immer auch ein doing difference, gleichwohl nicht alle Differenzen als Ungleichheiten praktiziert werden. Es bleiben immer auch Spielräume, dasselbe anders zu machen“ (Hörning/ Reuter 2004: 11 [Hervorhebungen im Original]). Die Interviewgespräche, die für diese Arbeit geführt wurden, erschließen die Deutungsmuster und Handlungspraxen deutscher Student*innen in Nanjing, wobei die Akteur*innen Expert*innen ihres Feldes sind (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 177; Hopf 2000: 350): Sie erzählen und beschreiben, während sie dabei konzeptualisieren. Ein Beispiel für den Unterschied zwischen Beschreibung und Konzeptionalisierung findet sich bei Petra Muckel:
„Eine Beobachtung kann ich beschreiben als: ,Zwei Menschen sprechen miteinander.‘ Wenn ich jedoch nach einer präziseren und zugleich konzeptualisierenden Benennung suche, könnte ich sagen: ,Ein Mensch berät einen anderen.‘ ,Beraten‘ ist eine konzeptualisierende Bennenung im Unterschied zum Miteinander-Sprechen, weil das Beraten bereits eine bestimmte Rollenverteilung impliziert und so Fragen nach der Beziehung der beiden Personen zueinander, dem Gegenstand ihrer Beratung, der Qualität der Beratung etc. eröffnet“ (Muckel 2011: 338).
Es geht um das Verstehen von Perspektiven oder Blickwinkeln, Handlungen und den Erklärungen der Akteur*innen, nämlich die subjektzentrierte Konstruktion von Wirklichkeit. Narrativität hat hier eine doppelte Bedeutung: Zum einen sind die in dieser Studie gesammelten Daten Erzählungen und zum anderen ist die Datenpräsentation selbst ebenfalls eine Erzählung. Wie oben erwähnt sprechen Strauss und Corbin davon, dass Forscher*innen eine Geschichte mit einem roten Faden erzählen, der sogenannten Story Line
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
oder auch Kernkategorie (vgl. Strauss/ Corbin 1996: 94f.). Auch im Forschungsprozess finden sich also narrative Konstruktionen, denn in Erzählungen stecken Handlungs- und Sinnzusammenhänge: Der Erzählprozess selbst ist wiederum eine Konstruktion. Das Gleiche gilt für die Darstellung im Forschungsprozess, denn im Dialog mit den Daten und anhand der Kodierungen wird ein Erzählstrang entwickelt (vgl. Berg/ Milmeister 2007). Methodologisch wird Narrativität als Aspekt der hier zugrunde liegenden Daten dadurch berücksichtigt, dass die in-vivo-Kodes der ersten Kodierphase Narrationen der Gesprächspartner*innen sind. Besonders aussagekräftige Begriffe der Akteur*innen wurden direkt als Kodes für das Kodesystem übernommen. Die Kategorienbildung integriert diese Narrativität konzeptionell und auch in der Ergebnispräsentation, welche an der Struktur der Kategorien orientiert ist, wird sie systematisch nutzbar gemacht. Das Gesagte wird miteinander verglichen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht. Dabei entsprechen
„[d]ie Korrelate des Erlebens [...] den Korrelaten des Erlebens anderer in typisierbarer Weise. Damit können sich von verschiedenen Subjekten geteilte und das heißt intersubjektiv gültige Deutungsschemata herausbilden, die mit den je individuellen, biographisch bedingten Sinnstrukturen mehr oder weniger stark korrelieren“ (Hitzler 2000: 115).
Bei den Interviews zeigt sich, dass die Erzählenden ihre Erzählungen nach Relevanz beziehungsweise Darstellungswürdigkeit auswählen und dadurch dem Gesagten spezifische Bedeutungen verleihen. Labov und Waletzky haben in ihrem Text „Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung“ (vgl. 1973: 111f.) ein Phasenmodell aufgestellt, das hier zugespitzt auf die „Erfahrung China“ übertragen werden kann. Es wird in Anlehnung an Labov und Waletzky die Annahme vertreten, dass auch die Akteur*innen in ihrem Dialog mit China die folgenden Phasen einer erzählten Geschichte erleben: In der ersten Orientierungsphase beschäftigen sich die Individuen mit dem Ort, der Zeit, anderen Akteur*innen sowie der Handlungssituation. In der zweiten Phase, die auch zeitgleich verlaufen kann, treten Komplikationen oder Umstände auf, die dem gewohnten nicht ent-
4.2 Sample
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sprechen, wodurch sich die Individuen auf die Suche nach Lösungen beziehungsweise Strategien begeben. Die dritte Phase der Evaluation ist als erste aktive Reflexions- und Konstruktionsleistung zu betrachten. Die sich anschließende Phase der Auflösung beziehungsweise die Lösung der Komplikation, deutet auf das Ergebnis der Erzählung hin. Diese Phase ist Teil der Evaluation und sinnstiftendes Element für die Erzählung oder für den Aufenthalt. Der Vollständigkeit halber sei ein weiteres Element der mündlichen Elaboration persönlicher Erfahrung, die so genannten Coda genannt werden (vgl. Labov/ Waletzky 1973: 122f.). Trotz der teilweisen Übertragbarkeit dieses Modells auf das Erleben und Erzählen der Akteur*innen wird in der hier vertretenen Perspektive jedoch nicht davon ausgegangen, dass a priori Vorannahmen über Handlungs- und Erzählabläufe getroffen werden können. Dennoch lässt sich beobachten, dass alle studentischen Gesprächspartner*innen in einem ähnlichen Rhythmus von Ankunft und Orientierung, Aufenthalt und der Erfahrung von Fremdheit, Andersartigem und Strategieentwicklungen erzählen. Dabei reflektieren sie ihre Erzählung und setzen sich und das Erlebte durch Coda1 beziehungsweise Kodes und Miniaturtheorien in Beziehung. Durch die Anordnung und Hierarchisierung der aus den Erzählungen der Akteur*innen gewonnenen Kodes und Kodierungen, sowie die aus den Erzählungen gewonnene Struktur der Phasen Planung, Ankunft, Aufenthalt und Abreise ist der Erzählstrang – oder im Sinne der GTM die Story Line – für die Auswertung der hier vorliegenden Daten entstanden. Zuerst soll jedoch kurz das Feld präsentiert werden, in dem die Datenerhebung stattfindet; danach folgt die Vorstellung der Gesprächspartner*innen und der Interviewsituation, um anschließend in die Analyse überzugehen. 4.2 Sample 4.2.1 Das Feld Der Name der Stadt Nanjing setzt sich aus den beiden Schriftzeichen nán für Süden und j¯ıng für Hauptstadt zusammen. „Nanjing“ bedeutet 1
Diese sind nach Meinung der Autoren optional und stellen die Beziehung zwischen erlebter und erzählter Geschichte her.
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
also „Südliche Hauptstadt“. Zwar ist sie nicht (mehr) die Hauptstadt Chinas, aber dafür die der Provinz Jiangsu im Südosten des Landes. Die Stadt hat eine lange Geschichte, ebenso wie die Bildungseinrichtungen vor Ort. Die Universität Nanjing gilt als die älteste Bildungsinstitution Chinas, die 1902 zur Universität wurde. Seit 1998 gehört sie zur C9-League, der Gruppe der neun Eliteuniversitäten des Landes, die von Beginn an bemüht war, internationale Kooperation und Kommunikation zu fördern.2 Im Stadtzentrum liegt der Gulou-Campus, auf dem auch die auf bis zu 24 Stunden pro Woche angelegten Chinesischkurse für ausländische Student*innen stattfinden. Neben dem Unterrichtsgebäude Zeng Xianzi ( ), durch einen Durchgang verbunden, gibt es ein älteres Hotel Xiyuan ( ), das ab dem 2. Stock als Wohnheim fungiert und in dem es in der Regel nur Doppelzimmer gibt und die Geschlechter auf verschiedenen Stockwerken wohnen. Toiletten und Duschen befinden sich auf dem Gang und werden gemeinsam genutzt. In den oberen Stockwerken des Unterrichtsgebäudes Zengxianzi selbst werden Einzelzimmer teilweise mit eigenem Bad angeboten. Auf jedem Stockwerk gibt es einen Raum mit Mikrowelle und eventuell auch einer Induktionsplatte, jedoch ohne weitere Küchenausstattung, was dazu führt, dass in der Regel außerhalb gegessen wird. An der Seitenstraße vor dem Hotel gibt es einen kleinen Kiosk und ein paar Bars und Restaurants. An der Hauptstraße befinden sich zahlreiche chinesische und internationale Restaurants inklusive eines deutschen Bäckers. Die Wohnheime der chinesischen Student*innen befinden sich auf der anderen Seite des Campus‘ und ihre Mensa, könnte auch von den ausländischen Student*innen genutzt werden. Die meisten chinesischen Student*innen leben und wohnen auf dem 2009 gebauten Xianlin-Campus, wo auch die große Mehrzahl ihrer Lehrveranstaltungen stattfindet. Je nach Verkehrsmittel und Verkehrssituation braucht man mindestens 45 Minuten von Campus zu Campus. 4.2.2 Die Gesprächspartner*innen Die meisten Interviews wurden auf dem Gulou-Campus geführt und hier ins besondere in dem Gebäude, in dem die Chinesischkurse stattfinden. Es 2
Vgl. https://www.nju.edu.cn/EN/glance/list.htm (Stand: 27.10.2013).
4.2 Sample
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handelte sich hier also um Ort und Milieu, die den deutschen Student*innen vertraut waren (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 176), wodurch die Erzählsituation durch die bekannte und alltägliche Umgebung zumindest dem Rahmen nach zwanglos erfolgen konnte. Bei einigen Teilnehmer*innen gab es kurzfristig gewisse Hemmungen, obwohl nicht nur der Ort vertraut war, sondern auch das Kennenlernen stets in ungezwungener Atmosphäre stattgefunden hat. Das bedeutet, dass die (Vor-) Gespräche zunächst ohne spezifischen Interviewcharakter stattgefunden haben, wenngleich Ausrichtung und Inhalt bereits die sich daran anschließenden Aufzeichnungen zumindest teilweise vorwegnahmen. Erklärbar ist dies mit der Präsenz des Aufnahmegerätes, das durch sein fixierendes Naturell zu einer Veränderung der Gesprächssituation führen kann: Verständlicherweise ist es leichter in privater Runde zu sprechen, als mit dem Wissen, dass das, was man sagt aufgezeichnet, dokumentiert und mitunter bewertet und analysiert wird. Ein konkretes Beispiel dafür ist die sprachliche Verwendung von Stereotypen, die in den Vorgesprächen von Gesprächspartner*innen noch formuliert, später in den aufgezeichneten Interviews jedoch mit mehr Bedacht, abgeschwächt oder mit einer Rechtfertigung wiederholt wurden. Die Theoretische Sättigung (theoretical sampling) (vgl. Glaser/ Strauss 1967), also die Auswahl der Gesprächspartner*innen und die Anpassung der Datenerhebung mit Blick auf die Generierung einer Theorie, ergab sich im Feldforschungsprozess. Die Kontaktaufnahme begann damit, dass die Autorin dieser Arbeit in ihrer Funktion als DAAD-Lektorin im Wintersemester 2012/ 13 im Rahmen des Deutsch-Chinesischen Exzellenzprogramms der Universitäten Nanjing und Göttingen einen Begrüßungsabend für Student*innen aus Deutschland veranstaltete. Die Idee war, deutsche und chinesische Student*innen bereits zu Beginn des Semesters in Kontakt zu bringen. Zum einen sollte so den Deutschen durch eventuelle Hilfestellungen der chinesischen Student*innen die Ankunft erleichtert werden und zum anderen sollten die Chines*innen die Möglichkeit haben, ihre theoretischen Sprachkenntnisse in Tandems zu praktizieren. Über den Begrüßungsabend hinaus wurde das Angebot erweitert und beispielsweise zu regelmäßigen Abendterminen Spiele gespielt, Karaoke gesungen oder Filme gesehen. Im zweiten Semester kamen neue deutsche Student*innen durch die verpflichtenden Chinesischkurse mit denjenigen, die ein ganzes Jahr in China blieben, automatisch in Kon-
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
takt. Die ersten Gewährpersonenen – meist Student*innen der Wirtschaftswissenschaften –, mit denen bereits Interviews geführt wurden, akquirierten aus ihrem Bekanntenkreis weitere Student*innen, vor allem aus der Sinologie. Nach der ersten Auswertungsphase und Hypothesenbildung stellte sich heraus, dass vor allem der Kontrast der Perspektiven interessant war zwischen Wirtschaftswissenschaftler*innen mit gar keinen oder nur geringen Sprachkenntnissen auf der einen Seite und Sinolog*innen auf der anderen, die ihre Studienbiographie von vorneherein auf Land und Sprache ausgerichtet haben. Von weiterem Interesse waren Interviews mit Student*innen, die nicht nur für ein, sondern zwei Semester in China lebten, um so gezielter der Frage nachzugehen, in wie weit das verfügbare Zeitfenster für den Aufenthalt eine Rolle spielt. In den folgenden Semestern ergab sich die Interaktion beinahe von selbst, denn durch die Kontaktlinien der deutschen Student*innen untereinander ergaben sich immer wieder neue Gesprächsmöglichkeiten mit Student*innen aus verschiedenen Fachbereichen und von unterschiedlichen deutschen Universitäten. Nach der Durchführung der ersten Interviews wurden nach dem Schneeballsystem neue Gesprächspartner*innen empfohlen und Kontaktdaten weitergegeben. Von Seiten der Autorin wurde bezüglich neuer Gesprächspartner*innen keine weitere Auswahl vorgenommen. Bereitwillig haben sich so im Zeitraum vom Wintersemester 2012/13 bis zum Sommersemester 2014 30 Studierende aus sieben Fachbereichen von acht verschiedenen Universitätsstandorten in Deutschland zu einem Gespräch über ihre Zeit in Nanjing angeboten.3 Die Namen der Gesprächspartner*innen wurden in der vorliegenden Arbeit aus Gründen des Datenschutzes durch andere Namen ersetzt. Von der Zuordnung der Transkriptionen durch ein Nummerierungsschema wurde ebenfalls aus Gründen der Anonymisierung Abstand genommen, da durch die Reihenfolge das jeweilige Aufenthaltssemester offengelegt worden wäre. In der Regel befanden sich die Gesprächspartner*innen gegen Ende des Bachelorstudiums oder im Masterstudium und hatten somit ungefähr das gleiche Alter. Zufällig ergab sich dabei ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis von 16 Frauen und 14 Männern. Die Dauer der Gespräche variierte zwischen etwa 15 und 90 Minuten. Zu Beginn der Interviewphase gab es drei Ge3
Siehe Anhang.
4.2 Sample
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sprächspartner*innen, die jeweils zweimal relativ kurz nach ihrer Ankunft und noch einmal vor der Abreise gesprochen wurden. Allerdings wurde dieser zeitliche Zugang recht schnell wieder verworfen, da sich die Aufenthaltsdauer von einem Semester als zu kurz erwies, um relevante Aussagen dokumentieren zu können. Von den 30 interviewten Student*innen waren elf Student*innen für ein Semester und 19 für zwei Semester in China. Nach 15 Gesprächen war zu beobachten, dass eine vermeintliche theoretische Sättigung auftrat. Das bedeutet, dass das Gesagte sich zu wiederholen begann und durch neue Gesprächspartner*innen wenige beziehungsweise keine keine neuen Aspekte angesprochen wurden. Jedoch war die Bereitschaft der deutschen Student*innen, ihre persönliche Reisegeschichte zu erzählen, so groß, dass es ungeachtet dessen dennoch zu weiteren Treffen kam, wodurch sich letztendlich doch wieder neue Blickwinkel ergaben. Der Sättigungsgrad beendet eine Forschung praktisch. Er kann aber nur vorläufiger Abschluss sein, da Lebenswelten sich im ständigen Wandel befinden (vgl. Breuer 2010: 110). So gesehen gibt es keine beziehungsweise nur eine temporäre Sättigung – die Datenerhebung wurde letztendlich nach sechs Forschungssemestern forschungspragmatisch durch die Abreise der Autorin aus China beendet. Unterschiedliche Zugehörigkeiten wie zum Beispiel zu einem Studiengang oder Austauschprogramm, neue Erfahrungen und Strategien der Akteur*innen, die von Semester zu Semester wechselten, führen zu unterschiedlichen Haltungen und Deutungen. Diese Kontraste waren ebenso wie Wiederholungen Ressourcen für die Theoriebildung. Durch den Vergleich der unterschiedlichen Blickwinkel wurde die Standortgebundenheit der Konstruktionen und ihr Einfluss auf Wahrnehmen und Denken erkennbar und thematisierbar (vgl. Wiedenmann/ Wierlacher 2003: 211): „Die Interpretation, das Verstehen des Fremden verweist immer zugleich auf die eigene Kultur, auf die eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeiten. Eine unvoreingenommene, gar theorielose Wahrnehmung gibt es nicht“ (Matt 2001: 109). Denn: Menschliche Kultur-Praxis ist grundsätzlich eine interpretative und kommunikative Praxis (vgl. Hitzler 2000: 115). Der Standpunkt der Beobachter*in „[...] ist eine Art zu sehen, [...], man muss stets selbstreflexiv sein in Bezug darauf, wo man herkommt, um eine Vorstellung von den eigenen Werthaltungen zu haben, da die Dinge, die uns am wichtigsten sind, jene sind, die wir als selbstverständlich vorauszuset-
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
zen neigen“ (Charmaz/ Puddephatt 2011: 95f.). Die hier zu Grunde liegenden Daten sind 30 Perspektiven und (Selbst-) Reflexionen aus auf das Thema „Studienaufenthalt in Nanjing“ fokussierten, künstlich initiierten Unterhaltungen. Manche sind subjektiv, emotional oder konkreter zu charakterisieren, andere abstrakt, analytisch und handlungsorientiert. Häufig handelt es sich jedoch um Mischformen, wie die Analyse zeigen wird. Es ist zu beobachten, dass sich innerhalb der einzelnen Interviews Blickwinkel und Standpunkte wandeln, die Perspektive von außen nach innen wechselt, von abstrakt zu konkret, von fern zu nah und jeweils umgekehrt, wodurch sich insgesamt differente Positionen entwickeln. 4.2.3 Die Gespräche – Interviewverlauf, Memos, Sampling, Reflexionen Die hier angewandte Interviewmethodik ist eine Mischform aus offenem und fokussiertem Interview. Die ersten Interviews waren noch offener und explorativer, doch im Verlauf der Forschung wurde der Stil fokussierter. Das liegt zum einen an der Technik im Sinne der GTM, die nach der ersten Datenerhebung eine Fokussierung anhand der gewonnenen Kategorien begünstigt, zum anderen lag es auch daran, dass die Gesprächspartner*innen sich untereinander kannten und anfingen, die Themen und Fragen aus den Gesprächen miteinander zu diskutieren. Dies führte zu einer relativ autonomen Gesprächsführung von Seiten der Gewährpersonen. Die naheliegende Überlegung, darum zu bitten, über die Gespräche Stillschweigen zu bewahren, wurden jedoch verworfen: kein Feld ist objektiv und dieser Prozess des Erzählens und darüber Redens, also der Erfahrungs- und Wahrnehmungsaustausch, sind Teil des Feldes. Zunächst ging allen Interviews die Phase der Aufklärung voraus. Die Interviewpartner*innen hatten das Bedürfnis, ein Gefühl für das Interview zu bekommen, bevor sie sich präsentieren. Zunächst musste sich also die Forscherin präsentieren, das heißt, das wissenschaftliche Interesse und auch die persönliche Verbindung zur Lebenswelt „Studienaufenthalt in Nanjing“ darstellen. Es war wichtig, durch die persönliche Perspektive eine Situation des Vertrauens zu schaffen, in der die Akteur*innen möglichst offen über ihre Person, Wahrnehmungen und Lebenswelt sprechen können, das
4.2 Sample
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heißt: „[...] den Informantinnen oder Informanten durch ,Offenheit‘ in der von uns inszenierten Erhebungssituation so weit wie möglich die Chance zur eigenen Auswahl der Formen überlassen, in denen sie uns ihre Geschichten erzählen wollen“ (Lehmann 2001: 246). Es wurde vorab erklärt, dass die Treffen aufgezeichnet würden. Um Hemmungen entgegen zu wirken, wurde mehrfach auf den Gesprächscharakter (vgl. Schlehe 2003: 72) des geplanten Interviews hingewiesen, der angestrebt wurde, denn: „[z]ur Aufgabe des Interviewers gehört es, nicht nur dem Gesprächspartner einen klaren Auftrag zu erteilen, wie er sich aus der jeweiligen Interviewmethodik ergibt, sondern ein Gesprächsklima zu schaffen, in dem die gewünschte Darstellungsweise geradezu, in der Luft liegt‘“(vgl. Hermanns 2000: 363 [Hervorhebung im Original]). Der Anspruch, ein Gespräch zu führen statt eines Interviews wird der hier zentralen Kernkategorie der Interaktion gerecht. Der klassische ethnographische Ablauf aus teilnehmender Beobachtung und einem Interview im Sinne einer Befragung widerspricht der Perspektive der Forscher*innen als Teil des Feldes und projiziert eine vermeintliche Objektivität in der Beobachtung. Allerdings muss man als Forscher*in für sich und die Untersuchung das Verhältnis von Nähe und Distanz definieren. So stellte sich im Laufe der Datenerhebung heraus, dass es möglich war, zum einen dem emischen Ideal entsprechend die Phänomene aus den Augen der Akteur*innen zu betrachten und gleichzeitig zum anderen eine etische Perspektive auf die Akteur*innen und ihre Lebenswelt einzunehmen: Distanz stellte sich gegenüber den Akteur*innen durch die soziale und zeitliche Komponente her, nämlich dadurch, dass die Forscherin als Gesprächspartnerin einmal „eine von ihnen“ war, sowie durch den beruflichen Status als Lehrende „auf der anderen Seite“. Gleichzeitig wurde die Forscherin als Lektorin auch zur Gewährperson für andere. So wurde sie zu manchen Themen des Alltags befragt, oder ob sie die Dinge während ihres Studiums genauso wahrgenommen oder erfahren hätte. Der Verlauf der Gespräche war stets ähnlich aufgebaut: Es erfolgte eine Einstiegsfrage, ein anschließendes Gespräch und eine Abschlussfrage. Die fokussierten Gespräche begannen dabei immer mit der erzählgenerierenden Einstiegsfrage: „Wie kommt es, dass du jetzt in China studierst?“ Durch diese Erzählaufforderung erhielten die Gesprächspartner*innen die Möglichkeit, das Gespräch gleich zu Anfang relativ offen mit zu entwickeln und
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4 Synthese: Blickwinkel der Akteur*innen
im Idealfall eine „Stehgreiferzählung“ (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 175) zu gestalten. Danach folgte eine Nachfragephase, die beim fokussierten Interview mit Hilfe einer lockeren Bindung an einen Leitfaden erfolgte, der der thematischen Orientierung diente (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 176). Zusätzliche Stimulierung durch Formulierungen wie „Hast du dafür ein Beispiel?“ haben den Gesprächsfluss gefördert. „Sondierungsfragen“ (Schlehe 2003: 85) nach Beispielen, Interpretationen, Erfahrungen, Begrifflichkeiten oder Bedeutungen dienten der weiteren Fokussierung. Die themenzentrierte Unterhaltung ermöglichte es offene Situationsdeutungen und Alltagstheorien beziehungsweise Miniaturtheorien zu entwickeln und nicht zuletzt über sich selbst zu sprechen. Bei aller Offenheit der recht zeitaufwendigen GTM ist die Durchführung eines problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 1985) beziehungsweise fokussierten Interviews insgesamt praktikabler als die eines offenen Interviews. In dialogischer Struktur kommen die Gesprächspartner*innen als Expert*innen ihrer eigenen Deutungen und Handlungen zu Wort. In dieser Form der Gesprächsstruktur kommen sie mehr noch als im Monolog des offenen Interviews dazu, den Annahmen der Forscher*innen auch zu widersprechen und Perspektiven aus anderen Gesprächen zu korrigieren. Das fokussierte Interview ist prozessorientiert und konzentriert sich auf einen spezifischen Themenbereich. Es verbindet offenes mit theoriegeleitetem Vorgehen. Witzel führt aus:
„Der Untersuchte muß in diesem Prozeß die Möglichkeit erhalten, Sachverhalte zu explizieren und durch Stimulation des Gedächtnisses und Gewinnen von Vertrauen auch in anderen thematischen Zusammenhängen zu korrigieren. Der Interviewer kann auf der anderen Seite das Gespräch im Sinne eines Lernprozesses nutzen und von diesem Selbstverständnis ausgehend entsprechende Nachfragen an verschiedenen Zeitpunkten der Exploration ansetzen, wobei auftretende Varianten der Explikationen überprüft werden können. Dadurch entstehen bereits im Erhebungskontext Verstehensprozesse durch den Interviewer, der Ergebnisse in Form einer Art Vorinterpretation schafft und damit die anschließende systematischere, kontrollierte eigentliche Interpretationsphase vorbereitet“ (Witzel 1985: 234).
4.2 Sample
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Je nach Gesprächspartner*in war es entsprechend möglich, das Gesagte kurz diskursiv zu erörtern, das heißt, Erzählsequenzen zu besprechen, mit anderen in Beziehung zu setzen und Erklärungen zu generieren. Spezifische Sondierungsfragen wie Spiegelungen („Du denkst also, dass...?“) oder auch konfrontative Fragen („Gibt es denn ,Kulturschock‘ überhaupt?“) führten teilweise zur detaillierteren Auseinandersetzung im Gespräch. Es gab jedoch durchaus auch Gesprächspartner*innen, bei denen die Erwartungshaltung an das Gespräch so stark auf ein Interview ausgerichtet war, dass es unmöglich war, sich dem interviewspezifischen Frage-Antwort-Rhythmus zu entziehen. Den Abschluss der Treffen bildete die Frage „Fällt Dir noch etwas ein, möchtest Du noch etwas hinzufügen?“ Diese offene Frage sollte den Akteur*innen noch einmal die Möglichkeit geben, außerhalb der im Forschungsverlauf gewachsenen Fokussierungen neue Aspekte einzubringen. Auch für die Forscherin diente dies der Sicherheit, dass durch die Themenorientiertheit Aspekte, die für die Akteur*innen wichtig sind, nicht übergangen werden. Mit Hilfe eines Forschungstagebuchs wurden während und nach den Gesprächen Memos im Sinne der GTM angefertigt, durch die das Gesagte später miteinander verglichen, in Beziehung gesetzt und für die Kategorisierungen nutzbar gemacht werden konnte. Diese ersten Interpretationen beziehungsweise Konstruktionen, die sich ergaben, wurden wiederum in den Sondierungsphasen als Diskussionsgrundlage angeboten. Wie oben beschrieben, ergab sich eine interessante Eigendynamik unter den späteren Gesprächspartner*innen, die sich gedanklich auf das Gespräch vorbereitet hatten und ohne Sondierungsphase in der Stehgreiferzählung die Interpretationen bearbeiteten. Somit wurden sie von Expert*innen, die befragt wurden, zu Partner*innen bei der Erörterung feldspezifischer Themen und Problemstellungen. Die Kreise zwischen Akteur*innen und Wissenschaft begannen sich zu überschneiden. Die Situation „Studienaufenthalt in Nanjing, China“ wurde selbst zum Gegenstand und die Kommunikation zur aktiven Handlung bei der Konstruktion von Lebenswelt (vgl. Bonß 2013: 167). Was unter der Situation „Studienaufenthalt in Naning, China“ zu verstehen ist, wird in der nachfolgenden Analyse anhand des Konglomerats an Kategorien deutlich. Die Kodierungen des Gesagten werden mit Blick auf die theoretische Konzeption beziehungsweise auf das Ziel einer Theoriebildung vorgenommen.
5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt Das folgende Kapitel dient der Präsentation des hier auf empirischer Basis aus den vorliegenden Daten begründeten, theoretischen Modells einer interkulturellen Interaktionsmatrix. Nach einem kurzen Überblick über die Kategorien und deren Anordnung wird die Kernkategorie INTERAKTION vorgestellt, die alle anderen Kategorien wie ein roter Faden oder eine Story Line (vgl. Strauss/ Corbin 1996: 94f.) durchzieht. Die Kategorien sind miteinander verbunden, überschneiden sich und bedingen sich gegenseitig. Die Trennung der Kategorien in einzelne Absätze eines Textes dient dem Ziel, die Komplexität überschaubar zu machen. Durch die Kategorien werden die Themen herausgearbeitet, die für die Akteur*innen Relevanz in der interkulturellen Interaktion sowie bei dem Erwerb interkultureller Erfahrung besitzen. Sie sind die Basis für Reflexionen über Eigenes, Fremdes und Anderes. Interaktionsprozesse wie Begegnung, Erleben, Handeln und Sinnzuschreibungen sind die Basis für den Erwerb von Kultur- beziehungsweise Weltwissen, das im Idealfall zu Verstehen und Anerkennung führt (vgl. Wierlacher 2003b: 30). Verstehen und Anerkennung wiederum sind die Basis für Interaktion und Inklusion, die als Teilhabe verstanden wird (vgl. Schröer 2013). Die Akteur*innen reflektieren und konstruieren sowohl bewusst als auch unbewusst und übertragen Erlebtes auf Erwartetes und Erwartbares. Das heißt, Erfahrungen werden mit dem Bekannten und dem Unbekannten verglichen und in erwartbare Handlungen eingeordnet. Diese Organisation von Kulturwissen und die individuelle Orientierung geschieht unter anderem durch Sprache, im Sinn des „Darüber-Sprechens“. Die Interviewgespräche sind als Interaktion im Sinne einer Reflexion zu betrachten: Beobachtungen und Blickwinkel werden diskutiert und konstruiert. Die aus den Erzählungen und Konstruktionen der Akteur*innen gewonnenen Kategorien hängen auf vielfältige Weise mitein© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_5
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
ander zusammen und erst in ihrer Gesamtheit bilden sie die interkulturelle Lebenswelt deutscher Student*innen in China ab. Teilweise sind diese Kategorien mehrfach zugeordnet. So spielt beispielsweise Fremdheit im Sinne des Wunsches nach Fremdheitserfahrung eine Rolle für die Motivation, ist jedoch gleichzeitig auch Teil des Chinabildes und entwickelt sich darüber hinaus zu einer Komponente der Identität, wenn die eigene Fremdheit für Andere und damit für das Selbst praktisch erfahren wird. Auch für die Nachhaltigkeit des Studienaufenthaltes, beispielsweise verstanden als eine berufliche Wiederkehr nach China, stellt sich die Frage, in wie weit Nähe zur Fremdheit gewonnen werden konnte. Fremdheit ist ebenfalls eine Kategorie, die auch in anderen Kategorien ihren Niederschlag findet. Insgesamt wird eine Dynamik der einzelnen Kategorien während der Interaktion deutlich und die Gliederung der einzelnen Textabschnitte für den linearen Textfluss offenbart sich als Konstruktion im Forschungsprozess. Hervorstechend sind die für die Interaktionsphase konstituierenden vier Interaktionsebenen Raum, Zeit, Identität und Kommunikation (Sprache), die sich miteinander in dynamischer Beziehung befinden. Diese werden im Folgenden anhand der Interaktionsmatrix dargestellt. 5.1 Vorstellung des Modells der Interaktionsmatrix Bereits bei Fritz Schütze und auch bei Erving Goffman ist je die Rede von einem Interaktionsfeld oder von einem Interaktionsrahmen. Schützes Interaktionsfeld ist jedoch konkret räumlich mit dem Setting gleichzusetzen (vgl. Schütze 1987: 35), wohingegen es sich bei Goffmans Interaktionsrahmen ebenso wie bei der Interaktionsmatrix (s.u.) um ein Erfahrungsschema handelt. Die Rahmen sind durch während der Sozialisation gelernte Erfahrungsschemata festgelegt, die helfen, Erfahrungen zu ordnen (vgl. Goffman 1977: 55f.). Die mehrdimensionale Interaktionsmatrix ist die vereinfachte Präsentation des konstruktiven Komplexes aus den Handlungsprozessen von Wahrnehmung und Beobachtung als Erfahrungsgewinn unter Berücksichtigung der Dialektik einer Blickwinkel-Gebundenheit bei einer gleichzeitig starken Dynamik. Denn sowohl die konstituierenden Interaktionsebenen Raum, Zeit, Identität und Kommunikation (Sprache) zugespitzt verstanden als Kontext oder Bedingungen als auch die konstruierenden Handlungspro-
5.1 Vorstellung des Modells der Interaktionsmatrix
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zesse des Erkenntnisgewinns befinden sich im Wechselspiel und bedingen sich gegenseitig. Erfahrungs-/ Erkenntnisgewinn
tät
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beeinflussen sich Raum
Zeit beeinflussen sich
Abbildung 1: Interaktionsmatrix als Erfahrungsschema
Die hier entwickelte Interaktionsmatrix ist ein Erfahrungsmuster, dessen Grenzen durchlässig sind und sich ständig verschieben. Jede der vier Interaktionsebenen Raum, Identität, Zeit und Kommunikation (Sprache) steht mit den anderen Ebenen in Beziehung und beeinflusst den Blickwinkel und letztendlich das Verstehen. Anhand des aus den vorliegenden Daten gewonnenen Modells kann darüber gesprochen werden, wie einzelne Personen in der Interaktionsmatrix im Prozess der Konstruktion von Lebenswelt Rollen und Funktionen verteilen, aber auch damit belegt werden. Je nach zeitlichem, räumlichem, identitärem oder kommunikativem Standpunkt werden neue Wahrnehmungen, Beobachtungen und Erfahrungen beziehungsweise Erkenntnisse gewonnen, die in Bedeutungskonstruktionen für zukünftiges Handeln umgewandelt werden. Je nach Positionierung im Raum, der sowohl ein konkreter als auch ein abstrakter Ort sein kann (s.u. Kapitel 5.2.5 Raum und Quartier), verändern sich die anderen Interaktionsebenen, was wieder zu neuen Erfahrungen beziehungsweise Erkenntnissen führt. Ebenso verhält es sich mit den anderen Interaktionsebenen. Die Zeit wandelt sich, Identität ist nicht statisch und kein Mensch ist vollkommen kommuni-
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
kationsfrei. Die Dynamik jeden Elements bringt die anderen in Bewegung und verändert somit die Blickwinkel und die Ergebnisse beziehungsweise Erwerbsprozesse von Erkenntnis. „Unter dem Terminus ,Blickwinkel‘ wird demnach im Sinne Berger/ Luckmanns das sich wandelnde Konstituenz der gesellschaftlichen Wirklichkeiten und deren Ergebnis zugleich verstanden; mit der Nutzung dieses Begriffs wird betont und zugleich deutlich gemacht, dass wir unsere konstitutiven Sehweisen, Rezeptionspositionen und Verstehensrahmen nicht für naturwüchsige Bedingungen wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Handelns zu halten, sondern in ihnen Funktionen und Folgen unserer individuellen und kollektiven Einstellungen zu sehen“ (Wiedenmann/ Wierlacher 2003: 213).
Erfahrungen und Erfahrungsverarbeitung werden durch Interaktion gestaltet und sind zeitlich und räumlich spezifisch. Bereits Vorhandenes, ob konstituiert oder konstruiert, wirkt auf den Blickwinkel und auch die Identität ein. Erfahrungen wiederum werden durch Beobachtung und Interaktion gemacht. Interaktion ermöglicht eine größere Bandbreite praktisch zu probieren, zu reden und zu konstruieren. Die Welt ist intersubjektiv und Interaktion vergrößert den Handlungsrahmen und erhöht damit die Chancen, Erfahrungen im Sinne von kulturellem Kapital zu gewinnen und zu bearbeiten. Je nachdem, wie die Akteur*innen der Austauschprogramme auf die Interaktionsebenen einwirken, können auch die Interaktionschancen gesteuert werden. Hier wird die Hypothese vertreten, dass, wenn die Interaktionsebenen Raum, Zeit und Kommunikation (Sprache) sowie der reflexive Umgang mit Identität aktiv gesteuert werden, die Interaktion selbst gefördert werden kann. Dies hat Einfluss auf die identitäre Interaktionsebene und fördert Selbst- und Fremdverstehen, was im Sinne der IKG idealerweise in gegenseitige Anerkennung mündet (vgl. Wierlacher 2003b: 199f.). Anerkennung ist unerlässlich für eine gleichberechtigte Teilhabe der Akteur*innen an der Interaktion und kooperativem Miteinander. Für die Darstellung im Text spiegeln die Interaktionsebenen einzelne oder mehrere aus den Daten gewonnene Kategorien wider. So ist die Interaktionsebene Raum der Kategorie Wohnen beziehungsweise Quartier zuzuordnen, während die Interaktionsebene Identität sich sowohl bei der Kategorie Fremdheit als auch bei
5.2 Auswertung
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der Kategorie „Ausländer-Bubble“, die eine Unterkategorie von Quartier ist, verorten lässt. 5.2 Auswertung Wie bereits dargestellt, erfolgten Organisation und Auswertung der Daten computergestützt mit der Software MAXQDA. Die Quellenangaben der hier aufgeführten Gesprächssequenzen entsprechen den Absätzen, die sich im MAXQDA-Skript wiederfinden. Durch die computergestützte, qualitative Datenanalyse konnten verschiedene Kodes herausgearbeitet werden, die das Phänomen der interkulturellen Lebenswelt deutscher Student*innen in China, beschreiben. Diese Kodes stehen alle direkt oder indirekt miteinander in Beziehung, wie anhand des folgenden Kodenetzwerks ersichtlich ist: (siehe Abbildung 2 auf der nächsten Seite). Die Kodes beziehungsweise Kategorien, die sich in der folgenden Kapitelstruktur wiederfinden, wurden nach den Erzählphasen Entscheidung für den Auslandsaufenthalt, Ankunft, Aufenthalt und bevorstehende Abreise strukturiert. Zunächst erzählen die Gesprächspartner*innen, welche Motive sie hatten, für ihren Auslandsaufenthalt während des Studiums nach China zu gehen. Ein interessanter Aspekt, der die Phase der Entscheidung bis zur Abreise prägte, war dabei das Bild, das sie sich bereits im Vorfeld von China gemacht hatten oder das beispielsweise medial an sie herangetragen worden ist, ihr Chinabild. Während der Erzählung zur Ankunftsphase fiel mehrfach der Begriff des „Kulturschocks“. An diesem Beispiel soll deutlich gemacht werden, wie die Akteur*innen einen im interkulturellen Diskurs kursierenden Begriff gebrauchen und teilweise de-/ re-/ konstruieren. Ein weiteres Phänomen, dass sowohl die Entscheidungsphase für den Auslandsaufenthalt, die Ankunft und den Aufenthalt durchzieht, ist das Thema der Fremdheit und daran anknüpfend das der Identität. Bei Erzählungen zum Aufenthalt selbst kamen die Interaktionsebenen Raum, im Sinne der Wohnsituation und des sozialen Umfelds (am Beispiel der Quartierwahl und der Freundschaften), Sprache und Zeit ins Gespräch. Hier finden Begriffe aus der Interkulturellen Germanistik ihren Niederschlag, beispielsweise der Begriff der Grenze (vgl. Kostalova 2003: 242f.) und damit verwandt der Begriff der
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
Motivation Blickwinkel „Chinabild“ Fremdheit (Identität) „Kulturschock“
Kommunikation (Sprache)
Raum
Sozialwelt
Zeit
Nachhaltigkeit
Abbildung 2: Kodenetzwerk
Barriere. Der Kode Zeit wird zwar im Kodenetzwerk, aber nicht in einem eigenen Kapitel einzeln dargestellt, denn er verläuft immanent und parallel zu den anderen Kodes. Zum Abschluss sprachen die Gesprächspartner*innen über mögliche Zukunftspläne mit Chinabezug, die unter der Kategorie und dem Kapitel Nachhaltigkeit zusammengefasst sind. Dabei resümierten sie unter anderem aufgrund ihrer neu gewonnenen Erfahrungen, in wie weit ein weiterer Chinaaufenthalt vorstellbar wäre.
5.2 Auswertung
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5.2.1 Motivation Intrinsische und extrinsische Motivation Bei den Gesprächspartner*innen ist insgesamt und in Anlehnung an die lernzielorientierte Motivationsforschung, eine Mischung aus extrinsischer Motivation (dem Wunsch interkulturelle Kompetenz im Lebenslauf zu demonstrieren) und intrinsischer Motivation (dem Erwerben von Erfahrung und Kompetenz als persönliche Horizonterweiterung) festzustellen (vgl. Heckhausen/ Heckhausen 2006: 337). Für die Interkulturelle Germanistik zählt die freiwillige Fremderfahrung als Prozess der Selbstbildung zum Rahmenbegriff der Bildung (vgl. Reich/ Wierlacher 2003: 203), da sie „[...] Bildung als einen die Person formierenden Schutz menschlicher Selbstbestimmung versteht und den Bildungsprozess als Grundausstattung des Menschen mit einer eigenständigen Urteils- und Kommunikationsfähigkeit begreift, die fachliche, soziale und kulturelle Kompetenzen so zusammenfuhrt, dass der Mensch als Zeitgenosse in die Lage versetzt wird, sich mit sich selbst und anderen darüber zu verständigen, wie man leben und sich die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, in der man lebt, vorstellen soll“ (Reich/ Wierlacher 2003: 208).
Die Programmangebote, Netzwerke und Kooperationen der jeweiligen deutschen Universitäten mit der Universität Nanjing, aber auch Austauschprojekte während der Schulzeit sind als Starterkulturen für eine interkulturelle Studierendenbiographie zu verstehen. Beispiele für andere Programmangebote sind das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) nach der Schulzeit oder deutsche und chinesische Stipendien, wie das des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Studienstiftung des deutschen Volkes, sowie des China Scholarship Council (CSC). 14 von 30 Gesprächspartner*innen waren bereits zuvor schon einmal in China. Abgesehen von denjenigen, die durch eine kurze, private Reise erste Eindrücke gewinnen konnten, sammelte die Mehrheit derjenigen, die bereits in China waren, erste Eindrücke durch ein früheres Austauschsemester oder Schüleraustauschprogramme, die weitere Mobilität förderten (vgl. Weichbrodt 2014). Diese erste von Starterkulturen initiierte Begegnung mit China führte teilweise,
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so berichteten die Interviewpartner*innen der Forscherin (in den Transkriptionen CH genannt), auch zu einer Ausrichtung der Studierendenbiographie auf China, wie zum Beispiel der Wahl, Sinologie zu studieren. Der aktuelle Auslandsaufenthalt wäre somit als Investition in diese Studierendenbiographie anzusehen und die Motivation diese zu gestalten, reflektieren die Akteur*innen konstruierend im Gespräch. Zum Einstieg in das konkrete Material werden zunächst exemplarisch die Motivationen ausgewählter Student*innen aus den unterschiedlichen Fachbereichen vorgestellt, um dann Gemeinsamkeiten und/ oder Unterschiede zu benennen. Fachspezifische Motivation Jan studierte zum Zeitpunkt des Gesprächs Sinologie und Ethnologie im Bachelor: Jan: „Ja. Der Hauptgrund ist äh, eigentlich wegen der Sprache. Also ähm, ja, nach drei äh, Quatsch, doch nach drei Jahren lernt man, find ich schon einiges an der Uni, was man auch ganz, ja also (.) spezielle äh, (...) spezielle Bereiche, die jetz auch meistens mit dem, mit dem, allgemein mit dem Alltagsleben der Leute nicht ganz so viel zu tun haben. Mir fehlt da halt einfach auch, weil ich, ja ich, mein (.) Ethnologie Zweitschwerpunkt ähm, fehlt mir halt auch noch so’n bisschen die Innenperspektive und ja, dann wollt ich quasi einerseits mein, mein Sprachniveau verbessern, andererseits halt auch ’n bisschen (...) Landeskenntnis, Menschenkenntnis äh, erwerben. [[Hm]] Hauptmotivation.“ [Jan: 7] Jan berichtet, dass er zum ersten Mal mit einem Schüler*innenaustausch nach China kam und hier in einer Gastfamilie in Kunshan bei Shanghai lebte. Vor allem die Sprache und ihr für seine Ohren ungewohnter Klang sowie die Menschen, die er kennengelernt habe, hätten sein Interesse geweckt. Es sei eine „nich analytisch erklärbare Anziehung“ (Jan: 10) vorhanden gewesen. Den Zugang zu einem Land über eine Gastfamilie und nicht als Tourist beschreibt Jan als „speziell“, denn dies habe den Grundstein gelegt für sei-
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ne weiteren Auseinandersetzungen. Auf die Frage, wie es dann weiter ging, erläutert Jan: „Ach so. Ja dann äh, bin ich (...), bin ich zwischen Abi und äh, und Zivildienst nochmal nach China geflogen, weil ich dann auch schon Kontakte hatte. Die wiedersehen wollte. [[Hm]] Da hat ich dann auch schon angefangen ’n bisschen Chinesisch zu lernen und äh, ja dann saß ich während dem Zivildienst, wusste nicht so richtig, also in den letzten Monaten, wie ’s weitergehen sollte. Dann (.) halt ’n bisschen reflektiert, was mich in meinem Leben so interessiert. Und äh, kam dann mit der Idee, ja, Chinesisch weiterzumachen. Hab (.) dann auch erst im Laufe des Studiums erfahren, was es heißt, Sinologie zu studieren. Also. [[Hm]] Ja. Da war halt erst mal so der, der Sprache und ich hatte mich auch viel mit chinesischer Philosophie beschäftigt. So zwischen meinem 16. und 18. Lebensjahr. Dann (...) wollt ich einfach ’n bisschen so akademisch in wieweit, in die Richtung weiterforschen. Ich (.) bin dann glücklicherweise nicht in ’ne (...) philologisch orientierte Sinologie gekommen, sondern in, in äh, ja, moderne. So mit äh, also politikwissenschaftlich äh, orientierte Sinologie. [[Hm]] Und äh, das hat’ mir dann, hat mir dann auch so weit gefallen, dass ich halt dabei geblieben bin. Also als ich dann erkannt hab, was es bedeutet Sinologie zu studieren, hat’s mir dann auch gefallen.“ CH: „Was bedeutet’s denn Sinologie zu studieren?“ Jan: „((lacht)) Ähm, also bei uns in äh, is es ganz klar ’n moderner Schwerpunkt. Heißt, wir setzen uns halt mit ähm, mit politischen Phänomenen, auch Gesellschaftsphänomenen, Konsum, Medien äh, Literatur [[Hm]] der, der, der Neuzeit und ähm, ja is quasi auch so ’ne ja, wird von vielen traditionellen Sinologen bisschen kritisiert, [[Hm]] weil ’s halt weg von dieser philologisch, historischen Arbeit is und da (.) mehr, ja Gegenwartsbezug, Außenbeziehungen, aber auch dann inner, innerpolitisch äh, äh diverse Phänomene. Und das (.), da find
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ich auch wieder den, den ethnologischen Aspekt interessant, weil in China gibt ’s auch immer wieder so (.) Momente, wo, wo die Traditionen revitalisiert werden sollen, wie jetz mit guo xue und (.) ja, da find ich, kann man dann, kann ich sehr gut profitieren von (...), von so ’n bisschen (.) Blickwinkel. [[Hm]] (.....)“ CH: „Ja, apropos profitieren. Ja. (.....) Wie willst du denn von deinem Chinaaufenthalt profitieren [[lacht]] oder von Chinesisch profitieren, [[Ja]] so langfristig gesehen?“ Jan: „[...] Dieses Jahr will ich halt auch nutzen, grade durch die Erkenntnis oder einfach durch die Kontakte, die ich knüpfe ähm, Phänomene, die ich dann in China mitbekomme, also von innen heraus sozusagen, [[Hm]] mitbekomme, wollt ich mich dann doch inspirieren lassen. Also da hab ich noch keine Konkreten Vorstellungen, wo ich später mal landen (...) werde oder möchte. Is ja erst mal, also (.) ja. Sinologie is halt nicht (...), sind ja kein, kein Beruf insofern. Man kommt ja nicht mit dem, mit ’nem abgeschlossenen Berufsbild. Man hat quasi ’ne Kompetenz. (.....) Man kann natürlich fragen, wie viel bringt man aus ’em Bachelor mit und is nicht sowieso notwendig ’n Master zu machen. [[Hm]] Aber ich würd doch, also vorher schon, ich, ich würd gern in was Praktischem bleiben, also dieses intellektuell, kognitive fand ich schön, find ’s auch immer noch, aber (.) in die Zukunft projiziert, wird ’s mir nicht reichen. Da bin ich dann doch vielleicht (...), ja. Ich hatte seit Jahren mit ’m Tourismusbereich und vielleicht mit, mit, ich sprech auch ’n paar europäische Sprachen, is vielleicht ganz interessant. [[Hm]] Da immer noch mit Leuten zu tun und mit praktischen (...) Aspekten. (.....)“ [Jan: 16–22] Auch bei Janine wird deutlich, wie essentiell der Spracherwerb vor Ort für Sinolog*innen zum Erhalt der Konkurrenzfähigkeit im Fachbereich und die spätere berufliche Zukunft ist:
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Janine: „Ich denk, dass Sinologie ’n aufwendiges Studienfach is, wo man sehr viel Zeit reininvestiert, wenn man ’s wirklich gut machen möchte. Wenn man die Sprache vorher, also noch nich in Berührung gekommen is mit der Kultur, is es schwierig, die Sprache so zu lernen. Und ähm, das Auslandsstudium is bei uns im Studienverlaufsplan eigentlich nich integriert, aber (...) ähm, ich denke, es is erwünscht. Also unsre Lehrer sagen uns immer, es is wichtig für uns, dass wir nach China gehen und (...) wenn man, wenn man nich nach China geht, dann steht man am Ende da und hat ’n Bachelor in Sinologie, aber man kann nich richtig reden. [[Hm]] Und (.) ich, also ich seh da schon ’ne Kluft zwischen denen, die schon in China waren und aus China zurückgekommen sind, wie die, wie die sprechen, wie schnell und was die alles verstehen können und sich ausdrücken können und die, die in Deutschland bleiben. In, die bringen meistens keinen richtige Satz zu Stande. Also (...) für mich war ’s dann eigentlich klar, dass ich unbedingt ähm, nach China möchte, um meine Sprache auch richtig zu verbessern und äh, am besten halt nicht für so ’n Kurzauf, ähm, Kurzaufenthalt, sondern ’n bisschen länger.“ [Janine: 7] Bei Nicht-Sinolog*innen lässt sich der oben beschriebene Motivationsautomatismus, der durch Starterkulturen initiiert wurde, ebenfalls finden. Die Juristin Claudia erzählt, wie es dazu kam, dass sie sich für ein China bezogenes Studium entschieden hat. Nach dem Abitur habe sie nicht gewusst, was sie studieren sollte und bewarb sich für unterschiedliche Fächer an unterschiedlichen Universitäten. Sie wisse eigentlich gar nicht mehr genau, warum sie dann mit dem Zweifach-Bachelor Sinologie und Politik angefangen habe, aber seit dem zeichnete sich eine Fokussierung ihrer Bildungsbiographie ab: Claudia: „Das war und dann hab ich aber auch recht schnell gemerkt, dass ich mit Politikwissenschaft weniger Zeit verbringe. Also (.) weil das viel also durch die Sprache viel einfache is und ich mehr Chinesisch machen wollte und dann
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hab ich ähm, gewechselt auf äh, den Mono-Bachelor Moderne Sinologie (.) [[Hm]] und bin dann ähm, da auch äh, ja recht äh, (...) intensiv in, mit China in Kontakt gekommen. Hab dann ein Semester in, also das Wintersemester in Peking studiert [[Hm]] und das war mein erstes Mal wirklich Ausland. Und zwar auch für längere Zeit und das, ich fand das total spannend. Also es war ähm, es war nicht so, dass ich jetz aufgeblüht bin und gesagt hab, das ist mein Land oder hier will ich leben, aber es war dieses Gefühl: ,Mensch, das bereichert mich. Das gibt mir ’n neuen Horizont, andere Ausrichtungen.‘ Und Äh, auch man nimmt seine eigene Kultur ganz anders wahr, wenn man, wenn man in China war.“ [Claudia: 7] Dieser erste Aufenthalt in China motivierte Claudia, sich nach dem Bachelor für einen Deutsch-Chinesischen Doppelmaster einzuschreiben. Im Rahmen der zweijährigen Doppelmasterprogramme1 mit der Universität Nanjing studieren deutsche und chinesische Student*innen je ein Jahr in China und ein Jahr in Deutschland zusammen, wobei der im Curriculum vorgeschriebene Chinaaufenthalt ein attraktives Angebot darstellt. Die Naturwissenschaftlerin Maria erzählt ebenfalls, wie die Kooperation ihrer Heimatuniversität mit der Universität Nanjing und auch einzelne Dozent*innen als Starterkulturen für ihren jetzigen Chinaaufenthalt gewirkt haben. Auch sie war wie Claudia vorher bereits in China gewesen und ist nun im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Doppelmasters ein weiteres Mal in China, da ihr der erste Aufenthalt trotz finanzieller und planerischer Schwierigkeiten sehr gut gefallen habe und sie durch die damals gewonnenen Kontakte erneut die Möglichkeit hatte, nach China zu gehen: Maria: „Ja. Also das erste Mal war ich in China. [[Hm]] Und das war praktisch meine allererste Expedition, die dann nach Tibet ging und da hab ich dann auch zum Beispiel kennengelernt. Den kannt ich ja vorher auch nich, weil er überwiegend auch dann hier is. Und äh, damals, also nach der äh, Expedition hat der mich dann auch irgendwann 1
Interkulturelle Germanistik, Rechtswissenschaften und Geowissenschaften
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mal angesprochen, meinte, also zusammen, also er mit zusammen, der halt auch bei uns an der Dozent is. Und die halt sehr eng zusammenarbeiten und die beiden ham mich dann mal gefragt, ob ich nich auch ma Interesse hätte so für ’n Auslandssemester nach Nanjing zu kommen. [[Hm]] Und dass es dort dann eben auch Kurse auf Englisch geben würde, die ich mir dann, also die ich besuchen könnte. Und genau. Dazu kam ’s dann, dass ich dann (...) praktisch dann das erste Mal äh, nach Nanjing dann gekommen bin (...) und äh, das war dann aber mehr äh, im Zuge eines, eines Austauschs und da hatt ich mich dann über die Uni auch beworben für so ’n, da gibt ’s direkt ’n Austauschprogramm, das is aber sehr (...), also relativ unbekannt und sehr kleines Programm auch. Also finanziell (...) wird das auch jetz nich großartig unterstützt. Da werden halt nur die Studiengebühren übernommen und sonst gar nix. [[Hm]] So. Also weder irgendwie Flug wird bezahlt, noch irgendwie, dass monatlich irgendwie kleiner Beitrag dann fließt, dass man irgendwie hier (...) Zuschuss hat für Wohnung, Verpflegung und so weiter. Also das nich. [[Hm]] [...] War dann praktisch das erste Mal hier. (...) Bin auch erst ma wieder auf Expedition mit, also ich bin um die Mitte August bin ich hier gelandet und dann sind wir erst ma einen Monat wieder auf Expedition. Als wir da zurückkamen hab ich ((lacht)) dann halt gefragt: ,Ja, so, wie sieht ’s denn jetz aus mit äh, Kursen und so?‘ Hat dann nur gesacht: ,Ne, Kurse auf Englisch gibt ’s nich. ‘(...) Hab ich auch gedacht so: ,Wie? Das war ja eigentlich der Grund, warum ich hergekommen bin so, ja.‘ (...) Ne, is aber jetz dieses Semester nich und so. Und ja, was kann ich ’n dann machen eigentlich so: ,Naja, kannst ja so ’n bisschen im Labor arbeiten.‘ Dann hab ich eigentlich die ganze Zeit nur im Labor gearbeitet. Ich hab dann eigentlich gedacht: ,Na gut, dann äh, (...) kuck ich, dass ich wenigstens Chinesischkurs mitmachen kann.‘ ‘S ging aber auch nich, weil das Problem war, dass wir eben erst drei oder vier Wochen nachdem das Semester ange-
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fangen hatte zurückgekommen sind nach Nanjing. Und das war halt viel zu spät für, dann hätt ich gar nich mehr folgen können. [...] Mein Studium an sich selber hat ’s gar nichts gebracht gehabt. Aber trotzdem muss ich sagen ähm, möcht ich die Zeit auch nicht missen. Also ich dann fünf Monate hier (...) und mir hat ’s also wirklich gut gefallen. (...)“ [Maria: 15] Nicht nur aus fachspezifischer Motivation, das heißt einer Motivation aus der eigenen Studierendenbiographie heraus, ergriffen die Student*innen als handlungsfähige Gestalter*innen und Planer*innen ihrer eigenen Biographie die Chance zur rationalen Optimierung ihrer Lebensläufe. Mirko, ein Wirtschaftswissenschaftler, erzählte, wieso er sich zu einem Semester in China entschlossen hat: Mirko: „Wie is es dazu gekommen, dass ich nach China gegangen bin? Ähm, ich wollt auf jeden Fall ’n Auslandssemester machen und habe mich eigentlich primär auf ja Auslandssemester Phune in Indien beworben. Dort war aber ein ziemlicher, ja es wollten halt mehr Leute hin als Plätze da waren. Und damals Zweitwunsch China war, wurde ich nach, sozusagen auf China verfrachtet, weil ich mich auch mit Neuerbaren Energien, mit Photovoltaik beschäftigt hab und ähm, da hab ich auch in die Bewerbung reingeschrieben, dann wurd ich hierher. Also ich wollt ähm, es gab auch noch die Möglichkeit Korea. Ich wollt einfach nach Asien und Korea war Platz drei. ((räuspert sich)) Also nicht speziell, ich wollte nicht unbedingt nach China, sondern nach Asien eigentlich nur, um komplett anderen Kulturraum kennenzulernen. (...) Ja. (.....)“ CH: „Ja. Warum?“ Mirko: „Warum? Ähm. (...)“ Mirko: „Weil Indien glaub ich auch ganz anders is als Europa, wenn man’s mal vergleicht mit’n USA oder auch Südamerika (...) ähm, sind die Leute einfach anders, es is ähm, auf ’ner ganz anderen religiösen Basis aufgebaut oder auch auf ‘ner Ideolo-
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gie. Sagen wir bei den monotheistischen Religionen, die hier in Europa vorherrschen. Sozusagen es gibt ’n Anfang, Gott hat das erschaffen, dann gibt’s ’n Ende, hat man in Asien vielleicht auch eher dieses Kreislaufdenken und ja kollektive Gesellschaften und ähm. Natürlich auch, wollte ich das in meine Karriereplanung einbeziehen, dass man einfach was Schönes, das was im Lebenslauf is, aber auch ähm, ’ne schöne Erfahrung.“ [Mirko: 7a–12a]
Auslandsaffinität und kosmopolitisches Selbstverständnis Es wird deutlich, dass China nicht für alle die erste Wahl war, sondern, dass die Angebote der Universitäten und anderer Bildungsinstitutionen erst die Entwicklungen initiierten. Auf die Erzählaufforderung („Erzähl mir doch bitte, wie es dazu kommt, dass du jetzt in China studierst“) antworteten vor allem Nicht-Sinolog*innen wiederholt, dass der Studienaufenthalt in China primär durch Angebote und Förderprogramme unterschiedlicher Bildungsinstitutionen in den Blickwinkel rückte. Abgesehen davon, dass diese Starterkulturen ein erstes Interesse weckten, hat die Finanzierung des Auslandsaufenthaltes für die Student*innen offenkundig eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung gespielt. Im Vorfeld der Datenerhebung wurde angenommen, dass Sinolog*innen eine spezifischere Motivation für den Chinaaufenthalt mitbringen als Student*innen anderer Fachbereiche. Doch abgesehen von dem Offensichtlichen, nämlich der beginnenden Ausrichtung einer möglichen Berufsbiographie auf China, werden zentrale Aspekte der Motivationen der Student*innen unterschiedlicher Studienrichtungen geteilt. Eine Komponente ist beispielsweise der generelle Wunsch, ins Ausland zu gehen, was unter anderem mit dem Ziel der Lebenslaufoptimierung durch Internationalisierung zu tun hat, und wie diese seit Jahren in Europa durch unterschiedliche Programme, allen voran ERASMUS, gefördert wird. Vor allem aber haben viele Student*innen, die sich als Kosmopolit*innen wahrnehmen, den Wunsch, sich und die Welt kennenzulernen. Der Wunsch nach dem Anderen ist allgegenwärtig und gehört zum akademischen Habitus weltweit. Es wird deutlich, dass dabei Europa als das Bekannte gilt und ein Aufenthalt in der Nähe als weniger spektakulär angesehen wird (vgl. un-
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ter anderem Nadine: 7). Gesucht wird das ganz Andere und das heißt, nicht nur anders als Deutschland, sondern auch kontrastiv anders als Europa und „der Westen“ (vgl. Said 1978). Thomas, Student der Volkswirtschaftslehre und Politik in einem Semester zwischen Bachelor und Master, formuliert es im Gespräch folgendermaßen: Thomas: „Mh. Also. Zum einen finde ich, ich studier ja Volkswirtschaftslehre und Politik und deswegen find ich China an sich schon interessant, weil, das alles was man in VWL und in Politik lernt in Deutschland, hatte ich das Gefühl wird durch China praktisch, wird hier praktisch fast im Gegenteil gemacht. [[Hm]] Das bedeutet, hier gibt es zwar auch Marktwirtschaft, aber es gibt auch immer diese planwirtschaftlichen Ansätze und in Volkswirtschaftslehre lernt man am Anfang erst mal, dass das der Teufel is, so ungefähr. ((lacht)) [[Hm]] Und in, in Politik lernt man die ganze Zeit nur was über die demokratischen Systeme am Anfang und wie funktionieren diese demokratischen Systeme. Man lernt zwar das demokratische System, aber nicht so wirklich, wie ’ne Gesellschaft damit, mh, ja damit zusammenhängt praktisch. [[Hm]] Deswegen hat mich das auf jeden Fall schon mal interessiert. Halt diese genaue Gegenentwurf irgendwie, finde ich, das finde ich auf den ersten Blick halt total unterschiedlich äh, zu Europa.“ [Thomas: 7a] Auch Steffen, Masterstudent der Wirtschaftswissenschaften, sagt: Steffen: „Ja also, ins Ausland wollt ich auf jeden Fall, da ich im Bachelorstudium nicht war und das hab ich bereut. [[Hm]] Deswegen wollt ich unbedingt ins Ausland und äh, China halt deswegen, weil (.) Europa mittlerweile, halt jeder Student nach Europa geht. Und da wollt ich halt mich ’n bisschen, differenzieren und dann irgendwo außerhalb Europas mich bewähren. Und da entweder China oder Südkorea, das waren meine beiden Favoriten. [[Hm]] Und China is es dann eben geworden. Bin eigentlich ganz froh drüber. Ja. Ich hab’s nicht bereut bis
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jetz. ((schmunzelt))“ [[Hm]] CH: „Und warum war’s für dich so der Raum Asien? Oder China, Korea speziell oder? (...)“ Steffen: „Ja, weil China eben in den nächsten paar Jahren eben äh, ’ne Weltmacht is beziehungsweise schon ja ist und wir äh, uns äh, ja ich glaub, im späteren Berufsleben muss man viel mit Chinesen eben auch äh, umgehen [[Hm]] und da is es natürlich gute, gute Kompetenz, wenn man schon mal in China gewesen is, die Kultur ’n bisschen kennenlernt. Is auf jeden Fall ’n großer Vorteil. (...) [...] Ja, man hört ja immer, dass die Chinesen ganz ’n freundliches Völkchen sind und äh, dass die viel arbeiten. Immer Stress, Stress, Stress. Und äh, ja, das hat sich eigentlich schon bestätigt. Also was man so sieht. Aber natürlich die Eindrücke ganz, auch ganz viele, neue Eindrücke sind eben da gekommen. Dass hier eben in jedem Laden drei, vier Mitarbeiter zum Beispiel drin sind, weil’s halt eben so viele Menschen gibt und so. Also man, man lernt schon dazu. Durch den Auslandsaufenthalt. [[Hm]]“ [Steffen: 7–16] Für das Selbstbild sind die Erfahrungen in China Teil der Biographiegestaltung. Dies betrifft konkret den Lebenslauf und das Selbstverständnis als sogenannte Kosmopolit*in: „Der Kosmopolit weiß: Die Menschen sind verschieden, und wir können aus diesen Unterschieden viel lernen“ (Appiah 2007: 13). Das kosmopolitische Verständnis, das immer auch ein romantisches ist, trifft auf die Realität, die aktiv gesucht wird. Menschen, die im akademischen Rahmen freiwillig ins Ausland gehen, wollen das Andere beziehungsweise das Fremde erfahren und verstehen lernen. Dies ist eng verknüpft mit dem Wunsch sich selbst zu gestalten und Weltwissen zu erlangen. Grete beispielsweise, die Interkulturelle Germanistik im Master studiert, führt aus: Grete: „Ähm, (...) ja und (.....). Ich mein, natürlich kommt dann, was dann auch noch dazukommt ähm, neben dem Interesse an andern Kulturen auch ähm, dass ich denke, dass ähm, man sich
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dadurch halt selber ein bisschen verändern kann oder das hoff ich zumindest, halt ähm, (...) mh, (...) ja, im positiven Sinne halt, so dann. (.....)“ CH: „Kannste das ’n bisschen näher beschreiben?“ Grete: „((lacht)) Ähm, (.....) ja. Ähm, (...) also in dem einen Jahr in Dublin war ’s halt schon so, dass ich ähm, wieder neue Eindrücke gewonnen hab. Und ich hab viele Menschen auch aus andern Kulturen kennengelernt und unter anderm. Also mit diesen zwei Koreanerinnen zusammengelebt, mit einem Italiener, mit einem Russen, dann hab ich ähm, an der Uni sehr viele Leute aus verschiedenen Ländern kennengelernt. [[Hm]] Und ähm, (...) ja. Das eröffnet halt schon irgendwo andere Perspektiven und ich finde, dadurch (...) verändert man sich dann auch stückweise und ähm, (.....) mh, (.....) ja. (.....) ((schmunzelt)) Also es is halt auch irgendwo ’ne persönliche Sache, dass ähm, (...) ähm, (...) dass ich halt hoffe, dass ich mich in manchen Situationen dann einfach ähm, vielleicht offener, freier, toleranter ähm, weniger schüchtern et cetera verhalten kann als vielleicht vorher. Also (.) wenn ich jetz in die Zukunft blicke, dann in zehn Jahren möchte ich halt sozusagen mich auch durch diese Erfahrungen ähm, verändert haben oder weiterentwickelt haben. (...)“ [Grete: 8–11] Es zeigt sich, dass Wissen variabel ist, und es sich von Lebenswelt zu Lebenswelt unterscheidet. Die Motivation für einen zeitweisen Lebensweltwechsel hängt mit Erwartungen zusammen, die von einem mehr oder weniger vorhandenen „Chinabild“ gespeist sind.
5.2.2 „Chinabild“ China gilt seit jeher als exotischer Gegensatz zum sogenannten Westen und war Inspiration für zahlreiche Literat*innen und Philosoph*innen (vgl. Woesler 2004: 25f.). Die Studien reichen von den spezifischen Darstellun-
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gen Chinas in Reiseberichten der Vergangenheit bis zum „Chinabild“2 der Neuzeit in aktuellen Medien (vgl. Richter/ Gebauer 2010). Von Interesse für die vorliegende Forschung ist speziell das Chinabild der Akteur*innen, das bereits durch bestehende Chinabilder gestaltet wurde und in der konkreten Interaktion mit der „Alltagswelt China“ konstruiert wird. Im Kapitel zur Motivation wurde bereits deutlich, dass das Bild von China als einer aktuellen sowie prognostizierten zukünftigen Wirtschaftsmacht eine große Anziehung und damit großen Einfluss auf die Entscheidung der Akteur*innen, nach China zu gehen, hatte. Dieses Bild führte dazu, dass sich ein Großteil der Akteur*innen, von ihrem Aufenthalt eine „Optimierung des Lebenslaufs“ verspricht. Im Folgenden wird deutlich, dass das Chinabild der Akteur*innen vor dem tatsächlichen Aufenthalt zunächst diffus und anonym war. Die Betrachtungen der Gesprächspartner*innen beschränkten sich auf das Land China und schlossen die Bevölkerung im Großen und Ganzen aus. Erst durch den Aufenthalt wurde eine Annäherung ermöglicht, die von einem anonymen, auf das Land bezogene Chinabild den Blick auf die chinesische Bevölkerung richtet, die interessanterweise allerdings zunächst als Kollektiv wahrgenommen wird. Dabei werden die positiven und negativen Auswirkungen von Chinabildern und deren Wandel dokumentiert. Konstruktionen von Bildern sind immer auch Zuschreibungen. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass die Akteur*innen sich in einer Beobachtungsposition befinden, die vergleichbar ist mit der einer Bildbetrachter*in. Sie nehmen Situationen im Alltag wahr, reflektieren und deuten sie. Dabei ist das jeweilige Chinabild sowohl Grundlage der Sinnzuschreibungen, als auch Gegenstand der Konstruktionen, und die Kontextgebundenheit dieser Sinnzuschreibungen wird deutlich, wie am Ende dieses Kapitels zusammengefasst werden wird.
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Die Autorin ist sich bewusst, dass es sich bei einem solchen Bild um ein konstruiertes und kollektiv-gebildetes Vor-Urteil unterschiedlicher Form und Ausprägung handelt. Das Wort „Chinabild“ wird im Folgenden als eben eine solche Konstruktion verstanden, der Einfachheit halber und zugunsten des Leseflusses jedoch nicht jedes Mal einzeln in seiner Problematik als Nationalbild mit all seinen Gefahren thematisiert.
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„Anonymes Chinabild“ Wieso Jakob, Jurastudent kurz vor dem Staatsexamen, sich für einen Aufenthalt speziell in China entschieden hat und in wieweit sein (Vor)- Wissen über China dabei eine Rolle spielte, erklärt er wie folgt: Jakob: „Also (.) Ch, China, die aufstrebende Supermacht is, chinesischer Sprachunterricht, der Wirtschaftsmarkt, vor allen Dingen Deutschland als Export treibende Nation. Und so weiter, und so weiter. Also es, kurzum es erschien mir um Welten sinnvoller und auch (.) vor allen Dingen auf lange Sicht (.) sinnvoller, Chinesisch zu lernen als Italienisch zu lernen. [[Hm]] Das war eigentlich mein Hauptbeweggrund Erasmus (...) völlig links liegen zu lassen und zu gucken, wo ich noch hingehen kann und dann war China natürlich die erste Wahl. (.....) Das war, das is eigentlich so der Hauptgrund, warum ich jetz hier sitze auch.“ CH: „Also karriereorientiert?“ Jakob: „Ja. Absolut. Also ich hab ’s mit Sicherheit nicht wegen der, wegen der Landschaft gemacht oder sonst irgendwas, sondern (...) ja, al, also ich, ich hab wirklich, das kann ich so für mich auch sagen, ich hab keine andere Motivation gesehen dahinter als jetzt (...) äh, für die, das maximale aus der Zeit für meinen Lebenslauf rauszuholen. [[Hm]] (.....)“ [Jakob: 7–10] Bei den befragten Student*innen, die nicht Sinologie studierten, beschränkte sich das Vorwissen über China auf eine diffuse Vorstellung des Anderen und auf wirtschaftliche Aspekte. Zu erklären ist das mitunter dadurch, dass häufig vor der Anmeldung zum Auslandsaufenthalt keine nähere Beschäftigung mit China stattgefunden hatte (vgl. Steffen: 7; Stefanie: 14a–15a; Thomas: 20a; Sandra: 9–12, 16; Maria: 122–125; Inga: 17; Nadja: 9f.; Lukas: 62f.; Nadine: 7; Damian: 7). Die Naturwissenschaftsstudentin im Master Nadine reflektiert das wie folgt: Nadine: „Und zwar ziemlich komisch, weil (.), also ich hab mich nie für China interessiert, aber mir war von vorneherein
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halt klar, dass ich irgendwie ’n Auslandssemester machen will, weil das eigentlich in meinem Studiengang auch mh, Studienplan so drin ist, dass man im 5. Semester seines, dass halt empfohlen wird, dass man ins Ausland geht. Mh, aber für mich war halt nicht klar wohin, und ich hatte ähm, einige Informationsveranstaltungen besucht. Und mir hatte halt nie so richtig was zugesagt, weil das war ähm, bei uns gingen die meisten halt irgendwie ins europäische Ausland, weil halt Erasmus ((schmunzelt)) ganz in meinem Fachbereich ist. Und ähm, aber da hatte mir halt nichts so richtig gefallen. Und wenn mir was nicht richtig gefällt, dann mach ich’s halt nicht. ((lacht)) [[Hm]] Und ähm, ja (.) allgemein von meiner Uni gehen die meisten halt irgendwie nach Amerika. Ähm, da ham viele Partnerunis in Amerika und (.) halt auch im europäischen R, Bereich. Äh, aber auch die Universität Nanjing, weil es gibt halt diesen Master in , (...) den man bei uns machen kann. Das ist halt so ’n äh, konsekutiver Master und äh, ja. Also (.) da ist auf jeden Fall ’ne Kooperation mit der Nanda und dann noch ähm, in Taiwan mit der National Taiwan University oder so irgendwie. Aber sonst eher weniger im asiatischen Raum. Ja und dann hat, ich hatte angefangen Chinesisch zu lernen. Äh, vor ’nem Jahr ungefähr. Das war mehr so ’ne ((schmunzelt)) Spontanentscheidung. Also wie gesagt, Chine, China und Chinesisch hat mich eigentlich nie interessiert. ((lacht))“ [Nadine: 7]
Bei der Frage nach ihrem Vorwissen über China bezogen sich die Antworten der Gesprächspartner*innen mehrheitlich auf das Land China und zunächst weniger auf die Menschen. Vielmehr wurden diese anfangs als Kollektiv wahrgenommen. Erst im Verlauf des Gesprächs und bei der Beschreibung persönlicher Erfahrungen während des Aufenthalts fächert sich diese Beschränkung oftmals auf. Zu Anfang ist das Chinabild, sofern vorhanden, jedoch von Anonymität geprägt, wie beispielsweise die Ausführungen von Inga, einer angehenden Chinesisch als Fremdsprache-Lehrerin, zeigen:
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Inga: „Mh. (.....) Also ich (...) hab eigentlich kein festes Bild im Kopf gehabt, wie China aussieht. Des, das einzige, was ich halt so von China kannte war eben so aus den Medien. Bevor ich das erste Mal da hinkam. Und eben diese, zum Beispiel die Bilder aus Shanghai. Zum äh, die meisten Dokumentationen über China ähm, da sieht man nun mal meistens die Großstädte. (...) [[Hm]] Und (...) naja, aus Film und Fernsehen hat man ja so ’n fest eingeprägtes Bild. Und ähm, das stimmt mit der Realität e, aber so, so teilweise schon überein, weil ähm, das was an China sehenswert ist, das taucht immer meistens in den Medien auf [[Hm]] und so der Alltag der Menschen oder so (...) ähm, das tägliche Leben auf der Straße, das sieht man natürlich eher weniger. [[Hm]] So, wie so der Durchschnittschi, Chinese eigentlich so sein Tach verbringt, mit was ((schmunzelt)) und so weiter, wie das Leben hier so abläuft.“ [Inga: 17] Zentral für das anfängliche Chinabild ist zwar die Vorstellung von China als Wirtschaftsmacht, trotzdem zeigen sich einige Gesprächspartner*innen überrascht von Chinas Entwicklungsniveau. Mirko beispielsweise berichtet, dass ihn vor allem die Autos beeindruckt hätten, denn kaum eines schien älter als sieben Jahre zu sein. Das Niveau – zumindest in den großen Städten – sei teilweise höher als in Deutschland (vgl. Mirko: 76). Die Aussage Amelies pflichtet dem bei. Sie habe sich „China nicht so modern vorgestellt“ und als sie nach Nanjing kam, dachte sie: „Wow! Die sind ja quasi fast weiter als wir“. Jeder, ob jung oder alt, habe ein Smartphone und „spiele damit die ganze Zeit herum“ (Amelie: 29). Die Sinologin Janine erzählt, wie ihr romantisches Bild des traditionellen Chinas auf die Realität einer modernen Millionenstadt getroffen ist: Janine: „Ich hab, ich hab, glaub ich eher, ich hab mich für das alte China intressiert und für die alte Kultur. Ich hab’s nie gelernt, weil ich, weil ich irgendwas mit Wirtschaft machen wollte. Viele denken heute: ,Ich nehm die Kombi BWL und Sinologie, passt gut, [[Hm]] Chinas Wirtschaft wächst an und damit hat man gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt.‘ ((schmunzelt))
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Aber das war (...), das war überhaupt nich meins. (...) Also mh, ich intressier mich überhaupt nich für Wirtschaft, für mich is klar, ich mach später alles außer Wirtschaft. ((schmunzelt)) Und ähm, (...) ja. Ich, ich hab, glaub ich, ’ne China-Nostalgie, ein verklärtes Bild. ((lacht)) [[Hm]] Ich ähm, (...) ich find die alten Gebäude schön. Ich (...) find die alte Gesellschaft intressant und ich find die Philosophie intressant. Konfuzianismus, Daoismus. (...) Das hat mich fasziniert an China.“ CH: „Und wie is das moderne China für dich?“ Janine: „Mh. Das was ich auf der Straße sehe. (...) [[Hm]] Ich (...) mh, (...), ich muss sagen, ich find die chinesischen Städte, also (.) sie erschlagen mich. ((lacht)) [[Hm]] Ich bin ähm, also ich komme aus ’nem kleinen Dorf und meine Stadt hat vielleicht (...) zehn Läden und es is vielleicht so groß wie das Xianlin Campus. ((lacht)) [[Hm]] Deshalb sind die Ausmaße etwas anders. Also ich war vor Nanjing zwei Monate in Qingdao. [[Hm]] Das war während den Semesterferien, weil ich gedacht hab, vor Nanjing möcht ich schon mal sehen, wie ’s is und auch schon mal erste Erfahrungen sammeln. Damals hatt ich ’n Praktikum gemacht und ich glaub, in den zwei Monaten hatt ich ’nen richtigen Stadtschock. Das war, es war schwierig. Es war vielleicht auch nicht ganz das, was ich, was ich erwartet hatte von China. Ich bin in ’ne Stadt gekommen, die ähm, die jetz nichts kulturell geschichtlich Bedeutendes hat. Sie ähm, also (...) von, von deutscher Kolonialzeit geprägt. [[Hm]] Und äh, so viele alte Tempel oder ((lacht)) gibt es dort nicht. Deshalb (...).“ [Janine: 15–18] Der Sinologe Patrick erzählt ebenfalls von kleineren Irrtümern im Gestaltungsprozess seines Chinabildes und dem daraus resultierenden Wunsch, sich sein eigenes Bild vor Ort zu machen. Patrick: „Okay. Also im Prinzip äh, hat mich China schon irgendwie immer fasziniert. Ich weiß zwar nicht ganz genau wa-
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rum, aber auf jeden Fall (.) dieses ähm, Klischeebild von China hat mich schon irgendwie fasziniert. Äh, damals äh, hab ich übelst dieses äh, chinesische Essen aus den Chinarestaurants gemocht, [[Hm]] was ich heute als total äh, Abfallessen bezeichne. ((lacht)) Das ist kein chinesisches Essen eigentlich. ((lacht)) Und dann in Chinarestaurants arbeiten nicht mal Chinesen. Also auch voll der Reinfall. Ich einmal versucht Chinesisch zu reden und dann meinten die: „Ich kann kein Chinesisch. Ich bin hier Vietnamese.“ ((lacht)) Ja, super. ((lacht)) Ähm, ind auch äh, ähm, ich fand die Gebäude ganz toll und äh, Konfuzius hat mir auch was gesagt. Das von, a, alles was ich irgendwie so klischeemäßig über China halt wusste.“ CH: „Woher hattest du [[Ja]] denn dein Wissen über China vorher?“ Patrick: „Ähm, das war im Prinzip äh, was man in den Fernsehn halt so sieht äh, aus Bilderbüchern ((Handy piept wieder)) ((lacht)) und dann ähm, (...) ähm, aus Filmen mehr im Prinzip. Aber das man äh, im Prinzip äh, äh sehen Deutsche ja China eher als Japan, Korea. Japaner äh, Japan, China, Korea (...) äh, in einem. [[Hm]] Also alle die äh, Schlitzaugen haben, sind Chinesen. ((schmunzelt)) [[Hm]] Und äh, im Prinzip dacht ich eher, dass äh, Mangas, Geishas und so was, so ’n ((unverständlich)), alles Mögliche kommt aus China, nicht aus Japan. [[Hm]] [...] Das is mein Hauptanliegen und ich wollte halt auch mal China persönlich erfahren. [...] Also (.) diese Vorurteile hatt ich (...) und ähm, (...) ich hatte auch irgendwie (.) ähm, ein bisschen Schiss vorm chinesischen Essen. ((schmunzelt)) [[Hm]] Äh, weil wir ham auch ziemlich viel Vorurteile in, in Deutschland. Ähm, wie gesagt, Hühnerfüße, Hundefleisch oder so. Aber ich hab meiner Familie gesagt, ich will das alles einmal ausprobieren. ((lacht)) Hühnerfüße hab ich schon hinter mir und Entenköpfe hab ich auch schon gegessen. ((lacht))“ [Patrick: 11–14]
5.2 Auswertung
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Anders als bei Janine, deren verklärtes Chinabild vom modernen China entzaubert wurde, weichen Patricks Sorgen um das chinesische Essen der Begeisterung. Vor Ort konnte er die in Deutschland kursierenden und ihn beunruhigenden Annahmen zu Smog und Kulinaristik dekonstruieren. Einige Akteur*innen kritisieren nun, da sie selbst in China sind und sich damit der Blickwinkel verändert hat, das, was man den deutschen oder westlichen Blick auf China nennen könnte und das unter anderem durch ein medial konstruiertes Chinabild geprägt ist. Dieses Bild wird nun zum Teil sogar als treibende Kraft der Ängste vor dem Auslandsaufenthalt wahrgenommen. Die Psychologiestudentin Anett benennt die potentiell Angst schürenden Fragmente dieses Chinabildes und ihre Strategie der Angstvermeidung, nämlich sich kein Chinabild zu machen: Anett: „Also ich hab, ich mochte immer dieses, also in Deutschland ist es ja so, dass relativ, sagen mal, relativ einseitig berichtet wird und relativ negativ. Ähm, und ich wollte das Ganze nicht so ganz hören. Also ich dachte mir: ,Es ist bestimmt nicht falsch, was die sagen. Also stimmt, große Umweltprobleme sicherlich und (...) türlich immer Menschenrechte.‘ In Deutschland wird immer berichtet und das ist sicherlich alles wahr, aber ich wollt mir nicht so, das (...) quasi mein China davon vermiesen lassen. [[Hm]] Ähm, und ich hab mir nicht so viel gedacht. Ich hab mir eher so, ich hab mir gedacht: ,Wenn ich mir zu viel Gedanken mache, krieg ich nur Angst.‘Also hab ich mir keine Gedanken gemacht ((lacht)) und hab halt einfach nur quasi geplant immer den nächsten Schritt. Quasi: ,Okay, ich geh jetz nach Shanghai und da muss ich schauen, wie ich an ’n Zugticket komme.‘ Und hab ich mir ein Hostel gebucht von, die dann beschrieben hatten, dass sie Zugticket-Service hatte, weil ich hatt ja keine Ahnung von China. Ich wusste auch, also ich konnte wirklich ’n paar (.) grundlegende Dinge sagen, aber nicht so viel und dachte mir so: ,Gut, wenn die mir helfen, das passt mit schon.‘ ((schmunzelt)) Und hab das halt alles am Anfang geplant, so dass ich einfach die ersten paar Tage überleben konnte und (...) genau. [[Hm]] Ich hab versucht, nicht so
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viel nachzudenken. ((lacht)) Das war wohl der beste Plan. Für mich.“ [Anett: 63] Auch Freunde und Familie sind von negativen Berichterstattungen beeinflusst. So warnten Mirkos Eltern: „Pass auf Junge. Halt’s Portemonnaie fest oder versuch’s wegzustecken“ (Mirko: 15). Die Naturwissenschaftlerin Nadine wusste um die negative Einstellung ihrer Umgebung und teilte deshalb ihre Entscheidung, nach China zu gehen, erst kurzfristig mit: Nadine: „Hm. Ich hatt ’s kurz vorher Leuten gesagt, dass ich nach China gehe, weil (...) mh, also in meiner Familie wird halt viel diskutiert und ich hatte keine Lust irgendwie, dass jetz gleich alle Leute das irgendwie schlecht reden, und dass das nur negative Erfahrung wird. Aber als ich dann mal mit ’n paar Leuten geredet hab, (...) kam gleich so negative Sachen über China. Also im Bezug auf mh, halt so Politik. Wie schlecht es ist oder, ja. Dass man halt aufpassen muss, was man sagt. Dass man wenig frei is. Mh. Dann mit dem Essen, okay. Beim Essen hatt ich auch ’n bisschen Sorgen, dass ich das nicht mag. [[Hm]] [...] Also is eigentlich kein Problem. Mittlerweile ess ich ’s sehr gerne und ich werde Reis vermissen. ((lacht))“ CH: „Ja, weil du hast schon irgendwie (.) geahnt, dass die negative Sachen sagen?“ Nadine: „Ja. Irgendwie schon. [...] Hm. Ja, ich kenn meine Familie halt. ((lacht)) Ähm, die sind nicht so mh, auslandsbegeistert. [[Hm]] Also ich bin die einzige halt irgendwie in der Familie, die gerne Sprachen lernt, die unbedingt was von der Welt sehen will. [[Hm]] Mh. Is halt jeder anders. Ähm, (.) der Rest in meiner Familie ist halt mehr: ,Okay, wir woll ’n in Deutschland bleiben, wir können Deutsch. Das Reicht.‘ [[Hm]] Deshalb so.“ [Nadine: 42–47] Die Jurastudentin Nadja erzählt von ihren eigenen Ängsten, die durch Medien verursacht wurden, und dass sie eigentlich nie nach China wollte:
5.2 Auswertung
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CH: „Hattest du denn schon vorher Erfahrungen mit China?“ Nadja: „Gar nicht. Ich hab mich nie, ich hab mich mit China soweit auseinandergesetzt, dass ich ’ne Doku gekuckt hab und mich entschieden hab, ich will da nie hin. ((lacht))“ CH: „Okay. Warum wolltest du nie hin nach der Doku?“ Nadja: „Die Menschenmassen. Ich hatte wirklich einfach auch Angst und (.) einfach was man hört, grad von dem Straßenessen und so was. Für mich war das alles nur China. Und das is im Endeffekt eigentlich ganz cool, also dass man so viel verschiedenes Essen ausprobiert, das wirklich lecker ist. Was man Zuhause halt nie bekommt und äh. [[Hm]] Und, und ich hatte auch, ja, diese, die Menschenmassen hat sich nicht geändert, das find ich schrecklich, aber das kann man ganz gut mittlerweile ignorieren. Am Anfang hier, die ersten zwei Wochen hatt ich da Kopfschmerzen, weil überall Leute geschubst haben, man hat immer nur Menschenmassen gesehen. Aber (.) das ist jetz auch viel besser. Das kann man ganz gut ausblenden, finde ich. [[Hm]] Und auch das halt der Lebensstandard nicht so is, wie wir das kennen. Aber das, man muss sich ja nicht anpassen, man kann ja einfach sagen: ,Okay, ihr habt euren Standard, ich hab meinen.‘ (...) Und dann klappt das. [[Hm]] (.....)“ [Nadja: 9–12] Es wird deutlich, dass durch den Aufenthalt in China die vorgefertigten Bilder, die die Akteur*innen bewusst oder unbewusst in sich trugen, de- und rekonstruiert werden. Besorgnis kann sich in Begeisterung wandeln. Allerdings trifft dies nicht auf alle Gesprächspartner*innen zu. Es gibt auch Student*innen, deren Chinabild sich während des Aufenthalts ins Negative entwickelte, wie zum Beispiel bei der Masterstudentin der Wirtschaftswissenschaften Stefanie: Stefanie: „Ähm. (.....) Hm, es is eigentlich negativer als ich gedacht hätte vorher. Ähm, also ich weiß halt, dass ich, ich weiß halt jetz, dass ich auf keinen Fall hier leben könnte, für lange.
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
Ähm. (.....) Muss sagen, ich finde ziemlich viele Sachen relativ traurich, wenn man das so betrachtet. Das halt so ’n großes Land, ähm, zum Beispiel relativ wenig auf, auf so Umwelt oder so was achtet. Ähm. Ja gut, so Sachen. Also bestimmte Dinge wusste man ja schon vorher, ähm ja. ((lacht)) Ich weiß nicht was ich noch sagen soll, ja so.“ CH: „Was meinst du mit negativer?“ Stefanie: „Ähm. (...) Ja, das Ganze, einfach die Tatsache, dass ich nicht hier leben könnte. Dass das jetz so, so konkret sagen kann. Das hätt ich nich erwartet, hätte gedacht, ähm, das ist halt anders, aber es is schon so, dass man doch gut, also dass ich auch gut damit klar kommen könnte für längere Zeit. Aber das weiß ich jetz, dass ich hier bestimmt nich (..) zwei Jahre bleiben könnte, also ’n halbes Jahr is völlig in Ordnung [Klopfen an der Tür], das is ganz spannend und so, aber mehr, (..) ja, [nochmaliges Klopfen] wär dann auch nich. (...)“ [Stefanie 71a–73a] Die Analyse ergibt, dass die Chinabilder während des Aufenthalts dynamisch sind. Je nach Erfahrung wandeln sie sich ins Positive oder Negative und diffuse Bilder gewinnen Konturen. Eine weitere Entwicklung ist die differenziertere Perspektive auf Chines*innen. Bei der Frage nach dem Chinabild wurde die chinesische Bevölkerung nicht oder nur kaum in die Erzählungen mit einbezogen oder es wurde anonym von „den Chinesen“ als Kollektiv gesprochen: Mirko: „(...) Ich hab mir schon gedacht, dass es schwierig wird mit Englisch, aber, hier im Unibereich is das immer relativ einfach. Hhm. (...) Es ist durchmischter als ich’s mir gedacht hab, also innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Man geht hier öfter in chinesische Restaurants, ich hätte gedacht hier sind vielleicht nur Han-Chinesen und nur aus einer Region. Aber es is doch auch schon ziemlich viel Migration innerhalb Chinas.“ [Mirko: 76a]
5.2 Auswertung
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Perspektivwechsel Dieser Blickwinkel änderte sich jedoch im Laufe der Zeit und wird kritisch hinterfragt. Nadja: „Also vor allem, für mich war das vorher so ’ne Masse und (.) [[Hm]] zum Beispiel, was mir heute aufgefallen ist, vorher hätt ich nie sagen können, wenn ein Chinese aus’m Norden kommt oder aus’m Süden. Und jetz frag ich mich, wie ich das nicht hätte sehen können. Weil die Unterschiede von der Hautfarben, von den Gesichtszügen. W, das was alle immer meinen, alle Chinesen, alle Asiaten sehen gleich aus. Is der totale Schwachsinn, wenn man einmal länger in China war. [[Hm]] Das is auch irgendwie ziemlich blind und ziemlich rassistisch, wenn man das so betrachtet.“ [Nadja: 68] In den Gesprächen reflektieren die Student*innen ihre eigenen Konstruktionen und sind sich dessen bewusst, dass ihre Wahrnehmung (vorerst) begrenzt ist. Die Naturwissenschaftlerin Sandra reflektiert beispielsweise, dass sie auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse auf ihre Wahrnehmung angewiesen sei, um ein Bild von den Menschen entwickeln zu können. Sie finde es interessant, wie sie die Menschen wahrnehme, und dass man Menschen anders wahrnehme, „wenn man die Sprache nicht so gut versteht“. Ein Gespräch beispielsweise würden schimpfend wirken, obwohl es möglicherweise „einfach nur ’n Gespräch“ sei. Die Leute würden dadurch unhöflich wirken, „aber sind ’s, glaub ich gar nicht. Das is halt so ’ne Art.“ Sandras Aussagen nach ist ihr Bild von China auch dadurch geprägt, dass sie viele der Handlungen teilweise für ineffizient halte. Sie reflektiert, dass die Lautstärke bei Gesprächen im ersten Moment unhöflich wirkt, aber erklärt sich dies mit der chinesischen „Art“ Gespräche zu führen (vgl. Sandra: 112). Hier wird wiederholt deutlich, dass sich die einzelnen Kategorien überschneiden und bedingen. Die Verknüpfung von Chinabild und Kommunikation (Sprache) wird im entsprechenden Kapitel (s.u. 5.2.7) weiter erläutert werden. Zum Großteil sind die Akteur*innen auf ihre Fähigkeiten als Beobachter*innen angewiesen, die dem Wahrgenommenen Sinn zuschreiben. Diese Sinnzuschreibungen münden wiederum in ein Bild von China,
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das erwartbare Handlungen organisiert. Häufig beschriebene Beispiele sind Situationen aus dem Auftreten und dem Umgang miteinander im gesellschaftlichen Raum, die zunächst irritierend und grob wirken. Doch vor dem Hintergrund eines Chinabildes, das geprägt ist von Höflichkeit, betonen alle Gesprächstpartner*innen die Höflichkeit der chinesischen Bevölkerung: Mirko: „(......) Die Menschen sind auf die Manieren zum Teil doch so wie ich’s mir vorgestellt hab. Ich hab mir die Chinesen so wie die Amerikaner der westlichen Welt immer vorgestellt. Das heißt doch etwas lauter und ähm. Das ist so. Sie sind (.) auf Lärmschutz wird nicht viel Rücksicht genommen und ähm, die Manieren im Restaurant. Also ich hab mir das jetz immer im Vergleich zu Japanern vorgestellt. Die sehr höflich sind, sind die Chinesen doch schon sehr laut. Aber die Chinesen sind doch sehr hilfsbereit und ähm, unglaublich nett (...) und sehr ehrlich. Das hätt ich mir, also so was hätt ich mir gar nicht vorgestellt. Ich glaube, viele Chinesen ham Angst davor, dass man, dass man sie beschuldigt, dass sie klauen, so kommt mir das manchmal vor. Wenn man jemand ein Buch für jemand bestellt, is es unglaublich schwierig denen das Geld vorher zu geben, weil man möchte es einfach nicht haben. Er möchte es erst dann haben, wenn man es gibt. Ähm, ich kann einfach ’n Hunderter im Restaurant geben, auch wenn der mir sagt, egal wie teuer das ist. Ich weiß, dass ich genau richtig zurück bekomme. Es ist schwierig den Leuten Trinkgeld zu geben und es is, ähm. (...) Also man wird hier nie beschissen, kommt mir das vor. Selten. ((lacht)) (.....) Ah, wie sind die Leute.“ [Mirko: 74a] Diese durchaus positive Zuschreibung zielt erneut auf Chinesen als Kollektiv und entspricht dem in Reiseliteraturen (vgl. Kuan/ Häring-Kuan 2011) und Managertrainings3 (vgl. Thomas 2008; Kotte/ Li 2008) verbreiteten, von Höflichkeit und Hilfsbereitschaft (vgl. Anett: 66; Patrick: 20) getrage3
Siehe auch das Angebot zahlreicher „Business-Knigge“ für China auf dem aktuellen Buchmarkt.
5.2 Auswertung
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nen Nationalcharakter. Dies birgt bekannte und viel diskutierte Gefahren. Andererseits entstehen aus dem Bild der „höflichen Chinesen“ heraus Rollenerwartungen (vgl. Maletzke 1996: 98), die dazu führen, dass Verhaltensweisen, die zunächst unhöflich erscheinen, reflektiert und de-/ rekonstruiert werden. Mittels dieses Stereotyps kann über die Lautstärke, das „Rotzen“, um bei der Begriffswahl der Akteur*innen zu bleiben, und über das grobe Gedrängel im alltäglichen Verkehr hinweggesehen werden. Ein weiterer Stereotyp, der teilweise in den Gesprächen seinen Niederschlag findet, ist die Konfliktvermeidung. Und auch hier wirken Art und Lautstärke der Gesprächsführung chinesischer Personen auf die Akteur*innen zunächst irritierend, werden aber keineswegs als aggressiv gedeutet: Kai: „Chinesen sind (.....) immer ’n bisschen drumrum. ‘N bisschen, eher so’n bisschen (...) flexibel, ’n bisschen weich. Die äh, sehr schwierig für sie, was äh, (...) was zu sa, ähm, äh, was direkt zu äußern. Das is wirklich. So viele können das nich. Find ich so. Gut, wenn die jetz ’ne Weile woanders waren, dann is es einfacher für sie. Kommt auch auf den Charakter an. Aber die meisten machen’s nich. Die meisten Chinesen, dir mir, die mir begegnet sind, sind wirklich, die entsprechen, das muss ich sagen, in vielen Dingen schon etwas dem Klischee. Nicht diesem (...) deutschen, sondern diesem Klischee, dass Chinesen nich direkt sind. [[Hm]] Dass sie ’n bisschen chaotisch sind, dass man sie nicht wirklich, dass man nie genau weiß, was sie eigentlich wollen oder nich wollen. (.....) Und dass sie irgendwie langweilig sind. (.....) Das is jetz äh, ähw, f, für europäisch, das heißt ’n bisschen so (...) defensiv, sehr ruhig (...) und dass Chinesen am Telefon grausig sind, weil sie nicht äh, desinteressiert rüber kommen. Also sie wirken apathisch, desinteressiert für ’n, für Europäer. [...] Entweder sind sie laut oder halt wirken apathisch. Du weißt, man weiß ja nie genau, ’n bisschen schwierig.“ [Kai: 174] Kai ist Student der Interkulturellen Germanistik und Sinologe mit guten bis sehr guten Chinesischkenntnissen und erklärt „die Chinesen“ anhand seiner
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
persönlichen Erfahrungen. Mit anekdotischen Evidenzen begründet er seine Pauschalisierung der zwei Extreme von Lautheit und Apathie. Obwohl „die Chinesen“, das erwartete Rollenbild der Gesprächspartner*innen oftmals „erfüllen“ und allgemein als höflich betrachtet werden, gibt es immer wieder Kritik an fehlender Ruhe (vgl. Amelie: 80; Sabine: 17; Kai: 50; Clara: 202) und den „Körper- und Essgeräuschen“ (vgl. Mirko: 24b; Patrick: 45; Stefanie: 12b; Mirko: 12, 74). Als ebenso irritierend werden Sauberkeit, Geruch (vgl. Clara: 38; Vera: 108; Anna: 10, 58) oder das „auf die Straße rotzen“ (vgl. Patrick: 21; Sabine: 17; Stefanie: 62; Nadine: 39; Vera: 44) empfunden. Im Kontext „China“ sind Verhaltensweisen mitunter anerkannt, die in Deutschland sehr wahrscheinlich andere Reaktion provozieren würden. So erzählt Vanessa eine Beobachtung, die sie in China belustigt, aber in Deutschland sicherlich entsetzt hätte: Vanessa: „Es gibt dann doch so die paar (...) Eigenheiten bei den Chinesen wo ich immer total lachen muss, wenn, wenn ich das erlebe und mich aber auch wundere, warum ich jetzt drüber lache und für alle anderen ist das schon so normal geworden. Zum Beispiel: Ich hatte ’n total ähm, total prägnantes Ereignis. Da war ich einkaufen beim Obstladen und vor dem Obstladen stand halt ’n kleiner Junge. So, so ganz süß und nett, so ’n, ’n, war vielleicht um ein Jahr alt herum und hatte halt unten keine ähm, äh keine Windeln an und nüscht. Und das war halt genau gegenüber von diesem Obstladen und so wie er stand, musste er halt wohl auf Toilette. Hatt halt voll auf die Straße einfach hingeschissen. ((lacht)) Und niemand hat sich da weiter drum gekümmert. Der hat da einfach vor den Obststand, so, so knapp zwei Meter gegenüber von den Bananen hat der sich halt von, von seinem entledigt und (...), joa. Hat keinen Chinesen gewundert, der ist dann seines Weges weitergegangen und ich stand da und war erst mal total perplex. Was ist denn hier jetzt grad passiert. Total seltsam. ((schmunzelt)) Oder auch beim Einkaufen. Hier gibt ’s so ’n großen Supermarkt, der so wie ’n Kaufland aufgebaut ist. Ähm, ich hatte mich am Anfang gewundert, warum sin, stehen denn da überall Mülleimer. Irgendwann hab
5.2 Auswertung
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ich verstanden. Ja, wenn die Eltern mit ihren Kindern unterwegs sind und das Kind muss, halten die das Kind einfach in den Mülleimer rein und dann kann ’s sich da drin erledigen, entledigen. Und das is, fand ich am Anfang ganz kurios, dann so. Da hab ich jetz immer noch Probleme mich daran zu gewöhnen und das war dann so für mich: ,Ah ja, okay. Ich bin in China.‘ Weil in Deutschland ((lacht)), wenn jemand sein Kind da wohl auf die Straße hält und da das Kind hinmacht. Da würden wir ja durchdrehen. Das gibt’ s bei uns einfach nicht. Und hier ist das so normal, hier wundert ’s die Leute noch nicht mal mehr. Und ich stand da, hab nur angefangen loszulachen, ja loszulachen, weil das einfach so kurios für mich war. Ja. Das ist mir am Anfang sehr deutlich aufgefallen. (...)“ [Vanessa: 44] Es zeigt sich, dass die Student*innen durch den Auslandsaufenthalt den Kontext spezifischer Verhaltensweisen selbst kennen und verstehen gelernt haben. Würde man oben genannte Verhaltensweisen auf Deutschland übertragen, würden sie weniger sinnhaft sein und einzelne Akteur*innen würden sich über ihre Handlungen aus der Lebenswelt ausschließen, da sie aus der Rolle fallen. Erst im Kontext der anderen Lebenswelt China, ergeben die Handlungen chinesischer Akteur*innen für die deutschen Student*innen Sinn und ernten Verständnis. Auch zunächst als negativ eingestufte Einstellungen scheinen den Gesprächspartner*innen Stück für Stück Respekt abgerungen zu haben. Jakob beispielsweise findet die von ihm wahrgenommene Berechnung der Chinesen sympathisch: Jakob: „Deswegen glaub ich einfach (.) ja, also ich, also mein Eindruck von den Chinesen is einfach, dass sie knallhart durchkalkulieren: ,Worauf verwende ich meine Zeit? [[Hm]] Ich verwende meine Zeit zu 100 Prozent nur darauf, was ich, was dazuführt, dass ich morgen einen Schritt weiter bin als ich heute bin.‘ Zum Beispiel (.) deswegen auch Deko in, in Restaurants und so was. Also meinem Empfinden nach, haben die bis jetz nicht so viel Wert gelegt. Das bringt denen nichts. [[Hm]] Also die Leute, die kommen und essen. Wenn die Leute nicht mehr
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kommen und essen, dann mach ich halt sauber, aber vorher, warum soll ich vorher sauber machen? [[Hm]] So das, das is bisher mein Eindruck von den Chinesen, dass die wirklich einfach überlegen: ,Bringt mich nicht weiter, mach ich nicht. Wie geht ’s weiter voran?‘ Ich mein, das sind ja auch wahnsinnig viele Chinesen. Die mü, die müssen ja auch zusehen, wie ’s vorangeht. Also.“ CH: „Wie bewertest du das?“ Jakob: „Ich find das sehr sympathisch. Also (.) ich find das, ich find das ’ne gute Sache eigentlich.“ CH: „Ja?“ Jakob: „Das ist strukturiert, das is überlegt, das ist nicht mit unnötigem Tinnef aufgehalten. Vielleicht ’n bisschen zu extrem in einigen Fällen. Dass sie einfach rücksichtslos in der UBahn, auch wenn 500 Leute aussteigen müssen, der eine Chinese muss jetz genau durch die Mitte versuchen reinzukommen. Da denkt man sich halt(...): ,Kollege, das muss jetz nicht sein.‘ Aber, aber sonst find ich das, finde ich eine ganz gute Sache. [[Hm]] Aber das, das, da gewöhnt man sich einfach mit der Zeit dran. Wenn man da mal ’n bisschen das durchdacht hat: ,Okay, warum sind die jetz so?‘ [[Hm]] Wenn man einfach nur sieht, die sind so und so, da denkt man sich erst so (...): ,Als nächstes essen sie Hund.‘ Aber wenn man sich überlegt: ,Okay, das macht ja schon Sinn. Und auch im Kontext macht ’s dann Sinn.‘ Macht Spaß.“ [Jakob: 43–48] Die jeweiligen Chinabilder der Akteur*innen sind, wie bereits gezeigt, immer auch Teil der Motivation für ein Auslandsstudium in China, wobei sich diese Bilder im Verlauf des Chinaaufenthaltes in ständigem Wandel befinden. Die Gespräche eröffnen dabei zudem, dass China als das Andere sehen und erleben zu wollen, Beobachtungen und Handlungen im fremdkulturellen Kontext Sinnhaftigkeit verleiht, wo die Akteur*innen diese in der eigenkulturellen Lebenswelt der Student*innen nicht haben. Es werden Begriffe und Konzepte wie Differenz oder Mentalität, um nur einige zu nen-
5.2 Auswertung
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nen, aus interkulturellen Diskursen herangezogen und beständig (neu) konstruiert. Es findet hierbei immer auch eine Konstruktion von Stereotypen statt, wobei „Stereotyp [...] der wissenschaftliche Begriff für eine unwissenschaftliche Einstellung“ (Bausinger 1988: 160) ist. Stereotypen zeugen von Ordnungssystemen, die mit Vorstellungen, Einstellungen und Bewertungen verbunden sind. Diese wurden den Akteur*innen den Erzählungen nach spätestens bei der Anreise bewusst und wirkten sich auf zukünftige Handlungen und Erwartungen aus. Gleichzeitig dienen sie als Orientierung, wobei es zunächst unwichtig erscheint, ob es sich um Faktenwissen oder um Stereotypisierungen handelt. Wie im Weiteren deutlich wird, sind sich die Akteur*innen bewusst, dass ihre Wahrnehmung verzerrt oder stereotyp ist. Durch individuelle Interaktion und individuellen Erfahrungserwerb konstruieren sich diese Stereotype jedoch – manchmal mehr und manchmal weniger – und damit das Chinabild insgesamt. Bei der Beschreibung der Bilder, die sie von China haben, und vor allem bei der Beschreibung der Ankunftsphase ihres Aufenthalts sowie der erlebten Beobachtungen fällt wiederholt der Begriff des „Kulturschocks“, was im Weiteren dargestellt werden soll. 5.2.3 „Kulturschock“ Erwartungen eines Kulturschocks Markant für die Beschreibung der Ankunftsphase in China ist der Begriff des „Kulturschocks“, der ausschließlich von den Akteur*innen ins Gespräch gebracht wurde. Der Begriff deutet auf ein Problembewusstsein und eine Erwartung hin. Auch, wer vorher in Deutschland rudimentären Kontakt zu chinesischen Kommiliton*innen hatte, erlebte in China Situationen, die als mehr oder weniger schockierend, weil unerwartet, wahrgenommen wurde. Stefanie hatte nach eigener Aussage bereits in Deutschland ziemlich viel Kontakt zu Chinesen gehabt und hätte daher auch schon eine Ahnung gehabt, wie Chines*innen so wären. Doch trotzdem fallen ihr Verhaltensweisen auf, auf die sie nicht vorbereitet gewesen wäre: Stefanie: „Ähm, das ist natürlich schon die ein oder andere Sache, die hier jetzt dann aufgetreten ist, mit der man so nicht ge-
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rechnet hätte, also zum Beispiel so die Essens (..), äh, ja. Das Verhalten beim Essen is ja schon anders als in Deutschland, grade im Restaurants ähm, dann doch wirklich (..) was teilweise daran liegt, dass eben die Knochen im Fleisch sind, man spuckt dann halt einfach aus. So was würde man in Deutschland niemals machen. Teilweise auch auf den Boden gespuckt. Ähm, und ja, man schlürft ja auch ganz gern. ((lacht)) Ja, das sind halt alles so Sachen, auf die man nicht so vorbereitet gewesen is. Also (..) is halt schon ’n bisschen schockiert. ((lacht)) Ich glaube, da gewöhnt man sich auch nicht dran, also, ich weiß nich. Ich find das nich schön. (...) ((lacht))“ [Stefanie: 62a] Wie bei Stefanie so wurde mehrfach deutlich, dass bei den Student*innen ein Problembewusstsein dafür vorhanden war, dass ein Kulturschock zu erwarten sei. Auch Grete erzählt von ihren Erwartungen an das Andere, berichtet allerdings, dass trotz dieser Erwartungen ein Kulturschock ausblieb: Grete: „Ähm, (...) also vielleicht ähm, noch bevor ich mit diesem Master überhaupt angefangen hab, hatt ich eigentlich ähm, (...) die Erwartung, dass China vielleicht ganz, ganz, ganz anders is. [[Hm]] Dann ähm, hab ich meine chinesischen Kommilitonen kennengelernt un ähm, (...) ja, es gab halt Gemeinsamkeiten, viele Gemeinsamkeiten, ’ne gemeinsame Basis et cetera und ähm, (...) mh, es war halt nicht so fremd, wie man sich vielleicht denkt, wie man ’s sich vielleicht denkt, was dich vielleicht erwartet. Und das hab ich ja vorher auch schon mit meinen koreanischen Mitbewohnerinnen dann erlebt, dass es halt doch (.) immer ’n gemeinsames Fundament gibt. Mh. ((lacht)) Ähm, (...) und (.....) ja, ich mein, (...) ich hab mir vorgestellt, dass (...) China sich vielleicht in ganz, ganz vielen Punkten von Europa unterscheidet, ähm (.....). Und in manchen Punkten mag das auch so sein, aber (...) ich weiß nicht, vielleicht ähm, (...) fallen mir die Unterschiede jetz auch nicht so auf oder (...) ich betreibe Kulturrelativismus, ((schmunzelt) oder ich weiß es nicht, aber ((lacht)) ähm, (...) das war halt (...) kein so großer
5.2 Auswertung
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Schock für mich, China. Also auch die, die ersten Wochen in China. Ich (...) glaub, ich kann jetz nicht unbedingt von Kulturschock sprechen, al, gar nichts.“ CH: „Wo kommt denn die Annahme eigentlich her? Ich hatte keinen Kulturschock...“ Grete: „Ich...“ CH: „...Es war gar nicht anders. ((lacht))“ Grete: „Ja. (...) Ich, ich denk einfach, (...) mh, Kulturschock. (...) Das muss man halt selber irgendwo wahrnehmen, oder nicht? Weil ich hatt es nicht wirklich wahrgenommen. Ich mein, klar, es gibt Dinge, die mich hier stören. Ich mag das auch nich, wenn die oder neben dir jemand lautstark rotzt. Dann (...) bezieh ich das immer noch auf mich oder solche Sachen. Das mag ich nich und das. Aber daran gewöhnt man sich halt und (.....).“ CH: „Wärst du denn mit so ’ner Annahme nach Dublin gegangen? [[Ähm]] Ist das ganz anders? Gab ’s da Kulturschock?“ Grete: „Ne, gar nicht. ((lacht))“ CH: „Warum eigentlich nicht?“ Grete: „Also einmal wusste ich damals noch gar nichts von diesem Konzept des Kulturschocks, ((lacht)) glaub ich. Und dann hab ich halt auch gedacht so, ähm, dass gehört ja irgendwo zu Europa. Also kann ’s nicht so anders sein. Und was Asien angeht, da denkt man sich halt immer, es muss (...) ganz, ganz anders sein und das muss man (...) jeden Tag, jede Sekunde merken. Oder so. ((lacht)) Aber das is halt nicht so. ((lacht)) Ähm, (...) ja. (.....)“ [Grete: 23–32] Grete erwähnt, dass ihr das Konzept des Kulturschocks bekannt sei. Es bringt sie jedoch zum Lachen, einen Kulturschock beispielsweise bei einem Auslandsaufenthalt in Europa, speziell in Irland, zu erwarten.
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
Kulturschock – Begriff der Wissenschaft und der Akteur*innen Der Begriff des Kulturschocks beschreibt im Allgemeinen einen Prozess der Anpassung an ein neues Land. Das bekannteste und eines der ersten Modelle dazu ist das Phasenmodell von Kalervo Oberg. Es beschreibt die vier Phasen Honeymoon (Flitterwochen), Krise, Erholung und Anpassung. Auch wenn das Modell theoretisch bereits mehrfach modifiziert (Mecheril 2007: 472) und mit der Annahme, es handele sich um keine statische Situation, sondern um einen aktiven Prozess (vgl. Ward et al. 2001: 270), ersetzt wurde , ist das Konzept hier von Interesse, da auch bei den Gesprächspartner*innen eine ähnliche Benennung und Einteilung in Erfahrungsabschnitte stattfindet. Besonders trifft dies auf die auch unter den Internationals kursierenden Begriffe Honeymoon oder Flitterwochen zu. Nach einer Phase der Faszination und Begeisterung für das neue Land folge laut Oberg die Erkenntnis der Unterschiede in Sprache, Werten und Kultur, was zu einer krisenhaften Phase der Orientierungslosigkeit führe. Im Laufe der Zeit verstehen entsprechend auch die Akteur*innen mehr von der Sprache, den Werten und der Kultur und erholen sich. Obergs Modell endet mit der Phase der Anpassung, in der die Akteur*innen sich in die neue Kultur integriert haben (vgl. Oberg 1960). Wie bereits vorhergehend aufgezeigt, soll hier die Deutungsperspektive der Akteur*innen im Vordergrund stehen, da festzustellen ist, dass sich die Realität der Gesprächspartner*innen vom wissenschaftlichen Konzept unterscheidet. Im Sinn des Obergschen Phasenmodells, zeigen sich in den Befragungen die Phasen Krise, Erholung und Honeymoon, wenn auch nicht nacheinander, sondern auch parallel verlaufend. Die Phase der Anpassung jedoch entfällt und doch nutzen die Akteur*innen das Konzept des Kulturschocks zur Erklärung und Reflexion ihres Zustandes während der ersten Interaktionen mit China. Die Phase der Krise ist in der vorliegenden Fallstudie an den Anfang des Aufenthaltes zu4 setzen. Nach einer ersten Orientierung vor Ort und an der Universität, der Gestaltung von Tagesabläufen und einer erfolgreichen Quartiersuche, stellt sich die Phase der Erholung ein. Die Phase der Faszination und Begeisterung für das Land China stellt sich trotz oder wegen der Erkenntnis der Differenz ein und ver4
Alle Modelle des Kulturschocks oder der Kulturanpassung starten bei der Ankunft in der fremdkulturellen Lebenswelt, wodurch die Phase der freudigen Erwartungen und Reisevorbereitungen nicht abgedeckt wird.
5.2 Auswertung
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läuft parallel zur krisenhaften Anfangsphase und der Eingewöhnung. Wohingegen die Phase der Anpassung im Sinne einer Integration in die chinesische Kultur (s.u.) entfällt. Trotzdem kursiert der Begriff „Kulturschock“ durch die Erzählungen und besitzt damit für die Akteur*innen Relevanz. Dabei bleibt er subjektiv und wird von den Gesprächspartner*innen durch das Erzählen beispielhafter Situationen und Beobachtungen definiert. Vanessa: „Ähm. Für mich is ’n Kulturschock (...) hm (...), ja. Wie formuliert man das. Kulturschock ist etwas für mich, was ich, was ich sehr seltsam finde und was ich ähm, teilweise auch nicht nachvollziehen kann, nicht verstehen kann, weil ’s für mich nicht logisch ist, warum man sich so verhält. Kulturschock. Ich weiß gar nicht mehr, was für ’ne Geschichte ich erzählen wollte. Bestimmt auch die Geschichte mit dem Kind, was da ((lacht) auf die Straße geschissen hat. Ja. Ähm. [...] Ja. Ich hab öfter hier Erlebnisse, wo ich mir denke: ,Hui, was ist das denn.‘ Ähm, Kulturschock. [...]...wo man dann weiß: „Ah ja, okay. Jetz bin ich doch in China.“ Ähm, ich weiß nicht, so manche Dinge find ich halt äh, manchmal einfach unlogisch, unlogisch organisiert.“ [Vanessa: 52–60] Als Beispiel erzählt Vanessa von ihrer Beobachtung in einem Restaurant. Das Personal hatte einen noch lebenden Karpfen für die Küche in einer Plastiktüte mit einem Loch abgestellt. Dem Karpfen gelang es mehrmals zu entwischen, weil er immer wieder in die kaputte anstatt in eine andere Tüte gesteckt wurde, was für Vanessa unerklärlich gewesen sei: Vanessa: Aber (.) das war für mich völlig unerklärlich ähm, warum man immer wieder den gleichen Fehler macht. ((lacht)) Anstatt einfach das Problem zu erkennen und ja, den Karpfen in ’ne andere Tüte zu tun und das, das war für mich so ’n bisschen Kulturschock. Also (.) ich weiß nicht.“ CH: „Was is...“ Vanessa: „So was hab ich noch nicht in Deutschland erlebt.“
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CH: „Ja, genau. Das wär jetz die nächste Frage gewesen. Was ist der Schock und was ist die Kultur [[lacht]] dahinter?“ Vanessa: „Ähm. Der Schock dahinter is, dass das Problem nicht richtig gelöst wird. Die Kultur ist, glaub ich (...) hm, (...) hm, die Kultur dahinter ist, weil ich das nicht in Deutschland erlebe. Also das ist für mich automatisch chinesische Kultur.“ CH: „Hm. Interessant. Ja, aber ein Schock beschreibt ja eigentlich oft immer irgendwas, wo man geschockt, entsetzt, erschrocken, empört vielleicht sogar...“ Vanessa: „Ach so, naja. Bei mir ist Schock, ich benutze das auch gerne, wenn ich über irgendwas sehr amüsiert bin, wenn es, wenn es superlustig ist. [[Aha.]] Also nicht unbedingt immer im negativen Sinne. [[Hm]] (...)“ [Vanessa: 60–68] Vanessa belegt Situationen, bei denen es ihrem Verständnis nach an Sinnhaftigkeit mangelt, mit dem Begriff des „Kulturschocks“. Auf Nachfrage wird deutlich, dass Schock ihrer Definition nach nicht negativ konnotiert und der Begriff für sie weniger krisenhaft sei. Es ist zu beobachten, dass die Akteur*innen nicht nur theoretische Modelle wie das von Oberg bewusst oder unbewusst (neu) konstruieren, sondern auch die eigentliche Wortbedeutung des Begriffs „Kulturschock“. Der Begriff wird weniger für den Anpassungsprozess oder die Phasen einer Krisenüberwindung, sondern als Synonym für das Andere selbst gebraucht, dass in Beobachtungen erlebt wird, wie beispielsweise das Gespräch mit Nadine zeigt: Nadine: „Ja, mh. Also ich wollte halt ’n Auslandssemester machen und jetz merk ich halt hier so, dass es halt gut war, dass ich jetz hier bin. Es gefällt mir. Ich muss auch sagen, (...) ich hab jetz nicht so (.) ’n extremen Kulturschock oder so gemerkt. Also klar is China irgendwie anders, aber ich kann jetz auch nicht sagen, was ich besser finde, Deutschland oder China. Weil ’s halt einfach anders is. Aber ähm, (...) ja. Also es war für mich persönlich irgendwie die richtige Entscheidung nach China zu gehen und jetz Chinesisch zu lernen.“
5.2 Auswertung
[...] CH: „Was meinst du mit Kulturschock?“ Nadine: „Ja. ((lacht)) Ich weiß nicht vom Wort her. Irgendwie (.) ja in China essen die komische Sachen, also (.) klar, irgendwie schon, aber (...) dann is es halt ’n asiatisches Land. Ich war halt vorher nie irgendwie, weit weg von Zuhause oder in ’nem asiatischen Land. Und äh, (...) ja. Also andere Sprache halt irgendwie ’ne andre Mentalität. Mh, (...) klimatisch vielleicht anders. Also gut, klimatisch hat man irgendwie gemerkt. Es war sehr heiß als ich hier ankam. ((lacht)) Ich bin halt grade zur Hitzewelle angekommen und ähm, (...)ja.“ [Nadine 13–16] [...] „Der Geruch. ((lacht)) Auf der Straße. Das riecht ganz anders. Dann isses unglaublich laut. Also ich wohne halt ähm, hier im Wohnheim. [[Hm]] Und die Shanghai Lu ist so übelst laut. [[Hm]] Also die ersten zwei Nächte konnt ich kaum schlafen, weil (...) es so laut auf der Baustelle war. Daran musste ich mich erst mal gewöhnen. [...] Dann ist es auch viel, viel größer. Also asiatische Städte sind kein Vergleich zu deutschen großen Städten. ((lacht)) Und ähm, ja. Wie gesagt, der Geruch ist anders, dann unglaublich viele Menschen. Daran muss man sich gewöhnen, dass man irgendwie (...) [...] So vieles irgendwie. Dann auf der Straße Menschen, die irgendwo hinspucken. Das is bei uns halt extrem unhöflich. Sind so verschiedene Kleinigkeiten, die einem dann auffallen. Die halt aber irgendwie auch interessant sind. [...] (.....) Ja. Und äh, (...) Hitzewelle war eben als ich ankam. [[Hm]] Das war extrem als ich aus ’m Flugzeug ausgestiegen bin, hatte ich das Gefühl nach einer Minute schon nassgeschwitzt zu sein, weil ’s, weiß nicht, 45 Grad oder so waren. [[Hm]] Daran musst ich mich auch erst mal gewöhnen. Aber es war jetz nicht irgendwie so (...), also ich hätte mir erwartet, dass ’n extremer Kulturschock kommt, weil [[Hm]] (...)
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das halt irgendwie immer gesagt wird, wenn man in asiatische Länder fährt. Da hat man (...) ja diesen Art Kulturschock.“ [Nadine: 39] Nadine beschreibt die krisenhafte Interaktion mit Geruch, Lärm und den Dimensionen der Millionenstadt Nanjing zu Beginn ihres Aufenthaltes. Dabei betont sie mehrfach, dass sie sich an diese Dinge „gewöhnen“ musste und macht damit die oben erläuterte Abfolge von Krisen- und Gewöhnungsphase, wie sie von den meisten Gesprächspartner*innen erlebt wurde, deutlich. Das Klima, der Lärm und die Dimensionen der Stadt, wie der Verkehr und die Menschenmassen überwältigen auch andere deutschen Student*innen bei ihrer Ankunft: Steffen: „...’n Kulturschock eigentlich. Also wir war’n gleich beim, beim ähm, am Flughafen hat’s schon angefangen eigentlich. Dass uns die Taxifahrer dann abzocken wollten. Standen halt gleich sieben oder acht Taxifahrer, also private Leute (.) da und wollten uns halt mitnehmen äh, bin ich gleich wieder reingefallen dann, beim ersten Mal. Und dann ähm, naja, wie man durch die Stadt so durchgefahren is, alles äh, ganz andere Dimensionen halt. Von der Kulisse her. In Deutschland hab ich das noch nie gesehen. [[Hm]] So viel, so viele Menschen und wie au, wie auch die Leute im Verkehr rumfahren. Des is Deutschland unvorstellbar so was. Ja. Also des war glei ’n richtiger Kulturschock und dann das Essen auch is gewöhnungsbedürftig, find ich. Ich steh ja nich so auf Nudeln und Reis, aber ((lacht)) ja, es is recht, recht einseitig das Essen also. [[Hm]] (...) Hm. Aber man gewöhnt sich dran, mit der Zeit. (.....)“ [Steffen: 44]
Thomas: „Auch wenn man in wohnt, kann man in, würd ich sagen, ner halben Stunde in die Natur. Maximal eine Stunde. Das geht in Nanjing nich. [Hm] Hier fährste ewig bis de irgendwo bist. Also, ja. Deswegen hatt ich
5.2 Auswertung
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am Anfang vielleicht ’n bisschen (...) Kulturschock gehabt. Weil es (.) mich alles erschlagen hat in dieser riesigen Stadt und so laut und immer voll und ja. [[Hm]] Da war Yunnan richtig gut. Nochmal sich entspannen in der freien Natur. Es war einfach ruhig, die Luft war auch besser. Behaupte ich, also glaub ich schon, (.) [[Hm]] das man das auch wirklich gemerkt hat.“ [Thomas: 20a] Mehrfach beschrieben die Gesprächspartner*innen, dass sie sich nach der Anfangsphase vom Kulturschock erholt hätten und Dinge, wie beispielsweise das ständige Beobachtetwerden, zur „Routine“ (vgl. Steffen: 52) geworden seien. Obwohl einerseits die Höflichkeit der Chinesen in individuellen Situationen betont wird, kann das Verhalten im Kollektiv auch schockieren, so Inga: Inga: „Ähm, (...) also ich (...) kannte, so spontan fällt mir erst mal n, nur so die krassen Negativbeispiele auf, weil das ist ja meistens immer das, was einen am meisten schockiert. [[Hm]] Ähm, zum Beispiel find ich es extrem (...) wie ähm, (...) wie sch, wie scheinbar wenig sich die Menschen um andere Menschen kümmern oder äh, (...) diese Höflichkeit in der Öffentlichkeit finde ich, fehlt komplett. [[Hm]] Auch so ’n bisschen (...), wenn man zum Beispiel in einen Laden reinkommt und äh, (...) in Deutschland erwartet man eigentlich, dass der Kunde König ist, und dass die Verkäuferin nett lächelt und halt alles dafür tut, dass man halt findet, was man braucht, [[Hm]] aber in China ist das eigentlich oft manchmal so, dass die Verkäuferinnen so richtig frech sind, das heißt, wenn man dann nichts kauft, dann jagen sie einen noch aus dem Laden raus. [[Hm]] Oder wenn man dann ähm, also ich mein, in China ist es ja normal zu verhandeln. Der Preis wird (...) ja normalerweise immer höher angesetzt als er dann eigentlich tatsächlich als das Ding halt wer, wert ist und wenn man dann anfängt zu verhandeln, mit ’m Preis zu niedrig ansetzt, ((lacht)) dann ist es mir auch schon passiert, dass halt die Verkäuferin so wütend gewesen
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ist, dass die selbst aus dem Laden rausgestapft ist und ich dann alleine da drin stand. ((lacht)) Aber is schon so, solche Sachen, wo man sagen würde, das passiert einem, in Deutschland würd einem das nie passieren. [[Hm]] (.....) Oder auch in der U-Bahn, wenn man vor ’nem, vor ’ner Tür steht und die U-Bahn ist voll, es wollen viele Menschen raus und rein. (...) Ähm. (...) Naja, Gedrängel is glau, is in Deutschland ja auch, aber ähm, hier in China ist es mir auch schon passiert, dass mich jemand halt am, einfach am Arm zurückgezogen hat, [[H]m] um mich zu überholen. Also (.) so wirklich richtig frech, dass die einen auch mit den Ellbogen zur Seite schubsen. (...) Das, das find ich schon (...), da war ich ziemlich so geschockt, so (.) dass die wirklich so, weiß nicht, vielleicht anders, vielleicht liegt ’s auch daran, weil halt einfach so, es gibt hier einfach so unheimlich viele Menschen und jeder kuckt auf sich selbst. Und (.) naja, wenn alle halt so sind, dann erzieht einen ja auch diese Gesellschaft dazu, so zu werden. Eben wenig Rücksicht auf andere Menschen zu nehmen, wenn halt je, wenn man wenig von andern Menschen bekommt, dann (.....) is es wahrscheinlich so, dass man so wird. (.....)“ [Inga: 20] Ebenso, wie ein Ortswechsel förderlich für die Gesundheit sein kann, kann die Begegnung mit einer fremdkulturellen Lebenswelt krank machen (vgl. Engelhardt 2003). Bei Anna hatte der von ihr erlebte Kulturschock während eines ersten Chinaaufenthaltes negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit, wie sie berichtet: Anna: „Ähm. Ich war schon mal in China vor sechs Jahren ähm, als, als Sprachaustauschschülerin und ähm, als ich wieder nach Hause gekommen bin, nach zwei Monaten, das war zwei Monate, da hab ich mir gesagt: ,Nie wieder. Nie wieder China.‘ Das war Kulturschock. Ich war krank eigentlich die ganze Zeit von Monaten war ich irgendwie sechs Wochen nur am Durchfall ((lacht)) haben. Mich ham die Leute genervt. Das waren, ich war nicht in den Städten, ich war auf ’m Land und ähm,
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nur dieses Starren, dieses Starren und man fühlte sich die ganze Zeit beobachtet, ähm. Wie fremd, immer fremd. Ich wollte, also ich hab mich nirgendwo wohlgefühlt. [[Hm]] Und dann hab ich erst mal gesagt: ,Boa, ne.‘ Das war Wahnsinn.“ [Anna: 7] Obwohl die Geisteswissenschaftlerin während des Schüler*innenaustausches zunächst negative Erfahrungen gesammelt hatte, erzählt sie weiter, dass diese aber letztlich den Impuls für ein wiederkehrendes China-Interesse nicht gemildert hätten und somit Einfluss auf ihre Ausbildungsbiographie nahmen: Anna: „Und dann irgendwie ähm, dann hab ich noch ein Jahr Chinesisch in der Schule gehabt und erst mal gar nich. Und ähm, im Nachhinein immer wenn ich, wenn ich über irgendetwas Neues erfahren habe oder, nein. Wenn ich ähm, mit Leuten gesprochen habe, die auch im Ausland gewesen sind, dann hab ich immer gesagt: ,Ja, damals in China.‘ Oder: ,Oh, das kenn ich. Damals in China.‘ Das und dann, irgendwie mit den Jahren und das is ja schon ’ne Weile her. ((lacht)) Ist äh, immer so gewesen, dass dieses Erlebnis ganz prägnant gewesen is. Auch wenn es zum größten Teil negativ gewesen is, als (..) war. Aber das hat sich im Nachhinein irgendwie (..) als etwas entwickelt, woran ich auf jeden Fall stärker geworden bin. Also so von den ganzen Erfahrungen und so weiter. Und, und dann war’s die ganzen Jahre irgendwie immer da und dann hab ich auch wieder angefangen Chinesisch zu lernen, kurz bevor ich mein Bachelorstudium beendet habe und dann hab ich dieses, dieses Studienangebot gefunden. Und dann irgendwie, keine Ahnung, man sagt ja häufig, schlimme Erfahrungen verdrängt man irgendwann oder sie werden besser. Ich weiß es einfach nicht, was da passiert ist. Auf jeden Fall dachte ich, könntest es ja nochmal versuchen. Und als ich dann hierher jetzt gekommen bin, vor drei Monaten, da war das alles überhaupt nicht schlimm. Also da war das so viel besser. Ich hab gedacht, al-
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so Angst gehabt, dass es genauso schlimm wieder wird, aber es war überhaupt nicht so. Es war alles auf einmal vertraut und bekannt. Und, oder positiver. So Sachen, die ich abgespeicher, als sehr schlecht abgespeichert hab, hab ich entweder nicht mehr wiedergefunden oder sie waren gar nicht mehr so, so, so entsetzlich wie damals. Also. (...)“ [Anna: 7] Hier wird hier deutlich, dass erste Chinaerfahrungen eventuelle Schocks beim zweiten Aufenthalt abschwächen können. Auch Manuel reflektiert seine Beobachtungen eines deutschen Bekannten, der weniger Chinaerfahrung habe, da Manuel bereits zum zweiten Mal in Nanjing ist: Manuel: „Ah. Mich kam mal, kam neulich ’n Freund besuchen, der ähm, macht ’n Praktikum in Shanghai (...) und das fand ich gan, ganz, ganz intressant zu sehen, weil er konn, er konnte ja gar, kann gar kein Chinesisch. Ähm, arbeitet in ’ner deutschen Firma auch, macht da ’n Praktikum. (...) Und Shanghai is doch ’n bisschen was anderes als Nanjing. [[Hm]] Also ’n sehr großes Bisschen. ((lacht)) Und ähm, ja er war halt dann auch ganz ähm, (...) ja, am Anfang verwirrt (...), am ersten Tag ziemlich verwirrt, wie China doch sein kann. Mh, und am zweiten Tag fand er das dann schon wieder toll. Also (...) so mh, dieser Anfang von ’nem Kulturschock, in W-Modell so ’n bisschen so diese, diese Hochphase. ((schmunzelt)) [[Hm]] Ähm, ja. Aber ich fand das ganz, ganz interessant, ihn zu beobachten, (...) wie er von allem begeistert war, was er für, für mich jetz, da ich schon mal in Nanjing war und da ich jetz auch schon, glaub (...) einen Monat länger als, als er in China war. Für mich war das jetz alles nich mehr neu. Oder ich war [[Hm]] jetz auch schon in ähm, mittlerweile sieben Mal auf’m Berg oben, auf ’m, in Sun Yatsen, so Mausoleum und so weiter. [[Hm]] Ähm, für mich is das jetz alles nich mehr so neu. Aber für ihn war das dann alles wow. Und er war total überfordert und dann auch und (...), ja. Das fand ich sehr interessant, zu beobachten mal aus ’m andern Blickwinkel. Also. (.....)“ [Manuel: 200]
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Strategien der Akteur*innen zum Umgang mit einem „Kulturschock“ Die Gespräche zeigen, dass eine Strategie, mit dem „Kulturschock“ zu Anfang umzugehen, die Gestaltung von Tagesabläufen durch den Beginn der Lehrveranstaltungen und die Bildung eines Netzwerkes aus Bekannten für Sprachtandems, Sport und Ausflügen sein kann. Das entspricht der Beobachtung Weggels, der schreibt, man könne „[...] sich von diesem ,Kulturschock‘ verhältnismäßig schnell erholen, wenn man die Anonymität verläßt und individuelle Kontakte aufnimmt“ (Weggel 1990: 294). Auch Nadja beschreibt zuerst, wie schlecht es ihr anfangs ging, dann aber wachsende Strukturen und Sozialkontakte dazu führten, dass sie sich sogar für einen Job in China entscheiden könnte: Nadja: „Die Menschenmassen. Ich hatte wirklich einfach auch Angst und (.) einfach was man hört, grad von dem Straßenessen und so was. Für mich war das alles nur China. Und das is im Endeffekt eigentlich ganz cool, also dass man so viel verschiedenes Essen ausprobiert, das wirklich lecker ist. Was man Zuhause halt nie bekommt und äh. [[Hm]] Und, und ich hatte auch, ja, diese, die Menschenmassen hat sich nicht geändert, das find ich schrecklich, aber das kann man ganz gut mittlerweile ignorieren. Am Anfang hier, die ersten zwei Wochen hatt ich da Kopfschmerzen, weil überall Leute geschubst haben, man hat immer nur Menschenmassen gesehen. Aber (.) das ist jetz auch viel besser. Das kann man ganz gut ausblenden, finde ich. [[Hm]] Und auch das halt der Lebensstandard nicht so is ,wie wir das kennen. Aber das, man muss sich ja nicht anpassen, man kann ja einfach sagen: „Okay, ihr habt euren Standard, ich hab meinen.“ (...) Und dann klappt das. [[Hm]] (.....)“ [Nadja: 12] Auf die Frage, was bei ihr den Wandelt gebracht hätte, antwortete sie, dass gerade der Beginn des Semesters und der Kontakt zu Menschen, die die eigene Sprache sprächen sie davon abgehalten hätten, „gleich wieder nach Hause zu fliegen“ (Nadja: 28). Nicht nur praktische Strukturen, sondern auch die Anerkennung (vgl. Wierlacher 2003b) des anderen „Lebensstan-
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dards“ beziehungsweise der anderen Lebensrealität ermöglichte es Nadja, sich zu orientieren. Kai hingegen hat diese Schwierigkeiten nicht und erzählt vom Ausbleiben des Kulturschocks bei seinem zweiten Chinaaufenthalt (vgl. Kai 53), stellte aber wiederum Überlegungen zu einem möglichen „Schock“ bei der Rückkehr nach Deutschland an. Kai: „Ja, vi, ne, vi, na, ich hab nur gemeint, vielleicht kommt der Kulturschock bei mir [[Hm]] eher andersrum. [[Hm]] Bei den meisten is es ja denk ich so, dass wenn sie ’n Kulturschock haben, obwohl ich immer noch nich weiß, was das genau is. (...) Also ich weiß nich, wie sich das anfühlt. (.....) Weil de, dieser ominöse Kulturschock (...) bei mir noch nie wirklich der Fall war. [[Hm]] Also zumindest kann ich mi nich entsinnen, dass ich so was intensives wie einen Schock gehabt hätte. Weil es is ja dann schon ’ne extreme Situation. Tatsächlich. (...) Wenn, na, wie gesagt ähm, äh, deswegen vielleicht kommt’s andersrum. [[Hm]] Das is meine Vermutung, dass ich vielleicht das dann, dass da vielleicht verletzt is.“ [Kai: 203] Auch Maria, die schon zum dritten Mal in China ist, erzählt davon, wie es für sie war, China zu erleben und nach Deutschland zurückzukehren. Während ihres Aufenthaltes wäre das Leben in Deutschland weitergegangen und es falle ihr wiederholt schwer, sich zu re-integrieren: CH: „Ja. So, du hast grade im Nachgespräch [[lacht]] gesagt: ,Meinen Kulturschock hab ich eigentlich erst bekommen als ich nach Deutschland zurück bin.‘ Maria: „Ja. Genau. Ähm, ja und zwar, was ich ja auch schon angesprochen hatte. Ich hatte, bevor ich nach China gekommen bin, mir schon Gedanken auch drüber gemacht. [[Hm]] Und äh, hab mich damit beschäftigt, was auf mich zukommen kann (...) und wie das Leben aussehen könnte und hab mich einfach damit auseinandergesetzt und war dann halt auch innerlich darauf vorbereitet und bin dann nach China gekommen und hab eigentlich mit allem (...) nicht (...) auch nur ’n kleinstes Problem
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gehabt. Also (.) weder mit den neuen Lebensumständen, noch mit den Hygienebedingungen, noch mit äh, (...) Lebensbedingungen an sich, noch mit äh, (...) mit den Menschen. Gar nich. Und äh, als ich dann (.) nach Deutschland zurückgekommen bin (...) äh. ((lacht)) Also mein bezeichnendes Beispiel is immer, als ich wirklich, bin damals über (...) Frankfurt geflogen und von Frankfurt dann war ich ja mit ’m Zug nach Berlin gefahren und ich saß im Zug und hinter saß so ’ne Gruppe Jugendlicher und die ham geredet und es war halt auch ’s erste Mal, dass man wieder so ein Umfeld versteht einfach, ne. Das war, war ja auch nich gegeben. Ich hab mir auch gedacht: „Manchma is vielleicht ganz gut, wenn man nich alles versteht.“ Und da war’s dann halt wieder so. Ich hab ’s verstanden. Hab mir nur gedacht: ,Oh, Gott. Halt (...) bitte die Klappe. Ich kann ’s und will ’s gar nich hören. Und was sind ’n das für Menschen hier und was is das für’ ne Stimmung hier und (...).‘“ [Maria 176–177] Obwohl sie sich auf Zuhause gefreut hatte, fühlte sie sich in Deutschland nicht mehr wohl und musste sich erst wieder daran gewöhnen, allen Gesprächen um sie herum folgen zu können, ob sie wollte oder nicht. Nach dem zweiten Aufenthalt in China sei ihr die Rückkehr nach Deutschland vor allem aus sozialen Gründen sehr schwer gefallen. Sie hätte sich in Nanjing ihr soziales Netzwerk aufgebaut und sei sich mit ihren Freund*innen in Deutschland ein bisschen fremd geworden, was es ihr erschwert habe, wieder an das Leben in Deutschland anzuknüpfen. Ebenso erging es ihr im Bezug auf ihr Studium, aus dem sie „raus“ gewesen sei (vgl. Maria: 177). Es zeigt sich, dass es in der Natur der Sache liegt und auch gewünscht ist, dass ein Auslandsaufenthalt spezifische Entwicklungen generiert: Menschen verändern sich, ihre Blickwinkel und auch ihr Verhalten. Weltwissen soll das Selbst und auch die biographische Ausrichtung gestalten. Die Lebenswelt hat sich vergrößert. Die Student*innen betonen in der Regel, dass sie keinen „echten“ Kulturschock erlebt hätten. Zwar nutzen sie Begriffe aus dem Wortfeld des Schocks, allerdings gebrauchen sie ihn eher im Sinne von Überraschung und Irritation. Die Krisenhaftigkeiten der Ankunftsphase
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beziehen sich auf die Schwierigkeiten des Alltags, den Umzug in eine Großstadt und die Organisation des neuen Semesters an einer neuen Universität. Jakob erzählt: Jakob: „Ja. Na, der erste Eindruck war (...), aber war auf jeden Fall, glaub ich gar nicht so schlimm, weil wenn ma, hatten ’n bisschen Jetlag und so und dann waren wir im ähm, waren wir im Hostel. Ham am Anfang direkt alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Wir sind mit dem illegalen Privattaxi gefahren. Also nicht mit einem, diesen offiziellen, sondern einfach irgendwohin mit irgendso ’nem (...) Chinesen ähm, genau. Und dann waren wir im Hostel (...) und äh, dann stand irgendwann Nahrungssuche, die erste Nahrungssuche in China stand auf ’m Programm. (...) Losgefahren mit der U-Bahn, heillos verlaufen (...), irgendwo Menschen an so ’nem Straßenstand, wirklich, also wirklich einen von den Straßenständen, wo ma nich hingehen sollte, gesehen, dachten: ,Okay, wir haben Hunger. Is jetz egal, was es da gibt.‘ Und dann war ’s zum Glück irgend ’n Brötchen mit irgend ’ner Füllung. Ham wir drauf gezeigt und reingebissen. Ähm, ja. Das war, das war das erste Erlebnis in China. Und am zweiten Tag ging ’s dann direkt los mit der Wohnungssuche. Was wirklich (...) spektakulär ist, wenn man kein Wort der Sprache kann. Das muss man, muss man wirklich sagen, also das ist ’ne Erfahrung fürs Leben. Danach macht einen so schnell nichts mehr Kummer und Sorgen. Wenn man hier ankommt (...) und äh, also ich hä, ich hab’s, ich hab das gerne so, ich weiß gern, wo ich schlafe, [[Hm]] und dies und das, s, so halt strukturiert, is mir ’s, is mir sehr recht. Und ich wusste halt nicht, wo ich schlafe. Das ist natürlich dann erst mal richtig, [[Hm]] vor allem in China, das is schon gut psychischer Druck.“ [Jakob: 16] [...] „Mein erster Eindruck war (...) anstrengend. Richtig anstrengend, denn das, der Verkehr ist hier auch anders. Wir ham in
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dem Hostel relativ weit weg gewohnt und mussten halbe Stunde laufen zur U-Bahn, mit der U-Bahn fahren [[Hm]] und das war, weiß ich nicht 45 Grad bei 90 Prozent Luftf, also es war halt sehr warm. Sommer. [[Hm, hm]] Und da muss man eben, auch mental vom Kopf, echt jede Sekunde topfit sein, sonst (...) weiß auch nicht, fährt einen da mal so ’n Mofa oder sonst was, es hat ja kein ((lacht)) und das war am Anfang wirklich, wirklich anstrengend. Äh, ja. Aber es, das schult eben (.) das. Die Erfahrung hat man jetz gemacht und so schnell (.) lässt man sich da jetzt auch nicht wieder aus ’m Sattel heben. (.....) Das war mein erster Eindruck von China. Anstrengend und (...) ruhig bleiben. Also egal wie schlimm es aussieht, (...) irgendwie kriegt man ’s dann doch hin. [[Hm]] Find ich. Also (.) das, das is, das ist hier, scheint ja einfach so zu sein. Also das scheint immer ganz schlimm zu sein und (...) dann am Ende findet sich doch irgend ’n Weg wie man ’s doch, doch bei allem gut hinbekommt. (.....)“ [Jakob: 20] Die Krise wird in der Erzählung zu einer Geschichte der Überwindung und der Entwicklung. Die Akteur*innen fühlen sich in der Regel nach einer Phase der Irritation und Anstrengung kompetent und fähig, mit dem Neuen umzugehen. Jedoch darf nicht unterschlagen werden, dass, auch wenn dies zunächst weniger ausformuliert wurde, die Sprachbarriere ihren Anteil an den anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten hat. Das Thema der Kommunikation und Sprache wird in einem eigenständigen Kapitel präsentiert werden. Doch zunächst soll das Thema Fremdheit behandelt werden, das alle Kategorien durchzieht. 5.2.4 Fremdheit und die Konstruktion von Identität Die Begegnung mit dem Fremden setzt immer eine Phase der Ungewissheit und des Nicht-Wissens voraus. Denn sobald man etwas als fremd erkannt hat, beginnt ein Prozess, in dem Fremdes bekannt wird. Das heute Fremde kann morgen zum Bekannten werden. Die Student*innen tragen die Erwartung, dem Unvertrauten der anderen Kultur zu begegnen, und den
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Prozess des mit der anderen Kultur vertraut Werdens zu erleben. Im Kontakt mit Anderen – oder wie hier mit dem kulturell Fremden – kann es zu irritierenden Erfahrungen, auch „Differenzerfahrungen“ (Bartmann/ Immel 2012) kommen. Für die Akteur*innen ist die fruchtbare Differenzerfahrung (vgl. Stenger 2012a) geplant und damit auch die Auswirkungen auf die eigene (kulturelle) Identität und die Handlungsorientierungen beabsichtigt, denn das primäre Ziel des Auslandsaufenthalts ist der Erwerb von (interkulturellem) Wissen. Dabei stellt das Fremdverstehen die zentrale Strategie zum Umgang mit der Erfahrung des Anderen dar. Dem Fremdverstehen geht zunächst die Erfahrung von Differenz voraus, wobei das Eigene oder auch Vertraute eine konstituierende Funktion für das Fremde besitzt (vgl. Bartmann 2012). In Anlehnung an Schütz wird durch Vertrautes Sinnhaftigkeit vermittelt und das Fremdverstehen ist eine Bedingung für Intersubjektivität. Der Erwerb von Wissen über andere Sinnkonstruktionen ist als Handlung der Akteur*innen bei der Gestaltung interkultureller Lebenswelt zu sehen, denn Fremdverstehen bedeutet Teilhabe und gestaltet interkulturelle Lebenswelten. Begriffe von Andersheit und Fremdheit sind Bedingungen zwischenkulturellen Verstehens (vgl. Wierlacher 2003: 26). Nicht alles was anders ist, wird als fremd wahrgenommen. Fremdes kann kennengelernt und Andersheit kann akzeptiert werden. Ohne die Bewältigung von Fremdheit, erhält die Fremdheit die Dimension einer „exkluierenden Grenzziehung“ (vgl. Münkler 1997: 8). In der Interkulturellen Germanistik funktioniert die Grenze als „[...] produktive Pufferzone der Kreierung weltoffener und komplexerer Selbstentwürfe“ (Kostalova 2003: 242) und ist damit eine zunächst notwendige Orientierungseinheit von prozesshaftem Charakter. Zukünftig geht es nicht mehr darum, wo Grenzen gezogen werden, sondern was in diesen Zonen wie passiert und welche Strukturen dazu motivieren können, in soziale Interaktion einzutreten, um Fremdheit aufzulösen: „Welterschließung ist immer auch ein Prozeß der Verwandlung von Fremdem in Vertrautes“ (Münkler/ Ladwig 1997: 26). Fremdheit kann auf unterschiedliche Weise erfahren werden und besitzt verschiedene Kategorien (vgl. Krusche 1990), Grade (vgl. Stagl 1997: 101) oder Dimensionen (vgl. Münkler/ Ladwig 1997: 8). Das Gefühl der Fremdheit ist für die Akteur*innen ein dialektisches, sie nehmen Fremdes wahr und werden selbst als Fremde wahrgenommen. Maletzke führt aus:
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„Für den Experten in der Fremde ergibt sich aus [...] Überlegungen und Erfahrungen die Konsequenz, sich seiner eigenen Vorstellungen und Einstellungen bewußt zu werden, sie rational zu analysieren und dadurch zu ihnen eine kritische Distanz zu gewinnen. Und ebenso muß er versuchen, die Images und Vorurteile der Einheimischen gegenüber seiner eigenen Kultur und Nation zu erkennen und zu verstehen“ (Maletzke 1996: 159).
Um der Frage nachzugehen, ob und wie weit die deutschen Student*innen als Mittler im Übergang zwischen fremd und eigen integriert oder inkludiert sind, stellt sich die Frage nach den Dimensionen von Fremdheit, die die Gesprächspartner*innen erfahren. „Erfahrung bedeutet [...] einen Prozeß, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen“ (Waldenfels 1997: 68). Faktisches Lernen allein hilft nicht bei der Erschließung von Weltwissen, erst die Teilnahme beziehungsweise Interaktion und Gewöhnung helfen dabei lebensweltliche Fremdheit zu dekonstruieren. Fremdheit wahrnehmen Die Gesprächspartner*innen benennen Erfahrungen zur Wahrnehmung von Fremdheit vor allem in den Erzählpassagen zum Thema Ankunft und beziehen sich in der Regel auf Beobachtungen alltäglicher Differenzen. Stefanie und Maria zum Beispiel berichten: Stefanie: „Diese ganzen Unterschiede einfach, ähm. Die Taxis sehen auch ganz anders aus und (...) ((atmet tief aus)) ja, ich weiß nicht. Da war man hier und ich, is dann halt das erste Mal essen gegangen. Das war natürlich auch gleich ganz anders als in ’nem deutschen Lokal. Alles, ich weiß nicht. So einfach die ersten Tage waren, dass man auf jedem Schritt und Tritt gemerkt hat, da ist was anders, da ist was anders. Is eigentlich nichts, was so hervorsticht. Also (.....) is mehr so das Allgemeinbild, das eben ganz anders ist als Deutschland.“ [Stefanie: 20a]
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Maria: „Ähm. Die, also der ganze Lebensstil is anders. Also allein schon wie, wie die ihre (...), ihrn normalen Alltag gestalten und (...) wie die auch (...) zum, zu so Alltagssituationen einfach verstehen und also allein die Arbeitsmoral oder äh, (...) ja. ((lacht)) Ich weiß gar nich. Ähm, es sind so viele Kleinigkeiten, darum (...), die das aber irgendwie ausmachen. Oder einfach nur einkaufen gehen so. Wie sich die Leute verhalten oder (...) Unterhaltungen führen und so. Ich mein, zu der Zeit hab ich ja noch gar nix verstanden wirklich. Und dann, das war halt häufig so, dass man schon so, so Si, Situationen waren, dass man auf der Straße war und man hat halt Leute sich unterhalten hören, man hat aber das Gefühl, die streiten, weil die so gebrüllt haben, sich fast also, für, für einen selber halt die, die schreien sich an [[Hm]] und dann hat man, wenn man vielleicht irgendwie mit Freunden unterwegs oder mit, mit Studienkollegen und äh, die halt Chinesisch sprechen, dann hat man mal gefragt, was da los is und da ham gesacht: ,Die unterhalten sich nur.‘ Und da denkt man (...): ,Was? Also für mich wär das jetz ’n Streit gewesen.‘ [[Hm]] Und also es sind so Kleinigkeiten nur, aber (...) fällt halt auf.“ [Maria: 21] Bereits in den vorherigen Kapiteln wurde deutlich, dass die Differenz nicht nur akzeptiert, sondern dass das Anderssein von den Student*innen sogar vorausgesetzt wird. „Und ich möchte dieses andere haben und dieses andere etwas. Und das ist China“ (Claudia: 67). Auch die Aussage Ingas pflichtet dem bei: Inga: „Weil ich halt irgendwie auch was Fremdes mir erschließen wollte von der Welt. Ich wollte jetz nicht unbedingt nur irgendwie Frankreich, Norwegen oder Holland mal gesehen haben, sondern schon mal ’n bisschen weiter weg. [[Hm]] Mal kucken, wie ’s auf der andern Seite der Welt so aussieht. (...) Joa“ [Inga: 7]. Die explizite Erfahrung von Fremdheit soll einen Mehrwert des Aufenthaltes schaffen. Unterschiede werden zwar registriert, aber wie bereits doku-
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mentiert, blieben ein Kulturschock oder andere Formen eines Fremdgefühls aus. „Aber eigentlich ähm, war ’s nicht so fremd. Also (.) weil ganz viele hatten mir vorher erzählt, das ist bestimmt irgendwie ähm, sehr fremd sein wird oder so. Die vorher schon in China waren. Aber ich fand ’s nich so.“ (Clara: 35; vgl. zu dem auch Grete: 23) Die Erwartung des Fremden macht das Fremde beinahe „normal“ und daher verliert sich auch die Notwendigkeit, das Fremde zu überwinden. Fremd wahrgenommen werden Mehr noch als die erwartete Konfrontation mit Fremdheit und/ oder einem Kulturschock thematisierten die deutschen Student*innen das Unerwartete. Nämlich, dass sie selbst intensiv als Fremde wahrgenommen wurden. Die Student*innen konstruieren und erfahren kaum Fremdheit, da sie diese als gegeben hinnehmen, sondern werden selbst als Fremde erfahren, was wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung der eigenen Identität hat. Bei Waldenfels wird die Fremdheit nicht konstruiert, sondern widerfährt den Menschen (vgl. Waldenfels 2003: 19) und so begegnen auch die Akteur*innen der eigenen Fremdheit. Für Chines*innen gibt es nur Zh¯ongguórén ( - Chines*innen; wörtlich: „Mensch des Landes der Mitte“) und alle, die nicht chinesisch aussehen, gelten ohne jede Binnendifferenz als lˇaowài ( - Ausländer*innen). Janine beschreibt ihre Erfahrung mit diesen Begriffen folgendermaßen: Janine: „Aber hier in Nanjing (...), find ich (...), also, is ’n andres Gefühl, wenn man, wenn man hier lang läuft, man hört immer, immer wieder das Wort ,laowai‘ oder Wort ,waiguoren‘5 . [[Hm]] Es ist schon fast so ’ne Gewohnheit, man hat das fast schon als Ohrwurm und kommt sich nicht nur wie ’n Ausländer, sondern wie ’n Außerirdischer vor teilweise. Und manchmal nervt es mich auch richtig und ich (...), und ich werd manchmal auch wütend. [[Hm]] Aber (...) mh, die Leute sprechen einen hier nich so offen an. (...) Ich find, weiß nich, ob 5
Die beiden Begriffe lˇaowài (der Alte von außen) und wàiguórén (Mensch von einem Land außen) werden synonym für Ausländer*in oder Fremde*r gebraucht.
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man das so sagen kann, dass in Nanjing manchmal schüchterner sind als in Qingdao oder man wird nich so offen angesprochen. Vielleicht is es auch nur so in dem Part, weil in der Shanghai Lu ziemlich viele Ausländer sind, [[Hm]] also eigentlich fast mehr westliche Leute als Chinesen, weil, weil die ganzen ausländischen Studenten dort wohnen. [[Hm]] (.....)“ CH: „Was macht dich denn da wütend?“ Janine: „Was mich wütend macht? Ich (...), ich weiß nicht, ich kenn ’s aus Deutschland so, dass es so, dass es unhöflich is. [[Hm]] Also (.) wenn bei uns jemand sagt: ,Eh, kuck ma, ein Ausländer.‘ Dann is das (...) äh, tja, dann is das (...) frech. [[Hm, hm]] Das macht man nich. Sonst (...), da hat man irgendwas Rassistisches oder (...) kann man sagen, dass, dass einen China rassistisch macht irgendwo? Also es is inzwischen so, dass ich wirklich (...) sage, Chinesen oder Deutsche oder also ich weiß nich, ich hab hier (.) dieses Schubladendenken is mir sch, is mir irgendwie aufgefallen. [[Hm]] Dass das stärker geworden is, weil, weil man halt als anders (...), als anders empfunden wird und sich deshalb auch anders fühlt. [[Hm]]“ [Janine: 76–79] Janine beschreibt, dass in Deutschland direkte Zuschreibungen als Ausländer*in oder mit dem Finger auf Menschen anderer Herkunft zu zeigen Zeichen der Intoleranz und des Rassismus sind. Die chinesische Art des Umgangs mit Fremden führt zu Befremden. Aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes einem Kollektiv zugeschrieben zu werden, ist für alle neu. Diese Seite der Fremdheit hatten die Student*innen nie selbst erlebt, sondern vielmehr waren es sie selbst, die anderen Fremdheit zugeschrieben hatten: Anna: „(.....) Mh, ich frag mich häufig, grade in meiner Wohngegend. Ich wohn ja in ’ner chinesischen Kommune und bin dort die einzige Ausländerin ähm, und es is jetz erst, nach einem Monat so, dass sie mich nicht mehr bösartig anstarren. Also es sieht bösartig aus. Es is Misstrauen, misstrauisch anstarren, sondern jetz: ,Ah, die kennen wir doch. Die läuft jeden Tag
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um die gleiche Uhrzeit hier durch diesen Gemüseladen durch.‘ Ne. Ähm (.) und, ich frag mich jedes Mal, was denken die eigentlich. Also, das is so ’n, so ’n äh, wenn sie mich anschauen, was denken die dabei. Denken die: ,Eh, schon wieder ’n Ausländer.‘ Oder denken die: ,Es werden immer mehr Ausländer.‘ Also häufig in Deutschland is es (...) grade bei, bei Türken ham gestern im Seminar darüber geredet, mit dem äh, jetzigen Artist in Residence – Autor ham wir über die Migration von Türken äh, ähm in Deutschland gesprochen. Und der hat gesagt, dass nur 9% der Deutschen sagt, dass sie, dass sie Türken angenehm findet als Mit, Mitbürger. Nur 9%. Ähm (.) und mich würde, und mit diesem Wissen im Hintergrund, aber auch aus eigener Erfahrung, weil und damit schließ ich mich mit ein, wenn ich auf der Straße wieder ’n Türken sehe, es is ’n Türke und ich denk mir: ,Eh, noch einer.‘ Oder: ,Der, der ist äh.‘ Keine Ahnung. Also man kann sofort so ’n, so ’n ,Wir-Ihr-Einstellung‘. Also (.) es tut mir auch, ich weiß, dass ich das habe und ähm, und mich würd einfach interessieren, jetz wo die Rollen quasi getauscht sind und ich Gast in einem anderen Land bin, wie die Chinesen über mich denken. Wenn ich in deren Wohnsiedlung wohne. Das ist so ’n, das frag ich mich jeden Tag. ((lacht)) Das äh, ja. Das beschäftigt mich schon. Ja.“ CH: „Wie fühlst du dich dabei?“ Anna: „Ähm, am Anfang bin ich mit geducktem Kopf quasi durch die Gegend und so ähm, so ’n bisschen vorsichtig durch die Gegend gelaufen. Aber ähm, jetz denk ich mir, die müssten doch jetzt also (...) denk ich mir, die müssen mich jetz eigentlich so akzeptieren, weil (.) die sehen ich bin kein Nachhilfelehrer, der jeden Tag da einfach nur so vorbeikommt, sondern ich wohne hier und ich hab hier ’n Recht zu wohnen (.) und ähm. Auf jeden Fall sicherer, aber ich kann es ja nur beurteilen nachdem was ich sehe, weil ich ja mit niemandem spreche, außer ich gehe einkaufen und so weiter, und dann hab ich auch eigentlich nur, abgesehen von dem Türst, Torwart, der da is, der
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is total unfreundlich, ((lacht)) bis eigentlich immer nur positive Erfahrungen.“ [Anna: 65–68] Die mit der eigenen Fremdheitserfahrung verbundenen Gefühle sind ambivalent. Einerseits schmeichelt es, als etwas Besonderes wahrgenommen zu werden, denn Chines*innen geben Ausländer*innen, die sich de facto in einer privilegierteren Lebenssituation befinden als die chinesische Majoritätsgesellschaft, ein Gefühl der bevorzugten Behandlung im Alltag. Andererseits ist diese ständige Bewusstmachung der Differenz, ob schmeichelhaft oder nicht, von Anstrengung geprägt: Stefanie: „Da ich halt, da hatt ich halt schon, da war ich grad ’n Monat hier, da hat ich schon so Momente, da hab ich gedacht, Oh Gott. ((lacht)) Ich muss weg hier. ((lacht)) Also, ähm, man hat halt, man bekommt halt dauernd so gesagt, dass man so ,beautiful‘ is und ähm, sie würden gern ’n Foto mit einem machen. Das is ja alles noch in Ordnung, ähm, da fühlt man sich auch geschmeichelt. Ähm, aber wir ham dann ähm, vor dem Museum gestanden und es hat halt jemand hinter uns gestanden, die hat, also man hat halt gemerkt, dass die die ganze Zeit über uns geredet haben und (.) auch wenn man das nicht verstanden hat und ähm, ja, das war dann so ’n kleiner Junge, der hat so seine Kamera gehabt und die eine Frau, die hat sich dann halt so direkt neben mich gestellt. Ja, die ham halt nicht gefragt oder noch nicht mal so ’n Zeichensprache ,Hier können wir vielleicht mal.‘ Oder so. Die stellen sich dann einfach neben einen und umarmen einen dann vielleicht noch, ungefragt. Und machen ’n Foto. Und, also das is halt schon unangenehm, wenn die dann einfach anfassen. Und genauso is es halt dann auch bei diesem Massaker Platz gewesen. Da war es ziemlich voll. In diesem Museum. Ähm. (...) Ähm, also Chinesen sind irgendwie schon penetrant, in gewisser Weise. Also, die gehen dann halt auch, bei Ausstellungsstücken mit der Nase an die Scheibe. (..) Das is einfach. (..) ((lacht)) Ich weiß nicht, das is man überhaupt nicht gewohnt. Die sind halt gar nicht kontakt-
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scheu. Das is es eigentlich. Also, die sind halt wahrscheinlich gewohnt, dass immer so viele Leute auf einen Haufen sind und deswegen kommen se halt auch so nah an einen ran. Und das kann man, das kann ich gar nicht leiden. Das ist da ’ne Sache wo man wirklich denkt: ,Die gehen mir auf die Nerven.‘ Also wo ich so allgemein sag, die Chinesen gehen mir auf die Nerven. ((lacht)) Also, das is dann vielleicht auch ’n bisschen unfair, aber das denkt man dann einfach in den Situationen. [Hm]] (...) Ja. (...) Das war ’s.“ [Stefanie: 120a] Diese Erfahrung des Fremdseins ist allgegenwärtig und löst sich nicht auf, womit sie dem Aufenthalt eine Daueranstrengung auferlegt. Seinem Äußeren und den damit verbundenen Zuschreibungen kann man sich nicht entziehen. Vera erinnert sich an ihren ersten Chinaaufenthalt: Vera: „Und außerhalb des Unterrichts und meiner Familie war es in China anstrengend, [[Hm]] weil man is immer der Ausländer. [[Hm]] Man wird immer angekuckt, immer angesprochen. Das is schon nich, das war für mich ziemlich anstrengend teilweise un man kann halt nich einfach, manchmal in Deutschland is es ja so, man geht einfach raus auf die Straße un man is irgendwer, aber man is nich man selbst un läuft einfach durch die Straße, man is in der Menge drin, un das brauch man, find ich, manchmal.“ [Vera: 16] Das Eintauchen in die Menge wird dadurch verhindert, dass die Akteur*innen optisch herausstechen. Das äußere Erscheinungsbild erschwert bei allen Bemühungen, wie zum Beispiel der Aneignung sehr guter Chinesischkenntnisse, die Integration. Mario: „Mh. (...) Weil ich glaube, also so von meinem Gefühl her, von meinem subjektiven Auffassung äh, wär ich immer der Ausländer. Also selbst wenn ich flüssig Chinesisch spreche und ähm, so sympathisch mir die Kultur auch is, aber ich glaube, letztendlich äh, bleibt man irgendwo Deutscher und bleibt hier
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irgendwo der Ausländer. Ich glaube, man wird, würde nie 100 Prozent äh, Teil dieser mh, Gesellschaft dann. Man wär immer irgendwo ’n Stück außen vor, glaub ich. Man will, selbst wenn man ’ne Chinesin heiraten würde und Kinder hätte, aber man wär immer noch so der lˇaowàilˇaowài. Also ich glaube, dass (...) ja, ich glaube, dass is ’n bisschen schwierig so psychologisch, ich glaube, (...) in deinem Heimatland oder zumindest in Europa äk, würde man sich dann doch eher so als Teil der Gemeinschaft fühlen so und ich glaube, ’ne Zeit lang, ist das äh, cool und okay so. Aber ich glaub, irgendwann, für mich zumindest so, würd ich mich dann wahrscheinlich eher wohler fühlen (...) in Deutschland. Ja.“ [Mario: 32] Sandra sieht im als fremd wahrgenommen Werden und der scheinbaren Bewunderung durch die Chines*innen die Ursache für die Abgrenzung zwischen Chines*innen und den Ausländer*innen, da dies zu Hemmungen führe: Sandra: Ich glaub halt auch dieses (...) ähm, (...) dieses Ganze (...) ja, also diese ganze Abgrenzung zwischen Chinesen und Ausländern, was ja in China so (...) ganz, oder so, so verbreitet irgendwie is. Also (.) immer wenn man irgendwo Leute und dann zeigen ja alle so: ,Ach ja, Ausländer.‘ So. Das is halt, ich glaub das führt dann irgendwie auch so dazu, dass man irgendwie so ’n (...) is nicht, dass man irgendwie denkt, man könnte jetz nicht so normal mim, mit also mit einem reden oder so. Ich weiß nicht genau, was das jetz is, aber (...) glaub, das ist halt auch nochmal so in China ganz komisch. ((lacht)) Dass halt, kommen ja manchmal dann irgendwie auch Leute und wollen mit einem Fotos machen und so was. ((lacht)) Und das is bestimmt auch dann nochmal so, also wenn man das immer so, das is ja ’n bisschen so Bewunderung irgendwie und so. Der Westen. Und vielleicht is das dann auch so, dass man halt so ’n bisschen so (...) nicht sich traut oder, weiß ich nicht, dass man
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nicht einfach mit einem ma so was machen kann oder so. Ich weiß es nich.“ [Sandra: 63] Wie Stefanie bereits erzählte, lassen sich ihrer Beobachtung nach Chines*innen gerne mit Ausländer*innen fotografieren. Die Präsentation des Kontakts zu Ausländer*innen verleiht Chines*innen miànzi ( - Gesicht, Ansehen). Wiederholt wurden Anekdoten erzählt, wie man als Ausländer*in zum Statussymbol für andere wurde (vgl. Damian 38; Lukas 79; Anett 41). Vera berichtet: Vera: „Das war toll, dass man ’n Ausländer bei sich hat. Un das war eher (...), dass ich Ausländer war, nicht dass man sich mit mir beschäftigen wollte. Das war einfach nur: ,Okay, Vorzeigeobjekt Ausländer. Sehr schön. Du bist ja jetz da.‘ Und das war ’s. Das is ’n bisschen schade gewesen. CH: „Kannst du da ’n bisschen was dazu sagen, zu diesem (...) ja (.) ähm, Vorzeigeobjekt ((schmunzelt)) Ausländer?“ Vera: „Och, da kann ich Stunden drüber ((lacht)) reden. Da gibt ’s so viele Sachen. Einmal sind wir, das waren mehrere Freiwillige ähm, wir waren alle aus Deutschland wir waren, glaub ich, sieben oder acht waren wir (.) [[Hm]] und ähm, wir ham überall woanders gearbeitet. Außer zwei Jungs, die ham auf ’ner Biofarm gearbeitet in der Nähe von Shanghai. [[Hm]] Wir sin oftmals eingeladen worden an (...) irgendwelchen Sachen teilzunehmen. Ich weiß noch einmal, da sind wir zu ’nem Konzert gegangen, (...) fürchterliches Konzert. Also (...) die waren nich sehr musikalisch die Leute, aber sie ham ’s zumindest probiert. Un hinterher, wir saßen halt in ’ner ersten Reihe auch, und hinterher mussten wir mit aufs Foto kommen, obwohl wir einfach nur Freikarten für das Konzert hatten und hinterher so mussten wir einfach mit aufs Foto kommen mit dem Musi, Musikern zusammen mh, die Ausländer zu sein. Es gab dann ’n paar Blumensträuße und die Blumensträuße wurden den andern Chinesen weggenommen, uns gegeben, die mit auf ’n Foto waren
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und wir sind dann jeder mit ’m dicken, großen, teuren Blumenstrauß nach Hause gelaufen, weil wir die Ausländer waren. Und das is ganz oft so gewesen. [Vera: 21–24]
„Höfliche Exklusion“ Vera bedauert, dass obwohl sie als Ausländerin privilegiert behandelt wird, echte Interaktion ausbleibt und sie sich zum Objekt gemacht fühlt: Vera: „Oder man is irgend, man geht Feiern zum Beispiel un man merkt: „Okay, da sind Chinesen.“ Die kommen einfach rüber un sagen: „Och, wo kommst du denn her?“ Un: „Ach, wie cool.“ Un dann werden Nummern ausgetauscht un man wird mitgenommen an manchen Abenden un (.) dann sitzt man da ganz alleine vor sich hin un es interessiert eigentlich keinen, wer man ist. Man kricht die ganze Zeit (...) Getränke aus. Hauptsache man is dann der Ausländer erst ma un is einfach ’n Objekt. Un das is sehr schade manchma.“ [Vera: 24] Die Lebenssituation der deutschen und auch der anderen ausländischen Student*innen in Nanjing ist privilegiert, aber auch isoliert. Stagl beschreibt die eingeschränkte Mitgliedschaft in einer homogenen Gemeinschaft mit dem Begriff des Weglobens und sieht darin eine Strategie des Ausweichens zur Wahrung der chinesischen Eigensphäre:
„Dies [das Wegloben; Anm. d. Verfasserin] läßt man Fremden zuteil werden, an die man sich nicht herantraut. Ein solcher Fremder wird mit Ergebenheits- und Erbötigkeitsgesten überwältigt, beschenkt und gefeiert, solange man seiner bedarf oder meint, ihn nicht loswerden zu können, und dann möglichst unauffällig weiterexpediert. All dies hat den Effekt, ihn vom Alltagsleben der Gruppe möglichst zu isolieren und der Sphäre des Außeralltäglichen zuzuweisen, wo seine Selbstbestimmung durch rituelle Fesseln beschränkt wird. [...]
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Der Gast tritt in einen solchen Zwischenzustand ein. Er ist nun der Alltagssorgen enthoben, ja aus dem alltäglichen Leben ,weggelobt‘, doch dabei wird er durch Befragen, Erzählenlassen [...] und Spielen und sonstigen Proben dieser Art auf seine Kompatibilität mit der Gruppe überprüft. Die Gastfreundschaft erweist sich damit als soziologisches Experiment“ (Stagl 1997: 105, 107).
Anett und Sabine erzählen von ihren positiven Gefühlen etwas Besonderes zu sein und der Freiheit, durch die Andersartigkeit außerhalb sozialer Konventionen ein Leben ohne Druck zu führen: Sabine: „Das Gefühl hatt ich in Deutschland eben nicht.“ (Sabine: 9) „Weil (...), ja. (.....) Was ich schon gesagt hab, man bekommt mehr Geld, man hat ’n viel besseren Lebensstandard (...) als Ausländer in China. Man wird bevorzugt ver, behandelt und (...) man kann ähm, (...) mh. (.....) Ich hab das Gefühl, man kann ’n Leben in, ja, es is nicht so hart, sein Leben zu verdienen. Ja. [[Hm]] Das is nich so schwierig. (...)“ [Sabine: 80]
Anett: „Ähm, (...) äh, ich werd vermissen, dass das Leben in China doch relativ einfach is im Vergleich zu Deutschland im Sinne von. Ich hab halt gemerkt. Also in China ist das so. Ich bin sowieso komisch. Das is einfach so. [[Hm]] Ich seh komisch aus. So. Das heißt, die finden mich sowieso komisch, das heißt, ich kann machen, was ich will. Die finden mich sowieso immer gleich. Und das ist fü, das is, find ich irgendwie so doof, weg. Da hockt keiner da und kuckt dich an und sagt dann, hä? Warum machst ’n du dis jetz so und so? Also. Macht keiner. Weil die denken sowieso, dass ich anders bin und komisch und das passt dann für mich. Das ist irgendwie wie so ’n ganz (...) Leben ohne Druck. Das werd ich vermissen, glaub ich. [[Hm]] Ähm, (...) an sich auch, also für mich is es so ’n bisschen wie so ’n Spieljahr. Weil ich darf hier ’ne Sprache lernen und das macht mir Spaß.“ [Anett: 106]
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Bei Stichweh findet sich der Begriff der Indifferenz (Stickweh 1997: 45f.), der die Einstellung der meisten Chines*innen gegenüber den ausländischen Student*innen beschreiben kann. Die Gruppe der Student*innen fluktuiert stark und es kann aufgrund von Zeit und Kommunikation (Sprache) nur beschränkt interagiert werden. Dies führt zu Interaktionsformen zwischen Inklusion und Exklusion. Die Student*innen befinden sich in einem für sie eingerichteten Mitgliedschaftsstatus, in dem sie „[...] ungeachtet partieller Einbeziehung – im Status eines ,Fremden‘ gehalten und zugleich für die Gesellschaft nützlich gemacht werden“ (Stichweh 2005: 138). Mirko beschreibt sein Anderssein folgendermaßen: Mirko: „Mh. Ich hab gehofft, dass ich, ähm, dass man nochmal viel aufgeschlossen wird und toleranter wird. Ähm, was jetz hart klingt, aber was nicht unbedingt der, also nicht unbedingt der Fall is. Ich war schon relativ irgend an fremden Kulturen aufgeschlossen, aber (...) da muss ich dann doch sehr auf grade Westler, irgendwie da w,w, spezialisiert hat und China wird man auch teilweise als Westler bevorzugt behandelt, wo man oder auch anders behandelt einfach. Woraus man irgendwie auch schon den Eindruck bekommt, dass man irgendwie anders is [[Hm]] und auch nicht dazugehören könnte. [[Hm]] Ähm, hat sich das gar nicht so entwickelt, wie ich gedacht und wie ich gehofft hab. (......)“ [Mirko: 21b]
Identitätskonstruktionen Die Problematik einer hybriden Identität und eines Lebens zwischen den Kulturen stellt sich auch bei einem längeren Aufenthalt und ausgezeichneten Chinesischkenntnissen aufgrund der beständigen Identitätsbestätigung als anders und dem klaren Umgang mit dem Begriff des „lˇaowài“ nicht. Vielmehr wird das Eigene im Fremden gefunden und die Student*innen konstruieren ihre eigene Identität. „Er [der Begriff der Identität; Anm. d. Verfasserin] vermittelt zwischen dem performativen Erleben von Handlungssinn und Mit-sich-identisch-Werden und der intersubjektiven Verobjektivierung dieser Erlebnisse, die sozial vermittelt, Gegenstand der Selbst-
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aneignung und Selbstmodellierung werden kann“ (Immel 2012: 115). Die Selbstfindung (auf einer Reise) ist ein konstruktiver Prozess. Menschen gestalten sich selbst und konstruieren fremde wie eigene Identität(en). Die Konstrukteur*innen bedienen sich dabei bewusst und unbewusst der inklusiven oder auch exklusiven Funktion von kulturellen Identitätskonstrukten. Der Prozess ist konstruktiv, interaktiv und dynamisch; aber er kann auch statische Elemente besitzen, die sich in Stereotypen äußern. Der postmoderne Hybriditätsdiskurs stellt das Konzept von Identität theoretisch in Frage, doch auf praktischer Ebene ist es scheinbar unmöglich ohne zu interagieren. Dennoch ermöglicht ein konstruktivistischer Zugang, die Konstruiertheit von rassischen Charakteristika oder von Selbstbildern zu beleuchten. Thomas: „Aber, wenn man wirklich diese 5 Monate hier is, und hier is es ja ’n totaler Gegenentwurf, is mir doch aufgefallen, dass mir einige Sachen fehlen. Die ähm, (...) die ich eigentlich dann, wo ich nie in Deutschland gemerkt hab, dass sie mir fehlen. Das fängt bei ganz banalen Sachen an. Dass es mich wirklich genervt hat, dass man hier, (...) das es so anders organisiert ist alles. Zum Beispiel, also ich muss hier ja auch viel mit Chinesen zusammenarbeiten in den beiden Kursen, die ich mach und ich hab, ich, also (.) ich, im Endeffekt (...) läuft’s immer so, dass sie, die halten irgendwelche Termine nicht ein. [...] Ähm, das letzte hab ich gekriecht Sonntagabend um 9. Ich saß jetz tatsächlich bis 0 Uhr. Ich hab um 0 Uhr das Ding geschickt ((schmunzeln)) also (.) grade so noch. Äh, da hat mir wirklich, hab mich geärgert ohne Ende über das, weil wir hatten wirklich Absprachen gemacht. Wir hatten gesacht äh, so wird zitiert. Dann wurde so nicht zitiert, hm. Also (.) das is zum einen so, dass, dass ich wirklich das Gefühl hab, die haben nicht so ’ne wissenschaftliche Ausbildung wirklich gekricht. [[Hm]] Aber (.) auch das sie wirklich (...) ’n bisschen schluderich gearbeitet haben, von vorneherein so. Also ich hab dann das Gefühl, die ham sich auch nich so viel Mühe gegeben immer. Und das ist das, was mich im Nachhinein ’n bisschen ärgert. [[Hm,hm]] Also dieses, dass das so anders läuft halt. Weil in Deutschland
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(...) ähm, hab ich das Gefühl, ‘ne Absprache is ’ne Absprache. [...] Oder auch ma ’n anderes Beispiel: Ich arbeite jetz auch nebenbei noch als Lehrer für Deutsch und Englisch [...]. Also von einer, die, die is 40 und die, die leitet diese Schule [[Hm]] und die hat mich 40 Minuten warten lassen. [[Hm]] Das fand ich äh, das ist halt so was. (...) Vielleicht bin ich dann doch Deutscher als ich gedacht hätte. Das hab ich dann irgendwie festgestellt. Vielleicht bin ich dann doch nicht so, der lockere internationale Typ wie, ja, vielleicht bin ich doch so ’n bisschen der, so ’n bisschen, vielleicht manchmal verkrampfte Deutsche, was so organisatorische Sachen angeht. Wir sind ja immer ’n bisschen über-korrekt, glaub ich schon. Sagen ja immer alle. ((lacht))“ [Thomas: 32a] Durch die Zuschreibungen als lˇaowài, fremdkulturellen Sinngebungen und Handlungen in der Lebenswelt Nanjing, wird die eigene Identität geformt. Auch wenn die Student*innen sich selbst als weltoffene Kosmopolit*innen gesehen haben, erfahren sie sich jetzt als „typisch deutsch“. Bei Thomas passiert dies darüber, dass er seinen Wunsch nach Organisation mit dem Attribut des „Verkrampftseins“ belegt, was wiederum das kursierende Stereotyp des über-korrekten Deutschen bedient. Je nach Lebenswelt entstehen unterschiedliche „Identitätstypen“ (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 185). Identitätstypen sind „[...] für vortheoretische und also vorwissenschaftliche Erfahrung ‘bemerkbar‘, und ‘verifizierbar‘ [...]“ (Berger/ Luckmann 1969: 185). Die Begegnung mit anderen Kulturen ist immer auch mit bestimmten Vorstellungen und Miniaturtheorien verbunden, was das Eigene und was das Fremde, beziehungsweise die Anderen sind. Dabei wird dann definiert, was „typisch“ für Chines*innen oder für Deutsche ist. Die Homogenität und der scheinbar natürlich vorhandene Charakter von Identität ist auch für die Gesprächspartner*innen fragwürdig. Doch obwohl es zahlreiche Identitätsentwürfe für ein Individuum gibt, spielt Kultur wie bereits eingangs erwähnt als konstruierendes Element weiterhin eine Rolle (vgl. Hall 2002: 101). Susan Hegeman argumentiert, warum Kultur eine zentrale analytische Kategorie ist und weiterhin bleiben wird, auch wenn dies eine Herausforderung für die aufgeklärte Moderne darstelle: Kultur sei eine Kategorie, die „funk-
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tioniert“. Sie funktioniere, wenn es um Benennungen und Zuschreibungen geht. Damit sei sie relevanter Teil der Identitätsarbeit. Auf theoretischer Ebene vermittele Kultur zwischen Realität und Ideal, auf sozialer Ebene beschreibe sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede (vgl. Hegmann 2012). Menschen, die sich in einer interkulturellen Lebenswelt begegnen, positionieren sich in Relation zueinander. Eine der ersten Fragen in interkulturellen Begegnungen ist: „Woher kommst du?“ Eine der ersten Informationen über die eigene Identität, die man gibt, ist: „Ich komme aus...“ Dabei werden kulturelle Differenzen de-/ re-/ konstruiert und an der eigenen Identität gearbeitet. Fremdzuschreibungen bergen, wie die Vergangenheit gezeigt hat, große Gefahren. In Zeiten der Globalisierung sind Identitätskonstruktionen jedoch immer auch Abstraktionen individueller Sets von Gedanken, Werten und Bedürfnissen, die in der Interaktion berücksichtigt werden müssen. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass die jeweilige Identität des Gegenübers anerkannt wird. Weiterhin dienen Konstruktionen von Identität der Eigensicherung, da sie bei aller Dynamik Sinn und Konsistenz herstellen, die notwendig für die Biographiegestaltung und Identitätsstiftung sind. Sie setzen das Individuum in Bezug zur Welt. Das Sprechen über die eigene Identität in Face-to-Face Interaktionen ist eine Handlung und konstruktive Leistung zur Erschließung von relevanten Erfahrungen und Deutungen oder zukünftigen Erwartungen, was letztendlich zur Selbstpositionierung oder Verortung in der Interaktion führt.
„Ihre Identität behauptet eine Person gleichzeitig für sich und gegenüber anderen; die Selbstidentifikation, das Sich-Unterscheiden von Anderen, muß von diesen anderen auch anerkannt werden. Die reflexive Beziehung des sich mit sich identifizierenden Einzelnen hängt von den intersubjektiven Beziehungen ab, die er mit anderen Personen, von denen er identifiziert wird, eingeht“ (Döbert u.a. 1977: 10).
Identität ist mit dem Begriff der Differenz verbunden (vgl. Stenger 2012b: 45), diese Differenz kann sich auf die unterschiedlich bewerteten Identitäten anderer beziehen, wie im Kapitel zur Sozialwelt noch ausgeführt werden wird, oder auch auf das Selbst. Dies geschieht durch Selbstreferenzialität, die die Kontinuität der eigenen Identität immer wieder herstellbar macht.
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Das Selbst wird in Abgrenzung zu einer anderen beziehungsweise vergangenen Zeit gesetzt, wodurch die Kontinuität aufrecht erhalten wird. Durch die Ordnung und Logik des Erzählens, werden Entwicklungen plausibilisiert (vgl. auch Kapitel 5.2.8 Blickwinkel) und doch sind diese Erzählsequenzen nur Momentaufnahmen. Die Akteur*innen wollen ihre Identität in Bewegung bringen und verändert, beziehungsweise anders nach Hause kommen. Wie oben eingeleitet, kristallisiert sich als Folge der Exklusion ein Exklusionsbereich heraus (vgl. Stichweh 2005 138f.), der sich auf die Raumgestaltung und Sozialwelt auswirkt. Die Exklusion führt konkret zu einer paradoxen Wende, nämlich der Inklusion um die internationalen Quartiere auf dem Gulou-Campus, wie in den folgenden beiden Kapiteln dargestellt werden soll. Denn durch die praktische Vergemeinschaftung, so Immel,
„[...] zeigt sich mit Blick auf das Bestreben zur Selbstaneignung der Bedarf nach festen Orientierungspunkten in der menschlichen Lebenswelt, nach festen sozialen Strukturen, in denen klar konturierte Rollengefüge und Gratifikationssysteme institutionalisiert sind, die soziale Anerkennung für bestimmte Arten sinnhaften Handelns garantieren und auf diesem Wege die Konstituierung aneignungsfähiger Momente personaler Identität erlauben“ (Immel 2012: 120).
5.2.5 Raum – Quartier Raumgestaltung – Lebensweltgestaltung Durch die oben genannten Gründe entsteht ein Exklusionsbereich, der nicht nur abstrakt wahrgenommen wird, sondern die konkret vorhandene Raumorganisation begünstigt dies, wie im Weiteren gezeigt werden wird. Der Raumbezug ist relevant für die Wahrnehmung und die Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf die Hochschule als transkulturellem Raum mit seinen spezifischen Strukturen, nämlich der „Ansammlung von ,Gleichen‘ und Privilegierten“ (vgl. Darowska/ Machold 2010: 23) sowie seiner räumlichen und zeitlicher Begrenzung. Die oben elaborierten Konzepte von Kultur und Identität dienen als Bezugsgrößen für die Selbstverortung der Ak-
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teur*innen: „Menschen werden zum einen durch Handlungen anderer Menschen positioniert, zum anderen positionieren sie sich aktiv“ (Löw 2001: 154). Für Steffen Mau ist die „Studentenmobilität auf dem globalen Campus“ eine Entgrenzung von sozialer Lebenswelt. Seine Betrachtungen von transnationaler Vergesellschaftung emanzipieren sich vom Raum, ohne jedoch die Bedeutung von Raum als Struktur für die stattfindende Interaktion zu vernachlässigen (vgl. Mau 2007: 137f.). Doris Bachmann-Medick beschreibt in ihrer Sammlung der „Cultural Turns“ (vgl Bachmann-Medick 2014) den Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. Dabei benennt sie nicht nur die Bedeutung von Kultur und kulturellem Kontext für die Beschreibung von Lebenswelten/ -realitäten und deren Konstruktionen, sondern auch die des Raumes unter dem Stichwort spatial turn: „Raum wird geradezu zu einer Metapher für kulturelle Dynamik: durch Grenzüberschreitungen und Grenzverlagerungen, durch Verhandlungen, durch Migration und Überlappung durch das Entstehen netzwerkartiger transnationaler ’imagined communities’“ (Bachmann-Medick 2014: 298). Raum liegt konkret vor, ist aber genauso auch Ausdruck sozialer Praxis und verweist auf andere, wie zum Beispiel gesellschaftliche oder soziale Verhältnisse, denn Raum wird nach dem Soziologen Henri Lefebvre von materiellen Interaktions-, Kommunikations- und Bedeutungsprozessen konstituiert (vgl. Schmid 2005: 227). Auch die Soziologin Martina Löw kommt zu dem Ergebnis, dass Räume keine starren Behälter, sondern ständig in Bewegung sind, da ihnen sowohl eine Ordnungs- als auch Handlungsdimension innewohne (vgl. Löw 2001: 131). Bei den Betrachtungen von Raum geht es darum, sowohl den konkreten Ort, als auch den abstrakten Raum zu erfassen. Das Verhältnis ist vor allem ein reziprokes: Raum ist sowohl territorial und konkret vorhanden als auch symbolischer und abstrakter Aushandlungsprozess. „Der spatial turn richtet sich auf Praktiken der Raumerschließung und -beherrschung, zugleich aber auch auf Repräsentationsformen von Räumen“ (Bachmann-Medick 2014: 300 [Hervorhebungen im Original]). Eine Beschäftigung mit Raum bedeutet daher immer auch eine Beschäftigung mit Identitäten, Nähe und Distanz, Positionierungen, Handlungen, Sinngebung, Wahrnehmung und Bedeutungen, das heißt mit sozialen Räumen. Es wird also von einer Pluralität von komplexen Räumen ausgegangen, die sich überlappen und überschneiden. Während Ludger Pries – im interkulturel-
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len Diskurs bekannt für seinen Transnationalisierungsansatz – Sozialräume jenseits der Nationalgesellschaft, aber geographisch und territorial orientiert verortet (vgl. Pries: 2008), interagieren die Akteur*innen bei ihrer Konstruktion von Lebenswelt nicht im Zwischenraum von nationalstaatlichen Territorien, sondern zwischen der eigenkulturellen Lebenswelt, dem konkreten Raum China und der Quartiersituation um den Gulou-Campus herum. Innerhalb dieser Trias spannt sich die Lebenswelt auf, die sich die Student*innen durch Handlung und Deutung konstruierend erarbeiten. Folgende Graphik veranschaulicht das Wechselspiel:
eigenkulturelle Lebenswelt
de-/ re-/ konstruierte Lebenswelt „Bubble“ Quartierraum Gulou-Campus
fremdkulturelle Lebenswelt China
Abbildung 3: Trias zur Lebensweltgestaltung
Die eigenkulturelle Lebenswelt ist Standort (vgl. Wierlacher 2003: 30) und Ausgangsposition für das Raumerleben, dass sich aus Handlungs- und Deutungsmustern der Trias zusammensetzt. Das Eigene, beziehungsweise die eigene Kultur wird als Deutungsschablone für neue Beobachtungen und Erfahrungen genutzt. Die Raumgestaltung der Akteur*innen ist prinzipiell von Offenheit und Neugierde geprägt, denn sie verstehen sich als Kosmopolit*innen. Thomas beschreibt seinen „Erkundungsmodus“, der als erste Strategie zur Raumaneignung zu verstehen ist: Thomas: „Hm. Ja. Also (...) ich bin am Anfang als ich hierhergekommen bin auch zum Beispiel, war jetz dann immer so ge-
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handhabt hab, wenn ich irgendwo neu war in fremden Städten also, bin ich zum Beispiel einfach mal äh, in ’ne Richtung gegangen auch und hab mir ma Sachen angekuckt. Seit ich mich hier wirklich mehr eingelebt hab, sozusagen seit ich hier lebe, is das eigentlich weniger geworden. Das heißt ich geh jetz nicht mehr, also ich hätte zum Beispiel (...) Wohnung hab da gesehen, ach dahinten gibt ’s irgendwo ’n Park anscheinend. Da hab ich mir gedacht: ,Ja gehst einfach die Straße runter, gehste da mal hin.‘ War aber zu. Also war nix. (..) ((lacht)) War schon zu spät. Jedenfalls (.) das hab ich da am Anfang gemacht, das auch ma gemacht. Hm. Und jetz kommt das eher seltener vor. Also jetz hab ich eher so, ich hab meine Anlaufpunkte, das heißt, ich ähm, von meinem Haus in der, von meiner Wohnung, praktisch von der, in der Shanxi Lu und äh, Zhonrang, Zhongshan Lu [[Zhongshan]], Zhongshan Lu an der Kreuzung da ähm, bis zur Uni. Raus. (..) Is gut und da beweg ich mich frei und das is alles gut. Bei den andern Strecken is es immer so ähm, ich kenn dann immer dieses Ausschnitte. Zum Beispiel bei den Schulen wo ich unterrichte, kenne ich mich dann aus. Ich kenn mich bei den Sehenswürdigkeiten, weil ich da überall schon mal war, aus und halt noch ein, zwei Einkaufszentren vielleicht. [...] Aber es nich mehr so. Ich hab aufgehört, weil es (...) ich weniger Zeit dafür hab und vielleicht auch ’n bisschen weniger ähm, (...) es hat mit der Zeit zu tun, aber es hat auch ’n bisschen was mit der Einstellung zu tun. Vielleicht weil ich nicht mehr so neu hier bin. Hört man automatisch irgendwie auf, dieses Erkundungsmodus anzuhaben. Hab ich da ’n bisschen.“ [Thomas: 49a–51a] Den „Erkundungsmodus“ begrenzt Thomas auf Nachfrage auf den ersten Monat des Aufenthaltes und es wird deutlich, dass er trotz vieler Möglichkeiten, wie günstige Taxipreise und ein sehr gutes Netz öffentlicher Verkehrsmittel (vgl. Thomas: 58a) seinen Handlungsraum um den GulouCampus der Universität und das Wohnquartier gestaltet hat. Auch Anna be-
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schreibt ihre Entdeckerfreude, bei der es primär um die Erschließung alltäglicher Ressourcen geht: Anna: „Ähm. (.....) Äh. (.) Zum Beispiel andere Straßen nehmen als ich sonst nehme, Abkürzungen, wo ich denke es sind Abkürzungen, dann sind’s Sackgassen oder so ähnlich. ((lacht)) Ähm (.) ich mag es gerne zu wissen was in meiner Umgebung ist, weil ich ähm. Es ist auch in Deutschland so, wenn (...) mh. Ich hab gerne, dass ich weiß, wo ich etwas Gutes kaufen kann, etwas Günstiges. Wenn ich jetz zum Beispiel dort wo ich wohne, weiß ich, der Obsthändler verkauft äh, saure Orangen also geh zu dem anderen Obsthändler hin, weil der hat dann bessere Orangen, aber dafür die schlechteren Drachenfrüchte. ((lacht)) Also, wenn ich das alles so ähm, ausprobiere und einfach weiß in meiner Umgebung ist, das find ich total Klasse. Auch ähm, ich teile sehr gerne meine Erfahrungen jetz, ich hab zum Beispiel so ’n, an der Ecke so ’n, so ’n chinesischen Bäcker mit chinesischen Backwaren und ähm, da hab ich auch verschiedene Kekse und Kuchen ausprobiert und die, wenn da einer gut ist, dann kauf ich den am nächsten Tag und bring die für alle mit in der Klasse. Also, das (...) keine Ahnung. Das macht mir Freude anderen da ’ne Freude zu machen. Dann erzähl ich: ,Ja, ich hab da, ich kenn da jemanden.‘ Oder: ,Der Bäcker is besonders gut.‘ Und ähm, ja. Das, das (...) hab ich gerne eigentlich, ja.“ [Anna: 29] Raumerschließung bedeutet auch immer Austausch über Raum, der primär darüber erfolgt, wo was zu finden ist und was man dort erleben kann. Die Informationen werden mit denen geteilt, die ähnliche Ressourcen suchen, weil sie ähnliche Bedürfnisse haben: den anderen Fremden beziehungsweise „lˇaowài” (im Folgenden auch Internationale oder Internationals6 genannt). Orte, an denen für die deutschen Student*innen nichts Relevantes 6
Damit wird die im Umfeld der internationalen Student*innen je nach Sprache (Deutsch oder Englisch) selbst gewählte Bezeichnung und nicht die Fremdzuschreibung „lˇaowài“ aufgegriffen.
5.2 Auswertung
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stattfindet, existieren auf der mentalen Landkarte nicht. Durch die oben erläuterte Exklusion mangelt es an so genannten „Gate Keepern“, die in die alltägliche fremdkulturelle Lebenswelt einführen. Es werden also in der Regel nur Orte aufgesucht, die zufällig entdeckt wurden oder Referenzen von anderen Fremden haben. An diesen Orten trifft man dann wiederum andere Internationals, denn sie sind die Akteur*innen, deren Handlungsabläufe dem eigenen Alltag nahe sind, was wiederum Einfluss auf die Kartierung des Handlungsraumes hat. Bachmann-Medick verweist auf den topographical turn, eine Unterströmung des spatial turn, die Praktiken, die den Raum repräsentieren, noch stärker in den Vordergrund stellt. Zentrale Arbeitsbegriffe sind hierbei die Karte und die Praxis des Mapping:
„Mapping bleibt freilich nicht mehr nur auf Karten im engeren Sinn bezogen, sondern wird zu einem allgemeinen (methaphorisierten) Ordnungsmuster, zu einem Modell der Organisation von Wissen:[...] also zu symbolischen und vor allem subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte mit je verschiedenen Bedeutungen“ (Bachmann-Medick 2014: 299f.).
Konkrete Kartographien werden subjektiv konstruiert und zu neuen mental maps zusammengesetzt. Die Lebenswelt der Student*innen ist nur bedingt an lokale Orientierungspunkte angelehnt. Vielmehr ist sie ein Produkt ihrer Konstruktion. Die Lebenswelt wird mit bestimmten Bedeutungszuschreibungen, Gefühlen und Handlungspraxen aufgeladen. BachmannMedick schreibt, es sei „[e]ntscheidend [...], dass der Raum selbst zu einer zentralen Analysekategorie wird, zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialtität und Erfahrungsnähe, zu einer Repräsentationsstrategie“ (Bachmann-Medick 2014: 304f). Es werden im ständigen Prozess neue Orientierungspunkte geschaffen und alte verschoben. Die Lebenswelt wird nicht territorial, sondern durch Erlebnisse und Handlungen gestaltet. Bleiben diese aus, bedeutet dies eine Stagnation der Lebensweltgestaltung. Amelie beschreibt, dass das Fehlen von Anlaufstellen sich auf ihr soziales Verhalten und ihre Raumgestaltung ausgewirkt habe, sie sei häuslicher geworden:
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Amelie: „Ähm. (...) Also man is hier schon ’n bisschen häuslicher. Generell. Weil (...) ja es is, mh, irgendwie zuhause weiß man, wo alles is, dann besucht man mal den, dann besucht man mal den und hier kann man ja gar nicht so viele Leute besuchen, weil man gar nicht so (..) Anlaufstellen in dem Sinne hat. Also dementsprechend is das in der Hinsicht schon anders. “ [Amelie: 47] [...] „Ähm. (...) Also (.) im Alltag is quasi einfach, dass ich quasi generell eher sage, es quasi beschränkt sich um einen Kilometer um mein Haus und dann zur Universität. Also ich weiß nicht, wie weit das weg is, also wenn man alles, alles Lebensnotwendige halt direkt drum herum bekommt und wir auch ’n Park da ham, wo man sich mal hinsetzen kann.“ [Amelie: 71]
Quartierwahl Im Folgenden sollen sowohl die konkrete als auch die soziale Quartiersituation der deutschen Student*innen in Nanjing nachgezeichnet werden. Wie bereits bei der Beschreibung des Settings dargestellt wurde, besitzt die Universität Nanjing zum einen den zentrumsnahen Gulou-Campus und den bei gutem Verkehr ungefähr 45 Minuten entfernten Xianlin-Campus. Obwohl für ausländische Student*innen das Angebot, auf dem Xianlin-Campus zu ziehen, existiert, wohnen ausländische Student*innen in der Regel um den Gulou-Campus. Hier finden direkt neben dem Ausländerwohnheim (im Folgenden auch „Xiyuan“ genannt) die für 20–24 Unterrichtseinheiten pro Woche angesetzten Chinesischkurse statt. Unterrichtsbeginn ist morgens um 8 Uhr, was bedeutet, dass diejenigen, die auf dem Xianlin-Campus Quartier beziehen würden, sich vor 7 Uhr auf den Weg machen müssten (vgl. Clara: 149). Während die Umgebung von Xianlin zum Zeitpunkt der Datenerhebung die Atmosphäre eines Industriegebietes hatte, war der Gulou-Campus in ein buntes Umfeld von kleinen Läden, internationalen Cafés, Bars und Restaurants eingebettet. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle eine Karte des gesamten Komplexes aufgezeigt:
5.2 Auswertung
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Abbildung 4: Gulou-Campus
Anhand der Grafik ist zu sehen, dass sich das Wohnheim der internationalen Student*innen im Nordwesten des Campus befindet, während die Wohnheime der chinesischen Student*innen im Südosten lokalisiert sind.
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Um das Xiyuan herum entwickeln sich regelmäßige Rituale unter den Internationals, wie das gemeinsame zu Mittagessen nach den Chinesischkursen oder das abendliche Zusammensitzen in der Straße vor dem Wohnheim. Auch internationale Student*innen, die nicht im Wohnheim wohnen, schauen regelmäßig abends auf ein Getränk vorbei. Von den 30 Gesprächspartner*innen der vorliegenden Interviews wohnten elf im Ausländerwohnheim, 14 in deutschen Wohngemeinschaften um den Campus herum (davon drei Paare), zwei leben alleine und drei in Wohngemeinschaften mit Chines*innen, wovon 2 jedoch ständig abwesend seien, weshalb ein*e Gesprächspartner*in nach kurzer Zeit wieder auszog (vgl. Anhang I). Während die Wohnsituation im Xiyuan – in der Regel ein Doppelzimmer und die gemeinsame Nutzung einer Hock-Toilette auf dem jeweiligen Flur – für gut ein Drittel hinnehmbar ist, entscheidet sich fast die Hälfte der deutschen Student*innen, Privatwohnungen anzumieten. Für Student*innen aus Förderprogrammen werden die Kosten des Ausländerwohnheims meist übernommen, weshalb manche sich auf die Ausstattungssituation und auch die abendlichen Schließzeiten des Wohnheims einlassen. Denn wer zu spät kommt, muss den schlafenden Wachmann wecken und sich aufschließen lassen. Im Gegensatz zu den chinesischen Student*innen, deren Zuspätkommen dokumentiert wird, hat dies für internationale Student*innen jedoch keine weiteren Konsequenzen, außer dem Gefühl, in Freiheit und Privatsphäre eingeschränkt zu sein. Für deutsche Student*innen ist das Wohnen in einer eigenen Wohnung und die Organisation des damit verbundenen Alltags ein Zeichen der Selbstständigkeit. Bevor die Student*innen diesen Umstand jedoch im folgenden Kapitel in direkten Vergleich setzen zu chinesischen Student*innen, soll der Fokus zunächst auf der Raumgestaltung der deutschen Student*innen liegen. In den Gesprächen wird deutlich, dass schon aus organisatorischen Gründen, nämlich der räumlichen Distanz zwischen Xianlin-Campus und den Räumlichkeiten der Chinesischkurse (vgl. Kai 117; Sabine: 50), niemand auf dem Xianlin-Campus sein Wohnquartier bezieht. Weitere Aspekte sind die Ängste vor der Ausstattungssituation (vgl. Stefanie: 30–32) und die Angst vor Isolation. Exklusion ist für alle ein Thema, egal, für welche Quartiersituation sie sich entschieden haben. Die Mehrzahl hat sich für eine Wohngemeinschaft mit anderen Deutschen entschieden, die sie in der Regel vor dem Auslandsaufenthalt bereits
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in Deutschland kennengelernt hatten. Sabine erzählt von ihrer deutschen Wohngemeinschaft und wie es trotz Problembewusstsein darüber, welche sozialen Folgen dies haben kann, dazu kam: Sabine: „Also ich wohn zusammen mit zwei Kol, Kommilitonen (.) aus Deutschland. [[Hm]] Also ich bin eigentlich wieder auf so ’ner kleinen deutschen Insel im chinesischen Meer. [[lacht]]“ [Sabine: 35] [...] Sabine: „Im sozialen Raum hab ich eigentlich keine [[Hm]] chinesischen Kontakte, deshalb kann ich ’s auch gar nich ändern. ((lacht)) [[Hm, hm]] Kann ich jetz auch gar nich so richtig äh, verknüpfen. Also in Hefei waren eben meine (...) beruflichen Kontakte, die Arbeitskollegen, die Studenten waren auch meine privaten Kontakte gleichzeitig. [[Hm]] (.....) Ähm, (...) wobei ich mich eben damals auch sehr isoliert gefühlt hab auf ’n Campus. [[Hm]] Das is ähnlich wie jetz. Also da fühlte ich mich auch wieder sehr isoliert eigentlich von der chinesischen Gesellschaft, [[Hm]] obwohl ich mittendrin lebe, [[Hm]] hab ich eigentlich die meisten Kontakte nur zu Deutschen oder zu andern Ausländern.“ CH: „Und nach Xianlin zu ziehen, war keine Option für dich?“ Sabine: „(.....) Mh. Das ging nicht, weil wir hier vormittags ab acht immer die Chinesischkurse hatten [[Hm]] und (...) ja. (...) Ich hab ’s Gefühl hier sind einfach, hier is ’n bisschen mehr Leben. Hier gibt ’s Kneipen, da kann ma am Wochenende immer raus äh, [[Hm]] und die Bahn, ich glaub, sie fährt bis halb 12 nach Xianlin [[Hm]] und dann wär ’n wa immer so ’n bisschen abgeschottet. [[Hm, hm]] Und ich wollt dann schon irgendwie hier (...) paar (...) ja, ’n bisschen abwechslungsreicher leben. Hier gibt ’s verschiedene Restaurants für, mehr Menschen, mehr unterschiedliche ((schmunzelt)) Menschen auch [[Hm]] und dort gibt ’s eben dann den Campus und (...) die Mensa und dann hört ’s auch schon auf. ((lacht))“ [Sabine: 47–50]
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Abgesehen von den organisatorischen Gründen hat sie sich aus Angst davor, in Xianlin isoliert zu sein, für den Gulou-Campus entschieden. Dieser bietet zwar ein breites Unterhaltungsangebot, allerdings bleibt es ein Leben auf „einer Insel im chinesischen Meer“. Linus, der als Kind deutscher Eltern in China aufgewachsen ist und sehr gutes Chinesisch spricht, erklärt, dass er nicht mit Chines*innen zusammenwohnen wollte und sich bewusst dafür entschieden hat, allein zu leben, um dem „Inselleben“ zu entgehen: Linus: „Ja. [[Hm]] Das war auch ’ne bewußte Entscheidung übrigens. [...] Die Schwierigkeiten, die ich in der Vergangenheit mit Chinesen [[Ah]] gehabt hab. [[Hm]] Mir da sofort ’ne chinesische WG anzulachen, das war mir dann zu riskant. Und die dritte Möglichkeit war natürlich die, mit Ausländern zusammenzuleben und da hab ich gedacht, dass, dann (...) krieg ich nix gebacken und dann werd ich sowieso nur in meiner ausländischen Blase hängen und darauf hab ich keine Lust. [[Hm]] Deswegen hab ich mich bewusst entschieden, alleine zu leben. Auch wenn ’s teurer is. [...] Und das heißt, ich tu mich um und häng mit den andern Ausländern ab. [[Hm]] (.....) Das Problem is auch, dass der Kontrast so groß is, weißte. Mh, (...) man hat ja gar keine andere Wahl als in seinen ersten zwei Wochen fuffzich Leute kennenzulernen, die alles super nett sind, weil einfach hier alle gleichzeitig ankommen, [[Hm]] alle gleich verzweifelt sind, Leute zu finden [[Hm]] und so weiter. Und ähm, (...) und deswegen lernt man super schnell, super viele total coole Leute kennen. Und dann is ma so ’n bisschen saturiert an, an (...) an Freundschaften und Beziehungen und dann noch (...) auch aus dem, aus dem (...) Gefühl, dass man eigentlich genug Freunde hat, sich anzustrengen, um, um Chinesen zu suchen, is halt nochma [[Hm]] vielleicht, ich bin kein Psychologe. (.....)“ [Linus: 116–120] Trotz Strategie findet sich auch Linus in der von den Internationalen entweder Ausländer-Blase oder Bubble genannt ein. Immer wieder wird deutlich, dass für die Akteur*innen die ersten Wochen der Ankunftsphase, in
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der Quartiere gesucht werden und die Chinesischkurse starten, mitunter die wichtigste Phase für den weiteren Aufenthalt darstellen. Häufig initiiert bereits die gemeinsame Anreise eine Gruppenbildung, die in der Regel während des gesamten Aufenthaltes aufrecht erhalten wird. Amelie: „Aber ich hätte eigentlich gedacht, dass man mehr Kontakt bekommt in der ersten Zeit. Man is so ’n bisschen isoliert. Kommt wahrscheinlich auch daher, dass wir jetz als größere Gruppe hier angereist sind und äh (.) wir wohnen in einem Haus. ((lacht)) Wir gehen quasi immer zusammen aus ’m Haus und kommen wieder alle zusammen. So. Ja. (...) Das is so.“ [Amelie: 18] Thomas hat bereits beschrieben, wie sein Entdeckungsmodus nach dem ersten Monat weniger wurde und Linus ist nach zwei Wochen Kennenlernen sozial saturiert. Innerhalb der ersten zwei Wochen begegnen sich in den Chinesischkursen und an den unter den internationalen Student*innen bekannten Orten nur Internationale, die schnell Bekanntschaften schließen möchten. Auch Inga beschreibt, wie nahe liegend es ist, sich mit jemanden eine Wohnung zu teilen, der im selben Boot sitze, obwohl sie als angehende Lehrerin für Chinesisch als Fremdsprache ein starkes Interesse für China hat: Inga: „Da hab ich schon, schon einige negative Erfahrungsberichte gehört von Kommilitonen von mir, die mich davor gewarnt haben. Ähm, von anderen hab ich wiederum gehört, dass es ganz wunderbar geklappt hat. Aber ich wollt ’s jetz einfach nicht drauf ankommen lassen und daher, von daher. Ich war auch halt mit ’ner Kommilitonin bin ich hier angekommen [[Hm]] und waren halt ähm, irgendwie saßen wir im selben Boot, hatten das gleich Problem. Also haben wir uns auch zusammen dann ’ne Wohnung genommen. (.....) Das war einfach so dann (.) aus praktischen Zwecken ganz gut.“ [Inga: 41] Auch Maria betont, wie das gemeinsame Fremd-Sein nicht nur verbindet, sondern der Kontakt und Austausch auch als wichtige Ressource für die Erschließung der Umgebung dient:
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Maria: „Mh, ja, was heißt nich, also jetz aber nich negativ ausge, [[Hm]] natürlich hat man sich (unverständlich) erst am Anfang fremd gefühlt, aber ähm, einfach nur, weil so Vieles neu oder ungewohnt oder anders wahr. Und man konnte dann halt so, okay, so ’n bisschen voneinander profitieren, also vor allem von den Leuten hier, die halt schon länger hier waren auch und die einem, die da einfach schon mehr Erfahrung hatten, die einem auch weiterhelfen konnten, wenn man irgendwie was nich verstanden hat oder (...) nich wusste wohin oder was tun oder so weiter und das war schon ganz nützlich auch.“ [Maria: 32]
Ethnoscape (Ausländer-) Bubble Währen im Interkulturalitätsdiskurs Raumkonzepte des Dazwischen (vgl. Bhaba 2000) oder des Dritten Raums (vgl. Soja 1989) kursieren, nutzen die Akteur*innen zur Beschreibung ihrer Lebenswelt Begriffe wie „Insel“, „Boot“ oder auch „Ghetto“ (vgl. Jan: 71; Patrick: 36). Doch am häufigsten wird die Multi-Kulti-Insel innerhalb der vermeintlich chinesischen Homogenität Bubble genannt. Mit Arjun Appaduarai verstanden, der transnationale Räume theoretisch mit dem spatial turn verknüpft, ist die Bubble ein Ethnoscape (ethnischer Raum), eine Landschaft der Gruppenidentität, wobei die Gruppe nicht notwendigerweise kulturell homogen sein muss (vgl. Appadurai 1998: 11). Bachmann-Medick ergänzt passend:
„Dies sind Räume, die von spezifischen Gruppenidentitäten geprägt werden, Erfahrungsräume, die in der Diaspora entstehen, welche trotz Deterritorialisierung und ’displacement’ verstreute Migrantengruppen zusammenhalten: vielschichtige, komplexe Räume einer trans- und multilokalen Zivilgesellschaft“ (Bachmann-Medick 2014: 297).
Die Lebenswelt der Akteur*innen kann als Artikulationsraum für Differenz betrachtet werden, in dem die oben diskutierten Identitätskonstruktionen und Differenz gefestigt werden. Die Lebenswelt der deutschen sowie internationalen Student*innen ist ein interkultureller Raum, der sich durch „Her-
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kunftsvielfalt“ (vgl. Welsch 2010: 54) auszeichnet, wenn auch ohne Chines*innen. Die Deutschen teilen mit Student*innen verschiedener Länder die gleichen Erfahrungen und einen gemeinsamen Lebensstil. Dabei gibt es auch nicht-westliche Erfahrungen, die Kontakte reichen von Europa und den USA über Australien, Afrika, Russland und Indonesien nach Korea. Je nach Größe der Differenz zum Eigenen erfolgt die Anordnung von Nähe und Ferne. Auf der Suche nach dem komplett Anderen ordnen und verorten die Akteur*innen China von vorneherein als ferner, als beispielsweise Europäer oder Amerikaner. Interessant ist dann wiederum der Prozess der Annäherung durch den Erwerb von Wissen und der Fähigkeit des Verstehens, das hier nicht unbedingt auf den Spracherwerb zielt. Maria führt dazu aus: Maria: „Und ähm, also fand ich schon spannend. Einfach die, das Leben hier so kennenzulernen, die Kultur, die Art auch. Was (.) natürlich gewöhnungsbedürftig auch is, in einigen Punkten, aber auch spannend is. (...) Und äh, (...) was ich halt auch sehr erstaunlich fand, womit ich gar nicht gerechnet hatte, also es war mir vorher einfach nich bewusst, man hat sich natürlich auch nich viel Gedanken drüber gemacht, aber (...) eben weil, weil einem das eigentlich so (...), mir (...) da irgendwie der Gedanke schon fremd, dass hier so viele, dass hier eigentlich auch so ’ne internationale Community irgendwie is. Das hier vor allem auch ganz viele Afrikaner sind. Was ich (...) also völlig irgendwie überraschend fand. Aber eben auch ganz viele Italiener waren zu dem Zeitpunkt da, Franzosen, Australier, also alles eigentlich. Das war wirklich ’n ganz bunt, ’n ganz bunt gemischte Community. Und das fand ich auch spannend irgendwie, dass man halt auch mit ganz andern äh, Kulturen noch zusammenkam, zusätzlich zu da sowieso schon völlig fremden Kultur, dass man da halt auch so ’n bisschen schon (...) sich austauschen konnte so: ,Okay, was hast du denn für Erfahrungen gemacht?‘ Oder: ,Kannst mir Tipps geben?‘ Oder: ,Wie is des denn?‘ Und das da auch allein schon, weil man eben gemeinsam fremd in der Fremde is. [[Hm]] Äh, sich da auch so ’n
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bisschen Unterstützung kommt hier gegenseitig. Das fand ich auch interessant.“ [Maria: 18] Die Gemeinschaftskonstruktionen innerhalb der Bubble beziehungsweise Lebenswelt der Internationalen funktionieren auch in die entgegengesetzte Richtung. Denn in Mirkos Peer-Group, ist der deutsche Sinologe, der verstärkt chinesische Kontakte pflegt, nicht integriert: Mirko: „Okay. Jemand is schon ausgezogen aus dem, aus, aus ‘ner Wohnung von den anderen, äh und mein Mitbewohner ist ähm, jetz nicht so integriert, muss ich sagen. Ähm, is aber auch jemand der (..) er studiert Sinologie. Aber alle anderen Leute, das sind, das bleiben dann noch sieben Leute, jetz (.....) sieben Leute. Ähm, wir machen schon ziemlich viel zusammen. Ähm, aber man, halt teilweise nur in ‘ner Fünfergruppe, aber oder wenn ma mit sieben oder nur zu Dritt, aber die Personen wechseln ja immer wieder. Fahren zusammen nach Peking, die anderen haben noch ’n andern Ausflug gemacht. Wir gehen abends zusammen essen auch. Also. Alle anderen Deutschen wohnen alle in einem Hochhaus in verschiedenen Stockwerken. [[Ah]] Ham die drei Wohnungen und ähm ich wohn mit meinem Mitbewohner in ’ner chinesischen Straße, das is jetz auch nich weit von der Uni weg is.“ CH: „Der is aber auch Deutscher?“ Mirko: „Der is auch deutsch, studiert Sinologie und is schon dadurch ’n bisschen raus, dass er der einzige is, der noch Sprachkurs macht [[Hm]] und wir andern machen den Sprachkurs nicht mehr. Ich hab ganz, ganz früh aufgehört.“ [Mirko: 29a–31a] Trotz der isolierten Position, ist die Lebenswelt der internationalen Student*innen geprägt von transnationalen Netzwerken und ein interkultureller Lernort. Internationaler Kontakt befriedigt das kosmopolitische Bedürfnis; allerdings wird das Bedürfnis deutlich, dass man gerne mehr chinesische Kontakte vorweisen würde. Auch hier werden nicht-westliche Erfahrungen
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gesammelt und die chinesische Sprache mit anderen Internationalen praktiziert: Janine: „...im Xiyuan, genau. [[Hm]] Da war schon alles voll. Das is das günstige, wo eigentlich [[Hm]] die Stipendien dann da die sind. Ich bin dann halt ins Zengxianzi und hab die billigere Variante genommen und bin mit ’ner Zimmernachbarin aus Indonesien jetz zusammen.“ CH: „Sprecht ihr Englisch oder Chinesisch?“ Janine: „Chinesisch. ((schmunzelt)) Sie kann nich so viel Englisch. Aber es is ganz gut, also ähm, sie is zwar erst in der, also (...) is noch auf dem Anfangslevel von Chinesisch. Oberer Anfänger, praktisch chuxia. Aber ähm, also ich merk, dass sie immer mehr kann und wir, wir verstehn uns gut mit ’nander, also es war ’n Glücksfall, denk ich. Und ich denk, auch für sie, weil, weil wir so beide die Möglichkeit haben, die Sprache zu üben. [[Hm]] Und (.) die meisten reden ja im Zimmer Englisch mit ’nander.“ [Janine 36–38] Mario, der auch im Xiyuan wohnt, benennt seine Strategien zur Vermeidung einer westlichen Orientierung in der Bubble folgendermaßen: Mario: „Ähm, (...) okay, meine erste Strategie war, dass ich zum Beispiel relativ am Anfang, dass ich hier war, mich mit drei Koreanern angefreundet hab, die kein Englisch sprechen. [[Hm]] Äh, gut, das is zwar jetz keine Chinesen, aber gut. Mir geht ’s halt hauptsächlich darum, dass ich nicht den ganzen Tag Deutsch oder Englisch rede. Deswegen ich mach oft was mit den Koreanern und mit denen kann ich halt nur Chinesisch sprechen.“ [Mario: 53] Linus spricht über die Auswirkungen der räumlichen Trennung auf das Engagement der Student*innen, sich sozial um Chines*innen zu bemühen:
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Linus: „Also erst mal (...) ja, also es is natürlich bequem für mich, das alles auf die Chinesen zu schieben, aber ich glaube, viele Sachen können, wären einfach, relativ einfach lösbar (...) ähm, indem, also zum Beispiel, dass hier diese, dieser Campus hier. Das is doch lächerlich. Dass wir eben, dass (...) wir mit dem au, mit dem Gebäude, wo alle Ausländer sind, [[Hm]] komplett getrennt sind von allen Chinesen. [[Hm]] Äh, die einzigen Chinesen, die hier im Campus sind, für den wir auch schon irgendwie, wo wirk, irgendwas sein muss, damit wir da hingehen, (...) das sind alles Masterstudenten, das heißt, die sind alle fünf Jahre älter als wir. [[Hm]] Äh, die ham mit uns nix zu schaffen, die bereiten sich auf ihren Beruf vor. (...) Äh, die wohnen da in ihrem Sushe, das heißt, man kann auch nich ma irgendwie da, sich mit denen Zuhause treffen, weil die mit acht Leuten im Zimmer wohnen. Und so weiter. Also (...) ähm, und (...), und es heißt die einzige Mög, und, und (.....) es heißt, man, wo kann man ’s Chinesen treffen? Entweder in Kneipen oder so was. Da bleibt ’s natürlich immer oberflächlich. Is ja klar.“ [Linus: 90]
Soziale Auswirkungen der Raumgestaltung Die Student*innen treffen in Nanjing insgesamt auf ein völlig neues Wohnund Versorgungskonzept für Student*innen. Die Struktur der Universität hat einen Danwei-Charakter ( – d¯anwèi ). Danwei ist die Bezeichnung für eine Einheit von Wohnen, Versorgung und Arbeit oder im vorliegenden Fall der Universität. Weggel beschreibt, wie weit die Danwei in das Privatleben hineinreicht: „Die Danwei fühlt sich nicht nur für die Produktion und Verteilung, Sicherheitsfragen, Freizeitgestaltung, Hygiene und ,Kultur‘ verantwortlich, sondern kümmert sich auch um das Privatleben ihrer Mitglieder und wird notfalls im Wege der Schlichtung (zum Beispiel bei einem Ehestreit) tätig“ (Weggel 1990: 58). Der Xianlin-Campus ist eine solche Einheit, in der der wertvolle Nachwuchs versorgt und ausgebildet wird. Die chinesischen Student*innen leben zusammen, werden bekocht und müssen sich weder um Haushalt noch um Strom- und Wasserrechnungen kümmern.
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Was vor Ort als selbstverständliche Fürsorge verstanden wird, bedeutet für die meisten deutschen Student*innen eine Einschränkung ihrer Selbstständigkeit. Lukas beschreibt aus seiner Perspektive den Zusammenhang zwischen der Lebenswelt Xianlin und den vermeintlichen Auswirkungen dieser Wirklichkeit auf den „Reifegrad“ chinesischer Student*innen: Lukas: „Ja, aber die sind ja hier so, alle so zusammen. Grad wenn die dann im Xianlin Campus wohnen, dann wohnen die ja alle so auf einem Haufen, im Endeffekt. [[Hm]] Und da ham die ja so ihr eigenes Zentrum so mehr oder weniger. Find, man kann das irgendwie nicht so vergleichen. Ich weiß auch nicht warum. Weil hier hat man ja schon so ein, also dieses Gulou is ja schon so dieses Univiertel und hier wohnen ja die meisten oder die wohnen halt dann in Xianlin Campus [[Hm]] und wenn das dann alles da rauszieht, werden ja fast alle da draußen wohnen. Und gibt es ja nicht so ein (.) Ding, wo alle Studenten so ’n bisschen untergebracht sind, die sind ja überall auf der, in der Stadt verteilt. (...) [[Hm]] Irgendwie is es halt ’n bisschen anders. (...) Halt so ’ne ganz andere Art zu studieren und zu, zu wohnen, halt wie die hier das machen und wie bei uns das so is, glaub ich.“ CH: „Ja. Kannst du dazu vielleicht ’n bisschen was erzählen? Zu dieser unterschiedlichen Lebenswelt, die man so als deutscher Student und als chinesischer Student hat? Weil du hast ja jetz doch ’n bisschen Kontakt mit denen.“ Lukas: „Ich glaub halt, hier is vor allem, also wenn die hier so im Dorm wohnen, (...) dann sind die ja so zu sechst oder so in einem Raum quasi so was. Das würde wenn man in Deutschland, würd das ja ke, äh. Also (.) als wir hier ankamen, sollten wir eigentlich auch hier wohnen, [[Hm]] alle vier. [...]Und dann hieß es ja schon, ja, wir kriegen alle keine Einzelzimmer, sondern müssten und auch eins teilen und so. Das war für die halt so, also nur zu zweit dann. Das ham die gar nicht so verstanden, dass wir das nicht so wollten. [...]Und dann is halt für die
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auch, dann macht ja auch so das Gate ab und zu zu, also dann, wenn die so mal um eins heim wollen, dann müssen die ja immer irgendwie den Pförtner anrufen, dass sie überhaupt wieder reinkommen und so was. Also schon so ’n bisschen unfreier, hab ich das Gefühl hier. Grad und deswegen (...) sind wir das auch nich so gewohnt. Find so was halt schon irgendwie ziemlich, so wenn man erzählt, ich hab so den Eindruck, die sind ja schon so etwa im Alter wie wir. Ich glaub die sind noch ’n bisschen jünger, so 22, 23 oder so. (...) Aber (.) die wirken für mich irgendwie noch jünger. Die wirken eher wie so 16, 17, 18 oder so, teilweise auf mich.“ CH: „Und woran machst du das fest?“ Lukas: „Mh. (...) Ja, wie sie halt so, halt so schü, halt gut das Schüchterne weiß ich nicht, a, aber das kommt mir so, weil die halt so ’n bisschen schüchtern sind ähm, dann halt so (...), so dann, weiß ich auch nicht so genau, woran ich ’s dann festmach, weil irgendwie wirkt ’s auf mich so. (...) So’n Eindruck. Und auch grad halt mit diesem Ganzen (...), dass man halt, auch so (...) äh, wenn man halt auch nicht so viele, wenn die halt so unterwegs sind am abends oder es gibt, machen die ja alles gar nicht so viel. Also gar nicht so mit und das gehört auch schon so ’n bisschen auch dazu, find, also (...) find ich bei uns so. Is ja schon oft so, dass man da kriegt man ja auch noch so ’n bisschen was mit. Is ja nicht so, dass man nur lernt, sondern is ja auch so soziales Zeug, was wir dann noch alles mitnehmen dann und deshalb. Und kommt bei denen da vielleicht ’n bisschen zu kurz, weiß nicht. (...)“ [Lukas 43–54] Lukas beschreibt repräsentativ was die meisten Gesprächsteilnehmer*innen ähnlich wahrnehmen und beschreiben: Die konkrete räumliche Trennung sowie die unterschiedlichen Lebensrealitäten erschweren die Kontaktaufnahme zu chinesischen Student*innen erheblich. Die konkreten Räume Gulou und Xianlin sind je mit eigenen Bedeutungskonstruktionen aufgeladen, was als identitätsgenerierende Handlung zu betrachten ist. Das räumliche
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und soziale Umfeld sowie Erlebnisse gestalten Lebenswelt und konstruieren andere Wirklichkeiten, da erst im Erlebnis etwas als anders erkannt werden kann. Nicht nur organisatorische Gründe, sondern auch das jeweilige Chinabild (Angst vor den Lebensumständen im Wohnheim oder in einer Wohngemeinschaft mit Chines*innen zu leben) und Identitätskonstruktionen (Exklusion (lˇaowài) von außen, Inklusion durch Internationals) beeinflussen die Raumgestaltung. China wird als eine Teilwelt wahrgenommen, die für die Akteur*innen kaum sozial gefestigt ist, denn es herrscht keine Zugehörigkeit oder Anerkennung internationaler Student*innen als Teilhaber*innen an der alltäglichen Lebenswelt. Die Verschränkung der Kategorien wird auch hier wieder deutlich, ebenso wie deren Reziprozität. Denn die Raumgestaltung wiederum nimmt einerseits Einfluss auf das Bild das sich die Akteur*innen von Chines*innen machen (Beispiel: „Reifegrad“ der chinesischen Kommiliton*innen), aber auch auf Identitätskonstruktionen (lˇaowài beziehungsweise Internationals) und die Sozialwelt beziehungsweise Gestaltung von Freundschaften, was im Folgenden nähere Auseinandersetzung erfahren wird. 5.2.6 Sozialwelt Das folgende Kapitel wird sich unter dem Stichwort „Sozialwelt“ damit auseinandersetzten, wie und mit wem sich deutsche Student*innen sozial vernetzen. Besonderer Fokus wird hierbei auf die Konstruktionen von Freundschaftsvorstellungen der Akteur*innen gelegt. Dabei stellen sich in Bezug auf die vorhergehenden Kapitel folgende Fragen: Lassen sich Freundschaften ohne gemeinsame konkrete und auch abstrakte Lebenswelt gestalten und wenn ja, wie? Wie produktiv ist dabei der Grenzraum auf sozialer Ebene, in dem sich die deutschen Student*innen befinden, und welche Faktoren begünstigen oder behindern die Gestaltung einer geteilten Sozialwelt? Anhand des Begriffs Freundschaft, wird deutlich, dass die Akteur*innen unterschiedliche Konzepte von Sozialbeziehungen konstruieren. Diese beziehen sich zum einen auf Nähe und Distanz, nämlich engere Freundschaften und „platonische“ Bekanntschaften (vgl. Vera: 44f.), und zum anderen auf den jeweiligen Alltagsbereich, in dem soziale Interaktion stattfindet, wie zum Beispiel im Kontext von Lehrveranstaltungen und bei der Freizeitgestal-
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tung. Es wurde bereits deutlich, dass mit chinesischen Student*innen nur eingeschränkt Interaktion stattfindet. Zentral sind hierbei die Erklärungsansätze der Akteur*innen, die man auch als Miniaturtheorien bezeichnen kann. Diese umfassen ebenso die Ebene der Kommunikation (Sprache) (siehe ausführlich Kapitel 5.2.7) als auch die bereits dargestellten Aspekte der eigenen Identität (als Fremde wahrgenommen zu werden) sowie die der strukturellen, räumlichen Trennung. Damit ergänzt die Ebene der Kommunikation (Sprache) die bereits genannten Kategorien wie Identität und Raum und damit den Verweis auf den sich abzeichnenden Komplex der Interaktionsmatrix. Folgt man der Kontakthypothese Gordon Allports, die davon ausgeht, dass häufiger Kontakt zwischen Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppen Solidarität und Verstehen fördert (Allport 1954), so wäre der Sozialkontakt zwischen deutschen und chinesischen Student*innen ein vermeintlicher Garant zum einen für das Verstehen und die Lernfortschritte in Sprache und Kultur zum anderen für ein positiv(er)es Chinabild. Die Forschung der Freundschaftssoziologin Ainhoa de Federico de la Rúa, die sich mit der Hypothese Allports auseinandersetzt, zeigte jedoch, dass sich Erasmus-Student*innen in Frankreich, Spanien und Holland gerade bevorzugt mit Student*innen aus dem Heimatland oder anderen Ländern anfreundeten, jedoch weniger mit den Student*innen des Gastlandes und es so zur Bildung von „Erasmus-Communities“ kam (de la Rúa 2008).
Primärer Sozialkontakt in der Bubble Wie bereits im Kapitel Raum deutlich wurde, verhält es sich bei den deutschen Student*innen in Nanjing ähnlich: Zu Anfang sind die deutschen Student*innen offen und neugierig, denn sie wollen die neue „Kultur“ kennenlernen, wobei in dieser Phase die Internationalen schon untereinander Kontakte knüpfen, in Chinesischkurse aufgeteilt werden, abends zusammen vor dem Wohnheim sitzen oder sogar zusammen angereist sind. Thomas beispielsweise berichtet, dass er in einer Gruppe von etwa zehn Personen in China ankam, die alle an derselben deutschen Universität studierten und sich dadurch bereits, zumindest flüchtig, untereinander kannten. Innerhalb der ersten ein bis eineinhalb Monate habe sich vor allem diese Gruppe besser kennengelernt und Thomas kommentiert: „Das war ’n bisschen. (...) Das
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war nich so gut, um hier so schnell Leute kennenzulernen.“ (Thomas: 35a). Automatisierte, in der Regel mutter- oder englischsprachige Alltagskontakte existieren so also bereits bis die Chinesischkurse starten und eventuelle Partner*innen für Sprachtandems gesucht werden oder die Fachkurse beginnen. Zusätzlich teilen die Internationalen die gemeinsame Erfahrung, „lˇaowài” zu sein und werden mit einer anderen Wirklichkeitsordnung und den Grenzen der eigenen kulturellen Lebenswelt konfrontiert. Der Zugang zu den internationalen Student*innen gestaltet sich weiterhin einfacher, da auch diese den Lebensstil eines Erfahrungssemesters leben, das von Kontaktfreudigkeit und häufig auch von Feierlust geprägt ist. Laut Justin Stagl würden Fremde im Allgemeinen umso weniger als fremd gelten, je näher sie der eigenen Reichweite seien, je mehr Zeit für ihre Aneignung verfügbar sei und je „normaler“, das heißt kompatibler sie mit der Eigensphäre seien (vgl. Stagl 1997: 101).
Die Bedeutung unterschiedlicher Lebensrealitäten Die Lebenswelt der chinesischen Student*innen unterscheidet sich jedoch strukturell, wodurch die Interaktion gehemmt wird, denn chinesische und deutsche Student*innen orientieren sich an unterschiedlichen Relevanz- und Bedeutungsstrukturen. Die Gesprächspartner*innen berichten, dass sie nur beschränkten Einblick in das Innere des Alltags von chinesischen Student*innen bekommen und auf Beobachtung angewiesen sind. Nach einer Phase der Bemühung verlaufen sich die Kontakte mit Chines*innen bei den meisten, bleiben formale Begegnungen im Kursraum oder beschränken sich auf ritualisierte Abläufe, wie beispielsweise beim Obsthändler um die Ecke (vgl. Jan: 74). Linus fasst die auch bei anderen Gesprächspartner*innen in Teilen wiederkehrenden Erklärungsansätze unterschiedlicher Lebensrealitäten deutscher und chinesischer Student*innen und deren Auswirkungen auf das Ideal einer durch Sozialkontakt gemeinsam gestalteten universitären Lebenswelt, wie folgt zusammen. Er beschreibt, was ihn abhalte, forscher Chines*innen anzusprechen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen: Es sei das Gefühl, dass „sie entweder halt tatsächlich langweilig sind und [...] das es irgendwie (.) Studieren für die der einzige äh, Lebensinhalt is“. Es kommt ihm so vor, als seien die meisten der studierenden Chines*innen
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nicht zufrieden, wenn sie „mit 25 noch nich verheiratet“ seien. Oder man sehe andere Chines*innen in Clubs, die seien „zwar bestimmt nicht langweilig und die ham auf jeden Fall ’n Leben und irgendwie Spaß, aber die ham halt einfach so schweinisch viel Kohle und so. Und die leben halt in ’ner ganz andern Welt.“ (vgl. Linus: 104). Er führt weiter aus: Linus: „Ich weiß, aber dass es, ich kenne auch welche, die das ’s sehr, sehr interessante Chinesen gibt und dass es, dass es, also ich versteh mich sehr gut mit der Sprachpartnerin von zum Beispiel. Die is auch sehr interessant und hat auch ’ne Meinung zu sagen ((lacht)) und die, mit der kann man sich gut unterhalten und so weiter. [...] Ich find ’s immer so ’n bisschen schwierig im, ich denk da auch viel drüber nach, über die ganze Situation und, und hab mich auch schon selber auch verflucht und hab auch oft die Chinesen verflucht (...) ähm, (...) und was ich auch oft verflucht hab, is die chinesische (...) Gesellschaftsstruktur. Was ich meinte mit dem Heiraten. Das war natürlich ’n bisschen irgendwie äh, scherzhaft, aber im Grunde is es wahr, dass diese, dieser Druck, den die au, dem die chinesischen Jugendlichen ausgesetzt sind, dass der, glaub ich, auch (.) das verhindert, dass man, dass sie, dass sie aus unseren Augen interessant werden. Weil wenn bei uns ’n Student (...) also (.) ah, ne. Wenn du bei uns an die Uni gehst, alle chillen da rum und irgendwie und, und, und, und (...) trinken und rauchen und, und, und ham irgendwie sind promisk und was weiß ich alles. Un das alles mehr so chille-mille und lustig (.) und irgendwann, man lernt, man studiert auch, klar. Aber es is nich so, dass du, aber niemand sagt: ‚Ich geh jetz zur Uni, damit ich, wenn ich 25 bin genug Kohle hab, um mir ’n Haus und ’n Auto zu kaufen, damit ich ’ne Frau finde, die ich sofort heiraten und sofort ein Kind in die Welt setzen kann.‘ Und ähm, (.....) und, ich hab das Gefühl, dass das, dass das für viele junge Chinesen auch diese, diese, dieser Leistungsdruck (...) ihnen im Weg steht im, im Sozialen (...) mit uns. [[Hm]] Ich kann immer nur beurteilen, was, was da, was der, was mit uns da irgendwie los
5.2 Auswertung
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is. Irgendwie was da zwischen uns los is und nich, was zwischen den Chinesen jeweils los is. Auch schade.“ [Linus: 104] Jan führt in seiner Analyse kulturelle Gründe für die unterschiedlichen Lebensrealitäten chinesischer und internationaler Student*innen an und erklärt, dass die Gegenüberstellung des Eigenen mit dem Fremden Differenz offenbart. Man schotte sich ab, da die Lebensart und die Lebenspraxen nicht den eigenen entsprächen und Fremdverstehen sowie selbst verstanden zu werden erschwert seien: Jan: „Man hat ja auch das Gefühl, dass. Also jede Kultur hat ja ihre, ihre gewissen (...) oder äh, innerhalb von Kulturen gibt es h, gibt es ähm, Kodizes, die, die oder Sprechweisen äh, Gesten äh, die von anderen verstanden werden. Oder in deren, der Art, in der man es selber gerne hätte, verstanden werden und von Leuten, die aus seinem eigenen Land kommen, vermutet man zumindest, dass das diese, dass diese Kodizes besser funktionieren und auch dann wieder (...), dass man weniger missverstanden wird als mit, mit dem (...) seiner eigenen Kultur Fremden. Is natürlich äh, (...). Ja, könnt man jetz auch stundenlang über das Thema sprechen und es ausdifferenzieren, aber (...) ich finde, man merkt doch auch, dass auch als Ausländer ähm, jetzt oder als Ausländer im Ausland äh, ähm, (...) schottet man sich ja auch so ’n bisschen mit, mit, mit (...) ja, vielleicht Europäern, weil man vielleicht die europäische Kultur der asiatischen gegenüberstellt, merkt, dass wir, ja ’ne andere Art zu leben haben, ganz andere Lebenspraxen.“ [Jan: 59] Konzepte für Interaktionsfähigkeit Vor allem die alltägliche Praxis der unterschiedlichen Freizeitgestaltung wird von den Gesprächsparter*innen wiederholt erwähnt, denn die Freizeitgestaltung dient für sie als Indikator für die Interaktionsfähigkeit. Maria beschreibt ihre Beobachtungen einer Kommilitonin, die Marias Meinung nach übermäßig viel arbeitet und stellt fest, dass chinesische Student*innen ihrer Auffassung nach eine andere Definition von Freizeit haben:
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Maria: „Da seh ich halt ’n paar auch bei den Studenten, die in diesem Programm drin sind, (...) mh, (...) dass die (...) unglaublich viel Arbeit sich teilweise auch selber aufbürden und (...) man manchmal so das Gefühl hat, die kennen eigentlich gar nicht so was mehr wie Freizeit so wirklich. Das is aber teilweise auch daran liegt, dass sie sich selber eigentlich so viel Arbeit aufbürden, weil sie meinten, sie müssten jetz noch mehr machen oder (...) so in der Art halt. Also praktisch zum Beispiel auch (.) die, die is ja unglaublich viel engagiert in, an, an, im Studium, aber auch in außeruniversitärischen Aktivitäten, aber halt alles, was auch so mit (...), mit Bildung irgendwie zu tun hat o, sich fortbilden oder sich irgendwo sozial engagieren. Sei des in irgendwelchen ähm, (...) language meetings mit, auch mit ausländischen Studenten zum Beispiel zusammen einfach, um das Englisch zu üben oder. Da sind die unglaublich engagiert drin. Und so, so richtig Freizeit, hab ich zumindest des Gefühl, kennen die teilweise gar nich. Oder es is ’ne andere Form von Freizeit, die wir gar nich so als Freizeit ansehen würden [[Hm]] vielleicht. (...)“ [Maria: 24] Wiederholt unterscheiden die Gesprächspartner*innen zwischen den Chines*innen, mit denen sie essen gehen und denen, mit denen sie feiern gehen. Dabei gilt die Bereitschaft zu feiern offenbar als ein Zeichen für Offenheit. Amelie zum Beispiel stellt fest, dass ihre chinesischen Kommiliton*innen ihren Abend anders gestalten. Sie führt an, dass man als junger Mensch in Deutschland öfter mal feiern gehe oder in die Kneipe oder man mache einen Spieleabend. Und so hätten sie und ihre Freund*innen ihre chinesischen Kommiliton*innen gefragt, „ob sie mitgehen möchten und darauf antworteten diese: ‚Mh, ne feiern (..) gehen wir eigentlich nicht so‘“ (Amelie: 21). Es wird zudem beschrieben, dass sich nach einem Abendessen schnell verabschiedet wird, da man noch lernen müsse, oder eben nicht so gerne in Bars ginge. Wenn also für die Internationalen nach dem Abendessen, der Abend erst beginnt, bedeutet es für die chinesischen Kommiliton*innen den Abschluss eines arbeitsreichen Tages. Häufig wird von den „berühmten chinesischen Ausreden“ auf Abendeinladungen gesprochen:
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Manuel: „Ähm (...) ja, so absurde Dinge eben. ((lacht)) Irgendwie(.) ähm, ((lacht)) (...) ,Wir müssen heute Abend mit der Mutter von‘, also von ihm te, ähm, ,telefonieren, weil ähm, ’ne Oma hatte Geburts‘, also so ganz, ganz abstruse und ähm, gut, wenn man das zum ersten Mal hört (...) ja, klar. Kann sein. Aber wenn dann sich die Ausreden immer häufen und dann es immer so mehr abstruse Dinge gibt. Ähm, ja. Dann sind das die berühmten, chinesischen Ausreden. Was jetz auch, was ich auch bei andern gesehn hab [[Hm]] oder wo wir uns jetz auch in der Gruppe, also in der deutschen Gruppe drüber unterhalten hatten. Jeder hatte da so Erfahrungen mit. Und einer, einer meiner Kommilitonen, meiner deutschen Kommilitonen is ja mit ’ner Chinesin verheiratet [[Hm]] und ähm, der kennt China schon ’n bisschen länger, also weil der, also lernt jetz seit acht Jahren Chinesisch und war von diesen acht Jahren glaub ich vier Jahre oder fünf Jahre in China. [[Hm]] Und (.) ja. (...) Und der hatte gesagt: ,Jaja, das sind die Ausreden auch und das fällt halt dann schon auf.‘ ((lacht))“ [Manuel: 65] Häufige Differenzierungsbegriffe der Akteur*innen sind so genannte „Standard-Chinesen“ beziehungsweise „Durchschnitts-Chinesen“ auf der einen Seite, die auszeichnet, sehr vertieft in ihren Arbeitsalltag und abgeschottet zu sein (vgl. Maria: 167), und die „internationalen Chinesen“ auf der anderen Seite. Diese Differenzierung wird auch als Erklärung für die Qualität der Kontaktaufnahmen herangezogen, die in der Regel mit den „internationalisierten Chines*innen“ als einfacher erfahren wird. Thomas führt aus: Thomas: „Beziehungsweise (...) es gi, es gibt so internationalen Chinesen. Wir machen eher, muss man auch wieder sagen, was mit diesen internationaleren Chinesen, also zum Beispiel Leuten, die auch wirklich viel feiern gehen und so. Aber es gibt auch wirklich diese, sag ich mal, sehr auf ’s Studium fixierten, sehr ehrgeizigen Chinesen, die. Zum Beispiel über meine Kurse, die ich mach ähm, hab ich auch sehr viele Chinesen
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jetz kennengelernt. Mach mit denen schon was im Kurs, aber nich außerhalb. [[Hm]] Aber das liegt nich unbedingt auch nur an mir. Sondern das liegt, es, es kommt irgendwie von beiden Seiten. Wir ham mit, sind mit denen auch mal essen gegangen dann, ich bin mit denen auch essen gegangen und so was, aber das war’s. Also die ham dann auch offen zum Beispiel gesagt ähm: ,Ne, wir sind nicht gerne nach 9 Uhr noch draußen.‘ So ungefähr. [[Hm]] Und wir ham halt so ganz locker auch mal gefragt: ,Hey, wo geht ihr denn hier feiern oder was trinkt ihr denn so, wenn ihr feiern geht? Was is?‘ Das hat uns zum Beispiel interessiert, wie gehen Chinesen wirklich feiern. Ähm, mal so gefragt: ,Was trinkt ihr?“ Da meinten die so: „Ja. Wir trinken halt auf Partys gerne Sprite.‘ Das war da so, so ’n Moment, ja. ((atmet aus)) Das is, wir sind nicht so ganz dicke mit denen geworden. Das war halt irgendwie so. Es war immer nett mit denen und die ham, wir ham die halt auch zum Beispiel zu, zum deutschen Restaurant eingeladen und die ham uns dann mehrere chinesische Restaurant halt eingeladen. Immer nette Runde und so. Aber es war nich so, so, die Typen mit denen man jetz irgendwie Bäume ausreißen kann, so. ((lacht)) Das (...) ja, weiß ich nich. Hätt ich auch nich so gedacht. Okay. [[Hm]] Gedacht, dass das die Chinesen so, weil, ja, die sind ja schon irgendwie kontaktfreudig, die kommen ja immer an und fragen: ,Okay, willst du was machen.‘ Es is schon so, dass die viel machen wollen, aber ähm, man macht dann auch was mit denen, aber so richtig, richtig dicke Freunde wird man (...) nich unbedingt.“ [Thomas: 37a] Die „internationalen Chinesen“ hingegen beschreibt Thomas als zugänglicher, zum Beispiel, weil sie Englisch sprächen und die Kommunikation so sehr viel einfacher sei. Diese Chines*innen behaupten selber von sich, so berichtet Thomas, anders zu sein als die meisten Chines*innen. Sie gingen feiern, schwänzen auch mal eine Stunde und „[l]ass[en] Uni jetz mal Uni sein“ (vgl. Thomas: 40a). Bei der Konstruktion von sozialer Nähe kommen vor allem Aussagen über die „Mentalität“ und Lebenswelt der chinesischen
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Student*innen zum Tragen, die als Behinderung der Interaktion gesehen werden sowie eine „westliche Mentalität“ ausgesuchter Chines*innen, die Interaktion im Gegensatz dazu ermöglicht. Dass chinesische Student*innen vor allem die Einladungen in Bars und Diskotheken ihrer deutschen Kommiliton*innen nicht annehmen, erklären die Gesprächspartner*innen, wie oben bereits genannt, zum einen mit der räumlichen Trennung und führen dies zum anderen auf gesellschaftliche Konventionen und spezifische Moralvorstellungen zurück: Vera: „Ja. Zum Beispiel, dass Europäer generell gerne ma Feiern gehen, wenn se jung sind, gerne ’n Bie, ’n Bier trinken, gerne auch vielleicht eins zu viel trinken. Mh, (...) ich hab da damals mit meiner (...) Gastmutter in Shanghai gesprochen drüber. Und auch, ich hab die ersten drei Wochen hab ich ja auch hier in ’ner, mit ’ner Gastmutter zusammengelebt. Ähm, die ham mir beide gesacht, dass es nich gern gesehn is, weil die Mädchen, die chinesischen Mädchen, die hier Feiern gehen, (...) seien sozusagen Schlampen ((schmunzelt)) [[Hm]] und ähm, (...) die, die würden nich Wert auf ihre Ausbildung legen, ihnen sei das Aussehen wichtiger und so was macht man nich, so was gehört sich nich. [[Hm]] Von daher sind halt auch viele junge Chinesinnen der Meinung: ,Okay, man geht nich Feiern.‘ Die sagen dann immer zwar: ,Gerne, Danke. Ich komm gerne mit.‘ Aber dann wird nich mitgegangen, weil dann Hausaufgaben da sind oder sonst irgendwas anderes. [[Hm]] Mh, (...) ich glaub, (...) Ausländer sitzen auch einfach gerne mal Zuhause un quatschen mit ’nander und Chinesen mögen ’s gerne laut und die müssen rausgehen und essen und dies machen und das machen un (...).“ [Vera: 62] Orte der Interaktion sind damit in der Regel Restaurants. Ein Grund dafür sind die Wohnsituationen sowohl der chinesischen Student*innen im Wohnheim mit bis zu sechs Personen pro Zimmer, als auch die der deutschen Student*innen in Doppelzimmern des Xiyuans. An beiden Orten besteht keine Möglichkeit, sich im privaten Rahmen zum Beispiel zum gemeinsamen Ko-
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chen zu treffen. Darüber hinaus werden Chines*innen als nicht besonders offen, sondern als „verklemmt“ wahrgenommen: Nadja: „Äh, ich muss leider sagen, dass fast 70 Prozent, 80 Prozent der Chinesen, die ich kennengelernt sind, ziemlich ähnlich sind. Ziemlich für sich und verschlossen. [[Hm]] [...] Weil die meisten Chinesen zum Beispiel, sind ja, die kommen ja aus äh, von der, die ich jetz hier an der Uni studieren, aus gutem Haus, weil sie sich sonst das nicht leisten könnten hier zu studieren. Lieben ihre Eltern, fahren am Wochenende nach Hause und so. Und ähm, lernen den ganzen Tag, sitzen nur Zuhause. Das ist ja auch deren Spaß. Die ham ja teilweise (...) keine Hobbys, sondern sitzen dann da und lernen, weil das natürlich ’ne Ehre ist, dass sie hier studieren dürfen. [...] Aber der Großteil ist eben so ’n bisschen (...) sehr für sich und auch verklemmt.“ [Nadja: 40] Auf die Frage, wie sie „typisch chinesisch“ und „verklemmt“ definiere, erklärt Nadja dies mit ihrem Verständnis der Lebenswelt chinesischer Student*innen: Entgegen persönlichen Interessen stünde das Lernen vor allem. Es verspreche Ruhm, der in der chinesischen Gesellschaft sehr wichtig und hoch angesehen sei. Zudem müsse man unbedingt beste Leistungen erbringen, da die Eltern ihren Kindern ein Studium finanzieren und man später einen guten Job bekommen wolle. Deswegen seien ihre chinesischen Kommiliton*innen „nicht so (.) darauf aus, in die Bar zu gehen mal abends“ (Nadja: 43). Je nachdem, wie „internationalisiert“ ein*e Chines*in ist, ist diese*r interaktionsfähiger. Internationalisiert beschreibt dabei, ob chinesische Student*innen selbst Auslandserfahrung besitzen: Maria: „Aber ich glaub, es hat auch damit zu tun (.) eventuell, ob ähm, (...) die Chinesen vielleicht selber schon irgendwie mal (...) im Ausland waren oder irgendwie (...), ich will ’s mal sagen, westlich geprägt wurden (.) irgendwie. Dass sie da vielleicht auch offener sind. [[Hm]] Weil für die is das im Umgekehrten, sin wir genauso fremd wie das für uns einfach
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fremd is, deren Kultur. [[Hm]] Und das kennen die nich (..). und deswegen ’s, is da die Offenheit noch nich so da. Oder ich bin schon der Meinung, dass sich das entwickelt. [[Hm]] Also ich hab des Gefühl, dass das ändert sich, das is zwar, das sind zwar nur kleine Schritte, aber ich bin der Meinung, das ändert sich. (...)“ [Maria: 53] Eine andere Formulierung zur Beschreibung offener und damit „interaktionstauglicher“ Chines*innen ist „westlich“ oder – im Diskurs der Bubble – „westernized“. Dabei wird die Dichotomie der Identitätskonstruktionen für westlich beziehungsweise westernized als synonym für Offenheit und „typisch chinesisch“ für verklemmt oder schüchtern diskursiv konstruiert. Die Akteur*innen schwanken zwischen Ethnozentrismus und Kulturrelativismus. Einerseits formulieren sie ein Überlegenheitsbewusstsein dem vermeintlich schüchternen und kindlichen Charakter (vgl. Sandra: 36) der chinesischen Kommiliton*innen gegenüber, andererseits stecken sie voller Bewunderung für Chines*innen als Kollektiv und glauben, diese würden „gnadenlos unterschätzt“ (vgl. Vanessa: 118; vgl. auch Amelie: 76). Damian beschreibt seine chinesische Mitbewohnerin als westlich und definiert auf Nachfrage den Begriff folgendermaßen: Damian: „Ja. ((schmunzelt)) Das is halt. ((lacht)) Sie hat eben dieses Problem einfach nicht. Sie hat einfach das Problem nicht, dass sie nicht weiß, was sie. Also wir reden über, halt wir reden über Serien, über westliche Serien, wir reden über, über Deutschland, aber was bei vielleicht auch ’n Spezialfall, weil sie eben (...) ja, weil sie eben schon in Deutschland war und weil sie ’n deutschen Freund hat und weiter. [[Hm]] Ja. Hm. (.....)“ [Damian: 50] Damians Freundin, auf die auch Linus bereits kurz verwiesen hatte, zeichne sich als erlebbar interaktionsfähiger als andere Chines*innen aus, da sie die Symbole der westlichen Popkultur (beispielsweise TV-Serien) kennt, die als Grundlage für eine potentielle Kommunikation dienen können und zu dem eine Beziehung nach Deutschland, einen deutschen Freund hat. Weiterhin
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zeichnet sie als „anders“ aus, dass sie in einer Privatwohnung um Gulou lebt, was nicht nur aus finanziellen Gründen für eine alleinstehende, chinesische Studentin unüblich ist. Damian hat seine chinesische Mitbewohnerin über ihren deutschen Freund kennengelernt, den er aus Deutschland kennt (vgl. Damian: 28). Die meisten Student*innen haben jedoch weniger engen Kontakt oder „echte“ Freundschaften mit Chines*innen geschlossen. Interaktionsversuche Immer wieder starten Chines*innen die Kontaktaufnahme, um zum Beispiel Tandem- beziehungsweise Sprachpartner*innen zu finden, so erzählen die Interviewpartner*innen. Allerdings schlafen diese Kontakte regelmäßig nach einigen Treffen ein. Und auch wenn, wie bereits geschrieben, Fotos gemacht und die Telefonnummern der lˇaowài erbeten werden und Chines*innen dadurch Ausländer*innen gegenüber offen wirken (vgl. Steffen: 37; Patrick: 43; Linus: 93), verläuft sich oft nach der ersten kurzen Begegnung oder auch nach einigen Treffen der Kontakt. Nadine beschreibt ihre Kontakte zu Chines*innen folgendermaßen: Nadine: „Mh, (.) aber ich glaube, es is allgemein irgendwie, wenn man so was macht, dann ist es halt sehr schwierig irgendwie Kontakt zu Chinesen zu haben. Als, ich hab schon Kontakt zu Chinesen. Ich finde, es is auch recht einfach, hier Kontakt zu knüpfen, weil man auf der Straße angeredet wird, wo kommst du denn her [[Hm]] und. Also ich find ’s sehr einfach, Kontakte zu knüpfen hier. Aber (...) is halt natürlich, wenn man in der Uni is, hat, hat ’s irgendwie wenig mit dem wirklichen chinesischen Leben zu tun, weil man eben äh, (...) ja. Man lebt halt das Studentenleben, aber auch nicht das wirkliche chinesische Studentenleben, weil (...) die Chine, chinesischen Studenten ja hier auf ’m Xianlin-Campus sind und da dürfen wir halt gar nicht hin ((lacht)) als Ausl, Austauschstudenten und ja. Aber ich, ich find ’s jetz auch nich negativ, weil ich find ’s auch interessant, weil in meinem Kurs sind halt verschiedene Menschen, von der
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ganzen Welt. (...) Das ist eigentlich auch interessant. Das irgendwie kennenzulernen. Also ich seh ’s jetz nicht negativ.“ [Nadine: 58] Die Freundschaften entwickeln sich selten weiter. Kontakte werden geknüpft, allerdings wird die Qualität der entstehenden Beziehungen eingeschränkt dargestellt, sie werden als weniger eng beziehungsweise intim oder weniger „echt“ definiert als gewohnte Freundschaftskonzepte. Die Sinologin Vera, die zum zweiten Mal in China ist, besitzt sehr gute Chinesischkenntnisse. Sie beschreibt, dass sie selbst nicht offen genug für engere Freundschaften mit Chines*innen sei und warum diese Freundschaften „platonisch“ blieben: Vera: „Ähm, weil die meistens keine Zeit haben. Man selber auch nich. Un man oftmals unterschiedliche Interessen teilt. Und (...) es manchmal auch anstrengend is, sich mit Chinesen zu treffen, grade wenn das über ’ne längere Zeit is un (...) man dann sehr viele unterschiedliche Ansichten hat. Un je mehr man über die Kultur kennenlernt, find ich, desto schwieriger is es auch (...) mit Chinesen befreundet zu sein, weil wenn man sich dann Gedanken macht, geht das jetz un sieht derjenige das jetz falsch oder ähm, (...) mh, ja, verletz ich den, den Gegenüber damit, wenn ich sage, ich finde es fürchterlich, wenn Chinesen auf die Straße rotzen. Was sie ja leider machen. Ähm, ob der andere dann gekränkt is oder nich. Un da muss man immer sehr doll aufpassen un sonst is es eine sehr (...) platonische Freundschaft un das find ich dann immer schade und (...) ja. Gefällt mir dann nich so gut.“ CH: „Hast du da ’n paar Beispiele? Oder kannst du da zu dem Wort platonisch was sagen? Oder zu den Interessen?“ Vera: „Ähm, (...) platonisch is dann meistens eher so, dass man nich über seine Gefühle spricht. [[Hm]] Ähm, oder eher sehr (...) dezent darüber spricht und ähm, (...) man (...) oftmals seine Meinung nich äußern kann so wie man das möchte. [[Hm]]
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Ich hab das Gefühl, wenn ich Zuhause in Deutschland bin, sag ich, was mir gefällt und was mir nich gefällt und andere Leute denken sich entweder: „Stimm ich zu.“ oder: „Was sacht die denn da?“ Aber das is in Ordnung. Und [[Hm]] hier is es oftmals so, dass die Leute dann anfangen zu lästern oder hinterm Rücken irgendwelche andern Gerüchte in die Welt zu setzen, die nich stimmen un (...) das is dann, das will man dann natürlich vermeiden.“ [Vera 44–47] Es zeigt sich, dass sich die Akteur*innen nach anfänglicher Begeisterung auch sozial wieder ihrer eigenen Lebenswelt, der Bubble zuwenden. Es kann festgestellt werden, dass diejenigen, die in keinem Doppelprogramm oder Sinologie studieren, sich primär in der Sozialwelt der Internationalen bewegen. Mehrfach beschreiben die Gesprächspartner*innen ihre enttäuschten Erwartungen, wenn der Kontakt zu Chines*innen nicht in dem gewünschten Maße stattfindet, wie zum Beispiel Amelie und Stefanie: Amelie: „Ähm, ja, ich dachte schon, dass man Chinesen irgendwie ’n bisschen mehr ähm, Kontakt bekommt. Also man muss sagen, jetz im Laufe der Zeit wird ’s auch immer mehr. Ich mein, mehrere Leute kennenlernt und dadurch auch noch weitere kennenlernt, aber ich hätt am Anfang gedacht, dass man irgendwie ähm, bisschen mehr Kontakt zu Chinesen bekommt. [[Hm]]“ [Amelie: 103]
Stefanie: „... und wollte dann, eher, was Negatives, wollte dann eigentlich nicht riskieren, da, also mit fünf anderen Leuten auf’m Zimmer zu wohnen. Weil das kann ich mir auch nicht vorstellen, muss ich sagen. Ähm, deswegen hab ich mich dann halt entschieden, hier [Gulou-Campus; Anmerkung der Verfasserin] zu bleiben. Auch wenn ich dann irgendwie fahren muss jeden Tag. Deswegen hatte ich halt vorher gedacht. Ich würde jeden Tag zum Xianlin fahren, da arbeiten, ähm, wahrscheinlich auch, dacht ich eigentlich, mit den anderen chinesischen
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Studenten in einem Raum sitzen und da ganz viele chinesische Studenten kennenlernen. Was jetzt aber gar nicht der Fall ist, weil eben dann diese, diese Chinesischkurse kamen, die ich auf jeden Fall machen wollte. [...] Und jetzt bin ich im Moment fast gar nicht am Xianlin. Und hab deswegen auch gar keinen Kontakt dahin. Muss allerdings auch sagen, dass selbst wenn ich jetzt da hochfahren würde immer, der Kontakt zu den anderen, ähm aus dieser Researchgruppe auch nicht so (.) eng werden würde, denke ich, weil mein Arbeitsplatz, wie sich jetz herausgestellt hat, doch nicht mit den anderen chinesischen Studenten zusammen ist, sondern in ’nem andern Gebäude, wo halt, ähm, ich weiß nicht, jeder reingesteckt wird, der halt, der, wo kein Platz mehr für is. So in der Art. Und das’s halt ziemlich anonym. Also man sitzt da, hat da dann seine Box in der man sitzt und, das wärs. Also das einzige was halt möglich gewesen wäre, wäre dass ich da irgendwie mittags mit denen Essen gegangen wär, vielleicht. Und das wär dann wahrscheinlich auch der ganze Kontakt gewesen. ((lacht)) Deswegen is das nicht so schlimm. Dass ich jetz nicht da hoch fahre. Aber es is natürlich schon schade, dass man kaum Kontakt zu chinesischen Studenten hat.“ [Stefanie: 34a] Stefanie beschrieb bereits, dass sie sich mehr Zugang zu chinesischen Kommiliton*innen über ein gemeinsames Projekt erhofft hatte. Aber auch Student*innen in Doppelprogrammen haben mehrheitlich die Erfahrung gemacht, dass die Interaktion nicht über den Kursraum hinausgeht. Grete kennt ihre chinesischen Kommiliton*innen bereits seit einem Jahr aus dem gemeinsamen Studium in Deutschland und beschreibt ebenfalls, dass ihre Erwartungen weitestgehend unerfüllt geblieben sind: Grete: „Mh. (.....) Das is ’n bisschen schwierig. Ähm, ich kann nich so sicher sagen, ob ich mich überhaupt verändert hab oder zum positiven verändert hab, weil ähm, (...) es gab auch in den letzten Monaten ziemlich viele Tiefs einfach. Also ich hatte ähm, bestimmte Erwartungen an das Jahr hier und die sind halt
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nicht eingetroffen. Ähm, die wurden von Anfang an enttäuscht mehr oder minder und jetz seh ich halt ähm, ich darf solche Erwartungen nicht haben. Das ist vielleicht etwas, was ich gelernt hab, ich darf keine Erwartungen an andere haben oder... CH: Kannst du das ’n bisschen... [...] beschreiben? Grete: Ähm, naja (...), also diesen Master studieren ja Deutsche und Chinesen zusammen und ähm, in Deutschland ähm, war das so, da ham wir hauptsächlich Deutsch gesprochen. [[Hm]] Ähm, (...) ich hab meinen chinesischen Kommilitonen sehr viel auch mit den Hausarbeiten so was geholfen, (...) ehm, sie mir auch mit Chinesisch, wenn ich einen Vortrag äh, vorbereiten musste oder so was. Und ich hatte auch ’ne Sprachaustauschpartnerin, nur die is jetz leider in Beijing. (...) Ähm, ich hab halt gehofft, dass wir hier dann auf Chinesisch umschalten werden und das is äh, das is nicht passiert, ähm. (...) Mittlerweile ist es allerdings so ähm, dass wir zwischen Deutsch und Chinesisch wechseln. Nur die ersten Monate war ’s komplett auf Deutsch und ähm, (...) wenn ich dann eben (...), wenn ich das angesprochen hab, dann (...) ähm, wurde mir halt gesagt, dass sie aber auch gerne weiter ähm, ihr Deutsch üben möchten und äh, wir können ja einen polyglotten Dialog versuchen. Dann war ich halt erst mal ziemlich enttäuscht ((schmunzelt)) und hab mich distanziert und (.), aber das wurd dann auch wahrgenommen und ähm, jetz ham wir eben diesen Kompromiss, dass wir zwischen Deutsch und Chinesisch wechseln.“ [Grete: 14–18] Manuel nennt die Faktoren, die es ermöglichen würden, trotz der bereits mehrfach genannten Widrigkeiten eine soziale Beziehung und Nähe aufzubauen, die zu einem neuen Blickwinkel auf Chines*innen und positiver Erfahrung führte: Manuel: „Also erstens is es anstrengend in die Gemeinschaft zu kommen. [[Hm]] Dann zweitens fand ich Chinesen, also für mich, wie se sich benehmen, ich hab das halt alles über einen
5.2 Auswertung
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Kamm geschert, wie des halt so is, weil man lebt auch hier als Ausländer (.) im Xiyuan, wenn man hier wohnt, ziemlich in ’ner Blase. [[Hm]] Also man is so ziemlich ähm, ja (.) abgeschottet. Und deswegen, wenn man dann Chinesen auf der Straße sieht, die dann auf die Straße spucken, solche, diese berühmten Geräusche machen. Da sagt man: ,Oh Gott, die Chinesen, die sind doch so eklig.‘ Ja? [[Hm]] So in der Hinsicht. Aber als ich dann ähm, den Chinesen kennengelernt hatte ähm, ja, wie du gesagt hast, kein Standard-Chinese. Auf jeden Fall. Ähm, konnte Englisch, der war dann auch ziemlich erstaunt als ich dann auf einmal mit ihm Chinesisch geredet habe. ((schmunzelt)) Und ja, wir treffen uns eigentlich so regelmäßig und ja, wie gesagt, ich hab jetz auch schon seine, seine, sein Cousin und die Frau seines Cousins kennengelernt und, ja. Das war dann doch ’n ganz anderer Zugang, weil man dann erstens ganz anders aufgenommen wird, wenn man dann nach den, ähm, wenn man dann ähm, (...) ’n besucht hat und eben in den Haus war, in dem Umfeld ähm, im Haushalt uns so. Wenn die für einen gekocht haben und (.), ja. Und man sich dann mit denen unterhalten hatte und. Also es war doch ganz anders, ’s war eher positiv. Sehr, sehr positiv. War das so.“ [Manuel: 72] Auch Claudia beschreibt, dass ihr eine persönliche Einladung in die familiäre Lebenswelt eines chinesischen Kommilitonen einen anderen Zugang in die „rein chinesische“ Lebenswelt ermöglichte. Dieser Einblick wird auch bei ihr als positiver Erfahrungsgewinn gewertet. Claudia: „Ja. Also ich äh, fühl mich ganz äh, ähw, was ich zum Beispiel richtig toll fand, is (.) in war ein Kommilitone, der hat mit mir gemacht, ein Chinese. Und der is jetz auch hier in ähm, in Nanjing und (.) der hat mich dann auf ’ne Hochzeit eingeladen. [[Hm]] Fand ich richtig toll, da ham wir mal, da hatten wir auch richtig Spaß gemacht, so auf dem Land. Das waren dann ähm, drei Tage waren wir dann irgendwie auf ’m Dorf und hatten dann mit
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denen gefeiert, also. So was find ich richtig spannend und ähm, da war das auch wirklich rein chinesisch. Was ich richtig schön fand.“ [Claudia: 29] Manuel und Damian beschreiben ihre Beziehungen zu Freund und Mitbewohnerin ohne Einschränkung als Freundschaften. Ansonsten sind multikulturelle Freundschaften innerhalb der Bubble oder die Verknüpfung von Wohnsituation mit Freundschaft in deutschen Wohngemeinschaften die Freundschaftskonzepte, die laut Interviewpartner*innen am häufigsten zustande kommen. In „westlichen“ Sozialbeziehungen, so veranschaulicht beispielsweise eine Situation, die Vera beschreibt, können anstrengende Aushandlungsprozesse eher vermieden werden: Vera: „Ich wohn in ’ner Wohnung mit ’ner Amerikanerin, die nie da is. ((lacht)) [[Hm]] Un ’ner Französin, mit der ich mich gut verstehe, wohnen wa zusammen. Wir ham jeder einen Raum. Ähm, die müssten zwar durch meinen Raum durchgehen, um wa, waschen zu können, aber (...) dann wird geklopft, wenn nich geantwortet wird, dann wird auch nich ins Zimmer gegangen. Solche Sachen also. Da war ’n wa uns von Anfang an auch drüber einig, da muss man auch nicht drüber sprechen. [[Hm]] Un, ja. Da ham wir festgestellt, das halt diese Privatsphäre relativ gleich gesehen wird in Frankreich, in Amerika un Deutschland. Jeden Fall, ja. (.....)“ [Vera: 38] Dies hat Vorteile bei der Organisation des Alltags, Nachteile jedoch bei der Konstruktion der Sozialwelt und zudem Auswirkungen auf den Blickwinkel. So erzählt Clara, dass die Gemeinschaft der Internationalen vor allem in den ersten Monaten Einfluss auf ihr Chinabild genommen habe, insofern nämlich, dass irgendwie alles langweilig sei, was man mit Chines*innen unternehme (vgl. Clara: 172). Im Gesprächsverlauf nennt sie weitere Zuschreibungen, die in der Bubble über Chines*innen kursieren: Clara: „Ja auch eben, dass die Chinesen nicht ähm, zivilisiert sind und so was eben, na so was. Ja. Oder auch (.) viele Sachen,
5.2 Auswertung
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wenn man was nicht verstanden hat, wenn irgend ’ne Situation war. (...) Ja. CH: Kannst du da Beispiele nennen? Clara: Auch dieses, wenn man (...) ähm, wenn Chinesen einen sehen, also nich, ’n paar, dann ähm, sagen sie dieses waiguoren und tingbudong. Also so gleich irgendwie dieses. [[Hm]] Ja. Das is halt, is (...) hm. (.....) [Hm. Ja.] Oder was ich auch gehört hab, dass es ähm, dass man mit Chinesen nicht wirklich (.) rechnen kann, also nicht so offen halt wie wir das tun würden, dass wir direkt sein würden und des wurde auch bemängelt und auch, dass die einfach (...) irgendwie ihr Leben nicht genießen und ähm nur arbeiten und (...), ja. (.....)“ [Clara: 183–185] Aus den Berichten der Interviewpartner*innen wird deutlich, dass durch die Hinwendung zu den bekannteren Lebenspraxen in der Sozialwelt der Bubble offensichtlich interkulturelle Kraft verloren geht, denn das Fremde wird dem Bekannten geopfert. Generell gibt es kaum Erzählsequenzen, die sich mit interkulturellen Aushandlungsprozessen oder so genannten critical incidents (Missverständnissen) beschäftigen, weil die dazu notwendige Interaktion schlicht nicht gegeben ist. Die meisten Akteur*innen hätten gerne von einer Freundschaft zu eine*r Chines*in erzählt. Linus, der als Kind einige Jahre in China gelebt hat, erklärt seine Enttäuschung: Linus: „Ähm. Ja. Äh, ich werd dich auch enttäuschen müssen. Ich hab auch keine chinesischen Freunde.“ CH: „Es is eigentlich nich so, dass mich das enttäuscht.“ Linus: „Ne, aber [[lacht]] gut. Aber ich äh, enttäusche mich selber, deswegen sag ich... CH: ((unverständlich)) ((lacht)) Linus: ...das wahrscheinlich. Weil ähm, ich lustigerweise genau die gleiche Erfahrung gemacht hab damals. (...) [[Hm]] Ich war in ’ner chinesischen Schule, in der chinesischen mh, Highschool. Ich war der einzige Ausländer und hab keine Freunde
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gehabt. Weil (.....), ich glaube, dass das Bildungssystem Schuld is. [[Hm]] Das chinesische (.) ähm, oder, oder natürlich mangelnde Vorbereitung der Ausländer. Aber (...) als ich da war, waren halt die meisten Leute, also alle Leute ähw, ham in der Schule gewohnt unter der Woche. Das heißt, die einzige Zeit, wann die was machen konnten, war am Wochenende. Und da mussten sie natürlich mit ihrer Familie abhängen, weil die ham die ja schon ’ne Woche nich gesehen. [[Hm]] Und das heißt ähm, (.....) und (...) ähm, das heißt, ich hatte so Freunde, wie man halt in der, in der, in der Schulklasse, Mitschüler halt [[Hm]] und natürlich gab ’s von meinen 30 Mitschülern irgendwie zwei, drei, mit denen ich mich besser verstanden hab als mit dem Rest und mit dem ich auch ma ein, zwei Mal irgendwie nach ’m Unterricht nochmal irgendwo ’n Bier trinken gegangen bin oder was gegessen hab oder so was. Aber so, aber so richtig (...), so richtig Freunde hab ich nie gefunden. Und es liegt auch (...), damals lag es auch, und es liegt heute auch noch daran, an der (...), an den Unterschied, an der Unterschieden, in der Art und Weise, wie man Freunde macht und ich glaube auch, an dem (.....), daran (.) dass die Chinesen uns nich als Menschen sehen, sondern als Ausländer. Und du kommst hier an und wenn ’n Chinese mit dir spricht, dann spricht er nicht mit dir, weil irgendwie, weil er ’s Gefühl hat, dass du interessant bist, [[Hm]] sondern weil er ’s Gefühl hat, dass er vielleicht in seinem Englisch davon profitieren könnte oder in seinem (...) Deutsch oder in seinem, irgendwas so. Und ich mein, und ich bin in, ich bin damals in den ersten zwei Wochen von zehn Leuten mindestens angequatscht worden, die von mir Englisch lernen wollten und (...) meine Freunde sein wollten (...) und das hab ich immer so ’n bisschen übergangen, weil ich das so, so seh ich das halt nich ein, irgendwie Freundschaften zu schließen und das is hier nich anders.“ [Linus 86–90]
5.2 Auswertung
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Die Akteur*innen unterscheiden bei der Beschreibung ihrer Sozialwelt zwischen engen und weniger engen Kontakten. Die meisten deutschen Student*innen haben drei „Freundschaftsgruppen“, die in unterschiedlicher Nähe und Distanz zueinander stehen: engere Freundschaften zumeist mit deutschsprachigen Kommiliton*innen, internationale Freundschaften in der Lebenswelt Bubble und mehrheitlich funktionalen Kontakt über das jeweilige Studium beziehungsweise Kooperationsprogramm mit chinesischen Student*innen. Gesprächspartner*innen mit guten bis sehr guten Chinesischkenntnissen erzählten dabei häufiger von mangelnder Tiefe der Freundschaften, wodurch die Frage aufgeworfen wird, welche Rolle die Kommunikation beziehungsweise die Sprache für den Erfolg oder Misserfolg von Interaktion spielt. Dies soll im Folgenden untersucht werden. 5.2.7 Kommunikation (Sprache) Die Kategorie der Kommunikation und dabei zunächst primär die der Sprache wird generell als Faktor für Schwierigkeiten in interkulturellen Begegnungen thematisiert. Der Zugang zum Feld war entsprechend geprägt von der Annahme, dass die für einen (auch mehrsprachig geprägten) europäischen Blickwinkel als exotisch wahrgenommene, weil unter einem anderen Kodesystem aufgebaute, chinesische Sprache eine Sprachbarriere schafft. Diese Vorannahme wird von den Gesprächsteilnehmer*innen im Vorfeld bestätigt und ist, wie oben aufgezeigt, Teil der Motivation die chinesische Sprache und ihre Bedeutungen kennenzulernen: Sabine: „Hab dann sozusagen immer mehr Interesse an der Kultur gewonnen. Immer mehr Interesse vor allem an der Sprache, weil das war für mich immer so ’n, so ’ne Geheimsprache, ((schmunzelt)) an die ich nicht ran gekommen bin. So ein, ein, eine ganz geheime Welt, wo ganz viele Weisheiten drin stecken und wo man ähm, irgendwie musst ihr mir halt immer alles erklären lassen. Ich musst mir alles vorlesen lassen, ich hab mich gefühlt wie ’n fünfjähriges kleines Kind. [[Hm]] Und irgendwann hab ich mir gesagt: ,Ich muss diese Sprache lernen.‘ ((lacht))“ [Sabine: 7]
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In dem, was Sabine äußert, wird die Verknüpfung von Sprache und kulturellem Kontext angedeutet. Berger und Luckmann beschreiben das Verhältnis von Sprache und Kulturaneignung damit, dass die Konversationsmaschine „gut geölt“ sein und ständig laufen müsse, um subjektive Wirklichkeit zu ermöglichen, da diese sich über Sprache konstruiere (vgl. Berger/ Luckmann 1969: 165). Für die Konstruktion von Lebenswelt sind Bedeutungsund Sinnzuschreibungen charakteristische Handlungsstrategien zur sinnhaften Ordnung und Stabilisierung nicht nur der eigenen sondern auch der „anderen“ Wirklichkeit. Wirklichkeit wird sowohl durch Sprache als auch durch das Wissen um Bedeutung und Kontext konstruiert. Veränderungen des Blickwinkels innerhalb der Interaktionsmatrix in Zeit und Raum, aber auch Erkenntnisgewinn (durch beispielsweise Spracherwerb und Kulturwissen), verändern zukünftige Wahrnehmungen der Beobachter*innen und daraus resultierende Konstruktionen von Lebenswelt. Der Erwerb von Kulturwissen erfolgt in der Regel über Sprache, und das Wissen über Bedeutungen, Sinnhaftigkeit und Handlungen wird wiederum über Sprache transportiert: „Ohne Sprache keine Kultur“ (Maletzke 1996: 72). Menschen konstruieren durch Sprache Wirklichkeit:
„Jede Sprache ist auch ein Mittel, um die Erfahrungswelt zu kategorisieren. [...] Die Sprache einer Menschengruppe hängt auf das engste zusammen mit der Weltsicht dieser Gruppe. Sprache und Weltsicht sind wechselseitig aufeinander verwiesen. Einerseits wird die Weise, wie man die Welt wahrnimmt und erlebt, in hohem Maße durch die Sprache bestimmt, zugleich ist die Sprache aber auch Ausdruck des kulturspezifischen Welterlebens und formt und differenziert sich verschieden aus je nach Weltsicht und nach Bedürfnissen, Erwartungen und Motivationen verschiedener Kulturen“ (Maletzke 1996: 73).
Sprache und Kontext Menschliche Kommunikation setzt sich sowohl aus der Inhalts- als auch der Beziehungsebene zusammen (Watzlawick et al. 1990: 53f). Heike Bartholy postuliert entsprechend, zwischen „Kommunikationsbarrieren auf der Inhaltsebene und Kommunikationsbarrieren auf der Beziehungsebene“ zu
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differenzieren (vgl. Bartholy 1992: 176), also zwischen Sprache und Kontext. Bereits Edward Hall setzte sich mit starkem oder schwachem Kontextbezug in der Kommunikation auseinander und unterscheidet zwischen high context und low context (vgl. Hall 1989). Ein hoher Kontextbezug intrakultureller Kommunikation bedeute eine starke Rolle des Beziehungsaspekts und Raum für Interpretationen in der Kommunikation, während bei Gesellschaften mit einem niedrigen Kontext das Gesagte im Vordergrund steht und auch so gemeint ist. Nicht unproblematisch ist allerdings, dass Hall sich mit seinem Konzept auf scheinbar homogene Gesellschaften bezieht. Hans Jakob Roth geht davon aus, das China ein Extremfall in Halls Skala darstellt. Ursache sei zum einen die Grundstruktur der Kollektivgesellschaft, die Sprache mit ihren bildhaften Schriftzeichen und die rudimentäre Sprachstruktur, die für die Empfänger*innen des Gesagten einen hohen Interpretationsfreiraum erforderten (vgl. Roth 2013: 65). Zugespitzt bedeute dies, dass „[n]ur eine Sozialisation in der anderen Gesellschaft [...] hier den Zugang“ ermögliche (Roth 2013: 66). Grundsätzlich wird in Betrachtungen von (interkultureller) Kommunikation davon ausgegangen, dass gemeinsames Wissen und die damit verbundenen Erwartungshaltungen an eine Sinnhaftigkeit von Handlungen die Basis für die Teilhabe an Interaktion darstellt. Auch die Akteur*innen tragen den Wunsch nach direkten und eigenen Erfahrungen in sich. In den vorhergehenden Kapiteln wurde bereits die Relevanz des Verhältnisses von sowohl räumlicher als auch sozialer Nähe und Distanz elaboriert. Diese findet auch in der Kommunikation und nicht nur im Zusammenhang mit einer gemeinsam geteilten Sprache ihren Niederschlag, sondern auch und vor allem auf der Inhaltsebene. Da die Kommunikation mit Chines*innen in der Regel im funktionalen Kontext und weniger als soziale Wahl im Privaten stattfindet, ist die Verfügbarkeit unterschiedlicher Inhalte und damit die Annäherung an Kontextwissen eingeschränkt. Dies ist für gemeinsame Berührungspunkte oder Blickwinkel, die von den Akteur*innen für eine erfolgreiche Interaktion als relevant bezeichnet werden, hinderlich: Mario: „Andere Lebensrealität, langweilig, weil irgendwo fehlt so (.) der gemeinsame, die gemeinsame Interesse äh, oder der gemein, es fehlt so der gemeinsame Blickwinkel. Also, ja. Und
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(...) ich weiß nicht ähm, man, man, ich hab ’s Gefühl man is dann immer mehr so damit bemüht, den andern zu verstehen, aber irgendwie is das ’n Hindernis, so ’ne tiefere Bande aufzubauen irgendwie. Weil ich, weiß ich nich warum. Ja.“ [Mario: 41] Die gemeinsamen Blickwinkel finden sie in der Lebenswelt um Gulou, die „westlich“ geprägt ist und in der die Akteur*innen selbstverständlicher miteinander kommunizieren, reisen und internationale Kulturgüter konsumieren (beispielsweise westliche Popkultur wie Musik, Film und Mode). Diese Alltagspraxen sind wiederum der Mittelpunkt der gemeinsamen Deutungen beziehungsweise Blickwinkel. Die Welt wird teilweise als vornehmlich westliche definiert und als selbstverständlich betrachtet, wodurch die konstruierte Lebenswelt an sich zunächst ebenfalls als westlich erscheint. Als westlich konnotierte Räume gelten als weniger problematisch und sind Orte des Rückzugs, die als Strategien zur Energiesicherung dienen. Damian: „Ich glaub ja, dass die internat, die internationalen Studenten, die sorgen halt dafür, dass ich mich einfach, geborgen fühl, dass ich halt Freunde hab und dass ich nich hei, dass ich nicht einsam bin. [[Hm]] Das is so der Punkt. Und wenn ich die nicht hätte, dann wahrscheinlich schon. Dann würd ich wahrscheinlich schon ähm, eher auf die Chinesen zugehen. Glaub ich schon. (...) Das is halt auch einfach. Ich mein, mit Englisch is, man lernt einfach viel schneller die Leute kennen. [[Hm]] Man is halt, der einfachere Weg is einfach (...), ja, ich ((lacht)) weiß nicht, also.“ [Damian: 83] Die Bubble besitzt die Beziehungsebene, die für China erst noch erarbeitet werden müsste. Die Alltagsgestaltung und die ständige Identitätsarbeit werden immer wieder als Belastung und China somit als Anstrengung wahrgenommen. Die Sprachbarriere erschwert dabei die Beziehungsarbeit. Bei der Interaktion mit dem Gesamtkontext China helfen deshalb handlungsvereinfachende Routinen, die aus Gewohntem und Bekanntem entwickelt werden. Auch sprachlich reichen nach einer Weile die wichtigsten Redewendungen,
5.2 Auswertung
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die für sich wiederholende Abläufe des Alltags notwendig sind, wodurch der Spracherwerb stagnieren kann. Damian beispielsweise beschreibt, dass ein bestimmter Grad des Spracherwerbs nicht nur ausreichend, sondern sogar zufriedenstellend ist: Damian: „Also ich hab ja schon, also das erste Semester war ganz gut, da hab ich Fortschritte gemacht, aber dann bin ich irgendwann an so ’nem Punkt angekommen, glaub ich, wo ich ähm, (...) wo ich so ’n bisschen zufrieden bin damit, weil ich ja so im Alltag, ich kann mir was zu Essen bestellen, ich kann, ich kann Tickets und so weiter bestellen. Für, für, für Zugfahrten und so weiter. Also richtig, ja, richtig sinnvolle Gespräche mit meiner Mitbewohnerin kann ich auch noch nicht. Da f, switchen wir immer aufs Englische über so und (...) joa (...), genau. Und (...) ja, ich könnte schon mehr machen, also ich würd sagen, is so auf ’n HSK4-Niveau, aber ich hab ja praktisch auch eigentlich richtig erst angefangen seit ich hier bin. Also (.) is nich so, dass ich irgendwie, schon in Ordnung. Also ja, (...) könnte mehr sein, aber (...) ich bin halt längst zufrieden, ja.“ [Damian: 30] Interaktion kann zwar auch nonverbal absolviert werden, aber die Handlungsfähigkeit ohne Sprache ist stark eingeschränkt. Geteilte Sprache und Symbole helfen letztlich dabei, Gewissheiten aufrecht zu erhalten und dienen der Bestätigung und Legitimation von Identität und Interaktion. Sprachkompetenzen der Akteur*innen Zu den Sprachkompetenzen der 30 Akteur*innen lässt sich anhand der für ausländische Student*innen verpflichtenden Einstufungstests der Universität Nanjing Folgendes festhalten: Zwei der Gesprächspartner*innen konnten fließend Chinesisch sprechen, elf gaben fortgeschrittene Chinesischkenntnisse an, drei befanden sich auf dem Niveau der Mittelstufe und elf waren Nullanfänger*innen (von denen fünf den Sprachkurs nach kurzer Zeit abbrachen) (vgl. Anhang I). Alle Student*innen glauben an die Gestaltbarkeit ihres Aufenthaltes und den Wert der neuen Erfahrungen. Sie bringen
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die Bereitschaft mit, sich auf ein neues Land einzulassen, eine gewisse Offenheit dem als sehr fremd zu erwartenden Gegenüber entgegenzubringen und sind mehrheitlich bereit, dafür zu arbeiten. Ihnen ist dabei bewusst, wie aufwendig das Erlernen der chinesischen Schrift-/ Sprache ist: Maria: „Ja. Weil ich ja auch eigentlich, mein, jetz hab ich ja angefangen, Chinesisch zu lernen und ich find das eigentlich auch ganz gut. (...) Auch wenn ’s super anstrengend is. ((schmunzelt)) Aber ich find ’s eigentlich, ich find ’s eigentlich echt gut, dass man so die Möglichkeit hat, Chinesisch zu lernen und ich weiß aber ganz genau, wenn ich das nich weiterpflege, dann is es ganz schnell auch wieder weg. [[Hm]] Weil das is wirklich ’ne Sprache, grade (.) wenn man eben nicht nur Sprache normal lernt, sondern auch ’ne neue Schrift lernt, das muss man pflegen wirklich. Das muss man weiterführen.“ [Maria:164] Der Spracherwerb beziehungsweise dessen Vertiefung war für viele einer der Hauptgründe für den Aufenthalt in China, denn nur ein Aufenthalt ermöglicht für sie ein kompetentes Sprach- und Kulturwissen, das über ein reines Vokabelwissen hinausgeht (vgl. Jan: 7; Anett: 7; Nadine: 7; Janine: 7; 1Vera: 100; Patrick: 14; Inga: 71; Sabine: 7; Grete: 7): Linus: „Und äh, und dann gibt ’s natürlich noch den ganz rationalen Grund, dass ich mir gedacht hab, ähm, ich lern nich jahrelang Chinesisch, um das dann irgendwie einfach nur so (...) als kleines Hobby zu haben. Sondern auch um das ’n bisschen zu vertiefen und im Endeffekt was mit anfangen zu können so.“ [Linus: 54] Besonders trifft dies auf die Sinolog*innen zu. Durch den Aufenthalt vor Ort, können die meist in Deutschland gelernten Vokabeln mit kontextrelevanten Bedeutungen aufgeladen werden, wodurch die Inhaltsebene hinter der Sprachebene sichtbar wird. Janine: „Ich denk, dass Sinologie ’n aufwendiges Studienfach is, wo man sehr viel Zeit reininvestiert, wenn man ’s wirklich
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gut machen möchte. Wenn man die Sprache vorher, also noch nich in Berührung gekommen is mit der Kultur, is es schwierig, die Sprache so zu lernen. Und ähm, das Auslandsstudium is bei uns im Studienverlaufsplan eigentlich nich integriert, aber (...) ähm, ich denke, es is erwünscht. Also unsre Lehrer sagen uns immer, es is wichtig für uns, dass wir nach China gehen und (...) wenn man, wenn man nich nach China geht, dann steht man am Ende da und hat ’n Bachelor in Sinologie, aber man kann nich richtig reden. [[Hm]] Und (.) ich, also ich seh da schon ’ne Kluft zwischen denen, die schon in China waren und aus China zurückgekommen sind, wie die, wie die sprechen, wie schnell und was die alles verstehen können und sich ausdrücken können und die, die in Deutschland bleiben. In, die bringen meistens keinen richtige Satz zu Stande. Also (...) für mich war ’s dann eigentlich klar, dass ich unbedingt ähm, nach China möchte, um meine Sprache auch richtig zu verbessern und äh, am besten halt nicht für so ’n Kurzauf, ähm, Kurzaufenthalt, sondern ’n bisschen länger.“ [Janine: 7] Janine betont nicht nur den Raumaspekt, sondern auch den Zeitfaktor für den Spracherwerb. Von den Gesprächspartner*innen bleiben aus diesem Grund, neben dem Sammeln von Erfahrung elf Student*innen für ein Semester und 19 für zwei Semester in China. Diese Entscheidung fällt oft ganz bewusst, da ein Semester als zu kurz erscheint, um nicht nur die Sprache zu lernen, sondern sich darüber hinaus auch der Inhalts- beziehungsweise Kontextebene anzunähern. Vera beschreibt, dass sie Informationen beispielsweise nicht bloß durch fremde, möglicherweise verzerrte Übersetzungen, sondern durch die Originalsprache verstehen möchte: Vera: „Ich will hoffen, dass ich die Sprache besser verstehe. [[Hm]] Weil in Deutschland is es schwierig Chinesisch zu lernen, weil wenn man nich so viel Kontakt hat mit der Sprache. Weil ich ja nich Sinologie studiere, sondern (...) äh, Regionalstudien. Ähm, und ich nich so viel Sprachkurs habe (...) und ich die Sprache besser sprechen können möchte. Ich möchte
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gerne mehr lesen können un ich möchte mich gerne mit Chinesen mehr unterhalten können. Damit man dann vielleicht noch tiefer in die Kultur einsteigt. Vielleicht auch so, so Sachen so (...) Konflikte, die vorher entstanden sind, vielleicht besser verstehen kann. [[Hm]] Dass man, wenn man irgendwohin geht un sich irgendwelche ähm, (...) irgendwelche Attraktionen ankuckt, dass man weiß, was da auf Chinesisch steht un nich nur die englische Übersetzung, [[Hm]] die ja leider meistens sehr schlecht is, (...) mh, meistens nich so informativ is. [...] Aber wenn ich dann davor stehe un mit ’m Wörterbuch, dann brauch ich ja viel zu lange und deswegen (...) möcht ich das dann so gut können, dass ich dann davor stehe und das Chinesisch lesen kann. Weil da meistens mehr ((lacht)) Informationen kricht.“ [Vera: 100] Auch Grete ist es wichtig, Literatur im Original lesen zu können, und sagt, dass es eine Frage des Respekts sei, die Sprache des Gegenübers zu lernen: Grete: „Und ähm, (...) ja, ich weiß nich, ich find ’s halt wichtig, ähm, wenn man im andern Land is, dass man (.) sich auch mit der Sprache vertraut macht un (...) ich mein, das machen auch genug Leute in Deutschland. [[Hm]] Un warum, soll man das als Deutscher im andern Land nich machen. Das is, ich find das is halt auch ’n bisschen (...), dass man Interesse oder Respekt zeigt und, ja. Und ich denke halt, ich interessier mich eben auch für die Literatur, für die Geschichte und solche Sachen. Und ich denk, ähm, es reicht einfach nicht, Bücher dann auch Englisch und auf Deutsch über dieses Land zu lesen, sonder das is immer besser, in der jeweiligen Sprache das Land kennenzulernen, [[Hm]] also in der Sprache des Landes einfach (...) ja, (.....). Ich stell mir halt oft vor, dass es einfacher is ähm, Freunde kennenzulernen, wenn man die Sprache mehr oder minder [[Hm]] (.....) nicht unbedingt fließend, aber (.) ja, wenn man sich in einer Sprache verständigen kann, gut.“ [Grete: 58]
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Während Vera und Grete den Anspruch vertreten, über den Spracherwerb auch die Kultur des gastgebenden Landes zu verstehen beziehungsweise ihr mit Blick auf den Chinafokus ihres Fachstudiums näher zu kommen, ist manch andere*r nur für den Sprachkurs in China: Janine: „Ich bin nur für den Sprachkurs hier. Also ich muss eigentlich gar keine Kreditpunkte erwerben, weil das bei meiner Uni eigentlich nich angerechnet wird. Deshalb ist es fast wie Ferien, aber irgendwie will man ja trotzdem gut sein. ((schmunzelt)) Also ich, ich mach das Sprachprogramm auch aktiv mit. Also es is nich so, dass ich die Prüfungen dann, dann nich mitschreibe. Ich ähm, hab aber nebenher noch andre Kurse gewählt. Das sind die (...), das find ich gut an der Uni, sie hat viele Freiwilligenkurse. Zum Beispiel Kalligraphie oder Malerei und es war’s, da hab ich vorher schon drauf gehofft, weil ich Malerei total toll finde und Kalligraphie auch. [[Hm]] Und (.) es hab ich alles. Ich hab ziemlich viel noch am Nachmittag und manchma auch Abends. Mittwoch is eigentlich der einzige Tag, wo nichts is. ((schmunzelt))“ [Janine: 43]
Grenzen von Kommunikation (Sprache) Vor allem die Student*innen der Doppelmaster-Programme haben ein straffes Arbeitspensum. Für diese Student*innen mit Fachunterricht steigt durch die vorgeschriebenen Chinesischkurse das wöchentliche Arbeitspensum um bis zu weitere 24 Semesterwochenstunden Präsenzunterricht und weitere Stunden zum Üben der Schriftzeichen zuhause (vgl. Kai: 124; Amelie: 76). Zusätzlich schreiben sie noch Hausarbeiten oder bereiten ihre Masterarbeiten vor, was zum Beispiel Grete als Hindernis für den Spracherwerb sieht. Außerdem hatte sie erwartet, dass sie Chinesisch schneller lernen würde: Grete: ((lacht)) Ja. Ich hab halt auch erwartet, dass ähm, (...) dass es alles ’n bisschen schneller läuft. Also (.) dass ich halt schneller Fortschritte machen kann. Allerdings ähm, (...) nehm ich da den Master ’n bisschen als Hindernis wahr, weil wir halt
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andauernd irgendwelche Hausarbeiten schreiben müssen und (...) wenn man gute Noten braucht, was halt bei mir der Fall is, dann muss man auch ziemlich viel Zeit, Energie et cetera investieren.“ [Grete: 20]
Grete: „Ich weiß nicht, ähm, vielleicht ähm, (...) bin ich auch noch nich richtig in China angekommen. Also (.) weil ich mein, ich wohne mit ähm, zwei Deutschen zusammen, [[Hm]] wir sprechen natürlich immer Deutsch, mit anderen Englisch, vielleicht. Dann (...) Chinesisch ähm, (...) sprech ich fast am wenigsten, kann man sagen, obwohl ich in China bin. [[Hm]] Einfach weil (.....), ich weiß es nicht, vielleicht könnt ich mehr Mög, mehr Möglichkeiten schaffen. Aber halt einmal ist die Zeit begrenzt, man muss viel für diesen Master machen. [[Hm]] Dann ähm, ist der Master zum größten Teil auf Deutsch. Ähm, und ja. (.....) Ehm, (...) Deutsch unterrichten, wird auch in der Regel Deutsch verwendet, dann im Sprachaustausch, auch die Hälfte der Zeit Deutsch. [...] Und nach dem Master kann ich dann halt (...) kucken, was ich vielleicht noch ähm, ändern kann, damit ich ähm, wirklich täglich halt sozusagen, eigentlich zu 70 Prozent mindestens meine Sprache wirklich lebe. [[Hm]] Naja. Das is halt jetz noch nich der Fall.“ [Grete: 32] Claudia beschreibt, dass die Leistungsanforderungen und das Programm dazu führen, dass sie sich mehr auf die Kommunikation in Deutsch und Englisch konzentriere, und dass sie neben der Arbeit auch noch etwas erleben wolle. Claudia: „Ähm, das fand ich einerseits natürlich gut, weil man im Ausland sucht man sich natürlich jemanden, die in der selben Situation sind. Was so mein Eindruck. Die ham die gleichen Probleme, die ham die gleichen Sorgen. Mit denen kann man sich auch in einer Sprache unterhalten, in der man wesentlich sicherer ist. [[Hm]] Also in Englisch oder Deutsch.
5.2 Auswertung
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Ähm, das geht mir auch so, deshalb bin ich auch froh, natürlich gibt e, mein zu haben und auch dann die andern Deutschen. Ähm, aber andererseits denk ich auch, dass man viel von der Kultur verpasst, wenn man nich einfach mit den Leuten Kontakt bekommt. [[Hm]] Also das ist äh, das is mir auch wichtig. (...) Andererseits bin ich natürlich beschränkt durch das Programm hier, weil es äh, auch fachlich wirklich ah, hohe Anforderungen hat. Also wir müssen da jetz während des Semesters Hausarbeiten schreiben und ähm, ham (.) irgendwie Hausaufgaben auf durch den Chinesischkurs. Das heißt, man hat so (...) hm, (...) ja, so in diesem Alltag is man, is man schon richtig drin und man muss auch was leisten. Aber (.) deshalb möchte ich trotzdem irgendwie rausgehen und da was erleben. Also (.) ich sitze dann auch da am Schreibtisch und, und möchte dann noch, möchte auch raus.“ [Claudia: 29] Offenkundig und gemessen an den subjektiven Erfahrungsberichten scheint neben dem ungewohnten Alltagsmanagement das erforderliche universitäre Pflichtpensum wenig Energien übrig zu lassen, die ein intensiver Spracherwerb und soziale Kontakte bedürften. Statt noch mehr zu lernen, sorgt man eher für Entspannung durch „Ausgehen“ in der als weniger Energie raubend wahrgenommenen Bubble. Clara beschreibt den sozialen Teufelskreis: Ohne Kontakt können die Chinesischlerner*innen ihre Sprache nicht verbessern, aber ohne gewisse Sprachkenntnisse kann sich auch der Kontakt nicht intensivieren. Clara: „Hm. Also was ich anstrengend fand, war einfach, dass man im Xiyuan in so ’ner (.) Blase war irgendwie. Also man hat nich wirklich Kontakt mit Chinesen. [[Hm]] Hm. (...) Ja, das hat mich am Anfang sehr, sehr genervt. Ja. Das (.) und ähm, man muss irgendwie sein Chinesisch erst verbessern, um mit den Chinesen in Kontakt zu kommen, aber man konnte es auch nicht, weil man nicht wirklich, ja, einfach Kontakt hatte. Ja.“ [Clara: 51]
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Auch Vanessa sieht Sprachkenntnisse als Voraussetzung für ein engeres Verhältnis und berichtet von ihren sozialen Erfahrungen. Dabei bezieht sie sich nicht auf ihre eigenen Chinesischkenntnisse, sondern auf die Englischkenntnisse und die Offenheit (vgl. Lukas: 19) ihrer chinesischen Bekannten: Vanessa: „Also es sind acht Chinesen ähm, zu zwei Chinesen ähm, hab ich eigentlich ’n sehr, sehr enges Verhältnis. Die eine heißt , der andere heißt ähm, die sind relativ offen. Erzählen auch viel, sind gesprächiger. Ähm, zu den anderen Chinesen hab ich ’n gutes Verhältnis, aber ich hab das Gefühl, dass sie ’n bisschen scheu sind und es liegt aber meistens auch eher an, an, an Sprachfertigkeiten. AA und BB können sehr gut Englisch sprechen. Die anderen ham bisher mehr Probleme mit dem Englischen und trauen sich dann halt nicht. Ich versuch denen dann immer zu erklären, dass mein Englisch um Gottes Willen auch nicht so gut ist und dass ich auch voll viele Fehler mache. Das beruhigt sie immer nur so halb, aber das, das hindert dann so ’n bisschen dran, mehr zu sprechen, mehr zu kommunizieren und (.) ja, wenn man nicht miteinander spricht, kann man auch kein engeres Verhältnis haben. Denke ich. [[Hm, hm]] (...)“ [Vanessa: 26] Individuen werden über Dialog und Interaktion Teil einer (mit-)geteilten Wirklichkeit und erhalten Wissen durch Sprache. Die Interviews und eigene Beobachtungen haben gezeigt, dass die Bereitschaft, soziale Beziehungen aufzubauen, besonders zu Anfang des Aufenthaltes hoch ist, was sich auch an den vielen Aushängen zur Suche nach Sprachpartnerschaften zeigt. Diese schwinden jedoch im Laufe der Zeit und mit fortschreitendem Semester ebenso wie das Interesse der Gesprächspartner*innen nachdem sie sozial saturiert sind. Die Gründe liegen zum einen in der Beziehungsebene (mangelnde räumlich und soziale Nähe zu Chines*innen), aber auch in der dauerhafte Präsenz der baldigen Rückkehr und den Anforderungen im Studium. Das Differenzbewusstsein der Akteur*innen ist vorhanden und hier wird die These vertreten, dass dies weder Hindernis der Kommunikation noch Motor für Miss-Kommunikation (vor allem im sprachlichen Bereich)
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bedeutet. Selbst Miss-Kommunikation ist gewünschte Kommunikation, um Erfahrungen zu sammeln und Verstehen zu erlernen. Bezeichnender ist hier vielmehr das Verhältnis zwischen Sprache und Kontext, beziehungsweise die Beziehungsebene. Sprache hat unter anderem die Funktion Gedanken zu konstruieren. Die Akteur*innen, die sich als Kosmopolit*innen verstehen, sind ohne Zugang zu Sprache und Kontext nur bedingt in der Lage, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen den Interaktionspartner*innen gegenüber auszudrücken, was zur Folge hat, dass sie mit der gedanklichen Arbeit in der Interaktion alleine sind. Student*innen, die sich für ein Auslandssemester entscheiden, zeichnet aus, dass sie nicht nur einen physischen Zugang suchen, sondern eben auch mentale Interaktion, nämlich Austausch von Beobachtungen, Reflexionen und Bedeutungskonzepten. Bei ihren eigenen Erklärungen für mögliche Interaktionsbarrieren konzentrieren sich die Gesprächspartner*innen stark auf die Sprache und können sich daher die Distanz nicht erklären. Mario: „Ja. Da merkt man halt auch, dass man eben nur irgendwie drin is. Also man is schon auch da irgendwo immer so ’n bisschen der Außenseiter. Also (.) viel, gut, vielleicht ((lacht)) liegt das an mir, aber (.), also ich finde, also wirklich ähm, (...) ja, also ’s auf der einen Seite das größte Problem sin, auch bei mir noch, sicherlich Sprachbar, -barriere, dass man eben äh, zumindest ich mach jetz im, am Geschichtsinstitut Unterricht. Ich komm zwar so 70, 80 Prozent mit im Unterricht, aber ei, einiges versteh ich dann eben doch nicht. Muss dann immer (.) eben auch ma nachhaken und ähm, (...) ja, so in den Pausen und so, dann äh, unterhalten. Gut, mein, die sind freundlich zu mir, aber ich hab ’s immer trotzdem so ’s Gefühl, man is nie so w, (...) nich so ganz drin. Also vielleicht würde das andern leichter fallen, aber äh, (...) ja. Also so (...), ich, ich fühle mich zwar akzeptiert un ich mach auch ab und zu was mit denen Kommilitonen da. Aber letztendlich macht man dann doch noch mehr mit so den andern Deutschen oder Europäern. Also (.) so, ich versuch, ich weiß, dass wenn ich äh, ich versuch es zwar, aber ich, ich finde (...) alle, auf ’ne wirklich so ganz
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eng freundschaftliche Ebene zu Chinesen n, n, ’ne Beziehung aufzubauen, da hab, fällt mir schwer. Ich weiß es nicht, warum. Ich kann es schlecht beurteilen. Also (.) es gibt einen Chinesen, den hab ich in kennengelernt. Den würd ich als guten Freund bezeichnen. Aber der konnte auch ziemlich perfekt Deutsch. Also der is, der, also der hat unglaublich gut Deutsch geredet. Wir ham uns auch öfters auf Chinesisch unterhalten. Bei dem hat ’s irgendwie so gestimmt auf ’ner emotionalen und intellektuellen Ebene. Aber hier hab ich bis jetz, alo auch unter meinen Kommilitonen zwar solche, die ich sagen würde, ja, gute Bekannte oder die helfen mir auch oft, aber jetz wirklich so ’n Freundschaft würd ich sagen nicht. Also (.) ich weiß nich. Find ich schwieriger. (.....) Ich weiß nich, ob ’s an der kulturbe, kulturellen Unterschieden oder der Sprachbarriere liegt, aber da (...).“ [Mario: 36] Die Wirklichkeitswahrnehmung scheint einseitig, da die Beziehungsebene nicht bewusst ist und ohne gemeinsam geteilte Lebenswelt kann diese nicht bewusst gemacht werden. Obwohl mangelnde Sprachkompetenzen Einfluss auf Interaktionsprozesse haben, kann auch Wissen oder Nicht-Wissen über spezifische Lebensweltsegmente als Barriere dienen. Bei den Akteur*innen wird eine getrennte Betrachtung von Kommunikation in Sprach- und Beziehungsebene deutlich. Heike Bartholy schlägt daher vor, den Terminus „Sprachbarriere“ gegen den Begriff „Kommunikationsbarriere“ zu ersetzen, da ersterer allein die Sprache betone, letzterer aber sinnvollerweise die Inhalts- beziehungsweise Kontextebene der Kommunikation umfasse (vgl. Bartholy 1992: 175). Die Akteur*innen gebrauchen den Begriff der Sprach-/ Barriere und beziehen sich damit zum einen explizit auf die Ebene der Sprache, meinen aber auch zum anderen die Inhaltsbarriere. Die Sprache eines Landes zu kennen, heißt nicht, die Regeln eines Landes zu kennen:
„Eine Sprache lernen heißt, sich die Sprache aneignen. Doch was ich mir aneigne, ist per se nur das Wissen über eine Sache, nicht die Sache selbst. (...) Durch die Zunahme von Wissen schwindet folglich
5.2 Auswertung
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nur die lebensweltliche, nicht die soziale Fremdheit, die Unvertrautheit, nicht die Andersheit“ (Münkler/ Ladwig 1997: 37).
Immer wieder wird betont, wie wichtig die Sprache für die Interaktion ist, denn ohne Sprache ist man isoliert und im Alltag hilflos. Allerdings beherrschen fünf der 30 deutschen Student*innen nach eigenen Aussagen die notwendigen Floskeln, die eine funktionale Interaktion im Alltag ermöglichen, und 13 Student*innen ein gutes bis sehr gutes Chinesisch. Das Gesagte wird von ihnen verstanden, aber es geht beim Verstehen vielmehr um Nähe und Distanz als um Nichtverstehen und Missverstehen. Missverstehen und Nichtverstehen unterscheiden sich dadurch, „daß bei Nichtverstehen kein gemeinsames System von ,Sprachsymbolen‘ der Kommunikationspartner perzipiert wird, wogegen bei Mißverstehen zwar ein gemeinsames System von Sprachsymbolen besteht, diese allerdings unterschiedlich interpretiert werden“ (Bartholy 1992: 176). Verstehen unterscheidet zwischen dem Wort und der Bedeutung, das heißt dem Kontext von Assoziation und Wertung, die in der Regel während der Sozialisation durch Erfahrung und Interpretationsleistungen gewonnen werden und auch intrakulturell variieren können. Interkulturelle Kommunikationsprobleme ergäben sich nicht selten daraus, „[...] daß verschiedene Kulturen in ihrer Sprache in unterschiedlichem Maße auf Klarheit und Eindeutigkeit bedacht sind. In den meisten westlichen Ländern gilt das Ideal einer klaren, rationalen, direkt auf das Ziel hinsteuernden Rede, nicht selten ohne viel Rücksicht darauf, was der Partner dabei empfindet. In anderen Kulturen, besonders ausgeprägt in Japan, legt man größten Wert auf Harmonie und sucht alles zu vermeiden, was den Partner verletzen könnte. Deshalb gilt es als ungehörig, dem anderen unverblümt ,die Wahrheit zu sagen‘ oder ihm etwas rundweg abzuschlagen. Ein direktes ,Nein‘ kommt kaum einmal vor; man ersetzt es durch ein ,Vielleicht‘, meist verbunden mit feinen nicht-verbalen Hinweisen, die signalisieren, daß dieses ,Vielleicht‘ eine Absage bedeutet. So mag der Amerikaner dem Japaner als taktlos, rüde und unsensibel erscheinen, während der Amerikaner den Japaner für umständlich, entscheidungsschwach und unaufrichtig hält – wobei auch hier wiederum jeder Beteiligte davon überzeugt ist, seine Art zu kommunizieren sei ,selbstverständlich‘ die einzig richtige“ (Maletzke 1996: 145) [Hervorhebung im Original].
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Die Bedeutung der Drittsprache Englisch Bezeichnend für den interkulturellen Hochschulraum ist, dass in der Regel zur dritten Sprache, nämlich Englisch, gegriffen wird. Auch wenn manche der befragten Student*innen (vgl. Maria: 32; Lukas: 13; Stefanie: 37b) Kritik an den Englischkenntnissen ihrer chinesischen Kommiliton*innen haben: Thomas: „Aber das erste is, es is manchmal schwierig überhaupt mit Chinesen in Kontakt zu kommen, weil sie gar kein Englisch können [[Hm]] oder zu schlechtes Englisch. Davon gibt ’s mehrere, auch aus meinem Kurs, obwohl der Englisch is. Die können Englisch schreiben und können auch die Aufgaben einigermaßen ordentlich bewältigen, halt weil sie Englisch schreiben können und auch Englisch lesen können. Aber sie können ’s gar nicht sprechen, eigentlich so. [[Hm, hm]] Ähm, daran scheitert’s dann halt. Ich hab halt, ich geb ’s offen zu, ich hab halt keine Lust bei ’nem Gespräch drei-, viermal einen Satz zu sagen. Zehnmal umzuformulieren, dass es irgendwie angekommen is. Das is, hm, mir irgendwie auch zu mühselig. Ähm, daran scheitert ’s dann.“ [Thomas: 46a] Auf die Frage hin, wie es um Freundschaften stehe, erzählt Damian von Chinesen, mit denen er sich regelmäßig zum Basketballspielen trifft. Er selbst ist mit seinem alltagstauglichen Chinesisch zufrieden und die Leute beim Basketball würden lieber Englisch mit ihm sprechen wollen (vgl. Damian: 28). Zunächst erklärt er die soziale Distanz mit der Sprachebene und erweitert seine Überlegungen anschließend um die Inhaltsebene. Die Kommunikationsbarriere, bestehend aus Sprach- und Inhaltsebene, verortet er allerdings auf der Seite der Chines*innen: Damian: „Aber auf jeden Fall glaub ich, dass mit den, mit den Basketballern is es auf jeden Fall so, dass ich glaub, da komm ich auch nich auf ’n Nenner, auf ’ne weitere Ebene mit denen. [[Hm]] Ähm, das is irgendwie ganz komisch, also wir machen zwar ab und zu was zusammen, aber (...) irgendwie werd ich
5.2 Auswertung
mit denen nicht richtig warm. Also ich spiel gern mit denen Basketball und so, aber das ’s keine richtige Freundschaft von denen. Das is irgendwie, die, wir treffen uns zwar ab und zu, aber (...) das irgendwie (...) ja, irgendwie fehlt da was manchmal. Und vielleicht auch, weil sie nicht gut genug in Englisch sind, manchmal was nicht verstehen, wenn ich was mit ihnen bespreche oder so. [[Hm]] Aber ja, das, das is auf jeden Fall ’n Punkt, glaub ich. Ja.“ CH: „Und was könnte ’n anderer Punkt sein? [[Japp]] Dass das keine richtige Freundschaft wird.“ Damian: „Tja, vielleicht, dass wir zu unterschiedlich sind und es gar nicht merken. Weiß nicht. (.....) Keine Ahnung. Hab ich mir noch nicht so ge, also (.) das, ich mein, man verfolgt das ja nicht weiter, wenn man merkt mit Leuten, dass man nicht so warm wird, [[Hm]] weil ich mein, dann forciert man das ja auch nicht. Mein, ich bin ja nicht so drauf angewiesen, dass ich jetz (...) ewig wart, bis es mal klappt, aber wenn die, wenn ich mit denen nich warm werd, du, dann treff ich mich auch nicht zwei, drei [[Hm]] Mal noch oder so, sondern dann lass ich das so ’n bisschen abfallen, deswegen. (...) Ja. (....)“ CH: „Ja, spürst du manchmal so ’ne Distanz?“ Damian: „So ’ne Scheu würd ich vielleicht sagen. Manchmal. So (.) dass sie auch nicht so wissen ähm, wie wir eigentlich sind. ((lacht)) Sag ich jetz mal so. Keine Ahnung. [[Hm]] Weil die ham halt, also man merkt das schon, wenn man mit Chinesen ist, dass die ganz gern mit Ausländern so rumhängen und (...) ähm, manche zieren si, also manche schm, manchmal hab ich schon so ’s Gefühl, manche schmücken sich sogar so ’n bisschen damit, [[Hm]] wenn sie viele ähm, (...) mh, Ausland um sich rum haben. Und, aber sie, ja, wollen uns praktisch ja auch so ’n bisschen kennenlernen, wissen aber auch nicht so genau, wie die da am besten vorgehen. Und (.) dann is da halt auch wieder die Sprachbarriere da. Ja.“ [Damian: 33–38]
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Doch im interkulturellen Hochschulraum existiert durch die „Weltsprache“ Englisch eine potentielle Sprachebene jenseits muttersprachlicher Dominanz. Diese könnte entstehen, wenn deutsche Student*innen mit Chines*innen auf Chinesisch oder Chines*innen mit deutschen Muttersprachler*innen auf Deutsch sprechen würden. Eine Alternative wäre Englisch, denn durch die Wahl einer Drittsprache gäbe es keine auf Muttersprachlichkeit basierende Deutungsmacht. Besonders die Chines*innen aus Doppelmasterprogrammen sprechen nicht nur Englisch, sondern zum großen Teil ein sehr gutes Deutsch. Immerhin lesen und verfassen sie wissenschaftliche Texte in ihrem Fachbereich und haben sich bei den harten Auswahlkriterien in China und speziell der Eliteuniversität Nanjing dazu qualifiziert, an den internationalen Programmen teilnehmen zu können. Und doch schreibt Jakob Roth, dass sich gerade an der „Weltsprache“ Englisch zeigen ließe, „[...] das ein Verstehen oft an der Wirklichkeit vorbeizielt, weil die kommunizierenden Personen sich einer Fremdsprache bedienen und diese anders gebrauchen und interpretieren als das Gegenüber“ (Roth 2013: 60). Dazu passen die Äußerungen von Stefanie: Stefanie: „Also in Deutschland liegt das definitiv eher am Inhalt an, also die Sprache is ja vorhanden. Chinesen die ja nach Deutschland kommen, können ja Englisch definitiv. Ähm. Da fehlt halt einfach der, der Start quasi. Die, also. Ich weiß nicht, da müsste es vielleicht auch solche Veranstaltungen geben, wie’s hier jetz gab. Diese Treffen da. Oder irgendwie Sprachpartner oder so was. Aber das setzt ja voraus, dass sie die Sprache lernen wollen, [[Hm]] dass sie Deutsch lernen wollen. Und das, da hab ich halt nicht so den Eindruck gehabt. [[Hm]] Bis jetzt. [[Hm]] (...) Ja.“ [Stefanie: 47b]
Kai erzählt davon, wie die Wahl der jeweiligen Sprache ausgehandelt wird, und dass es durch die Kompetenzen in den drei Sprachen Deutsch, Englisch und Chinesisch seinerseits, aber auch der unterschiedlichen Chines*innen zu situationsbedingten und auf den Inhalt bezogenen Entscheidungen für oder gegen eine Sprache kommt:
5.2 Auswertung
Kai: „Man dann einfach automatisch (...) sich die Sprache wählt, die einfachste Kommunikation. Die Sprache, die am besten beherrscht wird von allen, die wird benutzt. [[Hm]] Zum Beispiel so. ((Klopft auf den Tisch)) Deutsch oder Chinesisch. Oder Englisch. [[Hm]] Je nachdem (.) also (.) ich will, wenn ich kann (...) Englisch kann ich oft wählen. (...) Außer ich, meine chinesischen Kommilitonen, um ma Integration, das ma an der Sprache festzumachen. Wir sprechen viel zu viel Deutsch. [[Hm]] Warum? Mein Chinesisch. Ich kann nich so in die Tiefe gehen. Die sind viel besser im Deutschen als ich im Chinesischen. [[Hm]] Also wähle ich diesen automatisch, obwohl’s mich ankotzt. Versuch das dann meistens zu durchbrechen. [...] Bei einigen andern äh, da bin ich’s gewöhnt, eher Chinesisch zu sprechen. Bei den Juristen zum Beispiel, die sind da wirklich extrem. (...) Die sprechen mehr Chinesisch. [[Hm]] Nur wenn ich es nich verstehe, sprechen sie auf Deutsch. Also die sprechen mehr Chinesisch mit mir. Also äh, was mir jetz auch aufgefallen is, bei (...), man sollte sich hüten, (...) als deutscher Chinesischlerner (...) [[Hm]] Sprachpartner aus der chinesischen Germanistik zu suchen. [[Hm]] Das sage ich. Ich warne vor chinesischen Germanisten, die sind so gut (.) die Meisten. [[Hm]] Die Stu, d, d, da endet man, dass die Deutsch sprechen, dass man auch Deutsch spricht. [...] Ich glaub, die, das is bei denen Automatismus. Die können gar nich anders als Deutsch sprechen mit den Deutschen. [...] Nun. Ich bin da wahrscheinlich fast ’n Unikat. Ich benutze genauso Deutsch wie ich Chinesisch benutze. [[Hm]] Ich mische das. Weil, als das hat ja Gründe, das hat drei Grün, das hat zwei Gründe. Der erste Grund is, ihr Deutsch is nich so toll. [[Hm]] Ich kann jetz nich erst Deutsch machen, auf Deutsch machen. Und ich find das auch schwachsinnig. (...) Das jetzt alles auf Deutsch machen müssen. Nach der kurzen Zeit. Hätten die uns mit Chinesisch zuge, äh, mit den, hätten die uns mit Chinesis, im zweiten Semester in dor, in, in äh, ähw, praktisch auf ’n Leib gerückt, wir hätten’s nicht gebacken ge-
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kriegt. (...) Un das nächste is auch eher ’n äh, egoistisch. Ich möchte ’n bisschen üben. [...] Also ich spreche (...) im Unterricht, meistens so wie ich jetz grade spreche. ‘N bisschen langsamer noch. [[Hm]] Aber das is eigentlich immer noch zu schnell. Deswegen wechsel ich oft ins Chinesische. Wenn die also nach ’m zweiten Mal Deutsch einfach erklären es nich schaffen, dann sag ich’s auf Chinesisch. Spätestens dann. [[Hm]] Damit es klar is, was ich will.“ [Kai: 168] Weiterhin erklärt Kai auch die Unterschiede auf der Inhaltsebene und die Schwierigkeiten, Bedeutungskonzepte zu transferieren: Kai: „In Chin, wenn ich in meiner Art, wenn ich zum Beispiel irgendwas erkläre (...) auch auf Deutsch. Deutsch sprech, diese deutsche Sprachlogik, das is ein Unterschied. Wir denken ja wirklich ’n bisschen anders. (...) Oft verstehn die’s nich. Und das liegt nicht an der Sprache (...) bei einigen. Das liegt manchma einfach (...) daran, dass sie die Gedankengänge nich nachvollziehen können oder Schwierigkeiten haben.“ CH: „Und wenn de ’s auf Chinesisch erklären würdest?“ Kai: „Dann würd ich Schwierigkeiten bekommen, es zu erklären. [[Hm]] Es is schwierig. Die Sprachen funktionieren anders. [[Hm]] Also Chinesisch is eigentlich (...), ich frag mich ganz ehrlich, wie ein deutscher Philosoph (...) auf Chinesisch übersetzt werden soll. [[Hm]] Kant oder so. Es is, glaub ich, sehr schwer. [[Hm]] Ich glaub nich, dass das geht. (...) Dass man wirklich Kants Gedanken nachvollziehen kann, [[Hm]] weil Chinesisch is so anders vom, von der gesamten Art, ja. [[Hm]] (...) Äh, das, gewisse Gedankengänge müssen massiv umgeformt werden. [[Hm]] Damit die, die müssen sinisiert werden. Dasselbe is, (...) die chinesische Philosophie kann man auf Deutsch eigentlich kaum lesen, [[Hm]] versteht das gar nich. [...] Is halt schwierig, weil (.....) ich oftmal’s Gefühl hab, dass ich mich auf Chinesisch mit deutscher Denke gar nich richtig ausdrücken kann. (.....)“ [Kai: 179–182]
5.2 Auswertung
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An Kais Aussagen wird deutlich, was auch andere Gesprächspartner*innen mit guten bis sehr guten Chinesischkenntnissen erfahren haben: Je höher das Sprachniveau ist, desto offensichtlicher werden Transferprobleme auf der Inhalts- beziehungsweise Kontextebene. Gemessen daran, wie arbeitsintensiv der Erwerb der chinesischen Sprache ist, führt diese Erkenntnis vor allem bei Nicht-Sinolog*innen dazu, dass sie sich beim Spracherwerb auf ein konkretes, alltagstaugliches Niveau konzentrieren und damit „zufrieden“ sind. Kommunikation als notwendiges Element von Interaktion kann nicht nur auf Sprache und die Dichotomie verbal/ non-verbal reduziert werden, sondern setzt sich sowohl aus einer Sprach- als auch aus einer Inhalts-/ Beziehungsebene zusammen. Verstehen ist nicht nur von Sprache abhängig. Während ihres Aufenthaltes machen die Akteur*innen Beobachtungen und Erfahrungen, die in der Reflexion konstruierend mit Sinn beziehungsweise kontextspezifischen Inhalten belegt werden. Die Anerkennung der Sinnhaftigkeit des Anderen basiert auf Verstehen und ist Basis für Interaktion verstanden als Teilhabe. Im folgenden Kapitel sollen unter dem Stichwort Blickwinkel diese dynamischen Verstehensprozesse dokumentiert werden. 5.2.8 Blickwinkel – Verstehen und Anerkennung Wie bereits in der Grafik „Kodenetzwerk“ (Abb. 2) deutlich geworden ist, nimmt die Kategorie Blickwinkel eine zentrale Position unter den Kategorien ein und die zuvor theoretisch nachgezeichneten Kodezusammenhänge lassen sich auch praktisch nachvollziehen. Zunächst sind die Akteur*innen auf Beobachtungen und Deutungen angewiesen, um Wissen zu erwerben und zu verstehen. Sie befinden sich im aktiven Prozess der Konstruktion. Die Kategorie Blickwinkel steht in Beziehung zu den meisten der anderen Kategorien, denn jede Kategorie unterliegt während des Aufenthaltes einer prozesshaften Dynamik. Wie eingangs erwähnt, ist dabei von Interesse, wie sich Konzepte, Miniaturtheorien oder Bildungsinhalte (Chinabild, Sammlung von Erfahrungen, Erwerb von Sprach- und Kulturwissen) gewandelt haben und von den Akteur*innen reflektiert und konstruiert werden. Diese Prozesse haben dabei Einfluss auf den Standpunkt und die Wahrnehmung von Identität, wodurch sie Blickwinkel, Weltsicht und Deutungsmuster ver-
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ändern sowie Verstehenskompetenzen generieren. Reflexion ist dabei als Teil des Verstehens und der Selbstgestaltung zu sehen und geschieht im interkulturellen Kontext nicht ohne die Praxis des Vergleichens. Bewusst oder unbewusst wird Beobachtungen und Handlungen neuer Sinn zugeschrieben, der nicht nur durch Sehen (Beobachtungen) und Hören, sondern auch durch Schmecken (Essen), Riechen (Gestank, Luft) und Fühlen (Hitze, Enge) gewonnen wurde. Dies gilt sowohl für die wahrgenommenen Verhaltensweisen von Chines*innen und anderen Ausländer*innen als auch für das Selbst. Im Gespräch über ihre Erfahrungen während ihres Chinaaufenthaltes präsentieren die deutschen Student*innen immer wieder die Fähigkeit und Intelligenz für Problemlösungen, Rollenübernahme und relativierende Analysen: „Intelligenz ist auch die Voraussetzung für Selbstkritik, die vom Besucher in der Fremde zu erwarten ist. Selbstkritik bedeutet, daß der Mensch sich von sich selbst distanziert und sich von außen, gleichsam mit den Augen anderer sieht und versteht“ (Maletzke 1996: 132). Die Bedeutung von Verstehen Verstehen ist zentral für die Interaktion und die Teilhabe an der Lebenswelt und in der Regel leiten irritierende Erlebnisse den Prozess des Lernens ein.7 Anfangs erscheint in einer fremden Kultur vieles, was man erlebt als anders, fremd und/ oder unverständlich, Vorwissen ist nicht immer anwendbar und reines Beobachten kann zu Missverständnissen führen. Für viele der befragten Student*innen ist Verstehen der Schlüssel und das Ziel ihres Auslandsaufenthaltes. Die Tiefe des Verstehens und Verstehenwollens ist dabei natürlich individuell und reicht von neuen Eindrücken über das Erlernen der Sprache bis hin zu dem Anspruch, ganzheitlich(er) in die Kultur einzutauchen. Dabei ist der Prozess des Verstehens insgesamt dynamisch und das Verstehen selbst natürlicherweise begrenzt: Nicht jede Beobachtung oder Interaktion führt zu allumfassendem Verstehen, vielmehr handelt es sich um konstruierte Teilfragmente, die selbst konstruierend nach jeder Interaktion oder Beobachtung neu sinnhaft miteinander kombiniert und mit Bekanntem 7
Hier soll nur kurz auf die zahlreichen interkulturellen Trainings verwiesen werden, die als Basis für den Wissenserwerb von kulturellen Missverständnissen, so genannten critical incidents ausgehen, die dann im Kursverlauf modellhaft überwunden werden.
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in Beziehung gesetzt werden und sich somit der Blickwinkel ebenso wie der Standpunkt neu ausrichten. Die Akteur*innen nehmen durch ihren Auslandsaufenthalt eine pseudowissenschaftlich-emische Perspektive ein und unternehmen den Versuch, die chinesische Kultur aus sich heraus zu verstehen, bleiben aber meist mangels Interaktion oder sozialer Nähe zunächst in der Beobachter*innenperspektive verhaftet. Erst durch die Eigenerfahrung und Reflexion entsteht Verstehenskompetenz, die eng mit der Anerkennung des Anderen verknüpft ist. In der Interkulturellen Germanistik wird Anerkennung verstanden
„[...] als eine bejahende und erkennende Zuschreibung von Identität [...] [, die] ein wechselseitiges Gesicht-geben [schafft], das die Betreffenden in die Lage versetzt, von sich und anderen in ihrer Eigenheit als Besonderheit einer Andersheit erkannt zu werden“ (Wierlacher 2003: 202) [Hervorhebung im Original].
Manuel erzählt ein Beispiel für ein solch neues Verstehen das in Anerkennung mündet, wobei sein Erkenntnisgewinn daraus besteht, dass eine sich aus einer Beobachtung ergebende Fehlinterpretation durch die Reflexion mit einem chinesischen „Kumpel“ im Gespräch mit neuem Sinn belegt wurde. Dabei wird auch der wahrgenommene Blickwinkel auf Chines*innen offenbart und zur Erklärung herangezogen: Manuel: „Ähm. (...) Also als ich ankam, dacht ich, ich kann mich vielleicht verständigen, so ’n bisschen, weil ähm, ich hab, wurde von der Nanjing Uni abgeholt, [[Hm]] mit so’nem Bus und sie haben, die haben gemeint, sie warten an so ’nem, weiß nich mehr, wie das hieß, aber ich dachte, das wär ’n Gebäude außerhalb des Flughafens (...) und dann hab ich dann natürlich gewartet. Das Gebäude nicht gefunden und bin dann wieder in den Flughafen rein und hab dann ’n paar Chinesen gefragt mit meinem Chinesisch und das erste, den ersten Eindruck, das ich hatte ähm, den ich hatte, war ähm, die Chinesen sind total arrogant. Weil (.) [[Hm]] ich hab immer versucht zu fragen und alle sind an mir vorbeigelaufen. So. ((winkt)) ((lacht)) Und das
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erst ma einzuordnen mit deinem ähm, ja, westlichen Wissen, war das eher so arrogant. [...] Das Handwinken. So: ,Nein, mit dir red ich jetz nich.‘ [[Hm]] So, das war der, so der erste Eindruck. Ich mein, spielt au, klar, wo ’s dann schon klar war wo, aber e, es war der erste Eindruck. [...]“ CH: „Wie verstehst du denn das Abwinken jetz?“ Manuel: „Jetzt. Ähm, das is eher. Also (.) jetz wo wich, wo ich mehr Kontakt zu Chinesen hab und hatte, [[Hm]] is es eher so ’n Ding, dass sie kein Englisch sprechen und direkt, wenn sie dich als Ausländer wahrnehmen, davon ausgehen, dass sie sich nich mit dir unterhalten können. [[Hm]] Das is es. Deswegen winken die auch gleich ab. Also ich hab da auch ähm, hab jetz mittlerweile ’n Kumpel, der is auch Chinese, ich hab, der auch Englisch spricht, ich hab ihn da auch gefragt: ,Warum versuchen die das dann nich mal?‘ Weil, ich meine, es kann ja auch sein, dass die Chinesen, dass die Chinesisch reden können die Ausländer. [[Hm]] Aber des is überhaupt präsent, dass Ausländer Chinesisch reden können bei denen. [[Hm]] Also bei, bei Chinesen. ’N Großteil von den Chinesen. Deswegen winken die dann auch ab, [[Hm]] weil ähm, ja so (...), so ’n Zeichen von Peinlichkeit is, dann irgendwie [[Hm] nichts sagen zu könne, weil die wollen ja schon helfen, aber können ja nich, weil sie ja denken, du kannst ihre Sprache nich und ja. [[Hm]] (...)“ [Manuel: 28–33] Wie bereits dargelegt, macht der Perspektivwechsel beziehungsweise Wunsch nach einem anderen Blickwinkel einen Großteil der Motivation für den Auslandsaufenthalt aus. Zwar ist die Beobachter*innenperspektive häufig vom eigenkulturellen Standpunkt geprägt, doch die Eigenerfahrung ist Ziel und praktische Basis für die Akteur*innen, innerhalb der Interaktionsmatrix aktiv zu werden. Das Vergleichen von „Kulturen“ beziehungsweise dem Eigenen und dem Fremden ist ein Arbeitsprozess, der Verstehen fördert und sinnhafte Einordnungen ermöglicht. Themen des Alltags oder Kulturthemen zu vergleichen, strukturiert unüberschaubar komplexe,
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kulturelle Phänomene und ist so ein wichtiges Werkzeug der Akteur*innen bei der Erschließung von Lebenswelt. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede ebenso verglichen, wie die Nähe und Distanz zur eigenen Alltagsrealität oder dem eigenen lebensweltlichen Kontext. Wie in der weiter oben nacherzählten Fabel „Die blinden Männer und der Elefant“ (vgl. Kap. 2.3) werden scheinbar verwirrende Einzelbeobachtungen durch die Kombination verschiedener Blickwinkel in der Realität als Teil eines Ganzen sichtbar. Indem sie von Erlebnissen berichten und mit anderen Student*innen in der Bubble sprechen, tauschen die Akteur*innen Erfahrungen aus und reflektieren Deutungshilfen für gemeinsam beziehungsweise ähnlich Erlebtes. Durch das Darüber-Sprechen werden Irritationen normaler/ gewöhnlicher, da andere ähnliche Geschichten zu erzählen wissen. Durch den bottom-up Zugang der empirischen Forschung kann deutlich gemacht werden, dass sich Differenzen nicht unbedingt nur als Kulturunterschiede, sondern vielmehr aus dem aktuellen lebensweltlichen Kontext ergeben. Die Lebenswelt der anderen internationalen Student*innen wird von den deutschen Student*innen zum großen Teil geteilt und die Blickwinkel stehen sich nahe. Kultur spielt dahingehend eine Rolle, dass die eigenkulturell geprägten Blickwinkel den Gesprächspartner*innen näherstehen, auch wenn diese dynamisch sind. Dabei ist ein gewandelter Blickwinkel oder ein gewonnener Standpunkt ein Zeichen von Verstehen. Mario erläutert die Relevanz, den Standpunkt zu wechseln und vor Ort die emische Perspektive einzunehmen, um Verstehen zu lernen. Mario: „Also ich glaube, das Ding is einfach ähm, (...) so lange man nich selber in China war. Ma kann durch, in Deutschland so viel Chinesisch lernen, wie man will. Oder chinesische Geschichte oder so, aber das is halt immer so ’ne OutsiderPerspektive in gewisser Weise. Man, [[Hm] man nähert sich irgendwie so theoretisch und intellektuell dieser Kultur, aber ich glaube, bevor man selber in dieser Kultur gelebt hat und eben auch f, ja (.) genau, mit denen sich vielleicht auch mehr dann sozialisiert hat [...].“ [Mario: 17]
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Mario erzählt weiter, er habe mehrere Monate bei der Familie seiner Freundin gelebt. Der Vater sei Parteimitglied, die Mutter „so ’ne typische (...), wenn man das sagen kann, chinesische Mutter irgendwie“ und mit dem fünfjährigen Bruder habe er immer gespielt. Man gehe mit der Familie essen, spiele mit ihren Freund*innen Poker oder fahre gemeinsam an den Strand. Dabei lerne man die Kultur von innen kennen und Mario resümiert, dass man dadurch verstehe, dass die Menschen und ihre Kultur zwar anders seien als die eigene, aber eben auch „ziemlich spannend“ (Mario: 17). Menschen verändern sich im Laufe der Zeit, die sie in der Fremde verbringen. Maletzke schreibt, würde dem Fremden in der Fremde die Aufgabe abverlangt, mit vielen neuen, vom Gewohnten abweichenden Eindrücken zurechtzukommen, würde er zwangsläufig einen Prozess der „Anpassung“ durchlaufen (vgl. Maletzke 1996: 159).
Situative Anpassung und Selbstpositionierung Anpassung verstanden als Assimilation, nämlich der Aneignung der „fremden Kultur“ beziehungsweise die Angleichung an die „fremde Kultur“ und die Aufgabe des „Eigenen“ trifft im Fall der deutschen Student*innen in Nanjing schon aus strukturellen Gründen nicht zu. Ihr Aufenthalt ist von vorneherein zeitlich begrenzt und die Rückkehr nach Deutschland all gegenwärtig, wodurch sich die Notwendigkeit einer Anpassung an die chinesische Majoritätsgesellschaft erübrigt. Sie passen sich vielmehr der aktuellen Situation und damit der spezifischen konstruierten Lebenswelt an, die sie durch Teilhabe aktiv mitgestalten. Indem sie Lebenswelt durch Konstruktion gestalten und sich in der selben positionieren, justieren sie gleichzeitig ihren Blickwinkel während sie verstehen. Durch die aktive Teilhabe und den Vergleich, gewinnen die deutschen Student*innen nicht nur einen Blick auf das „Andere“ der „chinesischen Kultur“, sondern durch den Blickwinkel der Anderen auch einen Blick auf sich selbst und ihre eigene Andersartigkeit: Inga: „Ähm, das hab ich vorher überhaupt nicht so eingeschätzt. (.....) Das war schon alles sehr anders. Man merkt halt echt extrem stark ähm, also (...) ich muss das mal so formulieren ähm, (...) ich hab schon vorher von vielen Leuten, die
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im Ausland waren, gehört, wenn man im Ausland gewesen ist, dann lernt man ’ne Menge über sich selbst. Und diesen Satz hab ich nie irgendwie so richtig verstehen können. Ich dachte, das sei, das sagt halt jeder so, weil sich ’s gut anhört, [[Hm]] aber das ist tatsächlich so. Weil man dadurch, dass man sich mit so vielen Menschen konfrontiert sieht, bei denen alles, also da, d, bei denen zum Beispiel, so der ähm, die allgemeinen gesellschaftlichen Gew, so Regeln, so Sitten, Bräuche und ähm, (...) ja. Dieser Behaviorismus is halt komplett anders und wenn man sich dann mit denen, mit so einer Masse von Menschen konfrontiert sieht, die halt alle genauso sind, eben ganz anders als man selbst, dann erfährt man echt ’ne Menge über sich selbst. Was so das Spezielle an dem, ((lacht)) den Deutschen ist oder was man denen so nachsagt ((schmunzelt)) und was für Vorurteile wirklich tatsächlich auch stimmen und (...) einiges is halt Quatsch, aber viele Sachen treffen halt schon zu. Wo man dann so zugeben muss: ,Ich bin wirklich schon so (...) anders ((lacht)) als ähm, (.....) als die Leute hier. Wirklich ganz anders.‘“ [Inga: 17] Die Selbsterfahrung beziehungsweise der neue Blick auf sich selbst wird von allen Gesprächspartner*innen als größter Gewinn des Auslandsaufenthaltes beschreiben. Dabei erscheint China als ganz besondere Herausforderung und ein gelungener Chinaaufenthalt scheint den Akteur*innen die Gewissheit zu geben, zukünftig „überall“ zurechtzukommen beziehungsweise sich überall eine Lebenswelt gestalten zu können: Damian: „Ja, was hab ich mitgenommen. (...) Ich hab von mir selber gelernt, dass ich mich praktisch überall zurecht komme. Das hätt ich, also ich hätte nie, am Anfang hätt ich gedacht, dass es schwieriger ist, aber ich hab auf jeden Fall von mir selber gelernt, dass ich (...), dass ich wahrscheinlich ähm, dadurch (.) dass ich viel mit Leuten hier zu tun hab, die aus ’m andern Land kommen, dass ich einfach sensibler bin, wie ich mit den umzugehen hab. Oder dass ich mich besser auf die einlassen
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kann. (...) Ja, und dass ich einfach noch ’n neues Land kennengelernt hab. Das is so das Hauptding für mich so, deshalb würd ich (.) anderes, ’ne andere Kultur und dass ich jetz wahrscheinlich (...) jetz mehr weiß, wie China is, (...) wie, wenn das in ’n deutschen Nachrichten kommt oder (...) über China gesprochen wird. Also (.) dass ich diese Vorurteile nicht mehr hab, wie viele Leute haben. Ja. So.“ [Damian: 119] Allerdings wird auch der Blick auf die eigenen Grenzen eröffnet und so manche*r stellt für sich fest, dass die Erwartungen an den Aufbau sozialer Beziehungen, die eigene Toleranz und Leidensfähigkeit oder an den Lernfortschritt bezüglich der chinesischen Sprache zu hoch war: Grete: Also ich setz mich jetz auch täglich mehrere Stunden hin und lerne, lese, spreche auch mit mir selber, wenn ’s sein muss. ((lacht)) Oder skype halt mit Leuten aus China, (...) die irgendwo anders halt (...) in China leben, ähm. [[Hm]] (...) Und (...), ja. (.....) Ja. Also ich hab (.) einfach gelernt, dass ähm, dass ich vielleicht selber zu hohe Erwartungen hatte nur und davon war ich halt zuerst enttäuscht (...) und ähm, (...) jetz hab ich meine Einstellung geändert und ähm, (...) ja gehe halt weiter mit dieser veränderten Einstellung sozusagen (...), ja. [Grete: 20] Gerne vergleichen die deutschen Student*innen ihr erworbenes Kulturwissen und ihre Verstehenskompetenz mit anderen deutschen oder internationalen Student*innen. Sie sehen sich als Kosmopolit*innen, die die Sinnhaftigkeit chinesischer Handlungspraxen anerkennen, wodurch diese ihnen beinahe normal erscheinen, während andere sich noch wundern oder mit Unverständnis reagieren. Manuel beispielsweise wurde von einem deutschen Freund aus Shanghai besucht und beschreibt seine Beobachtungen: Manuel: „Mich kam mal, kam neulich ’n Freund besuchen, der ähm, macht ’n Praktikum in Shanghai (...) und das fand ich gan, ganz, ganz intressant zu sehen, weil er konn, er konnte
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ja gar, kann gar kein Chinesisch. Ähm, arbeitet in ’ner deutschen Firma auch, macht da ’n Praktikum. (...) Und Shanghai is doch ’n bisschen was anderes als Nanjing. [[Hm]] Also ’n sehr großes Bisschen. ((lacht)) Und ähm, ja er war halt dann auch ganz ähm, (...) ja, am Anfang verwirrt (...), am ersten Tag ziemlich verwirrt, wie China doch sein kann. Mh, und am zweiten Tag fand er das dann schon wieder toll. Also (...) so mh, dieser Anfang von ’nem Kulturschock, in W-Modell so ’n bisschen so diese, diese Hochphase. ((schmunzelt)) [[Hm]] Ähm, ja. Aber ich fand das ganz, ganz interessant, ihn zu beobachten, (...) wie er von allem begeistert war, was er für, für mich jetz, da ich schon mal in Nanjing war und da ich jetz auch schon, glaub (...) einen Monat länger als, als er in China war. Für mich war das jetz alles nich mehr neu. [...] Aber für ihn war das dann alles wow. Und er war total überfordert und dann auch und (...), ja. Das fand ich sehr interessant, zu beobachten mal aus ’m andern Blickwinkel. Also. (.....) [...] Also das erste was mir eingefallen is, lustig, wie ma, weil ich war am Anfang wahrscheinlich auch so. War total von allem begeistert, aber das merkt ’s du ja selber nie so und [[Hm]] wenn du dann jemand anderen beobachst, den du eigentlich schon gut kennst und ähm, der dann so ’ne ganz tolle Umgebung kommt, wie jetz Nanjing (...) mh, da war es schon ziemlich lustig zu beobachten. Wie ver, auch die Mimik, wie verwundert er dann war oder wie lustig er das fand oder wie toll er das fand, wenn er dann mit Chinesen fotografiert wurde, wenn die ihn gefragt hatten. [Manuel: 200–205] Bei der Beobachtung seines Freundes analysiert Manuel mit Hilfe der Miniaturtheorie „Kulturschock“ die Phasen der Blickwinkelgestaltung seines Freundes, die sich mitunter von einem auf den anderen Tag verschieben kann. Auch Kai betont die Andersartigkeit seines Blickwinkels, die sich durch seine Fachkompetenz als Sinologe und seine durch einen vorherigen Chinaaufenthalt gewonnene Kulturkompetenz bedinge. Er analysiert den Begriff der Integration am Beispiel seines Cousins, der sich ebenso wie Manuels Freund in Shanghai aufhält. Beide Gesprächspartner vergleichen
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dabei nicht nur sich selbst mit einem anderen Deutschen, sondern auch die beiden Städte Nanjing und Shanghai, wobei Shanghai aufgrund seiner Modernität und Internationalität als vermeintlich „westlicher“ betrachtet wird. Kai: „Und äh, um auf meinen Cousin zurückzukommen. Er hat eben (...), auch eben diesen sehr deutschen Blickwinkel. Er spricht auch kein Chinesisch. Und der is auch nich hier äh, das Land interessiert ihn auch nich so sehr. Es geht ihm auch mehr um die Vita. Also er is nich der Typ, wie jetz zum Beispiel die meisten, die ich kenne. Hier. Die jetz wirklich mit Chinesen auch unterwegs sind. [[Hm]] Er is meistens seinen Kommilitonen, mit seinen, mit seinen Klassenkameraden unterwegs. Also (...) das sind Deutsche. Also er is auch in se, sehr deutschen Umfeld. Ich bin ja wenigstens im, in ’nem, ’nen nationalen Umfeld. Also (...) äh, (...) er hat eigentlich von China nicht viel. [[Hm]] Was schon allein an der, an, an der, an der Örtlichkeit liegt. Shanghai is ja nun nicht grade das, was man China nennen kann. (...) Also Shanghai is eher das, is ja sehr (...), so westlich, international und nich so wirklich, wobei ich muss sagen, bei Shanghai bin ich s, bin ich sehr äh, (...) vorurteilsbeladen. Ich mag Shanghai nich wirklich. (...) Und ich mag die Leute nich. (...) Das hab ich mein Cousin schon immer gesagt, ich hab ihm gesagt, er muss nach Nanjing kommen, halt bevor (...), wie gesagt, also wenn ich mir ankucke, Integration, also er is ’n Integrationsverweigerer. [[Hm]] Aber wie gesagt, das liegt auch daran, dass, dass er hier nicht vor hat auch wirklich zu arbeiten oder zu leben.“ [Kai: 174]
Die Bedeutung von Anerkennung Teilhabe an der Lebenswelt durch Beobachtung, Interaktion und Kommunikation – und sei sie noch so gering – führt zu einem Wandel im „Chinabild“ beziehungsweise zur Ausgestaltung eines anfangs diffusen „Chinabildes“. Ohne Sinnverstehen kann Anerkennung nicht stattfinden. Das Wissen aus zweiter Hand durch die Berichterstattung in Deutschland wird durch
5.2 Auswertung
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den Auslandsaufenthalt konstruiert und wie weiter oben bereits im Kapitel „Chinabild“ erläutert, kann dies zu sowohl positiv als auch negativ geprägten Perspektiven führen. Patrick erzählt, inwiefern durch seine Zeit in China seine Vorurteile abgebaut wurden. Dabei wird deutlich, dass er ein sehr positives „Chinabild“ entwickelt hat, was an seiner Aussage festzumachen ist, es gäbe in China mehr Menschlichkeit: Patrick: „Ähm. (...) Ich finde (...) ähm, ich hab dann weniger Vorurteile gegenüber China. Also ich weiß dann wirklich, wie es is und lass mir nicht einfach irgendetwas sagen. [...] Und ich hab auch [...] irgendwie einen neuen Blick auf, auf Lebens äh, einstellung irgendwie bekommen. [[Hm]] Also (.) wie man mit Leben umgeht, wie man ähm, wie man sein e, eigenes Leben gestaltet. Also ich finde, wir Deutschen sind relativ verschlossen. Wenn de ’nem Chinesen begegnest oder so kommt ’s drauf an, weil, wie du dich halt benimmst, aber (...) ähm, (...) ich finde, die sind viel offener zu Ausländern als wir Deutschen zu Ausländern. [...] Auch wenn ich das gar nicht geglaubt hätte, weil als ich in Deutschland war, war für mich alles normal und jetz komm ich nach China und auf einmal seh ich so: ,Hm, es is nicht alles selbstverständlich, was in Deutschland is.‘ Also das hat irgendwie meine Sichtweise (...) auch verändert. (...) Ähm. (.....) Und ich glaube, ich hab ähm, mich auch so selbst ein bisschen verändert. Also ich bin auch irgendwie was offener geworden und äh, toleranter. ((lacht)) [...] Okay, ich kann mich immer noch nicht so ganz dran gewöhnen, aber irgendwie alle rotzen auf die Straße [[Hm]] und ich hab: ,Boa ey, ich könnt nich dran gewöhnen.‘ Oder die Chinesen, wenn die dann ähm, essen und dann irgendwie Essen auf die Erde spucken. Oder Essen stehen lassen oder. Das ging für mich dann gar nicht. (...) Oder äh, dass die, wenn die sich mit unterhalten (.) teilweise, das find ich voll lustig, dann hat dann einer mir einfach um meinen Hals gelegt, ((lacht)) denk so: ,Hä, was passiert jetzt hier? ((lacht)) Wir kennen uns noch nicht so lange und dann ähm, umarmen wa uns schon oder so.‘ Und das war auch ’n
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
Typ halt. Also in Deutschland wär das irgendwie so, der will was von mir. ((lacht)) Ähw, wenn man richtig eng befreundet is halt, dann äh, geht das in Deutschland auch, aber wir kannten uns noch nicht so viel [...] Körperkontakt ist dann halt in China viel mehr als in Deutschland find ich. (.....) Ich war schon von den Portugiesen in Deu, in schon ’n bisschen abgehärtet, ((schmunzelt)) aber ((lacht)) aber in China hab ich mich auch nur gewundert. Vor allem die Mädchen, die laufen auch alle immer eingehakt [[Hm]] um, al ich finde hier is mehr ähm, (...) Menschlichkeit, find ich. Die Chinesen sind auch alle viel emotionaler als wir Deutschen. (...) Sehr, sehr emotional. So schon von den, von den äh, von der Musik, die die hören. Das is so irgendwas mit Herzschmerz. ((schmunzelt)) [[Hm]] Äh, oder auch die ganzen Feste, die die haben. Äh, also die ham irgendwie viermal im Jahr, muss man irgendwie, wird man bewusst, dass man kein Lebenspartner hat oder so etwas. Mein, diesen Single-Tag, hat man einmal Weihnachten, das für die auch immer noch am Valentinstag ist, normalen Valentinstag und chinesischen Valentinstag. [[Hm]] Ähw. (...) Das war für mich auch komisch. (...) Nh. (.....)“ [Patrick: 43–47] Während für Patrick Chines*innen nun nicht mehr nur ein Kollektiv mit schlechten Umgangsformen sind, berichten Janine und Vera von ihrem negativen „Schubladendenken“, dass sie in China entwickelt haben und reflektieren, dass diese negative Einstellung entstanden wäre, obwohl sie diese selbst nicht wollten. Wiederholt fällt der Begriff des Rassismus. Janine: „Sonst (...), da hat man irgendwas Rassistisches oder (...) kann man sagen, dass, dass einen China rassistisch macht irgendwo? Also es is inzwischen so, dass ich wirklich (...) sage, Chinesen oder Deutsche oder also ich weiß nich, ich hab hier (.) dieses Schubladendenken is mir sch, is mir irgendwie aufgefallen. [[Hm]] Dass das stärker geworden is, weil, weil
5.2 Auswertung
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man halt als anders (...), als anders empfunden wird und sich deshalb auch anders fühlt. [[Hm]]“ CH: „Was haste denn so für Schubladen? [...] Oder Stereotypen vielleicht. Oder...“ Janine: „Stereotypen. ((schmunzelt)) (.....) Ich find, (...) ich weiß nich, ob ich irgendwelche Stereotypen hab. Wahrscheinlich schon. Ich ähm, (...) ich fang halt wirklich an, so zu sagen, dass is typisch chinesisch. [[Hm]] Oder das sind so typische Meinungen. Zum Beispiel, wenn man über bestimmte Sachen spricht, dann weiß ich genau, da kommt jetz so und so ein Kommentar oder so reagiert derjenige jetz. Es is zum Beispiel so, dass sie zu Deutschland immer sagen: ,Oh, ja. Deutschland is sehr gut. Die Deutschen sind alle schlau. Die Deutschen ähm, haben tolle Produkte und (...) äh, sind alle sehr ehrlich und sehr, sehr äh, fleißig arbeitend.‘ Und (.) ich hab noch nie jemanden sagen hören, es gibt gute und schlechte Menschen. Jedes Land hat gute und schlechte Menschen. [[Hm]] Das is immer dieses (...) Gute und Schlechte. Und viele finden zum Beispiel (...) Japan ganz schlecht hier.“ [Janine: 79–84] Janine ist sich ihres negativen Blickes bewusst. Auch Vera beschreibt, wie ihr kosmopolitisches, von Offenheit geprägtes Selbstverständnis auf die Realität trifft: Vera: „Also ich glaub, das erste Mal, da kann ich eher sagen, was ich da mitgenommen habe, da hab ich mitgenommen, dass ich rassistisch geworden bin. ((lacht))“ CH: „Erzähl dazu mal bitte was. Is ja intressant, sich selber als rassistisch zu bezeichnen.“ Vera: „Ja, nich so. Nich so 100 Prozent, aber...“ CH: „Aber bist nich die Erste, [...] ((lacht)) die ((lacht)) das Thema anbringt. Ja.“ Vera: „((lacht)) Ne, das hab ich auch schon festgestellt. ((lacht)) Das, das beschäftigt viele. Ähm, am Anfang war ich immer so:
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
„Ja, jeden das Seine. Alles super.“ Aber nach ’ner Zeit, da wird man so ’n bisschen so (...), weil man doch Leute in Schubladen steckt und manchma einfach das auch einfacher is, Leu, Leute in Schubladen zu stecken und (...), leider. [[Hm]] Ich find ’s nich gut. (...) Aber ich merke das, (...) dass das so is.“ CH: „Wie äußert sich bei dir (...) das?“ Vera: „Mir is am Dienstag, von der Nacht auf Dienstag auf Mittwoch, is mir mein elektrisches Fahrrad geklaut worden. Vor meiner Haustür. [[Hm]] Un ich hab ’ne halbe Stunde lang so über dieses Land geflucht und so über die Menschen geflucht. Und da merk ich, dass ich dann wirklich alle in eine Schublade stecke un alle (...) hinterhältisch un alle Diebe sind un alle blöd sind, ((lacht)) weil mein Fahrrad geklaut wurde. In Deutschland, wenn mein Fahrrad geklaut wurde, hätt ich mich nich über die Deutschen, glaub ich aufgeregt. [[Hm]] (.....) Da hätt ich mich drüber aufgeregt, dass jemand so doof is und mein Fahrrad klaut. ((lacht)) [[Hm]] Aber hier regt man, bezieht man das alles auf das Land direkt, find ich. Und is bei vielen Sachen so. Dass man (...) sich über das Land dann aufregt. Wenn man (...) irgendwo is un irgendwo warten muss oder so was und dann sagen die Leute einem: ,Ja, komm um ein Uhr wieder.‘ Dann kommt man um ein Uhr wieder. Dann sagen die: ,Ne, is doch noch nich fertig. Komm mor, ähm, morgen wieder.‘ Das hätten die aber auch die drei Stunden davor auch schon gewusst un dann regt man sich auf, denkt so: ,Och, dieses Land, dieses Land.‘ Un in Deutschland hätt man nich gesacht: ,Das Land.‘ Vielleicht nachgedacht. Da hätt man gesagt: ,Diese Leute hier.‘ (...) Ja, also man steckt oftmals viele in eine Schublade und (...) [[Hm]] mh, (.....) so (...), leider. Find ich nich gut.“ [Vera: 119–127] Bei der Beschreibung gewandelter Perspektiven findet sich ein bereits weiter oben erwähntes Phänomen wieder: Wie beim „Chinabild“ wird auch die „Perspektive auf China/ Chines*innen“ von den Akteur*innen erneut
5.2 Auswertung
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kollektiviert. Die Einzelbeobachtungen und Reflexionen werden zum einen zusammengefasst und verallgemeinert, zum anderen beschreiben die Aussagen einen „(Über-) Blick“, der sich auf gesamtgesellschaftliche Phänomene und deren Verknüpfung konzentriert, so beispielsweise von Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Die Beobachtungen alltäglicher Erfahrungen liefern nach Ansicht der Akteur*innen Erklärungen für gesamtgesellschaftliche Beziehungen beziehungsweise für „das Kollektiv China“. Verhaltensweisen oder gesellschaftliche Sachverhalte erhalten bezüglich des Landes China und seinen Gegebenheiten, wie beispielsweise seiner Größe und der hohen Bevölkerungszahl durch die Erfahrung vor Ort neue Sinnhaftigkeit und damit Anerkennung statt Kritik. Ist für Deutsche, so schildert Damian, beispielsweise undenkbar, sich in ihrer Freiheit beschneiden zu lassen, indem man bestimmte Internetseiten oder den Zugang zu Sozialen Netzwerken verwehre, so interessiere das „normale Chinesen überhaupt nicht groß“ (Damian: 122): Damian: „Irgendwie (...) das is halt die normal, dass es die Chinesen gar nicht so viel stört wie wir, wie es uns Westler einfach stört. [[Hm]] Hab ich so ’s Gefühl. Also wir stören uns mehr und versuchen zu sagen: ,Ihr müsst das so und so machen und kann nicht sein, dass ihr bestimmte Internetseiten nicht öffnen könnt.‘ Aber (...) nicht, dass es den Chinesen an der Ecke da irgendwie interessiert, der da steht und sein Ding macht. So.“ [Damian: 122]
Mehrfach wurde durch die Interviewpartner*innen angesprochen, dass sie die aufgrund medialer Berichterstattung angenommene Unfreiheit in China nicht bestätigen könnten. Thomas reflektiert seine Erwartungen und sagt, dass er vor allem die Erfahrung der Gegensätze mitnehmen werde. Er habe beispielsweise gedacht, „dass sie, die Überwachung oder so, dass man das viel mehr mitbekommt“ (Thomas: 27b). Zwar habe er immer den Reisepass vorlegen müssen, wenn er ein Ticket kaufte, darüber hinaus habe er sich jedoch „nicht doll eingeschränkt“, sondern im Gegenteil „völlig frei und sicher gefühlt“ (Thomas: 27b):
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
Thomas: „Ähm, fast, also wenn man jetz abends mal rausgegangen is und so, eigentlich fast sicherer sogar als in deutschen Großstädten. [[Hm]] Weil wenn man in Ham, also ich aus, aus eigentlich, denn da unterwegs is, da gibt’s ja ständig Stress und Ärger auf der Straße und irgendwie mehr aggressive Leute. Und das fand ich in China super. Also. Dass, die Leute sind zehnmal entspannter. [[Hm]] Das, ich hab überhaupt kein Ärger hier gehabt. Nicht einmal wirklich. (...) Ja. Das fand ich wirklich toll. ((lacht))“ [Thomas: 27b] Im Gegensatz dazu hebt Mario die von ihm positiv bewerteten chinaspezifischen Aspekte des totalitären Systems hervor und stellt das im Westen vorherrschende Konzept von Freiheit in Beziehung zu den in China vorhandenen Kanälen der Meinungsäußerung: Mario: „Ja. Mh. (.....) Mh, ja ich bin, ich persönlich finde es eben auf politischer Ebene eben äh, faszinierend ähm, das kann man eben sagen is ’n Vorteil von einem autoritären System wie in China w, mh. Gut. China wird oft kritisiert, dass es eben Dem, Demokratiedefizite hat oder keine Demokratie. Und würd ich jetz als jemand, der sich viel mit Geschichte und Politik beschäftigt erst mal sagen, viele Leute vergessen, dass China n, größer als ganz Europa is und die EU zum Beispiel auch nich besonders demokratisch is und ’s eben je größer ein Territorium wird, desto schwieriger wird ’s, demokratisch zu regieren. Zumal China wirklich ’n Vielvölkerstaat is, mit äh, (...) naja, offiziell 56 Minderheiten. Und wenn die eben alle was mitzureden hätten, (...) wird ’s halt umso schwieriger politische Entscheidungen zu fällen. Und ähm, ich finde China is auf der einen Seite eben sehr effizient, weil ’s eben diese parlamentarische ähm, (...) Prozesse, die wir bei uns haben, nicht hat. Also (.) weil wenn ’ne Entscheidung von der Zentrale gefällt wird, die schnell umgesetzt wird. Manchmal vielleicht würden Westler jetz sagen, ohne Rücksicht auf Verluste. Wie wenn jetz große Bevölkerungsgruppen umgesiedelt werden beim Stau-
5.2 Auswertung
dammprojekt oder so. Gut. Gibt ’s sicherlich Schicksale, die dann den, die dann die Arschkarte ziehen, sag ich ma. Mh. Aber letztendlich äh, würde ich sagen, China hat ’ne recht rosige Zukunft, weil die eben in sehr großen Dimensionen denken. ’S war jetz auch grade die dritte Plenumssitzung äh, wo wieder sehr weitgreifende Reformen geplant wurden und ich glaub, China denkt eben in ganz anderen, langfristigeren Dimensionen. Und deswegen seh ich für China ’ne recht (.) ja, ich meine, ’ne recht rosige Zukunft. Und ähm, (...) ja. Ich glaube, (...) das is eben der Vorteil, wenn man eben die (...) Gemeinschaft äh, über das Individuum stellt und wenn man eben sacht, gut, demokratische Elemente zur richtigen Zeit, aber erst mal, was jetz zählt, is, dass wir uns wirtschaftlich, politisch und so schnell entwickeln. Und, ja. Mh. Ich glaube, wenn man das jetz auf ’ner (...) internationalen Ebene äh, hat China dadurch auch so ’n Vorteil und ich weiß nich, äh, ich glaube, es wird nicht mehr so lange dauern, dann werden ’s vielleicht auch einige mehr Staaten so dieses Modell kopieren, weil ’s eben sehr effizient is. Und ich finde, (...) ja. Was ich hier halt auch merke, gut, ’s würde man jetz vielleicht auf’m Land schon mehr mitkriegen, aber die westlichen Medien, die sich halt immer, wenn ’s um China geht, eigentlich fast immer nur negativ äußern und versuchen China nur zu reduzieren auf Menschenrechtsverletzungen und Demokratie äh, -defizite. Das is für mich einfach auch pure Polemik und das finde ich persönlich, kann ich das so überhaupt nicht wahrnehmen. Und ich hab mich auch schon mit extrem vielen Chinesen unterhalten. Auch, auch aus verschiedenen Sch, Bevölkerungsschichten und ich sehe auch nicht, dass die Chinesen das so wahrnehmen, dass die jetz hier irgendwie (...) ähm, ihre Meinung überhaupt nicht zählt, sondern so mit der Generation Weibo äh, et cetera, hab ich ’s Gefühl, ham die Chinesen, die Bevölkerung auch schon Kanäle und Wege gefunden, auch ihre ähm, ihre Protest oder ihre äh, Unzufriedenheit äh, in einer Weise der Regierung mitzuteilen, die auch Konsequenzen nach sich zieht. Weil die, [[Hm]] die
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
halt auch nich (...) un en, also nich kon, komplett jetz gegen die Wi, gegen die Masse vorgehen kann. Das hätte, hat halt auch Konsequenzen, ja. Deswegen (.) ja, das kann ich eben auch, der Meinung war ich vorher schon, aber das bin ich jetz noch so mehr, dass das äh, Bild, Chinabild eben völlig verzerrt is und äh, unfair und nicht der Realität entspricht. Ja. (.....)“ [Mario: 67] Mario kritisiert das „Chinabild“ in den deutschen beziehungsweise westlichen Medien und beschreibt es als verzerrt. Der Umgang mit Demokratie und Menschenrechten erscheint ihm in China akzeptabel. Er glaubt sogar, dass das in Deutschland häufig kritisierte politische System Chinas einen Modellcharakter für andere Länder haben könnte. Auch Mirko beschreibt, dass seine Erfahrungen und die erlebte Akzeptanz zu einem Nachdenken über Deutschland und die dort vermeintlich vorherrschenden Sachzwänge geführt habe: Mirko: „Wenn man mal über die Uni hinwegschaust. ((lacht)) Man versteht einige Sachen besser. Grade was man vielleicht in westlichen Medien immer an Chinakritik liest. Ähm, versteht man jetz auf der einen, jetzt vielleicht besser oder kann die andere Seite nachvollziehen, was natürlich irgendwie gefährlich is für den Westen, auch nachvollziehbarer aus chinesischer Sicht. Zum Beispiel.[...] Dass nich unbedingt, also der Blick, dass is man (...), dass mehr nachvollziehen kann auf jeden Fall, ähm, verschiedene Sachen und (.....) so was wie Kollektivismus, dass man auch überlegen kann, dass das ähm, (...) ’ne kulturelle Perspektive, die einfach das auch bestimmt, dass man dann auch vielleicht eher so die (...), was in Deutschland passiert, meh, mehr versteht. Dass das in Deutschland auch aus verschiedenen geschichtlichen Aspekten herrührt. Dass das in China genauso is und ähm, (.....). Mh. (.....) Schwierig. (.....[...] Doch, dass man vielleicht in Deutschland dann auch einige Sachen vielleicht mehr hinterfragt, sich überlegt, dass sie nicht zwangsgegeben so sind. Dass nich ähm, so dass sie vielleicht
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auch einfach (.) herrühren aus dem, was in Deutschland passiert is, aus der Geschichte. [[Hm]] ähm, dass man vielleicht, nicht dass ich das vom, kritisieren will, aber so über den Föderalismus vielleicht (.) nachdenken könnte, dass das nich irgendwie (.) zwangsweise ähm, das beste System für Deutschland wäre, sondern auch ähm, zentralistische Regierung besser wäre in Deutschland. Oder dass der Föderalismus einfach geschichtlich gegeben is. Und man ganz viele Sachen in Deutschland ähm, auch aus ’ner kulturellen und geschichtlichen Perspektive her äh, so geschehen sind und dass man das vielleicht eher hinterfragt. [[Hm]] Wo man vielleicht auch ’n ganz andern Blickwinkel jetz auch hat. Äh.“ [Mirko: 24b–33b] Vera überträgt das durch den Aufenthalt in China gewonnene Verständnis ebenfalls auf Deutschland, hier jedoch auf andere Lebensbereiche, wie die gesellschaftliche Entwicklung und die Frage der Integration sowie des interkulturellen Miteinanders. Vera: „Ja. Ähm, mir fällt auf, dass ich jetz immer mehr weiß, warum es (.) für (.) manche Leute in Deutschland, die aus ’m Ausland kommen, schwierig is, sich zu integrieren. [[Hm]] Un ich finde, dass is nich ’ne Sache, dass (...) die Ausländer sich integrieren müssen, sondern auch die Inländer die Ausländer integrieren lassen müssen. [[Hm]] Das fällt mir (...), das wird mir immer klarer, weil es is ja ’n Deutschland ’n großer Diskurs. [[Hm]] Mh, (...) un das is mir nach dem ersten Auslandsaufenthalt schon aufgefallen. Deswegen hab ich zum Beispiel, weil ich jetz in studiere un da sehr viele Türken wohnen, [[Hm]] hab ich zum Beispiel vorletztes Semester ’n Türkischkurs belegt. Weil ich mir einfach ma dachte so: ,So jetz, jetz ma andersrum. Wenn die alles Deutsch lernen müssen, dann muss ich jetz auch ma Türkisch lernen.‘ Un (...) war ’n bisschen viel muss ich hinterher zugeben, aber ich kann zumindest jetz, wenn Leute, die aus ’m türkischstämmigen Bereich kommen (.) äh, aus, aus ’er Türkei stammen (...) un die
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Deutsch sprechen, Fehler machen, weiß ich zumindest woran ’s liegt. Das is nich, weil die dumm sin, sondern weil einfach da die Grammatik von denen grade mal ins Spiel kommt oder so. Un ich kann’s dann viel eher nachvollziehen. Ich glaub, dann wird man auch ’n bisschen offener. Und toleriert das vielleicht auch mehr. [[Hm]] Aber es is (...), es is auch, das is ’n, ’n , ’n Geben und Nehmen. [[Hm]] Also ich finde, ich dürfte mich zum Beispiel jetz nich beschweren, dass ich nich äh, (...) genug Kontakt mit Chinesen habe oder so. Da darf ich mich jetz nich drüber beschweren. Das muss ich sel, muss ich ja mit, mit ausklü, klüngeln so. Das is meine Sache. Un wenn, wenn ich mich darüber beschwere, dann äh, muss ich selber was dran ändern. Und in Deutschland sind ja auch viele Leute, die beschweren sich und ändern aber nichts dran. [[Hm]] Un das merkt man dann halt hier, dass man, wo man jetz selber ma der Ausländer is, dass das einen (...) gegenseitiger Akt is, diese Integration. Un nicht nur ein einseitiger. Wie das oftmals (...) so dargestellt wird in den Medien, find ich. (.....)“ [Vera: 138] Vera beschreibt, dass sie offener werde, wenn sie etwas nachvollziehen könne und dadurch subjektiv toleranter sei. Auch Inga, so beschreibt sie, hat in China gelernt, andere Handlungsweisen zu verstehen und anzuerkennen. Darüber hinaus hat sie ihren Schilderungen zufolge einen neuen Blick auf sich selbst, auf ihre eigenen Handlungsweisen in der interkulturellen Interaktion sowie der Bewertung derselben gewonnen: Inga: „Aber man (...) merkt doch irgendso, alles fügt sich und alles funktioniert. Es funktioniert halt alles nur langsamer und vielleicht nicht so unbedingt auf dem Weg, (...) der halt der schnellste wäre ((lacht)) oder der effizienteste wäre und damit muss man sich halt erst so (...), glaub ich, besonders als Deutscher, die halt ja schon so den Anspruch o, so alles ganz genau, präzise zu machen. ((lacht)) Und es is, dieses Vorurteil trifft wirklich auf Deutsche zu. Muss ich wirklich sagen, also es is schon (...) lustig zu sehen, ((schmunzelt)) was, das die Chine-
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sen oder dass halt andere Völker und andere Nationen da mit diesem Vorteil absolut recht haben. ((lacht)) Weil ich mich auch immer wieder damit ertappen musste, wie ich halt Chinesen angefangen hab zu kritisieren, dass das halt nicht so läuft, warum machen die es nicht so und so und so weiter. Aber (...) letztendlich spielt es ja keine Rolle, ob es jetz vielleicht ob, irgendeine Sache, die man halt erledigt (...), die erledigt werden soll, ob das jetz drei, vier oder fünf Tage dauert. Mein Gott. Is jetz so, davon stirbt jetz auch kein Mensch. [[Hm]] (.....) Also ich glaube, jetz so an viele bisschen gelassener (.) ran. Wenn irgendwas mal kaputt geht, mein Gott, is es halt kaputt. [[Hm]] Muss, muss ich halt irgendwie jetz ’n (...), ’ne Alternative ((lacht)) suchen oder so was. Aber man flippt irgendwie nicht mehr so komplett aus oder, und man denkt nicht: ,Oh, mein Gott, was mach ich jetz?‘ Routier, routier, routier, sondern man denkt immer: ,Ach ja, mh, ja gut. Dann muss ich das halt, ja. Muss ich den anrufen oder muss ich halt, ja.‘ So. (.....) Auf jeden Fall bin ich viel gelassener geworden. Ja. Kann man so sagen. (......)“ [Inga: 85] Ingas Gelassenheit entsteht durch die Beobachtung und Aneignung der chinesischen Gelassenheit. Die Anerkennung einer anderen Handlungslogik führt auch bei Jakob zu mehr Gelassenheit, wenngleich der Ausgangspunkt des Lernprozesses ein etwas anderer ist als bei Inga. Jakob akzeptiert, dass die Gepflogenheiten in einem anderen Land eben anderes sind und findet dadurch seine Balance. Jakob beschreibt, Chines*innen würden zunächst „großes Theater“ machen und am Ende würde „dann doch alles irgendwie“ funktionieren. Er habe sich quasi daran gewöhnt und leitet daraus ab, dass durch einen Auslandsaufenthalt die Kompetenz geschärft würde, Veränderungen sowie zunächst befremdlich erscheinende Umgangsformen gelassener hinnehmen zu können. Jakob: „Aber war, jetz is es ja schön hier. Und ich kann jetz, ich kann jetz vor allen auch nachvollziehen, warum (...) äh, Arbeitgeber es so wichtig finden, dass man im, ’ne gewisse Zeit
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
im Ausland verbracht hat. Also man kann Zuhause sitzen und man kann auch wahnsinnig viel für die Uni machen. Aber wenn es dann (...), wenn es dann darum geht ins Ausland zu gehen oder in, räumliche, menschliche Veränderungen zu, mitzumachen, dass is doch noch ’n ganz anderer Schnack. Also (.) es war scho, als ich am Flughafen saß, in Frankfurt, da war, das war, das war kritisch. [[Hm]] Also da ham, hab ich wirklich überlegt, muss das jetz wirklich sein oder muss das jetz nicht sein. Aber jetz wo ich hier bin, werde ich in Zukunft deutlich entspannter sein. [[Hm]] Also werd ich mir einfach denken (.) irgendwie: „Ja gut, (...) das ist zwar China und hier wird gehupt und gebaut und manche Gewohnheiten kann man als Westeuropäer, kann man nicht nachvollziehen. Das is unmöglich. Aber (.) die kochen auch nur mit Wasser und (...) äh, man findet, findet seinen Weg irgendwie.“ [[Hm]] Das äh, (.....) äh, deswegen sitz ich jetz hier.“ [Jakob: 13] Letztendlich lässt sich aufgrund der Interviews festhalten, dass die Akteur*innen bei ihrer Abreise neu erworbenes Wissen im Sinne von kulturellem Kapital mit nach Hause nehmen. Sie können nun nicht nur in ihrem Lebenslauf den in vielerlei Hinsicht wertvollen Auslandsaufenthalt aufweisen, sondern haben sich auch so genannte „soft skills“ angeeignet wie interkulturelle Kompetenz, Flexibilität, Belastbarkeit oder Gelassenheit in Stresssituationen, um nur einige Beispiele zu nennen. Primär geht es dabei nicht um die kulturspezifische Kompetenz für China, sondern um den Erwerb interkultureller Kompetenz, das heißt die Interaktionsfähigkeit mit „anderen“ Kulturen generell. Zu den notwendigen „soft skills“ gehört auch, verstehen zu lernen und die eigenen Blickwinkel zu reflektieren. Um bei den Betrachtungen von interkulturellen Phänomenen Prozesse des Verstehens, der Sinnzuschreibung und der Anerkennung beschreiben zu können, ist es notwendig, eben diesen Blickwinkel zu berücksichtigen. Dabei besteht der Blickwinkel in Anlehnung an Wiedenmann und Wirlacher aus den „Schenkeln“ beziehungsweise „Geraden“ Identität und Interaktion unter Berücksichtigung des Kontexts von Raum und Zeit (vgl. Wiedenmann/ Wierlacher 2003: 212). Der gewonnene Blickwinkel beziehungsweise das Weltwissen
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wird als Kapital mit nach Hause genommen. Für Inga und Jakob sind Ruhe und Gelassenheit neu erlernte „soft skills“ sowie die Erkenntnis, mit Irritationen oder Schwierigkeiten umgehen zu können. Diese gelten für sie als ebenso relevante Erfahrungen, wie formale Nachweise oder die Verbesserung ihrer sprachlichen Fähigkeiten: Inga: „Wohingegen jetz muss ich sagen, is dieses Auslandssemester ja für mich ja schon fast wieder zu Ende. [[Hm]] Äh, und (...) unserer Wohnung gab ’s einige Probleme, wie zum Beispiel (.) Rohrbruch, dann sind die Klimaanlagen alle ausgefallen, Möbel gehen alle kaputt und so was. Dann wir den Vermieter angerufen, der is rübergekommen und ähm, (...) da auf einmal hab ich gemerkt, dass sich mein Chinesisch extrem gebessert hat. Vor allen Dingen vom Hörverstehen her. [[Hm, hm]] Ich hab wirklich fast alles verstanden, was der äh, was er uns gesagt hat, was er uns erklärt hat. Dann hat er mit Leuten telefoniert, hat uns dann gesagt, was die dann noch gesacht ham, der Elektriker und so weiter. Und das war alles kein Problem mehr den zu verstehen und das (...) war, da konnte man genau sehen, man hat mit der Person vor fünf Monaten schon mal geredet [[Hm]] und fast, fast kein Wort verstanden und jetzt redet man fünf Monate später nochmal mit dem und man versteht fast jedes Wort [...]. Das hat mich richtig positiv überrascht.“ [Inga: 34] Der neue Blick auf sich selbst und die eigenen Kompetenzen eröffnet neue Möglichkeiten. Da Inga jedoch nicht nur die erworbenen Kompetenzen betont und wertschätzt, sondern den Auslandsaufenthalt über den Erwerb von „soft skills“ hinaus als empfehlenswerte Erfahrung wahrnimmt, soll Ingas Resümee dieses Kapitel abschließen: Inga: Ähm, ich muss sagen i, auch wenn ich Nanjing jetzt nicht so toll fande, wie ich es erwartet hätte oder wie ich, wie ich es (...) so mir gewünscht hätte, kann ich trotzdem sagen so: „Jeder der die Chance darauf hat, muss echt ins Ausland und irgend-
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wo, irgendwie ’n, (...) da was machen.“ Also so ähw, muss er natürlich nicht, aber ähm, es ist echt wertvoll, ’ne wertvolle Lebenserfahrung. Nicht einfach nur, weil man halt im Lebenslauf was Schönes schreiben kann so: „Ja, ich war im Ausland. Ich bin flexibel.“ Sozusagen. ((lacht)) Um dann halt mal das zu unterstreichen, sondern (...) ähm, das für sich selbst zu machen. Sich das mal selbst zu gönnen, irgendwie (.) was anderes kennenzulernen. [[Hm]] Also es is wirklich ’ne wertvolle Erfahrung.“ [Inga: 93] 5.2.9 Nachhaltigkeit Grundsätzlich soll ein Auslandsaufenthalt die Student*innen für eine globalisierte Welt schulen. Im Idealfall werden sie zu Kulturmultiplikatoren, die Handlungen und Sinnzuschreibungen von Menschen anderer „Kulturen“ anerkennen und verstehen und sich daher in mehreren Kulturen zurechtfinden und fortgeführte Interaktion anstreben. Im Kapitel 5.2.8 Blickwinkel haben die Gesprächspartner*innen bereits ihre gewonnenen Erkenntnisse beschrieben und es stellt sich nun die Frage nach der Anwendbarkeit der Erfahrungen im eigen- und interkulturellen Kontext. Wie das letzte Kapitel zeigte, hat sich durch neu gewonnenes Kulturwissen über sich und andere der Blickwinkel neu gestaltet. Soziale Nachhaltigkeit Im Gespräch wurde anschließend weiter gefragt, ob es auch einen neuen Blick auf chinesische Kommiliton*innen an deutschen Universitäten gebe und ob die deutschen Student*innen planten, ihre zukünftige Interaktion neu zu organisieren. Mirko beschreibt, dass sich sein Bewusstsein dahingehend gewandelt habe, dass er Chines*innen nicht mehr als eine homogene Masse wahrnehme, und dass sein Interesse gewachsen sei: Mirko: „Da würd ich erst ma überlegen, wo kommen die Chinesen und was ham die für ’n Hintergrund und ähm, sind es vielleicht auch Taiwanesen, sind es ähm, man sagt nich unbedingt: Chinese is Chinese. Sondern man, man hat da vielleicht ’n an-
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dern ähm, Blick drauf. Ich würd mich fragen: Warum sind sie in Deutschland? Zum Studieren? Zum Arbeiten? Also is mehr Int’resse vielleicht dann (.) aus der Geschichte heraus. Früher hatt immer gleich gedacht, das sind alles so Wohlstandsflüchtlinge, die einfach mh, zum Arbeiten herkommt und jetzt (.) will man vielleicht irgendwie (.) nich mehr irgendwie so denken, weil China doch schon Wohlstand hat, den man nich erwartet hätte. (...) Und, ja. (.)“ [Mirko: 41b] Auch wenn sich Mirkos aus Erfahrung gespeister Blick gewandelt hat, beschränken sich seine Überlegungen auf die Ebene von Beobachtung und beziehen sich nicht auf Interaktion. Sandra antwortet ähnlich indifferent auf die Frage, ob sie denke, dass sich nach ihrer Rückkehr die Zusammenarbeit oder ihr Verhältnis zu chinesischen Student*innen an ihrer Universität verändern würde: Stefanie: (...) Glaub ich eigentlich nicht. (...) Höchstens, dass man eben chinesisch grüßen kann. ((lacht)) [[Ja]] Also ich hatte vorher auch keine besonders positiv oder negativ belegte Meinung. Und das is eigentlich immer noch so. Also. (.) [[Hm]] (...) [Stefanie: 30b] Beide, Mirko und Stefanie, gehören zu einer größeren Gruppe deutscher Student*innen, die sich – so hat der Verlauf der Forschung gezeigt – durch die geringste Nähe und Interaktion mit Chines*innen generell und chinesischen Student*innen im Speziellen ausgezeichnet hat. Nadja, die mit ihrem deutschen Freund in Nanjing zusammenwohnt, stellt ähnliche Überlegungen wie Mirko an, im Gegensatz zu ihm jedoch, will sie aktiv werden. Auf die Frage, ob sie anders auf ihre chinesischen Kommiliton*innen in Deutschland zugehen werde, antwortet sie: Nadja: „Auf jeden Fall. Auf jeden Fall. ((lacht)) [[Ja]] Auch allgemein auf chinesische Touristen, egal wo ich Chinesen sehen werde. Ganz anders. Also vor allem, für mich war das vorher so ’ne Masse und (.) [[Hm]] zum Beispiel, was mir
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
heute aufgefallen ist, vorher hätt ich nie sagen können, wenn ein Chinese aus’m Norden kommt oder aus’m Süden. Und jetz frag ich mich, wie ich das nicht hätte sehen können. Weil die Unterschiede von der Hautfarben, von den Gesichtszügen. W, das was alle immer meinen, alle Chinesen, alle Asiaten sehen gleich aus. Is der totale Schwachsinn, wenn man einmal länger in China war. [[Hm]] Das is auch irgendwie ziemlich blind und ziemlich rassistisch, wenn man das so betrachtet. Also (.) ich glaube auch ähm, ich werd die auf jeden Fall ansprechen und (.) ja. Da is ja äh, automatisch, wenn jemand anders aussieht, man da sich nicht mit beschäftigt, dann redet man nicht unbedingt miteinander. [[Hm]] Jemand so anders is. Aber das würd ich jetz, glaub ich, nicht mehr machen. (.....) Ja.“ [Nadja: 68] Ebenso wie Nadja nimmt sich auch Steffen vor, aktiver zu sein und nicht mehr nur zu grüßen, sondern er will chinesische Student*innen „mal einladen irgendwo oder auch mit den, mit den äh, wenn man mit Freunden oder so weggehen, gleich dazu holen“ (vgl. Steffen: 112). Sandra, Studentin in einem deutsch-chinesischen Doppelmaster, wird mit ihren chinesischen Kommiliton*innen sogar für ein weiteres Jahr zusammen in Deutschland studieren, wodurch der Kontakt weiterhin zumindest organisatorisch gegeben ist. Sie möchte den chinesischen Kommiliton*innen helfen, sich vor allem in der Anfangsphase in Deutschland zu orientieren. Sandra: „Also ähm, (...) ich glaube, dass ich dann schon, also (.) weil ich ja auch die Kurse mit denen hab und ich glaub schon, dass ich dann auch so (...) mal so denen was zeige und so bisschen versuch, weil die ham ja dann schon nicht so jemand da und ich glaub eben, weil es bisschen, also is ja auch grad so ’n bisschen groß und irgendwie verwirrend, ((lacht)) glaub ich. Und ähm, (...) das ist, glaub ich, ganz gut. Weil ich hab, ich glaube, dass sie ähm, selber dann nicht so viel so irgendwas machen würden. Also ich könnt mir halt vorstellen, dass sie dann in ’nem, ’nem ähm, Wohnheim da wohnen und dann Uni und dann irgendwie, glaub ich, is es
5.2 Auswertung
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ganz gut, wenn man die ma mitnimmt und so. (...) Ja. Also jemand hat mir hier auch, also so ähm, (...) einen, der sich um uns so ’n bisschen gekümmert hat am Anfang und ich glaub, das ist dann schon auch da so. (...)“ [Sandra: 44] Auf die Frage hin, ob es in Deutschland ihrer Meinung nach einfacher werde, mit den chinesischen Kommiliton*innen intensiver in Kontakt zu kommen als in China, verneint sie dies jedoch: Sandra: „Mh. (...) Ne, nicht unbedingt. Glaub ich nicht. Also (.) ich glaub nicht äh, oder v, ich weiß nicht, vielleicht kommen, ist es dann mehr so, dass man also (.) dort dann mehr unternimmt vielleicht. Das kann ich mir vorstellen. Aber ich könnt mir jetz nicht vorstellen, dass man dann so (...) viel mehr irgendwie, also näher in Kontakt kommt. Ich weiß aber nicht.“ [Sandra: 47] Vanessa, die dasselbe Masterprogramm absolviert, ist da optimistischer und hofft auf langfristigen Kontakt: Vanessa: „Auf jeden Fall. Erstens, weil sie so oder so nach kommen für das nächste halbe Jahr und ich auch ganz viel Spaß dran haben werde, Sightseeing dann mit denen in zu machen und (...), ja. Alles was danach, also das is ja dann eigentlich jetzt erst mal Perspektive auf ein Jahr und alles was danach kommt, is ja dann (...) ja, menschlich. Trifft man sich wieder, hat man die Zeit irgendwie Kontakt zu halten, irgendwie über Internet. Aber eigentlich müsste das funktionieren. (...) Ja. [[Hm]] Bin ich, bin ich ganz positiver Hoffnung, dass da ’n paar Kontakte länger bleiben.“ [Vanessa: 23]
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China in der beruflichen Zukunftsplanung Im interkulturellen Kontext eines Studienaufenthaltes ist die Fortführung von Interaktion auf beruflicher Ebene häufig mit weiteren Auslandsaufenthalten verbunden. Zum Abschluss der Gespräche wurden die Akteur*innen gefragt, welche Rolle China ihrer Einschätzung nach in ihrem zukünftigen Leben einnehmen werde. Dabei war die zentrale Frage, ob und wie weit sich die Akteur*innen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus vorstellen könnten, noch einmal im beruflichen Kontext nach China zu gehen. Dabei haben nicht alle konkrete Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft oder dem darauf bezogenen Nutzen der „Kernerfahrung China“ (vgl. Nadine: 13, 33; Clara: 227; Janine: 56). Andere äußern generell den Wunsch, international zu arbeiten, seien dabei aber flexibel (vgl. Damian: 61), denn „das könnte überall sein“ (vgl. Mirko: 62a); man hätte Lust, noch mehr Länder kennenzulernen, wobei China – vor allem vor dem Hintergrund des intensiven, aktuellen Aufenthaltes – mehr als Urlaubs-, denn als berufliches Wunschland vorstellbar wäre: Lukas: „Ich weiß es au nich so gen, also (...) mich reizt halt irgendwie noch andere Länder da halt irgendwie noch mehr, wenn’s halt ins Ausland gehen sollte. Als is nich so, dass es mir hier nich so gefällt, aber es gibt, glaub ich, jetz die letzten sechs Monate reichen erst mal. Das kann schon sein, dass ich dann, wenn wir irgendwann wieder denke, eigentlich war ’s schon ganz cool so. (...) Mh, und so zum Urlaub machen, also (...) in der Zeit, in der wir hier sind, können wir ja eh nicht so viel anschauen. Da kann man bestimmt noch (...) ziemlich viel Zeit verbringen hier in dem Land, (...) aber so, weiß nich. (...) Find, würd ich lieber bevor ich hier nochmal komme, würd ich vielleicht lieber nochmal ’n bisschen woanders noch was anschauen und dann (...) immer noch, kann ich ja immer noch sagen: ,Okay, eigentlich war ’s hier doch noch fast am besten von den andern Sachen.‘“ [Lukas: 93] Auch Mirko möchte lieber noch andere Länder sehen und erleben, es sei denn, er würde beruflich nach China geschickt werden:
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Mirko: „Ähm, ich, wenn ich (.) müsste oder quasi geschickt werden würde von der Arbeit, würd ich jeden Fall zurückkommen. Aber sonst für ’n Urlaub zum Beispiel würd ich am liebsten noch ma andere Länder, neue Länder entdecken. Weil man war ja jetz hier und hat noch so viel nicht gesehen. Auch äh, in Asien. (.) Ich will vielleicht eher noch so Südostasien mal näher erkunden und nochmal nach Indien vielleicht, um mal was anderes zu sehen. Aber ich würde vielleicht gern schon mal in 10, 20 Jahren (.) nochmal wieder herkommen, (.) um vielleicht nochmal die Veränderungen zu sehen. Am liebsten hätt ich auch gesehen, wie ’s vor 20 Jahren hier war. Dass am, dass am liebsten noch. Oder sonst vielleicht nochmal ’n ganz andre Gebiete von China, nochmal Tibet vielleicht oder so was, wenn’s möglich is. [[Hm]] (...) Aber ansonsten würd ich lieber nochmal andre Sachen entdecken.“ [Mirko: 38b] Obwohl ein generelles Interesse an Auslandsaufenthalten besteht, war auch bei anderen Gesprächspartner*innen ein längerer beruflicher Aufenthalt in China weniger eigener Zukunftsentwurf als mehr eine Frage des Angebots (vgl. Claudia: 54; Damian: 61). Grete zeigt sich generell interessiert an Asien, legt sich dabei jedoch nicht auf China fest. Sie beschreibt bei ihren Ausführungen den Entwurf einer mobilen Berufsbiographie, der sich auch bei anderen Gesprächspartner*innen wiederfindet und deren kosmopolitisches Selbstverständnis spiegelt: Grete: „Und ich kam mir auch (...) sehr gut vorstellen, ähm, ’ne Zeit lang ähm, ja in Ostasien zu leben. (.....) Ähm, (.....) ja. (...) Also ich hab jetz vor ähm, nach dem Master erst wieder zurück nach Europa zu gehen, entweder nach Großbritannien oder nach Frankreich, dann würd ich gern meinen ähm, Doktor machen. [[Hm]] Ähm, un zwar soll der sich auch (...) in irgendeiner Art und Weise halt mit ähm, Ostasien dann beschäftigen. Zum Beispiel mit chinesischer Literatur oder so was. Ähm, und dann würd ich ganz gerne wieder zurückkommen. Also (.) vielleicht gäb ’s dann irgendwo auch ’ne Möglichkeit, dann an ei-
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
ner Universität einen Job zu finden, Anstellung für ein oder zwei Jahre oder so was. (.....) Ja. Nebenbei hab ich auch ein (...) ja, diese DaF-Qualifikation gemacht und ähm, (...) da seh ich halt auch die Möglichkeit ähm, (...) dann für ’ne Zeit lang in Ostasien zu bleiben oder verschiedene Länder zu besuchen und halt dann einfach über ähm, Deutschunterrichten eben, ja also sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Also das, ja.“ [Grete: 7] Grete: „Also für die Zukunft würd ich mir halt wünschen, dass ich ähm, in mehreren Ländern wohnen, arbeiten, leben kann. [[Hm]] Und dann auch die Sprachen dieser Länder lerne und unter anderm (...) mh, denk ich da halt auch Südkorea und an Japan. [[Hm]] Vielleicht kann man deshalb (.) schon sagen, dass China für mich (...) ’ne Zwischen, -station is, ja. Aber das is halt jetz so mein Plan, aber es muss nicht unbedingt so ausfallen. Es kann auch sein, dass ich dann sozusagen in China stecken bleiben werde. Das (.) weiß ich jetz noch nich. ((lacht)) (.....) Ja.“ [Grete: 37] Bei der Frage nach der zukünftigen beruflichen Lebensweltgestaltung und einer eventuellen transnationalen Prägung, stellt sich auch die Frage nach den zukünftigen Inhalten und Werten beruflichen Arbeitens. Wiederholt diskutierten die Gesprächspartner*innen, ob sie in Zukunft wirtschaftsorientiert arbeiten wollen oder nicht. Manuel zum Beispiel hat vor seinem Studium bereits eine wirtschaftliche Ausbildung gemacht und interessiert sich sowohl für den kulturpolitischen als auch den wirtschaftlichen Bereich mit Fokus auf China. Bereits während seines Studiums bezieht er den Newsletter der Karriereplattform sinojobs.com, um über seine Möglichkeiten gut informiert zu sein (vgl. Manuel: 187). Manuel: „[...] mit meinem Master im Endeffekt, also ich könnte mir vorstellen ähm, vielleicht in dem ähm, kulturpolitischen Bereich zu gehen. Also sprich ähm, (...) ich sage jetz mal irgendwelche, weil ich es nich weiß, also könnte zwar spä, gut
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vorstellen im Goethe-Institut was zu machen. [[Hm]] Organisatorisch auch. [[Hm]] Ich könnte mir gut vorstellen ähm, mich beim Auswärtigen Amt zu bewerben und da nochmal ähm, weil ich hab ja schon ’ne Ausbildung im ähm, ähm, als Finanzwirt, aber [[Hm]] im, in der Beamtenlaufbahn und ich könnte mir dann auch vorstellen, nochmal so ’n Vorbereitungsdienst zu machen [[Hm]] ähm, aber halt dann speziell im Auswärtigen Amt, wo man ja dann die Auffassung, also andere Kulturen zu tun hat und da auch die Interkulturalität immer wichtiger wird. Also sieht man ja auch auf der Homepage und so weiter. [[Hm]] Das könnt ich mir gut vorstellen. Dann könnt ich mir auch wiederum vorstellen, was in ’ner Firma zu machen. Also personalabteilungsmäßig ähm, in ’ner deutschen Firma im Außenstandort ähm, China. Wo man dann auch jetzt ähm, was mit dem deutschen und dem chinesischen Personal zu tun hat.“ [Manuel: 150] Während einige es für sinnvoll erachten, China und Wirtschaft zu kombinieren und damit China als möglichen Arbeitsplatz vor allem aus wirtschaftlichen Aspekten und als wirtschaftlichen Kontakt für einen zukünftigen deutschen Arbeitgeber aus dem Wirtschaftssektor ins Auge fassen, möchten sich andere davon distanzieren. Janine: „Ich hab, ich hab, glaub ich eher, ich hab mich für das alte China intressiert und für die alte Kultur. Ich hab’s nie gelernt, weil ich, weil ich irgendwas mit Wirtschaft machen wollte. Viele denken heute: ,Ich nehm die Kombi BWL und Sinologie, passt gut, [[Hm]] Chinas Wirtschaft wächst an und damit hat man gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt.‘ ((schmunzelt)) Aber das war (...), das war überhaupt nich meins. (...) Also mh, ich intressier mich überhaupt nich für Wirtschaft, für mich is klar, ich mach später alles außer Wirtschaft.“ [Janine: 15] Linus: „Also ich stell mir v, ähm, ich stell mir ganz grob ’ne (...) Zukunft in ’ner internationalen Organisation vor. (...) Sei
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
des jetz irgendwie, weiß nich (...) UN ähnlich oder eher irgendwas Nicht-Gouvernementales. [[Hm]] Amnesty International is vielleicht ’n bisschen gutmenschig, aber ähm, vielleicht auch was anderes, was weniger (...), was weniger shiny is. Aber auf jeden Fall so was in der Richtung stell ich mir vor und ich glaube, dass mir das äh, Chinesische da sehr zu Gute kommen kann.“ [Linus: 141] Linus hofft, von seinen sehr guten Chinesischkenntnissen profitieren zu können, ebenso wie Mario: Mario: „Also ich, ich sach ’s ma so. Auf jeden Fall mach ich mir keine große Sorgen um meine Zukunft. Also ich werde bevor ich jetz zurück nach Deutschland gehe, werde ich den HSK6, das Zertifikat in der Tasche haben. Äh, mein Chinesisch is eigentlich (...) ja, schon ziemlich flüssig in jeder Form äh, ich würde sagen, (...) ich hab mittlerweile ziemlich gute Kenntnisse in Sachen Wirtschaft, Politik, Geschichte alles und (...) ähm, ja, insofern ich glaube, ich kann da auch von profitieren. Weil ich glaube, egal wie China sich entwickelt äh, (...) ich glaube, ich werd da auf jeden Fall gute Jobchancen haben. Vor allem, weil ich eben sage: ,Egal wo. China, welche Provinz auch immer. Taiwan. Ich bin da flexibel.‘“ [Mario: 72] Für Mario ist es vorstellbar, in China zu leben. Vera hingegen hofft auf eine deutsche Firma mit Kontakten nach China und denkt bezüglich der notwendigen Sprachkenntnisse ambivalent. Einerseits sei es nicht mehr so wichtig, die Sprache zu beherrschen, andererseits sei es nützlicher, ohne den Umweg einer*s Übersetzer*in Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Vera: „Dann hoff ich, dass ich irgendwann ma in ’ner Firma arbeite, die was mit China zu tun hat. Ähm, ich hab auch auch geh, von Alumnis gehört, dass es nich mehr so wichtig is, die Sprache zu sprechen. Grade weil wir ja nich Sinologie studieren ähm, aber es is ähm, (...) bei ähm, Beziehungen sehr
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wichtig. Wenn man ein Geschäftsessen hat, dass man dann zumindest (...) die äh, fünf, sechs Sachen ,Hallo“, ,Auf Wiedersehen“ auf Chinesisch sagen kann. Dass das sehr gut angesehen wird, ähm. (...) Un ich glaube, dass is auch gut, wenn man dann zum Beispiel hinterher vielleicht mal irgendwelche Verträge abschließt, dann hört meinen seinen Gegenüber auch, wenn die, dann weiß man, was die sagen unter ’nander und versteht vielleicht eher den Sinn, was die sagen als wenn man das immer nur auf Englisch abwickelt [[Hm]] oder so. (...) Und es is, glaub ich schöner, wenn man selber die Sprache kann un mit denen dann irgendwelche äh, Geschäfte macht als wenn man nur Englisch kann oder immer ’n Übersetzer dabei hat.“ [Vera: 102] Die deutschen Student*innen zeigen sich in den Interviews flexibel und auslandsmobil. Nicht alle legen dabei den Fokus auf China. Diejenigen, die sich vorstellen können, nach China zurückzukehren, begrenzen dies in der Regel zeitlich. Die Bedeutung von Zeit und Raum für einen erneuten Chinaaufenthalt Die Zeitkomponente bezieht sich dabei zum einen auf die Dauer des Aufenthalts und zum anderen auf den zeitlichen Abschnitt in der persönlichen Biographie. Amelie beispielsweise kann sich vorstellen, einige Zeit, aber nicht auf Dauer in China zu leben und zu arbeiten. Da sie aus einem kleinen Dorf käme, sei es ihr in China auf Dauer zu hektisch. Als Beispiel nennt sie das Gedränge in den Bussen und ihr fehle die Ruhe zwischendurch, die sie zum Abschalten bräuchte (vgl. Amelie: 80). Während Amelie sicher ist, dass sie nach einer Phase hektischen Treibens wieder Ruhe abseits einer chinesischen Millionenstadt brauchen wird, sind bei Maria die Gründe für eine zeitliche Begrenzung vor allem auf sozialer Ebene zu finden: Maria: „Ja. Also ja, ich könnt mir sogar vorstellen in China zu leben. Aber auf absehbare Zeit. [...] Ich will mich jetz nich zu weit aus ’m Fenster lehnen. Ich denke, (...) maximal (...), also wirklich maximal am Stück (...) fünf Jahre. [[Hm]] [...] Weil
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5 Interaktion als Kern aller Konstruktion von Lebenswelt
ich glaube, (.....) also bei mir, es is, ah, es (...) bei mir is es immer bisschen (...), ich bin ein sehr (...) sozial (.....) anhänglicher Mensch, sag ich ma. Also ich brauch ’n soziales Umfeld. [[Hm]] Und dann komm ich überall zurecht und dann eigentlich auch, auf unbegrenzte Zeit. [...] Und ähm, (...) ich glaub, so fünf Jahre is so das Zeitfenster, wo man sagt: ,Okay, da hat man vielleicht so für diesen Zeitraum noch ganz gut die Möglichkeit auch so seine, seine Kontakte zu pflegen und zu erhalten und ab da trennen sich dann einfach die Wege.‘ [[Hm]] Und natürlich kommen immer wieder neue Leute, aber man is ja auch (...) selber eingespannt in seinen, in seinen Beruf und (...) in, seinen alten Kontakten, die man ja auch irgendwie weiter pflegen möchte und das is, glaub ich dann (...) wo ’s schwieriger wird auch dann. Deswegen würd ich sagen, so fünf Jahre vielleicht, wenn ’s darüber hinausgeht, geht vielleicht auch noch (...), aber das wird vielleicht schon schwierig.“ [Maria: 147–153] Bei Vanessa gab es bezüglich dieser Überlegungen einen Wandel, denn zuerst, so sagt sie, hätte sie sich eine längere Zeit in China nicht vorstellen können: Vanessa: „Also. Hättest du mich vor zwei Monaten gefragt, hätt ich definitiv nein gesagt. ((lacht)) [...] Ähm, weil ’s äh, weil ich am Anfang überhaupt nicht ähm, mich daran gewöhnen konnte. Auch unter, also ich bin ein Mensch, Essen ist für mich sehr wichtig. Ich konnt mich überhaupt nicht an das Essen gewöhnen. Ähm, auch die, das ähw, durch die Familie bin ich ’s gewöhnt, ich kann die Sprachen sprechen in den Ländern, wo ich normalerweise bin. Hier konnt ich äh, am Anfang gar nicht sprechen. Das war für mich sehr schlimm. Ähm, dadurch bin ich auch nicht richtig in ’n Alltag rein gekommen und das, das war schon, das war schon sehr schlecht für mich. Mittlerweile bin ich mit der Sprache, komm ich mit der Sprache besser zurecht und ich habe mich auch ans Essen gewöhnt. Generell an, an die Art wie ich hier meinen Alltag (...) führe und mitt-
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lerweile bin ich so weit, dass ich sagen würde: ,Ja, ich könnt mir vorstellen, wiederzukommen.‘ Sei ’s für Arbeit, für Urlaub vielleicht, vielleicht nicht für Urlaub, weil ich mir noch genug angucken werde, jetz über die Zeit und ja, do, mittlerweile kann ich ’s mir vorstellen. [Vanessa: 95–97] Vanessa grenzt ihre Bereitschaft, in China zu leben und zu arbeiten, auf vier bis fünf Jahre ein und würde ebenso wie Maria aus sozialen beziehungsweise familiären Gründen wieder zurück nach Europa wollen. Vanessa: „Also für länger (.) ja, aber nicht für ewig. Also (.) vielleicht für eine Zeitdauer von vier bis fünf Jahren könnt ich ’s mir definitiv vorstellen. Aber für, für immer. Ich bin als Europäer geboren und ich mag Europa. Deswegen ähm, Asien ist dann, glaub ich, für mich persönlich zu, zu exotisch noch. Auch gerade, weil die Familie so weit weg ist. Ich bin ’n totaler Familienmensch und (.) es ist schon ’n Unterschied, ob man in Deutschland lebt und probiert nach Spanien oder Bulgarien zu kommen oder ob man in China lebt und dann probiert die Familie in Bulgarien oder Spanien zu besuchen. Und ich könnte mir nicht vorstellen, hier zu leben ohne Familie. Also das, das ist für mich schon sehr wichtig. Wenn ich vielleicht einen chinesischen Partner hätte, würde das vielleicht si, n, schon wieder anders aussehen, weil dann hätt ich ja vor Ort Familie. Aber so, wie im Moment die Situation ist, (...) würd ich sagen, für vier Jahre okay, aber dann würd ich die Familie vermissen, würde definitiv zurückgehen.“ [Vanessa: 102] Bei der Frage nach den beruflichen Zukunftsentwürfen taucht bei einigen Interviewpartner*innen erwartungsgemäß auch das Thema der Familiengründung auf und es entsteht der Eindruck, dass China für sie nicht allzu attraktiv zu sein scheint, um dort eine längere Phase der beruflichen Orientierung und speziell die der Familiengründung zu erleben. Für die Ausbildung und erste berufliche Schritte im Ausland wollen die Student*innen die Welt sehen, aber in der Regel äußern sie Bedenken bezüglich der Familienplanung. Diese verorten sie primär in Deutschland. Der Dialog mit Claudia
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steht hier stellvertretend für diese wiederkehrenden Gedankengänge, weswegen er hier ausführlich zitiert werden soll: CH: „Ja, wenn man mal langfristig denkt, also du betonst ja immer wieder, dass (.) also für dich die Zukunft doch in Deutschland liegt. Aber gleichzeitig qualifizierst du dich ja. Also für... [...] ...die, den andern Teil der Welt.“ Claudia: „Ja. Das stimmt und ich kann mir auch vorstellen hier zu arbeiten. Ich kann mir auch vorstellen, dass das auch so drei, vier, fünf Jahre so sein kann, aber wenn (...). Ich finde, also dieses (...) Gefühl vom Niederlassen [[Hm]] is, verbinde ich mit Deutschland. Also mit ’ner Familie, also mit meiner eigenen Familie. Mit, mit ’ner Ehe. [[Hm]] Und (.) deshalb ähm, ich hab auch so (.....). Zum Beispiel kann ich mir persönlich nich vorstellen mh, (...) eine Beziehung mit einem Chinesen zu haben. Ich will das nicht ausschließen, ich hab einfach nur nicht den richtigen Mann gefunden in dem Sinne, aber so (.) wenn ich jetz sage, ich, wenn ich sage, ich suche noch einen Mann, dann ist es nicht in erster Linie irgendwie chinesisch. [...] Also (...) ich finde sie persönlich ähm, immer so (.) s, sehr, sehr weich und [[Hm]] sehr, sehr zart. [[Hm]] Und dann hab ich’s Gefühl, ich komme da so als Bauerntrampel. ((lachen beide)) Ja. Und da, da möcht ich, ich möchte zu einem Mann hochschauen können und die [[Hm]] also äh, ich hab Respekt vor den Chinesen. So is das, das ha, hat damit ja nichts zu tun, sondern ich meine eher so (...) im Sinne von dem (...) ähm, (...) vom (.....) vom Körperbau. Und vielleicht auch, es is auch, die Sprache, die Sprachbarriere. Denn mir wär’s sehr wichtig, dass i, dass dieser Mann mit meiner Familie kommunizieren kann. Also(.) meine ich kann sicherlich mit ein, einer chinesischen Familie sprechen, aber da is halt auch grade beim Streiten find ich, is es wichtig (.) so. Wenn man eine Sprache hat, dann ist es viel leichter sich zu streiten als wenn man dann böse auf einen, aber man kann es nicht sofort ausdrücken. [...]“
5.2 Auswertung
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CH: „Und mit ’nem Deutschen in China leben? [...] Familie [...] hier haben, Kinder hier haben?“ Claudia: „Ja. Ja, obwohl ich das auch einschränken muss, dass ich ähm, dass also meine Kinder müssten wenn auf, an eine europäische Schule gehen (...) und die, naja, die Luftverhältnisse find ich jetz [[Hm]] auch nich ähm, grade (...) ansprechend. Also ähw, Peking is definitiv schlimmer als Nanjing. Aber (.....) dauerhaft ich glaube, ist das schon Gesundheit schädigend und da möchte ich meinen Kindern schon, (...) wenn ich dann mal habe, wenn ich sie dann ja, dann möchte ich denen das in Deutschland ermöglichen. (.....) Also die Natur, die Luft. [[Hm]] Ich glaube, das ist auch für Kinder was spannendes beide, in beiden Kulturen groß zu werden. Ähm, ich bin in (.) einer Kultur groß geworden, hab da meine Wurzeln. Und ich hatte auch so’ne Art Anker. [[Hm]] Ich seh das immer so. Das das is, was mir keiner nehmen kann, das is so irgendwie ’n Teil von mir, [[Hm]] aber es is, es ist nicht so, dass ich deswegen nicht offen bin oder so. [...] Ähm, aber für meine eigenen Kinder kann ich mir ähm, ich glaube, die ersten Jahre den, dann möcht ich ihnen diese, auch genau das geben, was meine Eltern mir gegeben haben. Nämlich diese Sicherheit. [[Hm]] Al, die Sicherheit und nicht Ortswechsel.“ [Claudia: 37–49] Dass sie mit ihren Kindern in China leben wollen würde, sobald sie ein gewisses Alter erreicht und somit ihre „Wurzeln“ entwickelt hätten, schließt Claudia jedoch nicht aus. Die genannten Aspekte beschränken sich nicht auf die weiblichen Gesprächsteilnehmer*innen, waren also nicht genderspezifisch, sondern wurden mehrheitlich auch von den männlichen Gesprächspartnern geteilt. Thomas: „Also ich könnt hier, glaub ich, nie mit Familie oder so. Is glaub ich, nich, nicht das Richtige. Ähm, aber für ’n Zeitabschnitt, ein, zwei Jahre, (...) ja. Könnt ich mir das schon vorstellen. Hm. [[Hm]] Aber dann müsst ich Chinesisch, also dann müsst ich wirklich anfangen Chinesisch zu lernen. Weil
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das stört, das is hier doch schon schwieriger als gedacht. Also die Sprachbarriere. Ich freu mich, wenn ich wieder nachhause komme und man mich, mal jeder versteht. Und nicht ständig Kommunikationsprobleme überall hab. Daran hat man sich fast schon wieder hier gewöhnt, aber eigentlich is es, sind, eigentlich is es doof. Also ich kenne zum Beispiel, ich kenn über Vater ’n Deutschen, der is seit (...) 10, 15 Jahren in China [[Hm]] und der hat ’ne Firma hier, also der hat auch viel Geld und so. Also der kommt gut zurecht, indem er praktisch Leute, sag ich ma, delegiert. Aber im Endeffekt kann er gar kein Chinesisch. [[Ja.]] Gar nich. Also Schande über ihn, dacht ich, nach 15 Jahren. [[Hm]] Und das kann ich mir gar nicht vorstellen. 15 Jahre mit so ’ner Sprachbarriere hier zu sein. Also das würd mich sehr (...) sehr, sehr stören. Da müsst ich Chinesisch lernen. Sonst, das könnt ich mir gar nicht vorstellen. [[Hm]] (...) Keine Ahnung, wie er das immer macht. Das würde mich ungeheuer nerven.“ [Thomas: 13b] Zum Vergleich dazu seien Thomas Überlegungen denjenigen von Damian gegenübergestellt, der allerdings auch die positiven Aspekte einer interkulturellen Kindheit bemerkt und kein Hindernis darin sieht, mit der Familie in China zu leben: Damian: „Wenn das ’n passendes Angebot ist, ’ne passende Stelle, die mir gefällt, dann hab ich überhaupt, und ich flexibel bin zu dem Zeitpunkt (...) ähm, dann hab ich kein Problem damit ähm, ’nen Abschnitt in meinem Leben hier zu wohnen (.) [[Hm]] oder zu leben. [...] Ich mein, man sagt ja immer am Anfang bevor man keine Familie hat, ähm, bevor man nicht gebunden ist, örtlich und so weiter dann, das is ja meistens nach ’m Studium. [[Hm]] Und ich mein, die meisten Firmen schicken ja auch jüngere Leute ähm, erst mal ins Ausland. Weil ja ich mein, Auslandserfahrung is wichtig. Und (.), genau. Und dann nach ’m Studium, nach ’m Master kann ich mir das schon vorstellen, dass ich vielleicht hier ’ne, in ’ner Firma anfang. Ich mein,
5.2 Auswertung
China. Genau. Aber (.) man kann ja auch aus Deutschland auch im Chinakontext arbeiten. Es muss ja nicht immer und dann auf Geschäftsreise vielleicht nach China kommt, kann man ja auch machen dann. Aber bin ich auf jeden Fall offen. [...] Das is schon (.) so, da hab ich nichts dagegen. Ja. Ich glaub auch, dass man hier, es gibt, hier gibt ’s genug auch internationale Schulen, also ich würde, glaub ich, nicht die Kinder auf die äh, allgemeine Schule schicken, hier das chinesische Schulsystem, aber so, da gibt ’s ja mittlerweile in China schon international schools in Shanghai, gibt ’s auch in Nanjing, von daher. Ja. Denk ich, steh ich da (...), dem nichts im Wege so. (.....)“ CH: „Da würdest du aber dann sagen, du könntest hier leben, wenn du wieder diese Ausländerblase hättest?“ Damian: „Nö. Ich ja nicht. ((lachen beide)) Ich arbeite ja mit Chinesen. Ähm. (.....) Ja, ich weiß nicht, ich hab halt mit drüber gesprochen. Sie sagt halt, sie findet das Schulsystem halt nicht so gut [[Hm]] und hört man ja auch viel drüber, dass es viel so [[Hm, hm]] auswendig lernen und so weiter is. Und (...), ja. Das würd ich dann, ich mein, man kann ja trotzdem, die, die Kinder ham ja trotzdem Kontakt zu Chinesen. Und die, also ich selbst, ich meine, Ausländerblase, ich, ich kann ja dann Chinesisch. Also (.) ich find das bloß immer bisschen blöd, wenn halt Leute hier arbeiten und die sprechen halt kein Chinesisch und die sind halt fünf Jahre hier und die sprechen halt gar nix. Die können halt mit niemanden reden. Die können auf der Straße nichts groß was bestellen. Das würd ich da, so würd das auf jeden Fall nicht machen. Ich würde dann schon versuchen, dass ich weiter mein Chinesisch so ausbauen kann, dass meine Kinder Chinesisch lernen, also das wär schon auf jeden Fall das Ziel. [...] Ich find, das is so ’n enormer Vorteil, wenn man zwei Muttersprachen hat und (.) von daher, wenn, dann würd ich meine Kinder schon dem aussetzen, in ’nem gewissen Teil. Wenn ich hier wär (.) mit Kindern. Ja. [[Hm]] (...)“ [Damian: 61–70]
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Damian spielt auf die so genannten Expatriates oder kurz auch Expats (frei übersetzt: die außerhalb der Heimat Lebenden) an. In der Regel handelt es sich dabei um Angestellte deutscher Firmen, die zeitlich befristet für meist 5 Jahre ins Ausland versandt werden. Dabei werden sie häufig von der ganzen Familie begleitet. Der Lebensstil kann als gehoben betrachtet werden. Sie leben in der Regel in Einfamilienhäusern, haben Fahrer und die Firmen zahlen das Schulgeld für die Internationale Schule. Meist befinden sich ihre Häuser in so genannten Kompounds, die wie Parks angelegt sind und von einem Sicherheitsdienst bewacht werden.8 Für Jakob erscheint dieser Lebensstil attraktiv, wobei es ihm egal wäre, wo auf der Erde diese „ExpatBubble“ ist. Jakob: „Ich hab mich jetz auch schon mit vielen Menschen unterhalten, die entweder hier arbeiten oder deren Lebensgefährte, Lebensgefährtin hier arbeitet und die eben mitgekommen sind oder aber, würd ich sofort machen. [[Hm]] Also (.) das is, das is ja (...) äh, wenn, wenn wir, ich für, für ’ne Firma arbeiten würde, die würden sagen: ,Hier wollen se für zwei, drei Jahre nach China gehen?‘ Würd ich sagen: ,Los geht ’s.‘ [...] Also (.) ohne, ohne, ohne Bedenken. Sofort. Als ich von, also ich mein, das is ja wunderbar. Die Wohnungen in denen die wohnen und die, die Gebiete in denen die leben. Das wird von der Firma bezahlt. Und ganz ehrlich diese Wohnung könnte genauso gut in jedem x-beliebigen anderen Ort der Erde stehen. Das is, also man, man ist äh, in seiner Wohnung je nach dem, wie sagt man das, Land außen rum mag, lässt man sich dann eben darauf ein. Aber wenn ich ’s gar nicht mag, dann mach ich die Tür zu und bin in meiner Wohnung, in meiner Blase, die überall auf der Welt sein könnte. Hab ich meine Ruhe, da muss ich nur morgens mit ’m Bus, mit ’m Fahrer zur Arbeit und wieder zurück. [[Hm]] (...) So eben (.) und das, dann hat man, also 8
In diese Arbeit sind Ergebnisse meiner 2010 den Abteilungen Interkulturelle Germanistik Göttingen und Germanistik Nanjing vorgelegten Masterarbeit „Interkulturelle Raumgestaltung – Die Neuvermessung des Kulturellen am Beispiel deutscher ExpatFrauen in Shanghai“ eingegangen.
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man hat schon mal garantiert ’n schönen Rückzugsort, die Bezahlung wird mit Sicherheit auch nicht schlecht sein. Also (.) warum nicht? Ich, ich kann mir, kann mir nicht vorstellen später in irgend ’ner Kleinstadt Wald-und-Wiesen-Anwalt zu werden. [[Hm]] (.....) Ne, dafür, also dafür hätt ich jetz auch nicht nach China gemusst. Das (...), ne. ((lacht))“ [Jakob: 32–34] Auch Sabine bevorzugt das anscheinend bequemere Leben als privilegierte Ausländerin in China und wird nach eigenen Aussagen im Anschluss an den Studienaufenthalt ebenso wie Anna in China bleiben, um dort einige Zeit Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten: Sabine: „Oder was als Nächstes, also (.), [[Hm]] also inzwischen, naja, ja, so, ich hab ’s jetz erst letzte Woche ’ner Freundin geschrieben, (...) der Grund, also der Hauptgrund jetz dann, dann zurück nach Deutschland zu gehen, sondern hierzubleiben sind vor allem die Arbeitsbedingungen. [[Hm]] Weil (...), ja. (.....) Was ich schon gesagt hab, man bekommt mehr Geld, man hat ’n viel besseren Lebensstandard (...) als Ausländer in China. Man wird bevorzugt ver, behandelt und (...) man kann ähm, (...) mh. (.....) Ich hab das Gefühl, man kann ’n Leben in, ja, es is nicht so hart, sein Leben zu verdienen. Ja. [[Hm]] Das is nich so schwierig. (...) [[Hm]] Und in Deutschland hatt ich immer das Gefühl, als ob ich da viel härter arbeiten muss und viel (...), mich sehr viel mehr beweisen muss äh, ich hab das Gefühl, es viel mehr Konkurrenz da is und (...) ähm. (.....) Un hier hab ich das Gefühl, es is ’n bisschen einfacher. Vor allem in der Arbeitswel, halt ja, gut als [[Hm]] Lehrer, als Deutschlehrer. Klar, da hab ich dann natürlich meine Muttersprache [[Hm]] mit der ich hier was anfangen kann. In Deutschland ((lacht)) ham das alle andern auch. ((lacht)) (.....) [Sabine: 80] Vera dagegen lehnt den Lebensstil der Expats ab: Vera: „Ja. Aber (...) ähm, mit ’nem gewissen Ende. Ich könnte mir nich vorstellen, dass ich weiß: ,Okay, ich fang da jetz
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an zu arbeiten, dann bleib ich hier.‘ Ich hab das in Shanghai festgestellt, (...) ähm, (...) da war ’n viele Ausländer, mit denen ich Kontakt hatte, weil ich oft auf Expats-Treffen war [[Hm]] und solche Sachen un (...), dann hat man mit sozusagen mit der High Society ((schmunzelt)) der äh, [[Hm]] Ausländer zusammengehangen. Ähm, (...) die heben alle total ab, find ich. (...) Das is echt extrem. Klar. Ich versteh ’s. Wenn man sein Kind auf ’ne ausländische Schule schickt. Das is, is leider so. Ich glaub, wenn ich Kinder hätte, würd ich die auch eher auf ’ne ausländische Schule schicken, weil ich glaube einfach, die ähm, die Bildung is besser un die Erziehung is besser. [[Hm]] Ähm, was schade is, weil dann bleibt leider die chinesische Sprache, glaub ich, ’n bisschen hinten dran. Ähm, (...) aber es wird sich dann sehr abgeschottet. Dann w, werden (...) Weihnachtsfeiern gemacht, dann wird das alles immer für sich gemacht. Ähm, es (...) gibt wenig Kontakt zur (...) Außenwelt, find ich, kann man das fast schon nennen. [[Hm]] Ähm, wenn man ’n Kind hat, klar, möchte man, dass das sicher zur Schule kommt. Dann wird halt nicht die U-Bahn oder der Bus genommen. Dann wird am Ar, Anfang vielleicht noch ’n Taxi genommen, aber dann is da irgendwann ma was passiert, weil da irgendwie die Geldbörse geklaut wurde oder sonst was. Dann wird dann ’n Fahrer engagiert, dann wird der Fahrer das Kind zur Schule bringen, das Kind von der Schule abholen, dann wird das dahin chauffiert un kommt kaum mit Ausländern in Kontakt. [[Hm]] Un das is, glaub ich auch so, dass viele Ausländer auch einfach (...) mehr Geld haben als Chinesen im Alltag (.) mh, un das auch ausleben wollen. Klar, wer möchte nich sei, Luxus leben, wenn man das haben kann. Das is ja irgendwo fast von jedermann so der Traum. Okay, wenn ich mir ’n Auto leisten kann, dann kauf ich mir ’n Auto, weil wenn das mich nich stört un. Aber ich glaub, man hebt auch einfach sehr schnell ab. [[Hm]] Dass man dann sehr schnell diesen Luxus verfällt. Dann, dann kauft man sich halt das Essen für (...) umgerechnet 30 Euro anstatt für zwei Euro Essen zu gehen, weil
5.2 Auswertung
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man sich ’s leisten kann un weil das für einen einfach ’n anderen Wert hat un (...) sich immer weiter abschottet. Un dann weiß ich nich, warum ich in diesem Land leben sollte, wenn ich dann (...) sowieso [[Hm]] in meinem kleinen Universum vor mich hin lebe. [[Hm]] Deswegen so (...), so maximal fünf Jahre könnt ich mir vorstellen, aber danach dann einfach das Land wechseln, damit man (...) die Liebe, die ich zu China manchma ((schmunzelt)) habe, machma habe, ((lacht)) dass ich das nich so verliere. Ja. (...) Also so ’ne Hassliebe manchma. ((schmunzelt)) Manchma.“ [Vera: 105] Während für Jakob der Lebensstil der Expatriates erstrebenswert erscheint, bedeutet er für Vera aufgrund der privilegierten Lebensweltgestaltung Isolation und mangelnde Teilhabe an der „chinesischen Lebenswelt“. Während des Studiums ist der multikulturelle Raum der Bubble akzeptabel, doch um am Leben teilzuhaben, anscheinend nicht (mehr) ausreichend. Während man bei den Sinolog*innen annehmen könnte, dass der berufliche Chinakontext vorbestimmt sei, fallen die Antworten der Sinolog*innen ähnlich wie bei den Student*innen anderer Fachbereiche aus: Sie begrenzen einen denkbaren Aufenthalt ebenfalls zeitlich und sprechen davon, irgendwann eine „Pause von China“ zu brauchen. Kai nennt seine Gründe: Kai: „Ähm. Ich sag ma so, (...) obwohl ich (...) in dem Land schon ganz gut klar komme. [[Hm]] Ich denke, für uns Europäer, [[Hm]] für uns Westler, ich mein, für jeden Nicht-Chinesen, es sei denn, er is Japaner, (...) wird China auf Dauer ziemlich anstrengend. Ich denke, zehn Jahre China is auf, am Stück (...) genug. [[Hm, hm]] Man muss dann, alo dann braucht man Pause von China denk ich, weil das Land is einfach, es ist ’ne andere Mentalität, (...) ’ne Kultur. (...) Man kann das eigentlich gar nich beschreiben, aber man merkt sofort alles.“ [Kai: 179] Mario erzählt, wie hinderlich es trotz sehr guter Chinesischkenntnisse ist, immer als Ausländer erkennbar zu sein:
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Mario: „Also ich könnte mir sowohl vorstellen, w, nich für immer, ich leb gerne in Deutschland, ich glaub, ich will auch in Deutschland sterben, aber so lang ich noch jung bin, könnt ich mir auch vorstellen fünf oder zehn Jahre in Taiwan äh, sowohl als auch im Festlandchina zu leben. Ja.“ CH: „Warum ist das trotzdem zeitlich begrenzt?“ Mario: „Mh. (...) Weil ich glaube, also so von meinem Gefühl her, von meinem subjektiven Auffassung äh, wär ich immer der Ausländer. Also selbst wenn ich flüssig Chinesisch spreche und ähm, so sympathisch mir die Kultur auch is, aber ich glaube, letztendlich äh, bleibt man irgendwo Deutscher und bleibt hier irgendwo der Ausländer. Ich glaube, man wird, würde nie 100 Prozent äh, Teil dieser mh, Gesellschaft dann. Man wär immer irgendwo ’n Stück außen vor, glaub ich. Man will, selbst wenn man ’ne Chinesin heiraten würde und Kinder hätte, aber man wär immer noch so der Laowai. Also ich glaube, dass (...) ja, ich glaube, dass is ’n bisschen schwierig so psychologisch, ich glaube, (...) in deinem Heimatland oder zumindest in Europa äk, würde man sich dann doch eher so als Teil der Gemeinschaft fühlen so und ich glaube, ’ne Zeit lang, ist das äh, cool und okay so. Aber ich glaub, irgendwann, für mich zumindest so, würd ich mich dann wahrscheinlich eher wohler fühlen (...) in Deutschland. Ja.“ [Mario: 29–32] Für ihn wäre es keine Überwindung, bei einem guten Jobangebot ungefähr fünf Jahre in China zu leben. Kulturelle Schwierigkeiten seien dabei für ihn eher eine Herausforderung: Mario: „Also (.) [[Hm]] für mich auch irgendwo ’ne Herausforderung selber noch mehr chinesisch zu werden. Also (.) ich würde eben auch gerne, irgendwie noch äh, noch mehr sag ich ma, mich selber auch anpassen und zu versuchen, zu ver, äh, so vielleicht jetz nicht nur zu fordern von den Chinesen immer, also ich bin ja in ihrem Land. Ich will jetz gar nich fordern,
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dass die sich jetz irgendwie unserer Kultur oder unserem (...) Denkart anpassen, sondern ich will selber eigentlich versuchen mehr chinesisch zu denken. Das für mich irgendwie so ’n Challenge und, [[Hm]] un (.) deswegen das ’ne Herausforderung und ähm, (...) der ich mich aber auch stellen würde.“ [Mario: 64] Bei Mario ist der Wunsch nach Integration seine persönliche Challenge, für Inga, die Chinesisch als Fremdsprache studiert, ist die wahrgenommene Verschlossenheit und Distanz der chinesischen Gesellschaft das Hindernis, sich längere Zeit in China wohlfühlen zu können: Inga: „Ähm, (...) dafür (...) ähm, finde ich (.....) mh, (...) ist die Gesellschaft einfach zu (...) elitär. Oder zu ähm, (.....). Ich fi, fi, ich finde, es ein bisschen (...) ähm, verschlossen irgendwie. Also man kommt da nicht so richtig rein. Hab ich das Gefühl. Wenn ich als Ausländer in China leben würde (.) ähm, is es halt das Problem, man wird halt immer und überall schon alleine wegen seines Äußeren sofort als Ausländer erkannt. [[Hm]] Und dann wird mit dir auch entsprechend anders umgegangen. Und ich hab das Gefühl, dass wenn man (...) ähm, zum Beispiel als Franzose nach Deutschland kommt und dann da drei, vier Jahre lebt, kann man sich relativ gut integrieren. [[Hm]] Aber (...) wenn man als Ausländer nach China kommt, dann wird man schon von dem, den, der Mehrzahl der Chinesen einfach als etwas äh, besonders, etwas völlig Fremdartiges betrachtet. [[Hm]] Und dementsprechend wird mit einem auch anders umgegangen. Das merkt man schon. (.....) Und von daher ähm, könnt, glaub ich wirklich, mich hier nicht auf Dauer wohlfühlen. [[Hm]] Weil ich immer das Gefühl hätte, also ich würd nicht komplett dazugehören. [[Hm]] (.....) Ich mein,((lacht) das is halt auch, wenn ich mir die Haare schwarz färben würde, also es würd daran, glaub ich, auch nichts ändern, ((lacht)) weil ähm, (.....) also es ist einfach nur so subjektives Gefühl, dass man halt (...) einfach nicht ähm, es ist (...) sehr schwer ei, da
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einzufließen. Also ich glaube, wenn man ’n Chinesen vielleicht heiraten würde, ((lacht)) in die Familie reingeht und mit denen allen so zu tun hat, vielleicht ist es dann a, wär ’s dann anders, aber (.) das is, das ist ((lacht)) nicht mein Ziel.“ [Inga: 82]
Die Bedeutung von Natur und Gesundheit Während für einige Gesprächspartner*innen zeitlich absehbare China-Phasen vorstellbar sind – denn immerhin stammt die Anfangsmotivation für einen Auslandsaufenthalt vor allem daher, sich für den globalen Arbeitsmarkt zu qualifizieren – haben andere für sich Deutschland aus der Ferne neu entdeckt, wie zum Beispiel die Asiawissenschaftlerin Janine: Janine: „Ähm, (...) ich (...), ich find mein eigenes Land viel schöner seit ich hier bin. ((lacht)) Okay. Ich hab eigentlich, glaub ich, durch China so ’n bisschen Heimatliebe gefunden. Oder noch stärker gefunden. (.....) Weil (...) ja, ich, ich find jetz, dass Deutschland ein sehr schönes Land is. ((lacht)) Es is sehr ordentlich. Es is (...) eigentlich ziemlich ruhig, ((lacht)) sehr organisiert. (...) Aber ich werd das chinesische Essen vermissten. ((lacht)) (.....) [[Hm]] Aber ich glaub, in Deutschland fühl ich auch sicherer, was Nahrungsmittel angeht. Es (...), eigentlich Widerspruch, oder? Ich hab eben gesagt, ich find das chinesische Essen toll, aber dann gibt ’s vieles, wo ich denke, (...) ich will wissen, wie ’s gemacht wird (...) oder ähm.“ [Janine: 65] Eine große Rolle für den neuen Blickwinkel auf Deutschland spielen dabei zum einen die Sehnsucht nach Natur, aber auch gesundheitliche Bedenken: Anett: „Im Moment noch alles ganz unklar. (...) Ja. Ich weiß nicht, ob ich in China leben könnte für ’ne ganz lange Zeit. [[Hm]] Vielleicht für ’n paar Jahre sicherlich, aber (.) was ich, was ich gemerkt hab, also ich hab seit ich in China bin, ich bin einfach ständig krank und das gefällt mir nicht. Also ich hab auch jetz, ich hab in China, ich hab in Deutschland hab ich ’ne
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ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz, ganz leichte Sonnenallergie und in China, ich kann nicht raus ohne [[Hm]] meine Arme zu bedecken und also ich hab ganz komische Reaktionen oder ich hab auch ständig Erkältungen oder irgendwas anderes ((schmunzelt)) und (.) mir macht das ’n bisschen Angst. [[Hm]] Also (.) das ist auch das, also ich (.) bin eigentlich relativ traurig, weil mein Chinajahr bald vorbei ist, aber das is nicht das einzige, so worauf ich mich wirklich freue, dass ich sagen kann, ähm, ich kann mich körperlich wieder total erholen. Also ich hatt das einmal letztes Jahr im Dez, im Dezember war ich so krank, dass ich auch nich zu ’ner, ich konnt nichts mehr bei mir behalten. Ich hab nur noch gebrochen und ähm, ich hab dann irgendwann beschlossen, dass ich das Geld, was ich noch hab, benutze und für einen Monat in die Türkei fliege, was ich dann gemacht hab. Und nach zwei Wochen hab ich einfach gemerkt, dass mein Körper sich vollständig erholt hatte, was es drei Monate in China nicht geschafft hatte. [[Hm]] Das hat mich, hat mir ’n bisschen zu denken gegeben.“ [Anett: 102] Auch bei den Überlegungen, eventuell später einmal mit der Familie nach China zu gehen, finden gesundheitliche Bedenken trotz hoher Motivation ihren Niederschlag: Nadja: „Ich würd nich (.) gleich an einen, an einer Stelle in China leben, vielleicht nicht länger als drei Jahre. [[Hm]] Für mich ist die Luftverschmutzung richtig, richtig schlimm. [[Hm]] Also das geht für mich gar nicht. Ich mein, dann wenn man mal Kinder hat oder so, dann muss man echt gucken. Aber vor, auch der, in der Hinsicht kann ich mir das schon sehr gut, also is das für mich schon sehr wichtig.“ [Nadja: 50] Neben dem Lärm, dem Verkehr und dem Klima ist die Luftverschmutzung Ursache bei vielen, sich einen erneuten längeren Chinaaufenthalt gut zu überlegen (vgl. Jan: 33, 107; Nadja: 50; Claudia: 49; Janine: 62; Patrick:
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56; Kai: 50; Clara: 202; Damian: 17: Sandra: 101). Die körperlichen Erfahrungen haben auch bei der einen oder dem anderen dazu geführt, die vorher existierende Bereitschaft zu hinterfragen: Jan: „Zum jetzigen, zum jetzigen Standpunkt äh, (.....) ((lacht)). Ja, aber das is ja auch dem Punkt dann verschuldet, dass einfach die letzten Wochen, die letzte Woche ähm, [[Hm]] einfach (.) ja, luftmäßig dermaßen schlecht is. Ich mach einfach sehr gerne Sport draußen. [[Hm]] Und ähm, hab jetz hier von meinem Lifestyle im Gegensatz zu Deutschland schon auch sehr viel (...) äh, Kompromisse machen müssen [[Hm]] und auch ja (.....). [...] Wenn du mich vielleicht drei Wochen später gefragt hättest, dann wär das nicht mehr so akut gewesen. [...] Also bevor ich nach China gekommen bin, dacht ich mir so zwei, drei Jahre [[Hm]] wär sicher kein Problem. (.....) Mittlerweile denk ich mir, ich schau jetz erstmal, wie ich nach dem Jahr ((unverständlich)) denk.“ [Jan: 107–110] Wie Jan konnte auch Stefanie sich zuerst vorstellen, in China zu arbeiten und zu leben, was sich im Verlauf ihres Aufenthaltes jedoch wandelte: Stefanie: „Ähm. (...) Ja, das Ganze, einfach die Tatsache, dass ich nicht hier leben könnte. Dass das jetz so, so konkret sagen kann. Das hätt ich nich erwartet, hätte gedacht, ähm, das ist halt anders, aber es is schon so, dass man doch gut, also dass ich auch gut damit klar kommen könnte für längere Zeit. Aber das weiß ich jetz, dass ich hier bestimmt nich (..) zwei Jahre bleiben könnte, also ’n halbes Jahr is völlig in Ordnung [Klopfen an der Tür], das is ganz spannend und so, aber mehr, (..) ja, [nochmaliges Klopfen] wär dann auch nich. (...)“ [Stefanie: 73a] Kurz vor der Abreise bestärkt sie noch einmal, dass sie grundsätzlich für sich festgestellt hat, nicht in China leben zu können, obwohl sie froh ist über die gewonnenen Erfahrungen.
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Stefanie: „Mein Resümee is, dass ich froh bin das gemacht zu haben. Wo man sehr viele und neue Eindrücke bekommt. Unglaublich anders is. Ähm, aber ich weiß es halt dass ich auch hier auf keinen Fall leben könnte für länger. Grad am Ende hab ich jetz vor allen Dingen noch krass gemerkt. Also auch (..) grade de, allein deswegen würde es mir schon reichen, dass ich hier nich für lange leben würde. Auf frische Luft freut. Is echt so, also hatt ich vorher nie gedacht irgendwie. [...] Also ich hab ’n (...) aber jetz grade im letzten Monat wie’s halt, war’s halt ’n bisschen extrem schlimm und (...) [[Hm]] naja, das Punkt und ja. Es is, es sind zu viele Punkte für mich, die für mich negativ sind, um hier zu leben. Aber ich find’s gut, dass ich’s gemacht habe. Ja. Das halbe Jahr gewesen bin.“ [Stefanie: 9b] Sie möchte nicht negativ sein, aber verweist auf andere Deutsche, denen es ähnlich ergehe (Stefanie: 110a–112a). Thomas bestätigt diese Entwicklung bei sich: Thomas: „Ich könnt’s mir schon vorstellen. (...) Ähm, ich könnt’s mir schon vorstellen, dann später auch mit, was mit China zu tun zu haben. Aber ich könnt mir allerdings nicht, da wurd ich hier vielleicht auch ’n bisschen desillusioniert, ich könnt mir nicht vorstellen hier (...) sehr lange zu leben. [...] Also im Endeffekt hab ich gedacht, so vorher, grade weil ich auch, ich bin immer gern gereist, bin immer viel rumgekommen und ich hab mir eigentlich gedacht, ich kann überall auf der Welt leben, so ungefähr. Auch so zwei, drei Jahr, kein Ding, kein Thema. Aber wenn man wirklich ähm, also ich war nie diese fünf Monate wirklich am Stück, also zwei oder drei Monate mal im Ausland maximal. Aber, wenn man wirklich diese 5 Monate hier is, und hier is es ja ’n totaler Gegenentwurf, is mir doch aufgefallen, dass mir einige Sachen fehlen. Die ähm, (...) die ich eigentlich dann, wo ich nie in Deutschland gemerkt hab, dass sie mir fehlen.“ [Thomas: 30a–32a]
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Alle Gesprächspartner*innen sind sehr auslandsaffin und planen über kurz oder lang weitere Auslandsaufenthalte im Studium und für das spätere Berufsleben. Während es einige Student*innen bevorzugen, unterschiedliche Länder kennenzulernen, fokussieren sich andere auf China und investieren in den aufwendigen Spracherwerb, was nicht nur auf die Sinolog*innen zutrifft. Obwohl vor allem gesundheitliche Bedenken und Überlegungen zum Thema Zeit existieren – nämlich wann im Leben und wie lange man noch einmal in China leben möchte –, ist ein weiterer Aufenthalt für die meisten zumindest auf begrenzte Zeit vorstellbar. Die genannten Zeitfenster fallen jedoch zumeist kleiner aus als bei einer beruflichen Auslandsentsendung, die in der Regel bei fünf Jahren liegt. Am liebsten würden die Student*innen zwischen Deutschland und China pendeln (vgl. Manuel: 171), wobei die Hauptresidenz plus Familie im Idealfall dann in Deutschland verortet wäre: Claudia: „Für mich persönlich is China ähm, (.....) so immer nur ein Zwischenstopp. Also (.) [[Hm]] es is nich, ich glaube schon, dass Europa meine Heimat is, also ob, (...) Deutschland einerseits, aber Eur, Europa meh als, als Gesamtes und dann China eher so der Kontrast darstellt und deswegen ähm, de. [...] Es ist so ’n Zwiespalt, würde ich das mal so sagen, wenn ich da ähm, es ist so dieses: Ja, ich will hier sein, ich will hier was erleben. Aber dann wenn’s vorbei ist, dann ist’s auch gut. Dann is mein, mein Fernweh oder mein, mein Aben, meine Abenteuerlust gesättigt. [[Hm]] (.....) Dann bin ich zufrieden und dann kann ich wieder den Alltag in Deutschland, in Deutschland genießen. Obwohl ich dann gleichzeitig wieder sagen muss, als ich dann in Deutschland war ’ne längere Zeit, da hab dann auch gesacht: ,Ja, es reicht auch jetzt hier.‘ Also das ist mir, zu einseitig.“ [Claudia: 18] [...] „Ich kann rausgehen hier und die Welt entdecken, China entdecken mh, meinen Horizont erweitern, aber ich kann auch zurückkommen und hab da (...) Wurzeln. [[Hm, hm]] Und das kann, das ähm, wird glaub ich das, was immer wieder, immer
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wieder hochkommt. Deshalb is es dieses, auch immer dieses Hin und Her, dieses ambivalente Gefühl. China is toll, aber ich möchte auch wieder nach Deutschland und Deutschland is toll, aber ich möcht auch wieder nach China. Das ist irgendwie so dieses Hin und Her, dieses Weltenwandern so zu sagen. (.....)“ [Claudia: 35] Der von Claudia benannte Begriff des „Weltenwanderns“ beschreibt die mobile Einstellung der Student*innen insgesamt. Es geht primär nicht um Integration und die Anpassung an eine spezifische „Kultur“, sondern um die Konstruktion von Lebenswelt, die sich durch transnationale Praktiken aufspannt. Die Akteur*innen streben einen mobilen, transnationalen oder interkulturell offenen Lebensstil an. Die Fragen nach Integration und Teilhabe, die einleitend anhand des Zitats „Wer isoliert bleibt, studiert auch nicht erfolgreich“ (Fritsche 2011: 4f.) thematisiert wurden, müssten allerdings neu gedacht werden, wie auch Kai anmerkt: Kai: „Was ich meine is, Integration äh, was is das? Das is schwieriges Wort. Integrier wer, wer integriert sich wo rein? [[Hm]] Oder, dann is auch die Frage, wer muss sich integrieren und wer muss sich nich integrieren? [[Hm]] Oder mussen, müssen sich beide irgendwie bisschen integrieren?“ [Kai: 168] Wie eingangs erwähnt, stellt sich im vorliegenden Zusammenhang die Frage nach dem Stellenwert von Integration für eine Studierendenbiographie, die von einem kosmopolitischen Selbstverständnis geprägt ist. Daher soll abschließend die Bedeutung von Integration, Interaktion und Inklusion im interkulturellen Hochschulraum diskutiert und die Ergebnisse auf praktischer Ebene zusammengefasst werden.
6 Fazit 6.1 Integration – Interaktion – Inklusion In Wissenschaft und Populärkultur kursieren in Bezug auf Migration und temporale Migration die unterschiedlichsten Leit- und Streitbegriffe (vgl. Kirloskar-Steinbach u.a. 2012). Zu Beginn der hier vorliegenden Arbeit stand der Begriff der Integration als erfolgsfördernder Faktor für ein Auslandsstudium (vgl. Thimme 2011: 16f.) im Raum. Dieser wurde jedoch zugleich kritisch hinterfragt, denn es stellt sich die Frage, in wie weit das Konzept der Integration für die temporale Migration während eines Auslandsaufenthaltes von Student*innen praktikabel sein soll. Integration wird in der Praxis oft mit Assimilation gleichgesetzt, also der Erwartung an eine dauerhaften Anpassung der „Anderen“ an eine scheinbar homogene kulturelle Lebenswelt, die in der Regel durch nationalstaatliche Grenzen definiert wird (vgl. Hess/ Moser 2009: 12f.). Die Realität der Student*innen gibt dies weder zeitlich oder räumlich noch aufgrund der Sprachkompetenzen und des Kulturwissens her, wodurch die Erwartung an Integration nicht wirklichkeitsnah ist und sich in den Diskurs der Kritik am Integrationsparadigma einordnen lässt (vgl. Geisen 2010). Auf der Suche nach neuen Begriffen, versteht Esser, bei seiner Frage nach alternativen Konzepten, die Sozial-Integration als Inklusion individueller Akteur*innen in ein bereits bestehendes System (vgl. Esser 2004: 46). Ebenso wie Ludger Pries’ Transnationalisierung (vgl. Pries 2008; Pries 2010) bezieht sich auch Essers Sozial-Integration jedoch zunächst auf langfristige und Generationen übergreifende Vergesellschaftung, wie sie aus bereits genannten Gründen nicht der Wirklichkeit deutscher Student*innen in China entspricht. Die Student*innen gestalten sich eine Lebenswelt, die gleichzeitig fragil und flexibel ist. Voll von kosmopolitischem Selbstverständnis konstruieren sie gemeinsam mit den anderen internationalen Student*innen den Ethnospace der Bubble, eine Multi-Kulti-Insel innerhalb der vermeintlich chinesischen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2_6
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Homogenität. Diese von den Akteur*innen getragene Dynamik eines „Dazwischen (-mobil)- Seins“ erkennt der Ansatz der Transnationalisierung an, für den Ludger Pries’ „Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften“ (vgl. Pries 2008) bekannt sind. Mehr als um Integration in eine vermeintlich homogene, auf Nation beruhende Sozialgemeinschaft, geht es bei der Gestaltung von Lebenswelt im fremdkulturellen Kontext um die Frage der sozialen Teilhabe. Evanoff schlägt vor, das Konzept von Integration mit einer konstruktivistischen Perspektive zu verknüpfen, was es ermögliche, eine fehlende gemeinsame Basis durch interkulturellen Dialog zu konstruieren (vgl. Evanoff 2012: 143). Aus den im Rahmen der Datenerhebung geführten Gesprächen wurde im Forschungsverlauf die Kernkategorie „Interaktion“ herausgearbeitet, denn sie ist Grundlage für jede Form von Dialog ohne Interaktion kann Teilhabe an der vorgeschlagenen gemeinsamen Gestaltung einer Basis nicht stattfinden. Im Verlauf der Forschung wurde deutlich, dass wie im Modell der Interaktionsmatrix dargestellt, Interaktion somit die Kernkategorie bei der Konstruktion von Lebenswelt sowie für den Erfahrungsprozess ist und damit das Ideal des Verstehens als Kern des Kompetenzerwerbs. Es wurde aufgezeigt, dass unterschiedliche Faktoren Interaktion fördern oder hemmen können (z.B räumliche Trennung, eingeschränkter Sozialkontakt oder mangelndes Sprach- bzw. Kulturwissen). Ein erfolgversprechender Ansatz für die Praxis ist der Begriff der Inklusion. Inklusion ist kein neues Etikett für Integration, sondern die Gestaltung und Dynamisierung von Lebenswelt anhand der jeweiligen Voraussetzungen der „Anderen“. „Integration setzt auf Eingliederung, erwartet Angleichung und Anpassung. Inklusion geht von Zugehörigkeit aller aus und zwar von Anfang an. Integration formuliert eine Erwartung der Gesellschaft an Zugewanderte, fordert ein aktives Tun, versteht Eingliederung als eine ,Bringschuld‘ der Gesellschaft. Insoweit eröffnet Integration zwar die Möglichkeit der Teilhabe an den gesellschaftlichen Funktionssystemen, aber eher als abstrakte Teilhabechance. Inklusion dagegen setzt auf die konkrete Ermöglichung von Teilnahme, indem sie etwa durch Empowerment Teilnahmefähigkeit ermöglicht“ (Schröer 2013: 251).
6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen für den Studienaufenthalt im Ausland
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Die Inklusion internationaler Student*innen erfolgt „(...) unter Sonderbedingungen, die das Faktum seiner Fremdheit zugleich präsenthalten“ (Stichweh 1997: 49) und einen zeitnahen Wechsel in die eigenkulturelle Lebenswelt nicht vergessen lassen. Im vorliegenden Setting fehlt zwar die Dauerhaftigkeit, allerdings ist die Bubble laut Mau als Fragment des globalen Campus’ eine individualisierte transkulturelle Vergesellschaftung (vgl. Mau 2007: 137f.). Mau konzentriert sich im Gegensatz zu Pries nicht auf soziale Räume, sondern auf soziale Praktiken (vgl. Mau 2007: 53ff.). Das Konzept der Interkulturellen Germanistik beschreibt seine Zielvorgabe und zugleich die Voraussetzung „[...] eines transkulturellen Miteinanderverstehens im Sinne eines ,Gemeinschaftshandelns‘. [. . . ] Gemeint ist vielmehr die einem Orchesterspiel vergleichbare Praxis eines Zusammenspiels, in das jeder eine Mithörkompetenz einbringt, in dem jeder seinen Part so gut spielt, dass sich die anderen Mitspieler auf ihn verlassen können und sich alle als konstitutiven Teil des Ganzen begreifen, das sie durch ihr Handeln verwirklichen. Voraussetzung ist die Anerkennung der konstitutiven Standards des Orchesters – die Kulturen und ihre Leistungen bilden die Partituren; die Zusammensetzung der Orchester und ihre Dirigenten können wechseln“ (Wierlacher 2003: 22).
Der Paradigmenwechsel zur Interaktionsförderung als Teil der Inklusion bietet sich im spezifischen Umfeld von Universitäten besonders an, denn sie bieten ein Subsystem, in dem Interaktion praktisch gefördert und somit Inklusion gelebt werden kann. Die jeweiligen den Kategorien zugeordneten Rahmenbegriffe und ihre praktische Bedeutung für den Studienaufenthalt im fremdkulturellen Kontext werden im Folgenden noch einmal zusammenfassend dargestellt, denn sie sind die Ebenen der Interaktionsmatrix, auf denen Interaktion und kooperative Teilhabe an einer Lebenswelt konkret gefördert werden kann. 6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen für den Studienaufenthalt im Ausland Die deutschen Student*innen bewerten ihren Studienaufenthalt in Nanjing durchweg als positive Erfahrung. Selbst wenn sich bei einigen herausge-
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6 Fazit
stellt hat, dass China im Speziellen keine weitere Bedeutung für die zukünftige Berufsbiographie haben wird, sind alle davon überzeugt, dass die Erfahrung für sie sowohl auf struktureller Ebene im Lebenslauf als auch auf persönlicher Ebene von Vorteil sein wird. Diese Erwartung speist sich wie bereits aufgezeigt unter anderem durch das Bild Chinas als einer wirtschaftlichen Weltmacht und als exotischer Kontrast zu Deutschland, Europa und „dem Westen“, dessen Erlebnis für das so genannte „Weltenwandern“ schult. Trotz hoher Motivation haben viele Akteur*innen zu Anfang weniger konkrete Vorstellungen davon, was sie von ihrem Aufenthalt in China erwarten und welchen Mehrwert er für ihre akademische und berufliche Zukunft haben soll. Eine Ausnahme bilden dabei naturgemäß die Sinolog*innen, denn ihre Hauptmotivation ist in der Regel die Verbesserung der Sprachkenntnisse, die sie so in Deutschland nicht erreichen können. Auch Student*innen aus Doppelmasterprogrammen, in denen der Aufenthalt kooperativ organisiert und im Curriculum festgeschrieben ist, verfolgen konkrete, studienrelevante Pläne. Student*innen aus anderen Studiengängen hingegen konnten aus Mangel an Fachkursen auf Englisch häufig „nur“ die obligatorischen Chinesischkurse besuchen. So wurde der Chinaaufenthalt bei programmlosen Student*innen als eine Art „Sabbatical“ wahrgenommen und gelebt. Die Fördermöglichkeiten wurden gerne ausgeschöpft, um sich kosmopolitisch zu bilden. Dabei wird aber auch deutlich, dass China für sie mehr eine Variable war und auch andere „Exoten“ außerhalb Europas, wie Indien, Korea oder Japan für einen Auslandsaufenthalt in der engeren Auswahl waren und auch zukünftig sind. Der Begriff der Nachhaltigkeit bezieht sich also nicht auf die Rolle Chinas für die individuelle Berufsbiographie, sondern auf die Bedeutung der spezifischen Auslandserfahrung China für das kosmopolitische Selbst.
Die Bedeutung von Zeit Student*innen im Auslandsstudium befinden sich für eine zuvor festgelegte Zeitspanne in einer anderen „Kultur“ und stellen einen Sonderfall der Migration dar. Zeit spielt im für diese Arbeit vorliegenden Setting für die Konstruktion von Lebenswelt durch die Akteur*innen auf mehren Ebenen eine Rolle. Es zeigte sich, dass die Akteur*innen spürbare Phasen von An-
6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen
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kunft, Aufenthalt und Abreise durchlebten, wobei das Heimatland durch die Präsenz der Abreise allgegenwärtig war. Auffällig war zudem, dass die Student*innen, die zum wiederholten Male in China waren, ihren aktuellen Aufenthalt als fruchtbarer bewertet haben als frühere Aufenthalte (vgl. Manuel 72; 86). Auch wenn einige erleichtert waren, dass ihr Auslandsaufenthalt vorbei war, bewerteten die Gesprächspartner*innen ein Zeitfenster von einem Semester als zu kurz für „die Erfahrung China“. Es ergab sich darüber hinaus das Bild, dass die ständige Fluktuation der ausländischen Student*innen auf Seiten der chinesischen Bevölkerung um das Quartier Gulou-Campus insgesamt zu Indifferenz führt und auch die chinesischen Student*innen sozial und arbeitstechnisch anderweitig als die internationalen Student*innen während ihres Sondersemesters eingebunden sind. Das gilt auch für die deutschen Student*innen, die im festgelegten Zeitfenster ein hohes Leistungspensum zu erfüllen haben, eine Fremdsprache lernen, Studienleistungen erbringen und möglichst viele Erfahrungen sammeln wollen. Es zeigte sich, dass sich in der vorgegebenen Zeitspanne der Kontakt zwischen ausländischen und chinesischen Student*innen sowie zwischen ausländischen Studentinnen und einheimischer Bevölkerung insgesamt kaum oder nur auf funktionale Kontakte der Alltagsbewältigung beschränkte. Eine intensivere Kontaktaufnahme oder gar Freundschaften ließen sich nur selten feststellen.
Die Bedeutung von (Infra-) Struktur Die deutschen Student*innen in Nanjing sind in der Regel durch ein Stipendium an ein bestimmtes Programm in China gebunden. Die finanzielle Situation ist aufgrund von Stipendien und niedrigen Lebenshaltungskosten in der Regel besser als in Deutschland und die Student*innen befinden sich in einer ökonomisch privilegierten Situation. Die Strukturen ermöglichen es ihnen, Stadt und Land zu erkunden, Umgebung und Menschen zu beobachten, Lebenswelten zu erfahren und sich selbst im fremdkulturellen Kontext auszuprobieren. Das Auslandsjahr ist einerseits eine Auszeit vom normalen Lernalltag und gleichzeitig allumfassend. Im Gegensatz zu Migrant*innen in einer prekären Lebenssituation unterliegen die deutschen Student*innen keinem Legitimationszwang. Sie sind anerkannt und solvente Kund*innen
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6 Fazit
und Mieter*innen. Einige Vermieter*innen vermieten gerne an liquide Ausländer*innen, selbst wenn sie relativ kurzfristig eine Wohnung bewohnen möchten. Die Räumlichkeiten sind häufig in einem besserem Zustand als die der chinesischen Mehrheit. Bevor chinesische Nachbar*innen sich überhaupt individuell mit der studierenden Person auseinandersetzen könnten, ist der Auslandsaufenthalt schon wieder vorbei und ein Wechsel hat stattgefunden. Die Ressource der zahlungskräftigen Kundschaft bleibt erhalten und das Verhältnis zu den ausländischen Student*innen bleibt von Indifferenz geprägt. Das Interesse an den Laowai ist also fast ausschließlich funktional und besitzt keine emotionale Ebene, denn häufig wird auch davon ausgegangen, dass nur kaum oder geringe Chinesischkenntnisse vorhanden sind. Neben der Wohnsituation bleiben daher auch andere Kontakte zur einheimischen Bevölkerung lediglich marginal. Für die deutschen Student*innen findet über den funktionalen Zugang als Kunde*in hinaus nur wenig Interaktion mit chinesischen Nicht-Akademiker*innen statt. Strukturell betrachtet befinden sich die Akteur*innen teilweise in einer Ausgangssituation, die eher an solche von Touristen erinnert – als wären sie „nur“ auf der Durchreise und nicht für längere Zeit im Land. Sie besuchen Restaurants und Ausflugsziele, lernen Akademiker*innen, nicht aber „Standard“Chines*innen und deren Alltag kennen. Wie in der Analyse herausgearbeitet wurde, haben die Student*innen jedoch trotz aller Anfangsmotivation Schwierigkeiten, Interaktionen mit den chinesischen Kommiliton*innen einzugehen oder zu vertiefen und sich über die Beobachter*innenrolle hinaus zu entwickeln. Die Student*innen finden um den Gulou-Campus herum eine spezielle, nahezu künstliche Umgebung vor, die westlich geprägt ist und ungleich der Lebenswelt der chinesischen Student*innen. Idealerweise profitieren Student*innen im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes jedoch vor allem vom sozialen Kontext mit reduzierter Interaktion, es kann jedoch nur wenig Kompetenzentwicklung stattfinden und auch das weitere Chinainteresse kann nachhaltig beschädigt werden.
Die Bedeutung von Raumgestaltung für Interaktion Die Auswertung der Interviews zeigt, dass die interkulturelle Teilhabe der Akteur*innen trotz durchweg positiver Resümees zur Auslandserfahrung
6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen
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unvollständig erscheint. Es findet eine spezifische Interaktion statt, die aufgrund räumlicher und inhaltlicher Distanz durch den interkulturellen Kontext primär beobachtend ist. Diese spezifische Interaktion verläuft nicht immer gemeinsam und kommunikativ von Individuum zu Individuum, sondern durch beobachtende Akteur*innen mit der fremdkulturellen Umgebung, ohne einen wechselseitigen gemeinsamen produktiven Austausch. Die Akteur*innen gestalten ihre aktuelle Lebenswelt durch die Konstruktion von Handlungs- und Sinnzuschreibungen alleine oder mit Gleichgesinnten. Lebenswelt ist Blickwinkel konstruiert und gemeinschaftlich geteilte Blickwinkel gestalten Lebenswelt. Diesen gemeinschaftlich geteilten Blickwinkel finden die deutschen Student*innen vorwiegend in der oben beschriebenen Bubble um den Gulou-Campus herum und somit den auf die internationalen Student*innen ausgerichteten Strukturen. Dort befindet sich nicht nur das Ausländer*innenwohnheim, sondern auch internationale Gastronomie oder eine deutsche Bäckerei. Die Lebenswelt der Gesprächspartner*innen ist nicht nur ein konkreter, sondern auch ein abstrakter Raum, der durch in Interaktionen hergestellte Erfahrungen konstruiert wird. Die Art der Interaktion, ganz gleich, ob positives, beziehungsweise sinnhaftes oder negatives Erlebnis, hat Auswirkungen darauf, welche konkreten Orte innerhalb der abstrakten Lebenswelt regelmäßig frequentiert oder gemieden werden und damit darauf, welche weiteren Erfahrungen weitere Konstruktionen hervorbringen. Es existiert eine Grenze, eine Barriere, die nicht unbedingt mit den Sprachkenntnissen zu tun haben muss: China scheint sich nach jahrelanger Abgrenzung dem Westen gegenüber selbst genug zu sein, was beispielsweise an der begrifflichen Dichotomie der Zh¯ongguórén ( - Chines*innen) und der lˇaowài ( - Ausländer*innen) zu bemerken ist. Diese sprachlich manifestierte Erklärung von Differenz wird als gegeben angesehen, weshalb Anpassung in der Regel nicht erwartet wird. Gleichzeitig ist eine phänotypische Differenz vorhanden, die immer wieder durch Fingerzeig der Chines*innen oder die Bitte um Fotos mit den ausländischen (überwiegend weißen) Student*innen deutlich gemacht wird. Als lˇaowài erkennbar zu sein, macht ein vollständiges Eintauchen (auf Zeit) von vorneherein unmöglich. Diese Art der Interaktion fördert die Erfahrung, nicht wirklich akzeptiert zu sein, und führt nach den ersten idealisierenden Bemühungen zu einer realistischeren Perspektive darauf, was im vorgege-
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benen Rahmen machbar ist. Dies bezieht sich sowohl auf den Spracherwerb, als auch auf den Aufbau von Freundschaften und Netzwerken. Obwohl die deutschen Student*innen aufgrund ihres kosmopolitischen Selbstbildes und/ oder vorheriger Auslandserfahrungen zu Anfang gar nichts mit anderen Deutschen zu tun haben und statt dessen das Fremde kennenlernen wollen, verorten sie sich über kurz oder lang im transnationalen Ethnoscape der Bubble. Die Bedeutung von unterschiedlichen Lebensrealitäten Viele der deutschen Student*innen beschreiben, dass es aufgrund unterschiedlicher Lebensrealitäten schwer falle, Kontakt zu chinesischen Student*innen zu knüpfen und dadurch das Land beziehungsweise die Kultur intensiver kennenzulernen, sowie ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Die Sprachbarriere und die räumliche Trennung sowie die so genannte Ausländer-Bubble werden dabei als hinderlich wahrgenommen. Einfacher erscheint der Zugang zu sogenannten westlichen oder internationalisierten Chines*innen oder in Subkulturen, wie zum Beispiel der Musik- oder Homosexuellenszene, wo ausgeprägtere Interessenschwerpunkte oder „gemeinsame Blickwinkel“ vorherrschen. Bei den Student*innen in symmetrischen Austauschprogrammen ist eine gewisse Nähe von vorneherein strukturell gegeben, denn eine Gruppe aus deutschen und chinesischen Student*innen studiert im Rahmen eines Masterprogramms zusammen und erlebt den Austausch miteinander statt isoliert, wie im Individualaustausch innerhalb der Universitätskooperationen. Hier wäre gerade zu Beginn des Aufenthalts eine stärkere organisatorische Struktur mit Hilfestellung in Alltagsfragen wünschenswert (Behördengänge, Wohnungssuche, Campusführung, etc.), um die starke Motivation der Anfangsphase nicht ungenutzt verpuffen zu lassen. Wenden sich deutsche Student*innen gleich zu Anfang dem internationalen Netzwerk zu, das ebenso alltagsrelevante Informationen bereithält, anstatt den chinesischen Kommiliton*innen, lösen sie sich im weiteren Verlauf nur schwer von den als mit weniger Anstrengung verbunden wahrgenommenen Strukturen der Bubble.
6.2 Rahmenbegriffe und ihre Bedeutungen
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Die Bedeutung von Sprache Obwohl Englisch und Deutsch von vielen Chines*innen doch sehr fließend gesprochen wird und Chinesisch als Hilfssprache fungieren kann, nehmen die deutschen Student*innen eine Barriere auf kommunikativer Ebene wahr. Von Anfang an war allen Beteiligten die Bedeutung der Sprache bewusst, vor allem, da die deutschen Student*innen selbst jeden Tag in einer Fremdsprache agieren. Auch wenn nicht alle Gesprächsteilnehmer*innen ein Sprachniveau erreichen, das einen annähernd natürlichen Gesprächsablauf möglich macht, berichten auch diejenigen Gesprächspartner*innen mit sehr guten Chinesischkenntnissen und auch Student*innen, deren chinesische Kommiliton*innen gutes Deutsch und/ oder Englisch sprachen, dass sie innerhalb der Interaktionen auf Grenzen trafen. Kommunikative Barrieren, die Interaktion hemmen, sind nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf inhaltlicher Ebene zu verorten, denn es ist in erster Linie der gemeinsame Erfahrungsrahmen beziehungsweise Blickwinkel, der verbindet.
Die Bedeutung von Verstehen für Interaktion und Teilhabe an Lebenswelt Der Blickwinkel ist wie oben ausgeführt eng mit Verstehen und Anerkennung verknüpft und notwendig für die Teilhabe an der Gestaltung von Lebenswelt. Lebensweltgestaltung kann jedoch nicht einseitig vollzogen werden. Lebenswelt ist das Gefüge, das das Individuum, seine Identität und sein Handeln beziehungsweise die Interaktion ermöglicht, gestaltet und wiederum selbst dadurch gestaltet wird. Die Bedeutung von Identitätskonstruktionen wird hier hervorgehoben, denn Reflexionen über Eigenes, Fremdes und Anderes ermöglichen eine interkulturelle Teilhabe. Teilhabe bedeutet Inklusion, ohne die niemand von Differenzen und der Akzeptanz anders sein zu können und andere Bedürfnisse leben zu können, profitieren kann. „Dieses produktive Gemeinschaftshandeln entsteht in der Wissenschaft durch jenen Dialog oder Polylog, in dem das dem Einen Auffällige zur Frage des Anderen wird und diese Wechselbeziehung zur Vergrößerung der Sichtfelder der Interpreten wird“ (Wierlacher 2003: 31). Teilhabe an Lebenswelt beruht auf Interaktion, welche wiederum von Raum, Zeit, Identitätsarbeit (das heißt, dem Wissen über sich, das Eigene und über das Andere beziehungsweise zunächst Fremde) und Kommunikation (Sprache) abhängt und die die
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Praxen der Gestaltung von Lebenswelt beeinflussen. Primär finden für die deutschen Student*innen diese Prozesse der Gestaltung eigener Strukturen und gemeinsamer Bedeutungsschemata im Sinne einer Lebenswelt in der Bubble statt. Chinesische Akteur*innen befinden sich in der Peripherie dieser abstrakten Lebenswelt, während im konkreten Territorium des GulouCampus sich die Internationals am Rande bewegen. Die Bedeutung von Miniaturtheorien und Rahmenbegriffen Die Rahmenbegriffe der IKG (und deren Erweiterung) finden sich in den Konstruktionen der Akteur*innen wieder, die diese unter der Prämisse des Verstehen- und Lernen-Wollens erweitern und (neu) interpretieren. Das Phänomen des drop-down wissenschaftlicher Konzepte in die Alltagssprache und (Selbst-) Deutungen beziehungsweise Reflexionen hat Auswirkungen auf Interaktion und Konstruktion von Wirklichkeit (-sbildern). Dies wurde vor allem am Beispiel der Erwartungen eines Kulturschocks deutlich. Die Begriffe, Ideen und Konzepte sind sowohl für die Akteur*innen als auch für die wissenschaftliche Analyse intellektuelle Werkzeuge und haben hier ihren Niederschlag in der oben angewandten Kategorienbildung gefunden. Die Begrifflichkeiten haben eine „doppelte“ Funktion: Sie sind sowohl wissenschaftlich konzeptionell als auch alltäglich für die Akteur*innen mit der Funktion der Erklärung relevant, aber auch als Mittel der Kommunikation mit anderen und der Selbstversicherung durch Erfahrungsaustausch bedeutend. Die Begriffskonzepte strukturieren zunächst unüberschaubare, komplexe kulturelle Phänomene und sind für die Akteur*innen wichtige Werkzeuge bei der Erschließung von Lebenswelt. Dabei sind die Akteur*innen Kosmopolit*innen mit semiwissenschaftlichem Vokabular und Analysefähigkeiten. Sie gestalten selbst kulturbeladene Konzepte, wie anhand der Begriffe „westernized/ westlich“ und des Gegensatzes von internationalisierten Chines*innen und „Standard-“ Chines*innen erläutert wurde. Im Alltag erhalten solche Begriffe performative, also handelnde Bedeutung und die Akteur*innen gestalten Alltag und sind gleichzeitig dessen Produkte. Sie konstruieren und verändern die Objekte, die sie deuten (vgl. Bal 2002: 33). Genauso schafft ein gemeinsames Vokabular eine gemeinsame Sprache zwischen den Internationals, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, was den Ethnospace Bubble stärkt.
6.3 Geltungsbereich der Interaktionsmatrix
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6.3 Geltungsbereich der Interaktionsmatrix und potentielle Anwendungsbereiche Bei der Interaktionsmatrix handelt es sich um Erfahrungsschemata, dass heißt, sie ist nicht isoliert, sondern im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Die Matrix hilft, sowohl Erfahrungen zu ordnen als auch mitzuprägen, wobei Matrix als auch Akteur*innen durch gesellschaftliche Diskurse beeinflusst werden, wie beispielsweise durch Medien, Politik, Bildung und Wirtschaft. Dies passiert, indem Diskurse oder Kontexte einzelne Ebenen der Matrix dynamisieren und wiederum andere Elemente sozialer Interaktion steuern. Das Modell der Interaktionsmatrix bildet somit die Verschränkung von Erfahrungserwerb und Erkenntnisgewinn mit Handlungs- beziehungsweise Interaktionsprozessen ab. Deutlich wurde dies unter anderem an der Kategorie „Chinabild“. Hier wird sichtbar, dass das „Chinabild“ vom politischen Diskurs und der medialen Darstellung in Deutschland gestaltet wurde und durch die Akteur*innen in der Interaktion vor Ort erst de-/ re-/ konstruiert wurde. Ebenso verhält es sich mit der Kategorie der Fremdheit, die die deutschen Student*innen in China als lˇaowài erfahren. Das Begriffskonzept ist mit historischen und politischen Diskursen in China verknüpft, die eine lange Tradition im Umgang mit dem Fremden widerspiegeln. Vor dem Hintergrund interkultureller Diskurse in Deutschland würde das Verhalten der Chines*innen vermutlich als rassistisch und aggressiv gewertet werden. Im Raum China, mit der historisch spezifisch aufgeladenen Identität als lˇaowài (“alter Freund von draußen”) und unter der Berücksichtigung des kommunikativen Kontexts, kann diese Form der Interaktion hingegen anerkannt werden. Anstatt sich der Interaktion zu entziehen, lassen sich die deutschen Student*innen darauf ein und machen beispielsweise Fotos mit Wildfremden, die sie oft kaum verstehen. Die Interaktionsmatrix ist die theoretische Abbildung praktischer Inklusion. Die Interaktionsebenen sind als Stellschrauben zu verstehen, mit denen die einzelnen Komponenten für institutionelle Akteur*innen der Förderung interkultureller Zusammenarbeit messbar und förderbar werden. Das Interaktionsmodell ist ein Konzept mittlerer theoretischer Reichweite mit praktischer Anwendbarkeit. Die Matrix kann nicht nur auf interkulturelle, sondern auch auf intrakulturelle Settings von Interaktion angewendet werden und somit, das bliebe zu erfor-
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schen auf jegliche Art von Interaktion. Ist es beispielsweise möglich, mittels Erstellung und Auswertung einer innerbetrieblichen Interaktionsmatrix, das Klima innerhalb eines Betriebes zu verbessern und damit die erfolgsfördernde Faktoren zu optimieren? Mögliche Fragestellungen könnten sein: Wer verbringt mit wem Zeit? Wer teilt sich Raum? Wem wird welche Identität zugeschrieben? Ist die Kommunikation sach- oder sozialorientiert? Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Interaktionsmatrix ein anwendbares Konzept zu sein scheint, könnte die Arbeit mit Geflüchteten sein. So wuchs während der Fertigstellung der vorliegenden Dissertation und durch die eigene Arbeit mit Geflüchteten heraus, das Interesse auch hier die Übertragbarkeit der Interaktionsmatrix zu überprüfen.
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2
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8 Anhang: Zusammensetzung des Sampling (Verzeichnis der Gesprächspartner*innen)
Abkürzungsverzeichnis Gewi: Wiwi: Naturw.: D.Ma.: U.Ko.: frei (U.Ko.): A: M: O: CV: NJ: *:
Geisteswissenschaftler Wirtschaftswissenschaftler Naturwissenschaftler deutsch-chinesischer Doppelmaster Universitätskooperation ohne Programm, aber die Heimat- Universität unterhält eine Kooperation Anfänger Mittelstufe Oberstufe Lebenslauf Nanjing aufgrund defekter Aufnahme nicht vollständig transkribiert und daher nicht zitiert
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Henkel, Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-2
302
8 Anhang
Name (anonymisiert)
Aufenthalt in Semestern
Amelie
1
Studienstandort nach Häufigkeit A
Fachbereich
Programm- Auslands-/ Chigebunden naerfahrung oder frei
Wiwi
U.Ko.
Anett
2
E
Psychologie
Stiftung
Anna
2
A
Gewi
D.Ma.
Clara
2
C
Sinologie
frei (U.Ko.)
Claudia
2
A
Jura
D.Ma.
Damian
2 (1 NJ + 1 Reisen)
G
Wiwi
Studienstiftung
Fabian*
2
B
Sinologie
frei (U.Ko.)
3 Wochen Geschäftsreise mit Vater Hong Kong, Guangzhou Freund in der Türkei (interkulturelle Partnerschaft)
2 Monate China Sprachurlaub (Gastfamilie) Schuljahr in Mexiko; 2 Praktika in Mexiko 2. Aufenthalt China (vorher 1 Semester Beijing) 3 Wochen China (Rundreise u. Kennenlernprogramm inkl. Unibesuche) 1 Semester USA keine
303
8 Anhang
Chinesischkenntnisse
Wohnsituation
Soziales Umfeld
Motiv/ Ziel
A; Abbruch
Paarwohnung mit Thomas in einem Haus mit 3 dt. WGs WG mit Chinesin (Germanistikstudentin), die nie zuhause ist Wohnung alleine
deutsch
Auslandssemester generell (CV); Interesse durch Geschäftsreise geweckt Stipendium; andere Sprache lernen (sehr Sprachen begeistert), Finanzierung durch Stiftung als Anreiz „Spieljahr“ Master-Curriculum
M
M Chinesisch in der Schule O
Schweizerin, Koreanerin, Japanerin, wenige chinesische Bekannte deutsch, chinesisch (vgl. Studiengang) deutsch, chinesisch, international
O
2 Wochen Xianlin (chin. Campus), dann Xiyuan dt. WG
A
dt. WG
deutsch, international
O
kurzzeitig WG mit einer Chinesin
deutsch, international, chinesisch
deutsch, international
Verbesserung der Sprachkenntnisse; von der Theorie der Universität in die Praxis China Master- Curriculum; CV; sieht sich selbst als Kosmopolitin Stipendium
Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter den Sinologen ohne Chinajahr; CV
304
8 Anhang
Name (anonymisiert)
Aufenthalt in Semestern
Finn*
2
Studienstandort nach Häufigkeit C
Fachbereich
Programm- Auslands-/ Chigebunden naerfahrung oder frei
Sinologie
Frei- semester (U.Ko.)
2 Jahre Chinesisch in der Schule; paar Wochen China in den Semesterferien
Grete
2
A
Gewi
D.Ma.
1 Semester Irland
Inga
1
A
frei (U.Ko.)
2. mal China; (vorher ca. 2 Monate in einer Gastfamilie)
Jakob
2
A
Chinesisch als Fremdsprache Jura
keine
Jan
2
C
Sinologie
frei (U.Ko.) frei (U.Ko.)
Janine
2
C
Sinologie
frei (U.Ko.)
2 Monate Praktikum in Qingdao (Gastfamilie)
Kai
2
A
Gewi (B. A. Sinologie)
D.Ma.
2 Monate Praktikum in China
Schüleraustausch bei chinesischer Gastfamilie
305
8 Anhang
Chinesischkenntnisse
Wohnsituation
Soziales Umfeld
Motiv/ Ziel
O
WG mit einem Chinesen (kaum Kontakt)
chinesisch; deutsch, international
M
dt. WG
deutsch, chinesisch
O
dt. WG
deutsch, international, chinesisch
A
Paarwohnung mit Nadja Xiyuan
deutsch, international deutsch, international, zwei chinesische Freunde
O
Xiyuan (Nebengebäude Zengxianzilou)
international, deutsch, chinesisch
O
Xiyuan DZ + Russe
deutsch
Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter den Sinologen ohne Chinajahr; CV; raus aus Deutschland Master-Curriculum; Sprache (sehr sprach begeistert); China als Zwischenstation Auslandssemester im Curriculum; Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos ohne Chinajahr CV; Auslandssemester generell Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter den Sinologen ohne Chinajahr; CV Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter den Sinologen ohne Chinajahr; CV Verbesserung der Sprachkenntnisse; Master- Curriculum; China hat Zukunft
O
306
8 Anhang
Name (anonymisiert)
Aufenthalt in Semestern
Fachbereich
Programm- Auslands-/ Chigebunden naerfahrung oder frei
2
Studienstandort nach Häufigkeit H
Linus
Jura
Stipendium
Lukas
1
B
Naturw.
D.Ma.
Kindheit in China verbracht; später Schüleraustausch (Gastfamilie) keine
Manuel
2
A
D.Ma.
2. mal NJ
Maria
1
B
Gewi (B. A. Sinologie) Naturw.
D.Ma.
3. mal in China, davon 2. mal in NJ
Mario
2
D
Sinologie
frei (U.Ko.)
Studium in Taiwan
Mirko
1
A
Wiwi
U.Ko.
Afrika
Nadine
1
B
Naturw.
D.Ma.
keine
Nadja
2
A
Jura
frei (U.Ko.)
keine
307
8 Anhang
Chinesischkenntnisse
Wohnsituation
Soziales Umfeld
Motiv/ Ziel
fließend
Wohnung alleine
international
Stipendium
A
Paarwohnung mit Sandra
Auslandssemester mit Freundin; Angebot der Universität; Platz frei
O
dt. WG
deutsch, international, chinesisch im Studiengang französisch, deutsch, chinesisch
M
Xiyuan
Angebot der Universität; Platz frei; vorheriger Nanjing-Aufenthalt
fließend
Xiyuan
A; Abbruch
dt. 2er-WG in einem Haus mit 3 dt. WGs
primär international, deutsch, chinesisch im Studiengang international, asiatisch, chinesisch deutsch
A
Xiyuan
A
Paarwohnung mit Jakob
deutsch, international, chinesisch im Studiengang deutsch, internationale
Master- Curriculum; Verbesserung der Sprachkenntnisse
Angebot der Universität
CV; China war Zweitwunsch (1. Indien wegen Englisch); beides große Märkte im Trend; Asien ist anders Angebot der Universität; Platz frei
CV; Auslandssemester generell
308
8 Anhang
Name (anonymisiert)
Aufenthalt in Semestern
Patrick
2
Studienstandort nach Häufigkeit D
Fachbereich
Programm- Auslands-/ Chigebunden naerfahrung oder frei
Sinologie
frei (U.Ko.)
keine
Sabine
2
A
Gewi
D.Ma.
1
B
Naturw.
D.Ma.
interkulturelle Familie; 2 Semester Taiwan; Hefei interkulturelle Familie
Sandra
Stefanie
1
A
Wiwi
U.Ko.
keine
Steffen
1
A
Wiwi
U.Ko.
keine
Thomas
1
A
Wiwi
U.Ko.
Backpacker (u.a. 4, 5 Tage Beijing)
Vanessa
1
B
Naturw.
D.Ma.
interkulturelle Familie
Vera
2
F
Sinologie
frei (U.Ko.)
Chinesisch in der Schule; FSJ (Gastfamilie); 2. Mal in China
309
8 Anhang
Chinesischkenntnisse
Wohnsituation
Soziales Umfeld
Motiv/ Ziel
O
Xiyuan
deutsch, international, chinesisch
M
dt. WG
A
Paarwohnung mit Lukas
A; Abbruch
A
Xiyuan (Ausländerwohnheim) DZ + Griechin dt. 2er-WG in einem Haus mit 3 dt. WGs Paarwohnung mit Amelie in einem Haus mit 3 dt. WGs Xiyuan
deutsch, chinesisch, international deutsch, international, chinesisch im Studiengang deutsch (+Griechin u. Kanadierin)
Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter den Sinologen ohne Chinajahr; CV Master- Curriculum
O
Xiyuan
A; Abbruch
A; Abbruch
Master- Curriculum
Auslandssemester generell (CV); Angebot d. Universität
deutsch
CV; China um sich zu unterscheiden
deutsch
Selbstverständnis Kosmopolit; das Andere erfahren
deutsch, international, chinesisch im Studiengang deutsch, international
Angebot der Universität; Platz frei; Masterarbeit
Verbesserung der Sprachkenntnisse; chancenlos unter Sinologen ohne Chinajahr; CV