Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen: Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990 [1 ed.] 9783428488407, 9783428088409

Eine vergleichende Forschung zur Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik und der DDR ist erst seit der Öffnung der Arch

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German Pages 409 Year 1996

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Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen: Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990 [1 ed.]
 9783428488407, 9783428088409

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Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 48

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945 – 1990

Herausgegeben von

Johannes Bähr und Dietmar Petzina

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANNES BAHR / DIETMAR PETZINA (Hrsg.)

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 48

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990

Herausgegeben von Johannes Bähr und Dietmar Petzina

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Innovationsverhalten und Entwicklungsstrukturen : vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990 / hrsg. von Johannes Bähr und Dietmar Petzina. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 48) ISBN 3-428-08840-9 NE: Bähr, Johannes [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-08840-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®

Inhaltsverzeichnis

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR - Fragestellungen und Bilanz

11

Hans-Jürgen Wagener Zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft

21

Stefan Unger Technische Innovationen einer „alten Branche": Die Einführung der Sauerstofftechnologie in der Stahlindustrie der Bundesrepublik und der DDR

49

Rainer Karisch Entscheidungsspielräume und Innovationsverhalten in der Synthesekautschukindustrie - Die Einführung des Kaltkautschukverfahrens in den Chemischen Werken Hüls und im Buna-Werk Schkopau

79

Harm G. Schröter Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten. Ein Beitrag zur Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen 109 Johannes Bähr Innovationsverhalten und Energieversorgung. Die technologische Entwicklung im Turbinen-, Generatoren- und Transformatorenbau der Bundesrepublik und der DDR 1949-1965 139 Andreas Vogel Zum Verlauf von Innovationsprozessen in der Rundfunkgeräteindustrie der BRD und der DDR am Beispiel der Einführung der UKW-Technik 163 Roland Kowalski Die Integration der Elektronik in den wissenschaftlichen Gerätebau - eine Fallstudie, dargestellt in einer vergleichenden Betrachtung von Carl Zeiss Jena und Carl Zeiss Oberkochen während der sechziger Jahre 191

6

Inhaltsverzeichnis

Susanne Franke und Rainer Klump Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln: Die Innovationsaktivitäten der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer AG (Würzburg) und VEB Planeta (Radebeul) in den sechziger Jahren 215 Dieter Specht und René Haak Der Beitrag des Werkzeugmaschinenbaus zur flexiblen Fertigungsautomatisierung in Deutschland 251 Frank Zschaler Das Finanzsystem in der frühen SBZ/DDR. Effizienzprobleme aus institutionenökonomischer Sicht 281 Lutz Budraß und Stefan Prott Demontage und Konversion. Zur Einbindung rüstungsindustrieller Kapazitäten in technologiepolitische Strategien im Deutschland der Nachkriegszeit 303 Hans-Liudger Dienel „Das wahre Wirtschaftswunder" - Flugzeugproduktion, Fluggesellschaften und innerdeutscher Flugverkehr im West-Ost-Vergleich 1955-1980 341 Burghard Ciesla und Barbara Schmucki Stadttechnik und Nahverkehrspolitik. Entscheidungen um die Straßenbahn in Berlin (West/Ost), Dresden und München 373

Verzeichnis der Archive

407

Verzeichnis der Abkürzungen (sofern in einem Beitrag nicht aufgeschlüsselt) AEG

Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft

AG

Aktiengesellschaft

ARD

Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands

BACZ

Betriebsarchiv Carl Zeiss

BArch

Bundesarchiv

BArchMZAP

Bundesarchiv, Militärisches Zwischenarchiv, Potsdam

BArchP

Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam

BASF

Badische Anilin- und Sodafabrik AG

BIOS

British Intelligence Objectives Subcomittee

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BMV-Ost

Bundesministerium für Verkehr, Außenstelle Berlin

BMW

Bayerische Motorenwerke

BMWi

Bundesministerium für Wirtschaft

BP

British Petroleum

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BunaWA

Buna GmbH Werksarchiv

CDU

Christlich-Demokratische Union

CIOS

Combined Intelligence Objectives Subcomittee

CNC

Computerized Numerical Control

Cocom

Coordinating Committee for East-West-Trade-Policy

CSSR

Tschechoslowakische Sozialistische Republik

CSU

Christlich-Soziale Union

DASA

Deutsche Aerospace

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DIAG

Deutsche Industrieanlagen GmbH

DIW

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

DM

Deutsche Mark

DM-Ost

Deutsche Mark (Ost) 1

1 Die offizielle Bezeichnung der ostdeutschen Währung änderte sich mehrfach. Im Juni 1948 wurde sie zunächst als „Reichs- und Rentenmark mit aufgeklebtem Spezialkupon" eingeführt. Mit dem Geldzeichenumtausch vom Juli 1948 erhielt sie die Bezeichnung „Deutsche

8 DVFLR

Verzeichnis der Abkürzungen Deutsche Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt

DZFV

Deutsche Zentralfinanzverwaltung

EMO/ EWA

Europäische Werkzeugmaschinenausstellung

ERP

European Recovery Program

EVG

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FFS

Flexibles Fertigungssystem

FWD

Archiv Flugzeugwerft Dresden

FuE

Forschung und Entwicklung

HA

Hauptabteilung

HüArch

Unternehmensarchiv der Hüls AG

HV

Hauptverwaltung

HVA

Hauptverwaltung Ausbildung

I. G. Farben

Interessengemeinschaft Farben

KDT

Kammer der Technik

LAB

Landesarchiv Berlin

LAB(STA)

Landesarchiv Berlin, Außenstelle Breite Straße

LDPD

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

MfV

Ministerium für Verkehr

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NÖS

Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft

MAN

Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg AG

Ms.

Manuskript

mvl

Metallverarbeitende Industrie

MWV

Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau

NC

Numerical Control (Numerische Steuerung)

NRW

Nordrhein-Westfalen

NVA

Nationale Volksarmee

OEEC

Organization for European Economic Cooperation

OMGUS

Office of Military Government for Germany (U.S.)

OPEC

Organization of Petroleum Exporting Countries

PDS

Partei des Demokratischen Sozialismus

PVC

Polyvinylchlorid

Mark der Deutschen Notenbank". Diese wurde 1964 in „Mark der Deutschen Notenbank" geändert. Von 1968 bis 1990 galt schließlich die Bezeichnung „Mark der DDR". Zur Vereinfachung wird in diesem Band durchgängig das in der Fachliteratur gebräuchliche Synonym „DM-Ost" verwendet.

Verzeichnis der Abkürzungen RDLI

Reichsverband der Deutschen Luftfahrtindustrie

REMA

Fabrik für Rundfunk, Elektrotechnik und Mechanik Wolfram Co.

RWI

Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen

RGW

Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe

RIAS

Rundfunk im amerikanischen Sektor

RM

Reichsmark

RMfRuK

Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion

SAPMO-BArch

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

SABA

Schwarzwälder Apparate-B au-Anstalt August Schwer Söhne Gmbh

SAG

Sowjetische Aktiengesellschaft

SäHStA

Sächsisches Hauptstaatsarchiv

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SKK

Sowjetische Kontrollkommission

SMAD

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

SPK

Staatliche Plankommission

SU

Sowjetunion

TH

Technische Hochschule

Trbl

Transferrubel

tz für Metallbearbeitung

Technische Zeitschrift für Metallbearbeitung

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UKW

Ultrakurzwelle

USA

United States of America

US-$

US-Dollar

VCI

Verband der Chemischen Industrie

VDI

Verein Deutscher Ingenieure

VDI-Z

Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure

VDMA

Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten

VEB

Volkseigener Betrieb

VFW

Vereinigte Flugtechnische Werke GmbH

VÖEST

Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke

VVB

Vereinigung Volkseigener Betriebe

VW

Volkswagen AG

WT-Z ind. Fertig.

Werkstattstechnik. Zeitschrift für den industriellen Fabrikbetrieb

ZK

Zentralkomitee

ZFIV

Zentrales Forschungsinsitut des Verkehrswesens der DDR

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der D D R Fragestellungen und Bilanz

Die Beiträge dieses Sammelbands sind aus Projekten des Schwerpunktprogramms „Wirtschaftliche Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel in Deutschland nach 1945" hervorgegangen, das 1992 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichtet wurde. Im Rahmen dieses Schwerpunkts werden wirtschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR unter Auswertung des seit 1990 zugänglichen Quellenmaterials vergleichend analysiert. Die Beiträge enthalten Fallstudien aus den Arbeitsgebieten der einzelnen Projekte, die das Innovationsverhalten und die Entscheidungsstrukturen in der Wirtschaft der Bundesrepublik und der DDR an ausgewählten Beispielen untersuchen. Die Ergebnisse des laufenden Schwerpunktprogramms werden damit nicht vorweggenommen, doch sollen mit dieser Veröffentlichung Ansätze und Zwischenergebnisse zu den genannten Fragestellungen zur Diskussion gestellt werden. Die Fallstudien werden durch einen Beitrag von Hans-Jürgen Wagener eingeleitet, der die umfangreiche wirtschaftswissenschaftliche Literatur zur Innovationsschwäche sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaften zusammenfaßt und davon ausgehend Leitfragen für die wirtschaftshistorische Forschung skizziert, die sich erst seit wenigen Jahren systematisch mit dieser Thematik beschäftigt. Als Innovation wird in den Wirtschaftswissenschaften im allgemeinen die Einführung neuer Produkte oder Verfahren bezeichnet. Der Beitrag von Wagener macht deutlich, daß in bezug auf die technologisch rückständigen Volkswirtschaften der RGW-Länder auch Veränderungen im Produktionssystem, die zu Produktivitätssteigerungen führen, als Innovationen definiert werden können. Der Begriff Innovationsverhalten wird daher im folgenden sowohl auf technische Innovationen im Sinne von Neuerungen als auch auf diese produktivitätssteigernden Veränderungen bezogen. Das Spektrum der vorliegenden Fallstudien ermöglicht es, generalisierende Aussagen zum Innovationsverhalten und den Entscheidungsstrukturen in beiden Volkswirtschaften zu treffen, wobei die Erfahrungen mit industriellen Entwicklungsprozessen im Vordergrund stehen. Aus dem Bereich der Schwerindustrie wird die Einführung der Sauerstofftechnologie in der Stahlindustrie untersucht, einer „alten Branche", die in der DDR als Folge der deutschen Teilung weitgehend neu aufgebaut wurde. Den eigentlichen

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Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

Schwerpunkt bilden jedoch vier Branchen der weiterverarbeitenden Industrie, auf die sich das Innovationspotential der Wirtschaft im geteilten Deutschland - wie auch schon der deutschen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit - konzentrierte: Die chemische Industrie, die Elektroindustrie, der Maschinenbau und die Feinmechanisch-Optische Industrie. In diesem Bereich bestand nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und der DDR eine gemeinsame Ausgangsbasis, die sich unter dem Einfluß der jeweiligen Wirtschaftssysteme unterschiedlich entwikkelte. Im einzelnen untersucht werden hier die Einführung des Kaltkautschukverfahrens in den Chemischen Werken Hüls und im Buna-Werk Schkopau sowie die Reaktion der chemischen Industrie auf die Ölkrisen, die technologische Entwicklung im Turbinen-, Generatoren-, und Transformatorenbau mit ihren Auswirkungen auf die Energieversorgung, die Einführung der UKW-Technik in der Rundfunkgeräteindustrie, der Beitrag des Werkzeugmaschinenbaus zur flexiblen Fertigungsautomatisierung, die Einführung von Offsetdruckmaschinen bei der Firma Koenig & Bauer in Würzburg und im VEB Planeta in Radebeul sowie die Integration der Elektronik in den wissenschaftlichen Gerätebau bei Carl Zeiss Jena und Carl Zeiss Oberkochen. Zwei Beiträge behandeln die Flugzeugindustrie, die in beiden Teilen Deutschlands zunächst einem Produktions verbot unterlag. Dabei wird einerseits nach den Konversionsstrategien im Nachkriegsdeutschland gefragt. Andererseits wird der Wiederaufbau der Flugzeugindustrie im Zusammenhang mit der Entwicklung des Luftverkehrs untersucht. Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt sind die Verkehrssysteme. Hier werden zunächst die Entscheidungen zur Entwicklung der Luftverkehrssysteme in beiden Teilen Deutschlands verglichen. Ein weiterer Beitrag behandelt die Entscheidung um die Straßenbahn in Berlin (West/Ost), München und Dresden. Am Beispiel des Finanzwesens wird der Wandel von Entscheidungsstrukturen in einer Institution der SBZ/DDR untersucht. Die Beiträge behandeln unterschiedliche Untersuchungszeiträume. Einige Fallstudien konzentrieren sich auf die späten vierziger und die frühen fünfziger Jahre, in denen die wirtschaftliche Entwicklung noch von den unmittelbaren Folgen der Teilung beeinflußt wurde, etwa bei der Energieversorgung und in der Rundfunkwirtschaft. Im Mittelpunkt stehen jedoch die sechziger Jahre. Dabei wird deutlich, daß dieses Jahrzehnt in beiden Teilen Deutschlands eine technologische Umbruchsphase bildete. Es entstanden neue technologische Anforderungen, vor die sich beide Seiten gestellt sahen. Einige Beträge beschäftigen sich schließlich mit der bislang wenig bekannten Wirtschaftsgeschichte der siebziger und achtziger Jahre. Die Beiträge zum Bereich der Verkehrsentwicklung sind als diachrone Querschnittsanalysen angelegt, die den Gesamtzeitraum der Jahre 1945-1990 umfassen. Das Innovationsverhalten und die Entscheidungsstrukturen wurden als Untersuchungsfelder für den Vergleich ausgewählt, weil aus dieser Perspektive Faktoren deutlich werden, die das Gefälle zwischen der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in der Bundesrepublik und der DDR verursacht haben. Wie der Beitrag von Wagener

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

verdeutlicht, ist das Innovationsverhalten ein Schlüssel zur Erklärung der Produktivitätslücke, die nach dem heutigen Erkenntnisstand erheblich größer war als es westliche Experten früher angenommen hatten. Für die Wirtschaftsgeschichte stellt sich die Frage, in welchen Phasen und durch welche Faktoren diese Lücke zustande kam, da das Ausgangsniveau bei Kriegsende auf beiden Seiten sehr ähnlich war. Welchen Einfluß hatten etwa die unterschiedlichen Kriegsfolgeschäden und die strukturellen Folgen der Teilung? War der Rückstand der DDR, wie es Wagener formuliert, das Ergebnis eines schlechten Starts oder eines schlechten Laufs? Welchen Einfluß hatten wirtschaftspolitische Konzepte? War die Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft durch mangelnde Anreize bedingt oder ergab sie sich zwangsläufig aus einem System, das keinen Wettbewerb zuließ? Eine weitere Ursache für die unterschiedliche „Mikroeffizienz" in beiden Volkswirtschaften waren die Entscheidungsstrukturen. In den Beiträgen wird nach den Motiven und Faktoren sowie nach der Umsetzung von Entscheidungen gefragt. In den meisten Fällen waren die Akteure auf beiden Seiten vor gleiche Herausforderungen gestellt, etwa durch die weltweite Einführung eines neuen technischen Verfahrens, durch veränderte Anforderungen an die Verkehrs- und Energiesysteme oder durch exogene Krisen (Ölkrise). Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen werden in diesem Band nicht getrennt gesehen. Die Beiträge behandeln fast durchweg beide Bereiche, wobei in den branchenbezogenen Analysen das Innovationsverhalten stärker im Vordergrund steht, in den Untersuchungen zum Verkehrs- und Finanzwesen wiederum die Entscheidungsstrukturen. Die Fallstudien bestätigen alles in allem auf der Mikroebene den Rückstand der DDR-Wirtschaft. In den untersuchten Bereichen - mit Ausnahme des Druckmaschinenbaus - fiel die DDR im Vergleich mit der Bundesrepublik technologisch zurück. Die Autoren des Bandes sind der Frage nachgegangen, wann der Rückstand in den einzelnen Bereichen eintrat und wodurch er zustande kam. Dabei wird deutlich, daß die Betriebe in der SBZ/DDR auf vielen Gebieten noch bis in die fünfziger Jahre hinein technologisch mit der Entwicklung in Westdeutschland Schritt halten konnten. Die Buna-Werke in Schkopau nahmen 1951 - zwei Jahre früher als die Chemischen Werke Hüls - die Versuchsproduktion von Kaltkautschuk auf. Bei der Einführung des UKW-Rundfunks am Anfang der fünfziger Jahre hatte die DDR gegenüber der Bundesrepublik einen relativ geringfügigen Entwicklungsrückstand. Im Flugzeugbau lief die Produktion in der DDR früher an als in der Bundesrepublik. Am Ende der fünfziger Jahre zeigt sich ein ganz anderes Bild. Zwar hatte die Stahlindustrie der DDR den Anschluß an die Entwicklung auf dem Gebiet der Sauerstofftechnologie auch 1958 noch nicht verloren. Im Energiemaschinenbau bestand dagegen schon seit Mitte der fünfziger Jahre ein deutlicher Entwicklungsrückstand. Auch bei der Einführung von Elektronenmikroskopen und bei der Kaltkautschuksynthese lag die DDR am Ende der fünfziger Jahre zurück. In den sech-

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Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

ziger Jahren nahm das Gefälle dann weiter zu. Carl Zeiss Jena fiel ab Mitte der sechziger Jahre in der technologischen Entwicklung zurück. In der Stahlindustrie verlor die DDR den Anschluß an die Entwicklung der Sauerstofftechnologie. Mit dem Bau von Hochleistungsturbinen und -transformatoren waren der Maschinenbau und die Elektroindustrie der DDR überfordert, die Flugzeugproduktion wurde 1961 in der DDR eingestellt. Im Zusammenhang damit ging auch der Anschluß an die Entwicklung der Luftverkehrstechnik beim Übergang ins Jet-Zeitalter verloren. Bei der Entwicklung numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen fiel die DDR dann in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erneut zurück. In vielen Bereichen hatte die DDR schließlich einen Innovationsrückstand von 10-20 Jahren. In der Petrochemie und im Energiemaschinenbau lag die DDR schon 1970 10-15 Jahre hinter der Bundesrepublik zurück, in der Stahlindustrie wurde die Linz-Donawitz-Technik in der DDR 22 Jahre später eingesetzt als in der Bundesrepublik. Bei den flexiblen Fertigungssystemen belief sich der Rückstand um 1985 auf fünfzehn Jahre. Die Frage „schlechter Start oder schlechter Lauf?" wird damit eindeutig beantwortet. Zwar sind die ungünstigeren Ausgangsbedingungen in der SBZ/DDR nicht zu bestreiten; die sehr viel höheren Kriegsfolgeschäden können jedoch nicht erklären, warum die DDR auf vielen Gebieten erst während der fünfziger Jahre in einen Innovationsrückstand gegenüber Westdeutschland geriet, der dann in der technologischen Umbruchsphase der sechziger Jahre entscheidend zunahm. Durch die deutsche Teilung bestand in der DDR zunächst eine Zwangslage, auf die mit dem Neuaufbau der Schwerindustrie und der Energiewirtschaft reagiert wurde. Die Teilung zwang aber nicht zu einer wachsenden technologischen Rückstandigkeit in diesen Bereichen. Auch durch die Veränderungen in der Wirtschaftspolitik der DDR kann die Entwicklung des Innovationsrückstands nicht erklärt werden, da dieser gerade in der reformfreudigsten Phase der Wirtschaftspolitik, den sechziger Jahren, deutlich zunahm. Das Neue Ökonomische System von 1963 hatte ζ. B. keine Auswirkungen auf den Innovationsrückstand in der Stahlindustrie. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel von 1971 trug dann aber offensichtlich dazu bei, daß weitere Rückstände entstanden wie am Beispiel der Entwicklung numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen deutlich wird. Angesichts dieser systembedingten Differenzen mag es überraschen, daß die technologischen Leitbilder in der Bundesrepublik und in der DDR größere Übereinstimmungen aufwiesen als häufig angenommen wird. Das aus den USA übernommene Leitbild der „autogerechten Stadt" beeinflußte die Verkehrsplaner in beiden Teilen Deutschlands. In den Großstädten der DDR behielt das Verkehrsmittel Straßenbahn nicht aus Prinzip sondern aus Mangel an Investitionsmitteln eine größere Bedeutung als in den meisten Großstädten der Bundesrepublik. Aber auch im industriellen Sektor, etwa im wissenschaftlichen Gerätebau und im Flugzeugbau, orientierten sich die Ingenieure in der DDR bis in die sechziger Jahre hinein an

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

den USA und nicht an der Sowjetunion. Im staatlichen Bereich fand dagegen bereits 1948/49 eine weitgehende Sowjetisierung statt (FinanzVerwaltung). Die Innovationsentscheidungen fielen in der Bundesrepublik in den Unternehmen, die Entscheidungen über die Entwicklung von Verkehrssystemen wurden vom Bund, den Ländern und den Kommunen getroffen. Bei Entscheidungsprozessen wurden Alternativen abgewogen und mögliche Szenarien schon vorweg angedacht (Ölkrise). In der DDR wurden die Entscheidungen durchweg auf der zentralen Ebene Politbüro - Ministerrat - Staatliche Plankommission getroffen oder vorgegeben. Ohne „Lobby" auf dieser Ebene waren auch vielversprechende Entwicklungeh zum Stillstand verurteilt (Kaltkautschuksynthese). In den siebziger Jahren erlangte das Büro Mittag dann eine nahezu diktatorische Stellung. In der Industrie der Bundesrepublik waren Wirtschaftlichkeit und Gewinn die wichtigsten Kriterien bei der Entscheidungsfindung. Thyssen entschied sich aus Kostengründen für die Einführung des OxygenstahlVerfahrens. Kostenargumente bestimmten auch die Entscheidung der BASF, in der Ölkrise an der Petrochemie festzuhalten und nicht zur Carbolchemie zurückzukehren. Wirtschaftliche Überlegungen führten dazu, daß der Flugzeugbau in der Bundesrepublik während der fünfziger Jahre - anders als dann in den siebziger und achtziger Jahren - kaum subventioniert wurde. Die kommunalen Entscheidungen zur Entwicklung von Nahverkehrssystemen waren dagegen auch von politischen Komponenten und vom Prestigedenken beeinflußt (Schaufenster West-Berlin, Olympiastadt München). Im diachronen Vergleich kam während der siebziger Jahre ein neuer Einfluß hinzu: der öffentliche Protest. So verzichtete die BASF darauf, ursprüngliche Pläne zur Errichtung eines Atomkraftwerks auf dem Werksgelände wiederzubeleben. Die Straßenbahnstillegung in München wurde Anfang der achtziger Jahre - anders als im West-Berlin der sechziger Jahre - durch Proteste verhindert. In der DDR orientierten sich die Entscheidungen in allen Bereichen nicht an wirtschaftlichen Überlegungen, vielmehr an politischen Zielen, insbesondere am Ziel der Stabilisierung des politischen Systems. Prestigegründe und Exportinteressen bestimmten die Entscheidung zum Aufbau einer überdimensionierten Flugzeugindustrie und eines unter ökonomischen Gesichtspunkten unsinnigen Inlandsflugnetzes. In der chemischen Industrie wurde nach der Ölkrise eine unwirtschaftlichere Technologie ausgebaut (Carbolchemie), um die Abhängigkeit vom Importöl zu verringern. Bei der Entscheidung zur Errichtung eines Sauerstoffstahlwerks im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) wurden von Anfang an hohe Verluste einkalkuliert. Aus den Entscheidungsstrukturen in der DDR ergab sich ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Politik und Sachverstand. Die Substitution von Ölimporten setzte Mittag gegen die Experten durch. Von Werkleitungen und Ingenieuren wurde den Planungsbehörden Inkompetenz vorgeworfen (Buna). Im Bereich der Finanzverwaltung trat durch die Transformation von 1948/49 ein weitreichender Verlust an Sachkompetenz ein. Der Einfluß von politischen Interessen, techni-

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Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

schem und ökonomischem Sachverstand wird in den Beiträgen auch kontrovers gesehen. So gelangen die Fallstudien zum Wiederaufbau der Flugzeugindustrie in der Bundesrepublik und der DDR in diesem Punkt zu unterschiedlichen Bewertungen. Zu den Faktoren, die innovatorisches Verhalten förderten, gehörte im Westen an erster Stelle der Wettbewerb. Ein besonders starker Antriebsfaktor war dabei der Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Die westdeutsche Stahlindustrie wäre ζ. B. ohne die Oxygenstahltechnik mittelfristig nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen. Hinzu kamen exogene Einflüsse wie etwa durch den Korea-Krieg. In vielen neuen Technologien konnten die bundesdeutschen Unternehmen durch den Technologietransfer aus den USA den Anschluß gewinnen (Chemische Werke Hüls /Firestone; Siemens-AEG/Westinghouse-General Electric). Diese Strategie war aber nur möglich, weil die westdeutschen Unternehmen ihrerseits neues technisches Wissen anzubieten hatten. Weitere Erfolgsbedingungen waren im Westen die internationale Kooperation in der Forschung, das Niveau der technischen Ausbildung und die Qualität der Ingenieursarbeit sowie die hochwertige Zulieferstruktur. In den siebziger und achtziger Jahren nahm die Bedeutung der branchenübergreifenden FuEKooperation für den innovatorischen Prozeß zu. Innovationshemmend konnten sich in der Bundesrepublik Erfolge auswirken, die in anderen, älteren Technologien erreicht worden waren. Die Unternehmen wurden in diesem Fall dann durch die Marktentwicklung gezwungen, sich auf neue Technologien umzuorientieren (Koenig & Bauer). Aussagen über den Einfluß der Unternehmensstruktur auf das Innovationsverhalten in der Bundesrepublik lassen sich den Fallstudien kaum entnehmen. Der zwischendeutsche Vergleich müßte dafür noch um einen systematischen Unternehmensvergleich erweitert werden. Im Fall der UKW-Technik hatten die Größe und die Marktposition der westdeutschen Unternehmen jedoch keinen Einfluß auf das Innovationsverhalten. Das Beispiel des Druckmaschinenherstellers Koenig & Bauer zeigt, daß sich ein Familienunternehmen in einer Krisensituation als besonders risikobereit erwies. In beiden Volkswirtschaften konnten von den Kriegsfolgelasten Anstöße ausgehen. Ein Beispiel ist der Einfluß des Kopenhagener Wellenplans von 1948 auf die Einführung der UKW-Technik. Ein Nebenprodukt der Demontagen waren ungewollte Konversionsprozesse, die im Fall der regionalwirtschaftlichen Entwicklung an der mecklenburgischen Ostseeküste auch zum Ausgangspunkt neuer Strukturen werden konnten. Der Entscheidungsstruktur in der DDR entsprechend, war hier „Druck von oben" der wichtigste Antriebsfaktor für den Einstieg in neue Technologien. Die Schwerpunkte der FuE-Tätigkeit wurden damit zwangsläufig von den jeweiligen Prioritäten der politischen Führungsspitze diktiert. Die Vorbereitungen zur Einführung des Oxygenstahl-Verfahrens wurden etwa auf Drängen Ulbrichts vorangetrieben, die Entwicklung von Hochleistungsturbinen wurde durch den gescheiterten Siebenjahrplan von 1959 vorgeschrieben. Die Einführung flexibler Fertigungssy-

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

steme in den achtziger Jahren beruhte auf einem Beschluß des Politbüros. Das Wohnungsbauprogramm der Ära Honecker/Mittag gab den Anstoß zur Modernisierung der Straßenbahnen in Ost-Berlin. Ein wichtiger Faktor war in den fünfziger und sechziger Jahren der Systemwettbewerb mit der Bundesrepublik. Anfang der fünfziger Jahre wurde in der DDR die UKW-Rundfunktechnik eingeführt, um aus Prestigegründen einen Rückstand gegenüber der Bundesrepublik zu vermeiden, obwohl der Ausbau der Mittelwellensender aus propagandistischen Gründen eigentlich Priorität hatte. Prestigegründe waren auch ein zentrales Motiv für das Luftfahrtprogramm der DDR in den fünfziger Jahren. Ende der fünfziger Jahre, in der Phase des Siebenjahrplans, war das Interesse der SED-Führung an einer Verringerung des technologischen Rückstands gegenüber der Bundesrepublik ein entscheidender Anstoß für die - später revidierte - Entscheidung, im EKO ein Sauerstoffstahlwerk zu errichten. Durch die Orientierung auf die Bundesrepublik war die Industrie der DDR seit Mitte der fünfziger Jahre zum Aufholen „verurteilt". Die Innovationstätigkeit wurde auf Bereiche konzentriert, in denen die Bundesrepublik einen besonders deutlichen Vorsprung erreicht hatte. Mittel für Entwicklungsvorhaben wurden, etwa im Transformatorenbau, erst dann bereitgestellt, wenn den zuständigen Behörden ein Vorsprung der Bundesrepublik auf diesem Gebiet nachgewiesen werden konnte. Umgekehrt wurde z. B. das Kaltkautschukverfahren nicht zu einem Schwerpunkt des Chemieprogramms von 1958, weil man den Entwicklungsstand auf diesem Gebiet als „gar nicht so schlecht" beurteilte. Es wäre interessant zu prüfen, inwieweit diese Effekte des Systemwettbewerbs in der DDR wegen des spezifischen Verhältnisses zur Bundesrepublik stärker ausgeprägt waren als in anderen RGW-Ländern. Die Fallstudien arbeiten vor allem vier Einflußfaktoren heraus, die sich negativ auf die Innovationsprozesse in der DDR auswirkten: Die Investitionsplanung, die FuE-Schwäche, die Einbindung in den RGW und die Beziehungen zu Lieferanten und Abnehmern: - Die Konzentration der Investitionsmittel auf wenige Schwerpunktprogramme entzog der technologischen Entwicklung in anderen Bereichen die materiellen Ressourcen (Chemieprogramm, Mikroelektronikprogramm). Hinzu kam das willkürliche „stop and go" der Planung. In mehreren Fällen wurden Entwicklungen forciert, abgebrochen und dann nach längerer Zeit wieder aufgenommen (Oxygenstahltechnologie, flexible Fertigungssysteme). Daraus ergaben sich fatale Folgen, da Innovationen auf längerfristigen Prozessen beruhen. - Obwohl die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) in der DDR relativ hoch lagen, ist auch in führenden Branchen wie der Elektroindustrie und der Chemischen Industrie eine FuE-Schwäche festzustellen. Das planwirtschaftliche System führte zwangsläufig zu einer Orientierung auf die Erfüllung kurzfristiger Produktionsziele, während keine Anreize für die Durchführung längerfristiger FuE-Vorhaben bestanden. Mit Sanktionen war allenfalls bei Nichterfüllung des Plans zu rechnen, nicht aber bei der unterlassenen Entwicklung neuer Produkte 2 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

oder Verfahren (Turbinenbau). Auch führende Kombinate wie Carl Zeiss Jena waren nicht zu Risiken im FuE-Bereich bereit. - Qualität und Verfügbarkeit der Zulieferungen waren ein Hemmnis für Innovationsprozesse in nahezu allen Bereichen, dessen Bedeutung mit der Revolution der Mikroelektronik noch zunahm. Die Abtrennung von der Weltwirtschaft und die Einbindung in den RGW waren ein entscheidendes Innovationshindernis. So blieben hochentwickelte exportorientierte Branchen wie der wissenschaftliche Gerätebau und der Werkzeugmaschinenbau auf den Bezug elektronischer Erzeugnisse aus der DDR angewiesen. Neuentwicklungen in diesen Bereichen wurden durch das niedrige Niveau der Halbleiterproduktion und den Rückstand der DDR im Softwarebereich gehemmt. Der Devisenmangel zwang zu suboptimalen Lösungen. Aus dem RGW-Raum konnte die DDR kaum neues technisches Wissen beziehen. Die Exporte in den RGW konnten auch bei einem niedrigen technischen Stand abgesetzt werden. Ein Sonderfall, der nicht in das skizzierte Raster paßt, war der VEB Planeta in Radebeul. Der Betrieb hatte bei Offsetdruckmaschinen einen Innovationsvorsprung gegenüber den westdeutschen Unternehmen und war auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig. Durch die Verflechtung mit dem Weltmarkt bestanden bei Planeta wirksame Anreize und Innovationsdruck. Dies war aber nur durch eine Sonderstellung auf Kosten anderer Betriebe und Produktionszweige möglich. Das Wirtschaftssystem und das politische System hätten eine derartige Anreizstruktur auf breiter Ebene nicht zugelassen. Die Entwicklung in nahezu allen untersuchten Betrieben und Industriezweigen war denn auch durch die Abtrennung vom Weltmarkt und einen zunehmenden technologischen Rückstand gekennzeichnet. Zwischen beiden Faktoren bestand eine Wechselwirkung, ein circulus vitiosus, der durch das System bedingt war und daher im Rahmen des bestehenden Systems nicht durchbrochen werden konnte: Die fehlende Konvertibilität der Währung und die Exportschwäche auf dem Weltmarkt führten zu einem ständigen Devisenmangel, durch den sich der Innovationsrückstand vergrößerte. Mit dem Rückstand gegenüber dem Westen nahm aber der Zwang zum Import westlicher Technologie zu. Buna importierte Anfang der sechziger Jahre ganze Anlagen aus der Bundesrepublik, der Übergang zu einer Stromübertragung von 400-kV konnte nur mit Hochleistungstransformatoren aus Frankreich bewerkstelligt werden. Das erste Sauerstoffstahlwerk der DDR, das ursprünglich 1965 in Betrieb gehen sollte, wurde schließlich 1984 von der österreichischen Firma VÖEST errichtet. Diese Importe entzogen wiederum anderen Branchen dringend benötigte Devisen und führten so zu weiteren Innovationsrückständen. Insgesamt bestätigt die Zwischenbilanz des Forschungsschwerpunktes die Fruchtbarkeit des deutsch-deutschen Vergleichs, da die jeweiligen Probleme systemspezifischer Entwicklungen auf diese Weise deutlicher werden als bei isolierter Analyse. Die Herausgeber danken den Autoren für die Bereitschaft, in ihren Beiträgen Anregungen und kritische Hinweise aus dem Umfeld des Forschungs-

Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen - Fragestellungen

Schwerpunktes aufzugreifen. Sie danken besonders Herrn Stefan Unger für seine sorgfältige Arbeit bei der Fertigstellung des Bandes sowie Frau Alexandra Böckh, Herrn Dr. Lutz Budraß, Herrn Stefan Prott und Herrn Dr. Frank Zschaler, die an der Korrektur und an der formalen Vereinheitlichung der Manuskripte beteiligt waren. Besonderer Dank gilt auch den Herausgebern der Reihe „Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte" sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die praktische Umsetzung des Publikationsvorhabens und schließlich dem Universitätsbund Würzburg, der finanzielle Hilfestellung für die Drucklegung geleistet hat. Berlin / Bochum im März 1996

Johannes Bähr Dietmar Petzina

Zur Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft Von Hans-Jürgen Wagener

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A. Die Produktivitätslücke Ausgangspunkt unserer Überlegungen soll das stilisierte Faktum des Produktivitätsrückstands sein, den die D D R i m Laufe ihrer 40-jährigen Geschichte gegenüber der B R D aufgebaut hat. Während man bis zur Wende das Produktivitätsniveau der Industrie in der D D R auf ungefähr 2 / 3 des westdeutschen Niveaus geschätzt hatte 2 und in den ersten Jahren danach diese Schätzungen auf ungefähr 50 % reduzierte 3 , setzt sich in jüngster Zeit die Auffassung durch, daß die Wertschöpfung pro Beschäftigten i m warenproduzierenden Gewerbe i m Jahre 1989 kaum mehr als 1 / 3 des westdeutschen Niveaus betrug. 4

1 Eine frühere Fassung dieser Arbeit ist in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial 1 /1995 erschienen. 2 Vgl. Wilkens, H., The two German Economies: A Comparison between the National Product of the German Democratic Republic and the Federal Republic of Germany, Aldershot 1981. 3

Vgl. Görzig, Β. / Gornig, M., Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der DDR (= DIW, Beiträge zur Strukturforschung, 121), Berlin 1991. 4 Van Ark und Beintema kommen in einer methodisch sauberen Studie auf 30,3%. Ark, B. van / Beintema, N., Comparative Productivity in East and West German Manufacturing before the Reunification, Ms. Groningen 1993. Die Stundenproduktivität betrug nach dieser Studie im Jahre 1987 nur 28,2 %. Vgl. auch Ritsehl, A. O., An Exercise in Futility: East German Economic Growth and Decline, 1949-89 (= CEPR Discussion Paper No. 984), London 1994. Für die Tschechoslowakei haben van Ark und Beintama in einer früheren Studie eine Stundenproduktivität von 19,8 % des BRD-Niveaus berechnet. Das entspricht der Erwartung, daß die DDR vor der CSSR das produktivste Land im RGW-Raum war. Ark., B. van / Beintema, N., Output and Productivity Levels in Czechoslovak and German (FR) Manufacturing, Ms. Groningen 1992. Was dieses Ergebnis für die Einschätzung der Produktivität und damit auch der Wertschöpfung in der ehemaligen Sowjetunion bedeutet, ist allerdings dramatisch. Es wird, das sei nebenbei bemerkt, auch von der amerikanischen Sowjetforschung zugegeben, daß man die Produktivität der Sowjetunion grob überschätzt hat. Ob bewußt oder unbewußt, ist Gegenstand einer Auseinandersetzung.

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I. Exkurs über die Vergleichbarkeit Wie es sich verhalten hat, werden wir nie genau wissen. Denn, so lautet eine weit verbreitete Hypothese, wir können es nicht genau wissen.5 Zum einen deshalb nicht, weil die Preise, mit deren Hilfe in der DDR das Volkseinkommen (bzw. die materielle Nettoproduktion, die in den sozialistischen Ländern als statistische Norm galt) aggregiert wurde, weder die Kosten, noch den gesellschaftlichen Nutzen der mit ihnen belegten Güter auch nur annährungsweise reflektierten. Damit wird das Aggregat eine beliebige Zahl, die nur sehr unzureichend mit der Wertschöpfung, die ja angestrebt wird, in Verbindung gebracht werden kann. Zum anderen kommt hinzu, und das ist theoretisch noch schwerer wiegend, daß Volkseinkommen oder Wertschöpfung von zwei Systemen, die unterschiedlichen Normen gehorchen und die nicht miteinander in einer direkten Beziehung stehen, inkommensurabel sind. Der vertraute Teil dieses Problems wird von den Statistikern Indexzahlenproblem genannt, das auf Grund von Konventionen zwar nicht eindeutig, aber mehr oder minder befriedigend gelöst werden kann. Der weniger vertraute wird durch die strikte Trennung der beiden Systeme voneinander verursacht. Man stelle sich die Erde mit allen ihren Produkten vor und einen hypothetischen Planeten Mars, von Marsmännchen und -weibchen bevölkert, mit allen seinen Marsprodukten. Es leuchtet unmittelbar ein, daß über die relative Wohlfahrt des einen oder anderen Planeten nichts auszusagen ist. Zugegeben, die DDR lag nicht auf dem Mars. Aber solange es keinen Golf oder Kadett zu kaufen gab, war ein Trabant seine 13.000 DM-Ost wert oder, angesichts der Wartezeiten, gebraucht auch mehr. Mit der Konkurrenz von Golf und Kadett fiel sein Wert auf einen Bruchteil davon. Der Trabi war sozusagen ein Marsmobil. Natürlich waren nicht alle Produkte Marsprodukte. Nehmen Sie 1 t Rohstahl bestimmter Güte. Die hat einen Preis in DM-Ost und in DM-West, die beide in Relation zueinander gesetzt werden können (unit value ratios). Wir können auch feststellen, wieviel Roheisen, Energie und Arbeitskraft zu ihrer Produktion aufgewendet wurden. Auch diese input Faktoren hatten Preise in DM-Ost und DM. So lassen sich die Kosten von 1 t Rohstahl in Ost und West berechnen. Damit ist es nun möglich, die Kosten Ost mit den Kosten West zu vergleichen oder eine Stahlkostenmark-Ost zu einer Stahlkostenmark-West in Beziehung zu setzen. Das sind die berüchtigten Umrechnungskoeffizienten oder Richtungskoeffizienten im Außenhandel. Zum offiziellen Wechselkurs kamen DDRExporteure selten auf ihre Kosten. Dem wurde mit produktspezifischen Wechselkursen, eben diesen Richtungskoeffizienten, Rechnung getragen. Auf Grund der Preisgestaltung in der DDR brauchten unit value ratios und Richtungskoeffizienten keineswegs übereinzustimmen. 5 Zum Problem der Rückrechnung und Umrechnung gesamtwirtschaftlicher Daten der DDR vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.), Rückrechnungen gesamtwirtschaftlicher Daten für die ehemalige DDR, Stuttgart 1993.

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Das hilft uns beim Sozialproduktsvergleich also kaum weiter. Natürlich ist es ein Indiz, wenn wir erfahren, daß die Außenhandelsumrechnungskoeffizienten im Schnitt 1 : 4 (DM-Ost zu DM) betrugen. Mehr aber auch nicht. Ist damit zumindest bewiesen, daß der Umrechnungskurs 1 : 1 grundlegend falsch war? Nicht einmal das. Wenn man die Kaufkraft der Haushaltseinkommen miteinander verglich (Qualitätsunterschiede und Marsprodukte einmal beiseite gelassen), dann war eine Parität von 1 : 1 durchaus realistisch. 6 Daraus läßt sich allerdings ableiten, daß die Konsumgüter in der DDR wahrscheinlich nicht zu ihren tatsächlichen Kosten bewertet, sondern erheblich subventioniert wurden. Damit wird aber ein Problem evident. Das verfügbare Geldeinkommen der Bevölkerung der DDR (über Realeinkommen ist wieder nichts Genaues zu sagen) betrug am Ende ca. 45 % des westdeutschen Niveaus (das ist eine vergleichsweise harte Zahl), die Pro-Kopf Produktivität eher ca. 35 % (diese Zahl ist zuegegebenermaßen weit weniger hart). Die Relation hat einschneidende Konsequenzen. Haben wir früher, unter der Annahme einer relativ hohen Produktivität, den Schluß gezogen, die Konsumenten wären bei der Verteilung an letzter Stelle gekommen, müssen wir jetzt den Schluß umkehren: die Konsumenten erhielten einen extrem großen Teil des Kuchens, ja die DDR hat über ihre Verhältnisse gelebt. Es gibt für eine Volkswirtschaft zwei Möglichkeiten, über ihre Verhältnisse zu leben: - Transfers aus dem Ausland. Das kann eine normale Verschuldung bedeuten. Es kann sich aber auch um besondere Transfers (Transitpauschale, Verkauf von Staatsbürgern) und unentgeltliche Leistungen handeln. Die Zahlungsbilanz war in allen sogenannten Staatshandelsländern ein heikles Thema, von Geheimniskrämerei und Datenmanipulation umweht. Genaue Angaben besitzen wir noch nicht. Eine vorläufige Rekonstruktion für 1989 weist negative Salden im Warenund Dienstleistungsverkehr auf. Hinzu kommt der erhebliche Schuldendienst, so daß die umfangreichen Übertragungen aus der BRD eine negative Leistungsbilanz nicht verhindern konnten.7 - Vom Eingemachten leben. Erst einmal bedeutet das eine niedrige Investitionsquote, d. h. vom jährlich gebackenen Kuchen wird viel konsumiert und wenig akkumuliert. Das hat natürlich Folgen für den technischen Fortschritt und die Produktivitätsentwicklung. Dann aber bedeutet es vor allem, notwendige Erneuerungen zu unterlassen, im Straßenbau oder der Infrastruktur im allgemeinen, im Wohnungs- und Städtebau, schließlich in den Fabriken. Daß dem so war, ist heute evident. Evident ist auch, daß man nicht ewig über seine Verhältnisse leben kann, das Eingemachte geht einmal zu Ende. Hinzukommt, daß Ersatzinvestitionen für das technische Niveau und die Produktivität genauso wich6 Vgl. Sinn, G., / Sinn, H.-W, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991, S. 37. 7 Steger, A. Rückrechnung einer Zahlungsbilanz für die ehemalige DDR, in: Statistisches Bundesamt, S. 83-93.

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tig sind wie Neuinvestitionen. Damit haben wir bereits eine Erklärung für die Produktivitätslücke zum Westen angedeutet. Wir können relativ genau bestimmen, was die Leistung der DDR Wirtschaft seit dem Juli 1990, d. h. seit der Währungs- und Wirtschaftsunion, war. Diese Leistung läßt sich jedoch nicht rückprojizieren in die Zeit vor Juli 1990. Denn hier galten andere Normen. Wenn also von einer relativen Produktivität von 1/3 oder von 30 % gesprochen wird, dann mag das plausibel und Ergebnis einer wissenschaftlich exakten und nachvollziehbaren Rechnung sein, unanfechtbar ist es nicht. Natürlich ist es so, daß die meisten DDR- Bürger lieber einen Golf oder Kadett als einen Trabi gekauft hätten, wären sie nur angeboten worden. Wurden sie aber nicht, und so ist es erklärlich, daß ein Produkt, das gegenüber der technologischen Front im Automobilbau weit zurückgeblieben war, nach wie vor hergestellt und verkauft werden konnte. Damit haben wir eine weitere Erklärung für den Technologierückstand, Abschottung vom Weltmarkt, auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen möchte.

II. Schlechter Start oder schlechter Lauf? Ginge man davon aus, daß die Produktivität auf dem Gebiet der DDR 1939 oder 1945 sich nicht signifikant gegenüber dem Gebiet der BRD unterschied, dann müßte der gesamte Rückstand zwischen 1945 und 1989 entstanden sein. Ritsehl rechnet für 1936 mit einem Produktivitätsniveau im Osten von 87,5 % des westlichen Niveaus8. Andere Schätzungen gehen für die Vorkriegsperiode von gleichen, wenn nicht sogar im Osten etwas höheren Produktivitätsniveaus aus9. Die Kriegszerstörungen waren im Westen höher als im Osten. Die Produktivitätslücke ist also sicher zum größten Teil nach 1945 entstanden. Wie das geschehen konnte, ist nun allerdings ein Rätsel, zu dem ich hier einige Überlegungen anstellen möchte, dessen Erklärung allerdings noch ausführlicher Untersuchungen bedarf. Das Rätsel ist ein allgemeines Problem von Wachstum und Innovation in realsozialistischen Systemen. Was den „Fall DDR" heraushebt, ist vielleicht die Chance, auf Grund der Vergleichsmöglichkeiten quantitativ etwas Genaueres über Ausmaß und Ursachen sagen zu können. Von 1950 bis 1989 ist die Arbeitsproduktivität (jetzt des realen BIP) in der BRD um 389 % gestiegen, sie hat sich also fast vervierfacht. Wäre die Produktivität in beiden Teilen Deutschlands 1950 noch gleich hoch gewesen, dann hätte die Produktivität in der DDR in der Folgezeit fast konstant bleiben müssen, um das Endergebnis hervorzubringen. Die offizielle DDR-Statistik hat allerdings Produktivi8 Ritsehl, S. 16. 9

Vgl. Baar, L. / Karisch, R. / Matschke, W., Kriegsfolgen und Kriegslasten Deutschlands. Zerstörung, Demontage und Reparationen. (Studien zur Wirtschaftsgeschichte 1) Berlin 1993.

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tätssteigerungen ausgewiesen, die im Schnitt über dem Niveau der BRD lagen. Aus dieser hypothetischen Rechnung ergibt sich die Frage: - Was ist wirklich mit der Wirtschaft der beiden deutschen Teile in der Periode von 1945-1950 passiert? Zwei Faktoren spielen hier zusammen: Demontage und erster Wiederaufbau. Die Demontagen waren im Osten erheblich höher als im Westen. Über die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit läßt sich zur Zeit auf Grund fehlender Daten wenig Konkretes sagen. Eine nicht unplausible Schätzung10 läßt darauf schließen, daß die Pro-Kopf Produktivität in der DDR in der 1. Hälfte der fünfziger Jahre bei ca. 87 % des westdeutschen Niveaus lag. Ritsehl schätzt das Produktivitätsniveau im warenproduzierenden Gewerbe für 1950 zwischen 70 und 100 % n Das bedeutet, daß der Produktivitätsrückstand der DDR zum allergrößten Teil in der Periode von 1955 bis 1989 aufgelaufen ist. Das bedeutet aber auch, daß die offiziellen Wachstumsraten der DDR-Wirtschaft nicht stimmen können. Auch die Wachstumraten, die Ritsehl in Anlehnung an Merkel und Wahl für plausibel hält, sind noch zu hoch 12 . Selbst die „pessimistische" Schätzung des Produktivitätswachstums von 1,8% im Durchschnitt für die 40 Jahre von 1950-1989 erlaubt ein Absinken des Niveaus auf ungefähr ein Drittel des westdeutschen Niveaus nur, wenn man bereits für 1950 für die DDR von einem Niveau von 70 (BRD = 100) ausgeht. Demontage, Produktionsentnahme und ungleicher Tausch mit der Siegermacht, die meisten dieser Faktoren haben die DDR sicher härter getroffen als die BRD. Man sollte sie jedoch nicht überbewerten. Die Tschechoslowakei, das zweite hochindustrialisierte Land des sozialistischen Lagers, wurde davon in sehr viel geringerem Ausmaß getroffen, und doch hat sie in ihrer Produktivitätsentwicklung den gleichen tiefen Fall getan wie die DDR. 1 3

B. Innovation und Rückständigkeit Wenn ich von Innovation spreche, dann meine ich erst einmal Veränderungen in der Produktion, die zu Produktivitätssteigerungen führen. Für Prozeßinnovationen und organisatorische Innovationen scheint das evident. Aber auch Produktinnovationen sind damit nicht ausgeschlossen. Soweit es sich um Produktionsmittel handelt, sind sie nur dann innovativ, wenn sie diesen Effekt haben. Soweit es sich um Endprodukte handelt, spiegelt sich die Neuerung in einem höheren Wert und damit ebenfalls in einer Zunahme der Produktivität wider.

io Vgl. Baar / Karlsch / Matschke, S. 103. π Ritsehl, S. 16. 12 Ebd., S. 3; Merkel, W. / Wahl, S., Das geplünderte Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991. 13 Vgl. Baar / Karlsch / Matschke, S. 106; Van Ark / Beintema, Output and Productivity.

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Die innovative Leistung eines Wirtschaftssystems hängt davon ab, ob es sich an der technologischen Front befindet, d. h. Produktivitätssteigerungen nur durch Innovation im strengen, absoluten Sinne erzielen kann, oder ob es rückständig ist und Produktivitätssteigerungen durch Übernahme eines gegebenen Innovationspotentials erreicht. Im ersten Fall ist die Inventivität entscheidend. Hierfür ist die Patentstatistik ein brauchbarer Indikator. 14 Es scheint ziemlich deutlich, daß die DDR - zusammen mit den übrigen RGW-Ländern - in fast allen Industriezweigen weit von der technologischen Front entfernt war. Bezeichnend hierfür ist die Zahl der Patentanmeldungen auf dem führenden Markt, den USA, die 1986 für Japan 13.208, für die BRD 6.803 und für die DDR 53 betrugen. 15 Unterschiede in der „Patentkultur", die vielleicht einen Teil der Differenz zwischen Japan und der BRD erklären können, sind da nicht mehr relevant. Im zweiten Fall der Rückständigkeit wird man die Differenz des Produktivitätswachstums der jeweiligen Wirtschaft mit dem Produktivitätswachstum an der technologischen Front als Erfolgskriterium ansehen: findet Konvergenz («catching up) statt oder Divergenz? Technologische Rückständigkeit war für den gesamten RGW-Raum kennzeichnend.16 Ob die Sowjetunion in ihrer siebzigjährigen Geschichte gegenüber dem Westen aufgeholt hat oder nicht, ist eine schwierige Frage, die uns hier nicht weiter beschäftigt. Evident ist, daß die DDR - wie auch die CS SR - im Vergleich zu ihrer Vorkriegsposition zurückgefallen ist und zwar weit zurückgefallen ist. Die Osteuropaforschung hat die katastrophale Mikroeffizienz in den zentralgeplanten Wirtschaftssystemen immer gesehen und mit Indikatoren wie dem spezifischen Energieverbrauch, dem Lizenzhandel, der Struktur und Wettbewerbsfähigkeit des Außenhandels dokumentiert. Sie stand aber vor einem Paradox 17: wie war dann das trotz dieser Mikroineffizienz respektabele Wirtschaftswachstum zu erklären, das die RGW- Länder über längere Zeiträume an den Tag legten und das bei der gegebenen Beschäftigungsentwicklung hohe Produktivitätsgewinne implizierte. Die starke Verlangsamung des Wachstums und der Produktivitätsentwicklung seit ungefähr Mitte der siebziger Jahre, die - mit Ausnahme der DDR - aus den offiziellen Statistiken ersichtlich war und die eigenartigerweise parallel zu einer ähnlichen Entwicklung im Westen auftrat, 18 schien das Paradox etwas abzuschwä14

Vgl. Griliches, Z., Patent statistics as economic indicators: A survey, in: Journal of Economic Literature, 28, 1991, S. 1120-71; Slama, J., Versuch einer Messung der Investitionstätigkeit in Markt- und Nicht-Marktwirtschaften mit Hife der Patentstatistik, in: Economic Systems, 15, 1991, S. 93-115. 15 Slama, Versuch. 16 Vgl. Wilczynski, J., Technology in Comecon, London 1974. 17

Vgl. Gomulka, S., Growth, Innovation and Reform in Eastern Europe, Brighton 1986. Vgl. Wagener, H.-J., / Muysken, Zur Verlangsamung der dynamischen Effiziens in kapitalistischen und sozialistischen Ländern, in: Schüller, Α., (Hg.), Wachstumsverlangsamung und Konjunkturzyklen in unterschiedlichen Wirtschaftssystemen (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 142), Berlin 1984, S. 117-151. 18

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chen. Aber seine eigentliche Lösung kann erst mit einer Neubewertung der Wachstumsindikatoren erfolgen, die im Rahmen einer Erklärung der konstatierten Produktivitätslücke erforderlich ist.

C. Drei Erklärungsansätze Das Wirtschaftswachstum war nun keineswegs in allen RGW-Ländern gleichbleibend hoch. Jeder Reformversuch hatte seinen Anlaß in einer nicht mehr zu übersehenden Wachstumskrise: das NÖS in der DDR, die Kosygin-Reform der Sowjetunion, die tschechoslowakischen und ungarischen Reformen von 1968. Seit Anfang der sechziger Jahre war man sich grundsätzlich im Klaren darüber, daß die Phase des extensiven Wachstums zu Ende gekommen sei: das Arbeitskräftepotential war ausgeschöpft, eine Steigerung der Akkumulationsquote nicht mehr akzeptabel. In der Phase des intensiven Wachstums mußte dieses, wie im Westen, aus dem Strukturwandel und dem technischen und organisatorischen Fortschritt gespeist werden. Es gibt zahlreiche westliche Untersuchungen zur Wachstumsverlangsamung in den realsozialistischen Ländern. 19 Besondere Aufmerksamkeit erhielt dieses Thema jedoch, als sich - wie bereits erwähnt - Anfang der achtziger Jahre eine dramatische Verschlechterung der sowjetischen Wachstumsposition zeigte, die ungefähr Mitte der siebziger Jahre eingesetzt hatte. Die Liste der Faktoren, die dafür verantwortlich gemacht wurden, ist lang 20 : - eine niedrige und abnehmende Rate des technischen Fortschritts, - rasch fallende Ertragszuwächse bei der Kapitalakkumulation, - X-Ineffizienz (d. h. unvollständige Nutzung der vorhandenen Kapazitäten), - fehlende Innovationstätigkeit, - unzureichende Anreize und Entscheidungskriterien, - weiche Budgetbeschränkungen, - intersektorale allokative Ineffizienz, - Mangelsituationen und Zulieferprobleme. Dabei werden allerdings Ursachen und Wirkungen durcheinander geworfen. Doch klar ist, daß der Kern des Problems in der Innovationsleistung der betroffenen Wirtschaften liegt. 19 Vgl. z. B. Altmann, F.-L., / Kyn, O., / Wagener, H.-J., (Hg.), On the Measurement of Factor Productivities. Theoretical Problems and Empirical Results, Göttingen 1976. 20

Vgl. ζ. Β. Desai, P., Soviet Growth Retardation, in: American Economic Review Papers and Proceedings, 76, 1986, S. 175-80.

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Diese schlechte Leistung der Innovation in den sozialistischen Planwirtschaften gilt es nun zu erklären. In der Literatur trifft man zwei verschiedene Erklärungsparadigmata an 21 : - Grundsätzliche Systemmängel der Zentralverwaltungswirtschaft machen diese unfähig zur Innovation. Das ist bevorzugt die westliche Sicht der Dinge. - Rückständigkeit zu Beginn und historische Widrigkeiten im Laufe der Zeit erlaubten dem Sozialismus nicht, sein Innovationspotential zu entfalten. Das war bevorzugt die östliche Sicht der Dinge (aber Reformsozialisten waren durchaus in der Lage, Funktionsmängel des Systems zu erkennen, vgl. ζ. B. den sogenannten Richta-Report von 1968). Amann und Cooper erweitern diese Dichotomie in drei Kernfragen (wobei sie sich auf die Sowjetunion beziehen, was sich jedoch mutatis mutandis für alle RGW-Länder verallgemeinern läßt) 22 : - Wie rückständig war die jeweilige Wirtschaft am Beginn? Welche Qualifikationen besaßen die Beschäftigten? Wie einschneidend waren die Widrigkeiten, die im Laufe der Periode auftraten? Dies ist der historische Aspekt der Verfügbarkeit von Ressourcen. In der Dichotomie von Anlage und Umwelt ist es der Umweltfaktor. Es sollte deutlich sein, daß der Fall der DDR und der CSSR, Wirtschaftssysteme mit einer hochentwickelten kapitalistischen Vergangenheit, in dieser Beziehung ganz anders gelegen ist als der Fall der UdSSR oder Polens. Im Falle der DDR werden in diesem Zusammenhang vor allem die Demontagen erwähnt. Gravierender war wahrscheinlich die millionenfache Abwanderung von Fachkräften. Wichtig ist auch die Abschottung vom Weltmarkt und damit von der technologischen Front, die zum Teil aufgezwungen (Cocom), zum Teil selbst gewollt und zum Teil Folge der wirtschaftlichen Entwicklung war. - Zu welchem Grad ist die schlechte Innovationsleistung einer bewußten Wirtschaftspolitik der Regierung geschuldet? Das ist der politische Aspekt der Allokation von Ressourcen. Hierunter fallen z. B. die gerade erwähnte Abschottung vom Weltmarkt, die Entscheidung, in jedem Land eine schwerindustrielle Basis zu schaffen, die Vernachlässigung traditionell wettbewerbsfähiger Industriezweige, usw. - In welchem Maß und über welche Kanäle fördert oder hindert das System einer Zentralverwaltungswirtschaft die Innovation? Dies ist schließlich der Systemaspekt der Nutzung von Ressourcen. In der Dichotomie von Anlage und Umwelt ist dies dann der Faktor Anlage: in welcher Umgebung auch immer, das praktizierte System der Planwirtschaft war inhärent innovationsfeindlich.

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Vgl. Amann, R. / Cooper, J. (Hg), Industrial Innovation in the Soviet Union, New Haven 1982; dies., Technical Progress and Soviet Economic Development, Oxford 1986. 22 Amann / Cooper. (Hg.), Industrial Innovation.

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Es gehört zur Folklore der kapitalistischen Marktwirtschaft, von Marx ausdrücklich unterstrichen, daß Wettbewerb Rationalisierung und Innovation stimuliert. Die Erwartung an den Sozialismus bestand unter anderem darin, daß diese indirekte und planlose Stimulierung durch rationale unmittelbare Planung ersetzt und verbessert werden könnte. Diese Erwartung konnte der real existierende Sozialismus offensichtlich nicht realisieren. Die drei Erklärungsansätze spiegeln das allgemeine Modell wider, das der Theorie der Wirtschaftssysteme zugrundeliegt 23. Das Problem der Analyse von Wirtschaftssystmen beruht darin, folgende allgemeine Relation zu identifizieren und zu spezifizieren: Y=f{E,S,P}

Dabei ist Y ein Vektor der numerischen Werte von m Variablen, mit deren Hilfe wir die Leistung eines Wirtschaftssystems messen. In unserem Fall haben wir uns auf die Produktivität beschränkt, wodurch das Problem der Aggregation der m Variablen fortfällt. Die Leistung hängt ab von der Umgebung E, in der die natürlichen Gegebenheiten ebenso enthalten sind wie die historischen Gegebenheiten, Wissen und Qualifikation ζ. B., von den Strategien Ρ der Entscheidungsträger, der individuellen wie der kollektiven, und vom System S, das hier als die Gesamtheit der politischen und ökonomischen Ordnung verstanden wird. Die Frage „Geschichte oder System?" kann nun wie die alte Streitfrage „Anlage oder Umwelt?" kaum empirisch entschieden werden. Denn die Faktoren lassen sich in ihrem Einfluß nur schwer voneinander trennen 24. So ist der Systemaspekt nicht eindeutig vom politischen Aspekt zu scheiden. Man kann ζ. B. die hohe Konzentration in der Industrieorganisation und die damit verbundene betriebliche Autarkie als Resultat der Wirtschaftspolitik sehen. Sie wurde dieser jedoch durch die Logik des Systems aufgezwungen: für einen Zentralplaner ist nur eine überschaubare Zahl von Großbetrieben, Kombinaten, zu bewältigen. Die Wirtschaftspolitik wiederum wird sich häufig auf historische Zwangsläufigkeiten berufen. War nicht der Aufbau einer metallurgischen Grundstoffindustrie in der DDR zu Anfang der fünfziger Jahre eine unumgängliche Notwendigkeit und das stalinistische Entwicklungsmodell, dem dieser Aufbau entsprach, nur sekundär? „Wir hatten gar keine andere Wahl", lautet die in diesem Zusammenhang häufig gehörte Aussage. Das ist aber nun genau die Frage. 23 Vgl. Koopmans, T. C. / Montias, J. M., On the Description and Comparison of Economic Systems, in: Eckstein, A (Hg.), Comparisons of Economic Systems, Berkeley 1971; Kornai, J., Anti-equilibrium: on the economic systems theory and the tasks of research, Amsterdam / London 1971; ders., Economics of Shortage, Amsterdam 1980; Wagener, H.-J., Zur Analyse von Wirtschaftssystemen, Berlin / Heidelberg 1979. 24 Vgl. Wagener, H.-J., Über Sinn und Methode des Vergleichs von Wirtschaftssystemen, in: Schüller, A. (Hg.), Theoriebildung und empirische Forschung im Systemvergleich (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 167), Berlin 1987, S. 37-60.

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Im Folgenden gehe ich etwas ausführlicher auf den politischen und den Systemaspekt der Innovationsschwäche ein, wobei der historische Aspekt im Zusammenhang mit dem politischen zum Tragen kommt, weil hier die Verflechtung besonders eng ist. Über das jeweilige Gewicht dieser Aspekte läßt sich zur Zeit keine empirisch gestützte Aussage machen. Das liegt zum einen an der grundsätzlichen Schwierigkeit der Isolierung. Zum anderen liegt es an der unzulänglichen Datensituation. Die Rekonstruktion der DDR-Statistik wird noch einige Zeit erfordern.

D. Mangelnde Anreize und mangelnde Autonomie Es ist bereits von Gomulka darauf hingewiesen worden, daß nach dem neoklassischen Innovationsmodell, z. B. in seiner elegantesten Formulierung von Dasgupta und Stiglitz wettbewerbsfreie, zentralgeplante Wirtschaftssysteme zu besonders hohen Innovationsleistungen kommen müßten. Das entspricht dem rationalistischen Charakter der neoklassischen Theorie und der auf einer ähnlichen Grundlage basierenden Erwartung der sozialistischen Theoretiker. Die evidente Unfähigkeit der Planwirtschaften zur Innovation bringt diesen rationalistischen Ansatz in Erklärungsschwierigkeiten. Auf Schumpeter geht die Vermutung zurück, daß die Erreichung dynamischer Effizienz anderen Gesetzen gehorcht als die Erreichung statischer Effizienz. Wettbewerb als treibende Kraft spielt eine entscheidende Rolle. Deshalb ist das zentrale Argument, das man in der westlichen Literatur antrifft, die Unvereinbarkeit von zentraler Planung und innovativem Schwung: die Rolle des Unternehmers ist unbesetzt. Locus classicus für dieses Argument ist die umfangreiche Studie Berliners zur Innovation in der sowjetischen Industrie 25. Für Berliner hat das Anreizsystem die zentrale Bedeutung, der Wettbewerb ist daneben sekundär. Vielleicht drei Punkte sind hier hervorzuheben: - Das Verhalten der Menschen im Sozialismus unterscheidet sich wohl kaum von dem anderer Leute. Bei entsprechenden Anreizstrukturen kommen sie also auch zu ähnlichen Ergebnissen. Wenn die sozialistischen Manager nicht an Innovation interessiert sind, dann liegt das vor allem an den Randbedingungen, an ihren Anreiz- und Kontrollsystemen. Der Manager eines sozialistischen Betriebes kann mit einer Konzentrierung der Pläne und ihrer Erfüllung auf Standardaktivitäten sein Einkommen, vor allem in der Form von Prämien, maximieren. Dem Risiko von Innovationen stehen keine entsprechenden Gewinnchancen gegenüber. Im Gegenteil : der extrem kurze Zeithorizont der Planung macht jede Änderung im Produktionsprogramm zu einem hohen Risiko, das man tunlichst vermeidet.

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Berliner, J., The Innovation Decision in Soviet Industry, Cambridge / Mass. 1976.

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- Die fehlende Autonomie der Betriebe führt zum einen dazu, daß sie ihre externen Beziehungen nicht bestimmen können. Das bedeutet: schlechte Zulieferer können nicht fallengelassen werden. Die Änderung von Zulieferplänen, die bei einer Produktänderung, aber auch bei einer Prozeßänderung erforderlich ist, ist nur über schwerfällige administrative Prozesse zu erreichen und entspricht auch dann nur in Ausnahmefällen genau den Anforderungen: erzwungene Substitution, d. h. mit dem Zweit- oder Drittbesten vorlieb nehmen, ist systemtypisch. Qualität und Flexibilität des gesamten Zulieferungssystems sind abhängig vom „sichtbaren Fuß", d. h. den administrativen Maßnahmen des Planers, und nicht vom „unsichtbaren Fuß", mit dem der Wettbewerb träge Unternehmer zu höheren Anstrengungen oder zum Ausscheiden antreibt. 26 Eng damit verbunden ist die zweite Folge der fehlenden Autonomie der Betriebe. Unproduktive Betriebe, die knappe Ressourcen im Übermaß binden, scheiden nicht aus der Produktion aus. Natürlich ist das fehlende Konkursrisiko auch ein (negativer) Anreizfaktor für die Manager. Diesen Punkt hat Zhou noch einmal unterstrichen: nicht so sehr die mageren positiven Anreize, als vielmehr fehlender Wettbewerb und fehlende effektive Sanktionierungsmaßnahmen erlauben dem Manager seine Risikoaversion 27. Wir sehen, Anreizsystem und Wettbewerb lassen sich kaum voneinander trennen. - Schließlich hat Berliner bereits auf die Folgen der organisatorischen Trennung von Forschung und Entwicklung einerseits und der Produktion andererseits hingewiesen, auf die wir noch zu sprechen kommen. In einem rationalen System, in dem darüberhinaus der sozialistischen Erwartung entsprechend volle Interessenharmonie herrsche, dürfte ein solches Regime keine Probleme aufwerfen. Wo diese Bedingungen jedoch nicht gegeben sind, wird die Produktion von wertlosen Innovationen wahrscheinlich. Tatsächlich wird jedes Innovationsprojekt bürokratisiert und gerät in ein komplexes Netzwerk administrativer Regulierungen und kooperativer Beziehungen. Amann und Cooper sprechen von einer Fragmentierung des Innovationsprozesses. Seine Folgen sind gewaltig verlängerte Vorlaufzeiten und eine Tendenz zu wenig produktiven Kompromißlösungen, die

26 Wenn Roesler feststellt, „Die Durchschnittsunternehmen in der Marktwirtschaft unter scheiden sich aus dieser Sicht [der Schumpeterschen Innovationstheorie, HJW] wenig von den planwirtschaftlichen VEB: Beide Arten von Unternehmen sind - mehr oder weniger auf Routine angewiesen, stehen offensichtlich raschen und radikalen technologischen Wandlungen nur wenig aufgeschlossen gegenüber", dann hat er damit, was bahnbrechende Innovationen betrifft, beinahe definitionsgemäß recht. Nicht recht hat er aber, wenn er daraus auf gleiche oder ähnliche Routinen schließt. Denn das, was er an gleicher Stelle die Unantastbarkeit der Existenz von VEB nennt, kennt der marktwirtschaftliche Durchschnittsbetrieb nicht. Für ihn sind Wettbewerb und Kostendruck Routine, und damit auch der kontinuierliche Zwang zur Produktivitätssteigerung. Roesler, J., „Auf der Suche nach den Ursachen realsozialistischer Innovationsschwäche", in: Utopie-kreativ, 25 / 26 1992, S. 156. 27 Zhou, H., Innovation Decision and Reward Structure, in: Journal of comparative economics, 15, 1991, S. 661-680.

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von der konservativen Grundhaltung der Unternehmen und der ambivalenten Grundhaltung der Ministerien nur verstärkt wird. 28 Die Innovation in der Planwirtschaft ist eine Innovation auf Befehl, auf Anordnung. Naturgemäß wird sich der Planer bevorzugt mit diskreten Schritten befassen. Für den Innovationsprozeß, die kontinuierliche Steigerung der Produktivität sind demgegenüber die kumulativen Effekte marginaler Veränderungen entscheidend, die der einzelne Produzent laufend als Produkt- und Prozeßverbesserungen anbringt. Wir haben bereits von der Bedeutung der Ersatzinvestitionen gesprochen. Sie hatten in der Investitionsplanung immer eine sekundäre Position: minima non curat praetor - sonst aber eben auch niemand, denn eine zweite Entscheidungsebene gab es nicht.

E. Paternalismus und weiche Budgetbeschränkungen Kornai, der den zweiten „klassischen" Ansatz zur Erklärung der Unverträglichkeit von Planwirtschaft und Innovation vorgelegt hat, setzt die Akzente etwas anders. 29 Auch er kritisiert die mangelnde Autonomie der Betriebe in der sozialistischen Planwirtschaft. Die paternalistische Praxis, alle Prozesse, sowohl die Routineprozesse wie die Innovationsprozesse von der Zentrale aus zu kontrollieren, nimmt den Unternehmen einerseits jegliche Selbständigkeit, bewahrt sie aber auch vor Selbstverantwortlichkeit. Die Risiken liegen im wesentlichen beim Staat, der aber, das kann man hier vom Schumpeterschen Gesichtspunkt aus hinzufügen, nicht in der Lage ist, die Unternehmerfunktion effektiv auszuüben. Der Staat übt kein bewußtes Risikomanagement aus. Das sozialisierte Unternehmensrisiko wird durch erhöhte Ineffizienz aufgefangen. Der unbedingte Schutz der Unternehmen durch den Staat führt zu weichen Budgetbeschränkungen und diese zu einem Verkäufermarkt. - Weiche Budgetbeschränkungen haben vor allem zur Folge, daß den Preisen, selbst wenn sie repräsentativ für die relativen Knappheiten wären, keinerlei Lenkungsfunktion zukommt. Die Betriebe sind keine Preisnehmer, sondern haben Einfluß auf die Preisbildung. Vor allem auch bei neuen Produkten, worauf schon Berliner hingewiesen hatte. Für neue Produkte muß die Preisbehörde einen Preis fixieren, der der allgemeinen Regel Kosten plus Neuheitsgrad unterliegt. In den diesbezüglichen Verhandlungen zwischen Betrieb und zentraler Autorität hat 28

Amann / Cooper (Hg.), Industrial Innovation. So auch Roesler, S. 158. Der Unterschied im theoretischen Ansatz von Berliner und Kornai, nämlich der Unterschied zwischen der neoklassischen Theorie rationaler Wahlhandlungen und der behaviouristischen Theorie des satisficing, ist in diesem Zusammenhang nicht so wichtig. Ob der Manager eines Betriebes seinen Nutzen maximiert oder ob er routinegemäß handelt, er muß, um im Rahmen des Systems zu überleben, Informationen verfälschen, verdeckte Reserven bilden, Mittel für rent seeking aufwenden. 29

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letztere einen schwachen Stand auf Grund unvollständiger Information. Scheininnovationen muß aber der Planer aufdecken, da der Test des Marktes fehlt. - Wenn also von Informationsdefiziten als Ursache für die Innovationsschwäche die Rede ist, dann bedeutet das nicht, sozialistische Planer und Manager wüßten nicht, was technologisch gerade „ w " ist. Sie wissen auf Grund fehlender objektiver Preise nicht, ob eine Innovation „sich rechnet". „Ihr Vorteil war, daß sie diese Umwälzung nicht unter dem Kostendruck der westlichen Firmen ... durchführen mußten." 30 Das gereichte ihnen aber nicht erst nach der Wende zum Nachteil: eine „Innovation", die über längere Zeiträume mehr kostet als sie erlöst, mag eine technische Neuerung sein, eine wirtschaftliche Innovation ist sie nicht, sie verlangsamt das Wachstumstempo (vgl. ζ. B. die Halbleiterfertigung). 31 - Überleben des Betriebes, Investitionen und Wachstum hängen nicht von der finanziellen Rentabilität und von der Wettbewerbsfähigkeit ab. Zwar ist Wachstum für jede Einheit in der Planwirtschaft, egal ob Betrieb, Ministerium oder zentrale Autorität, das vorrangige Ziel - schließlich bestimmt die absolute Größe Macht und Einfluß. Aber Wachstum hängt eben nicht von den erwirtschafteten Mitteln ab, sondern von den zugewiesenen Mitteln. Damit wird Innovation durch rent seeking ersetzt. Den Planer überzeugen andere Argumente von der Notwendigkeit einer Investition als den Markt. Bei stabilen politischen Machtverhältnissen führt das zur strukturellen Rigidität. Daraus läßt sich die Hypothese ableiten, daß Produktivitätsgewinne aus Strukturwandel eine geringe Rolle gespielt haben. Denken Sie nur daran, wie rasch die Beschäftigung in der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie im Westen abgenommen hat und wie hoch die Überbesetzung dieser Sektors in der DDR war bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel in vielen anderen Sektoren. - Die Folge weicher Budgetbeschränkungen ist dann der Verkäufermarkt. Denn die Käufer sind durch nichts in ihrem Warenhunger beschränkt. Das System insgesamt ist nur durch die verfügbaren Ressourcen beschränkt. Damit findet alles, was produziert wird, einen Abnehmer. Lieferschwierigkeiten, und nicht wie im Marktsystem Nachfrageschwierigkeiten, sind das systemtypische Problem. Innovation dient häufig dazu, diese Lieferschwierigkeiten zu überbrücken. 32 Dadurch kommt es eher zu Prozeßinnovation als zu Produktinnovationen. Erzwungene Substitution nicht erhältlicher Inputs und nicht die Behauptung auf dem Markt oder der Druck der Nachfrage leiten den Innovationsprozeß. Das kann durchaus zu einem technologischen Regress führen: um eine Aktivität überhaupt aufrecht zu erhalten, werden schon mal Produktivitätsverluste in Kauf genommen. Der Rentabilitätsverlust ist nicht unbedingt tragisch, wenn nur der Plan erfüllt wird. Denn die weichen Budgetbeschränkungen fangen ihn auf. Die 30 Roesler, S. 157. 31

Vgl. ζ. B. die Halbleiterfertigung. 32 Vgl. Gomulka.. 3 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Versorgungschwierigkeiten, mit denen sich ein Unternehmen ständig konfrontiert sieht, führen noch zu einer weiteren Reaktion, die für die Produktivitätsentwicklung fatal ist: die Tendenz zur betrieblichen Autarkie. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik noch einmal zu sprechen.

F. Der Innovationsprozeß Aus dem Vorhergehenden kristallisieren sich vier Eigenschaften einer Zentralverwaltungswirtschaft heraus, die den Innovationsprozeß wesentlich beeinflussen: 33 - Die Betriebe werden über multiple Hierarchien geleitet, d. h. sie sind Diener mehrerer Herren. Daraus folgt das Phänomen der Fragmentierung der Entscheidungsstrukturen. 34 - Die horizontalen Beziehungen der Betriebe zu ihren Lieferanten und ihren Abnehmern sind schwach und enthalten keine Sanktionierungsmöglichkeiten seitens der Betriebe - vor allem eben nicht des Abnehmers gegenüber dem Lieferanten. - Das Preissystem vermittelt keine zuverlässigen Informationen bezüglich der Knappheit der Ressourcen. Verfügbarkeit, und nicht die Kosten, ist das ausschlaggebende Entscheidungskriterium für den Einsatz von Ressourcen. - Der Innovationsprozeß ist im wesentlichen angebotsgetrieben und nicht von der Nachfrage induziert. 35 Damit erhält der Innovationsprozeß in einer Planwirtschaft einen eigenen Charakter. Es geht um den Prozeß der Auswahl, des Tests und der Verbreitung neuer Kombinationen. Dieser Prozeß erfolgt auf Märkten mit Rivalität als quasi „natürlicher" Selektionsprozeß,36 und er wird deshalb auch bevorzugt im Rahmen eines evolutionstheoretischen Paradigmas untersucht. 37 33

Vgl. Schroeder, G. E., The implementation and integration of innovation in Soviet-type economies, in: Cato Journal 1 1989, S. 35-55. 34 Vgl. Sauer, Th. H. W., Mißlungene Vergesellschaftung: Fragmentierung als Problem des Innovationsprozesses im Sowjetischen Wirtschaftssystem, Diss. Kassel 1993. 35 Berliner hat auf das Phänomen aufmerksam gemacht, daß die Abnehmer, wenn sie Kosten-Nutzen Rechnungen anstellen und ihre Nachfragewünsche äußern können, dazu tendieren, alte Maschinentypen und nicht Innovationen nachzufragen. So auch Judt, M., Zur Geschichte des Büro- und Datenverarbeitungsmaschinenbaus in der SBZ/DDR, in: Plumpe, W./ Kleinschmidt, Ch. (Hg.), Unternehmen zwischen Markt und Macht, Essen 1992, S. 137-153. Denn die alten Typen sind billiger, und die „Innovationen" sind erfahrungsgemäß nur geringfügig produktiver. Das ist die Folge zahlreicher Scheininnovationen, die dazu dienen, in den Verhandlungen mit den Preisplanern höhere Preise herauszuschlagen. Diese Praxis der versteckten Inflation führt natürlich zu überhöhten Raten des realen Wachstums. 3

6 Vgl. Williamson, Ο. E., The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985.

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Im Sowjetmodell der Planwirtschaft sind die Produktionsbetriebe vornehmlich mit den kurzfristigen Produktionszielen beschäftigt. Sie haben keinerlei Anreiz, von sich aus innovativ tätig zu werden. Hierzu bedarf es des Anstoßes von oben. Um die knappen Forschungs- und Entwicklungsressourcen zu konzentrieren und um Doppelarbeit 38 zu vermeiden, sind die FuE-Aktivitäten aus den Produktionsbetrieben ausgelagert. Eigenständige FuE-Betriebe, organisatorisch und geographisch von der Produktion getrennt, haben jetzt die Innovation planmäßig zu produzieren. Die Planung hierfür und die entsprechenden Anreizsysteme sind ein Problem für sich. 39 Es ist schon erstaunlich, mit welcher Perseveranz noch Ende der achtziger Jahre die deterministische „einheitliche Forschungs- und Technologiepolitik" in der Sowjetunion propagiert wurde, mit der die Aktivitäten und Mittel planmäßig in die „Hauptrichtungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts" gelenkt werden sollten, 40 obwohl die Folgen der Fragmentierung allgemein bekannt waren. Nicht nur die Stimulierung von Forschung und Entwicklung, auch die Bewertung von Innovation obliegt erst einmal dem Planer. Aber auch der ist stark von der Leitung und Kontrolle des laufenden Produktionsprozesses in Anspruch genommen. Hinzu kommt, daß eine kleine Gruppe relativ gleich orientierter Planer und politischer Führer eher eine Innovation übersieht oder zurückweist als eine große Zahl voneinander unabhängiger Unternehmer. Dies trifft vor allem bei organisatorischen Innovationen zu, aber nicht nur dort. 41 Typisch hierfür ist die Phase des experimentellen Tests, die im geplanten Innovationsprozeß im Unterschied zum evolutorischen trial and error im Wettbewerb erforderlich ist. In der Regel hat die Testphase die vorgefaßten Bewertungen der zentralen Autoritäten bestätigt. Nicht wenig zu diesem Ergebnis hat die bevorzugte Behandlung - allgemeine Aufmerksamkeit, aber vor allem bevorzugte Belieferung mit Investitionsgütern, Rohstoffen und anderen Vorprodukten - der Testbetriebe oder - branchen beigetragen. So konnte man immer wieder, sowohl bei technischen Neuerungen wie bei organisatorischen Reformen, das gleiche Muster beobachten: nach großer Publizität und äußerst erfolgreichen Tests bleibt die Neuerung auf den Testbetrieb beschränkt oder erzielt, wenn sie allgemein eingeführt wurde, nicht die versprochenen Produktivitätsgewinne. Die typische Reaktion der Politik auf Mißerfolge ist ihre Personalisierung: Fehler haben einen Namen. Damit bleibt das System von Kritik verschont. Noch erstaunlicher ist die Feststellung, daß technologisch und ökonomisch überlegene Verfahren (z. B. in der Stahlindustrie), obwohl frühzeitig bekannt und in Einzelbetrieben installiert, nicht einmal bei Neuinvestitionen allgemein zum 37

Vgl. Erdmann, G., Elemente einer evolutorischen Innovationstheorie, Tübingen 1993. Im marktwirtschaftlichen Milieu wird das Konkurrenz genannt. 39 Vgl. Amann / Cooper (hg.), Industrial Innovation. 40 Vgl. Sauer, S. 60. 38

41

Vgl. Kontorovich, V. The progress of organizational innovation in a command economy, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Heft 144, 1988, S. 878-84. 3*

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Einsatz kamen. 42 Als Erklärung wird vermutet, daß konservative Manager und Planer durch nichts gezwungen werden, sich von den ihnen vertrauten Verfahren zu trennen. Die zusammen mit dem technischen Fortschritt erforderlichen Investitionen in Humankapital sind offensichtlich nicht in ausreichendem Maße vorgenommen worden. Die Fragmentierung des Innovationsprozesses und die systemtypischen Eigenschaften des Investitionsprozesses haben schließlich eine enorme zeitliche Verzögerung bei der Implementierung von Innovationen zur Folge. Jedes planwirtschaftliche Unternehmen will wachsen, weil von der absoluten Größe (des Umsatzes, der Beschäftigung, des Lohnfonds) Einfluß (z. B. im Verhandlungsprozeß um Ressourcen), Zugang zu Vergünstigungen und Prämien abhängen und weil andererseits auf Grund der zentralen Zuweisung der Investitionsmittel von der Kostenseite her keine effektive Beschränkung besteht. Ein Investitionsvorhaben hat eine Chance realisiert zu werden, wenn Kosten und Gewinn in einem günstigen Verhältnis zueinander stehen. Also neigt der beantragende Betrieb dazu, erstere systematisch zu unterschätzen und letztere zu überschätzen, was der Zentralplaner auf Grund der Informationsasymmetrie nicht voll durchschauen kann. Es werden folglich regelmäßig zu viele Investitionsvorhaben in Angriff genommen. Um sie trotzdem abzuschließen - schließlich hat man ja bereits wertvolle Mittel gebunden - , müssen sie über die Zeit gestreckt werden. So kommt das typische Phänomen des viel zu hohen Bestandes unvollendeter Investitionsvorhaben zu Stande. Damit geht eine Verlängerung der Ausreifungszeit von Innovationen einher, die zwischen dem Doppelten und Dreifachen der im Westen üblichen Zeiten lag. Catching up ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Bei einer Beschleunigung des Generationenwechsels an der technologischen Front, wird der Rückstand sogar wachsen. Die Konzentration der westlichen Forschung auf die Sowjetunion hat möglicherweise divergierende Entwicklungen in anderen RGW-Ländern aus dem Auge verloren. Vor allem das NÖS der sechziger Jahre und die Kombinatsreform seit 1978 in der DDR verdienen hier Aufmerksamkeit. Das NÖS gewährte den Betrieben vergleichsweise große Autonomie. Die Kombinatsreform verstärkte demgegenüber den Einfluß der zentralen Organe und hatte unter anderem zum Ziel, den Innovationsprozeß zu internalisieren. Auch spezialisierte Zulieferbetriebe wurden dem Kombinat eingegliedert. 43 Ähnliche Wellen der Dezentralisierung und Rezentralisierung lassen sich auch in Ungarn feststellen. Nach den Untersuchungen von Brada scheint die Dezentralisierung des NÖS für die Effizienz der Wirtschaft günsti42 Vgl. Slama, J., Verbreitung von Innovationen im internationalen Vergleich dargestellt am Beispiel der Oxygenstrahlerzeugung, in: Jahrbuch der Wirtschaft Osteuropas 11-11 1986, S. 101-32. 43 Vgl. Csaba, L., Die investitions- und innovationspolitischen Befugnisse der Unternehmung in der DDR, der Sowjetunion und in Ungarn, in: Konjunkturpolitik Heft 33 1987, S. 167-84.

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ger gewesen zu sein als die Rezentralisierung der Kombinatsreform 44. Die Internalisierung des Innovationsprozesses im Kombinat sollte zwar seine organisatorische Fragmentierung beheben, brachte damit aber eine Verstärkung der Autarkietendenzen mit sich, auf die wir sogleich zu sprechen kommen.

G. Wirtschaftspolitik Es ist häufig darüber gestritten worden, ob die Wirtschaftspolitik der sozialistischen Planwirtschaften systemimmanent sei. Für diese Vermutung spricht einiges und damit wäre die Trennung von systemaren und politischen Faktoren der Innovationsschwäche etwas künstlich. Noch schwieriger ist es, die Wirtschaftspolitik von den historischen Zwängen zu isolieren. Denn in der Tat erscheinen manche Entscheidungen zum jeweiligen Zeitpunkt unausweichlich. Das Problem des Geschichtsschreibers, zu trennen zwischen historischer Eingeschlossenheit und den Freiheitsgraden der Politik, können wir hier nur erwähnen, nicht entwirren. Drei Aspekte möchte ich im Folgenden hervorheben, die eng miteinander verbunden sind: - Wachstumspolitik, - Strukturpolitik, - Außenhandelspolitik.

I. Wachstumsfaktoren Wie sehr auch immer die Wirtschaft der beiden deutschen Teile sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auseinander entwickelt haben mag, die gewaltige Produktivitätslücke am Ende der achtziger Jahre weist auf fundamental unterschiedliche Wachstumsprozesse hin. Wirtschaftswachstum ist das Resultat von Beschäftigungswachstum, Akkumulation und Entwicklung der Faktorproduktivität, auch technischer Fortschritt genannt. Betrachten wir gleich die Arbeitsproduktivität, dann sind Akkumulation und technischer Fortschritt die entscheidenden Faktoren. Die growth accounting Schule (Denison, Maddison) klassifiziert diese Faktoren nun im einzelnen und versucht sie zu messen, um zu erklären why growth rates differ. Dies wäre - bei ausreichendem statistischen Material - ein interessanter Versuch. Leider erlauben die augenblicklich verfügbaren Daten noch nicht eine solche Rechnung.

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Brada, J.C., Technological progress and factor utilization in Eastern European economic growth, in: Economica, 56, 1989, S. 433-448.

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Das Verfahren des growth accounting ist jedoch insofern problematisch, als Akkumulation und technischer Fortschritt nicht unabhängig voneinander sind. Jeder neue Jahrgang von Kapitalgütern hat eine höhere Produktivität: ein Gutteil des technischen Fortschritts ist im Kapital verkörpert. Wo Akkumulation ohne technischen Fortschritt stattfindet, müßte die Beschäftigung proportional mit der Nettoinvestition steigen. Und wo das nicht möglich ist, wäre die Nettoinvestition unproduktiv: sie kann nicht voll genutzt werden. Kontorovich konstatiert die Unterausnutzung des Kapitals auf Grund von Arbeitskräfteknappheit als eine Ursache für abnehmende Ertragszuwächse aus der Akkumulation 45 . Eine solche Situation ist selbst in der DDR denkbar, wo die Arbeitskräfteknappheit, ganz besonders von qualifizierten Arbeitskräften, schon recht bald spürbar wurde - nicht zuletzt auf Grund der Abwanderung bis zum Mauerbau. Die niedrige Rate der Akkumulation, die wir zu Beginn bereits vermutet haben (die sich aber noch nicht hart belegen läßt), schwächt das Problem ab, läßt es aber nicht verschwinden. In diesem Zusammenhang sind die Gesamtinvestitionen relevant, d. h. auch die Ersatzinvestitionen. Die höhere Produktivität neuer Jahrgänge von Kapitalgütern muß bei Vollbeschäftigung die Arbeitskräfte freisetzen, mit denen zusätzliche Anlagen aus Nettoinvestitionen besetzt werden können. In kapitalistischen Wettbewerbswirtschaften gibt es einen einfachen Mechanismus, der dafür sorgt, daß bei neuen Jahrgängen von Produktionsgütern die Innovationspotentiale ausgeschöpft werden: der Lohndruck. Höhere Löhne machen alte, weniger produktive Anlagen ökonomisch unrentabel und zwingen zur ständigen Erneuerung, selbst dann, wenn die Anlage technisch noch einsatzfähig ist. Vor allem die Lohnsteigerungen in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre haben in den westlichen Wirtschaften solche radikalen Erneuerungsprozesse ausgelöst. In den sozialistischen Planwirtschaften war die Investitionsentscheidung und die Verteilung der Investitionsmittel eines der wichtigsten Privilegien des Zentralplaners, Wachstum durch Akkumulation eines seiner obersten Ziele. Ersatzinvestitionen erhielten gegenüber Neuinvestitionen eine untergeordnete Stellung, auch über die technisch sinnvolle Einsatzperiode hinaus. Es herrschte die Illusion, Wachstum sei vor allem Folge der Nettoakkumulation - auch noch zu einer Zeit, da man den Übergang von der extensiven zur intensiven Phase des Wachstums propagierte. Daraus entstand der bekannt hohe Reparaturbedarf am Kapitalstock.46 Einen ein45 Kontorovich, V., Soviet Growth Slowdown: Econometric vs. Direct Evidence, in: American Economic Review Papers and Proceedings, 76, 1986, S. 181-185. 46 Ich erlaube mir hier eine längere Fußnote, weil mir das folgende Zitat besonders illustrativ für die ökonomischen Folgen dieser Politik (und für ein gewisses Unverständnis bei den Betroffenen hinsichtlich der Auswirkungen) zu sein scheint: „Ich selber habe 15 Jahre in einem Industriebetrieb gearbeitet, der von Anfang an dermaßen desolat war, daß man eigenlich hätte denken können, er müsse in kürzester Zeit zusammenbrechen. Tat er aber nicht. Der Grund: Wir lebten in der DDR unter anderen Bedingungen und mit anderen Maßstäben als Sie im Westen...Doch gänzlich verrottet, wie uns jetzt immer wieder eingeredet wird, das war die DDR-Wirtschaft nun wirklich nicht. Sie nahm unter den Industriemächten der Welt einen beachtlichen Platz ein und lag im Verhältnis zu den

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gebauten Mechanismus, die Produktivität neuer Jahrgänge von Kapitalgütern zu steigern, gab es nicht. Dies war Sache der Planer. Aus diesen Überlegungen ergeben sich mehrere Fragen, die komparativ behandelt werden sollten: - Wie hoch war die Produktivitätssteigerung neuer Jahrgänge von Kapitalgütern? Wieviele „Trabis" 47 gab es bei den Kapitalgütern? - Wie groß war der Umfang von Neuinvestitionen, die mangels Arbeitskräfte nicht voll genutzt werden konnten? Wenn es dieses Phänomen gab, dann heißt das schlicht, daß Güter hergestellt worden sind, die gesellschaftlich nicht notwendig waren. In diesem Fall führt die Akkumulation von potentiell produktiveren Anlagen nicht zur gewünschten Produktivitätssteigerung. Das ist selbst bei einer niedrigen aggregierten Akkumulationsrate denkbar. - Wieviel Prozent des Kapitalstocks wurden im Durchschnitt jährlich erneuert, d. h. aber Altanlagen ausgeschieden und durch wirkliche Neuanlagen ersetzt? - Wieviele Arbeitskräfte waren mit Kapitalreparaturen beschäftigt? In diesem Zusammenhang einfacher wachstumstheoretischer Überlegungen ist schließlich noch ein weiterer Faktor zu berücksichtigen, der bei Produktivitätsvergleichen gerne vergessen wird. Es werden manchmal Mengenindizes mit einheitlichen Wertschöpfungsgewichten versehen oder Bruttoproduktionsweite mit einem einheitlichen (und das ist dann der westdeutsche) Vorleistungskoeffizienten auf Wertschöpfung umgerechnet. Damit werden unterschiedliche Vorleistungen außer Acht gelassen. Ein Teil der bereits erwähnten Überschätzung der DDR-Produktivität rührt hierher. 48

osteuropäischen Ökonomien an vorderster Stelle. Diese Position resultierte auch aus den Improvisationsmöglichkeiten, den inneren Strukturen der Betriebe und vor allem aus der Qualifizierung ihrer Beschäftigten. Ich will das erläutern: Wir hatten in den meisten Betrieben eine völlig desolate Bausubstanz, veraltete Maschinen, hatten auch kein Organisationssystem an externen Dienstleistungen und kaum Mittel für Einkäufe von wichtigen Ersatzteilen oder neuen Maschinen. Der Hauptgrund: fehlende Devisen. Also mußten wir immer wieder mit dem Vorhandenen weiterarbeiten. Aus Mangel an Importen waren wir teilweise zur Autarkie gezwungen. Wir stellten Ersatzteile selber her, sanierten Maschinen, erneuerten die Bausubstanz von innen heraus. Wir veranstalteten im Grunde ein permanentes Katastrophenmanagement" Hildebrandt, R. „Wir werden ein Volk von Rentnern sein". Deindustralisierung und soziale Entwurzelung als Folge der Treuhandpolitik, in: Liedtke, R., (Hg.), Die Treuhand und die zweite Enteignung der Ostdeutschen, München 1993, S. 72f. 47 D.h. Produktionsgüter, die über Jahrzehnte unverändert neu produziert wurden, bzw. deren technische Veränderungen nur marginal waren. 48 Van Ark / Beintema, Comparative Productivity, kommen für das Jahr 1987 zu einem Bruttoproduktionswert des warenproduzierenden Gewerbes pro Beschäftigten in der DDR von 48,6 % des westdeutschen Niveaus, d. h. einem Wert, der sich nicht wesentlich von der Schätzung von Görzig / Gornig unterscheidet. Bei der Wertschöpfung sind es dann aber, wie schon erwähnt, nur 30,3 %.

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Das Verhältnis von Nettoprodukt zu Bruttoprodukt, das man aus den Input-Output Tabellen oder der Kostenstruktur der Unternehmen entnehmen oder errechnen kann, betrug 1987 in der ostdeutschen Industrie 34,2 % und in der westdeutschen Industrie 54,5%. 49 Das bedeutet: die DDR-Industrie verwendete erheblich mehr Rohstoffe, Energieleistungen und andere Vorprodukte als die westdeutsche. Wenn man also die Mengen der Stahl-, Kunststoff- oder Textilproduktion miteinander vergleicht, überschätzt man das Potential und die Produktivität, weil diese Mengen in der DDR zu erheblich weniger Endprodukten führten als in der BRD. 5 0 Die Ursachen sind weiche Budgetbeschränkungen, mangelnde Anreize, unzureichende Spezialisierung - das heißt eben die Faktoren, die wir bereits als systemare Ursachen der „Innovationsschwäche" angeführt haben. Dieser Punkt mündet in die Frage: - Wie vergleichen sich die Kostenstrukturen in den beiden deutschen Teilstaaten? Neben den Investitionen in physisches Kapital haben die Investitionen in human capital ihren Einfluß auf die Produktivitätsentwicklung. In diesem Punkt gilt es als weitgehend akzeptiert, daß die realsozialistischen Länder kaum in einen Rückstand gegenüber dem Westen geraten sind. Soweit die allgemeinen Bildungsanstrengungen betroffen sind, läßt sich das statistisch wahrscheinlich belegen, obwohl sich die Ausbildungsstrukturen stark voneinander unterschieden. Soweit es um firmenspezifische und innovationsrelevante Fähigkeiten geht, scheint mir die Hypothese noch klärungsbedürftig. Ganz ähnlich steht es mit den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Der neoklassische Standardzugang zum technischen Fortschritt, der in den letzten 10 Jahren starker Kritik ausgesetzt war, 51 sieht die Technologieentwicklung als Funktion der Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Wiederum nach der offiziellen Statistik zu urteilen, haben sich die realsozialistischen Länder hier keine Versäumnisse vorzuwerfen. Sowohl die Ausgaben in Relation zum Sozialprodukt als auch der Anteil der Gesamtbeschäftigung, der mit FuE-Tätigkeiten beschäftigt war, befanden sich auf vergleichsweise sehr hohem Niveau. Um so erstaunlicher natürlich das magere Ergebnis.

II. Strukturpolitik Die sozialistische Strukturpolitik hat eine erstaunlich lange Geschichte und Vorgeschichte und kann über Stalin, die Wachstumstheoretiker der 20er Jahre (Feld49 Ebda. 50

Sobald nach der Wirtschafts- und Währungsunion unter westdeutschen Bedingungen produziert werden mußte, war dieser Teil der Produktion „gesellschaftlich nicht mehr notwendig" und mußte zu Produktionsausfall führen. 51 Vgl. Dosi, G., Sources, Procedure, and Microeconomic Effects of Innovation, in: Journal of Economic Literature, Heft 26,1988, S. 1120-71, und Erdmann.

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man) auf Lenin und selbst Marx zurückgeführt werden. Zwei Züge sind in unserem Zusammenhang besonders relevant. Der Vorrang der Produktionsmittel vor den Konsumgütern: 52 Aus der trivialen Überlegung, daß, will man die Wachstumsrate steigern (wohlgemerkt: unter Vernachlässigung des technischen Fortschritts), erst einmal die Produktion von Produktionsmitteln rascher wachsen muß als die Produktion von Konsumgütern, wurde ein allgemeiner Vorrang des ersten Sektors abgeleitet. Schon Tugan-Baranowsky kritisierte, daß dies zur Produktion von Produktionsmitteln für die Produktion von Produktionsmitteln usw. führen kann 53 . Das heißt, eine gewaltige Bruttoproduktion bringt eine nur bescheidene Endproduktion hervor, wenn man die Investitionsgüter entsprechend ihrer Fähigkeit, Endgüter zu produzieren, bewertet. Hohe Vorleistungskoeffizienten und Überakkumulation, wie sie weiter oben bereits erwähnt wurden, sind hiervon die Folge. Für die DDR stellt sich die Frage, ob der Aufbau einer schwerindustriellen Basis, die sich wohl kaum positiv auf die Produktivität des Systems ausgewirkt hat, unbedingt erforderlich war. Konkreter: brauchte man Eisenhüttenstadt? Für Ungarn oder die Slowakei lautete die entsprechende Frage: brauchte man Dunaujvaros oder Kosice? 54 Historisch läßt sich so argumentieren: 1950 stand die DDR ohne ausreichende Stahlbasis da. Die traditionellen Lieferkanäle aus dem Westen waren faktisch oder zumindest potentiell blockiert. Die Sowjetunion und auch Polen waren auf Grund des Eigenbedarfs und mangelnder Technologie nicht fähig oder nicht bereit zu liefern. Die DDR-Industrie brauchte Stahl, um ihre traditionelle Produktion, z. B. im Maschinenbau, aufrechtzuerhalten. Die Notsituation machte den Kostenaspekt zweitrangig und erlaubte auch technische Rückschritte wie den Niederschachtofen. Das hatte, wie gesagt, seinen Preis in niedriger Produktivität. Fehlender Stahl hätte demgegenüber jedoch einen totalen Produktionsausfall bedeutet. Ob diese Zwangssituation bestanden hat, ist eine historische Frage. Akzeptieren wir das Argument einmal. Dann stellt sich natürlich ökonomisch 52 Vgl. Wagener, H.-J., Über den Vorgang der Produktionsmittelerzeugnung in der sowjetischen Strukturpolitik, in: Berichte des Bundesinst. f. ostw. u. intern. Studien, Nr. 16, 1978. 53 Das Feldman-Modell, das über Domar Eingang in die moderne Wachstumstheorie gefunden hat, ging von der Mitte der zwanziger Jahre nicht unplausiblen Annahme aus, daß die Industrie sich ohne Arbeitskräftebeschränkung entwickeln könne. Unter dieser Annahme zeigt es - zugegeben sehr mechanistisch - , daß ein ungleichgewichtiges Wachstum der Industrie, d. h. ein bevorzugtes Wachstum des Produktionsmittelsektors, zu einem hohen Gesamtwachstum und zu rascher Konvergenz des Konsumgüterwachstums führt. Geben wir die Bedingung des extensiven Wachstums auf und sehen das Arbeitskräfteangebot für die Industrie beschränkt, dann führt die gleiche Politik ungleichgewichtigen Wachstums - in diesem mechanistischen Modell - zu einer rapiden Verlangsamung des Wachstums und möglicherweise zu negativem Konsumgüterwachstum. Hiermit soll gesagt werden, daß eine Wirtschaftspolitik, die sich nicht auf veränderte Umstände einstellt, katastrophale Auswirkungen haben kann. Vgl. Domar, E., Essays in the Theory of Economic Growth, New York 1957. 54

An dieser Wiederholung zeigt sich bereits die Fragwürdigkeit der historischen Zwangssituation.

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die Frage, warum eine Struktur aufrechterhalten wurde, auch nachdem die Zwangslage nicht mehr gegeben war. Hier kommt dann doch wieder der Vorrang des Produktionsmittelsektors und die sogleich zu erwähnende Autarkietendenz zum Tragen. Die Konzentration der Mittel auf den Produktionsmittelsektor brachte es auch mit sich, daß Produktinnovationen im Konsumgüterbereich kaum zu erwarten waren. Je höher der politische Stellenwert der Befriedigung der Konsumenten im Laufe der Zeit wurde, desto mehr wuchs der Druck der Planer auf die Betriebe im Produktionsmittelsektor - lange vor der Konversionsproblematik - , auch Konsumgüter zu produzieren. Das taten sie zumeist widerstrebend, und so sahen diese Konsumgüter dann auch aus. Produktdifferenzierung, Spezialisierung, Qualität, Service - das blieben Fremdwörter im Konsumgüterbereich, aber nicht nur dort. Typisch für die sozialistischen Planwirtschaften ist der industrielle Großbetrieb. Begründet wird seine Überlegenheit mit den Vorteilen der Standardisierung und der Kostendegression. In jüngster Zeit wurde darauf hingewiesen, daß die sozialistischen Großbetriebe keineswegs überdimensioniert waren im Vergleich zu ihren kapitalistischen Pendants. Entscheidend an der Konzentrationstendenz ist jedoch die vollständige Abschaffung des Segments der Mittel- und Kleinbetriebe, die im Kapitalismus neben den Großbetrieben existieren. Ihre Bedeutung für den Innovationsprozeß wird allgemein besonders hoch eingeschätzt. Risikostreuung, Innovationshäufigkeit, Spezialisierung, Wettbewerb, Flexibilität sind einige der positiven Faktoren in diesem Zusammenhang. Es sind auch genau die Faktoren, die in den sozialistischen Planwirtschaften vermißt wurden. Die Konzentration war in den am höchsten entwickelten RGW-Ländern am weitesten fortgeschritten, in der DDR und der CS SR. Erst die Kombinatsreform, die die Gesamtindustrie der DDR in rund 140 Kombinate zusammenfaßte, erlaubte dem Zentralplaner eine effektive Kontrolle auch der laufenden Produktion. Darin aber sehen viele empirischen Studien das Hauptmanko der Industrieentwicklung, daß nämlich neben der zentralen Industriepolitik keine unternehmenseigene Entwicklungsstrategie möglich war. Die zentrale Industriepolitik war aber von dem für staatliche Interventionen generell typischen stop and go gekennzeinet. Die Präferenzen und damit die Konzentration der Investitionsmittel wechselten unabhängig vom Erfolg konkreter Entwicklungen. Einmal gewonnene Marktpositionen gehen auf diese Weise wieder rasch verloren. 55

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Vgl. Judt; Roesler, J., „Einholen wollen und Aufholen müssen. Zum Innovationsverlauf der numerischen Steuerung im Werkzeugmaschinenbau der DDR vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Entwicklung" in: Kocka, J., (Hg.), Historische DDR-Forschung, Berlin 1993, S. 163-85.

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I I I . Außenhandelspolitik Was die Außenhandelspolitik betrifft, so bringt sie die leidige Diskussion um die Autarkie mit sich. Dabei ist die Tatsache einer relativen Autarkietendenz gar nicht so sehr umstritten wie vielmehr die Frage, ob diese oktroyiert oder selbstgewählt sei. Wahrscheinlich ist beides richtig. Economic warfare ist eine nicht zu bestreitende Tatsache des Ost-West-Konflikts, und da waren die Hebel auf westlicher Seite ein ganzes Stück länger als auf östlicher. Es ist jedoch auch im Rahmen des sogenannten sozialistischen Weltmarkts nicht gelungen, ein differenziertes System internationaler Arbeitsteilung aufzubauen. Die innovationsrelevante Form des Außenhandels, die für hochentwickelte Marktwirtschaften charakteristisch ist, nämlich der intra-industrielle Handel, war hier besonders schwach entwickelt. Die zu Beginn oktroyierte Isolierung vom Weltmarkt wurde sehr bald als Außenhandelsmuster akzeptiert und führte am Ende dazu, daß auf Grund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit eine Rückkehr auf den Weltmarkt nur unter großen Anstrengungen möglich gewesen wäre. 56 Gerade für die höher entwickelten RGW-Länder wirkte sich die Konzentration des Außenhandels auf den RGW-Bereich verheerend aus. Dort konnte nämlich alles abgesetzt werden - eine Folge der überall herrschenden Verkäufermärkte. Es bedurfte keinerlei innovativer Anstrengungen, um diese Märkte zu halten. Ein Vergleich mit den OECD-Märkten macht den Systemunterschied deutlich. Ein besonders deutliches Beispiel dieses Problems ist der bekannte Fall der kostspieligen Halbleiterproduktion in der DDR. Moderner Maschinenbau, moderne Industrie ist nicht mehr denkbar ohne Elektronik und Computer. Cocom-Beschränkungen machten den Import avancierter Geräte oder der dazu benötigten Halbleiter, wo nicht unmöglich, politisch riskant. Die UdSSR war nicht lieferfähig. Also ergab sich wieder ein historischer Zwang, Halbleiter selbst zu entwickeln, wobei die Kosten keine entscheidungsleitende Rolle spielten. Das Ergebnis ist bekannt. Importsubstitution und Devisenknappheit sind als umweltbedingte Zwangssituationen jedoch nur im jeweiligen Augenblick akzeptabel. Im Falle der Halbleiter muß gefragt werden, wieso der Zug der Elektronikentwicklung erst einmal verpaßt worden ist, wieso der RGW unfähig war, die notwendigen Kapazitäten bei weltmarktfähigen Kosten an einem oder zwei Standorten aufzubauen. Im Falle der vielzitierten Devisenknappheit ist festzustellen, daß diese kein Naturereignis ist, sondern Resultat mangelnder internationaler Konkurrenzfähigkeit. Die sich ständig wiederholenden Zwangssituationen deuten auf ein systematisches Fehlverhalten hin. 56 Vgl. Poznanski, K., Technology, Competition & the Soviet Bloc in the World Market, Berkely 1987; Vincentz, V., Produktion und Außenhandel der RGW-Staaten im Bereich der Hochtechnologie. Gutachten Osteuropa Institut, München 1988; Hoen, H., / Wagener, H.-J., Hungary's export to the OECD: A constant market shares analysis, in: Acta Oeconomica, 40, 1989, S. 65-77.

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Der technische Fortschritt hat einen internationalen Charakter angenommen (ob er den nicht immer hatte, bleibe dahingestellt). Der moderne Großbetrieb ist zur Ausnutzung aller möglichen Kostenvorteile auf den internationalen Markt als Abnehmer angewiesen. Die Spezialisierung der Innovation führt auf der anderen Seite zu einem internationalen Netzwerk von Lieferanten von Produktionsmitteln und Dienstleistungen.57 Diese Netzwerke von Liefer- und Abnehmerbeziehungen sind mit zentraler Planung nur schwer oder gar nicht zu vereinen. Handelspartner in Marktwirtschaften haben gegen langfristige Kontrakte grundsätzlich nichts einzuwenden. Man hat sie lieber vermieden, um der vermeintlichen Gefahr der Abhängigkeit zu entgehen. Der Handel zwischen Planwirtschaften war dagegen durch die schwerfällige Planung behindert. Hinzukommen die Preissysteme der realsozialistischen Länder, die vom Weltmarkt-Preissystem erheblich abwichen und damit eine rationale Kalkulation der komparativen Kostenvorteile unmöglich machten. Eine Neigung zur Autarkie ist aber nicht nur ein Kennzeichen der Nationalwirtschaften als ganzes. Sie tritt auch innerhalb der Wirtschaften auf in der Form von ministeriellem Ressortgeist oder regionaler Autarkie - wo die Entscheidungsbefugnisse dies erlauben - und von betrieblicher Autarkie. In einer Situation, in der die Abnehmer wenig Einfluß auf ihre Lieferanten haben, in der die Zulieferungen höchst unsicher sind, die Erfüllung des Planes aber oberstes Gesetz, in einer solchen Situation tut jede Wirtschaftseinheit gut daran, sich möglichst weitgehend selbst zu versorgen, um die Risiken zu minimieren. Das führt zu einer extrem großen Produktionstiefe, zu wenig spezialisierten, innerbetrieblichen Zulieferbetrieben, die zudem noch mit kleinen Serien oder in Einzelanfertigung arbeiten. 58 Wenn sich sozialistische Großbetriebe in ihrem absoluten Umfang nur wenig von kapitalistischen Großbetrieben unterscheiden, so steht zu vermuten, daß die innerbetrieblichen Strukturen sehr wohl erheblich voneinander abweichen, und zwar auf eine Weise, die sich sehr nachteilig auf die Produktivität der ersteren auswirkt.

H. Schlußbemerkung Zusammenfassend möchte ich noch einmal auf die Frage eingehen: Geschichte oder System? Oder genauer: ist die Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft systematisch bedingt und der Wirtschaftsordnung zuzuschreiben oder müssen wir sie auf die widrigen Umstände zurückführen, die besondere Situation im Rahmen des Kalten Krieges, der sozialistischen Zusammenarbeit und des Verhältnisses zwischen der DDR und der Sowjetunion? Es ist, glaube ich, deutlich geworden, daß jede wirtschaftspolitische Entscheidung, die sich produktivitätshemmend ausge57 Vgl. Poznanski, K., The Environment for Technological Change in Centrally Planned Economies, in: World Bank Staff Working Papers, 718, 1985. 58 Es ist also keineswegs nur der Mangel an Devisen, der zur innerbetrieblichen Improvisation führt (vgl. Fußnote 46).

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wirkt hat, aus einer Zwangssituation erklärt werden kann. Die DDR-Wirtschaftsgeschichte erscheint so als eine Folge von locked-in Situationen, das sind Situationen, bei denen die Vorgeschichte einer Entscheidung keine bessere Alternative zuläßt. So betrachtet erscheint Geschichte determiniert. Wer den Gegenbeweis antreten will, ist gezwungen, kontrafaktisch zu argumentieren, d. h. zum Beispiel die Frage zu stellen, wäre unter anderen ordnungspolitischen Voraussetzungen Eisenhüttenstadt nicht gebaut, die Halbleiterentwicklung rechtzeitig oder gar nicht aufgenomen, die Modellpolitik für Trabant anders konzipiert worden? Die Frage stellen, heißt, so scheint mir, sie zu beantworten. Das bedeutet, die Sachzwänge, unter denen auf lokaler und nationaler Ebene entschieden werden mußte, sind systematisch bedingt. Keine abstrakte „Geschichte" kann dafür verantwortlich gemacht werden, sondern nur eine konkrete Wirtschaftsordnung, die im Rahmen des gegebenen politisch-ökonomischen Systems nicht durchgreifend zu ändern war. Mit anderen Worten: jedes System schafft sich sein eigenes Entscheidungsmilieu, das ihm bestimmte Entscheidungsfolgen quasi naturgegeben aufzwingt. Der kapitalistische Unternehmer, der gerade 500 Arbeiter entläßt, argumentiert in gleicher Weise: in der augenblicklichen Lage ist keine andere Entscheidung möglich. Jeder Einzelfall kann historisch „erklärt" werden. Spätestens seit Marx wissen wir, daß es eine Illusion wäre zu glauben, das wiederkehrende Phänomen der Arbeitslosigkeit ließe sich vom System der kapitalistischen Marktwirtschaft trennen. In gleicher Weise muß man die Innovationsschwäche der sozialistischen Planwirtschaft, so wie sie in die Realität umgesetzt worden ist und real existierte, vor allem anlagebedingt, d. h. aus dem System erklärt sehen. Gezeigt werden sollte auch, daß Anlage und Milieu eigentlich nicht zu trennen sind. Dieser Satz erlaubt eine doppelte Auslegung. Zum einen ist es natürlich so, daß der Ost-West Gegensatz der DDR-Wirtschaft das Leben schwergemacht hat. Eine - in diesem Fall durch Cocom und andere Handelspraktiken erzwungene - Importsubstitutionspolitik bindet knappe Ressourcen in wenig produktiven Aktivitäten. Eine Präferenz für Importsubstitution und außenwirtschaftliche Abschottung liegt jedoch auch in der Theorie der sozialistischen Planwirtschaft begründet (dies hatte Pierson schon 1902 kritisiert). Es wird sich wohl schwerlich die kontrafaktische Behauptung vertreten lassen, das sozialistische System hätte in einer rein sozialistischen Umgebung grundsätzlich anders funktioniert. Damit ist die Entscheidung zur Systemtransformation aus dem Wunsch nach Wohlfahrtssteigerung rational zu legitimieren.

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Technische Innovationen einer „alten Branche": Die Einführung der Sauerstofftechnologie in der Stahlindustrie der Bundesrepublik und der D D R Von Stefan Unger

Α. Einleitung Im Verlaufe der deutschen Wiedervereinigung wurden auch der Zustand und die künftige Entwicklung der ostdeutschen Stahlindustrie („Schwarzmetallurgie") zum Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Expertisen. Bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt kristallisierte sich dabei die Einsicht heraus, daß sich Entwicklung und Strukturen der Schwarzmetallurgie nicht unwesentlich von jenen der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie unterschieden. Im September 1990 formulierte so etwa das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen eine Bilanz der DDR-Stahlindustrie, welche die Aufmerksamkeit auf signifikante Strukturdefizite lenkte: „Bei allen übrigen Faktoren, die für die Entwicklung der Stahlindustrie relevant sind, müssen nach den bislang verfügbaren Informationen zum Teil gravierende Schwächen der ostdeutschen Stahlindustrie vermutet werden. Hier ist erstens die schmale Rohstoffbasis zu nennen. Zweitens liegen viele Werke mit Blick auf die Transportkosten ungünstig. Drittens bedingen die Zersplitterung auf verschiedene Standorte und die zum Teil ungünstige innerbetriebliche Struktur der Produktion erhöhte Materialflußkosten. Viertens könnte die Bewertung des Kapitalstocks künftig große Probleme verursachen. Fünftens ist die Produktionstechnik zum Teil überaltert bzw. obsolet. Sechstens sind Nachteile bei der Energie- und Arbeitseffizienz der Produktion nicht zu übersehen."1 Drei Jahre später machte eine Studie der Sozialforschungsstelle Dortmund darauf aufmerksam, daß sich gegen Ende der achtziger Jahre die beiden deutschen Stahlbranchen nicht zuletzt durch die grundlegende, in den Stahlwerken eingesetzte Technologie voneinander unterschieden: „Die in der Bundesrepublik mit 83 Prozent der Rohstahlerzeugung dominierende Oxygenstahlerzeugung spielte damit in der DDR mit einem Anteil von 2,4 Mio. Tonnen (31 Prozent) eine weniger wichtige Rolle, wohingegen dem Elektrostahl mit ebenfalls 2,4 Mio. Tonnen eine 1 Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen, Die Stahlindustrie in der DDR. Gutachten im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft, Ms., Essen 1990, S. 99.

4 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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vergleichsweise höhere Bedeutung zukam. Nicht Roheisen, sondern Schrott bildete die Rohstoffbasis für die Stahlerzeugung in der DDR." 2 Dominiert worden sei die Rohstahlerzeugung der DDR noch 1989 von dem traditionellen Siemens-MartinVerfahren, das in der Bundesrepublik bereits 1983 eingestellt worden sei.3 Zu unterstreichen ist nach diesen Untersuchungsergebnissen, daß die deutsche Stahlindustrie als Ergebnis einer vierzig Jahre dauernden getrennten Entwicklung gegen Ende der achtziger Jahre offensichtlich disparitäre Strukturen herausgebildet hatte. Dabei wies die ostdeutsche Eisen- und Stahlindustrie eindeutige Strukturdefizite auf, die sich nicht zuletzt in einer teilweise veralteten Technologie niederschlugen. Zwar setzte die Schwarzmetallurgie der DDR grundsätzlich die gleichen Technologien wie ihr bundesdeutsches Pendant ein, doch erfolgte dies mit zeitlicher Verzögerung und ohne, daß es gleichzeitig zu einer umfassenden Stillegung veralteter Verfahrenstechniken kam. Der Entwicklung dieser voneinander abweichenden Geschwindigkeit und Intensität des Einsatzes neuer Verfahrenstechniken in der Stahlindustrie geht dieser Beitrag anhand der Innovation und Diffusion des „Oxygen-Stahlverfahrens" nach. Der weltweite Strukturwandel, welcher die eisenschaffende Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, wurde nicht zuletzt durch die umfassende Übernahme dieser hochproduktiven neuen Technik in den Stahlwerken markiert: Vor allem während der sechziger Jahre erfolgte global die rasche Innovation der Sauerstoff-Verfahren, die gleichzeitig das Ende der bislang dominierenden Technologien, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammten (Thomas-, Siemens-Martin-Technik), brachte. Als Fallbeispiele für diesen Innovationsprozeß sollen dabei die August Thyssen-Hütte (Duisburg) für die Bundesrepublik und die Maxhütte (Unterwellenborn) sowie das Eisenhüttenkombinat Ost (Eisenhüttenstadt) für die DDR herangezogen werden. Der angestrebte Vergleich dieser Innovation zwischen einer Branche in einem marktwirtschaftlichen Umfeld und in der Planwirtschaft der DDR kann sich insgesamt den Umstand zunutze machen, daß - wie oben deutlich wurde - die Akteure auf beiden Seiten sich letzten Endes für die gleichen technischen Lösungen zur Modernisierung ihrer Kapazitäten entschieden. Wenn man also diese Innovation ungeachtet qualitativ andersartiger Rahmenbedingungen zur eigenen Zielrealisierung als geeignet ansah, so bildet dies die eigentliche Basis für den hier angestrebten Vergleich. Es wird weiter davon ausgegangen, daß eine Vergleichbarkeit dieser Innovation unter divergenten Umweltbedingungen dann gewährleistet ist, wenn die Akteursebene in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Das wesentliche Anliegen dieses Beitrags besteht somit darin, die Wahrnehmung, Umsetzung und Bewertung von Modernisierungszwängen und -Spielräumen durch die jeweiligen Akteure in unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen zu rekonstruieren. Die zentralen Vergleichsebenen bestehen bei diesem Vorgehen sodann in den Größen „Motive 2

Jürgenhake, Uwe / Heine, Petra / Schnittfeld, Peter, „ . . . und der Zukunft zugewandt". Vom DDR-Stahl zum Ost-Stahl, Ms., Dortmund 1993, S. 10. 3 Ebd., S. 10f..

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zur Innovation", „Faktoren der Beschleunigung resp. Verzögerung" sowie „Erfolg/Mißerfolg der Innovation". Diesem Vorgehen liegt ein vergleichsweise weitgefaßter Innovationsbegriff zugrunde, der Innovationen grundsätzlich als „Veränderungen in der Produktion, die zu Produktivitätssteigerungen führen" (siehe Beitrag Wagener) begreift. Zudem wird die Begrifflichkeit nicht auf die erstmalige Einführung einer „Weltneuheit" beschränkt; unter einer branchenbezogenen Innovation soll vielmehr der erstmalige Einsatz eines neuartigen Verfahrens in einer konkreten Branche, unter unternehmensbezogener Innovation jener in einem spezifischen Unternehmen verstanden werden. Diese abgestufte Definition hat nicht zuletzt den Vorteil, daß es leichter einzuschätzen ist, wie weit eine Branche oder ein Unternehmen tatsächlich von der „technologischen Front" entfernt war (siehe Beitrag Wagener). Aus der allgemeinen Schwerpunktsetzung des Vergleichs resultieren schließlich auch die leitenden Fragestellungen, welche zur Strukturierung der Fallbeispiele ausgewählt wurden. An diese werden daher folgende Fragen gerichtet: - Was gab den Anstoß zur Innovation, welche Motive lagen dem Innovationsprozeß zugrunde? Wie erfolgte deren Wahrnehmung? - Warum kam es zu der erwähnten Verzögerung beim Einsatz der neuen Oxygenstahltechnik in der DDR? Welche Faktoren wirkten bei diesem Innovationsprozeß bremsend oder beschleunigend? Welche Stadien des Innovationsverlaufs waren von ihnen betroffen? - Wie erfolgreich waren die Innovationsprozesse? Nach welchen Kriterien wurde der Erfolg und Mißerfolg in beiden Systemen bewertet, sind hier Unterschiede feststellbar? Insbesondere die Frage nach innovationsfördernden und -behindernden Faktoren ist dabei vor dem Hintergrund der Ergebnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion zu beantworten. Die empirische Bearbeitung dieser Fragestellung hat vor allem den immer wieder diskutierten unterschiedlichen Anreizstrukturen in Markt- und Planwirtschaften Beachtung zu schenken. Schließlich sind die hier zu zutage tretenden Ergebnisse insgesamt daraufhin zu reflektieren, ob die abweichende Entwicklung der Schwarzmetallurgie der DDR auf Systemmängel, historische Widrigkeiten oder aber auf Defizite der konkret betriebenen Wirtschaftspolitik zurückgeführt werden kann.

B. Überblick: Invention, Innovation und Diffusion des LD-Verfahrens Im November 1952 wurde im österreichischen Linz die erste betriebsmäßige Schmelze im neu erbauten LD-Stahlwerk erblasen. Im Mai des folgenden Jahres Schloß sich die Inbetriebnahme des Donawitzer Stahlwerks an, das ebenfalls nach 4*

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dem LD- (= Linz-Donawitz) Verfahren arbeitete. Diese beiden Daten markieren die eigentliche Innovation, also den ersten industriellen Einsatz, des neuartigen Oxygenstahlverfahrens; von nun an stand die Technologie grundsätzlich für den Einsatz in der Stahlindustrie zur Verfügung. Bei diesem Verfahren wird, anders als beim mit Luft arbeitenden und bodenblasenden Thomas-Verfahren, Sauerstoff mit einem Reinheitsgrad von ca. 99 % von oben auf das Roheisenbad, das sich in einem Tiegel (Konverter) befindet, geblasen. Hierzu wird eine wassergekühlte Lanze eingesetzt, die am unteren Ende mit einer Düse versehen ist. 4 Wenngleich die neue Technologie somit in Österreich zur Betriebsreife geführt wurde, war dieser Innovation eine längere Entwicklungsgeschichte vorangegangen, die sich aus verschiedenen Quellen speiste und die in erster Linie durch die Eigenschaften der in der Zwischenkriegszeit dominierenden Verfahren der Stahlproduktion, dem Thomas- und dem Siemens-Martin-Verfahren (SM), angestoßen wurde: Das Thomas-Verfahren verfügte dabei für die Herstellung von Massenstählen über den Vorteil besonders günstiger Produktionskosten, welche vom SiemensMartin-Verfahren nur unter exzeptionellen Bedingungen erreicht werden konnten. Hingegen bestand sein Nachteil darin, daß die Thomas- den SM-Stählen qualitativ unterlegen waren, was aus dem höheren Phosphor- und Stickstoffgehalt im Thomas-Stahl herrührte. Insbesondere der Stickstoffgehalt bedingte, daß der ThomasStahl dazu neigte, bei Spannung zu brechen und nach der Kaltverformung zu verspröden, so daß die Einsatzmöglichkeiten dieses Werkstoffs merklich einschränkt waren: Verwandt wurde er in erster Linie für Schienen, Schwellen, Brücken, Eisenbahnbaustoffe, Stab- und Profileisen sowie grobe Bleche, während der Siemens-Martin-Stahl vornehmlich anspruchsvolleren Verwendungen zugeführt wurde (Baustahl, Bleche, Draht, Röhren, hochwertige Maschinenteile).5 An diesen qualitativen Nachteilen setzten die Versuche zur Verbesserung des Thomas-Stahls an, welche die deutsche Stahlindustrie seit Mitte der zwanziger Jahre durchfühlte. Der eigentliche Anstoß hierzu ging von der Verbraucherseite aus und hing eng mit dem Strukturwandel der stahlverbrauchenden Industriezweige zusammen: Die sich nunmehr stärker entwickelnde Hausgeräte-, Konservenund Kraftfahrzeugindustrien fragten vermehrt Walzstahlerzeugnisse hoher Güte nach, die unter den zeitgenössischen Bedingungen nur aus SM-Stahl hergestellt werden konnten. Zudem wirkten die gestiegenen Qualitätsanforderungen des Maschinenbaus in die gleiche Richtung. Dies markierte einen langfristigen Trend, welcher auch in der Nachkriegszeit anhalten sollte. Im Ergebnis mußte die deutsche Stahlindustrie seit den zwanziger Jahren feststellen, daß ihre aus ThomasStahl hergestellten Produkte auf dem Inlands- und dem Exportmarkt zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit verloren. 6 4 5

Trenkler, Herbert, 20 Jahre LD-Verfahren, in: Stahl und Eisen 92 (1972), S. 709.

Zilt, Andreas, Die Entwicklung des Oxygenstahlverfahrens der August Thyssen-Hütte 1936-1960, Ms., Bochum 1990, S. 5-13. 6 Ders., Industrieforschung bei der August Thyssen-Hütte in den Jahren 1936 bis 1960, in: Technikgeschichte Bd. 60 (1993), Nr. 2, S. 130-132.

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Diese säkulare Tendenz wurde seit der Mitte der dreißiger Jahre zudem durch eine politische Entwicklung verstärkt: Die nationalsozialistische Autarkiepolitik. Diese forderte von der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vor allen Dingen eine verstärkte Verhüttung der deutschen Eisenerze, die allerdings - neben allen anderen hiermit verbundenen Problemen - für das Siemens-Martin-Verfahren ungeeignet waren. Somit kollidierte in den späten dreißiger Jahren die - nicht zuletzt rüstungswirtschaftlich bedingte - verstärkte Nachfrage nach Siemens-Martin-Stahl mit der Forderung, mehr deutsche Erze zu verhütten. Einen Ausweg bot die Verbesserung des Thomas-Stahls.7 Dies leitete u.a. die Entwicklung des sogenannten HPN-Verfahrens ein, die von den Vereinigten Stahlwerken in den Jahren 1937-1940 durchgeführt wurde. Dieses Verfahren ermöglichte zwar die angestrebte Qualitätsverbesserung, kann im engeren Sinne jedoch kaum als Innovation bezeichnet werden, da es letztlich auf eine verbesserte Verfahrenskontrolle setzte, ohne daß ein grundsätzlich neues Wirkprinzip zum Einsatz gekommen wäre. 8 Eine alternative Entwicklungsrichtung bestand hingegen darin, für die Stahlerzeugung im Konverter Sauerstoff statt Luft einzusetzen. Ermöglicht wurde dies nicht zuletzt dadurch, daß 1928 ein Verfahren zur kostengünstigeren Herstellung industriellen Sauerstoffs entwickelt worden war, wodurch dessen Einsatz in der Metallurgie erstmals ökonomisch interessant wurde. 9 Beim ersten Einsatz der LD-Aufblastechnik in ihrem Linzer Stahlwerk waren die Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke (VÖEST) schließlich in der Lage, Forschungsergebnisse zu nutzen, welche bis zum Ende der dreißiger Jahre zurückreichten: Im Zuge der Planung eines neuen Stahlwerks in Linz war das Unternehmen seinerseits von Vertretern der Von Roll'schen Eisenwerke in Gerlafingen (Schweiz) auf die dort durchgeführten Versuche zur Anwendung von Sauerstoff zum Frischen von Stahl aufmerksam gemacht worden. Im Juni 1949 wurde schließlich zwischen der VÖEST, den Von Roll'schen Eisenwerken, der Mannesmann AG in Huckingen und der Alpine-Montan-Gesellschaft in Donawitz eine Vereinbarung zur Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Sauerstoffanwendung getroffen. Nachdem in Linz die großtechnischen Versuche zum LD-Verfahren erfolgreich abgeschlossen werden konnten, fiel noch 1949 die Entscheidung, den Ausbau der Stahlkapazität nicht auf der Basis der bisherigen Technologien, sondern durch die Errichtung eines LD-Stahlwerks, also durch eine Innovation, vorzunehmen. Wie dargestellt wurde das Werk 1952 in Betrieb genommen.10 Wenn für diese Entscheidung die in Gerlafingen angestellten Entwicklungen maßgeblich waren, so beruhten diese ihrerseits u.a. auf den Versuchen, die in den 7 Ebd. s Ders., Entwicklung, S. 59-75. 9

Dürrer, Robert / Hellbrügge, Heinrich / Brohm, Heinrich, Die Entstehung des „LD"-Sauerstoffaufblas-Verfahrens, in: Stahl und Eisen 85 (1965), S. 1753. 10 Ebd., S. 1752-1754.

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1930er Jahren am Institut für Eisenhüttenkunde der Technischen Hochschule Berlin unter der Leitung von Professor Robert Dürrer stattgefunden hatten. Dürrer fungierte in den Jahren 1947 / 48 als technischer Leiter der Von Roll'schen Eisenwerke in Gerlafingen, so daß hier eine unmittelbare personellen Kontinuität in der Entwicklung bestand. Sein Mitarbeiter in der Schweiz war Heinrich Hellbrügge, der bereits an der Berliner Technischen Hochschule als Durrers Assistent gewirkt hatte. Hellbrügge hatte seinerseits 1946 bei den Hüttenwerken Oberhausen einen Versuchskonverter zum Aufblasen von reinem Sauerstoff bauen lassen, der jedoch wegen alliierter Vorbehalte nicht betrieben werden durfte, so daß Hellbrügge schließlich nach Gerlafingen überwechselte. Weitere Versuche zum Aufblasen von Sauerstoff bei der Stahlerzeugung waren darüber hinaus 1938 an der Technischen Hochschule Aachen durchgeführt worden. Aufgrund einer spezifischen Konstellation war es somit gegen Ende der vierziger Jahre in Linz und Donawitz möglich gewesen, verschiedene Entwicklungsstränge zusammenzuführen, aus denen im Ergebnis die Innovation „Sauerstoffaufblas-Verfahren" hervorging. Die VÖEST erwarben sodann 1956 die „Brassert-Oxygen-Technik" (BOT) in Genf, da diese wesentliche Patente für das neue Verfahren hielt. Die BOT hatte von nun an die Aufgabe, für die VÖEST und die Alpine Montangesellschaft die diesbezüglichen Patente zu verwerten - ein Umstand, der die Diffusion der neuen Technologie nicht unwesentlich beeinflußte. 11 Weltweit erfolgte die Durchsetzung des neuen Verfahrens während der sechziger Jahre. Global trat somit zwischen Innovation und Diffusion des LD-Verfahrens eine Verzögerung auf, der weiter unten anhand der Fallbeispiele nachzugehen ist. Noch im Jahre 1963 wurden im Weltmaßstab erst 35 Mio. t Stahl mit der Sauerstoffaufblas-Technik erzeugt; dies entsprach einem Anteil von gerade einmal 9 %. Die folgenden Jahre erlebten hingegen einen rapiden Anstieg der Produktion nach dem neuen Verfahren; zwischen 1964 und 1970 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum der Oxygenstahl-Produktion 32,1%. Bis 1970 war dabei das absolute Niveau der Produktion auf 237 Mio. t angestiegen. Dies bedeutete, der Anteil des Oxygenstahls an der gesamten Stahlerzeugung der Welt betrug inzwischen 40 %. Wenn somit der Siegeszug der Sauerstofftechnologie im wesentlichen bis 1970 feststand, so partizipierten die einzelnen Erzeugerblöcke sehr unterschiedlich an dieser Tendenz: Angeführt wurde der Diffusionsprozeß so etwa von Japan (Oxygenstahlanteil 1970: 79 %), während die US-amerikanische Branche dieser Entwicklung deutlich verhaltener folgte (Oxygenstahlanteil 1970: 47 %). Weiterhin fördert ein Vergleich des RGW mit der westeuropäischen Montanunion charakteristische Unterschiede zutage: Zwar gelang es dem RGW seine Oxygenstahlerzeugung von 2,7 Mio. t (1963) auf 26 Mio. t (1970) zu steigern, wobei - jedenfalls laut publizierter Daten - zeitweise beträchtliche jährliche Wachstumsraten erzielt wurden. Dennoch führte dieser Prozeß nicht zu einem wirklich durchgreifenden 11 Ebd. Siehe auch: Zuschrift von Dr. R. Roth (Österreichische-Alpine Montangesellschaft) und Dr. H. Koller (Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke AG) an die Schriftleitung der Zeitschrift Stahl und Eisen, in: Stahl und Eisen 86 (1966), S. 851f.

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technischen Strukturwandel: 1970 entfielen so auf den Sauerstoffblas-Stahl erst 17 % des im RGW erzeugten Rohstahls, die Produktionsstruktur wurde mithin weiter von den traditionellen Technologien dominiert. Hingegen konnte der Oxygenstahl in der Montan-Union seinen Produktionsanteil im gleichen Zeitraum von 7,5 auf 46 % steigern, was als Indiz für einen dynamischen Strukturwandel zu werten ist. 12 Noch wesentlich drastischer fallen die Ergebnisse hingegen bei einem Vergleich zwischen der Entwicklung in der Bundesrepublik und der DDR aus: Nach anfänglicher Zurückhaltung - 1960 wurden in der Bundesrepublik erst 0,86 Mio. t Oxygenstahl hergestellt - wurde die Stahlindustrie Westdeutschlands in den sechziger Jahren zu einem Schrittmacher der hier betrachteten Innovation. Jahresdurchschnittlich wuchs die Oxygenstahl-Erzeugung bis 1970 um 42 %, bis schließlich 25 Mio. t Sauerstoffblas-Stahl erzeugt wurden. Dies bedeutete: Im Jahre 1970 stellte jene Technologie bereits 56 % der bundesdeutschen Stahlproduktion, die Produktionsstruktur wurde durch sie nunmehr dominiert und der Modernisierungsgrad übertraf den Durchschnitt der Montanunion nicht unbeträchtlich. Dies schlug sich schließlich auch in der Anlagenkonfiguration der Branche nieder: Einerseits expandierte die Zahl der westdeutschen Oxygenstahl-Konverter von 1961 bis 1970 von 8 auf 44. Darüber hinaus begann die neuartige Technologie jedoch nunmehr das traditionelle Thomas- und Siemens-Martin-Verfahren zu verdrängen. War die Zahl der nach diesem Verfahren arbeitenden Aggregate bis 1959 sogar noch angestiegen, so wurden nunmehr zunächst massiv Thomaskonverter (1960: 88; 1970: 18), aber zunehmend auch Siemens-Martin-Öfen (1960: 224; 1970: 114) stillgelegt. 13 Hingegen wurden die Stahlwerke der Schwarzmetallurgie der DDR von der Siemens-Martin-Technik charakterisiert. Diese Struktur war aus der Vorkriegszeit übernommen, als die Stahlerzeugung Mitteldeutschlands vornehmlich auf dem Rohstoff Schrott basierte, der am günstigsten in SM-Öfen zu verarbeiten war. Entscheidend ist nun, daß diese Struktur im Zeitraum zwischen 1950 und 1970 nicht aufgebrochen, sondern vielmehr konserviert und sogar noch ausgebaut wurde: Hatte der Anteil des Siemens-Martin-Stahls an der gesamten Produktion 1950 noch 71 % betragen, entfielen 1960 bereits 79 % der DDR-Rohstahlerzeugung auf dieses Verfahren. Wurden die sechziger Jahre für die Stahlindustrie global als eine Phase des technischen Strukturwandels charakterisiert, so galt dies gerade nicht für die DDR, wo die herkömmliche SM-Stahlerzeugung ihren Produktionsanteil bis in die zweite Hälfte des Jahrzehnts abermals ausbauen konnte. Parallel dazu fiel der Anteil des Thomas-Stahls ab, während die Elektrostahl-Produktion leicht gesteigert wurde. Was aber für den hier untersuchten Innovationsprozeß entscheidend 12 Eigene Berechnungen, Grundlage: Statistische Jahrbücher für die Eisen- und Stahlindustrie 1948-1970/1, hg. v. Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Düsseldorf versch. Jgg. 13 Ebd.

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ist: Die DDR produzierte noch 1970 überhaupt keinen Oxygenstahl und bildete somit selbst innerhalb des RGW das Schlußlicht. Ihre Stahlproduktion wies im wesentlichen die gleiche Struktur auf, die sie bereits 1950 geprägt hatte. 14 Wenn also insgesamt die eigentliche Innovation der Oxygenstahl-Technologie bereits zu Beginn der fünfziger Jahre erfolgte, fand ihre Diffusion erst während der sechziger Jahre statt, die somit als eine Phase intensivierter Modernisierungsprozesse der Stahlindustrie zu bezeichnen sind. Die beiden deutschen Branchen partizipierten hieran höchst unterschiedlich: Während die bundesdeutsche Stahlindustrie durch einen dynamischen Strukturwandlungsprozeß zu einem der Schrittmacher der Implementation wurde, war die ostdeutsche Metallurgie im wesentlichen durch Strukturkonservierung charakterisiert: Die entscheidende Durchsetzung der neuen Technologie in den sechziger Jahren schien vor der DDR halt gemacht zu haben.

C. Die Implementation des Sauerstoffblasverfahrens in den Stahlwerken der DDR und der Bundesrepublik Im folgenden soll auf die Entscheidungsprozesse, welche diesem abweichenden Modernisierungsverhalten in der ost- und westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie zugrunde lagen, näher eingegangen werden. Zunächst wird daher ein knapper Überblick über die wesentlichen Zäsuren der Implementation vorgestellt, wobei zwischen der Vorbereitungs-, Entscheidungs- und Einführungsphase zu differenzieren ist. An diesen schließt sich in gesonderten Querschnitten die Erörterung der jeweiligen Innovationsmotive, der retardierenden und beschleunigenden Faktoren sowie des Erfolgs der Innovationsstrategien an.

I. DDR: Maxhütte Unterwellenborn, Eisenhüttenkombinat Ost Vorbereitungsphase: Bereits recht frühzeitig wurden auch in der Schwarzmetallurgie der DDR Forschungen durchgefühlt, um die Qualitätsmängel des ThomasStahls zu beseitigen: So wurden etwa 1949 Untersuchungen zur Entstickung von Thomas-Stahl angestellt, welche mit besonderer Priorität versehen waren. 15 Da die 14 Eigene Berechnungen, Grundlage: Statistische Jahrbücher der DDR 1955-1972, (hg. v.) Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Berlin versch. Jgg.: Statistische Jahrbücher für die Eisen- und Stahlindustrie 1948-1970/1, hg. v. Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Düsseldorf versch. Jgg. 15

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Maxhütte im thüringischen Unterwellenborn über das einzige Thomas-Stahlwerk der DDR verfügte, ergab sich zwangsläufig die Konzentration der Maßnahmen auf dieses Werk. 1953 wurde hier eine Sauerstoffanlage zur Anreicherung des Gebläsewindes im Thomas-Werk mit Sauerstoff in Betrieb genommen. Bei diesem Vorhaben handelte es sich also noch nicht um die Einführung der LD-Technik, sondern lediglich um eine Optimierung des vorhandenen Verfahrens. Diesbezügliche Versuchsreihen wurden 1953 und 1954 durchgeführt, hieraus resultierte 1955 der Umbau eines Konverterkamins auf Wasserkühlung, damit er den durch den Sauerstoffeinsatz erhöhten Temperaturen standhalten konnte. 16 1956 und 1957 beschränkte sich die Sauerstoffanreicherung des Gebläsewindes auf den Konverter I, geblasen wurde mit einer Sauerstoffanreicherung von 30%, produziert wurden Baustähle und Schienenstahl. Hierauf folgte im Mai 1958 eine Besprechung, an der Vertreter der Plankommission, der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle, der VVB Eisenerz-Roheisen und der Maxhütte beteiligt waren. Sie beschlossen den Umbau der restlichen Konverterkamine, um die durchgängige Anwendung der Sauerstofffanreicherung zu ermöglichen. Dieser Umbau wurde 1959 abgeschlossen, so daß nunmehr die existierenden vier Konverter grundsätzlich mit sauerstoffangereichertem Gebläsewind betrieben werden konnten.17 Dennoch traten auch in den Folgejahren immer wieder verfahrenstechnische und qualitative Probleme mit der verbesserten Thomas-Technik auf. Grundsätzlich war jedoch nunmehr dem Sauerstoffeinsatz zur Erzeugung von Konverterstahl der Weg bereitet: 1958 wurde auf der Maxhütte mit der Entwicklung eines Verfahrens begonnen, bei dem reiner Sauerstoff durch den Konverterboden - und nicht wie beim LD-Verfahren von oben durch das Roheisen geblasen werden sollte. Hiermit wurde nunmehr eine innovativere Entwicklungsrichtung beschritten. 18 Entscheidungsphase: Auf dieser Entwicklung in der Maxhütte baute auch die Entscheidung zur Implementation des eigentlichen LD-Verfahrens auf: Die diesbe16

Aufstellung, o. O., o. D. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (unsigniert). VEB Maxhütte / VVB Vesta an das Ministerium für Industrie / HA Metallurgie, Kennwort: Konverter-Umbau und Sauerstoffanlage, 1. 10. 1950. BArchP, DG 2 / 3219, S. 116. 17 Aufstellung, o. O., o. D. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (unsigniert). Gemeinsamer Bericht aller Teilnehmerländer zum Thema „Sauerstoffanwendung im Konverter", 1. 12. 1957. LAB (STA), Rep. 616 / 106. Staatliche Plankommission / Abteilung Grundstoffindustrie / Sektor Berg- und Hüttenwesen / Fachgebiet Eisenindustrie, Protokoll über die Besprechung am 2. 5. 1958 in der Staatlichen Plankommission über die Möglichkeit der Erhöhung der Thomasstahlproduktion im VEB Maxhütte durch den vorzeitigen Umbau der Konverter-Kamine 3 u. 4, Berlin, 3. 5. 1958. BArchP, DE 1 /16123. 18 VVB Eisenerz-Roheisen, Darlegung der wichtigsten technisch-wissenschaftlichen Kennziffern, angefangen bei der Roheisenerzeugung über Stahl- und Stahlausbringen, Herdflächenleistungen, Walzstahl- und Walzstahlausbringen und Gegenüberstellung zum technischen Höchststand, Saalfeld (Saale), o. D. BArchP, DE 1 / 15891, S. 29-42. Scheidig, Klaus / Güter, Rolf / Luck, Helmut, Entwicklung des QEK-Verfahrens zum Frischen von Roheisen im bodenblasenden Sauerstoffkonverter im VEB Maxhütte Unterwellenborn, in: Neue Hütte 18 (1973), S. 277f..

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züglichen Überlegungen konzentrierten sich in erster Linie auf das Eisenhüttenkombinat Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt), das aufgrund des 1953 verhängten Investitionstops weder über ein Stahl-, noch über ein Walzwerk verfügte. Nachdem 1956 im Forschungsplan der zuständigen Abteilung des Ministeriums für Schwerindustrie erstmals 150.000 DM-Ost zur Erforschung des „Donau-Linz-Verfahrens" eingeplant worden waren, wurde diese Frage 1958 von der Arbeitskommission Stahlwerk Eisenhüttenkombinat Stalinstadt erörtert. Im Mai dieses Jahres schlug sie schließlich vor, das Kombinat solle ein modernes LD-Werk mit 5 Konvertern à 50 t Abstichgewicht erhalten. 19 An diese Empfehlung knüpfte schließlich der im Oktober 1959 verkündete Siebenjahrplan an, der die Inbetriebnahme des Sauerstoffstahlwerks in Stalinstadt für 1965 vorsah. Dieser Beschluß wurde später u.a. durch den VI. Parteitag der SED bekräftigt. 20 Insgesamt hatte die Metallurgie der DDR somit gegen Ende der fünfziger Jahre im Hinblick auf die Oxygentechnik noch nicht den Anschluß an die globale Entwicklung verloren: In Unterwellenborn wurde diese vielmehr zur Verbesserung des Thomas-Stahls genutzt; zudem war die Entscheidung zur Errichtung eines neuzeitlichen LD-Werks in Eisenhüttenstadt gefallen. Einführungsphase: Als wesentlich problematischer als die bisherigen Schritte erwies sich jedoch die konkrete Einführung des LD-Verfahrens in den sechziger Jahren: Bereits 1962 wurde der Baubeginn der Eisenhüttenstädter Anlage um zwei Jahre auf 1967 verschoben, die Inbetriebnahme des neuen Werks war hiernach für 1970-1972 vorgesehen. Da der Maschinen- und Anlagenbau der DDR nicht in der Lage war, Aggregate der avisierten Größenordnung zu liefern, sollte die Anlage aus der UdSSR bezogen werden. Zu diesem Zweck fanden mehrmals Verhandlungen zwischen Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR statt, so beispielsweise im April 1961 und im Juli 1963. Es erwies sich jedoch durchweg als schwierig, konkrete Lieferzusagen von den sowjetischen Verhandlungspartnern zu erhalten. 21 Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Konstellation wurden in Unterwellenborn 19 Ministerium für Schwerindustrie / HV Eisenindustrie / Abt. Technologie, Forschungsplan 1956, Berlin, 19. 9. 1955. BArchP, DG 2 / 2176.VEB Metallurgie-Projektierung, Berlin, Protokoll der 1. Beratung der Arbeitsgruppe Stahlwerk EKS am 23. 5. 1958, o. O., o. D., S. 174-177. BArchP, DE 1 / 16108. 20 Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965. Vom 1. Oktober 1959, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Berlin, 17. 10. 1959, S. 709. Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 15. bis 21. Januar 1963 in der WernerSeelenbinder-Halle zu Berlin. Beschlüsse und Dokumente, Berlin 1963, S. 448. 21 Prof. Dr. Küntscher / Dr.-Ing. Müller, Stellungnahme zur Einführung des Sauerstoffaufblasverfahrens in der DDR, Hennigsdorf, 4. 10. 1962. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / IV A 2 / 6.04 / 363. Bereich Grundstoffindustrie an den Sekretär der Staatlichen Plankommission, Genossen Macher, betr.: Entwurf einer Vorlage für die Leitung der Staatlichen Plankommission über die Sicherung der technisch-wissenschaftlichen Hilfeleistungen sowie der Lieferungen von Ausrüstungen für die Energie, Metallurgie und geologischen Erkundungsarbeiten, o. O., 1. 7. 1961, S. 15-24. BArchP, DE 1 /15413. Staatliche Plankommission, Abteilung Schwarzmetallurgie, Bericht über den Stand der Durchführung des Metallurgieprogrammes (Bericht-

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die LD-Versuche in einer Kleinkonverter-Anlage fortgesetzt. Zudem wurde in der Mitte der sechziger Jahre auf der Maxhütte diskutiert, das dortige Thomas-Stahlwerk in ein Sauerstoffaufblaswerk umzubauen. Im November 1964 wurde eine sozialistische Arbeitsgemeinschaft mit dieser Frage betraut. 22 Ein abruptes Ende fanden die Überlegungen jedoch 1967, als die gesamten Planungen einer geänderten Strategie für die Schwarzmetallurgie zum Opfer fielen: Im Februar dieses Jahres kam der Minister für Erzbergbau, Metallurgie und Kali zu der Einschätzung, der vorgesehene Ausbau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) überfordere die Möglichkeiten der DDR. Grundsätzlich müsse sich die Stahlindustrie auf die weiterverarbeitenden Stufen konzentrieren, vom Bau neuer Stahlwerke sei abzusehen.23 Nach dieser Entscheidung unterblieb die Einführung der LD-Technik in der DDR, bis 1984 im EKO ein Sauerstoffaufblasstahl werk von der österreichischen VÖEST-ALPINE errichtet wurde. Ein Teilschritt wurde hingegen in Unterwellenborn getan: Basierend auf den 1958 begonnenen Forschungen erfolgte hier von 1971 bis 1974 der Umbau des Thomas-Stahlwerks. Auf die Nutzung des LD-Verfahrens wurde verzichtet, stattdessen wandte man das hier entwickelte „QEK"-Verfahren" (Qualitäts- und Edelstahlkombinat) an. Bei diesem wurde reiner Sauerstoff durch den Konverterboden eingeblasen, verarbeitet wurde zudem - anders als bei der LD-Technik - vor allem Thomaseisen.24 Zusammenfassend scheiterten die in den sechziger Jahren existierenden Vorstellungen für die Einführung des LD-Verfahrens im EKO. Verantwortlich war nicht zuletzt ein Wechsel der wirtschaftspolitischen Strategie. In die Tat umgesetzt wurde hingegen die kleine Modernisierungsvariante, welche zur Rekonstruktion des veralteten Thomas-Stahlwerks in Unterwellenborn führte. Seit der Innovation des LD-Verfahrens im österreichischen Linz waren inzwischen 22 Jahre vergangen; erstattung am 11. 9. 1963 vor der Gruppe Hüttenwesen des Forschungsrates), Berlin, 13. 9. 1963. LAB(STA), Rep. 616 / 3. Abteilung Maschinenbau und Metallurgie an Genossen Dr. Mittag, betr.: Entwurf des Metallurgieprogramms der SPK vom 20. 10. 1962, S. 74-95. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / I V A 2 / 2.021 / 557. 22 Stahlinstitut, Berichterstattung über Arbeiten der DDR zum internationalen Forschungsthema 1964 „Konverterstahlerzeugung unter Verwendung von Sauerstoff', Hennigsdorf, 6. 3. 1965. LAB (STA), Rep. 616 / 106. Vermerk, Unterwellenborn, 25. 11. 1964, Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (unsigniert). 23

Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, Minister Dr. Fichtner, Prognostische Einschätzung der Entwicklung der Schwarzmetallurgie der DDR unter besonderer Berücksichtigung der vorrangigen Entwicklung ihrer II. Verarbeitungsstufe, Berlin, 20. 2. 1967. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / J I V 2 / 202 / 428 (Bd. 7). 24 Rubarth, Heiner / Scherzer, Albrecht, Aufbau des Konverterstahlwerks im VEB Bandstahlkombinat „Hermann Matern", Eisenhüttenstadt, in: Neue Hütte 29 (1984), S. 443-445. Scheidig, K. / Güther, R. / Luck, H., Entwicklung des QEK-Verfahrens zum Frischen von Roheisen im bodenblasenden Sauerstoffkonverter im VEB Maxhütte Unterwellenborn, in: Neue Hütte 18 (1973), S. 277 / 8. Geschäftsbericht 1973. VEB Maxhütte Unterwellenborn, Unterwellenborn, 15. 2. 1974. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte: „Direktion für Ökonomie: Geschäftsberichte des VEB Maxhütte U.-born. 1970, 1971, 1973" (unsigniert).

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bis zur eigentlichen Adaptation dieser Technik durch die DDR 1984 sollten jedoch weitere 10 Jahre verstreichen.

II. Bundesrepublik: August Thyssen-Hütte AG, Duisburg Vorbereitungsphase: Geprägt wurde dieser Abschnitt bei der August ThyssenHütte (ΑΤΗ) und in der westdeutschen Stahlindustrie allgemein von einer Zurückhaltung gegenüber der in Österreich eingeführten LD-Technologie. Verantwortlich hierfür war nicht zuletzt der Umstand, daß dieses Verfahren phosphorarmes Stahleisen verarbeitete, während ein großer Teil der westdeutschen Stahlerzeugung auf dem phosphorreicheren Thomaseisen basierte. Zudem war man sich auf der ΑΤΗ im Dezember 1951 anläßlich einer Besprechung beim technischen Vorstand, Dr. Alfred Michel, einig, daß beim Wiederaufbau des relativ stark demontierten Werkes möglichst kein Risiko eingegangen werden dürfe, vorrangig also bekannte Technologien zum Zuge kommen sollten. So wurde ζ. B. noch 1957 ein weiteres Siemens-Martin-Stahlwerk in Betrieb genommen.25 Dennoch beteiligte sich die Thyssenhütte an der 2 Monate zuvor gegründeten „Windfrischgemeinschaft", einem Zusammenschluß der thomasstahlerzeugenden Werke. Angestrebt wurde hier eine „Gemeinschaftsarbeit" und ein Erfahrungsaustausch zur Verbesserung der Thomas-Stähle.26 In diesem Kontext wurde mithin ein ähnlicher Weg wie auch auf der Unterwellenborner Maxhütte beschritten. Interessiert waren die hier zusammengeschlossenen Werke offensichtlich jedoch auch am LD-Verfahren: 1954 ergab ein Rechtsgutachten, daß die von der Brassert-Oxygen-Technik gehaltenen Patente nur durch einen langen Rechtsstreit zu Fall gebracht werden könnten.27 Auf der August Thyssen-Hütte selbst wurden seit 1954 Versuche zur Sauerstoffaufblastechnik durchgeführt, wobei das Interesse der Werksleitung erkennbar ist, sich einen möglichst großen Entscheidungsspielraum hinsichtlich der präferierten Rohstoffgrundlage (Stahleisen versus Thomaseisen) zu erhalten. Auch wenn es hierbei

25 Kootz an Dir. Heischkeil, Duisburg-Hamborn, 25. 5. 1954. Anlage: Interner Bericht über die Sitzung der Windfrischgemeinschaft, Vorstände der Werke am 20. Mai 1954 auf der Westfalenhütte, Duisburg-Hamborn, 22. 5. 1954. Archiv der Thyssen AG, A / 1037. Schreiben an Michel, betr.: Konverterform und Ausbau des Thomaswerkes, 31. 12. 1951. Archiv der Thyssen AG, A / 5698. Heischkeil, Werner / Becker, Karl / Leiber, Gerhard / Moos, Rudolf von, Die Neubauten im Thomas- und Siemens-Martin-Stahlwerk eines gemischten Hüttenwerks, in: Stahl und Eisen 79 (1959), S. 8-22. 2 6 Zilt, S. 144f. 27

Westfalenhütte AG an die Vorstände der Thomashüttenwerke als Vertragspartner der Gemeinschaft Windfrischverfahren; an die Herren Mitglieder der „Unabhängigen Kommission" der Gemeinschaft Windfrischverfahren. Betr.: BOT-Verfahren, Dortmund, 7. 5. 1954. Anlage: Rechtsanwälte Dr. Emil Kraus, Dr. Paul Grund: Gutachten über Rechts- und Patentlage des Sauerstoffblasverfahrens (DL-Verfahren), 5. 3. 1954. Archiv der Thyssen AG, A / 1037.

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vereinzelt zu technischen Rückschlägen kam, konnten bis zum November 1957 befriedigende Ergebnisse mit der LD-Technik erzielt werden. 28 Entscheidungsphase: Die Entscheidung, den vorgesehenen Ausbau der Rohstahlkapazität durch die Errichtung eines LD-, statt eines SM-Werks zu realisieren, wurde 1959 getroffen. Im Juni dieses Jahres betraute das technische Vorstandsmitglied Dr. Michel verschiedene Personen mit der Erarbeitung von Gutachten zu dieser Frage. Im August lag die von Direktor Heischkeil u.a. erstellte Expertise vor: Sie sprach sich gegen ein Siemens-Martin-Werk und für ein Stahlwerk nach dem Linz-Donawitz-Verfahren aus.29 Im folgenden erstattete die Versuchsanstalt der ΑΤΗ weitere, teilweise sehr detaillierte, Gutachten in dieser Angelegenheit. Im November 1959 wurde erneut die Anwendung des LD-Verfahrens im neuen Stahlwerk gefordert. Am 1.12. stimmte schließlich der Aufsichtsrat der August Thyssen-Hütte dem Vorschlag des Vorstands zur Errichtung eines LD-Stahlwerks zu. Vorgesehen war eine Kapazität von 45.000 Tonnen pro Monat, die in zwei Konvertern erzeugt werden sollten. Nicht unwesentlich erleichtert wurde dieser Beschluß dadurch, daß es wenige Wochen zuvor zu einem Vertragsabschluß zwischen der Windfrischgemeinschaft und der Brassert-Oxygen-Technik gekommen war, wodurch den Mitgliedsunternehmen der Gemeinschaft eine Option zur Nutzung des dort vorhandenen Know-hows eingeräumt wurde. 30 Einfuhrungsphase: Nachdem im März 1960 die diesbezügliche Investitionsmeldung der ΑΤΗ an die Höhe Behörde der Montanunion gegangen war, wurde im Frühjahr dieses Jahres der Auftrag zur Errichtung des neuen LD-Stahlwerks an den Duisburger Anlagenbauer Demag vergeben. Letztlich erfolgte diese durch den Bau eines komplett neuen Werksteils im Duisburger Stadtteil Beeckerwerth; das LDStahlwerk wurde hier durch angeschlossene Walzstraßen arrondiert. Vereinzelt kam es in der Bauphase des Stahlwerks zu technischen Schwierigkeiten, die Auseinandersetzungen zwischen der Demag und der Neubauabteilung der Thyssenhütte zur Folge hatten. Zu einer entscheidenden Verzögerung führten sie jedoch 28 Zum Oberwindfrischen phosphorreichen Roheisens. Gemeinschaftsarbeit der August Thyssen-Hütte AG, Duisburg-Hamborn, Dortmund-Hoerder Hüttenunion AG, Dortmund, Eisenwerk-Gesellschaft Maximilianshütte AG, Sulzbach-Rosenberg. Von T. Kootz und H. Knüppel, Duisburg-Hamborn, 27. 9. 1956. Ebd. Heischkeil an Michel, z. Zt. Pittsburgh, 14. 1. 1956. Ebd., Sohl 1042 / 2. Michel an Sohl, Cordes, Meyer, Risser, Duisburg-Hamborn, 12. 11. 1957. Ebd., Sohl 1040/1. 2

9 Michel an Rohland, 18. 6. 1959. Ebd., Sohl 1041 / 2. Heischkeil, Werner / Conrad, Peter, Über den Ausbau der Stahlkapazität der August Thyssen-Hütte AG, August 1959. Ebd., A / 9826. 30 Gutachten: Ausbau der August Thyssen-Hütte auf eine Rohstahl-Kapazität von 312.000 t / Monat, 2. 11. 1959. Ebd., A / 9811. Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrates der August Thyssen-Hütte Aktiengesellschaft am Montag, dem 1. Dezember 1959 zu Duisburg-Hamborn, Köln-Marienburg, 23. 12. 1959. Ebd., Sohl 920/ 1. Arbeitskreis der Gemeinschaft Windfrischverfahren, Niederschrift über die Sitzung des Arbeitskreises der Gemeinschaft Windfrischverfahren am 12. November 1959 um 15 Uhr, Mannesmann-Hüttenwerke AG, Duisburg-Huckingen. Vertraulich, Düsseldorf, 30. 11. 1959. Ebd., A / 1037.

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nicht: Im Sommer 1962 wurde das LD-Stahlwerk Beeckerwerth in Betrieb genommen, nachdem das erste Fundament im November 1960 vergossen worden war. 31 Nunmehr rückten die Versuche der Stahlindustrie, an denen sich auch Thyssen beteiligte, in den Vordergrund, durch konzertiertes Vorgehen im Rahmen der Walzstahlvereinigung, eine befriedigende Erlössituation für das neue Produkt Oxygenstahl durchzusetzen. Letzten Endes zielte dies darauf ab, der sich nunmehr durchsetzenden technischen Neuerung „Sauerstoffaufblas-Verfahren" durch die Strukturierung des neuen Marktes auch ökonomisch zum Erfolg zu verhelfen, d. h. sie zu einer Innovation im marktwirtschaftlichen Sinne zu machen.32 Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre setzte sich innerhalb des Thyssen-Konzerns sodann die Einsicht durch, daß die vorhandenen Siemens-Martin- und Thomas-Werke in absehbarer Zeit nicht mehr konkurrenzfähig sein würden. Im Ergebnis erfolgte die Inbetriebnahme weiterer Oxygenstahlkapazitäten; im Jahre 1969 wurden schließlich die letzten nach den traditionellen Verfahren arbeitenden Stahlwerke der Thyssengruppe stillgelegt.33 Die Einführung des LD-Verfahrens erfolgte auf der Thyssenhütte nach einer recht langen Vorbereitungsphase (1951-1959) bis zum Jahre 1962 durch die Errichtung eines neuen Werksteils. Seit dem ersten industriellen Einsatz dieser Technologie waren zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre vergangen. Während der sechziger Jahre Schloß sich die ΑΤΗ dem globalen Trend zur Diffusion dieses Verfahrens (s.o.) an. Die bestehenden Stahlwerke wurden sukzessive stillgelegt. Der wesentliche Unterschied zum Implementationsverlauf, wie er für die DDR rekonstruiert wurde, bestand offensichtlich nicht in der Vorlaufphase, sondern betraf das Einführungs- und Diffusionsstadium der neuen Technik.

31 Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie an die ΑΤΗ, betr.: Investitionsmeldung an die Höhe Behörde, Düsseldorf, 11. 3. 1960. Ebd., Sohl 1041 / 1. Michel an Sohl, Duisburg-Hamborn, 11. 5. 1960. Ebd., Fernschreiben der Neubauabteilung an die Demag, Duisburg, Dir. Hoffmeister, betr.: Blasstahlwerk, 14. 7. 1961. Ebda., Sohl 845 / 1. Behrens, Knut / von Moos, Rudolf, Das neue Oxygenstahlwerk (Sauerstoff-Blasstahlwerk) der August Thyssen-Hütte, in: Stahl und Eisen 83 (1963), S. 1025-1034. 32

Walzstahl Vereinigung, Auszug aus der Niederschrift über die Beiratssitzung am 13. 3. 1962. Archiv der Thyssen AG, Α /1194. 33 Zentrale Forschung, Aktennotiz, betr.: Besprechung über Umstellung der ThomasstahlErzeugung auf LDAC- bzw. OLP-Verfahren am 26. 1. 1965, Düsseldorf, 28. 1. 1965. Ebd., A /1132, Zentrale Forschung, Entwicklung und Qualitätsüberwachung, Aktennotiz, betr.: Besprechung über den zukünftigen Bedarf an Th-Stahl (VAP-Untersuchung Mai 1965) am Dienstag, dem 6. 7. 1965 im Thyssenhaus, 8. 7. 1965 [Entwurf]. Ebd., Behrens, Knut / Brandl, Hermann Th. / Höffken, Erich / Kleine-Kleffmann, Werner, Das neue Oxygenstahlwerk (Sauerstoffaufblas-Stahlwerk) der August Thyssen-Hütte AG, in: Stahl- und Eisen 90 (1970), S. 53-63.

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D. Motive zur Innovation Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Thomasstahlprodukte schon in der Zwischenkriegszeit aufgrund der steigenden Qualitätsanforderungen der abnehmenden Branchen unter Druck gerieten. Dieser Trend hielt auch nach 1945 an und kann insofern als der eigentliche Anstoß zur Innovation des Sauerstoffaufblasverfahrens angesehen werden. Weitere allgemeine Zielvorstellungen, welche mit der Entwicklung und Einführung der Sauerstoffblas verfahren verfolgt wurden, waren: Produktionssteigerung, Kostensenkung, Produktivitätsverbesserung sowie das Nachvollziehen des globalen Trends in anderen Volkswirtschaften. Diese Motive traten sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR auf - jedoch waren sie anders gewichtet. Dabei waren auch in der DDR die qualitativen Nachteile des Thomasstahls frühzeitig bekannt: Hier wurde etwa 1951 über diese berichtet und es wurden Forschungsarbeiten zur Lösung dieses Problems angestrengt.34 Das Motiv „Qualitätsverbesserung" war schließlich auch dafür verantwortlich, daß die Planungen für den Ausbau der Maxhütte Unterwellenborn im ersten Fünfjahrplan die Errichtung einer Sauerstoffanlage zur Anreicherung des Gebläsewindes mit Sauerstoff vorsahen: Als die Maxhütte im Oktober 1950 bei der Hauptabteilung Metallurgie des Ministeriums für Schwerindustrie den Umbau ihrer Konverteranlagen und die Errichtung einer Sauerstoffanlage beantragte, begründete sie dies damit, die gestiegenen Anforderungen an Thomas-Rohstahl seien mit der vorhandenen Anlage nicht mehr zu erfüllen. 35 Dieser allgemeine Qualitätsdruck auf den Thomas-Stahl setzte sich offensichtlich fort, so daß auch Mitte der sechziger Jahre auf die steigenden Anforderungen des Maschinenbaus verwiesen und die Befürchtung geäußert wurde, im Jahre 1970 seien Absatzschwierigkeiten auf der Thomasstahlseite zu gewärtigen.36 Dominiert wurden diese Qualitätsgesichtspunkte - jedenfalls bis zum Ende der fünfziger Jahre - von der Absicht, durch den Sauerstoffeinsatz im Thomas-Stahlwerk eine rasche Produktionssteigerung erzielen zu können - ein Motiv, das vor dem Hintergrund der herrschenden Stahlknappheit verständlich wird. Als so etwa im Februar 1952 der Rekonstruktionsplan der Maxhütte vom Minister für Bergund Hüttenwesen, Fritz Selbmann, bestätigt wurde, war eine deutliche Steigerung der Stahlerzeugung eingeplant, welche nicht zuletzt durch den Bau der Sauerstoffanlage erreicht werden sollte. Nach der Errichtung dieser Anlage wurde die Sauer34

Maurer / Gilde. 5 VEB Maxhütte / VVB VESTA an das Ministerium für Industrie / HA Metallurgie, Kennwort: Konverter-Umbau und Sauerstoffanlage, 1. 10. 1950. BArchP, DG 2 / 3219, S. 116. 3

36 Werksentwicklung, Reisebericht, betr.: Umbau Thomas-Stahlwerk, Unterwellenborn, 30. 7. 1965. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (nicht signiert).

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Stoffanreicherung des Gebläsewindes in den herkömmlichen Thomas-Konvertern durchgeführt (s.o.). Vom Blasen mit technisch-reinem Sauerstoff von oben - also der LD-Technik - wurde jedoch zunächst abgesehen, da erneut die Frage der quantitativen Steigerung der Erzeugung im Vordergrund stand. Zu diesem Zweck erachtete man es offensichtlich als sicherer, den Pfad der bekannten Thomas-Technologie nicht zu weit zu verlassen.37 Demgegenüber wurde der Frage der Wirtschaftlichkeit der verschiedenen bekannten und neuartigen Verfahren der Stahlerzeugung in der DDR bis zum Ende der fünfziger Jahre offensichtlich eine geringere Aufmerksamkeit gewidmet. Erst 1958 erfolgte ein erster Versuch, die Produktionskosten der Verfahren gegenüberzustellen, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, mit welcher Technik der künftige Ausbau der Metallurgie durchzuführen sei. Karl-Friedrich Lüdemann von der Bergakademie Freiberg gelangte hier allerdings zu dem Ergebnis, daß sich die Herstellungskosten beim herkömmlichen Siemens-Martin- und beim Sauerstoffaufblasverfahren unter den Bedingungen der DDR gar nicht wesentlich unterschieden; der Kostenvergleich gestaltete sich jedoch aufgrund der verzerrten Preisstruktur der Einsatzstoffe (s.u.) als schwierig. 38 Im folgenden ist eine gewisse „Ökonomisierung" der Motive zur Einführung des LD-Verfahrens in der DDR festzustellen. Argumentiert wurde nun deutlicher mit den ökonomischen Vorteilen des Verfahrens. Im Vordergrund standen dabei jedoch die - im Vergleich zur Siemens-Martin-Technik - geringeren spezifischen Investitionskosten sowie die höhere Arbeitsproduktivität der neuen Technologie. Indirekt dominierte somit erneut das Motiv „quantitative Produktionssteigerung", wie auch immer wieder darauf hingewiesen wurde, die Planerfüllung dürfe durch die beabsichtigte Innovation keinesfalls gefährdet werden. Hingegen konnten die zu erwartenden Produktionskostenvorteile der LD-Technik nur näherungsweise bestimmt werden, was auf mangelndem Informationszugang und der zugrundeliegenden Preisstruktur beruhte. Zeitweise wurde diese Motivlage durch vehementen politischen Druck ergänzt, den „wissenschaftlich-technischen Höchststand" zu erreichen und sich der Entwicklung in den westlichen Staaten anzuschließen.39 37 Schreiben an das Ministerium für Hüttenwesen, Minister Selbmann, betr.: Rekonstruktionsplan für die Maxhütte in den Jahren 1952-55, 15. 2. 1952. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte Β 19. Ministerium für Erzbergbau und Hüttenwesen, der Minister, an Direktor Steinwand, Maxhütte, Berlin, 23. 2. 1952. Ebd. Gemeinsamer Bericht aller Teilnehmerländer zum Thema: „Sauerstoffanwendung im Konverter", 1. 12. 1957. LAB(STA), Rep. 616 /106. 38 Lüdemann, Karl-Friedrich, Vergleich der Wirtschaftlichkeit verschiedenartiger Stahlerzeugungsverfahren unter Berücksichtigung der Entwicklung des Eisenhüttenwesens in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neue Hütte 3 (1958), S. 462-474. 39 Prof. Dr. Küntscher / Dr.-Ing. Müller, Stellungnahme zur Einführung des Sauerstoffaufblasverfahrens in der DDR, Hennigsdorf, 4. 10. 1962. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 IV A2 / 6.04 / 363. Auszug aus der stenographierten Niederschrift der 2. Plenartagung des Forschungsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 12. Nov. 1962 in Berlin, Unterwellenborn, 8. 1. 1963. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (nicht

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Auch die bundesdeutsche Eisen- und Stahlindustrie sah sich in den fünfziger Jahren mit einem kontinuierlichen Druck zur Qualitätsverbesserung des Werkstoffs Stahl und hier insbesondere des Thomasstahls konfrontiert. So wurde die „Windfrischgemeinschaft" vor allem ins Leben gerufen, um den herkömmlichen Thomasstahl, besonders für den Export, geschweißte Konstruktionen und die in zunehmenden Maße hergestellten Flachprodukte zu verbessern. Im Dezember 1951 wurde vor dem Arbeitskreis der Windfrischgemeinschaft berichtet, die Waggonbauindustrie und die Bundesbahn gingen zunehmend dazu über, für Waggonneubauten nur noch Produkte aus Siemens-Martin-Stahl zu akzeptieren. 40 Insofern waren die Bemühungen, den Konverterstahl durch die Verwendung reinen Sauerstoffs zu verbessern, in der Bundesrepublik - wie in der DDR - allgemein durch Qualitätsgesichtspunkte motiviert. Im Jahre 1959 sah sich nun die Leitung der August Thyssen-Hütte in Duisburg konkret vor die Notwendigkeit gestellt, zu entscheiden, mit welchem Verfahren der Ausbau der Rohstahlkapazität der Hütte realisiert werden sollte. Dem lag folgende Konstellation zugrunde: Die Walzstahlkapazität der August Thyssen-Hütte betrug zu diesem Zeitpunkt 250.000 Monatstonnen (moto), für die insgesamt 312.000 moto Rohstahl benötigt wurden. Verfügbar war jedoch lediglich eine Kapazität von 245.000 t, die sich auf das Thomasstahlwerk (150.000 t), das Siemens-MartinWerk I (63.000 t) und das Siemens-Martin-Werk II (32.000 t) verteilten. Unabhängig davon wurde die Notwendigkeit gesehen, das aus der Vorkriegszeit stammende SM-Werk II zu modernisieren. Insgesamt kam man daher zu der Ansicht, es sei eine zusätzliche Rohstahlkapazität von 77.000 moto, v.a. für Rachstahlprodukte zu schaffen. 41 Wenn somit die Entscheidung zur Errichtung eines neuen Stahlwerks der Thyssenhütte durch die Absicht zur Produktionssteigerung qualitativ höherwertigen Rohstahls gegeben war, war hiermit noch keine konkrete Entscheidung über die Technologie präjudiziell:. Aus diesem Grund Schloß sich in den Überlegungen ein Auswahlprozeß zur Bestimmung des günstigsten technischen Verfahrens an, zu dessen Ermittlung ein konziser Maßstab definiert wurde: Gesucht wurde das Verfahren, das den Stahl langfristig, unter Berücksichtigung der Rohstofflage, zu den

signiert). Büro des Ministerrates, Beschluß des Ministerrates vom 22. 10. 1964, betr.: Beschluß zum Bericht über den Stand der Vorbereitung der Einführung des Sauerstoffaufblasverfahrens und des Stranggießens in der metallurgischen Industrie der DDR und die weiteren Maßnahmen unter besonderer Beachtung der Beschaffung funktionssicherer Ausrüstungen und Anlagen, die dem wissenschaftlich-technischen Höchststand entsprechen. Anlagen. BArchP, DC 20 I / 4-1023, S. 224-241. Werksentwicklung, Reisebericht, betr.: Umbau Thomas-Stahlwerk, Unterwellenborn, 30. 7. 1965. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (nicht signiert). 40 Arbeitskreis der Gemeinschaft Windfrischverfahren, Niederschrift über die Sitzung vom 11. 12. 1951 in Dortmund, 7. 1. 1952. Archiv der Thyssen AG, A / 1036. 41 Gutachten: Ausbau der August Thyssen-Hütte auf eine Rohstahl-Kapazität von 312.000t/Monat, 2. 11. 1959. Ebd. A/9811.

5 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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geringsten Kosten in der für den geplanten Verwendungszweck gerade voll ausreichenden, gleichmäßigen Güte herstellen konnte. 42 Insofern als die Erweiterung der Stahlwerke des Unternehmens im Hinblick auf Qualität und Produktionsmenge sowohl durch die Errichtung eines Siemens-Martin-Werkes als auch eines LD- (bzw. LDAC-) Werkes hätte durchgefühlt werden können, bestand kein Zweifel über die ausschlaggebende Größe: Entscheidend für die Auswahl des Verfahrens sollten die jeweils zu erwartenden Herstellkosten sein.43 Da die zu vergleichenden Verfahren verschiedene Anteile der Einsatzstoffe Roheisen und Schrott verarbeiten konnten, lag den für die ΑΤΗ durchgerechneten Wirtschaftlichkeitsvergleichen eine Annahme über die Entwicklung der relativen Preise für Schrott und Eisen zugrunde, wobei ein niedriger Schrottpreis unmittelbar die Rentabilität des traditionellen Siemens-Martin-Verfahrens stärkte. Das Ergebnis der Kostenprognosen war unzweideutig: Aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten wurde eindeutig der erstmalige Einsatz der LD-Technologie auf der August Thyssen-Hütte favorisiert; dabei sei eine rasche Amortisation der Investitionen zu erwarten: „[...] c) Bei den zu erwartenden Schrottpreisen ist der nach dem LD-Verfahren zusätzlich hergestellte Stahl voraussichtlich erheblich billiger als der nach dem SM-Verfahren zusätzlich hergestellte Stahl. Daher wird die Anwendung des LDVerfahrens für den zukünftigen Ausbau der ΑΤΗ empfohlen." 44 Zusammengefaßt ist zu unterstreichen, daß die Motive zur Einführung des LDVerfahrens in der DDR und auf der Duisburger Thyssenhütte in ihrer Gesamtheit im wesentlichen identisch waren. Feststellbar ist jedoch eine merklich abweichende Akzentuierung: Bestand im Falle der ΑΤΗ der ausschlaggebende Beweggrund eindeutig in der erwarteten Senkung der Selbstkosten, so stand im Falle der ostdeutschen Schwarzmetallurgie - ungeachtet aller zusätzlichen Begründungen - die Größe „Produktionssteigerung" im Vordergrund.

E. Anreize und Hindernisse der Innovation Im Vergleich zu den Motiven unterschieden sich bei dem hier betrachteten Innovationsverlauf die Anreizstrukturen und die Problemlagen, denen sich die Akteure in der DDR und der Bundesrepublik gegenübersahen, wesentlich deutlicher. Dabei 42 Dr.-Ing. Heischkeil / Dipl.-Kfm. Conrad, Über den Ausbau der Stahlkapazität der August Thyssen-Hütte AG, August 1959. Ebd. A / 9826. 43

Gutachten: Ausbau der August Thyssen-Hütte auf eine Rohstahlkapazität von 312.0001/ Monat, 2. 11. 1959. Ebd. A / 9811. 44 Dr.-Ing. Heischkeil / Dipl.-Kfm. Conrad, Über den Ausbau der Stahlkapazität der August Thyssen-Hütte AG, August 1959, Ebd. Siehe auch: Versuchsanstalt, Selbstkostenvergleich der Konverterverfahren, Duisburg-Hamborn, 29. 2. 1960. Ebd. A /1140.

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wird am Beispiel der Einführung des Sauerstoffblasens in den Stahlwerken der DDR exemplarisch deutlich, daß innovatorisches Handeln unter den dortigen Bedingungen eine regelrechte Problemkumulation zu bewältigen hatte, die sämtliche Innovationsstadien betraf und der in der Regel keine entsprechenden Anreizstrukturen entgegenstanden. Im Ergebnis mußte die Innovation für die Akteure zu einem prekären Unterfangen werden. Dabei ist die Gewichtung der einzelnen Faktoren dieser Problemkumulation durchaus schwierig; im folgenden sollen einige Anmerkungen zu ihrer Einordnung gemacht werden. Technische Probleme, resp. mangelnde Verfügbarkeit von technischen Aggregaten und Arbeitskräften waren während des gesamten Vorhabens zur Verbesserung des Thomasstahls bzw. Einführung des LD-Verfahrens in der DDR ubiquitàri Bereits die 1953 in Betrieb genommene und in ihrer Bedeutung recht bescheidene Sauerstoffanlage auf der Unterwellenborner Maxhütte wurde durch fehlende Anlageteile und verspätete Zulieferungen über Gebühr verlängert. Als sie dann jedoch tatsächlich zum Einsatz kam, entsprach ihre technische Leistungsfähigkeit keinesfalls den Erwartungen, gravierende Betriebsstörungen waren an der Tagesordnung. Als schließlich 1963 auf der Maxhütte eine Pilotanlage für Versuche mit der LDTechnik eingerichtet werden sollte, machte sich abermals ein Engpaß bei den benötigten Materialien bemerkbar, so daß Mitarbeiter des Eisenforschungsinstituts Hennigsdorf sich selbst um diese bemühen mußten.45 Subtiler als fehlende materielle Ressourcen wirkten die verzerrten Preisstrukturen: Insbesondere im Bereich der Schwarzmetallurgie führten diese zu absurden Implikationen und enthielten kaum ökonomische Anreize zur Einführung der neuen Technik. Konkret hieß dies: Der relative Preis des Einsatzstoffes Schrott war im Vergleich zum Roheisen viel zu niedrig angesetzt, da er im Zuge der Preisreform für Eisen und Stahl vom 1. 4. 1955 nicht angehoben worden war. Da die verschiedenen Verfahren zur Stahlerzeugung sich jedoch u.a. durch unterschiedliche Einsatzverhältnisse von Roheisen und Schrott unterscheiden, mußte der äußerst niedrige Schrottpreis zu Produktionskosten führen, die die eigentliche Wirtschaftlichkeit der Verfahren nicht korrekt wiedergaben. Konkret wurden somit jene Technologien „subventioniert", die einen hohen Anteil von Schrott verarbeiten konnten. Dies traf neben dem Elektrostahlverfahren auch auf die Siemens-Martin-Technologie zu, während das Thomas-, v.a. aber das LD-Verfahren drastisch benachteiligt wurden. 1960 erbrachte eine Berechnung folgende Materialkosten für eine Tonne Stahl: Siemens-Martin-Rohstahl: 146,25 DM-Ost; Thomas-Rohstahl: 226,16 DM-Ost; Elektrostahl: 39,38 DM-Ost; Blasstahl: 293,66 DM-Ost. 46 Eine solche Divergenz 45 Ministerium für Hüttenwesen und Erzbergbau, Abt. Investitionen, Gesamt-Analyse über den Stand der Investitionen am 25. 8. 1953, Berlin, 9. 9. 1953. BArchP, DE 1 /15710, S. 189204. Protokoll über die monatliche Sitzung des Werksleitungskollektivs für Monat März und I. Quartal 1958, Unterwellenborn, 21. 5. 1958. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte Β 155. Inspektion Metallurgie / Kali, Bemerkungen zur Vorbereitung und Einführung der Produktionsverfahren Sauerstoffaufblas- und Stranggußverfahren in der metallurgischen Industrie. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / IV A2 / 6.04 / 363.

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der Materialkosten konnte selbst durch die niedrigen Verarbeitungskosten der LDTechnologie nicht kompensiert werden. Im Ergebnis führte dies dazu, daß gerade dieses moderne Verfahren unter den Bedingungen der DDR unwirtschaftlich war; die Inbetriebnahme des LD-Stahlwerks im EKO wurde gar beschlossen, obwohl man mit hohen Verlusten rechnen mußte.47 Im folgenden wurde diese Preisstruktur auch durch die Industriepreisreformen der sechziger Jahre nicht grundlegend aufgebrochen, so daß das Preissystem kein dynamisches Interesse an der Einführung der LD-Technik begründen konnte. 48 Hingegen ist ein Widerstand der Betriebe gegen die Einführung des Sauerstoffblasverfahrens empirisch nur schwer nachzuweisen. Dieser Widerstand, der etwa im Rahmen des von Bentley vorgeschlagenen Modells der gesellschaftlichen Interessenkonstellationen49 impliziert ist, dürfte dennoch aufgrund der Ergebnisse der Systemanalyse durchaus interessenrational gewesen sein. Interessiert an technischem Wandel könnten die Betriebe jedoch immer dann gewesen sein, wenn eine Innovation dazu angetan war, „stille Reserven" für die künftige Planerfüllung zu begründen. So wurden auch von Vertretern der Maxhütte immer wieder Bedenken gegen vorgegebene, ambitionierte Ausbaupläne, bzw. die Einführung des LD-Verfahrens im Werk geäußert. 50 Aus der Retrospektive ist allerdings kaum nachweisbar, inwieweit diese Bedenken objektiven Problemen geschuldet waren oder ob die Innovation grundsätzlich nicht gewollt wurde. Im jedem Falle verhielt sich das Unternehmen vorsichtig. Fragt man nach den Faktoren, welche demgegenüber dazu angetan waren, die Einführung des Sauerstoffblasverfahrens zu beschleunigen, ist in erster Linie das Interesse der politischen Führung an technischem Wandel zu nennen: Auf der 2. Plenartagung des Forschungsrates der DDR (November 1962) war es Walter Ulbricht selbst, der sich mit diesem Verfahren beschäftigte und vehement seine Einführung forderte, um im Kampf um das „Weltniveau" Anschluß zu halten.51 Des 46 Schmidt, Erich, Sind die derzeitigen Preise für Eisen- und Stahl richtig? In: Neue Hütte, 5 (1960), S. 245-251. 47 Ebd. 48

Ders., Zu einigen Grundfragen der neuen Eisen- und Stahlpreise in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neue Hütte 9 (1964), S. 385-389. Ders. / Schmidt, Horst, Probleme und Lösungswege einer ökonomisch begründeten Preisbildung für metallische Sekundärrohstoffe, in: Ebd. 17 (1972), S. 399-402. 49 Bentley, Raymond, Technological Change in the German Democratic Republic, Boulder 1984, S. 208-218. 50 Werkleitung, Vorentwurf, betr.: Ausbau der Maxhütte, Unterwellenborn, 21. 5. 1951. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte Β 18. Techn. Direktor, Koll. Luck, betr.: Umbau des Thomas-Stahlwerkes der Maxhütte in ein Sauerstoff-Blaswerk, Unterwellenborn, 8. 2. 1965. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte: Technische Leitung: Studie Thomasstahlwerk, Nr. 778, 1965 (nicht signiert). 51 Auszug aus der stenographierten Niederschrift der 2. Plenartagung des Forschungsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 12. Nov. 1962 in Berlin, Unterwellenborn, 8. 1. 1963. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Bandnummer 712 (nicht signiert).

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weiteren wurde v.a. die Abteilung „Maschinenbau und Metallurgie" des ZK-Apparates eingesetzt, um die Implementation des Verfahrens voranzutreiben. 1963 erarbeitete sie eine Konzeption zur „Unterstützung und Kontrolle der Parteiorganisationen bei der Vorbereitung und Einführung des Sauerstoffaufblasverfahrens (LDVerfahren) und des Stranggießens in der metallurgischen Industrie der DDR". Vehement kritisiert wurden zudem einzelne Wissenschaftler und Staatsfunktionäre, da sie nicht „kühn" genug an diese Aufgabe herangegangen seien.52 Wenn somit der politische Druck zur Innovation der LD-Technologie gerade in den sechziger Jahren zunahm, so trug die Wirtschaftspolitik ihrerseits dazu bei, diese Innovation zu behindern, da häufig Unklarheit über die politisch gewollte Perspektive herrschte. Nachweisbar ist etwa für die Maxhütte, daß während der sechziger Jahre insofern ungünstige Bedingungen für weitreichenden technischen Wandel vorlagen, als Unklarheit über die Zukunft dieses veralteten Werks herrschte (Ausbau zu einem Drahtkombinat versus Schließung).53 In gewissem Sinne trifft dies auch auf die Diskussion um die Perspektive der gesamten Metallurgie zu. Jedenfalls bestätigt dieses Beispiel, daß die SED-Führung keinesfalls in der Lage war, technische Innovationen autonom durchsetzen zu können, wann immer sie dies für geboten erachtete; wesentlich durchgreifender waren ihre Interventionsmöglichkeiten hingegen in negativem Sinne, d. h. beim Abbruch bereits begonnener Projekte (S.o.). 54

Erwartungsgemäß wies die Situation, in der die Unternehmensleitung der Duisburger August Thyssen-Hütte sich für die Innovation der LD-Technologie entschied, hinsichtlich Anreizstrukturen und Problemlage grundlegend andere Konturen auf. Als entscheidend zeigte sich schließlich der negative Anreizmechanismus des Wettbewerbs, da die Leitung der ΑΤΗ zu der Ansicht gelangte, daß ohne diese Entscheidung die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens mittelfristig gefährdet wäre. 52 Abt. Maschinenbau und Metallurgie, Vorlage für das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro des ZK, Berlin, 28. 3. 1963. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / IV A2 / 6.04 / 364. Erläuterungen zur Konzeption zur Unterstützung und Kontrolle der Parteiorganisationen bei der Vorbereitung und Einführung des Sauerstoffaufblasverfahrens (LD-Verfahren) und des Stranggießens in der metallurgischen Industrie der DDR, Berlin, 29. 3. 1963. Ebd. 53 Staatliche Plankommission / Abteilung Schwarzmetallurgie, Bericht über den Stand der Durchführung des Metallurgieprogrammes (Berichterstattung am 11. 9. 1963 vor der Gruppe Hüttenwesen des Forschungsrates), Berlin, 13. 9. 1963. LAB (STA), Rep. 616 / 3. Staatliche Plankommission / Abteilung Berg- und Hüttenwesen, Protokoll über die Beratung „Metallurgie-Programm 1963 / 1965" vom 21. 6. 1962 von 10.00 Uhr bis 16.00 Uhr - Teil Schwarzmetallurgie, Berlin, 25. 6. 1962. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30 / IV 2 / 6.04 / 133, S. 247267. Geschäftsbericht VEB Qualitäts- und Edelstahlkombinat Maxhütte Unterwellenborn für das Jahr 1969, Unterwellenborn, 12. 2. 1970. Betriebsarchiv der Maxhütte Unterwellenborn, Akte: Direktion für Ökonomie: Geschäftsberichte des VEB Maxhütte Unterwellenborn. 1967-1969 (nicht signiert). 54

Siehe hierzu auch: Bauerkämper, Arnd / Ciesla, Burghard / Roesler, Jörg, Wirklich wollen und nicht richtig können. Das Verhältnis von Innovation und Beharrung in der DDR-Wirtschaft, in: Kocka, Jürgen / Sabrow, Martin (Hg.), Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994, S. 116-121.

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Als man sich auf der ΑΤΗ 1959 dafür entschied, das neue Verfahren einzuführen, wurden in der Bundesrepublik 547.000 Tonnen Oxygenstahl gefrischt. Lag der Anteil dieses Verfahrens an der gesamten westdeutschen Erzeugung somit noch bei bescheidenen 1,9 Prozent, so war diese Quote doch in den vorangegangen zwei Jahren merklich angestiegen.55 Noch entscheidender war, daß der Vorstand der ΑΤΗ - nicht zuletzt durch die Mitarbeit in der „Windfrischgemeinschaft" - über weitergehende Ausbaupläne der Konkurrenten unterrichtet war und man um die ökonomischen Vorteile dieses Verfahrens wußte. War man folglich schon kein „first mover", so verbot es sich doch aus Wettbewerbsgründen, zu lange zu zögern und so wurde in den bereits zitierten Expertisen auch auf die Bedeutung der globalen Entwicklung verwiesen. 56 Im Januar 1960 betonte die Versuchsanstalt der August Thyssen-Hütte im Rahmen eines Selbstkostenvergleichs erneut die Implikationen der Entwicklung der Sauerstoffaufblastechnik für die Wettbewerbsfähigkeit der Stahlerzeuger: Wenn es aufgrund dieser Entwicklung weltweit möglich sei, Konverterstahl in der Qualität von bestem Siemens-Martin-Stahl, jedoch zum Preis von Thomas-Stahl herzustellen, so sei dies eine sehr ernste Bedrohung für das Siemens-Martin-Verfahren. 57 Nachdem in der Bundesrepublik die Oxygenstahl-Kapazitäten während der ersten Hälfte der sechziger Jahre deutlich expandiert hatten, entfaltete dies eine enorme Sogwirkung in Richtung der weiteren Diffusion des Verfahrens und der Stillegung der alten Technologien. Im Mai 1965 kam eine im Thyssen-Konzern angestellte Untersuchung zu dem Ergebnis, 1970 werde der Anteil des Thomasstahls an der gesamten Rohstahlkapazität nur noch 20 %, der Bedarf an Thomas-Qualitäten jedoch 41-44 % der Gesamtnachfrage ausmachen. Dies bedeutete, durch den absehbaren Verkauf höherwertiger Stahlsorten zu Thomaspreisen werde sich der Preisdruck noch weiter verstärken und die bisherigen Technologien verlören entscheidend an Wettbewerbsfähigkeit. 58 Deutlich wird hieran, daß die einmal getroffene Entscheidung zur Einführung des LD-Verfahrens aufgrund der Wettbewerbskonstellation zu einer kräftigen Diffusionsdynamik führte, wie sie in der Planwirtschaft der DDR nicht gegeben war. Verstärkt wurde diese zusätzlich durch die staatliche Auflage zur Entstaubung der Stahlwerke, welche den Thomasstahl gegenüber den Sauerstoffverfahren zusätzlich verteuerte. 59 55

Eigene Berechnungen, Grundlage: Statistische Jahrbücher für die Eisen- und Stahlindustrie 1948-1970/1, hg. v. Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Düsseldorf versch. Jgg. 56 Dr.-Ing. Heischkeil / Dipl.-Kfm. Conrad, Über den Ausbau der Stahlkapazität der August Thyssen-Hütte AG, August 1959. Archiv der Thyssen AG, A / 9826. 57 Versuchsanstalt, Kootz, an Michel, Heischkeil u.a., betr.: Selbstkostenvergleich der Konverter-B las verfahren, Duisburg-Hamborn, 8. 1. 1960. Anlage: ΑΤΗ-Versuchsanstalt, Metallurgische Abteilung, Zum Selbstkostenvergleich der Konverter-B las verfahren, 4. 1. 1960. Ebd. A /1140. 58 Zentrale Forschung, Entwicklung und Qualitätsüberwachung, Aktennotiz, betr. Besprechung über den zukünftigen Bedarf an Th-Stahl (VAP-Untersuchung Mai 1965) am Dienstag, dem 6.7.65, im Thyssenhaus, 8. 7. 1965 [Entwurf]. Ebd., A /1132.

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Auf der anderen Seite war es eben diese Marktsituation, die für die westdeutsche Stahlindustrie auch ein wesentliches Hindernis der Innovation im ökonomischen Sinne darstellte: Mit dem zu Beginn der sechziger Jahre zunehmendem Angebot an hochwertigem Oxygenstahl galt es für die Erzeuger, Konturen einer Marktordnung zu fundieren, die mittelfristig die Rentabilität der Investitionen gewährleisten würde: Erwiesen sich die Probleme der technischen Seite (s.o.), nicht zuletzt aufgrund der Gemeinschaftsarbeit der „Windfrischgemeinschaft", der Möglichkeit, auf das österreichische Know-How zurückzugreifen sowie durch die Existenz eines leistungsfähigen Anlagenbaus letztlich auch für die ΑΤΗ als lösbar, so gestaltete sich die Schaffung einer rentablen Erlössituation als schwieriger. Aus diesem Grunde versuchte die westdeutsche Stahlindustrie 1961-1963 in einer konzertierten Aktion, der sich auch die ΑΤΗ anschloß, Eckwerte für den neuen Markt „Oxygenstahl" festzulegen. Den Hintergrund für dieses Ansinnen, das v.a. von der Absatzseite initiiert wurde, waren die beträchtlichen Abweichungen der Preise für SMund Thomasprodukte. 60 Aus diesem Grunde einigte sich der Beirat der Walzstahlvereinigung am 13. 3. 1962 auf ein gemeinsames Vorgehen, das v.a. folgende Punkte vorsah: 1) Schaffung des Gattungsbegriffs „Oxygenstahl"; 2) Der Oxygenstahl muß wegen seiner qualitativen Eigenschaften wie SM-Stahl verkauft werden, keinesfalls darf ein für verbesserten Thomasstahl veröffentlichter Preis berechnet werden; 3) In den Gütegruppen, die zu Thomas-Grundpreis verkauft werden, darf den Kunden kein Erschmelzungsverfahren genannt werden. 61 Trotz dieser Einmütigkeit gelang es den Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie aufgrund des herrschenden Wettbewerbs letztlich nicht, den neuen Markt nach ihren Erlösvorstellungen zu strukturieren: Bereits 1963 wurden in der Bundesrepublik rd. 2,2 Mio. t Stahl anderer Herstellungsverfahren zu den niedrigeren Thomas-Preisen verkauft. 62 Dies bedeutete, der Markt geriet in Bewegung und die ökonomischen Vorteile der Innovation mußten auch an die Abnehmerseite weitergegeben werden. Insgesamt entstammten somit sowohl die Anreize als auch die Probleme der Innovation „LD-Technologie" im Falle der Thyssen AG in erster Linie der Marktsituation, wohingegen die technischen Schwierigkeiten nach einer relativ langen Vorbereitungsphase aufgrund der im Vergleich zur DDR-Metallurgie günstigeren 59 Zentrale Forschung, Entwicklung und Qualitätsüberwachung, Aktennotiz, betr.: Zukünftiger Bedarf an Th-Stahl (VAP-Untersuchung Mai 1965), Besprechungen am 6.7. und 27. 7. 1965 im Thyssenhaus, 30. 7. 1965. Ebd. 60 Walzstahl-Vereinigung, Vergleich der für Th- und SM-Material veröffentlichten Grundpreise im Bundesgebiet, 15. 6. 1961. Ebd., A / 1194. Hiernach betrugen die Preisdifferenzen zwischen Walzstahlprodukten aus Thomas- und aus SM-Stahl zwischen 39,50 und 50 DM je Tonne. Walzstahlvereinigung, Aussprache über die Gütevorschriften für verschiedene Stahlsorten in DIN- und Euronormen am 17. 11. 1961 - 15.30 Uhr, Düsseldorf, 21. 12. 1961. Ebd. 61 Walzstahl-Vereinigung, Auszug aus der Niederschrift über die Beiratssitzung am 13. 3. 1962. Ebd. 62 Zentrale Forschung, Entwicklung und Qualitätsüberwachung: Aktennotiz, betr.: Besprechung über den zukünftigen Bedarf an Th-Stahl (VAP-Untersuchung Mai 1965) am Dienstag, dem 6.7.65, im Thyssenhaus, 8. 7. 1965.[Entwurf]. Ebd., A /1132.

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Bedingungen überwunden werden konnten. Letztere hatte eine regelrechte Problemkumulation aus technischen, ökonomischen und politischen Faktoren zu bewältigen, welche die Innovationsdynamik in allen Phasen verminderten. Am Beispiel der Sauerstofftechnologien zeigen sich so wesentliche, von der theoretischen Diskussion erörterte Einflußgrößen, wobei es jedoch kaum möglich ist, einen singulären, entscheidenden Störfaktor herauszustellen. In diesem Zusammenhang scheint die Innovation des LD-Verfahrens auch durch die Reformpolitik der sechziger Jahre nicht entscheidend forciert worden zu sein; es zeigen sich hier Indizien dafür, daß die Impulse der Wirtschaftsreformen auf der betrieblichen Mikroebene -jedenfalls in der Metallurgie - schwächer ausfielen als häufig angenommen.63

F. Der Innovationserfolg Die Frage, wie erfolgreich die Einführung der LD-, bzw. der bodenblasenden QEK-Technologie in Duisburg und Unterwellenborn rückblickend war, soll abschließend anhand interner Kennziffernberichte der Schwarzmetallurgie bzw. des ΑΤΗ-Vorstands erörtert werden. Dabei zeigt sich, daß die Rekonstruktion des Thomaswerks der Maxhütte auf der Basis des bodenblasenden Sauerstoffverfahrens vor allem eine nicht unbeträchtliche Produktionssteigerung ermöglichte: 1970 wurden im dortigen Stahlwerk 396.000 t Thomas-Rohstahl gefrischt, wobei das Niveau der Erzeugung seit 1960 nur leicht angestiegen war. Nachdem der Umbau auf die bodenblasende Sauerstofftechnologie abgeschlossen worden war, betrug der Ausstoß des Stahlwerks hingegen bereits 570.000 t (1975), wobei nunmehr verbesserte Qualitäten erzeugt werden konnten. Bis 1978 gelang sodann eine abermalige Produktionssteigerung auf 659.000 t. Zwischen 1970 und 1978 konnte durch die Einführung der QEK-Technologie die Erzeugung somit um 66,4 % gesteigert werden 64 ; im Hinblick auf das Motiv „Produktionsausweitung" war die Innovation folglich durchaus erfolgreich, wobei anzumerken ist, daß das absolute Produktionsniveau immer noch sehr gering war. Auch im Hinblick auf detalliertere technische Kennziffern ermöglichte das neue Verfahren spürbare Verbesserungen. So stieg zwischen 1970 und 1978 die Tagesleistung des Stahlwerks (in: t / 24 h) von 1364 auf 2178; hingegen verschlechterten sich einige andere Parameter (Blasdauer, zeitlicher Ausnutzungsgrad) zeitweise.65 Da der hier zitierte Kennziffernbericht schließlich keine Angaben zu den Selbstkosten der Metallurgie enthält, muß zur Beurteilung des wirtschaftlichen Erfolgs der 63

Siehe ζ. B. Maier, Charles S., Vom Plan zur Pleite. Der Verfall des Sozialismus in Deutschland, in: Kocka/ Sabrow (Hg.), S. 113f. 64 Rationalisierungsbetrieb Leipzig im VEB Zentraler Ingenieurbetrieb der Metallurgie Berlin (Hg.), Handbuch der Schwarzmetallurgie. Technisch-wirtschaftliche Kennziffern, Leipzig 1979, Bl. 14. 65 Ebd., Bl. 41.

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neuen Stahlwerks-Technologie die Entwicklung der Arbeitsproduktivität herangezogen werden: Im Jahre 1970 produzierte ein Produktionsarbeiter (ohne Querschnittspersonal) im Unterwellenborner Stahlwerk 1.834 t Thomasstahl. Durch die Einführung der Sauerstofftechnologie erhöhte sich diesen Wert bis 1975 lediglich auf 1.883 t, drei Jahre später war er aber auf 2.496 t angestiegen. Die Einführung des QEK-Verfahrens führte also in diesem Zeitraum zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivität um 36,1 %. Durchschnittlich verbesserte sich die Produktivität um 4,5 % pro Jahr. War die Innovation somit mit einer nicht unbeträchtlichen Produktivitätsverbesserung verbunden, so war diese vornehmlich auf den größeren OutPut zurückzuführen; gleichzeitig erhöhte sich die absolute Zahl der im Stahlwerk beschäftigten Produktionsarbeiter von 216 auf 264. 66 Vor dem Hintergrund der in der DDR herrschenden Arbeitskräfteknappheit war diese durch eine Innovation steigende Nachfrage nach Arbeitskräften sicherlich nicht unbedenklich. Auch das völlig neuerrichtete LD-Stahlwerk der August Thyssen-Hütte ermöglichte die von der Unternehmensleitung gewollten Produktionszuwächse: Wurden hier im Geschäftsjahr 1961 / 6 2 noch bescheidene 84.000 t Oxygenstahl gefrischt, so waren es 1964 / 65 bereits 1,25 Mio. t; 1966 / 67 wurde schließlich im neuen Oxygenstahlwerk eine Produktion von rund 2,23 Mio. t Rohstahl erreicht. 67 Der vollständige Neubau eines Stahlwerks ermöglichte somit immense Zuwachsraten der Rohstahlproduktion, welche die in Unterwellenborn durch den Umbau des bestehenden Werks möglichen Produktionssteigerungen naturgemäß weit übertrafen. Zudem erwiesen sich die in bezug auf die Produktivität an das neue Verfahren gerichteten Erwartungen als gerechtfertigt: Im Geschäftsjahr 1962 / 63 produzierte ein Beschäftigter im neuen LD-Stahlwerk in jedem Monat durchschnittlich 353 t Rohstahl. Mit zunehmender Betriebsdauer gelang es im folgenden, die Arbeitsproduktivität in diesem Werk weiter zu erhöhen: 1963/ 64 erzeugte ein Beschäftigter im LD-Stahlwerk monatsdurchschnittlich bereits 643 t und im Geschäftsjahr 1965 / 66 schließlich 869 t. In diesen Jahren war es somit möglich, die Arbeitsproduktivität im Oxygenstahlwerk der Thyssenhütte um 146,2 % anzuheben, so daß die Produktivitätssteigerungen des QEK-Stahlwerks der Maxhütte weit übertroffen wurden. Zudem wurde auch die Produktivität des bestehenden Thomas- und Siemens-Martin-Stahlwerks der ΑΤΗ weit überboten: 1965 / 66 produzierte ein Beschäftigter des Thomas-Stahlwerks monatsdurchschnittlich 294 t und ein Beschäftigter des Siemens-Martin-Stahlwerks I 329 t Rohstahl; im Vergleich zum LDStahlwerk betrug ihre relative Arbeitsproduktivität in diesem Geschäftsjahr folglich 33,8 resp. 37,9 %. 6 8

66 Ebd., Bl. 20. 67 Eigene Berechnungen, Grundlage: Kennziffernberichte. Archiv der Thyssen AG, A / 4217-4223. 68 Ebd. Der Tendenz, wenn auch nicht der Größenordnung nach, wird diese Berechnung durch folgende Studie bestätigt: Forschungsprojekt des Rationalisierungskuratoriums der

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Ausschlaggebend für die Entscheidung der Unternehmensleitung über den Einsatz der modernen LD-Technologie war die Erwartung, hierdurch im Vergleich zu den bisherigen Verfahren eine deutliche Verbesserung der Gestehungskosten erzielen zu können (s.o.), so daß über den Erfolg der Innovation letztlich die Kostenentwicklung entscheiden mußte: Im Geschäftsjahr 1962 / 3 wurde im LD-Stahlwerk Beeckerwerth eine Tonne Rohstahl durchschnittlich zu Werksselbstkosten von 270 DM hergestellt. Ähnlich wie bei der Arbeitsproduktivität konnten auch die Produktionskosten in den Jahren nach der Inbetriebnahme der Anlage optimiert werden, so daß die Werksselbstkosten für eine Tonne LD-Stahl 1965 / 6 nurmehr 233 DM / t betrugen. Damit konnten sowohl die Produktionskosten des Thomas-Stahlwerks als auch des Siemens-Martin-Werks (jeweils 241 DM /1) unterboten werden, wobei daran zu erinnern ist, daß der Oxygenstahl qualitativ in erster Linie mit dem Siemens-Martin-Stahl konkurrierte. Ausschlaggebend für diese kostenmäßige Überlegenheit waren schließlich die sehr günstigen Verarbeitungskosten, die noch unter jenen im Thomas-Werk lagen.69 Insgesamt war die Errichtung des neuen LD-Werks somit auch im Hinblick auf die angestrebte Selbstkostenentwicklung erfolgreich; damit ist freilich nichts über die Erlössituation auf den Märkten aussagt, die sich durchaus als problematisch erwies (s.o.). Der Versuch, die bei der Einführung des QEK-, bzw. LD-Verfahrens in der DDR und bei der August Thyssen-Hütte AG erzielten Erfolge in Relation zueinander zu setzen, zeigt sodann, daß die DDR im Hinblick auf die Arbeitsproduktivität trotz realisierter Innovation einen immer größeren Rückstand zu verzeichnen hatte: Umgerechnet auf das gesamte Geschäftsjahr erzeugte ein Beschäftigter des ThomasStahlwerks der ΑΤΗ 1964 / 65 3.9121 Rohstahl, ein Beschäftigter im Unterwellenborner Werk 1965 hingegen lediglich 1.650 t, d. h. die Arbeitsproduktivität im Thomaswerk der Maxhütte betrug lediglich 42,2 % derjenigen in Duisburg. Zehn Jahre später produzierte ein Produktionsarbeiter im rekonstruierten QEK-Stahlwerk in Unterwellenborn 1.883 t Rohstahl im Jahr; sein Kollege im Duisburger LD-Stahlwerk hatte aber bereits 1965 8.472 t pro Jahr erzeugt. Vergleicht man also die Arbeitsproduktivität im umgebauten Stahlwerk der Maxhütte mit jener, welche das neuerrichtete Stahlwerk der ΑΤΗ bereits zehn Jahre zuvor erreicht hatte, betrug erstere lediglich 22,2 %. 7 0 Im Ergebnis führte der hier diskutierte Innovationsverdeutschen Wirtschaft (RKW) e.V., „Rationeller Einsatz der menschlichen Arbeitskraft durch soziale und technische Anpassung der Arbeit an den Menschen bei technischer Umstellung" - Materialberichte: 1. Eisen- und Stahlindustrie, Teil B: Technische Veränderungen und ihre Auswirkungen in untersuchten Betriebsteilen (Fallstudien), Januar 1968, S. 53. 69 Eigene Berechnungen, Grundlage: Kennziffernberichte, Archiv der Thyssen AG, A / 4217-4223; Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft, Rationeller Einsatz, S. 5760. 70 Eigene Berechnungen, Grundlage: Kennziffernberichte, Archiv der Thyssen AG, A / 4217-4223; Rationalisierungsbetrieb Leipzig im VEB Zentraler Ingenieurbetrieb der Metallurgie Berlin (Hg.), Handbuch, B1.20. Dieser Produktivitätsvergleich weist einige statistische Ungenauigkeiten v.a. hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitszeiten sowie der abweichenden Erfassungskreise der Beschäftigten auf. Die Abweichungen dürften allerdings die Ar-

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lauf in bezug auf die Arbeitsproduktivität zu einem drastisch vergrößerten Rückstand der DDR-Metallurgie, die trotz technischer Erneuerung offensichtlich immer weniger Schritt halten konnte. Die an diesem Fallbeispiel zutage tretende Produktivitätslücke übertrifft schließlich die volkswirtschaftlichen Berechnungen bei weitem (siehe Beitrag Wagener) und ist anhand weiterer exemplarischer Vergleiche auch aus anderen Branchen zu überprüfen. Gemessen an den immanent zugrundegelegten Innovationszielen war die Implementation des Sauerstoffblasverfahrens insgesamt sowohl in Duisburg als auch in Unterwellenborn durchaus erfolgreich; Out-Put und Arbeitsproduktivität stiegen dabei auf beiden Seiten merklich an. Auch die Größen anhand derer der Erfolg der Implementation bewertet wurde, wichen offenbar auf beiden Seiten nicht allzu weit voneinander ab, wobei allerdings erneut eine divergierende Akzentuierung feststellbar ist (Selbstkosten - DDR). Brachte also die Rekonstruktion des Stahlwerks der Maxhütte im Vergleich zum Status quo ante deutliche Fortschritte, reichte sie andererseits in keinster Weise aus, um zu verhindern, daß der Produktivitätsrückstand zur Duisburger Thyssenhütte sich weiter vergrößerte und im Ergebnis dramatische Formen annahm.

G. Zusammenfassung Diskutiert wird die Innovation der Sauerstofftechnologie in der Stahlindustrie der Bundesrepublik und der DDR, die schließlich zur Implementation des sogenannten LD-, bzw. QEK-Verfahrens führte. Gefragt wird dabei insbesondere nach den Motiven, den retardierenden und beschleunigenden Faktoren sowie nach dem Erfolg dieses Innovationsprozesses. Dabei erfolgte die eigentliche Innovation, also der weltweit erste industrielle Einsatz der LD-Technologie, bei der Roheisen durch das Aufblasen von reinem Sauerstoff zu Stahl gefrischt wird, im November 1952 durch die Vereinigten Österreichischen Eisen- und Stahlwerke (VÖEST). Der initiierende Anstoß zur Entwicklung dieses Verfahrens ging von den abnehmenden Industriebranchen aus, die bereits seit den zwanziger Jahren auf eine Qualitätsverbesserung des kostengünstigen Thomasstahls drängten; verstärkt wurde dies in Deutschland durch die Implikationen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik. Als Konsequenz dieser Entwicklung wurden seit den dreißiger Jahren Versuche zum Frischen von Stahl mit Sauerstoff durchgeführt, auf welche die VÖEST bei der Entwicklung des Verfahrens zur Betriebsreife zurückgreifen konnte. Erfolgte die eigentliche Innovation der LD-Technologie bereits zu Beginn der fünfziger Jahre, begann ihre weltweite Diffusion erst ungefähr zehn Jahre später. beitsproduktivität der DDR-Metallurgie eher noch überzeichnen, so daß der wirkliche Abstand sogar noch größer gewesen sein dürfte.

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Während der sechziger Jahre beschleunigte sich dieser Prozeß jedoch sukzessive, so daß ein grundlegender technologischer Strukturwandel einsetzte und das Sauerstoffaufblasverfahren am Ende des Jahrzehnts einen beträchtlichen Anteil der weltweiten Rohstahlerzeugung auf sich vereinigte. Dabei partizipierten die beiden deutschen Stahlindustrien in sehr unterschiedlichem Ausmaß an diesem Prozeß: Wurde die bundesdeutsche Branche zu einem der weltweit führenden Schrittmacher der Diffusion, so Schloß sich die DDR-Metallurgie dem Trend in der entscheidenden „Take-off-Phase" nicht an und verzichtete zunächst auf den Einsatz des LD-Verfahrens; die technologischen Strukturen ihrer Stahlproduktion unterschieden sich schließlich 1970 kaum von jenen der fünfziger Jahre. Die Gründe für diese zunehmend divergente Entwicklung werden am Beispiel der Planungen zur Einführung der LD-Technologie bzw. zur Verbesserung des Thomas-Verfahrens auf der August Thyssen-Hütte (Duisburg) sowie im Eisenhüttenkombinat Ost (Eisenhüttenstadt) und auf der Maxhütte (Unterwellenborn) erörtert. Festzustellen ist, daß die Überlegungen zur Einführung dieser Technik in den ausgewählten Unternehmen ungefähr zeitgleich am Anfang der fünfziger Jahre einsetzten. In der DDR gelang es zunächst jedoch nur, den auf der Maxhütte erblasenen Thomas-Stahl durch die Anreicherung des Gebläsewindes zu verbessern, während dann spätestens der Siebenjahrplan die Errichtung eines modernen LDStahlwerks im Eisenhüttenkombinat vorsah. Da diese Planung im Verlaufe der sechziger Jahre jedoch aufgrund einer geänderten wirtschaftspolitischen Strategie verworfen wurde, wurde die Übernahme der Technologie zunächst gestoppt. Hingegen erfolgte bis 1974 die Rekonstruktion des veralteten Thomas-Stahlwerks der Maxhütte, wozu das sogenannte QEK-Verfahren, das ebenfalls reinen Sauerstoff verwandte, entwickelt wurde. Das erste und einzige LD-Stahlwerk der DDR wurde sodann 1984 - 32 Jahre nach der eigentlichen Innovation - in Eisenhüttenstadt errichtet. Im Gegensatz dazu implementierte die August Thyssen-Hütte das LD-Verfahren nach einer relativ langen Vorbereitungsphase durch die Errichtung eines vollständig neuen Werkes (1960-1962). Während der sechziger Jahre kam es hier zudem zur schrittweisen Stillegung der vorhandenen Siemens-Martin- und Thomas-Stahlwerke sowie zur Errichtung eines weiteren modernen Sauerstoffaufblasstahlwerks, so daß die technologische Struktur des Unternehmens bis zum Beginn der siebziger Jahre einem dynamischen Strukturwandel mit gravierenden Konsequenz unterzogen wurde. Die Motive, welche der Einführung der Sauerstoffblastechnik im Falle der betrachteten Unternehmen zugrunde lagen, unterschieden sich demgegenüber in der DDR und der Bundesrepublik kaum: Bildeten auf beiden Seiten Qualitätsüberlegungen den ursprünglichen Anlaß der diesbezüglichen Entwicklungsbemühungen, so traten im weiteren vor allem die Motive „Produktionssteigerung", „Kostensenkung", „Produktivität" und „Anpassung an die internationale Entwicklung" hinzu. Allerdings waren diese in den beiden eisenschaffenden Industrien anders gewichtet: Dominierte in der ostdeutschen Schwarzmetallurgie immer wieder die Absicht,

Technische Innovationen einer „alten Branche"

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den quantitativen Out-Put zu steigern, so gab im Falle der Thyssenhütte letztlich die prognostizierte Kostensituation den Ausschlag für die neue Technik. Die Implementation der LD-Technik in den Stahlwerken der DDR traf dabei auf eine vielschichtige Problemkumulation, welche die Innovationsdynamik letztlich in allen Phasen des Prozesses verminderte (Mangel an technischen Aggregaten und Arbeitskräften, verzerrte Preisstruktur, unklare wirtschaftspolitische Perspektive). Andererseits existierte vor allem zu Beginn der sechziger Jahre ein nicht zu unterschätzender Druck der politischen Führung, welche durch die Einführung der LD-Technologie den Anschluß an die internationale Entwicklung herbeiführen wollte. Hingegen entstammten im Falle der August Thyssen-Hütte sowohl die Innovationsanreize als auch die Problemlagen in erster Linie der Marktsituation: Als entscheidend erwies sich letztlich der negative Anreizmechanismus des Wettbewerbs, da man befürchtete, ohne technische Erneuerung bereits mittelfristig nicht mehr konkurrenzfähig sein zu können. Andererseits bereitete es der Unternehmensleitung deutliche Probleme, den Markt für das neue Produkt „Oxygenstahl" nach ihren Vorstellungen, also erlösgünstig, zu strukturieren, um die Rentabilität der umfangreichen Investitionen abzusichern. Dagegen erwiesen sich die technischen Probleme, v.a. aufgrund der gegenüber der DDR wesentlich günstigeren Rahmenbedingungen, als lösbar. Gemessen an den Erwartungen der Akteure kann sowohl die Rekonstruktion des Thomas-Stahlwerks der Maxhütte als auch der Bau eines kompletten LD-Stahlwerks in Duisburg als erfolgreich bezeichnet werden. Beide Maßnahmen schufen die Grundlage für eine Vergrößerung des Out-Puts sowie eine verbesserte Produktivitätssituation. Der August Thyssen-Hütte gelang darüber hinaus schließlich auch die beabsichtigte Senkung der Selbstkosten. Allerdings war die Rekonstruktion des Unterwellenborner Stahlwerks nicht in der Lage, die Produktivitätslücke zur westdeutschen Stahlindustrie zu schließen oder auch nur zu verringern. Im Ergebnis wuchs der Rückstand immer weiter an und war nach dem Abschluß der Modernisierungsmaßnahme noch wesentlich eklatanter, als er es bereits zur Mitte der sechziger Jahre gewesen war.

Literatur Bauerkämper, Arnd / Ciesla, Burghard / Roesler, Jörg, Wirklich wollen und nicht richtig können. Das Verhältnis von Innovation und Beharrung in der DDR-Wirtschaft, in: Jürgen Kokka / Martin Sabrow (Hg.), Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994. Jürgenhake, Uwe / Heine, Petra / Schnittfeld, Peter, „ . . . und der Zukunft zugewandt". Vom DDR-Stahl zum Ost-Stahl, Ms., Dortmund 1993. Maier, Charles S., Vom Plan zur Pleite. Der Verfall des Sozialismus in Deutschland, in: Jürgen Kocka / Martin Sabrow (Hg.), Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994.

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Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung Essen (Hg.), Die Stahlindustrie in der DDR. Gutachten im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft, Ms., Essen 1990. Slàma, Jiri, Verbreitung von Innovationen im internationalen Vergleich. Dargestellt am Beispiel der Oxygenstahlerzeugung, in: Jahrbuch der Wirtschaft Osteuropas, Bd. 11, 2. Halbbd. 1986, München / Wien, S. 101-129. Zilt, Andreas, Industrieforschung bei der August Thyssen-Hütte in den Jahren 1936 bis 1960, in: Technikgeschichte Bd. 60 (1993), Nr. 2, S. 130-132. - Die Entwicklung des Oxygenstahlverfahrens der August Thyssen-Hütte 1936-1960, Ms., Bochum 1990.

Entscheidungsspielräume und Innovationsverhalten in der Synthesekautschukindustrie - Die Einführung des Kaltkautschukverfahrens in den Chemischen Werken Hüls und im Buna-Werk Schkopau Von Rainer Karisch

A. Einleitung I. Stand der Forschung Die Geschichte der Synthesekautschukherstellung fasziniert seit vielen Jahren nicht nur die Technikhistoriker. 1 Der synthetische Kautschuk, oft auch einfach Buna genannt, war ein strategisches Produkt, bei dem es engste Berührungspunkte zwischen Unternehmensinteressen und staatlichen Interessen gab. Für Zeitzeugen und Historiker stand die Buna-Produktion neben der Produktion von synthetischem Treibstoff stellvertretend für die Autarkiepolitik des Dritten Reiches schlechthin. Zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft, insbesondere zur Geschichte der I.G. Farbenindustrie AG sind in den letzten Jahren mehrere wichtige Arbeiten erschienen.2 Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang auch darauf, daß während des Zweiten Weltkrieges nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, Kanada und in der UdSSR große staatliche Programme zur Synthesekautschukproduktion realisiert wurden. Im Zuge des großen amerikanischen Programms verschob sich das Innovationszentrum in der Kautschukbranche 1942/43 eindeutig von Deutschland nach den USA. 3 1 Zur Technikgeschichte vgl. insbesondere: Morris, Peter, The Development of Acetylene Chemistry and Synthetic Rubber by I.G. Farbenindustrie AG 1926-1945, Diss. Oxford 1982; Morris, Peter, Transatlantic Transfer of Buna S Synthetic Rubber Technology 1932-45, in: Jeremy, David, The Transfer of International Technology. Europe, Japan and the USA in the Twentieth Century, Manchester 1994, S. 57-89. 2

Vgl. Hayes, Peter, Industry and Ideology. I.G. Farben in the Nazi Era, Cambridge 1988; Plumpe, Gottfried, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik, Politik 1904-1945, Berlin 1990; Morris, Development. 3 Vgl. Treue, Wilhelm, Gummi in Deutschland. Die deutsche Kautschukversorgung und die Gummi-Industrie im Rahmen weltwirtschaftlicher Entwicklungen, Hannover 1955, S. 303 ff.; Vernon, Herbert/Attillio, Bisco, Synthetic Rubber. A Project that had succeed, Westport 1985; Grone, Heinz, Der Weg nach Hüls. Es begann mit Buna, Hüls 1988, S. 38.

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Die Innovation „Warmkautschuk" ist von ihren Anfängen vor dem Ersten Weltkrieg - Entwicklung des Methylkautschuks durch eine Forschergruppe unter Leitung von Hoffmann - bis zur Entwicklung und massenhaften Einführung des Butadien-Kautschuks Mitte der dreißiger Jahre nahezu erschöpfend behandelt worden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg folgenden Innovationen „Kaltkautschuk" und „Isoprenkautschuk", die die zweite bzw. dritte Synthesekautschukgeneration darstellten, sind hingegen mit Ausnahme der Arbeiten von Peter Morris weniger beachtet worden. Dabei stellte die weitgehende Ablösung des Warmkautschuks durch den „cold rubber" eine der wichtigsten Prozeßinnovationen4 in der chemischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Der Übergang zum Kaltkautschuk fand seit Ende der vierziger Jahre weltweit statt. In der Bundesrepublik begann die Massenproduktion von „cold rubber" 1958 und in der DDR 1966. Im Folgenden wird die Innovation „Kaltkautschuk" am Beispiel der beiden wichtigsten deutschen Buna-Werke in Marl und Schkopau untersucht. Eine vergleichende Darstellung bietet sich an, da in beiden Teilen Deutschlands nach Kriegsende jeweils nur ein großer Buna-Produzent mit ähnlichen technischen Voraussetzungen existierte. Gefragt wird nach den Anstößen zur Innovation, dem Einfluß wirtschaftspolitischer Konzepte und technologiepolitischer Strategien auf das Innovationsverhalten, den Innovationsbarrieren und dem Verlauf der Innovation.5 Dabei werden die ebenfalls zur Diskussion stehenden Hierachien in den Entscheidungs- und Informationsstrukturen nicht gesondert thematisiert, sondern fließen in die jeweiligen Abschnitte mit ein. Während die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 6 als gut erforscht gelten kann, liegen für das erste deutsche Buna-Werk in Schkopau noch keine vergleichbaren Studien vor. 7 Insofern wird in diesem Artikel die Entwicklung in Schkopau 4 Zur Definition von „Innovationen" vgl. Hauschildt, Jürgen, Innovationsmanagement, München 1993, S. 7 ff. 5 Inzwischen liegen aus anderen Branchen der DDR-Wirtschaft Fallstudien zur Innovationsgeschichte vor, so daß auch branchenübergreifende Vergleiche möglich sind. Vgl. insbesondere: Judt, Matthias, Zur Geschichte des Büro- und Datenverarbeitungsmaschinenbaus in der SBZ/DDR, in: Plumpe, Werner/Kleinschmidt, Christian (Hg.), Unternehmen zwischen Markt und Macht, Essen 1992, S. 137-153; Steiner, André, Technikgenese in der DDR am Beispiel der Entwicklung der numerischen Steuerung von Werkzeugmaschinen, in: Technikgeschichte 60(1993), S. 307-319; Roesler, Jörg, Einholen wollen und Aufholen müssen. Zum Innovationsverlauf bei numerischen Steuerungen im Werkzeugmaschinenbau der DDR vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Entwicklung, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 263-285. 6 Als Standardwerk zur Geschichte der Chemischen Werke Hüls gilt: Kränzlein, Paul, Chemie im Revier. Hüls, Düsseldorf 1980. Weitere wichtige Arbeiten sind: Grone; Esser, Raimund, Diversifikation der Hüls AG im Spiegelbild wirtschaftlicher, politischer und unternehmensstrategischer Interessen von der Gründung im Jahre 1938 bis 1960, Magisterarbeit, Ms. Bochum 1991. 7 Die Geschichte des Buna Werkes in Schkopau ist bisher nur in unternehmensinternen Schriften dargestellt worden. Vgl. Dunkel, Jürgen, 50 Jahre Synthesekautschukproduktion in Schkopau. Von den Anfängen zur modernen Großproduktion, o.O.u.J.

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ausführlicher behandelt. Im Mittelpunkt des Interesses der Forschung an der Geschichte der chemischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg standen bisher Fragen der Entflechtung der I.G. Farbenindustrie AG in den Westzonen8, der Rekonstruktion der chemischen Industrie in den vierziger/fünfziger Jahren9, der Übergang zur Petrochemie 10 und der internationale Technologietransfer. 11 Studien zur vergleichenden Unternehmensgeschichte liegen bisher hingegen kaum vor.

II. Vom Warm- zum Kaltkautschuk Seit 1908 arbeiteten Chemiker des Leverkusener Bay er-Werkes unter Leitung von Dr. Fritz Hoffmann an der Entwicklung eines synthetischen Kautschuks. Der von ihnen entwickelte Methylkautschuk reichte jedoch nicht an die Eigenschaften des Naturkautschuks heran. 12 Er war zudem wesentlich teurer als Naturkautschuk, und kam daher nur während des Ersten Weltkrieges aus Gründen der Rohstoffautarkie zum Einsatz. Erst nach Bildung der I.G. Farbenindustrie 1925 wurde die Synthesekautschukforschung wieder aufgenommen. Schließlich schien mit der Entwicklung des Butadienkautschuks Ende der zwanziger Jahre ein brauchbarer, wenn auch teurer Synthesekautschuk in Aussicht zu stehen. Das Qualitätsniveau des Synthesekautschuks, gewonnen durch die Polymerisation von Butadien mit metallischem Natrium, blieb allerdings für die Reifenhersteller vollkommen unbefriedigend. Die hohen Gestehungskosten für „Buna", aus 2?Mtadien-Afotrium hergeleitet, ließen eine freie Konkurrenz zum Naturkautschuk noch immer illusorisch erscheinen. Einen großen Fortschritt stellte die Entdeckung der Mischpolymerisation (Butadien und Styrol im Verhältnis 2:1) durch den Leverkusener Chemiker Walter Bock im Jahr 1929 dar. 13 Buna S, S für Styrol, sollte sich in den folgenden Jahren zum wichtigsten deutschen Massenkautschuk entwickeln. Im Jahr 1930 ließ sich der Leverkusener Chemiker Erich Konrad den Butadien-Acrylnitril-Kautschuk (Buna 8 Vgl. insbesondere: Stokes, Raymond G., Divide and Prosper. The Heirs of I.G. Farben under Allied Authority 1945-1951, Berkeley/Los Angeles/London 1988. 9 Vgl. ζ. Β.: Rasch, Manfred, Ruhrchemie AG 1945-1951: Wiederaufbau, Entnazifizierung und Demontage, in: Technikgeschichte 54 (1987), S. 110 ff. 10 Vgl. Stokes, Raymond G., Opting for Oil. The Political Economy of Technological Change in the West German Chemical Industry, 1945-1961, Cambridge 1994. u Vgl. Morris, Peter, Transatlantic Transfer in Synthetic Rubber Technology 1930-1960, (unveröff. Manuskript). 12 Vgl. Erker, Paul, Industrieforschung und Innovationsstrategie in der Kautschuk-Industrie: Die Continental AG im internationalen Vergleich, (unveröff. Manuskript, Berlin 1995). 13 Vgl. Dunkel, S. 53.

6 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Ν) patentieren. 14 Dieser Kautschuk war im Unterschied zu Buna S öl- und lösungsfest und bot als Konstruktionsmaterial interessante Anwendungsmöglichkeiten.15 Als Reifenkautschuk eignete sich Buna Ν allerdings ebensowenig, da sich diese Type nicht mit Naturkautschuk mischen ließ. Anfang der dreißiger Jahre wurden daher weder Buna S noch Buna Ν von den deutschen Reifenherstellern akzeptiert. Zur gleichen Zeit beschäftigten sich Chemieunternehmen anderer Länder, insbesondere in den USA und in der UdSSR, mit der Kautschuksynthese. Du Pont gelang im Jahr 1931 die Entwicklung eines neuen Synthesekautschuks unter dem Markennamen „Duprene", später „Neopren" (Chlorkautschuk). Trotz seines hohen Preises wurde dieser Kautschuk vom Markt angenommen, da er sich gegenüber Öl- und Lichteinwirkung als resistent erwies. Als Reifenwerkstoff besaß Neopren jedoch nur geringen Wert. Nach der Machtübernahme Hitlers forcierte die I.G. ihre FuE-Arbeiten zur Kautschuksynthese.16 Die Reichswehr erwartete in kurzer Zeit die Entwicklung eines geeigneten Reifenkautschuks. Unter dem wachsenden Druck staatlicher Stellen entwickelte die I.G. bis Mitte der dreißiger Jahre das Herstellungsverfahren für synthetischen Kautschuk zur technischen Reife. Der von den Autarkiebestrebungen des Wirtschaftsministeriums ausgehende Zeitdruck führte dazu, daß sich die I.G. Ende 1935 auf Buna S als wichtigste Sorte festlegte. Die im Prinzip mögliche Entwicklung eines besseren Reifenkautschuks wurde hinausgeschoben.17 Produziert wurde in allen deutschen Buna-Werken bis Anfang der vierziger Jahre im wesentlichen der ungeregelte Synthesekautschuk, Buna S l . 1 8 Buna S ließ sich anfangs nur unter Zusatz giftiger Substanzen zu Reifenmaterial verarbeiten. Eher zufällig wurde 1936 entdeckt, daß Buna S unter Wärme- und Sauerstoffeinwirkung geringfügig abbaute und danach wesentlich leichter vulkanisiert werden konnte. Auf Grund dieser Erkenntnis konnte die I.G. in Zusammenarbeit mit dem Reifenhersteller Continental AG bis 1938 ein Verfahren zur thermischen Plastizierung ausarbeiten.19 Die Plastizierung war ein aufwendiger Verfahrensschritt, bei dem der in kleine Teile zerschnittene Synthesekautschuk in sogenannten Abbauschränken mit 130° C warmer Luft vorbehandelt wurde. Nach der Plastizierung mußte der Kautschuk innerhalb von 24 Stunden verarbeitet werden. Die Thermoplastikation war einer der bedeutendsten Unterschiede beim Einsatz von Naturkautschuk und den älteren Buna-Typen.20 Letztere besaßen im Gegensatz zum Naturkautschuk nicht die Eigenschaft, allein durch mechanische Behand14 Vgl. Morris, Transatlantic Transfer, S. 62. 15 Vgl. Plumpe, S. 354. 16 Vgl. ebd., S. 356 ff. 17 Vgl. Morris, Transatlantic Transfer, S. 65. 18

Vgl. Gärtner, Peter, Betriebskundliches Lehrbuch, Schkopau o.J., S. 14. 19 Vgl. Plumpe, S. 374. 20 Vgl. Nelles, Johannes, Aspekte und Probleme der Elaste und Plaste, unveröff. Manuskript, in: Buna GmbH, Werksarchiv (BunaWA), Rep. VI/44.

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lung (Walzen, Kneten) in einen plastischen Zustand, der überhaupt erst eine Verarbeitung ermöglichte, überzugehen. Ab 1943 wurde Buna S3, ein erstmals schwach geregelter Synthesekautschuk, hergestellt. Auch Buna S3 mußte von der Reifenindustrie noch plastiziert werden. Die stark geregelte Type Buna S4, mit einem Verhältnis von 70 % Butadien zu 30 % Styrol, wurde noch während des Krieges entwickelt und ging in Schkopau 1949 in Produktion. Buna S4 konnte von den Gummiherstellern direkt verarbeitet werden, war jedoch als Reifenkautschuk nicht geeignet. Die Synthesekautschukherstellung gehörte zu den größten Autarkieprojekten des NS-Staates. Drei große Buna-Werke gingen zwischen 1937 und 1943 in Betrieb: Buna I in Schkopau, Buna II in Hüls und Buna III bei der BASF in Ludwigshafen. 21 Kleinere Mengen Synthesekautschuk wurden im Bayer-Werk Leverkusen produziert. Buna I (Schkopau) und Buna II (Hüls) waren von den I.G.-Planern als reine Produktionswerke ausgelegt worden. Sie verfügten weder über einen eigenen Verkaufsapparat noch über eine eigene Forschungsabteilung. Das Zentrallabor für die Kautschukforschung der I.G. befand sich im Leverkusener Bayer-Werk. Die aufwendigste Investition der I.G., Buna IV bei Auschwitz, ging nicht mehr in Produktion. Die Buna-Werke sicherten während des Krieges im wesentlichen die deutsche Kautschukversorgung. 22 Nach Kriegsende wurde die Synthesekautschukanlagen in Hüls, Ludwigshafen und Schkopau von amerikanischen Spezialeinheiten intensiv untersucht. Überrascht waren die amerikanischen Experten von den geringen qualitativen Fortschritten der Buna-Produktion. Dies wird von einem der besten Kenner der Kautschukindustrie, Peter Morris, sowohl auf die kriegswirtschaftlich bedingte einseitige Entwicklung von Buna S als auch auf die Firmenphilosophie der I.G. zurückgeführt. 23 Die I.G. pflegte, im Gegensatz zur amerikanischen Kautschukindustrie, keine intensiven Beziehungen zur Gummiindustrie. Morris spricht daher von einem „teilweisen Einfrieren" der I.G. Kautschuktechnologie auf dem Stand von 1936.24 Gleichwohl konnte die amerikanische Kautschukindustrie von den Missionen der sogenannten T-Forces profitieren. Im Ergebnis der Entnahme von „intellektuellen Reparationen" 25 gelangte auch das vom Leverkusener Chemiker Heino Logemann während des Krieges entwickelte Redox-Verfahren in die USA. Die RedoxPolymerisation stellte die Grundlage für die Herstellung von Kaltkautschuk dar. Der Ausdruck „Tieftemperaturkautschuk" wurde dabei für Mischpolymerisate von Butadien und Styrol gebraucht, deren Erzeugung mit Hilfe der Redox-Aktivierung 21 Vgl. Plumpe, S. 339 ff.; Hayes, S. 220. 22 Vgl. Plumpe, S. 386. 23 Vgl. Morris, Transatlantic Transfer, S. 66. 24 Vgl. ebd., S. 75 25 Vgl. Gimbel, John, Science, Technology and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990. 6*

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bei wesentlich tieferen Temperaturen (5° C und niedriger) als bei der Standardtemperatur von 45-50° C durchgeführt wurde. Nach der Weiterentwicklung der Redox-Polymerisation begann Phillips Petroleum bereits 1948 mit der großtechnischen Herstellung von Kaltkautschuk. An der Entwicklung dieses Synthesekautschuktyps wurde vor und während des Krieges hauptsächlich in den USA, England, der Sowjetunion und Deutschland gearbeitet. Mit dem enormen Potential der amerikanischen Industrie, von Kriegseinwirkungen unbehindert, gelang es in kurzer Zeit, 15 Synthesekautschukanlagen aufzubauen. Deren Produktion stieg ab 1942 steil an. Anders als in Deutschland wurden Unternehmen aus der Mineralöl- und Gummiindustrie am staatlichen amerikanischen Kautschukprogramm beteiligt. 26 Die Leitung des Gesamtprojektes lag bei der Rubber Reserve Company, einer Regierungsstelle. Der weitaus engere Verbund zwischen Herstellern und Anwendern von Synthesekautschuk wirkte sich positiv auf das Innovations verhalten der Kautschukindustrie aus. Die amerikanische Kautschukindustrie lernte von den Fehlern der I.G., sie nutzte den Vorteil, nicht völliges Neuland zu beschreiten, und sie wurde nicht von einem Einzelkonzern dominiert, was ihrer Innovationsfähigkeit insgesamt zugute kam. 27 Bereits während des Krieges verlor Deutschland seine technologische Spitzenstellung auf dem Gebiet der Synthesekautschukherstellung an die USA. Diese Wende wurde mit dem von amerikanischen Firmen eingeleiteten Übergang zur Massenproduktion von Kaltkautschuk offensichtlich. Mitte der fünfziger Jahre war in den USA der Übergang zur zweiten Kautschukgeneration weitgehend abgeschlossen. In Westeuropa dauerte der Ablösungsprozeß bis Anfang der sechziger Jahre. In dieser Zeit überstieg der Verbrauch von Synthesekautschuk im Weltmaßstab erstmals den Verbrauch von Naturkautschuk. 28 Die deutsche Kautschukindustrie wurde nach dem Krieg der alliierten Kontrolle unterstellt. Zudem schufen die Zonengrenzen und die Auflösung der I.G. Farbenindustrie AG auch für die Buna-Werke in Schkopau und Hüls eine neue Situation. Obwohl die Eigentumsfragen längere Zeit unklar blieben, zeichnete sich eine künftige separate Entwicklung frühzeitig ab. Sowohl in Schkopau als auch in Hüls setzten die von der jeweiligen Besatzungsmacht neu eingesetzten Direktionen alsbald auf einen eigenständigen Weg. Hüls sah in der Zonenteilung eine Chance zur Profilierung als wichtigster Buna-Hersteller in den Westzonen.29 Der Schkopauer Werkleiter, Dr. Nelles, drängte im Herbst 1945 auf die rasche Herauslösung des Werkes aus dem I.G.-Verbund und plädierte für eine separate Entwicklung.

26 Vgl. Grone, S. 38. 27

Vgl. Morris, Transatlantic transfer, S. 15 ff. » Vgl. Grone, S. 10 f. 29 Siehe dazu das Schreiben von Dr. Otto Ambros an Dr. Baumann 15. 6. 1945: „Die neue Grenzregelung gibt unserem Hüls große Chancen,"... in: Wiederaufnahme der Produktion nach dem Kriege, Hüls AG, Unternehmensarchiv (HüArch), 1-4-1/1. 2

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In der SBZ wurde ein größerer, in den Westzonen ein kleinerer Teil der Synthesekautschukkapazitäten demontiert. Nachhaltiger als die Demontagen fielen jedoch für Hüls die alliierten Forschungs- und Produktionsverbote ins Gewicht. Während das einzige in der SBZ gelegene Buna-Werk in Schkopau per 1. 8. 1946 „a Konto Reparationen" in sowjetisches Eigentum überführt und bis Ende 1953 zur sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) „Synthesekautschuk" gehörte, wobei die verbliebenen Kapazitäten rasch ausgebaut wurden, galt in den Westzonen von 1949 bis 1951 ein generelles Herstellungsverbot für Synthesekautschuk und Butadien. Aus diesem Grund wurde in der DDR noch bis Mitte der fünfziger Jahre wesentlich mehr Synthesekautschuk hergestellt als in der Bundesrepublik (DDR 1955 = ca. 75 000 t Buna; Bundesrepublik 1955 = 11 000 t). 3 0 Der Kautschukverbrauch Pro-Kopf der Bevölkerung lag jedoch 1957 in der Bundesrepublik mit 3,2 kg über dem der DDR mit 2,6 kg, was auf die hohe Importquote der Bundesrepublik zurückzuführen war. Abgesehen von kleinen Probechargen des Schkopauer Werkes wurde bis Mitte der fünfziger Jahre weder in der DDR noch in der Bundesrepublik Kaltkautschuk hergestellt. Die deutsche Synthesekautschukindustrie hatte ihre einst führende Position verloren. Mit dem Übergang zur zweiten Synthesekautschukgeneration sollte der Anschluß wiederhergestellt werden. Dieser Prozeß verlief, trotz der in manchen Punkten ähnlichen Ausgangslage, in West- und Ostdeutschland mit unterschiedlichem Tempo und Erfolg.

B. Die Einführung des Kaltkautschverfahrens in Schkopau Eine verzögerte Innovation Das Schkopauer Werk war 1936 von der I.G. als erstes deutsches Synthesekautschukwerk erbaut worden. Als Rohstoffgrundlage dienten Steinkohle aus Schlesien, Anthrazit sowie Benzol aus dem Ruhrgebiet und Kalk aus dem Harz. Ausgangspunkt für die Haupterzeugnisse des Werkes war die Karbidproduktion, die wiederum die Grundlage für die Acetylenherstellung bildete. Der größte Teil des Acetylens wurde in einem Vierstufenverfahren zur Herstellung von synthetischem Kautschuk eingesetzt. Vierstufenverfahren Ausgangsstoffe Karbidöfen Trockenvergasung Anlagerung von Wasser Destillation

Koks, Kalk, Strom Karbid Acetylen Acetaldehyd 1. Stufe Aldol 2. Stufe

30 Vgl. Nelles, Johannes, Aspekte und Probleme der Elaste und Plaste, unveröff. Manuskript, in: BunaWA, Rep. VI/44.

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86 Hochdruckhydrierung Dehydrierung

Butol 3. Stufe Butadien 4. Stufe + Styrol, Emulgatoren BunaS

Der Anteil des Synthesekautschuks am Umsatz lag bis 1947 deutlich über 60 %. 3 1 Neben dem Hauptprodukt Buna wurden in Schkopau Kunststoffe und verschiedene Produkte der Grundchemie erzeugt. Der Höchststand der Bunaproduktion wurde 1943 mit 71 100 t erreicht. 32 Im Jahr 1944 verfügte das Werk über mehr als 11 000 Beschäftigte. Den Krieg überstand Buna I ohne größere Zerstörungen. Die größten Probleme verursachte zunächst die Rohstoffversorgung. Infolge der Zonenteilung und des Verlustes der Ostgebiete an Polen mußten die Rohstoffbezüge neu gestaltet werden. Erschwert wurde das Wiederanlaufen der Produktion auch durch den Weggang von 24 Spezialisten, unter ihnen fast alle Direktionsmitglieder. Allerdings kehrten 10 der von den Amerikanern bei ihrem Abzug aus der Provinz Sachsen nach Rosenthal bei Marburg verbrachten Fachleute, darunter Dr. Johannes Nelles, im Herbst 1945 nach Schkopau zurück. 33 Anfang 1946 wurde eine neue Werkleitung mit Dr. Nelles an der Spitze von der sowjetischen Militäradministration bestätigt. Von dieser Leitung blieben Dr. Nelles als Werkleiter, Dr. Friedrich Moll als stellvertretender Werkleiter und Oberingenieur Carl Schumacher als Leiter der technischen Abteilung bis Mitte der sechziger Jahre im Amt, womit eine außergewöhnliche Kontinuität gegeben war. 34 Zu den Besonderheiten der Schkopauer Werkleitung zählte auch, daß es sich hier um ein Gremium von Spezialisten aus dem Bürgertum handelte, die nicht der SED angehörten. Im November 1945 lief die Buna-Produktion, von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Schwerpunktvorhaben erklärt und dementsprechend im Bewirtschaftungssystem bevorzugt, wieder an. Selbst die Demontage von zwei der insgesamt drei Polymerisationsbetriebe und der modernsten zwei Aufarbeitungen im Frühjahr 1948 konnten in erstaunlich kurzer Zeit, bis 1950, kompensiert werden. Die Buna31 Vgl. BunaWA, Rep. II/1/227. 32 Vgl. Plumpe, S. 385. 33 Im Oktober 1946 und im Februar 1948 wurden einige der zurückgekehrten Kautschukspezialisten zur Arbeit in der UdSSR zwangsverpflichtet. Vgl. BunaWA, Rep. II/1/54, Aktennotiz über eine Besprechung bei Herrn Welitschko, 17. 7. 1948. 34 Der Chemiker Dr. Moll hatte von 1925 bis 1937 bei der I.G. in Ludwigshafen gearbeitet. Im Jahr 1937 wurde er nach Schkopau versetzt. Nach 1945 war er Leiter der Buna-Aufarbeitung. Oberingenieur Carl-August Schumacher kam ebenfalls von der BASF in Ludwigshafen nach Mitteldeutschland. Er war von 1927 bis 1935 Betriebsingenieur im Leuna-Werk und leitete ab 1936 den Aufbau der maschinentechnischen Abteilung des Buna-Werkes. Nach 1945 avancierte er zum technischen Leiter des Gesamtwerkes (Vgl. BunaWA, Personalkartei). Werkleiter Nelles, geboren 1910 in Frankfurt/Main, hatte nach seinem Chemiestudium in Frankfurt im Hauptlaboratorium der Farben werke Bayer AG gearbeitet und war 1941 nach Schkopau versetzt worden. Dort wurde er mit dem Aufbau und der Leitung des Laboratoriums betraut (Vgl. Wer war wer - DDR. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1992, S. 331).

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Kapazitäten konnten ausschließlich durch die Vervollkommnung des technologisches Regimes um 75% ausgeweitet werden. 35 Bis zur Rückgabe des SAG-Betriebes Ende 1953 in deutsche Hände wurden jährliche Zuwachsraten des Produktionsausstoßes von 16 % bis 36 % erzielt. 36 „Die Hauptbetriebe waren bis zur Grenze ihrer Kapazität ausgenutzt", heißt es im Jahresbericht der Werkleitung von 1952.37 Das Wachstum beruhte überwiegend auf der Rekonstruktion und Verbesserung der vorhandenen Technik und dem Mehreinsatz von Arbeit. Das Phänomen der Produktivitätssteigerungen ohne große umwälzende technische Neuerungen war demnach nicht nur für die Wirtschaft der Bundesrepublik typisch, sondern auch für die der DDR. Das Neue in der Technikgeschichte der fünfziger Jahre bestand in der breiteren und effektiveren Anwendung von Innovationen aus dem frühen 20. Jahrhundert. 38 In der SBZ/DDR waren demnach durchaus Voraussetzungen gegeben, auf ausgewählten Gebieten der Synthesekautschukproduktion den Anschluß an internationale Trends der Technikentwicklung zu halten.

I. Anstöße zur Innovation Noch während des Kriegs war in Schkopau unter der Leitung von Dr. Nelles ein Versuchslaboratorium aufgebaut worden. Nach dem Krieg verblieb ein Stamm von Kautschukfachleuten im Werk, so daß die Voraussetzungen für die Wiederbelebung der FuE im Werk zwar schwierig, aber vergleichsweise günstiger als in den meisten anderen mitteldeutschen Chemiewerken waren. 39 Zwar kontrollierte die Besatzungsmacht entsprechend den gemeinsamen alliierten Vereinbarungen die Arbeit der deutschen Wissenschaftler, ein Produktionsbzw. Forschungsverbot auf dem Synthesekautschuksektor wurde jedoch nicht ausgesprochen. Die sowjetische Generaldirektion bekundete im Gegenteil ihr Interesse an einer möglichst raschen Fortführung unterbrochener FuE-Arbeiten. Zu diesem Zweck war bereits im Sommer 1945 ein Forschungs- und Entwicklungsbüro eingerichtet worden. 40

35

Vgl. Karisch, Rainer, Geteilte Unternehmen. Fallstudie 3 - die Buna-Werke in Schkopau und Hüls (unveröff. Manuskript, Berlin 1994). 3 6 Vgl. BunaWA, Rep. II/1/167. 3

? Vgl. Jahresbericht 1952, ebd., Nr. 311, Vgl. Radkau, Joachim, „Wirtschaftswunder" ohne technologische Innovation? Technische Modernität in den fünfziger Jahren, in: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre, Bonn 1993, S. 139. 39 In einen Bericht für die Besatzungsmacht von Ende 1945 werden 161 Spezialisten namentlich aufgeführt. Bis Ende 1947 verließen 43 von ihnen das Werk. Dazu heißt es in einem Direktionsbericht: „viele konnten ersetzt werden." (BunaWA, Rep. II/1/56). 38

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Die Forschungen konzentrierten sich zunächst auf die Verbesserung der Fahrweise der Anlagen sowie die Weiterentwicklung der traditionellen Synthesekautschuksorten. Im Jahr 1949 lief die Versuchs- und 1952 die Massenproduktion der stark geregelten und ohne thermischen Abbau verarbeitbaren Type Buna S4 an. 41 Die Gummiindustrie konnte durch den Einsatz von Buna S4 eine bedeutende Senkung der Verarbeitungskosten erreichen. Hauptprodukt des Schkopauer-Werkes blieb jedoch noch bis Mitte der sechziger Jahre Buna S3, wie die Tabelle im Anhang zeigt. Den Anstoß für die Wiederaufnahme der FuE-Arbeiten auf dem Gebiet des Kaltkautschuks gaben 1948 Zeitschriftenmeldungen über erfolgreiche amerikanische Entwicklungsarbeiten. Schkopauer Fachleute begannen daraufhin, die Qualität des amerikanischen Kautschuks zu prüfen und konsultierten auch Fachleute der westdeutschen Gummiindustrie. Allgemein wurde der cold rubber in der Qualität um 10 bis 15% über Buna S3 gesetzt. Die Marktchancen des Kaltkautschuks wurden allerdings zurückhaltend beurteilt. Dennoch hielten es sowohl die deutsche Werkleitung (Dr. Nelles und Dr. Moll) als auch die sowjetische Generaldirektion (Chefingenieure Markewitsch und Kirpitschnikow) für geboten, die Versuchsarbeiten an den Betriebsvorschriften und Rezepturen für die Tieftemperaturkautschuk-Herstellung im Oktober 1949 wieder aufzunehmen. 42 Die mit dieser Aufgabe betraute Forschungsgruppe (Dr. Fischer, Dr. Johne, Dr. Breuers, Dr. Mühlsteph, Ing. Luttropp) konnte auf Arbeiten aus dem Jahr 1942 zurückgreifen. Damals waren erste Versuche zur Produktion von Tieftemperaturkautschuk gemeinsam mit den Continental Gummiwerken Hannover durchgeführt worden. Beim Bau der dritten Polymerisationsanlage in Schkopau wurde bereits mit einer Polymerisationstemperatur von 45° C anstelle der üblichen 50° C gearbeitet. Eine weitere Senkung der Polymerisationstemperatur erschien im Interesse der Qualitätsverbesserung wünschenswert, hätte jedoch mit einem Absinken der Produktionszahlen erkauft werden müssen.43 Dies war auf dem Höhepunkt der NSKriegswirtschaft nicht möglich. Lediglich in den I.G.-Werken Hoechst und Leverkusen fanden während des Krieges weitere Laborversuche statt. Das vom Leverkusener Chemiker Logemann entwickelte Redox-System - eine Kombination von Benzoylperoxyd mit Traubenzucker sowie Eisenverbindungen - beschleunigte die Reaktion bei Temperaturen unter 10° C stark. 40

Die Forschungs- und Entwicklungsbüros bzw. Sonderkonstruktionsbüros dienten primär dem Technologie-Transfer von Deutschland in die UdSSR. 41 Vgl. BunaWA, Büro der Geschäftsführung, ohne Sign. 42 Untersuchung und Ausarbeitungen einer Rezeptur und einer Betriebsvorschrift für die technische Herstellung von Tieftemperatur-Kautschuk von Dr. J. Fischer und Dr. F. Johne. Vgl. ebd. /100. 4 3 Vgl. ebd.

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Die Schkopauer Chemikergruppe um Dr. Fischer kombinierte den Leverkusener Ansatz mit dem amerikanischen Ansatz und startete eine Versuchsreihe zur Herstellung von Kaltkautschuk (Kombination aus Redox-Ansatz und amerikanischem Ansatz; Verhältnis Styrol : Butadien = 72 : 28). Erste großtechnische Versuche wurden daraufhin im August 1951 gefahren. 44 Sie ergaben, daß es prinzipiell möglich war, in Schkopau einen synthetischen Kautschuk herzustellen, der dem amerikanischen Kaltkautschuk gleichwertig, in einer Eigenschaft (Elastizität) sogar überlegen sein sollte. Positiv wirkte sich das Fortbestehen der wissenschaftlichen Verbindungen zu den anderen ehemaligen I.G.-Werken und Gummiherstellern in Westdeutschland aus. In dieser Zeit liefen die Laborund Versuchsarbeiten in Schkopau und Leverkusen in etwa zeitgleich. Nach Abschluß der ersten, auf diskontinuierlichen Fabrikationsverfahren beruhenden Versuchsreihen Ende 1951 wurden von den Schkopauer Wissenschaftlern dem neuen Kaltkautschuk Buna S4T bis auf seine guten Verarbeitungseigenschaften keine Vorteile gegenüber dem Warmkautschuk Buna S3 zugebilligt. Bei ersten Reifenversuchen kamen lediglich zwei S4T-Typen annähernd an die Leistungen von Buna S3-Typen heran. 45 Dennoch erschien die Fortführung der Versuchsreihen lohnenswert, zumal sich auf einigen Prüfgebieten, die noch nicht abgeschlossen waren, gegenüber dem Warmkautschuk deutlich verbesserte Eigenschaften abzeichneten. Weitere Fortschritte bei der Kaltkautschukentwicklung waren vom Übergang zur kontinuierlichen Herstellungsweise zu erwarten. Daher wurde 1951 mit der Projektion einer 1 000 jato Versuchsanlage begonnen.46 Die kontinuierliche Versuchsanlage für die Herstellung von Buna S4T lief Mitte 1953 an. 47 Das Werk befand sich zu dieser Zeit noch in sowjetischer Hand und so wurden die Versuchsergebnisse umgehend in die UdSSR geschickt.48 Die ersten Chargen des Schkopauer Kaltkautschuks wurden im Inland nur zögernd abgenommen. Erst Ende 1955 begann das Reifenwerk Fürstenwalde mit der Erprobung von Buna S4T. 49 Das neue Reifenmaterial verfügte über eine um 20 bis 30 % bessere Abriebsfestigkeit. Die ersten aus Buna S4T gefertigten Reifen blieben daraufhin dem Export vorbehalten. Der Weggang einiger der mit der Kaltkautschuk-Entwicklung befaßten Wissenschaftler führte Mitte der fünfziger Jahre zu einer empfindlichen Unterbrechung

44

Vgl. Gärtner, Peter, Betriebskundliches Lehrbuch, Schkopau 1986, S. 14. Herstellung von Tieftemperatur-Kautschuk im Buna-Werk, Bericht vom November 1951, S. 5. Vgl. BunaWA, Rep. II/1/506. 46 Vgl. ebd., S. 269. 45

47

Vgl. BunaWA, Büro der Geschäftsführung, ohne Sign. Vgl. Bilanz 1953, ebd., Rep. II/I/312, Bilanz 1953. 49 Vgl. ebd., Rep. II/2/1113. 48

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der FuE-Arbeiten in Schkopau. Infolge der dünnen Personaldecke im FuE-Bereich (lediglich 117 Mitarbeiter in der Forschung) war das Werk nicht in der Lage, umgehend für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. 50 Dennoch waren die Arbeiten bereits so weit fortgeschritten, daß mit der Projektierung einer Großanlage begonnen werden konnte. Einen wichtigen Beitrag zur Fortsetzung der Arbeiten leistete Dr. Herte, seit 1952 Leiter der Bunapolymerisationsbetriebe. 51 Beflügelt vom weitgehenden Abschluß der Forschungsarbeiten entwarf die Werkleitung 1954 eine Konzeption zur Umstellung auf die weichen Synthesekautschuksorten Buna S4 und Buna S4T bis I960. 52 Von der Staatlichen Plankommission wurden zunächst jedoch nur die Mittel für den Aufbau einer Pilotanlage freigegeben. Sie nahm 1957 den Betrieb auf. Ein Import des Know-hows und der Anlagen für die Kaltkautschukherstellung stand in den fünfziger Jahren in Schkopau nicht zur Debatte. Trotz mancher Rückschläge waren die Schkopauer Wissenschaftler und die Werkleitung von den eigenen Fähigkeiten überzeugt. 53 Dabei dürfte zumindest bei den älteren Wissenschaftlern auch das Bewußtsein eine Rolle gespielt haben, daß in Schkopau der erste europäische Synthesekautschuk produziert worden war. Daß die I.G. nicht mehr existierte und die DDR ein kleines Land mit beschränkten Ressourcen war, fand demgegenüber keine ausreichende Beachtung.54 Ob ein Import amerikanischerer Kaltkautschukanlagen für Schkopau in den fünfziger Jahren möglich gewesen wäre, ist mehr als zweifelhaft. Synthesekautschukanlagen gehörten auch nach dem Ende des Koreakrieges zum strategisch wichtigen Know-how der USA und unterlagen den Embargobestimmungen der Cocom-Liste. Wilhelm Treue hat dies wie folgt kommentiert: „für die Industrie des synthetischen Kautschuks war der Krieg noch nicht beendet."55 Ein freier Kautschukmarkt existierte nicht.

50 Vgl. ebd., Rep. II/I/311. 51 Vgl. Betriebszeitung „Aufwärts", 13. Jg., Nr. 80, S. 2 f. Dr. Herte wurde für seine Arbeiten auf dem Kautschukgebiet 1960 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. 52 Vgl. BunaWA, Rep. II/2/501. 53 Interview mit Dr. Mühlhaus und Dr. Albrecht am 5. 12. 1994 in Schkopau. 54 Auf das für die Wirtschaftspolitik der DDR in mancher Hinsicht typische Problem des fortgesetzten Denkens in großen Dimensionen, bei Vernachlässigung der veränderten äußeren Bedingungen, hat Joachim Radkau verwiesen: Revoltieren die Produktivkräfte gegen den real existierenden Sozialismus?, in: 1999 5(1990), S. 13-42. 55 Treue, S. 315.

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II. Der Einfluß wirtschaftspolitischer Konzepte und technologiepolitischer Strategien sowie Innovationsbarrieren Im Gegensatz zur Entwicklung von Synthesefasern und Plasten stellte der Synthesekautschuk kein Schwerpunktvorhaben des im November 1958 verabschiedeten Chemieprogramms dar. Die chemische Industrie der DDR sollte im Rahmen des Chemieprogramms von 1959 bis 1965 die Produktion von Kunststoffen auf das 3 1/2 fache und von synthetischen Fasern sogar fast auf das 6 fache steigern. 56 Für Synthesekautschuk war hingegen nur eine Wachstumsrate von 25 % vorgesehen. Mit dem Chemieprogramm begann ein Modernisierungsversuch, der zumindest dazu führen sollte, das weitere Zurückfallen der DDR-Chemie abzustoppen. Es stellte ein Programm zum schrittweisen Übergang zur Petrochemie bei gleichzeitiger Beibehaltung der Kohlechemie dar. Der angestrebten Expansion waren jedoch bereits unmittelbar nach Anlaufen des Programms Grenzen gesetzt. Dramatisch verschärften sich die Probleme der chemischen Industrie im Zuge der Systemkrise von 1960/61. Im März 1961 mußte die Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED feststellen: „Das Chemieprogramm existiert nach dem gegenwärtigen Stand der Planung nicht mehr... Wir werden mit absoluter Sicherheit zu einem zweitrangigen Chemieland absinken, wenn die gegenwärtig geplante Entwicklung beibehalten wird ... Selbst wenn wir das im Chemieprogramm der DDR ursprünglich vorgesehene Tempo der Entwicklung beibehalten, würden wir 1965 weiter hinter Westdeutschland zurückliegen als zu Beginn des Chemieprogramms." 57 Insbesondere bei neuen Produkten drohten erhebliche Verzögerungen. Daher sollte auf Grundlage eines zweiten Chemieprogramms (1964-70) der begonnene Strukturwandel fortgeführt werden. Erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erfolgten entscheidende Schritte in Richtung Petrochemie. Mit dieser verspäteten Modernisierung konnte der weitgehende Verlust der Konkurrenzfähigkeit jedoch nicht mehr aufgehalten werden. Trotz gestiegener Investitionssummen sank der Anteil veredelter Produkte am Export der chemischen Industrie der DDR in den sechziger Jahren dramatisch. Das Buna-Werk sollte bis 1965 zum wichtigsten Kunststoffhersteller der DDR profiliert werden. Diese Entwicklung war auf sowjetisches Drängen bereits 1957 mit dem „SU-Sonderprogramm", das zusätzliche Lieferungen von Plasten aus der DDR in die UdSSR vorsah, eingeleitet worden. Die Konzentration auf die Entwicklung neuer Plastsorten führte zu einer gewissen Vernachlässigung der FuE-Arbeiten auf dem Gebiet der Monomere. Paradoxerweise hat die bis dahin recht erfolgreiche Entwicklung des Kautschukbereichs seine Modernisierung behindert. Die Synthesekautschuk-Produktion hatte im Jahr 1953, trotz der Demontage von Teilen der Polymerisationskapazitäten im Frühjahr 1948, die installierte Maximalleistung erreicht und überschritt 1956 den Produkti56 Vgl. Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit, Berlin 1959, S. 19 ff. 57 SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV/2/603/74.

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onshöchststand von 1943.58 In den folgenden Jahren stabilisierte sich die Produktion auf hohem Niveau. Neben den wichtigsten Warmkautschuksorten Buna S3 und Buna S4 sowie dem Kaltkautschuk Buna S4T waren bis Ende der fünfziger Jahre auch eine Reihe von Spezialsorten entwickelt worden. Absatzprobleme kannte das Schkopauer Werk weder auf dem Ostblock- noch auf dem Inlandsmarkt. Auf dem westeuropäischen Markt konnte Schkopau in größerem Umfang erst nach 1953 - nach Ende des Korea-Krieges und nach Überführung in deutsches Eigentum - Fuß fassen. Der Anteil des Exports nach Westeuropa stieg von weniger als 2 % bis 1953 auf ca. 30 % Mitte der fünfziger Jahre. 59 Allerdings begann sich bereits Mitte der fünfziger Jahre abzuzeichnen, daß sich die älteren Buna-Typen in größeren Mengen in Westeuropa kaum noch verkaufen ließen. Westeuropäische Länder importierten Kaltkautschuk aus den USA und waren im Begriff, eigene Kaltkautschukwerke aufzubauen. Der Zeitpunkt war absehbar, an dem die westeuropäischen Verarbeiter überwiegend mit Kaltkautschuk arbeiten würden. Die Buna-Werkleitung bemühte sich daher bei der Staatlichen Plankommission (SPK) um die notwendigen Mittel für die Modernisierung ihres Kautschukbereiches.60 Bis 1962 sollte die Kaltkautschukproduktion nach den Vorstellungen der Werkleitung auf 24 000 t gesteigert werden, was ca. 1/4 der Gesamtproduktion bei Synthesekautschuk entsprochen hätte.61 Für die Entscheidungsträger in der SPK bzw. im Ministerium für chemische Industrie (MfC) war der Aufbau neuer PVCKapazitäten jedoch vordringlicher als die Modernisierung der Synthesekautschukproduktion. Zum einen waren im Chemieprogramm andere Schwerpunkte gesetzt worden, zum anderen hätte der Neubau eines Kaltkautschukkomplexes erhebliche Mittel - einschließlich knapper Devisen - erfordert. 62 Das Defizit bei Plasterohstoffen im RGW und im Inland war noch gravierender als das Defizit bei Synthesekautschuk.63 Die technischen Voraussetzungen für die Kaltkautschukproduktion waren im Buna-Werk seit Ende der fünfziger Jahre vorhanden. Das Kaltkautschukprojekt hatte jedoch in der SPK „keine Lobby". 64 Es erschien den Planern, die mit dem gescheiterten Siebenjahrplan konfrontiert waren, zu teuer. Sie empfahlen die Fortsetzung der Buna S4T-Produktion mit der Pilotanlage. So konnte das Schkopauer Werk bis Mitte der sechziger Jahre insgesamt nur wenige tausend Tonnen Buna S4T herstellen. 58 Vgl. BunaWA, Rep. II/1/53, 83, 152. 59 Vgl. ebd., Rep. II/2/311, 478 und 1113. Die Angaben beziehen sich auf den Gesamtexport des Werkes. 60 Vgl. ebd., Rep. II/2/1953. 61 Vgl. ebd. 62 Interview mit Dr. Schreiber, Schkopau 5. 12. 1994. 63 Interview mit Dr. Aust, Schkopau 5. 12. 1994. 64

Interview mit Dr. Schreiber, Schkopau 5. 12. 1994.

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Erst zunehmende Klagen des Außenhandels über das veraltete Sortiment des Werkes erzwangen 1962 eine Beschleunigung der Umstellung auf die neuen Sorten. Aus diesem Grund mußte auch ein Projekt zur Kapazitätsausweitung, daß ursprünglich noch überwiegend auf den alten Sorten basierte, 1959 überarbeitet werden. Inzwischen hatten andere Ostblockländer mit der Produktion von Kaltkautschuk begonnen. Ab 1962 wurde in Schkopau verstärkt an einem „Kautschukumstellungsprogramm" gearbeitet. Das Programm umfaßte den Übergang vom Warm- zum Kaltkautschuk, die Weiterentwicklung ölgestreckter Sorten, die Errichtung einer Produktionsanlage für Polybutadien und die Produktion konzentrierter Latices. Alle wissenschaftlichen Vorarbeiten für dieses Programm wurden in Schkopau selbst geleistet. Das „Umstellungsprogramm" sah eine jährliche Produktion von 24 000 t Kaltkautschuk vor. Für das Programm wurden 25 Mio. DM zum Anlagenimport benötigt.65 Später wurde das Umstellungsprogramm nochmals korrigiert. Der Import kompletter Chemieanlagen stellte die größte Schwachstelle der Modernisierungsbestrebungen der Buna-Werkleitung dar. Nelles hatte wie die meisten Werkleiter der chemischen Industrie erkannt, daß eine Eigenentwicklung aller möglichen Anlagen zu jahrelangen Verzögerungen bei der Umstellung des Produktionsprofils führen mußte. Er drängte daher nicht nur im Kautschukbereich auf den Import von kompletten Anlagen. Der Versuch, in einem zuvor nicht gekannten Umfang Chemieanlagen und Know-how zu importieren, litt jedoch unter der strikten Devisenbewirtschaftung und den handelspolitischen Strategien des Deutschen Industrie- und Außenhandel (DIA), die nur teilweise mit den Intentionen des Buna-Werkes übereinstimmten. 66

I I I . Die Diffusionssphase Die Realisierung des Umstellungs-Programms verzögerte sich wiederholt. Erst am 1. 7. 1966 konnte die großtechnische Produktion von Buna S4T bzw. SB beginnen. 67 Die verspätete Umstellung auf weiche Kautschuktypen zog erhebliche außenwirtschaftliche Probleme nach sich, da der staatliche Außenhandel bereits Lieferungen von größeren Mengen Buna S4T vertraglich vereinbart hatte. Selbst im Ostblock galten die alten Buna-Sorten inzwischen kaum noch als verkäuflich. 68 Vom Beginn der FuE-Arbeiten 1949 bis zur Serienproduktion von Buna S4T waren 65 Vgl. BunaWA, Rep. VI/69. 66 Vgl. ebd. Bspw. kaufte DIA eine Schaumpolystyrol-Anlage entgegen den Wünschen des Buna-Werkes nicht von einem renomierten Unternehmen in der Bundesrepublik, sondern aus „handelspolitischen Gründen" von einem norwegischen Hersteller. Die Anlage erwies sich als störanfällig. 67 Vgl. Peter Gärtner, S. 16 sowie BunaWA, Rep. II/2/343 68 Vgl. Memo zur Kautschukumstellung vom 16. 8. 1965, BunaWA, Rep. Π/2/343.

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17 Jahre vergangen. Damit hatte das Schkopauer Werk den Anschluß an die internationale Entwicklung verloren. Die späte Umstellung auf Kaltkautschuk beeinträchtigte nicht nur die Exportmöglichkeiten, sondern führte auch im Inland zur Stagnation der Produktivität in der gummiverarbeitenden Industrie. In einer Analyse des Ministerium für Wissenschaft und Technik von 1965 wurde die Produktivität der Reifenindustrie der DDR im Vergleich zu Herstellern in der Bundesrepublik mit 30 v. H. angegeben. Zu den Ursachen dieser Entwicklung hieß es in der Analyse: „Ein erheblicher Teil des angelieferten Synthesekautschuks Buna S3 muß vor der Verarbeitung noch aufbereitet werden, was zu unterschiedlicher Plastizität und damit zu unterschiedlichem Verhalten bei der Verarbeitung zu Gummieerzeugnissen führt... Noch vor der beabsichtigten Vulkanisation treten besonders bei den S4-Typen infolge der hohen Verarbeitungstemperaturen unerwünschte Vernetzungen ein. Zur Beseitigung solcher Mängel wird in anderen Ländern Tieftemperaturkautschuk ... eingesetzt, der unserer Gummiindustrie aber noch nicht aus der eigenen Produktion zur Verfügung steht." 69 Die gesamte Materialplanung der Reifenindustrie in der DDR war ab dem 2. Halbjahr 1966 auf den Bezug von Kaltkautschuk eingestellt worden. Bei einer weiteren Verzögerung des Umstellungsprogramms rechneten die Reifenhersteller mit Sanktionen von Seiten ihrer Abnehmer. 70 Neben den Problemen bei der Kautschukumstellung hatte das Werk seit 1960 verstärkt Probleme bei der Planerfüllung. 71 Die Steuerung der Produktion erfolgte über interne Produktionsprogramme, da die staatlichen Auflagen mit großen Verspätungen eintrafen. Die Schuld an der für Schkopau wenig reputierlichen Entwicklung wurde von der SED-Parteileitung dem langjährigen Werkdirektor Prof. Nelles zugewiesen. Selbst sein Förderer Ulbricht wandte sich, wohl aus verletzter Eitelkeit, von Nelles ab. 72 Nelles, ohnehin gesundheitlich schwer angeschlagen, kam letztlich nicht mehr gegen den Druck aus der Parteileitung an. Er wurde für die Forschungsrückstände und ungenügende Risikofreudigkeit verantwortlich gemacht und Anfang 1967 von seinen Aufgaben als Werkleiter entbunden.73 Die Fehlschläge in der Technikpolitik hatte jedoch nicht allein der Werkleiter zu verantworten. Nelles hatte sich wiederholt für den Einkauf von Lizenzen und Chemieanlagen verwandt und auf die unvertretbaren Verzögerungen bei der Umstellung auf neue Produkte verwiesen. Welche Frustrationen der planwirtschaftliche Alltag beim Werkleiter auslöste, belegt ein Brief von Prof. Nelles an den Vorsit69 Schreiben des Staatssekretariats für Forschung und Technik an Prof. Nelles vom 20. 2. 1965. Ebd., ohne Sign. 70 Vgl. ebd., Rep. II/2/343.

71 vgl. ebd., Rep. II/2/320 und 321 (Werkleitstelle). 72 Brief von Heinz Rehmann vom 3. 4. 1995 an den Verfasser. 73 Vgl. Aust, Rudolf, Prof. Nelles und seine Absetzung als Werkdirektor, unveröff. Manuskript Schkopau 1993.

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zenden des Ministerrates, Stoph, vom Januar 1963: Dort kritisierte Nelles die „höchst unqualifizierte Arbeit der Planungsbehörden". „Das ich die Nerven nicht verloren habe, ist ein Wunder." Obwohl die Kapazitäten des Buna-Werkes bis an ihre Grenzen ausgelastet waren, verlangte die SPK eine Aufstockung der Pläne. „Letztlich", so Nelles, „gab ich nach, nur um diese Leute loszuwerden. In der Staatsführung hat kein Mensch Vorstellungen von der Chemie, außer Prof. Winkler ... Im Vergleich zur Investitionstätigkeit der ehemaligen SAG-Betriebe besitzt der Werkdirektor jetzt gar keine Rechte mehr. Er muß endlose Auseinandersetzungen um ein paar Tausend Mark führen." 74 Noch ungünstiger als beim Kaltkautschuk gestaltete sich die Entwicklung beim APT (Äthylen-Propylen-Ter)-Kautschuk. An der Entwicklung dieses Spezialkautschuks wurde im Buna-Werk seit Anfang der sechziger Jahre intensiv gearbeitet. 1968 wurde die APT-Kautschukforschung zu einem Schwerpunktvorhaben erklärt. Zumindest im RGW-Bereich hätte sich Schkopau mit dem APT-Kautschuk eine Spitzenstellung sichern können. Drei Jahre später mußten die FuE-Arbeiten auf Weisung des Werkdirektors jedoch eingestellt werden. 75 Direktor Bärwinkel hielt eine Großproduktion von APT-Kautschuk auf absehbare Zeit nicht für möglich. Das in Buna entwickelte Verfahren war zu energieintensiv und hätte die Energiebilanzen des Werks zu stark belastet.

IV. Resümee der Schkopauer Entwicklung Alle wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung neuer Kautschuktypen waren in Schkopau nach Kriegsende vorhanden. Im engeren Sinne handelte es sich beim Buna S4T/SB zwar nicht um eine Innovation, da das Produkt und das Verfahren zuerst in den USA entwickelt wurden. In einem weiter gefaßten Sinn kann jedoch von einer Schkopauer Innovation gesprochen werden. Die Verfahrensentwicklung war nach der kriegsbedingten Unterbrechung 1948 fortgesetzt worden. Sämtliche FuE-Leistungen beruhten auf eigenen Bemühungen. Für die rasche Diffusion des neuen Produkts wären schnelle Investitionsentscheidungen notwendig gewesen. Dem standen jedoch die Prioritätensetzungen des Chemieprogramms und der chronische Devisenmangel der DDR entgegen. Da eine Ressourcenmobilisierung im Inland in vertretbaren Zeiträumen nicht möglich schien, arbeitete die Schkopauer Werkleitung ein Konzept zum Technologieimport aus. Dieses Konzept kollidierte mit der strengen Devisenbewirtschaftung. Nach der verspäteten Inbetriebnahme der Kaltkautschukkapazitäten gelang es dem Schkopauer Werk daher nicht, in größeren Umfang Buna S4T/SB in Westeuropa zu verkaufen. Forschungsintensive Chemieprodukte konnten nicht im erhofften

74 SAPMO-BArch, ZPA, DY 30IV/A2/603/116. 75 Interviews mit Dr. Mühlhaus, Dr. Albrecht und Dr. Schreiber.

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Umfang nach Westeuropa exportiert werden. Statt dessen nahm der Umfang von Exporten der Grundchemie zu. 76

C. Technologieimport statt Eigenentwicklung eine erfolgreiche Unternehmensstrategie bei Hüls? Die Chemischen Werke Hüls (CWH) wurden 1938 gegründet. In Hüls wurde erstmals anstelle des in Schkopau erfolgreich erprobten Karbid-Acetylen-Verfahrens das dreistufige Lichtbogenverfahren eingesetzt,77 das von der I.G. zwischen 1928 und 1935 gemeinsam mit Du Pont in Baton Rouge entwickelt worden war. Bei diesem Verfahren basierte die Acetylengewinnung auf Hydriergasen, die das Hydrierwerk Scholven lieferte. Der beim Lichtbogenverfahren als Nebenprodukt entstehende Wasserstoff wurde von den umliegenden Benzinwerken bei der Hydrierung benötigt. Aufgrund der Besonderheiten des Lichtbogenverfahrens konnte eine Verbundwirtschaft zwischen den Hydrierwerken des Ruhrgebietes und den CWH aufgebaut werden. 78 Der technische Verbund spiegelte sich in den Kapitalanteilen wider: Die I.G. hielt 74 % und die staatliche Bergbaugesellschaft Hibernia 26 % der Hülser Aktien. 79 Der Höchststand der Produktion wurde 1944 erreicht, 80 als im CWH über 8 000 Personen 38 5001 Buna produzierten. 81 Nach Kriegsende wurde der alten Geschäftsführung der CWH von der britischen Besatzungsmacht die Prokura entzogen. Aufgrund seiner Fachkompetenz und seiner perfekten Englischkenntnisse ernannte die britische Militärregierung Dr. Baumann 82 Ende Juni 1945 zum neuen Werkleiter. Er stand bis 1964 an der Spitze der CWH. Insgesamt war die personelle Kontinuität nach dem Krieg in den CWH größer als in Schkopau.83 Das zentrale Problem für Hüls stellte die Fixierung des Werkes auf die BunaProduktion dar, entfielen doch fast 60 % vom Gesamtumsatz auf den Verkauf von 76 Vgl. Bentley, Raymond, Research and Technology in the Former German Democratic Republic, Boulder, San Francisco, Oxford 1992, S. 53 ff. 77 Vgl. Der Lichtbogen, Sonderheft 1963.

™ Vgl. Kränzlein, S. 31. 79 Vgl. ebd., S. 32 ff. so Vgl. Plumpe, S. 385. 81 Vgl. Geschäftsbericht 1944, HüArch, V I 5-14/16, 82 Vgl. Dr. Baumann war von 1930 bis 1935 in den USA tätig gewesen und hatte maßgeblich an der Erprobung des Lichtbogen Verfahrens in Baton Rouge mitgewirkt. Ende März 1945 verhinderte Dr. Baumann gemeinsam mit Dr. Beckmann die Sprengung des Hülser Werkes und übergab es den anrückenden amerikanischen Truppen (Vgl. Mertzig, Walter/Büttgenbach, Erich, Kunststoff aus Gas, Düsseldorf 1956, S. 36). 83 Generell war die personelle Kontinuität in der chemischen Industrie in der Britischen Besatzungszone ausgeprägter als in den anderen Besatzungszonen. Vgl. dazu: Stokes, Divide, S. 64 ff.

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Synthesekautschuk.84 Zwar sollte die Buna-Produktion nach dem Darfürhalten der neuen Werkleitung nach dem Krieg auch weiterhin eine Säule der CWH bleiben.85 Die Festlegungen des Potsdamer Abkommens vom August 1945 und des alliierten Industrieniveauplans vom März 1946 ließen jedoch eine rasche Diversifizierung, für die infolge der zahlreichen Zwischen- und Nebenprodukte der „Hülser Chemie" durchaus die Voraussetzungen gegeben waren, zu einem Gebot des wirtschaftlichen Überlebens werden. Bis zur Währungsreform im Sommer 1948 gelang dem Werk eine bemerkenswerte Ausweitung der Produktpalette. Die Tabelle im Anhang verdeutlicht die Verschiebung der Struktur durch die Neuaufnahme der Herstellung von Waschrohstoffen und die Erweiterung der Fertigung von Kunststoffen, Weichmachern, Lösungsmitteln sowie sonstigen Organika. Die Emanzipationsbestrebungen der CWH stießen allerdings auf den Widerstand des Bay er-Vorstandes, der ein Eindringen von Hüls in 'klassische' Leverkusener Produktionsgebiete zu verhindern trachtete und während der I.G.-Entflechtung zeitweilig auf eine 50 % Beteiligung von Bayer an den CWH hoffte. 86 Bayer berief sich bei seiner gegenüber Hüls praktizierten Politik des eingeschränkten Marktzuganges auf die Holten-Verträge von 1941, in denen die Produktionsgebiete von Hüls begrenzt worden waren. Im Zuge der I.G.-Patententflechtung nach 1945 blieb Hüls hauptsächlich auf Produkte der Grund- und Acetylenchemie beschränkt. Nach langen Diskussionen über die Neuordnung wurden die CWH erst am 16. 12. 1953 aus der alliierten Kontrolle entlassen. Drei Tage später erfolgte die Umwandlung von einer GmbH in eine AG mit folgenden Anteilseignern: I.G. Farben i.L. 50 %, Hibernia Bergwerks AG 25 % und Kohleverwertung GmbH 25 %. 8 7 Im Aufsichtsrat der CWH nahmen Vertreter, die dem Bay er-Werk nahe standen, eine außergewöhnlich starke Position ein. 88 Zum Zeitpunkt der Entflechtung hatte das Werk eine Existenzkrise, ausgelöst durch britische Demontageandrohungen (1948/49) und Produktionsverbote für Buna (Juni 1948) sowie Butadien (April 1949) überstanden.89 Infolge des von 1949 bis 1951 wirksamen Buna-Produktionsverbotes mußte Hüls ca. 1/3 des Gesamtumsatzes kompensieren.

84 Vgl. Esser, S. 62. 85 Vgl. Dr. Karl Saurwein, Bericht über die VT-Abteilung 1945-53, HüArch, IV-10-8. 86 Vgl. Esser, S. 86 ff., 113 ff. 87 Vgl. Kränzlein, S. 98 ff. 88 Vgl. Esser, S. 123 ff. 89 Vgl. Dr. Karl Saurwein, Bericht über die VT-Abteilung 1945-53, HüArch, IV-10-8. Um das Buna- und Butadien-Produktions verbot zu realisieren, war auch die Demontage aller entsprechenden Produktionsanlagen vorgesehen. Nach Abschluß des Petersberger Abkommens am 22. 11. 1949 wurden die Demontagearbeiten bei Hüls eingestellt. Das Buna-Produktionsverbot blieb jedoch noch bis zum Mai 1951 bestehen. 7 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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I. Anstöße zur Innovation Auch für Hüls brachte der Ausbruch des Korea-Krieges eine abrupte Wende. Der Korea-Krieg, der Indochina-Konflikt und Unruhen in Malaysia ließen 1950 die Naturkautschukversorung der westlichen Industrieländer unsicher erscheinen. Der Exportanteil am Gesamtumsatz schnellte von 8 % 1949 auf 31 % im Jahr 1950 nach oben, 90 während der Naturkautschukpreis sprunghaft von 1,60 DM/kg auf 6,70 DM/kg anstieg. Synthesekautschuk avancierte erneut zu einer begehrten strategischen Ware. Umgehend wurde der Vorstand von Hüls bei der Bundesregierung vorstellig, um die Aufhebung des alliierten Buna-Produktionsverbotes zu erwirken. 91 Für die Bundesregierung war die mit der Wiederaufnahme der Synthesekautschukproduktion verbundene Deviseneinsparung von nicht zu unterschätzender Bedeutung, galt es doch, die angespannte Außenhandelsbilanz zu entlasten.92 Im Mai 1951 erhielt Hüls die Erlaubnis, vier der 1949 demontierten ButadienÖfen wieder aufzubauen. Allerdings war dies mit der Auflage verbunden, daß erst die deutschen Kohleexportverpflichtungen erfüllt werden mußten, bevor Kohle für die Buna-Herstellung eingesetzt werden durfte. Daraufhin lief in Hüls die BunaProduktion Ende November 1951 wieder an. 93 Es zeigte sich jedoch rasch, daß die Konkurrenzfähigkeit des Werkes allein durch die Rückkehr zur Synthesekautschukproduktion nicht mehr zu gewährleisten war. Die Alliierten hatten 1951 lediglich eine limitierte Buna-Produktion von 5001 monatlich gestattet, was keine wirtschaftliche Fahrweise erlaubte. Darüber hinaus führten die erhöhten Kohlenpreise zu einem Kostenauftrieb. Hüls mußte amerikanische Kohle importieren, Heizöl verwenden und außerdem Schlammkohle einsetzen. Zeitweilig wurde sogar eine werkseigene Zeche unterhalten. 94 Das Hülser Buna wurde zudem von den Verbrauchern nur zögernd angenommen und die Produktion mußte zurückgefahren werden. Der Vorstand der CWH stand folglich vor schwierigen Entscheidungen.95 Eine Erweiterung der vorhandenen Warmkautschukkapazitäten wäre aus eigener Kraft möglich gewesen, hätte jedoch weder unter Qualitäts- noch unter Kostengesichtspunkten den Anschluß an die internationale Entwicklung gewährleistet. Außerdem wollte das Werk die bis dahin neu aufgebauten Produktionslinien nicht wieder aufgeben. 96 90 Vgl. Geschäftsberichte 1949, 1950, Hü Arch. 91 Vgl. Daten zur Hüls-Geschichte, S. 3, HüArch, III-2-e-5/2. 92 Vgl. Buchheim, Christoph, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945-1958, München 1990, S. 126 ff.; Hardach, Gerd, Der Marshall-Plan, München 1994, S. 297 ff. 93 Vgl. Kränzlein, S. 89 ff. 94 Vgl. ebd., S. 92 ff. 95 Esser, S. 157 verweist darauf, daß der Hülser Vorstand, der im allgemeinen einer strengen Kontrolle durch den Aufsichtsrat, dominiert von Vertretern der großen IG-Nachfolgegesellschaften, unterlag, in dieser Frage weitgehende Entscheidungsfreiheit besaß. Die Synthesekautschukproduktion tangierte die Interessen von Bayer, Hoechst und BASF kaum.

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Die Fortschritte der amerikanischen Kautschukindustrie waren Hüls bekannt. Infolge der mehrjährigen Unterbrechung der Kautschukproduktion und -forschung war Hüls technologisch in deutlichen Rückstand geraten. Dennoch waren eigene FuE-Arbeiten auf dem Kaltkautschukgebiet zumindest soweit vorangekommen, daß eine Versuchsproduktion 1953 anlaufen konnte. Die prinzipiell mögliche Eigenentwicklung des Verfahrens wurde jedoch nicht forciert. Die politische und wirtschaftliche Konstellation legten dem Vorstand ein anderes Vorgehen nahe. Die FuE-Arbeiten an der zweiten Kautschukgeneration sollten durch den Import von Know-how übersprungen und statt dessen gleich auf die dritte Kautschukgeneration konzentriert werden. Die Arbeiten am Polybutadien-Kautschuk begannen daraufhin 1955. Im Resultat dieser Arbeiten ging 1963 ein neuer Allzweckkautschuk bei Hüls und ein Jahr später bei Dormagen in Betrieb. 97 Der Aufbau neuer Kapazitäten bot neue Marktchancen, barg allerdings auch größere Risiken. Vor allem zwei Probleme beschäftigten den Vorstand fortan: die Kapitalbeschaffung und die Beschaffung des Vorprodukts Butan. Neben dem finanziellen Risiko hätte eine erneute einseitige Profilierung der Kautschuksparte das Werk in starke Abhängigkeit von den Preisschwankungen des Kautschukmarktes gebracht. Während eine Fraktion des Vorstandes um Dr. Baumann für eine Strategie der Risikominimierung durch Einbindung der „großen Drei" in das Kaltkautschukprojekt und massive Staatshilfen plädiere, favorisierte eine andere Gruppe um Prof. Broich ein eigenständiges Projekt. 98 Anstelle eines Gemeinschaftsunternehmens trat die Broich-Gruppe für ein Zusammengehen mit einem großen Mineralölkonzern ein.

II. Der Einfluß wirtschaftspolitischer Konzepte und technologiepolitischer Strategien sowie Innovationsbarrieren Eine kurzfristige Lösung des Kostenproblems schien die Konzeption des Wirtschaftsverbandes der deutschen Kautschukindustrie zur Einrichtung einer „Preisausgleichskasse" zu bieten. Zum Zwecke der Förderung der deutschen Kautschukindustrie verabschiedete das Bundeswirtschaftsministerium am 17. 5. 1952 eine Verordnung zur Einrichtung einer Preisausgleichskasse.99 Kautschukimporte wurden fortan mit 0,12 bzw. später 0,20 DM/kg besteuert. Aus diesen Fonds erhielten deutsche Synthesekautschukhersteller einen Preisausgleich, der ihnen die Herabsetzung des Buna-Preises von 4,55 DM/kg auf 3,00 DM/kg ermöglichte. 100 Die Preisausgleichskasse bestand bis 1958. 96 9v 98 99

Vgl. Stokes, Opting, S. 200, Vgl. Kränzlein, S. 262 Vgl. Lebenserinnerungen Prof. Broich, HüArch. Kränzlein, S. 114. Daten zur Hüls-Geschichte, S. 6, HüArch, III-2-e-5/2.

7*

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Der Vorstand von Hüls war sich jedoch bewußt, daß im Interesse der Konkurrenzfähigkeit des Werkes längerfristig nach anderen Lösungen gesucht werden mußte. Die Kostenkrise war nur durch den Wechsel der Rohstoffgrundlage und eine wesentliche Ausweitung der Synthesekautschukproduktion zu überwinden. Dies schien mit erheblichen finanziellen Risiken verbunden zu sein. Der Vorstand hoffte daher auf die Unterstützung der Bundesregierung, zumal das Bundeswirtschaftsministerium seit Anfang 1952 auf den Aufbau einer neuen Synthesekautschukfabrik drängte. Baumann regte ein Treffen der westdeutschen Kautschukproduzenten mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard an. 1 0 1 Eine erste Beratung im Bundeswirtschaftsministerium fand im Februar 1953 statt. Dabei wurde von Seiten der Gummiindustrie und der chemischen Industrie auf mögliche Angebotsengpässe bei Naturkautschuk durch politische Krisen hingewiesen. Die Bundesregierung sollte daher ein Projekt fördern, daß in Kooperation mit französischen und italienischen Herstellern auf die weitgehende Eigenversorgung Westeuropas mit Synthesekautschuk orientierte. Dem Staat sollte, eingedenk der strategischen Bedeutung der Produktion, eine zentrale Rolle beim Erwerb amerikanischer Technologien und bei der Finanzierung des Projekts zukommen. Die Synthesekautschukkapazitäten von Hüls sollten auf 30 0001 pro Jahr ausgebaut werden. Der Vorstand von Hüls war allerdings nicht gewillt, erneut die BunaProduktion in den Mittelpunkt des Produktionsprogramms zu stellen und insistierte statt dessen auf die Bildung einer gemischten Gesellschaft. Baumann favorisierte den Aufbau einer neuen Betriebsgesellschaft, an der Hüls zu 50 % und Bayer, Hoechst sowie die BASF jeweils zu 16,7 % beteiligt sein sollten. Erhard bat Bundeskanzler Adenauer um Unterstützung des Projektes. In einem Schreiben an Adenauer hob er die politischen Risiken beim Bezug von Naturkautschuk hervor und betonte den europäischen Anspruch des Hülser-Projektes. 102 Anläßlich eines Besuchs in Washington sprach Adenauer mit Regierungsvertretern der USA über das Bunawerke Hüls-Projekt. Washington hatte keine Einwände. Sowohl staatliche Stellen als auch das Werk selbst bemühten sich in der Folgezeit um einen geeigneten amerikanischen Partner. Im August 1954 fiel die Entscheidung zugunsten einer Zusammenarbeit mit Firestone. Hüls erwarb von Firestone das Know-how für die Kaltkautschukherstellung und bot dafür eigenes Know-how bei der Styren-, Polyamid- und PVC-Herstellung an. 1 0 3 Das für die Synthesekautschukproduktion notwendige Butadien sollte aus Erdöl gewonnen werden. Diskutiert wurde zeitweilig auch die Verwendung von französischem Äthylalkohol für die Butadienerzeugung. Dieser Plan erschien den Verantwortlichen dann aber doch zu gewagt, zumal der französische Äthylalkohol massiv

ιοί Vgl. Stokes, Opting, S. 201 f. 102 Vgl. ebd., S. 204. 103 Vgl. Kränzlein, S. 125.

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subventioniert wurde. Allerdings zeigte diese Episode, wie unklar die künftige Entwicklung der Petrochemie Anfang der fünfziger Jahre noch war. Anfang 1955 standen zwei Projekte zum Aufbau einer neuen Synthesekautschukfabrik zur Debatte. Das erste Projekt sah eine Jahreskapazität von 30 000 t und das zweite eine von 45 0001 vor. Die Produktionskosten beim zweiten Projekt hätten mit 2,60 DM/kg unter denen des ersten Projektes (2,82 DM/kg) aber noch über dem Preis von Importkautschuk (2,55 DM/kg) gelegen. 104 Daher sollte der Staat Investitionshilfen gewähren. In einem Schreiben an das Bundes Wirtschaftsministerium vom 28. 2. 1952 forderte Hüls Unterstützung: „Es ist ausgeschlossen, daß wir dieses finanziellen Opfer für eine Produktion, die wir nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen, sondern auf Wunsch des Bundes und der Kautschukindustrie aufgenommen haben, allein tragen können." 105 Die Bundesregierung und die Landesregierung von NRW sollten für eine Lohngarantie in Höhe von 40 Mio. DM gewonnen werden. Das Bundeswirtschaftsministerium lehnte Lohngarantien jedoch ab. Der Aufbau der Bunawerke Hüls GmbH erfolgte schließlich ohne staatliche Subventionen, obwohl sich Hüls noch einige Zeit um einen staatlichen Verlustausgleich in der Anlaufphase des Werkes bemühte. 106 Möglicherweise hat die Subventionsverweigerung den Hülser Vorstand in seiner Strategie der Risikominimierung bestärkt. Anfang 1955 nahm Hüls bezüglich des neuen Kaltkautschukwerkes offiziell Kontakt zu den Vorständen von Bayer, Hoechst und BASF (den „großen Drei") auf. Eine Einigung über das Projekt wurde in wenigen Monaten erreicht und am 3. 5. 1955 lag auch die Zustimmung des alliierten Military Security Board vor. 1 0 7

I I I . Die Diffusionsphase Nach intensiven Verhandlungen entschlossen sich die I.G.-Nachfolgegesellschaften BASF, Bayer, Höchst und Hüls zur Zusammenarbeit in Form des Gemeinschaftsunternehmens Bunawerke Hüls GmbH. Die Hälfte der Aktienanteile hielten die CWH die andere Hälfte zu gleichen Teilen Bayer, BASF und Hoechst. Anfang 1956 einigten sich die Betreiber über den Aufbau der Bunawerke Hüls GmbH auf der Räche der Chemischen Werke Hüls AG. Das neue Werk wurde für eine Kapazität von 38 0001 Butadien und 45 0001 Kaltkautschuk ausgelegt. Nachdem andere Alternativen verworfen wurden, entschied sich der Vorstand von Hüls für den Erwerb des Houdry-Verfahrens. Das notwendigen Know-how wurde ab Sommer 1954 bei der amerikanischen Firma Firestone studiert und erworben. Der 104 105 106 107

Vgl. Stokes, Opting, S. 212. CWH an BMWI28. 2. 1952, HÜArch, IV-10-8. Vgl. Stokes, Opting, S. 214. Vgl. ebd., S. 124.

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Grundstoff Butan sollte von mehreren Anbietern, Esso Hamburg, BP und Petroleum GmbH sowie der Gelsenberg Benzin AG bezogen werden. 108 Die neue Kaltkautschukfabrik, mit einem Kostenaufwand von 160 Mio. DM errichtet, nahm am 15. 9. 1958 ihre Produktion auf. Bereits nach zwei Jahren erreichte das neue Unternehmen die Gewinnzone. Hüls avancierte damit zum größten Erzeuger von Kaltkautschuk in Westeuropa und hatte den Anschluß an den modernsten technologischen Stand wiedergefunden. In den folgenden Jahren wurde die Buna-Kapazität bis auf 180 000 t/Jahr ausgebaut.

IV. Resümee - erfolgreiche Unternehmensstrategie oder Fehlentwicklung? Für Prof. Franz Broich, Vorstands Vorsitzender der Hüls AG von 1965-72, war der Erfolg des neuen Synthesekautschukwerkes vorprogrammiert gewesen. Er bezeichnete den gemeinschaftlichen Aufbau des Buna-Werkes rückblickend als eine „große Fehlentscheidung".109 Nach seiner Meinung hatte sich Hüls unter der Regie seines Vorgängers, Dr. Baumann, mit der Rolle als Werk der Grundstoffchemie abgefunden und damit längerfristig eine erhöhte Krisenanfälligkeit des Hülser Werkes verursacht. Was hatte Broich zu dieser Einschätzung veranlaßt? Während der Vorstands Vorsitzende Baumann im Interesse der Risikominimierung in der Phase der Ausarbeitung des Projektes Kaltkautschukfabrik seit Anfang der fünfziger Jahre für staatliche Hilfen und ein Zusammengehen mit den „großen Drei" plädiert hatte, sahen andere Vorstandsmitglieder, insbesondere Prof. Franz Broich, keine Notwendigkeit für eine Kooperation mit den I.G.-Nachfolgern. Broich favorisierte den eigenständigen Aufbau der Kaltkautschukfabrik und eine Kooperation mit einem großen internationalen Mineralölkonzern. Noch vor dem Abschluß der Entflechtung hatte Hüls eine stärkere Anlehnung an BP in Hamburg erwogen. Doch eine Mehrheit der Vorstandsmitglieder lehnte diese ambitionierte Konzeption, nach Meinung von Broich, „aus überzogener I.G.-Treue ab und erschwerte damit die Emanzipation von Hüls." 1 1 0 Dr. Bornhofen, ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied der Chemischen Werke Hüls AG, sah die Dinge weniger dramatisch. Nach seiner Meinung war das Risiko für einen Alleingang von Hüls beim Aufbau des neuen Kaltkautschukwerkes zu groß. Eine Unternehmensstrategie, die erneut auf den Vorrang der Buna-Produktion gesetzt hätte, wäre nach seiner Ansicht mit schwer kalkulierbaren Risiken verbunden gewesen. Das Unternehmen wäre in diesem Fall in eine große Abhängigkeit von den Entwicklungen auf dem Kautschukmarkt geraten. 108 Vgl. ebd., S. 122. 109 Vgl. Brief von Prof. Broich vom 27. 7. 1991, HüArch, III-2-e-5/2 (Daten zur Hüls-Geschichte). no Vgl. ebd.

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Der Übergang zur Kaltkautschukproduktion schuf besonders enge Berührungspunkte zwischen den Interessen der Firma und denen des Staates. Das Projekt konnte erst nach dem Wegfall der alliierten Beschränkungen 1951 begonnen werden, als der Korea-Krieg seinen Höhepunkt erreicht hatte. Für die Bundesregierung stellte die Sicherung der Selbstversorgung mit Synthesekautschuk ein zentrales Motiv für die Unterstützung des Aufbaus neuer Anlagen dar. Das war auch der Grund für die Einrichtung der „Preisausgleichskasse" für Kautschuk. Gleichwohl fand keine Fortsetzung der Autarkiepolitik der dreißiger Jahre statt. Der Import des Know-how im Jahr 1955, mit aktiver Unterstützung des Staates, und der folgende Rückzug des Staates aus dem Synthesekautschukprojekt markierten den Bruch mit der Unternehmens- und Wirtschaftspolitik der Vergangenheit. Hüls fand Anschluß an den Weltmarkt.

D. Zusammenfassung Der Anstoß zur Veränderung der Technologie kam für die deutschen Buna-Produzenten 1948 aus den USA. Die Meldungen über die Aufnahme der Massenproduktion von Kaltkautschuk veranlaßte sowohl die Werkleitung von Schkopau als auch den Vorstand von Hüls zur Wiederaufnahme kriegsbedingt unterbrochener Forschungsarbeiten. Beide Leitungen, dominiert von Fachleuten aus der alten I.G., verfügten über ein ausreichendes Innovationsbewußtsein. Auf dem Hintergrund des Kalten Krieges und der amerikanischen Embargo-Bestimmungen blieb für Schkopau von vornherein nur der Weg der Eigenentwicklung und damit die Fortsetzung der Autarkiepolitik. Für Hüls markierte der Beginn des Korea-Krieges einen Wendepunkt in der Firmengeschichte. Die alliierten Restriktionen fielen und der Import amerikanischer Anlagen wurde möglich. Die mehrjährige Unterbrechung der Buna-Produktion und die zwischenzeitlich erfolgte Profilierung anderer Unternehmensbereiche legten dem Hülser Vorstand eine Strategie des Innovationseinkaufs zum Zweck des Überspringens des technologischen und zeitlichen Defizits nahe. Mit staatlicher Hilfe erhielt das Werk Zugang zur modernsten amerikanischen Kaltkautschuktechnologie und konnte die eigenen FuE-Arbeiten auf die dritte Kautschukgeneration konzentrieren. Infolge der politisch bedingten Prämissen ging der FuE-Vorsprung, über den Schkopau noch Ende der vierziger Jahre gegenüber Hüls verfügte, verloren. Mit der Inbetriebnahme der neuen Kaltkautschukfabrik 1958 verfügte Hüls über einen deutlichen Vorsprung gegenüber Schkopau, der sich durch die Systemkrise in der DDR 1960/61 noch vergrößerte. Eine vergleichbare Produktion lief in Schkopau erst acht Jahre später an.

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Die Schwierigkeiten in Schkopau waren nur zum kleineren Teil dem FuE-Bereich geschuldet. Sowohl die personellen als auch finanziellen Voraussetzungen für das Vorhaben „Kaltkautschuk" waren seit Ende der vierziger Jahre vorhanden. Wesentlich erschwert wurde der Innovationsverlauf in Schkopau jedoch durch den schwerfälligen Planungsmechanismus. Ein großes Hindernis war die Bewertung der betrieblichen Leistung nach der Bruttoproduktion und die operative Steuerung des Werkes über Jahrespläne. Sowohl das vorgegebene Bewertungssystem als auch das starre Preissystem erwiesen sich als Innovationsbarrieren. 111 Das planwirtschaftliche System führte schrittweise zu einer immer stärkeren Zentralisierung von Entscheidungen, womit die Gefahr von Fehlsteuerungen wuchs. Widerstände gingen auch von der innovationsfeindlichen Eigendynamik der Administration aus. Diese schätzte bis Anfang der sechziger Jahre den bestehenden Zustand als „gar nicht so schlecht" ein und zögerte Investitionsentscheidungen mehrfach hinaus. Bis zur Umsetzung des „Kautschukumstellungsprogramms" mußten mehrere hierarchische Ebenen durchlaufen werden, traten Koordinationsprobleme und Filtereffekte auf. Neben diesen systembedingten Barrieren wirkten jedoch auch noch Elemente der Firmenphilosophie der I.G. fort, die bereits in den dreißiger/vierziger Jahren zur Unterschätzung der Leistungsfähigkeit ausländischer Firmen und zu einer Vernachlässigung der Zusammenarbeit mit der Gummiindustrie geführt hatten. Ähnlich der I.G. blieb das Buna-Werk, allerdings auf einem wesentlich kleineren Territorium, der Alleinanbieter von Synthesekautschuk. Doch während die I.G. noch über das gesamtdeutsche Potential verfügt hatte und eng mit amerikanischen Firmen kooperierte, waren die Ressourcen der DDR-Chemie kleiner und der Knowhow-Transfer auf den RGW-Bereich beschränkt. Außerdem wirkte sich das Fortbestehen einer quasi monopolistischen Position und den damit verbundenen relativ statischen Umweltbedingungen nicht eben förderlich auf das Innovationsverhalten aus. Die Innovation „Kaltkautschuk" wurde durch die wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzungen des Chemieprogramms, das eigentlich ein Programm zum Nachvollzug von Innovationen bzw. zur Adaption darstellte, verzögert. Die Synthesekautschukentwicklung war kein Schwerpunkt des Chemieprogramms. Dennoch wäre es zu weit gegriffen, in den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der SEDFührung die entscheidende Innovationsbarriere zu sehen.112 In der Ära Ulbricht ist 111 Stellvertretend dazu Wolfgang Schirmer, bis 1961 Leiter der Leuna-Werke, in einem Erinnerungsbericht: „Solange die Betriebe ihre eingefahrenen Produkte absetzen konnten, bestand bei den Leitungen eine ausgesprochene Innovationsfeindlichkeit. Auch als ein Planteil eingeführt wurde, der eine gewisse Erneuerung der Produktion pro Jahr vorschrieb, änderte sich wenig. Man erfand sehr bald genügend Tricks, gefälschte Daten eingeschlossen, um die Erfüllung dieses Plans erfolgreich zu dokumentieren." (Das unveröff. Manuskript, Berlin 1993, wurde dem Autor von Prof. Schirmer dankenswerterweise zur Verfügung gestellt). 112 Für den Werkzeugmaschinenbau legt Roesler eine solche Schlußfogerung nahe. Vgl. Roesler, S. 283.

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die Bedeutung technischer Innovationen keineswegs verkannt worden. Im Falle einer stärkeren Beachtung des Kautschuks im Chemieprogramm hätte die Kaltkautschukproduktion unter Umständen 1 bis 2 Jahre eher aufgenommen werden können. Doch auch in diesem Fall wäre Schkopau gegenüber Hüls um ca. 5 Jahre und gegenüber amerikanischen Herstellern um ca. 10 Jahre zurückgeblieben. Das entscheidende Hindernis für die Innovation „Kaltkautschuk" bestand für Schkopau in der Abschottung vom internationalen Technologietransfer. Während alle großen Chemieunternehmen in der Bundesrepublik über eine Zusammenarbeit mit amerikanischen und britischen Firmen in den fünfziger Jahren den Anschluß wiederherstellten, blieb Schkopau notgedrungen isoliert und mußte zudem das eigene Produktionsprofil in die Breite entwickeln (Drang zur autonomen Größe). In der marktwirtschaftlichen verfaßten Bundesrepublik gelang es den Chemischen Werken Hüls, mit staatlicher Hilfe den Übergang vom Warm- zum Kaltkautschuk zu beschleunigen. Allerdings beschränkte sich der Staat vornehmlich auf die Unterstützung beim Technologietransfer und eine zeitlich begrenzte „Anschubförderung" der Synthesekautschukproduktion. Während die technologiepolitische Strategie von Schkopau letztlich von den Vorgaben der Planungszentralen abhängig war und damit einen Teil ihrer Wirksamkeit verlor, befand sich Hüls nicht in Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen, stand wohl aber in einem komplizierten Beziehungsgeflecht zu den „Großen Drei", in dem sich bis zu einem gewissen Grade die Verhältnisse der Vorkriegszeit widerspiegelten. Von einer eigenständigen Unternehmensstrategie bei Hüls kann daher nur unter Vorbehalten gesprochen werden. Ob Hüls mit dem Verzicht auf den eigenständigen Aufbau des Kaltkautschukwerkes eine große Chance vertan (Broich), oder eine unumgängliche Strategie der Risikominimierung (Baumann) gewählt hatte, bleibt strittig. In den fünfziger Jahren stand für Schkopau ein Technologieimport nicht zur Debatte. Die Kaltkautschuktechnologie hätte nur von amerikanischen Firmen erworben werden können, doch das Verfahren unterlag den Cocom-Bestimmungen und wurde nicht in Ostblockstaaten verkauft. Erst Anfang der sechziger Jahren wurde das Technologieembargo für Kaltkautschukanlagen gelockert, woraufhin die UdSSR und Rumänien amerikanische Anlagen erwarben. Auch die Betriebsdirektoren der chemischen Industrie der DDR drängten den Partei- und Planungsapparat zum Technologieimport. Dieser erfolgte jedoch nur partiell und oft mit erheblicher Zeitverzögerung. Von einem bewußten „Technologieverzicht" kann nicht gesprochen werden, wohl aber von der Unfähigkeit des planwirtschaftlichen Systems auf veränderte Weltmarktbedingungen rasch zu reagieren. So lange als möglich wurde an binnenorientierten, das Bestehende sichernden Lösungen festgehalten.

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Literatur Esser, Raimund, Diversifikation der Hüls AG im Spiegelbild wirtschaftlicher, politischer und unternehmensstrategischer Interessen von der Gründung im Jahr 1938 bis 1960, Magisterarbeit, Ms. Bochum 1991. Grone, Heinz, Der Weg nach Hüls. Es begann mit Buna, Hüls 1988. Hayes, Peter, Industry and Ideology. I.G. Farben in the Nazi Era, Cambridge 1988. Kränzlein, Paul, Chemie im Revier. Hüls, Düsseldorf 1980. Morris, Peter, The Development of Acetylene Chemistry and Synthetic Rubber by the I.G. Farbenindustrie AG 1926-1945, Diss. Oxford 1982. - Transatlantic Transfer of Buna S Synthetic Rubber Technology 1932-45, in: Jeremy, David, The Transfer of International Technology. Europa, Japan and the USA in the Twentieth Century, Manchester 1994. Plumpe, Gottfried, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik, Politik, Berlin 1990. Stokes, Raymond G., Divide and Prosper. The Heirs of I.G. Farben under Allied Authority 1945-1951, Berkeley/Los Angeles/London 1988. - Opting for Oil. The Political Economy of Technological Change in the West German Chemical Industry, 1945-1961, Cambridge 1994. Treue, Wilhelm, Gummi in Deutschland. Die deutsche Kautschukversorgung und die Gummi-Industrie im Rahmen der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, Hannover 1995. Vernon, Herbert / Atillio, Bisco, Synthetic Rubber. A Project that hat succeed, Westport 1985.

Anhang Tabelle 1 Veränderung des Schkopauer Produktionssortiments bei ausgewählten Synthesekautschuksorten 1940-1990 (Angaben in t, Zahlen gerundet)

Jahr

Warm Buna S1 Buna S3

BunaS4

1940 1943 1944 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1989

32 400 39 000 9 800 0 0 0 0 0 0 0 0

0 0 0 5 400 15 200 23 100 27 800 0 0 0 0

0 28 700 35 300 59 000 55 200 39 000 7000 4 500 1900 1 300 200

Kalt BunaS4T 0 0 0 330 460 1 200 0 0 0 0 0

SB

Neopren Buna Ν

0 0 0 0 0 900 1400 43 800 42 000 30 000 27 600

Quelle: BunaWA, SK-Produktion aufgeschlüsselt nach Typen, ohne Sign.

0 0 0 800 1600 2 200 7 200 8 600 9 700 12 000 11000

Entscheidungsspielräume in der Synthesekautschukindustrie Tabelle 2 Buna-Anteil am Gesamtumsatz des Schkopauer Werkes 1947-53 (Umsatz in Mio. R M / DM-Ost) Jahr

Umsatz

davon Buna

Buna-Anteil in %

1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953

242,4 283,2 332,9 375,5 437,1 457,4 487,4

156,5 160,8 120,0 148,3 179,7 202,7 223,5

64,5% 56,8 % 36,0 % 39,5 % 41,1 % 44,3% 45,9 %

Quelle: BunaWA, Rep II/1/227, 288, eigene Berechnungen.

Tabelle 3 Buna-Anteil am Gesamtumsatz von Hüls (Umsatz in Mio. R M / DM) Jahr

Umsatz

1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953

88,6 132,8 135,8 161,1 42,3 128,1 105,3 114,9 101,9 150,1 251,5 258,1 315,1

davon Buna 55,8 84,8 79,2 92,0 29,0 63,7 34,1 20,6 0 0 0 20,6 18,9

Quelle: Lfd. Geschäftsberichte der Hüls AG.

Anteil in % 63% 64% 58% 57% 69% 50% 32% 18% 0 0 0 8% 6%

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108

Tabelle 4 Entwicklung der Produktdiversifikation von Hüls 1951-1961 (Angaben in % vom Gesamtumsatz) Erzeugnisgruppe

1943

1949

1951

1953

1957

1960

Buna Kunststoffe, Weichmacher sonst. Organika Lösungsm., Kunstharze Waschrohstoffe Ethylenoxid, Derivate Chlorkohlenwasserstoffe Textilhilfsmittel sonst. Anorganika technische Gase Sprit Vorprd. für Fasern

58,0 0 9,0 11,0 0 11,0 0 0 10,0 1,0 0 0

0 18,0 19,0 20,0 19,0 6,0 0 0 9,0 8,0 0 0

0 16,5 19,3 29,3 8,9 6,2 2,7 1,5 6,6 7,1 1,5 0,4

6,2 20,0 21,1 15,9 8,8 4,9 3,2 1,2 5,8 5,4 1,9 0,7

4,8 25,3 16,9 15,4 7,9 6,0 3,7 0,9 4,7 4,5 0,4 0,4

0,8 33,4 20,4 14,1 9,7 5,6 4,5 1,2 3,2 4,3 0,2 0,8

Quelle: Jahresberichte 1943-61, HüArch.

Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie beider deutscher Staaten Ein Beitrag zur Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen 1 Von Harm G. Schröter

A. Methodische Vorüberlegungen Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist es eine Hauptaufgabe der Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die Leistungsdifferenzen zwischen den beiden Volkswirtschaften zu erklären. Jetzt, wo die Archive der ehemaligen DDR offenstehen, ist es möglich geworden, Aussagen zu machen, die durch die Tiefe des Archivmaterials abgesichert sind. Alle Vergleiche der Wirtschaft beider deutscher Staaten sehen sich der Schwierigkeit gegenübergestellt, daß sie zwei grundsätzlich verschiedene Systeme miteinander in Bezug setzen. Dafür steht bisher keine tragfähige Theorie zur Verfügung. Deshalb steht hier die Empirie als Ausgangspunkt im Vordergrund. Der Systemunterschied macht es jedoch selbst für die empirische Komparatistik nicht leicht, Vergleichbares heranzuziehen, weil ähnliche Erscheinungen nur allzuoft auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen. Allen Wirtschaftssystemen gemeinsam ist, daß sie vor der Aufgabe stehen, die Ressourcen zu lenken. Ein Bereich, der vergleichbar ist, sind Reaktions- und Verhaltensweisen der Entscheidungsträger, d. h. die Lenkung der beschränkt vorhandenen Ressourcen. Hierfür sind Informationsgewinnung und -Verarbeitung, Motivation zur Leistung und nicht zuletzt die Zielsetzung des Systems selbst entscheidend. Jedes von Menschen geschaffene System ist direkt von seiner Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, abhängig. Wenn Gründe für die eklatanten ökonomischen Leistungsunterschiede beider Staaten aufzudecken sind, dürfte sich dafür ein Ver1 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat diese Studie im Rahmen des Projekts „Innovationen und struktureller Wandel - das Beispiel der chemischen Industrie der Bundesrepublik und der DDR 1949-1990" gefördert, wofür ich mich an dieser Stelle bedanke. Prof. Dr. Brezinski, Dr. Peter Grabley, Dr. Rainer Karisch, Wolfram Krause, Dr. Lothar Meinzer, Prof. Dr. Wolfgang Schirmer, Prof. Dr. Slaby, Prof. Dr. Reinhard Spree, Dr. Hans Studt und Prof. Dr. Fritz Welsch haben sich der Mühe unterzogen, das Manuskript zu lesen und z.T. umfangreich zu kommentieren, wofür ich ihnen hiermit herzlich danke. Für alle Irrtümer ist natürlich weiterhin der Autor verantwortlich.

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Harm G. Schröter

gleich von Krisenreaktionen besonders eignen. Methodisch ist es natürlich besonders sinnvoll, jene Reaktionen zu vergleichen, die von denselben Ursachen ausgelöst wurden. Damit stehen weniger interne Krisen, wie ζ. B. Versorgungsengpässe in der DDR oder Konjunkturschwankungen in Westeuropa im Vordergrund, sondern die von externen Faktoren ausgelösten Krisen. Sie verursachten auf beide Staaten einen Effekt. An externen Anstößen bieten sich vor allem die beiden Erdölkrisen 1973/74 und 1979/80 an. Die chemische Industrie wurde als Vergleichsbasis gewählt, weil sie sich im Gegensatz zur Energiewirtschaft den entstehenden Problemen auf mehreren Ebenen stellen mußte. Weil die chemische Industrie Öl sowohl als Rohstoff als auch als Energieträger einsetzt, sind gerade hier interessante Aussagen nicht nur zur Chemie-, sondern auch zur Energie- und Raffineriewirtschaft zu erwarten. Gefragt wird: Welche Entscheidungen haben die beiden Krisen ausgelöst, welche Varianten wurden vorbereitet, welche davon gewählt und welche Entscheidungen sind dann auch realisiert worden? Dabei sind auch die Reaktions- und Realisationsfristen zu beachten. Entscheidungen fallen nicht anonym, deshalb werden auch die korporativen Akteure und ihre Motive berücksichtigt. Beim Vergleich der beiden Wirtschaftssysteme treten immer wieder Definitionsprobleme auf. 2 Dagegen ist der Vergleich von Krisenreaktionen weniger quantitativ-statistisch, sondern stärker qualitativ angelegt. Entscheidungen fielen in der Bundesrepublik vor allem auf der Ebene des Unternehmens, in der DDR auf der des Staates. Um trotz unterschiedlicher Strukturen einen tragfähigen Vergleich zu ermöglichen, ist auf westdeutscher Seite die BASF ausgesucht worden, die auch im Mineralölsektor engagiert und in ihrer Warenpalette stark vorproduktorientiert war. Damit kam sie der Struktur der DDR-Chemie relativ nahe. Der Vergleich der Reaktionen vermag auch Hinweise auf ökonomische und z.T. politische Funktionen und Defizite in beiden Systemen zu geben. Gerade die Ölkrisen mit ihrer weit über die chemische Industrie hinausgehenden Bedeutung zeigen grundsätzlich auf, wie Entscheidungen in beiden Wirtschaftssystemen getroffen wurden. Die Untersuchung der Krisenreaktionen kann damit eine Pilotfunktion in der Erklärung wirtschaftlicher Leistungsdifferenzen beider Systeme übernehmen.

2

Beim Vergleich setzen schon auf den Ebenen Begrifflichkeit und Erhebungsstruktur Schwierigkeiten ein: In der DDR umfaßte die Statistik unter dem Stichwort chemische Industrie die stoffumwandelnde Industrie einschließlich Mineralöl- sowie Gummi- und Asbestverarbeitung, welche in der Statistik der BRD getrennt geführt werden. Auch auf anderen Ebenen treten Schwierigkeiten auf; hier sei nur an die Frage der preislichen Bewertung von Waren erinnert.

Ölkrisen und Reaktionen in der chemischen Industrie

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B. Die Entwicklung der Rohölpreise Die Rohölpreise beziehen sich auf die Notierungen des Rotterdamer Spotmarktes, auf dem freie Ölmengen kurzfristig gehandelt werden. Die vertraglich gebundenen Mengen übertreffen die freien ca. um den Faktor 10, preislich folgen sie aber den freien. Da die Spotpreise den Trend festsetzen, wurden sie unternehmerischen Entscheidungen zugrundegelegt.3 1950 betrug der Rohölpreis 1,75 $ (pro Barrel) und lag bis 1970 unter 2 $. Doch schon zu Beginn der 1970er Jahre, also vor der ersten Ölkrise, begann ein Preisanstieg. Innerhalb von zwei Jahren zog er um 27% an. Das Preisniveau stieg also schon seit geraumer Zeit, als ein Teil der in der OPEC vereinigten arabischen Staaten mit einem Öllieferboykott und Preiserhöhungen in den im Oktober 1973 begonnenen Jom Kippur-Krieg eingriff. 4 Daraufhin erfolgte eine „Ölpreisexplosion", d. h. der Spotpreis stieg bis Mitte 1974 auf das Dreifache des Voijahres. Er lag damit fast siebenmal so hoch wie 1970 (vgl. Abb. 1). Dieses Preisniveau blieb bis zum zweiten „Ölschock", dem Anstieg vom Herbst 1979, erhalten. Auch die zweite Krise hatte eine politische Komponente. Infolge des Sturzes des Schah-Regimes 1979 fiel der Iran als Öllieferant aus, wodurch die Ölpreise stiegen. Insgesamt verdreifachte die zweite Steigerung den Ölpreis erneut. Die Ölkonsumenten waren also zwei erheblichen Preisschocks ausgesetzt. Inflationsbereinigt fielen die Preissteigerungen aber weit niedriger aus. Danach verkörperte die erste Steigerung eine Verdreifachung, die zweite nur eine Verdoppelung des Preises (vgl. Abb. 1). Zwischen 1985 und 1990 lag der reale Preis sogar etwas niedriger als vor der zweiten „Ölpreisexplosion". Der Diskussion und der Reaktion wurden aber meist die Nominalpreise zugrundegelegt, zumal eine abfedernde Wirkung der $-Inflation zwar angenommen werden konnte, ihr Umfang und Verlauf aber nicht abzusehen und infolgedessen dieser Faktor kaum zu bewerten war. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ging im Westen kein Handlungsdruck mehr vom Ölpreis aus.

3 Kirchgässner, Gebhardt/Weber, Roberta, Rotterdamer Preise und Steuern als hauptsächliche Bestimmungsfaktoren der deutschen Mineralölpreise, in: Zeitschrift für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 114 (1994), S. 379-404. 4 An dem Boykott nahmen nur die arabischen Staaten und Libyen teil. Die übrigen OPECMitglieder einschließlich Iran und Irak schlossen sich ihm nicht an.

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Abb. 1 : Entwicklung der Rohölpreise auf dem Spotmarkt in US-$ 1970 - 1990

C. Die Entwicklung in der DDR-Chemie I. Die DDR und die erste Ölkrise In der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR hatten die Betriebe und selbst die Kombinate für wichtige Entscheidungen kein Mandat, sie wurden im Volkswirtschaftsplan festgelegt. Die Kombinate, der Volkswirtschaftsrat, das entsprechende Industrieministerium und die Staatliche Plankommission (SPK) nahmen auf strategische Entscheidungen in unterschiedlichem Maße Einfluß. Die größte Befugnis lag bei der SPK. Das Industrieministerium und das Kombinat waren für die Durchführung verantwortlich. Auf allen Ebenen schaltete sich jedoch die Partei ein und übernahm im Laufe der Zeit de facto die Verfügungsgewalt. 5 Besonders kraß war die Abhängigkeit an der Spitze des Systems. So entschied Günter Mittag, der seit 1962 ZK-Sekretär für Wirtschaft war, mit seinem „Büro", d. h. den ihm unterstellten Fachabteilungen des ZK, nicht nur die wesentlichen strategischen Fragen, sondern beschäftigte sich auch mit Dingen, die im Westen dem mittleren bis gehobenen Management zugeordnet waren.6 Auch der eigentlich verantwortliche Chemie5 Zum Einfluß der verschiedenen Hierarchien vgl. Lepsius, Rainer M., Handlungsräume und Rationalitätskriterien der Wirtschaftsfunktionäre in der Ära Honecker, in: Pirker, Theo/ Lepsius, Rainer M./Weinert, Rainer/Hertie, Hans-Hermann, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Köln 1995, S. 347-362. 6 So wurde er ζ. B. mit einem gesonderten Schreiben darüber informiert, daß in Bitterfeld durch einen Brand Waren im Wert von 100.000 DM-Ost vernichtet worden seien.

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minister Wyschowsky nahm die Weisungen des Büros Mittag entgegen, obwohl er formal nicht dem ZK und schon gar nicht einem einzelnen Mitglied des Politbüros, sondern dem Ministerrat unterstellt war. Die strategischen Entscheidungen in der Wirtschaft allgemein und speziell in der Erdölfrage fielen vor allem im Büro des „Wirtschaftsdiktators" 7 Mittag. Damit waren zwei entscheidende Faktoren der Entscheidungsfindung unterschiedlich gelöst: Während die Informationsgewinnung geradezu optimal war - die Wirtschaftskommission verfügte über drei Informationsnetze: die SPK, die Chemieministerien und die Partei,8 - war die Motivation aufgrund der parallelen und häufig vergeblichen Arbeit nicht die beste. Bis zum Beginn des Siebenjahresplans (1959-1965) wurden in der DDR die alten Produktionsanlagen der chemischen Industrie rekonstruiert. 1958 wurde das „Chemieprogramm" verabschiedet, in dem dieser Industriezweig als Schlüsselsektor für die volkswirtschaftliche Entwicklung des Landes vor allen anderen Branchen gezielt ausgebaut werden sollte. Das ZK diskutierte die Frage, ob dieser Ausbau wie im Westen auf Erdöl als Rohstoffbasis für chemische Prozesse oder der herkömmlichen Braunkohle durchgeführt werden sollte.9 Nennenswerte Öl- oder Gasmengen waren in der DDR trotz intensiver Suche nicht gefunden worden. 10 Da für den Import von Rohöl keine Devisen zur Verfügung gestellt wurden und die UdSSR zu diesem Zeitpunkt nur geringe Mengen Öl liefern konnte, fiel die Entscheidung dahingehend, sowohl die Kohle- als auch die Petrochemie auszubauen. Ab Mitte der 1960er Jahre war die grundsätzliche Überlegenheit der Petro- über die Carbochemie auch in der DDR allgemein anerkannt. 11 Zu dieser Zeit sagte die Sowjetunion größere Öllieferungen zu, und die DDR begann schrittweise, ihre chemische Produktion umzustellen. 1967 erklärte das Politbüro des ZK den Ausbau der Petrochemie zur Hauptaufgabe, die bis 1980 zu lösen sei. 12 Weil die vorhandenen Einrichtungen beibehalten wurden, produzierten neue petrochemische und alte Carboanlagen nebeneinander. Das Kombinat Schwedt bildete den Ausgangspunkt der Petrochemie in der DDR. Die Raffinerie basierte auf der auch in Westeuropa vorherrschenden Technologie der atmosphärischen Destillation. Sie gehörte damit zu dem relativ einfachen Typ der „Heizölraffinerie". Der Ausbau in Schwedt verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Um Mittel zu sparen, beschnitt das Politbüro des

7 Interview mit Prof. Dr. W. Schirmer, ehemals Werkdirektor von Leuna und später Leiter des Instituts für Physikalische Chemie, sowie stellvertretender Leiter des Forschungsrates, vom 30. September 1993. 8 Hinzu kam noch des Informationsnetz des Ministeriums für Staatssicherheit. 9 Protokoll der ZK-Sitzung vom 23. 4. 1958. Akten des Politbüros in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (Berlin) (im folgenden: SAPMO-BArch), ZPA, DY 30/IVA 2/2029. 10 Karisch, Rainer, Der Traum vom Öl - zu den Hintergründen der Erdölsuche in der DDR, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 80 (1993), S. 63-87. 11 In der DDR wurde der Begriff „Petrolchemie" verwendet. 12 Protokoll der ZK-Sitzung vom 3. 3. 1967. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/603/116.

8 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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ZK 1971 die geplanten Investitionen und beschloß, die Durchsatzkapazität von 8,75 auf 7,2 Mio. t Öl zu beschränken.13 Es scheint, als ob der „Ölschock" keine unmittelbare Auswirkung in der DDR gehabt hat. Die Akten des Politbüros verzeichnen keine energiepolitische Diskussion in diesem Zusammenhang;14 und auf betrieblicher Ebene waren ohnehin keine Reaktionen zu erwarten. Binnen- und Außenwirtschaft waren voneinander völlig getrennt; Preise waren kein Ausdruck des Knappheitsgrads eines Gutes. Die Krise wurde als eine kapitalistische begriffen, die der Stabilität des sozialistischen Systems nichts anhaben könne. Im Gegenteil, sie bestätigte die Überzeugung der Überlegenheit. 1974 wurden zwei Entscheidungen getroffen, die die Rohstoffversorgung der DDR-Chemie berührten. Mit den RGW-Staaten wurde das InterchimAbkommen unterzeichnet, das den Austausch chemischer Erzeugnisse und die Kooperation der Partner auf Branchenebene fördern sollte. Im selben Jahr räumte der Irak der DDR eine besonders günstige Konzession für die Erdölexploration ein. Beide Initiativen hätten die Rohstoffbilanz der DDR-Chemie erheblich verbessern können, wenn sie nicht versandet wären. 15 Auch sind weitere Versuche der Rückwärtsintegration nicht unternommen worden. Die DDR wandte sich ganz der Kooperation mit der UdSSR zu, die, auch wenn sie punktuell erfolgreich war, immer wieder durch die unterschiedlichen Interessenlagen behindert wurde. In der Tat war die DDR 1974 in der Lage, erst einmal in Ruhe abwarten zu können, ob die Ölpreise nicht wieder fallen würden. Zwar orientierten sich die Rohstoffpreise auch im RGW am Weltmarkt; sie waren jeweils für ein Planjahrfünft vertraglich festgelegt. Aber seit 1975 wurden gleitend die Weltmarktpreise der jeweils fünf vorausgegangenen Jahren zugrunde gelegt. Deshalb war der Handlungsdruck sehr viel geringer als im Westen und zugleich die Planungsmöglichkeiten günstiger. Zudem sagte die UdSSR 1975 vertraglich zu, ihre Öllieferungen in die DDR jährlich um 5% zu steigern. Auf diese Weise schien die erste Ölkrise von 1973/74 tatsächlich ein Problem der kapitalistischen Wirtschaft zu sein, das auf den RGW kaum Einfluß hatte. Infolgedessen bestätigte der IX. Parteitag der SED 1976 den weiteren Ausbau der Petrochemie auf dem bisher eingeschlagenen Weg. Schließlich betrug der (fiktive) Importpreis für die DDR bis 1976 weniger als 50% des Weltmarktpreises (vgl. Abb. 2). 1 6 Aus dieser vordergründig kurzfristig komfortablen Situation mag es zu erklären sein, daß eine Reaktion auf den Ölpreisschock erst 1978, fünf Jahre später, erfolgte. Lange Zeit erkannte das Büro Mittag keinen Handlungsbedarf. Die Akten lassen nicht erkennen, wann sich dies änderte, wahrscheinlich jedoch im Zeitraum 1976/77. Zum einen zahlte die DDR 1978 immerhin knapp 80% des Weltmarktpreises für ihre Importe (vgl. Abb. 2). Zum anderen war es inzwischen erkennbar, 13 Protokoll der ZK-Sitzung vom 18. 2. 1971. Ebd., DY 30/IVA 2/2021/502. 14 15 16

Allerdings stoppte das ZK 1973 das Zurückfahren der Braunkohlekapazitäten. So führte die Erdölexploration im Irak zu keinen nennenswerten Ölimporten von dort. Da alle Preise festgelegt wurden, hatte auch dieser Preis nur eine fiktive Höhe.

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Weltmarktpreis

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DDR-Importpreis

Abb. 2: Weltmarktpreis und DDR-Importpreis für Erdöl in US-$ Quelle: Zusendung des DIW

daß die Preise in absehbarer Zukunft nicht wieder sinken würden, und schließlich stand die Planung für den nächsten Fünfjahresplan an. Aufgrund einer Weisung Günter Mittags arbeitete die Wirtschaftskommission des ZK 1978 Pläne für eine grundsätzliche Umstrukturierung der chemischen Industrie aus, die am 7. Februar 1978 vom Politbüro bestätigt wurden. 17 Formal galt diese Planung „für die weitere Durchführung der Beschlüsse des IX. Parteitags in der chemischen Industrie". 18 Tatsächlich hatte diese Vorlage mit den Richtlinien des IX. Parteitages nur noch wenig zu tun. Das Politbüro orientierte auf einen umfassenden Wechsel der energetischen und z.T. auch der rohstofflichen Basis der chemischen Industrie. Dieser Wechsel umfaßte kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven. Der Planungshorizont reichte bis 1990 und wurde folgendermaßen begründet: „Aufgrund der in der chemischen Industrie vorhandenen Reproduktionszyklen von 8-10 Jahren beeinflussen alle grundlegenden Festlegungen den Zeitraum mehrerer Fünfjahrpläne. Deshalb ist es jetzt notwendig, für einen Teil der Objekte mit besonders langer Vorbereitungszeit den Beginn der wissenschaftlichtechnischen und ökonomischen Vorbereitung zu entscheiden."19 Obwohl ausdrück17 „Vorschläge für die weitere Durchführung der Beschlüsse des IX. Parteitags in der chemischen Industrie", Anlage zum Protokoll der ZK-Sitzung vom 7. 2. 1978. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1 IV 2/2/1711. „Hauptinitiator und treibende Kraft dieser Aktion war Günter Mittag." Wenzel, Siegfried, Wirtschaftsplanung in der DDR. Struktur - Funktion - Defizite (= Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung), Berlin 1992, S. 9. is Vorschläge ... SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1711. 19 Anlage 1 (der Anlage zum ZK-Protokoll), S. 2. Ebd.

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lieh auf die Fünfjahrespläne Bezug genommen wurde, spielten sie in der Durchführung der Erdölablösung nur eine untergeordnete Rolle (s.u.). Nicht nur die Vorlage erstellte das Büro Mittag, dort fiel auch die eigentliche Entscheidung, nachdem sie zuvor mit dem Volkswirtschaftsrat, der Staatlichen Plankommission und dem Chemieministerium beraten - und von diesen Organen einhellig abgelehnt - worden war. Im Politbüro wurde die Vorlage ohne große Diskussion nur noch formal „bestätigt". Ein entsprechender Parteitagsbeschluß wurde 1981, also drei Jahre nach dem Kurswechsel im Politbüro, gefaßt. 20 Für die involvierten Leitungsebenen war dieser Vorgang wieder frustrierend. Trotz ausreichender Information wurde gegen den Sachverstand entschieden. Die häufige Diskrepanz zwischen Entscheidungsvorbereitung und Ergebnis wird von allen am damaligen Wirtschaftsgeschehen maßgeblich Beteiligten als in hohem Maße verfehlt und persönlich bedrückend empfunden, so daß auf diese Weise Demotivation bis zum Groll aufgebaut wurde. Kurzfristig wurden die Kombinate angewiesen, bis 1980 den spezifischen Energieverbrauch um 3% zu senken. Die gesamte Wirtschaft war angehalten, Energie sparsam einzusetzen. Tatsächlich gelang es in den folgenden Jahren, den Primärenergieverbrauch auf der Höhe des Jahres 1979 zu halten und die Energieträger zugunsten der Braunkohle umzuschichten. Für die chemische Industrie sollte zugleich die noch vorhandene Kohlebasis für die Rohstoffproduktion erhalten bleiben: die Karbidproduktion in Schkopau und Piesteritz konnte nicht wie vorgesehen stillgelegt werden. Das Gleiche galt für die Verschwelung von Braunkohle, eine längst veraltete Technologie. Auch sie mußte weitergefahren werden, da auf ihre Produkte nicht verzichtet werden konnte. Die mittelfristigen Ziele, mit einem Planungshorizont bis zum Ende des nächsten Fünfjahrplans 1985, und die langfristigen bis 1990 lagen auf einer Linie. Einerseits wurde die „Importablösung" von Öl und Gas durch Braunkohle angestrebt. Andererseits sollten die nicht substituierbaren Öl- und Gasbezüge durch langfristige Kooperationsabkommen mit der UdSSR gesichert werden. 21 Insgesamt wurden vier strategische Ziele formuliert, die für die chemische Industrie ebenso wie für die ganze Volkswirtschaft Gültigkeit hatten: 1. Im Energieeinsatz waren Öl und Gas soweit wie möglich durch Rohbraunkohle zu ersetzen. 2. Auch der Rohstoffeinsatz in der Chemie wurde z.T. reorientiert. Beschlossen wurde nicht nur, an allen vorhandenen carbochemischen Anlagen festzuhalten, 20 Der X. Parteitag legte im April 1981 fest, daß „die chemische Industrie die Aufgabe hat, eine hohe Veredlung der zur Verfügung stehenden Rohstoffe und Materialien ... zu gewährleisten. ... Zur Erhöhung der Ausbeute hochwertiger Produkte des Erdöls ist durch die Inbetriebnahme des Spalt- und Aromatenkomplexes im VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt sowie weiterer Anlagen in Leuna und Schwedt eine höher spaltende Fahrweise durchzusetzen." Direktive des X. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1981-1985, Berlin 1981, S. 34. 21 Vgl. auch im folgenden: Vorschläge... SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1711.

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sondern die auf der Kohle aufbauende Chemie auszubauen. Auch aus Furcht vor möglichen Kürzungen der verfügbaren Ölmenge sollte die auf der Kohle basierende Karbidproduktion gesteigert werden. 22 Hierfür waren Braunkohle und vor allem aus Polen importierter Koks einzusetzen. Die Verwendung von Importkoks war nicht widersprüchlich, da dadurch weniger die Handelsbilanz zur UdSSR sondern die zu Polen belastet wurde. Noch wichtiger war das Ziel, bis 1990 für die Produktion von Synthesegas auf Kohlebasis (SNG) Investitionen in Höhe von 6-7 Mrd. DM-Ost 23 (inkl. Kohlebergbau) zu verwirklichen, die den Einsatz von jährlich 2 Mrd. Kubikmeter Importerdgas substituieren sollten. Für die gesamte Karbochemie waren 8-9 Mrd. DM-Ost Investitionen geplant, um 1990 das Ziel, den Einsatz von ca. 5,5 Mio. t Erdöl jährlich „abzulösen", zu erreichen. 3. Die noch zur Verfügung stehende Ölmenge sollte in einem höheren Maße als Rohstoff und nicht energetisch genutzt werden. Die stoffwirtschaftliche Nutzung des Erdöls lag schon 1976 bei 16,2%, während sie in der BRD nur um 10% schwankte. Bis 1985 sollte sie auf 22% erhöht werden. Für diesen Zweck waren die Raffinerien so auszubauen, daß mehr leichte Fraktionen und weniger schweres Heizöl produziert werden würde. Diese „vertiefte Spaltung" des Rohöls sollte bis 1985 jährlich 0,4-0,6 Mrd. DM-Ost für Ölimporte überflüssig machen. Hierfür waren erneut erhebliche Investitionen notwendig, allein für die Hydrospaltung in Schwedt bis 1990 1-1,2 Mrd. DM-Ost. 4. Schließlich sollten energieintensive Vorprodukte weniger in der DDR erzeugt, sondern stärker aus der UdSSR bezogen werden. Hierfür waren schon 1975 im Interchim-Abkommen Abmachungen für die Zeit ab 1983 getroffen worden. Mit einem ergänzenden Vertrag konnte die DDR den Bezug von jährlich 2 Mio. t Erdöl durch Vorprodukte substituieren. Die Anbindung an die UdSSR erwies sich zunächst als glücklich. Ihre Ölpreise waren niedrig und der Austausch von energieintensiven gegen höher veredelte Produkte sinnvoll. Das Abkommen ersparte Investitionen in Höhe von 3 Mrd. DMOst. Dem standen freilich die Forderungen nach hochveredelten Produkten (vor allem chemische und textile Hilfsmittel, Copolymere, Emulgatoren sowie Chemieanlagen) gegenüber, für die Investitionen von 4 Mrd. DM-Ost erforderlich waren24 Das vordringliche Ziel war nicht, die Wirtschaftlichkeit der chemischen Industrie zu steigern, sondern den Erdölimport auf das notwendige Minimum zu redu22 Zusendung von Dr. Grabley (Staatssekretär der SPK und im Außenhandelsministerium der DDR) vom 10. 5. 1994. 23 Valutamark sind im folgenden als solche gekennzeichnet. 24 Entscheidungsgrundlage zum Abkommen mit der UdSSR, erstellt in der Fachabteilung des ZK aus dem Bereich Mittag, am 19. 6. 1979 in unveränderter Form durch das ZK bestätigt. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1784. Eine wirtschaftliche Berechnung der Vorund Nachteile des Abkommens war der Entscheidungsgrundlage für das ZK nicht beigefügt worden. Der Forschungsrat hatte sie aber mit positivem Ergebnis ausgearbeitet. Schreiben von Prof. Schirmer vom 1. Mai 1994.

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zieren und gleichzeitig den wirtschaftlichen Kreislauf stofflich zu sichern. Die Problemlösung wurde nicht mit Hilfe offensiver und expansiver Schritte gesucht, sondern in einer das Bestehende sichernden, binnenmarkt- bzw. RGW-orientierten, defensiven Richtung. Dafür war das neue Abkommen mit der UdSSR ein geeignetes Mittel. Überdies hätten andersartige Kalkulationen möglicherweise kaum Auswirkungen gehabt, da es sich um ein politisch erwünschtes Abkommen handelte. Das umfassend formulierte Ziel, Öl als Rohstoff für die Chemie durch Kohle zu substituieren, wurde nicht erreicht. Ζ. T. wurde die bestehende Planung gar nicht umgestellt, sondern verwirklicht. 25 Natürlich blieb die Kohlechemie trotz des Einsatzes einheimischer Rohstoffe um ein Vielfaches teurer als die Petrochemie. Dies thematisiert die Entscheidungsgrundlage aus dem Büro Mittag durchaus: „Die Gewinnung petrolchemischer Produkte aus Heizöl durch die tiefere Spaltung ist auch bei erhöhten Preisen für Erdölimporte noch ökonomischer als ihre Gewinnung aus Kohle. So ist, bezogen auf die Herstellung von 1 Mill, t Flüssigprodukten, vor allem Treibstoffen und chemischen Grundprodukten, bei der Kohleverflüssigung der Primärenergieeinsatz um 420 %, der Arbeitskräfteaufwand um 330 % und der Investitionsaufwand um 300 % höher als bei der Spaltung von Heizöl." 26 Noch ein zweiter Grund, die Energieeinsparung, sprach gegen die Kohlechemie. Die Carbochemie ist von ihren Prozessen her unumgänglich energieaufwendiger als die Petrochemie. Das Ziel Energieeinsparung stand also im Gegensatz zur Orientierung auf einheimische Rohstoffe, die ZK-Entscheidung war in diesem Punkt nicht nur unwirtschaftlich, sondern auch widersprüchlich. Die Heizölablösung war jedermann bekannt, die grundsätzliche Stärkung der Kohlechemie jedoch nicht. Nicht einmal der Forschungsrat erhielt davon Kenntnis. Es darf unterstellt werden, daß diese Informationspolitik bewußt gewählt war. Auch wenn es keine unabhängigen Gremien gab, so existierten doch verschiedene Stufen des Einflusses. Der Forschungsrat hätte mit Sicherheit Einspruch erhoben, so wie er ζ. B. den Einsatz von Braunkohle bei der Herstellung von Zement bemängelte und auf die verheerenden Folgen für alle Bauwerke hinwies. 27 Die Durchführung der Heizölablösung überlagerte sich mit dem zweiten Ölpreisanstieg 1979/80. Trotzdem war das Programm, an seiner Zielsetzung gemessen, erfolgreich. Innerhalb von nur drei Jahren löste die DDR mit einem Investitionsaufwand von insg. 15 Mrd. DM-Ost jährlich 6 Mio. t Erdölprodukte aus dem 25 So wurde ζ. B. für die Düngemittelproduktion in Piesteritz, die zwischen 1975 und 1982 in Betrieb ging, weiterhin Erdgas eingesetzt. 2 6 Vorschläge..., S. 9. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1 IV 2/2/1711. Diese Darstellung war zwar richtig, jedoch auch einseitig, da sie Berechnungen für die erheblich preisgünstigere Kohlevergasung nicht einbezog. 27 Zusendung von Prof. Schirmer vom 1. Mai 1994. Der Forschungsrat hatte vergeblich gegen den Einsatz von salzhaltigem Braunkohlenstaub bei der Herstellung von Zement protestiert. Das Salz führte, wie vorhergesagt, zur Beschädigung des Betons. Die damit konstruierten Brücken, Eisenbahnschwellen usw. mußten später mit hohen Kosten ausgewechselt werden. Ebda.

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inländischen Verbrauch heraus und stellte sie dem Westexport zur Verfügung. 28 Damit wurde innerhalb kürzester Frist der Mineralölverbrauch um ein Drittel gesenkt, eine gewaltige Leistung! Das für 1990 formulierte Ziel war durch die besonderen Anstrengungen schon 1982 erreicht worden. Das gesamte Investitionsprogramm zur Sicherung von Rohstoff- und Energiezufuhr erforderte für den Zeitraum 1981 bis 1990 einen Investitionsaufwand von 2022 Mrd. DM-Ost. 29 Im vorhergehenden Jahrzehnt waren hierfür 8-10 Mrd. DMOst investiert worden. Für die chemische Industrie insgesamt waren für das Jahrzehnt von 1981 bis 1990 62-70 Mrd. DM-Ost an Investitionen veranschlagt. Es stellte sich in den kommenden Jahren heraus, daß die Pläne viel zu ehrgeizig waren und mehrfach revidiert werden mußten. Zunächst konnte jedoch im Juni 1979 ein weiterer Vertrag über die Arbeitsteilung zwischen der UdSSR und den anderen RGW-Partnern, die sich zu ähnlichen Schritten entschlossen hatten, unterzeichnet werden. Allerdings war der Umfang geringer und auch das ursprüngliche Ziel, die Energieentlastung, nicht so ausgeprägt wie vorgesehen. Die Alternative, mehr Rohöl als bisher auf dem Weltmarkt zu kaufen und dafür chemische Erzeugnisse dort abzusetzen, wurde nicht diskutiert - wenigstens gibt es dafür keine Aufzeichnungen. Die Folge einer solchen Politik wäre eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung mit dem westlichen Markt gewesen und hätte zugleich eine gewisse Abwendung vom RGW und Reorientierung zum Weltmarkt bedeutet. Angesichts der Breshnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der RGW-Staaten ist zu fragen, ob die DDR diese Option tatsächlich gehabt hat. Naturgemäß kann die Antwort nur spekulativ sein, jedoch kann der Handlungsrahmen hinreichend ausgeleuchtet werden. In Hinblick auf die feste Einbindung der DDR in den Block einerseits und die ökonomischen Erfordernisse und Potenzen der Ölwirtschaft andererseits hätte der DDR-Führung ein solcher zukunftsweisender Schritt offengestanden (s.u.). Entscheidend für die Ressourcenlenkung war die politische nicht die ökonomische Optimierung des Systems. So war es vor allem der Unbeweglichkeit der höchsten Entscheidungsträger und dem Primat der Politik anzulasten, daß sich die chemische Industrie der DDR schon durch die erste Ölpreiserhöhung zu einer teuren, unökonomischen, weil autarkistischen Ausrichtung gezwungen sah. Ihre Lage wurde dadurch weiter verschlechtert, daß die Korrekturen verspätet und daraufhin in einer Art „Hau-Ruck-Verfahren" überhastet durchgeführt wurden. Die Entscheidung, die Petrochemie trotz gestiegener Rohölkosten weiter expansiv zu betreiben, war richtig. Die mit ihr verbundene Entscheidung, die erheblich 28

Wenzel, S. 9. Innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren war, nach den Materialien zum Bericht zur Lage der Nation, die Heizölablösung sogar noch weitgehender. Der Verbrauch von Mineralöl sank von 18 Mio. 1 1978 auf 10 Mio. 1 1984. Er wurde damit innerhalb von nur sechs Jahren fast halbiert. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Deutscher Bundestag, Drucksache 11/11, S. 417. 2 9 Wenzel, S. 17.

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teurere Carbochemie beizubehalten und sogar auszubauen, war dagegen grundfalsch. Durch sie wurden viele Milliarden DM-Ost fehlinvestiert. Sie ist nur vor dem Hintergrund der Devisenknappheit der DDR, der politisch gewollten, mangelnden Investitionsquote30 und der Weigerung der UdSSR, ihre Rohöllieferungen auf Verrechnungsbasis aufzustocken, d. h. letztendlich nur vor einer politisch-ideologischen Folie, nachvollziehbar.

II. Die DDR und die zweite Ölkrise Auch auf den zweiten Ölpreisschock 1979 reagierte die DDR-Führung nicht gleich. Zwar stiegen die Importpreise für die DDR weiterhin absolut an, aber durch die Preisgleitklausel fielen sie im Vergleich zum Weltmarkt (vgl. Abb. 2). Während die DDR 1979 noch 67% des Weltmarktpreises bezahlt hatte, sank dieser Anteil 1980 und 1981 auf 59% ab. Dem standen aber vertragsgemäß Mehraufwendungen in der Zukunft gegenüber. Da die Preisentwicklung des Öls in US-Dollar bekannt war, wußte die DDR-Führung auch, daß ihre Preise in Zukunft erheblich steigen würden; schon 1982 würde eine Höhe von 75% des Weltmarktniveaus erreicht werden. Hinzu kam aber ein Unsicherheitsfaktor, der nicht ohne weiteres zu berechnen war. Die DDR bezahlte ihren Ölimport aus der UdSSR nicht in US-Dollar, sondern in Transfer-Rubel (TRbl). Die Relation dieser Kunstwährung zum Dollar schwankte jährlich nicht unerheblich; während der 1980er Jahre hatte der TRbl seinen Tiefstand 1985 mit 1,193 $ und seinen höchsten 1988 mit 1,646 $. 3 1 Mit der Relation des Dollar zum Transfer-Rubel schwankten auch die Preise, die die DDR in Relation zum Weltmarkt der UdSSR real zahlte. Diese weltmarktbezogenen Preise sind der Abbildung 2 zugrunde gelegt. In TRbl hätte die Kurve einen etwas anderen Verlauf, ihren Höhepunkt würde sie 1984 bis 1986 erreichen. Die Reaktionen, die dann 1981 erfolgten, waren nicht unmittelbar auf die Preisanhebung auf dem Weltmarkt bezogen, sondern auf Setzungen aus der UdSSR. In jenem Jahr informierte diese ohne erkennbare Vorwarnung, ohne Preisveränderung und ohne Hinweis auf entstehende Probleme, daß sie ihre Öllieferungen sogar von 19 auf 17 Mio. t pro Jahr senken würde. Aus Sicht der DDR war das eine Katastrophe, zumal die UdSSR auch ihre Getreidelieferungen eingestellt hatte und die DDR für entsprechende Käufe auf dem Weltmarkt jährlich 2,3 Mrd. Valutamark aufbringen mußte.32 Infolgedessen diskutierte das Politbüro diese Problematik mehrfach. In seinem Brief vom 27. August 1981 begründete Breshnew die Kür30 Hier: Anteil der für investive Zwecke zur Verfügung gestellten Mittel am Volkseinkommen. 31 Die Relation zwischen 1 TRbl zu US-$ wird wie folgt angegeben: 1980: 1,542; 1981: 1,387; 1982: 1,376; 1983: 1,346; 1984: 1,226; 1985: 1,193; 1986: 1,420; 1987: 1,579; 1988: 1,646; 1989: 1,587. Zusendung des DIW vom 29. 3. 1994. 32 Die DDR hatte jährlich 3-4 Mio. t Getreide aus der UdSSR bezogen. Honecker, Erich, E. Honecker zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992, S. 19.

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zung mit internen Problemen in der UdSSR.33 Möglicherweise kam aber noch ein weiterer Faktor, die Tatsache, daß die DDR heimlich einen Teil des sowjetischen Rohöls direkt auf dem Spotmarkt weiterverkaufte, hinzu. Alle von einer Zentralverwaltungswirtschaft als Vorzüge herausgestellten Planungsmöglichkeiten waren zugleich mit der vielzitierten Planungssicherheit hinfällig. Das Politbüro wandte sich am 4. September an die sowjetische Führung, mit der Bitte, ihre Entscheidung zurückzunehmen. Als das nichts half, schrieb Erich Honecker persönlich an Breshnew im gleichen Sinne: „Mit aller Offenheit müssen wir jedoch feststellen, wenn wir in den Jahren 1982 bis 1985 nur verringerte Lieferungen an Erdöl und Erdgas erhalten, dann muß dies trotz außerordentlicher Maßnahmen zur Einsparung von Brennstoffen, die wir schon längere Zeit getroffen haben, dazu führen, daß unsere Republik die Aufgaben ihrer ökonomischen Entwicklung nicht zufriedenstellend lösen kann." 34 Doch die Antwort vom 19. November 1981 war lang, deutlich und abschlägig.35 Nach Günter Mittags Aussage bedeutete der Ausfall von 2 Mio. t Rohöl den „potentiellen Ausfall von Nationaleinkommen von weit über einer Milliarde Mark." 3 6 Im Gegensatz zu 1978 zeugten die Entscheidungen von 1981 nicht mehr von der Vision einer langfristigen, perspektivischen, wenn auch eingeengten Entwicklung, sondern von der Notwendigkeit, entstandene Löcher ad hoc zu stopfen. Obwohl der Fünfjahresplan 1981-1985 schon im ersten Jahr seiner Gültigkeit Makulatur geworden war, hielt das Politbüro an ihm fest. In seinem Rückblick auf das Jahr 1982 schrieb das „Neue Deutschland" von einer kontinuierlichen und dynamischen Entwicklung der Volkswirtschaft. 37 Davon konnte jedoch keine Rede sein. Selbst Erich Honecker sprach im Dezember 1982 von „Rhythmusstörungen" bei der Versorgung der Bevölkerung. 38 Die Reaktion auf die Ölverteuerung von 1981 hatte ganz den Charakter eines Ziehens der Notbremse. Es ist fraglich, ob die für 1990/ 91 vorausberechnete Zahlungsunfähigkeit der DDR ohne die beiden DM-Milliardenkredite von 1983 und 1984 in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nicht tatsächlich eingetreten wäre. 39 Dieser Eindruck wurde später von Siegfried Wenzel, dem Stellvertretenden Vorsitzenden der SPK, unterstrichen: „Nachdem sich 1979/80 33 SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1908. 34 Ebd. /1912. 35 Ebd. /1918. 36 Mittag, Günter, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin/Weimar 1991, S. 275. 37 Neues Deutschland, 15./16. 1. 1983. 38 Honecker, Erich, Reden und Aufsätze, Band 9, Berlin 1985, S. 126. 39 „Es wäre besser gewesen, wir wären früher pleite gegangen". Gespräch über den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft mit Gerhard Schürer, ehem. Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission der DDR, am 9. August 1991 in Berlin, in: Hertie, Hans-Hermann (Hg.), Vor dem Bankrott. Dokumente des Politbüros des ZK der SED aus dem Jahre 1988 zum Scheitern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" (Die Schürer/Mittag Kontroverse) (= Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung Nr. 63), Berlin 1991, S. 14-33.

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der Erdölpreis auf dem gewachsenen Niveau noch einmal verdoppelte und die UdSSR ihre Lieferungen an die DDR von 19 auf 17 Mio. Tonnen Erdöl effektiv reduzierte, stand die DDR vor dem außenwirtschaftlichen Konkurs, d. h. vor der Zahlungsunfähigkeit." 40 Auch wenn diese Aussage unmittelbar aus dem Eindruck des ökonomischen und politischen Zusammenbruchs der DDR am Ende des Jahrzehnts entstand und isoliert genommen gewiß überzogen ist, bleibt sie in ihrer Tendenz doch gültig. Ein besonderes Problem ergab sich aus dem Charakter der Planwirtschaft. Die aufgrund der Ölpreiserhöhung notwendigen Investitionen waren nicht im Fünfjahrplan vorgesehen, infolgedessen standen dafür auch keinerlei Baukapazitäten zur Verfügung. Es ist als Zeichen großen wirtschaftlichen Drucks - wie auch einer gewissen politischen Entfremdung - zu sehen, daß das Politbüro im November 1981 beschloß, die notwendigen Baukapazitäten gerade von jenen Projekten abzuziehen, die für die UdSSR arbeiteten. Noch wenige Jahre zuvor wäre solche Häresie undenkbar gewesen. 1981 war die Not jedoch schon groß und die Enttäuschung über die unnachgiebige sowjetische Haltung tief. 41 Die kurzfristige Reaktion bezog sich vor allem auf die Betriebe in Espenhain und Schwedt. Die veralteten und umweltschädlichen Schwelereien in Espenhain und Deuben mußten weiter produzieren. 42 Die Anlagen wurden sogar vergrößert, um mehr Rohstoffe auf Kohlebasis erzeugen zu können.43 Die Spaltkapazitäten der Raffinerien in Schwedt und Zeitz wurden erweitert, um mehr Dieselkraftstoff auf Kosten des schweren Heizöls erzeugen zu können. Das Politbüro beschloß 1981, die Erdölverarbeitung in Leuna so weit auszubauen, daß 90% der eingesetzten Rohstoffe zu sogenannten hellen Produkten, d. h. Benzin und Dieseltreibstoff, reformiert würden. Hierbei sollten sogar die nicht weiter verwertbaren schwersten Rückstände aus anderen Standorten nach Leuna gebracht und dort eingesetzt werden. Alle westlichen Unternehmen begnügten sich mit einer weit geringeren Ausbeute an ,»hellen Produkten", weil die Kosten mit ansteigenden Prozentsätzen fast exponentiell stiegen. Dieses absolut unwirtschaftliche Ziel einer 90%igen Ausbeute wurde in der Beschlußvorlage auch noch als „Weltspitze" besonders herausgestellt. Das konnte in bezug auf die chemischen Prozesse durchaus gelten - aber ebenso auch für die Kosten. Zugleich mußte festgestellt werden, daß über die dafür einzusetzende Verfahrenstechnik „keine wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse" vorlägen. 44 Alle wichtigen Anlagen muß40 Wenzel, S. 9. Anlage Nr. 9 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros am 10. 11. 1981, S. 4. SAPMOBArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1918. 42 Wenzel, S. 4. 43 Durch die Schwelerei (Tieftemperaturverkokung) werden vor allem Alkane und Alkene erzeugt, die sich für die Petrochemie eignen. 44 Anlage Nr. 6 zum Protokoll der Sitzung des Politbüros am 27. 10. 1981, S. 12. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1IV 2/2/1916.

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ten importiert werden. Die Westimporte in Höhe von 1,4 Mrd. DM wurden mit Eigenleistungen von 1,2 Mrd. DM-Ost ergänzt. Die Anlagen zur „tiefen Spaltung" war so berechnet, daß sie 1,5 Mio. t schweres Heizöl in Dieselkraftstoff reformierten. Während der größere Teil der beschlossenen umfassenden Innovationen außerhalb der Heizölablösung nicht realisiert wurde, wurde die Anlage in Leuna gebaut. Mit Anfahren der Methanolanlage 1988/89 wurde tatsächlich die gewünschte 90%ige Spaltung erreicht. 45 Insgesamt war das Programm der „Importablösung", gemessen an den definierten Zielen, erfolgreich. Der eigene Ölverbrauch wurde nahezu halbiert, die Kosten dafür waren aber sehr hoch. Die DDR hatte schon seit geraumer Zeit Erdöl im Westen gekauft und steigerte diese Mengen in den 1980er Jahren. Weit wichtiger waren jedoch Zusatzbezüge aus der UdSSR, die mit Devisen zu bezahlen waren. 46 Worauf es der DDR ankam war, Erdölprodukte im Westen, vor allem im innerdeutschen Handel, gegen Devisen abzusetzen. Sie betrieb diese Veredlungswirtschaft in großem Maße. Auf dem Weltmarkt konkurrierte sie damit nicht nur mit Rumänien aus dem RGW und mit den westlichen Ölgesellschaften, sondern auch mit den arabischen Förderstaaten, die seit Mitte der 1970er Jahre kostengünstig arbeitende Raffinerien aufbauten. Über besondere Vorteile, wie ζ. B. überlegenes petrochemisches oder verfahrenstechnisches Wissen, eigene Versorgung etc., verfügte die DDR nicht. Auch die Arbeitskosten werden kaum niedriger gelegen haben als im Nahen Osten. Es blieb also nur die willkürlich festgelegte Relation von DM-Ost zu Westdevisen, die das Ölgeschäft für die DDR attraktiv machte. Ein solches Dumping konnte zwar kurzfristig die Kostennachteile der DDR überspielen, trug aber langfristig unausweichlich zur Unterhöhlung der Volkswirtschaft bei. Was der DDR fehlte, war die umfangreiche Weiterverarbeitung zu höherwertigen petrochemischen Produkten, die unter Rückgriff auf das vorhandene Wissen und Können auch höhere Preise auf dem Weltmarkt erzielt hätten. Der Beschluß des ZK konzentrierte aber die Investitionen einseitig auf den Mineralölsektor. Zugleich vernachlässigte er die Potenzen der chemischen Industrie mit allen ihren Möglichkeiten der Höherveredlung. Aber gerade hier, auf dem Gebiet von FuE-gesteuerten Innovationen, lagen die eigentlichen ökonomischen Entwicklungsmög45 Zusendung von Dr. Grabley vom 10. Mai 1994, deren Aussage mit dem Schreiben von Prof. Welsch vom 30. Mai 1994 übereinstimmt. Nach Auskunft S. Wenzels vom 4. 2. 1994 wurden nur 65% erreicht; wahrscheinlich hat er aber in seiner Aussage den Methanolbetrieb nicht mehr berücksichtigt. 4 6 Während die DDR-Statistik seit 1982/83 Importe von nur ca. 17 Mio. t Erdöl ausweist, sind in der sowjetischen jeweils zwischen 19 und 20 Mio t veröffentlicht. Die UdSSR hat ihre Liefermengen aber nicht nur beibehalten, sondern bis 1987 sogar noch auf 20,0 Mio. t gesteigert. Die Differenzmengen waren gegen Devisen zu kaufen. Kauf und Verkauf der daraus gewonnenen Produkte wurden über die KoKo (Kommerzielle Koordination von Dr. SchalckGolodkowski) abgewickelt. (Auskunft von Dr. Grabley vom 24. Mai 1994). Die DDR-Statistik wies nur die in Transfer-Rubel beglichene Menge aus.

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lichkeiten. Sie wurden nicht genutzt. Schlimmer noch, mit der Rückorientierung auf die Kohle entzog die DDR-Führung der eigenen chemischen Industrie Entwicklungsperspektiven, obwohl auch im ZK bekannt war, daß die Konkurrenzfähigkeit der Kohlechemie auf dem Weltmarkt preislich ausgeschlossen war. Zugleich wurden aber auch die vorhandenen petrochemischen Zweige vernachlässigt. Die chemische Industrie der DDR war in den 1980er Jahren zu einer Art „Devisenmelkkuh" der Volkswirtschaft verkommen. Die DDR-Führung hat diese Entwicklung des Industriezweiges bewußt in Kauf genommen, um die Ressourcen in anderen Sektoren, vor allem in der Mikroelektronik, zu konzentrieren. Die planmäßige Entwicklung der Branche, die durch das 1958 verabschiedete Chemieprogramm zum Kernbereich der Wirtschaft erklärt worden war und eine „Lokomotivfunktion" für alle anderen ausüben sollte, war durch das Politbüro zu Beginn der 1980er Jahre abgebrochen worden. An der chemischen Industrie zeigte sich exemplarisch, daß die DDR von der Organisation ihres Wirtschaftssystem dem ökonomischen Druck der Ölpreisschocks nicht gewachsen war.

I I I . Die Bewertung der Krisenreaktionen der DDR Wie sind die Entscheidungen aus ökonomischer Sicht zu bewerten? Gerade die beiden Ölpreiserhöhungen, die die DDR wegen ihrer Verträge mit der UdSSR erst mit Verzögerungen trafen, hätten theoretisch die beste Gelegenheit bieten sollen, die aufgrund der Planbarkeit postulierte Überlegenheit sozialistischer Wirtschaftsweise zu demonstrieren. Daß die Preissteigerungen unausweichlich - wenn auch mit Verzögerungen - gemeistert werden mußten, war allen Akteuren klar. Nicht Planung als solche war der Fehler - schließlich plante auch die BASF kurz-, mittel- und langfristig. Die Defizite, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Chemie langfristig entscheidend untergruben, lagen vor allem in den politischen Voraussetzungen. Die Ressourcenlenkung erfolgte in erster Linie nach politischen Gesichtspunkten. Im Gegensatz zu nachgeordneten Instanzen berücksichtigten die Entscheidungsträger im ZK alternative Varianten kaum. Damit eröffneten sie nicht verschiedene Optionen, sondern bestimmten eine. Zudem wählten sie diese Variante in einer voluntaristischen Weise gegen Rat und Protest der Experten nachgeordneter Führungsebenen. Dieses Ignorieren der Realitäten erinnert an das Schlagwort, Günter Mittag litte an einer „Wirklichkeitsallergie". 47 Überdies zögerten sie in den 1970er Jahren die notwendigen Entscheidungen erst hinaus, um sie dann zu überstürzen. Die Reaktionen sind in ihrer Systembedingtheit zu bewerten. „Das Planungssystem basierte sowohl theoretisch als auch in seinem Mechanismus und Handwerkszeug in erster Linie auf der Bilanzierung materieller Proportionen, auf Stoffflüssen. Wertgrößen, Selbstkosten, selbst Preise waren dem untergeordnete, abgeleitete 47

So u. a. Prof. Schirmer in seinem Interview am 30. September 1993.

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Größen." 48 Die Funktion des Preises als Informationsträger für den Knappheitsgrad von Gütern war ausgeschaltet. Die DDR-Chemie litt an einer strukturellen FuE-Schwäche, weniger in der Grundlagenforschung als bei deren Umsetzung mit Hilfe von Verfahrenstechnik und Anlagenbau. Die absolute Höhe der Investitionen war auf diesem Gebiet ständig zu gering. Aber auch auf den Umsatz bezogen pendelten die FuE-Aufwendungen nur zwischen 30 und 40% des Anteils in der westlichen Chemiewirtschaft. Hinzu kam, daß FuE-Potential durch DDR-spezifische Entwicklungen gebunden wurde, deren Ergebnisse im Ausland nicht verwertbar waren. 49 Schließlich wurde das vorhandene Potential auf eine Vielzahl verschiedener Projekte aufgesplittert. Infolgedessen konnte die DDR-Chemie nur wenige und im zeitlichen Verlauf immer weniger Spezialitäten auf den Weltmarkt anbieten. Die Umstellung von der Carbo- zur Petrochemie erfolgte, nicht zuletzt aufgrund der vorhandenen Tradition mit einem Zeitverzug von 10-15 Jahren gegenüber der Bundesrepublik. Die spätere Beibehaltung der Kohlechemie war nicht nur unter kaufmännischen und energetischen, sondern auch unter anderen, wie ζ. B. ökologischen Aspekten oder dem DDR-spezifischen Arbeitskräftemangel, geradezu absurd. Im Westen war die Entscheidung über die energetische Nutzung von Kohle oder Öl auch in den 1970er und 1980er Jahren trotz Preiserhöhungen weiterhin zugunsten von Öl und Gas gefallen. Die Orientierung auf die teure Carbochemie, zwecks Ausnutzung einheimischer Rohstoffe, stand im Widerspruch zu den Zielen, Energie, Investitionsmittel und Arbeitskraft einzusparen. Das Ziel Wirtschaftlichkeit war zwar vorhanden und wurde auch thematisiert, aber anderen Zielen untergeordnet. Gegen die „unsinnige Entscheidung"50 des Büros Mittag, die zukünftige Innovationen hemmte, z.T. gar ausschloß, und damit einer Vorwärtsentwicklung der chemischen Industrie den Weg verlegte, hatten Forschungsrat und SPK „energisch protestiert". 51 Eine Änderung der Entscheidungen erreichten sie jedoch nicht. Ein dritter Grundfehler zeigte sich in der Abschottung vom Weltmarkt. Zwar schöpfte die DDR-Chemie die im RGW-Bereich vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten weitgehend aus. Aber gerade die politisch motivierte, zunehmende Ausrichtung auf den RGW untergrub die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Chemie, je länger sie anhielt, desto mehr. Gewiß hatte die DDR nicht die Möglichkeit, sich ebenso wie ζ. B. Österreich als eine kleine offene Volkswirtschaft in den interna48

Aus: Zusendung von Dr. Grabley vom 10. Mai 1994. So ζ. B. Entwicklungen auf dem Gebiet der Carbochemie, zur Ablösung von Westimporten oder Verfahren, mit denen die Zahlung von Lizenzgebühren umgangen werden konnte. so Interview mit Prof. Schirmer am 30. 9. 1994. 49

5i Vorschläge für die weitere Durchführung der Beschlüsse des IX. Parteitags in der chemischen Industrie", vom ZK am 2. Februar 1978 bestätigt. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/1 IV 2/2/1711.

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tionalen Warenaustausch einzubringen. Doch die Orientierung auf den RGW genoß aufgrund politischer Setzungen gegenüber den ökonomischen Erfordernissen Priorität. Tendenziell war die DDR dadurch gezwungen, eine teilautarkistische Stoffwirtschaft aufzubauen, deren Eckpunkt weniger die Wirtschaftlichkeit als die Verfügbarkeit über Produkte bildete. Trotzdem war auch unter dieser Maxime der Fokus auf den RGW überzogen; gerade auf wirtschaftlichem Gebiet hätte die DDR die Möglichkeit gehabt, sich stärker dem Weltmarkt zuzuwenden: „ . . . , auf jeden Fall aber seit Anfang der sechziger Jahre stand der SED-Führung genügend Spielraum zur Verfügung, um aufkommende Probleme auf wirtschaftlichem, politischem und ideologischem Gebiet (um nur diese drei wichtigen Bereiche zu nennen) selbst zu entscheiden ... Es gibt kein Moskauer Alibi für den größeren Teil der DDR-Geschichte."52 Von besonderer Bedeutung war die Art, wie die Entwicklung der chemischen Industrie gesteuert wurde. In der DDR-Chemie waren die Akteure neben fachlichen vor allem durch politische Leistungen legitimiert. Weil die politische Dimension höher bewertet wurde als die fachliche, wurde auch die Motivation zu fachlich herausragenden Leistungen gedämpft. Das Schwergewicht verschob sich schon in den 1960er Jahren endgültig zur Politik. 1955 wurden noch alle großen Werke von Chemikern geleitet, 1970 nur noch eines.53 Im Chemieministerium waren die Leitungskader allerdings mehrheitlich Chemiker. Trotzdem war nicht zu unterbinden, daß sich bei einem Teil des Personals zunehmend eine gewisse Lethargie einstellte, die trotz aller politischen Appelle von Partei und Gewerkschaft nicht überwunden wurde. Die Verschmelzung von ökonomischer und politischer Sphäre, bei Dominanz der letzteren, wirkte am Ende fatal. 54 Die im Ministerium und auch auf betrieblicher Ebene vorhandene fachliche Kompetenz wurde der politischen Disziplin untergeordnet. 55 Was infolge der fiktiven Preisfestsetzungen als „gutes Geschäft" wirkte, wäre unter marktwirtschaftlicher Betrachtung nach Kriterien von Aufwand und Ertrag verlustreich gewesen. Somit könnten die Reaktionen auf die Ölkrisen als Illustration für den „langfristig angelegten Prozeß der Selbstzerstörung, der 1989/90 seinen Endpunkt erreichte," 56 dienen. 52

Roesler, Jörg, Der Handlungsspielraum der DDR-Führung gegenüber der UdSSR. Zu einem Schlüsselproblem des Verständnisses der DDR-Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 41 (1993), S. 293-304. Möglicherweise trägt Roeslers Einschätzung erst seit den 1970er Jahren, da die NÖS-Reformen der Ulbricht-Ära in Moskau mit Mißtrauen verfolgt wurden. 53

Zusendung von Prof. Schirmer vom 1. Mai 1994. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine PDS-nahe Studie: „Ideologische Schranken, gepaart mit weitgehendem Unverständnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge waren dafür verantwortlich, daß die SED-Spitze trotzig an den Zielstellungen des 10. Parteitages festhielt." Monika Nakath, SED und Perestroika. Reflexion osteuropäischer Reformversuche in den 80er Jahren (= hefte zur ddr-geschichte Nr. 9), Berlin 1993, S. 13. 54

55

Zusendungen von Dr. Grabley vom 10. Mai 1994 und Prof. Welsch vom 30. Mai 1994.

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D. Die Energiepolitik der Bundesregierung Im Gegensatz zur DDR konnte die Bundesrepublik ca. 10% ihres Ölbedarfs aus eigener Förderung decken. Die Bundesregierung veröffentlichte schon vor der Ölkrise am 3. Oktober 1973 ihr erstes Energieprogramm; die Problematik, die dieser Sektor barg, war also schon vorher erkannt worden, auch wenn die Überzeugung, daß die Energiepreise auch in Zukunft fallen würden, weit verbreitet war. Trotzdem entstand durch die Ölkrise zusätzlicher Handlungsbedarf, sowohl was die Liefersicherheit als auch was die preisliche Seite anging. 1972 wandte die Bundesrepublik 8 Mrd. DM für Energieimporte auf, 1978 waren es 31 und auf dem Höhepunkt 1981 75 Mrd. DM (vgl. Abb. I ) . 5 7 Im Gegensatz zur DDR-Regierung griff Bonn aber kaum direkt in das Marktgeschehen ein. Die Steuerung der Bundesregierung war grundsätzlich anders. Sie versuchte weniger zu dirigieren, als Entwicklungsalternativen anzubieten.58 So brachten verschiedene Verordnungen steuerliche Anreize für das Einsparen von Energie. Allerdings gab es auch normsetzende Eingriffe, von denen die „autofreien" Tage wohl die bekanntesten waren, die stärker politischen Charakter trugen. Ähnlich wie in der DDR erreichte der Primärenergieverbrauch 1979 seinen Höhepunkt. Ebenso setzte die Umschichtung innerhalb der Energieträger vorher ein. Die Rohölimporte sanken nach 1973 um ca. 10%, vor allem aber nach 1979 erneut um ca. ein Drittel. Insbesondere wurde ständig weniger Heizöl verbraucht. 59 Vor allem aber kümmerte sich die Bundesregierung um eine Auswahl verschiedener langfristiger Lösungwege für die Energiekrise. Dafür gab sie Studien in Auftrag, die den Bedarf der nächsten Jahrzehnte ermitteln sollten. 60 Gewiß sind diese Schätzungen Makulatur geworden, weil der Ölpreis ab 1985 real auf die Höhe von 1974/78 fiel (Abb. 1) und die Kernenergie bei weitem nicht so wuchs wie vorausberechnet. Hatte man es noch „in der ersten Hälfte der 1970er Jahre mit einem 56 Kocka, Jürgen, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem, in: ders. (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 9-26. 57 Michaelis, Hans, Die Energiewirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1990, in: Hohensee, Jens/Salewski, Michael (Hg.), Energie - Politik - Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993, S. 51-74. 58

Vgl. Czakainski, Martin, Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1980 im Kontext der außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Verflechtungen, in: Hohensee, J./Salewski, M. Energie - Politik - Geschichte, S. 17-34. 59 Die Importe von Mineralölprodukten verharrten ungefähr auf einer Höhe. Der verbreitete Eindruck, daß der erste Ölschock keinerlei Einsparungen auslöste, trifft nur auf den Kraftstoffverbrauch zu. Statistisches Jahrbuch, versch. Jg. 60 Allerdings gingen die Studien von Voraussetzungen aus, die später nicht eintrafen, insbesondere von einem ständigen Anstieg der Ölpreise. 1981 wurde in Kooperation von drei Wirtschaftsforschungsinsituten (DIW, RWI, EWI) eine gemeinsame Untersuchung vorgelegt, die den Titel trug: Der Energieverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und seine Dekkung bis zum Jahre 1995, Essen 1981. Darin wurde ein jährlicher Preisanstieg für Rohöl von 5% angenommen.

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Boom von Kernkraftwerksbestellungen zu tun", 61 so formierte sich in der zweiten Hälfte zunehmend Widerstand, so daß im folgenden Jahrzehnt die Vision, Kernkraft als die maßgebende Zukunftsenergie zu begreifen, keine ausreichende Tragfähigkeit mehr entwickeln konnte. Die Bundesregierung ließ eine Reihe von Szenarien von unabhängigen Wissenschaftlern untersuchen.62 Die aufgezeigten Handlungsoptionen waren für die Regierung wie auch für die private Wirtschaft offen. Neben den prognostischen Untersuchungen finanzierte die Regierung zusammen mit einer Reihe von energiewirtschaftlichen und chemischen Unternehmen großtechnische Anlagen, die in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre die Möglichkeiten der verschiedenen Kohleverwertungstechniken in Großversuchen austesteten und damit die technischen und kalkulatorischen Grundlagen für verschiedene Optionen demonstrierten. 63 Die Regierung folgte damit der Linie, Grundlagenforschung staatlich zu betreiben und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Auch damit verhalf sie den Entscheidungsträgern zu der notwendigen Planungssicherheit.

E. Die Entwicklung der BASF I. Die BASF und die erste Ölkrise Für die Tragweite unseres Vergleiches ist zu unterstreichen, daß die im folgenden beschriebene Entwicklungsstrategie der BASF, die relativ einfachen und die Massenprodukte durch forschungsintensive Spezialitäten zu ersetzen, tendenziell auch von der gesamten Branche der chemischen Industrie in der Bundesrepublik durchgefühlt wurde. Die BASF steht also in der folgenden Untersuchung für die chemische Industrie insgesamt. Das gilt auch für ihre Informationsgewinnung aufgrund des Preismechanismus, für ihr System der Leistungsmotivation und ihre Entscheidungsstrukturen. Die Akteure der BASF waren in Rahmenentscheidungen der Bundesregierung eingebunden, die Spielräume teils, wie ζ. B. in der Grundlagenforschung, erweiterte, teils eingengte, wie ζ. B. in der Atomenergie. Zwar wurden die Grenzen dieser Spielräume politisch gesetzt, aber nicht inflexibel, denn auf die Setzungen hatten verschiedene gesellschaftliche Kräfte einwirken können. Umgekehrt waren auch für die Entscheidungen innerhalb der Spielräume gesellschaftli61 Barthelt, Klaus/Montanus, Klaus, Die Entwicklung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland bis Mitte der siebziger Jahre, in: Hohensee/Salewski (Hg.), S. 89-98. 62 Z.B. ging die o.g. Studie von drei verschiedenen Ansätzen aus. 63 Insgesamt waren zwischen 1971 und 1987 62 unterschiedliche Verfahren technisch erprobt worden. Davon finanzierten die beteiligten Unternehmen jeweils ca. 25%. Die Aufwendungen betrugen zwischen 200 000 DM und 150 Mio. DM. Übersicht in: VCI (Hg.), Rohstoffsicherung durch Kohleveredlung, in: Chemie und Fortschritt, Nr. 1 (1981), S. 53-60.

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che Entwicklungen zu beachten. Das Entscheidende war, daß das System verschiedene Akteure interdependent agieren ließ. Auch ein zweiter systembedingter Unterschied ist einleitend zu benennen. Im Gegensatz zur DDR war die Auswahl der Akteure in der westdeutschen Chemie in erster Linie durch deren ökonomische Erfolge gesteuert, was einen unmittelbaren Leistungsanreiz verursachte. Den Übergang von der Kohle- zur Petrochemie vollzog die BASF zwischen 1955 und 1965. Zugleich etablierte sie sich als größter Hersteller von Standardkunststoffen in Europa. Zu ihrem alten Kohlebesitz hatte sie die Wintershall AG erworben, die neben Raffinerien auch die Förderung von Erdöl- und Erdgas betrieb. Dahinter stand aber weniger eine Strategie zur Rückwärtsintegration als die Erschließung eines neuen Arbeitsgebietes. 64 Aufgrund des Bundesgesetzes zur Notbevorratung mit Erdöl und Gas von 1972 lagerte die BASF große Mengen Rohöl in Salzkavernen. Die Entscheidungen innerhalb der BASF fielen im Vorstand, der sie nach außen hin gemeinschaftlich vertrat. Obwohl rechtlich selbständig, führte die BASF Wintershall als integralen Bestandteil des Unternehmens, dessen Aktivitäten an die Muttergesellschaft angepaßt wurden. In den Geschäftsberichten der BASF wurde der jeweilige Abschnitt über Rohstoffe (d. h. vor allem Wintershall) in gleicher Weise dargestellt wie die direkte Tätigkeit ζ. B. in der Kunststoffherstellung. Die Grundsatzentscheidungen für Wintershall fielen also auf Vorstandsebene der BASF. Der Erdölpreisschock und der Lieferboykott von 1973 brachten die westliche Chemie nicht etwa zum Stillstand. Im Gegenteil, sie lösten einen bis dahin ungekannten Boom aus, der weniger auf fundamentalen Tendenzen als auf einem kurzfristigen Hortungskreislauf basierte. Auf die Rekordnachfrage folgte jedoch 1975 eine entsprechende Rekordrezession. Obwohl der Ölpreisschock eine Umsatz- und Gewinnexplosion bewirkte, die die BASF wie alle anderen Chemieunternehmen in eine komfortable Lage versetzten, wurde er als Krisenfaktor wahrgenommen. Kurzfristig substituierte die BASF Öl durch Kohle aus der eigenen Zeche. Die als Rohstoff einzusetzenden Fraktionen des Erdöls waren vom Preisanstieg sehr unterschiedlich betroffen. Die stärksten Preissteigerungen erzielte Naphta, jene leichte Fraktion, die in der chemischen Industrie als Rohstoff verwendet wurde. Als Reaktion setzte die BASF, wo es ging, andere Fraktionen ein. Sie war dazu in der Lage, weil sie sich schon vor Beginn der Ölkrise auf eine tendenzielle Verknappung von Rohstoffen eingestellt hatte.65 Das Informationsnetz des Unternehmens hatte also frühzeitig zukünftige Preisbewegungen erkannt und die Entscheidungsträger zu Denkanstößen und ersten Schritten veranlaßt. 64 Pallas, Hans-Lothar, Öl und Gas - ein neues Arbeitsgebiet in der BASF-Gruppe. Informationsveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 16. 12. 1970. BASF-Archiv ohne Nr. 65 Timm, Bernhard, Zur Aktuellen Situation. Informationsveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 9. 7. 1973, S. 4. Archiv der BASF, ohne Nummer.

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Mittelfristig leitete der Vorstand verschiedene Entwicklungen ein. An erster Stelle ist die Orientierung auf Spezialprodukte zu nennen, die die Standardkunststoffe ergänzen sollten. Während andere Unternehmen ihre Kunststoffkapazität in den 1970er Jahren verdoppelten, erweiterte die BASF ihre Anlagen nur um die Hälfte. 66 Daneben initiierte der Vorstand ein Energiesparprogramm, das vor allem überschüssige Prozeß- und Abwärme nutzen sollte. 67 Die BASF-Tochter Wintershall, in der die Energieinteressen des Konzerns zusammengeführt waren, beschloß für ihre Raffinerien qualitätssteigernde Investitionen. Mit deren Hilfe konnte gleichzeitig preisgünstigeres weil stark schwefelhaltiges Erdöl eingesetzt werden. In der Raffinerie Emsland zog sie den ohnehin beschlossenen Bau eines Hydrocrackers, mit dessen Hilfe der Anteil der begehrten leichten Fraktionen des Erdöls auf Kosten der schweren erheblich ausgeweitet werden konnte, zeitlich vor. Die Raffinerie erreichte so schon 1978 einen Anteil von über 70% an leichten Fraktionen. 68 Ebenso wurde der Ausbau der amerikanischen Tochterfirma Wyandotte Corp. forciert. Er war wegen des großen Marktes ohnehin vorgesehen, wurde aber beschleunigt, als sich in der Krise herausstellte, daß die Ölversorgung von Unternehmen in den USA sehr viel stabiler und billiger als die in Europa war. Langfristig beschloß der Vorstand, Suche, Förderung und Raffination von Erdöl und Gas auszuweiten, um den Eigenanteil an den einzusetzenden Roh- und Brennstoffen zu erhöhen. 1980 konnte die Selbstversorgung des Ludwigshafener Werks mit Naphta durch die eigene Raffinerie in Mannheim auf 50% gesteigert werden. Bei den notwendigen Zukäufen erfolgte aus preislichen Gründen z.T. eine Verlagerung in die Ölförderstaaten, die nach dem Bau großer Raffinerien günstige Angebote machten.69 In ihrer Strategie zielte die BASF vor allem auf Versorgungssicherheit und Verbundproduktion. Preisvorteile ergaben sich nicht, weil Wintershall der BASF für ihre Lieferungen grundsätzlich Marktpreise berechnete. Gerade bei den Kunststoffen spielte der Ölpreis eine entscheidende Rolle. Mitte der 1970er Jahre entfielen bei der BASF drei Viertel der Kosten in der Kunststofferzeugung auf Rohstoffe und Energie, während ihr Anteil ζ. B. in der Farbstoffproduktion unter 40% lag. 70 Da die Energiekosten in der chemischen Industrie grund66 BASF Information vom 16. 3. 1978. 67 1975 bezog das Ludwigshafener Werk 30% der benötigten Energie aus der Rückgewinnung von Abwärme, 30% aus Kohle und 40% aus schwerem Heizöl. Bericht über das Geschäftsjahr 1975, S. 8. Daß auch andere Unternehmen Energie sparten, zeigt der von 0,916 (1972) auf 0,727 (1987) sinkende Verbrauch pro Produkteinheit. Chemische Industrie Jg. 31, 8/79, S. 505. 68 Fraktionen Diesel/Heizöl-EL bis Gas. Günther Goertz, Neuere Hydrocracker in Lingen, in: Die BASF Nr. 04, S. 34-44; Bericht über das Geschäftsjahr 1978. ΰ

ν Wüstefeld, Heinz, Die Rohstoffversorgung der BASF-Gruppe heute. Informationsveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 19. Juni 1980, S. 5. BASFArchiv ohne Nr. Wüstefeld war Vorstandvorsitzender der Wintershall AG. 70 Timm, Bernhard/Seefelder, Matthias, Auswege aus der Ölkrise, in: Kunststoff-Berater, Nr. 1, 1974, S. 38-40.

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sätzlich bedeutend sind, versuchte die BASF, eine Baugenehmigung für einen Atomreaktor zu erlangen, der das Ludwigshafener Werk mit Energie versorgen sollte. Der Antrag für eine 780 MW-Anlage war schon Ende der 1960er Jahre eingereicht worden. Jetzt, nach Ausbruch der Ölkrise, drängte der Vorstandsvorsitzende Timm auf die Genehmigung.71 Die Bearbeitung des Bauantrags zog sich indessen hin, zumal neue technische Auflagen erfolgten, die erhebliche Änderungen erforderlich machten. Da das Kraftwerk im Zentrum des Ludwigshafener Werks geplant war, verlangte die Behörde, es gegen große chemische Explosionen, wie sie das Werk schon zweimal erlebt hatte, 72 zu sichern. Zudem verfügte Bundesforschungsminister Matthöfer 1974, daß vor einer Baugenehmigung die Ergebnisse eines vierjährigen Forschungsvorhabens über die Auswirkung von Störfällen abzuwarten seien.73 Zwei Jahre später zog die BASF ihren Bauantrag zurück, weil er „wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll" sei. 74 Als Gründe nannte der Geschäftsbericht den inzwischen erfolgten Preisanstieg und die technischen Auflagen, nicht aber den Druck der Öffentlichkeit. Trotzdem darf man davon ausgehen, daß dies ein wichtiger Faktor war. Der Störfall in Würgassen 1972 hatte öffentliche Wirkung gezeigt. In Wyhl wurde 1975 erstmalig der Bauplatz eines Atommeilers besetzt. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erstarkte die Antiatomkraftbewegung zusehends.75 Auch die chemische Industrie wurde zunehmend hinterfragt. Eine Kombination mit der Atomwirtschaft hätte die BASF mit Gewißheit für viele Jahre in das Kreuzfeuer der Medien gerückt. Wirtschaftliche und vermutlich auch gesellschaftspolitische Überlegungen veranlaßten den BASF-Vorstand, den Bauantrag zurückzuziehen. Der Meiler wurde also keineswegs zufällig nicht gebaut. Der Verzicht war vielmehr das Ergebnis von Reibungsverlusten zwischen wirtschaftlichen, politischen und anderen gesellschaftlichen Kräften im System der Bundesrepublik. Der Vorstand der BASF war damals tief verstimmt und verwies auf einen Verlust von vielen hundert Mio. DM, die dem Unternehmen entstanden seien. Heute darf dem ehemaligen Chemie-Manager Teltschik zugestimmt werden, wenn er konstatiert, der Verzicht „hat die BASF und darüber hinaus die deutsche Chemie vor dem Schlimmsten bewahrt." 76

71

In der Wochenendausgabe des „Mannheimer Morgen" vom 24./25. November 1973 drohte er, das Ludwigshafener Werk würde ohne Atommeiler stagnieren - ein für die damals noch boomgewohnte Gesellschaft der Bundesrepublik kaum akzeptabler Gedanke. 72 1921 (500 Tote) und 1949. 73

Teltschik, Walter, Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluß in Staat und Gesellschaft, Weinheim 1992, S. 239. 74 Bericht über das Geschäftsjahr 1976, S. 24. 75 Radkau, Joachim, Fragen an die Geschichte der Kernenergie - Perspektivenwandel im Zuge der Zeit (1975-1986); in: Hohensee, J./Salewski, M. (Hg.), S. 101- 126. 76 „Der Entschluß, das Kernkraftwerk nicht zu bauen, hat die BASF und darüber hinaus die deutsche Chemie vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Brisanz, die in der Kombination »Chemie + Kernkraft' steckte, war 1976 für die breite Öffentlichkeit noch nicht voll erkenn9*

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Infolge der von der Regierung vorangetriebenen Grundlagenforschung beschränkte sich die BASF darauf, in Kooperation mit den Saarbergwerken nur eines von mehreren Verfahren zur Kohleveredlung zu erforschen. 77 Vor allem aber konzentrierte sie sich auf die nachgelagerten Stufen, insbesondere die Chemie des Kohlenmonoxyds und die Methanolumwandlung zu Olefinen. „Diese Forschung ist vor allem Katalysatorforschung und läßt sich unter Umständen viel schneller und unabhängig von der Kohleforschung technisch nutzbar machen."78 Von besonderem Interesse ist, daß die mittel- und langfristig beschriebenen Reaktionen auf die Krise kein einmaliges Ereignis der Jahre 1973/74 blieben. Die Ölpreiserhöhung wurde als eine Strukturveränderung begriffen, die bei den Innovationen der kommenden Jahre ständig in Rechnung gestellt wurde. Eine Linie war, den spezifischen Verbrauch bei der Herstellung von Produkten durch gezielte Anwendungsforschung systematisch zu senken.79 1978 erwarb Wintershall die Raffinerie Mannheim vollständig. Sie wurde in den folgenden Jahren für den Rohstoffbedarf des benachbarten BASF-Hauptwerkes in Ludwighafen umgebaut, um eine besonders weitgehende Produktionstiefe zu erreichen. 80 Ebenso beschloß der Vorstand von Wintershall noch vor der zweiten Ölpreiserhöhung 1979, die beiden Raffinerien des Unternehmens auf energiesparende Verfahren umzurüsten.

II. Die BASF und die zweite Ölkrise Trotz des erneuten Preisanstiegs sah die BASF-Führung selbst unter dem unmittelbaren Eindruck der Krise in der Carbochemie keinen Ausweg: „Die Kohle hat zu Beginn der sechziger Jahre ihre Position als Rohstoff für die chemische Industrie fast ganz verloren. Die in den letzten Jahren aufgelebte Diskussion kann nicht bar." Teltschik, Großchemie, S. 240. Diese letzte Aussage wird besonders von Radkau unterstrichen. 77 Dabei ging es um das Hydrierverfahren nach Bergius, das schon 1924 bei der BASF entwickelt worden war. Projektstudie Kohlehydrierwerk Saarbergwerke AG vom 31. 12. 1981 im Archiv der BASF. 78 Landhäußer, Otto, Die Energiesituation der BASF Aktiengesellschaft. Informationveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 4. Oktober 1978, S. 4. Landhäußer war zu diesem Zeitpunkt Leiter des Bereichs Energie und Technik der BASF in Ludwigshafen. Archiv der BASF, ohne Nummer. Diese sog. MTG-Synthese wurde aber nicht wirtschaftlich verwertet. 79 1973 hatte ein Dessertbecher für 150 Gramm Inhalt ein Gewicht von 10 Gramm. Durch die Entwicklung eines neuen Spritzgußverfahrens konnten zwei davon eingespart werden. Auch dabei blieb es nicht. 1977 wurde ein Tiefziehverfahren entwickelt, das nur noch 7 Gramm benötigte. Damit war der Becher innerhalb von vier Jahren um 30% abgemagert worden. Hubert Kindler, Kunststoffe - veredeltes Erdöl, in: Die BASF Nr. 04, 1978, S. 9. 80 Wüstefeld, Heinz, Bereich zentraler Einkauf, Informationsveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 7. Oktober 1974, S. 26. Archiv der BASF, ohne Nummer.

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darüber hinwegtäuschen, daß eine Rückeroberung der Stellung, die heute Rohöl eingenommen hat, im alten Stil technisch nicht durchführbar ist. Zumindest im Rahmen unserer mittelfristigen Planung wird die Kohlevergasung für uns noch keine wesentlichen Rohstoffmengen liefern können. Kohle bleibt für uns bis auf weiteres Energieträger." 81 Hinter dieser Stellungnahme stand eine langfristige Politik. Die BASF hatte schon in den 1960er Jahren auf Basis der Petrochemie begonnen, Linien der Verbundproduktion aufzubauen. Zielsetzung war, die chemische Seite eines Produkts vollständig im Hause abzudecken. Davon waren Vorteile auf den Gebieten der Liefersicherheit, der Kosten, des Know-hows und in der Anwendungstechnik zu erwarten. Für eine Reorientierung auf die Carbochemie hätte es eines erheblichen Preisdrucks bedurft. Aber auch nach der zweiten Ölpreiswelle waren die Kosten in der Kohlechemie immer noch weit höher als die der petrochemischen Verfahren. Gernot Winter, der Leiter des Unternehmensbereiches Kunststoffe, erklärte: „Diese Austrittsbarriere ist bei Verbundproduktionen, wie ζ. B. bei der Petrochemie, besonders hoch und erklärt zumindest einen Teil des Zögerns der Industrie bei der Bereinigung ihrer Probleme." 82 Auf den zweiten Ölpreisschock reagierte die BASF kurzfristig erneut mit erhöhtem Kohleeinsatz zur Energiegewinnung. Ebenso wurden neue Programme zur Einsparung beim Einsatz und der Rückgewinnung von Energie durchgeführt, die auf Basis des vorherigen Priesniveaus noch nicht wirtschaftlich waren. Eines der drei werkseigenen Kraftwerke wurde auf die thermische Verwertung von Abfallstoffen umgerüstet. Auch die mittel- und langfristigen Entscheidungen, die Rückwärtsintegration im Energiesektor und die Spezialitäten auszubauen, bestätigte der Vorstand. Ebenso konnte der spezifische Aufwand für eine Reihe von Produkten gesenkt werden. So gelang es ζ. B. zwischen 1978 und 1982, Sackverpackungen aus Polyethylen um fast ein Drittel abzumagern. Solch hohe Einsparung erfolgt in der Regel nicht in einem Schritt und nicht aus einer Quelle. In diesem Fall kamen verbesserte Polyethylen-Marken für Säcke und Schrumpfhauben ebenso zum Zuge wie verbesserte Absackmaschinen und ein preisgünstigerer Sacktyp.83 Dieses Beispiel zeigt die Bedeutung ständiger kleiner Verbesserungen, die nicht einzeln, sondern erst in ihrer Summe eine erhebliche Bedeutung erlangten. Die zweite Ölkrise forderte die gesamte Petrochemie noch stärker heraus als die erste. Die BASF legte drei strategische Eckwerte für ihre weitere Entwicklung fest: 1. „Know how-Vorsprung schaffen und halten", 2. „Starke Marktstellung aufbauen und verteidigen" und 3. „Rohstoff- und Grundproduktebasis absichern." 84 Auch

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Ders., Die Rohstoffversorgung der BASF-Gruppe heute, in: Information Veranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 19. Juni 1980, S. 3 (Archiv der BASF, ohne Nummer). 82 Winter, Gernot, Zehn Jahre Ölkrise. Vortrag 1983, S. 27 f. Pressemitteilung, Archiv der BASF, ohne Nummer. Dr. Winter war seit 1970 Leiter des Unternehmensbereiches Kunststoffe. S3 Ebd., S. 22.

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die zweite Ölkrise beschleunigte Investitionen, die ohnehin geplant waren, in diesem Falle den Bau eines zweiten Steamcrackers. Er repräsentierte mit einem Aufwand von 400 Mio. DM die bis dahin größte Einzelinvestition des Konzerns und damit die Bedeutung, die der Vorstand der Rohstofffrage beimaß. Als neues strategisches Element beschloß der Vorstand 1981 einen radikalen Kapazitätsabbau bei Massenkunststoffen. Sie brachten Verluste und repräsentierten inzwischen größtenteils keinen Know how-Vorsprung der BASF mehr. 85 Noch 1977 hatte sich die BASF in ihrem Geschäftsbericht kämpferisch gegeben, sie sei auf einen „sehr scharfen Wettbewerb eingestellt."86 Doch ähnlich wie in anderen Krisenreaktionen sind auch im Kapazitätsabbau Elemente der Kontinuität zu erkennen. Die BASF hatte nämlich schon 1974 damit begonnen, Kapazitäten abzubauen.87 Natürlich war dies nicht eine Reaktion auf die Krise, sondern auf strukturelle Veränderungen des Weltmarktes. Insbesondere die zweite Ölkrise ließ solche Strukturveränderungen hervortreten, so daß zwischen Reaktionen auf die Verteuerung des Ölpreises und strukturellen Erfordernissen kaum zu unterscheiden ist. Schon vor der zweiten Ölkrise waren die Massenkunststoffe aufgrund von Überkapazitäten weltweit unter Druck geraten. 1977 waren die Anlagen hierfür nur zu 60% ausgelastet, die für Spezialprodukte aber bis zu 90%. 88 Auch die Relation von Menge und Preis war ungünstig geworden. 1977 entfielen in Europa 53% der verkauften Menge auf Massenkunststoffe und 47% auf Spezialitäten; aber die Preisstruktur zeigte ein umgekehrtes Bild: Die erste Gruppe erlöste nur 38%, die zweite jedoch 62%. 89 Deshalb formulierte Vorstandsmitglied Willersinn 1978 das Ziel, das Verhältnis von Massen- zu Spezialkunststoffen von derzeit 38:62 auf 25:75 zu verändern. 90 Erneut zeigt sich, daß die BASF, obwohl der Ölschock überraschend kam, die Schritte, mit denen dieser neuen Lage zu begegnen war, schon angedacht oder sogar eingeleitet hatte. Die Gründe für dieses Verhalten lagen in der Unternehmensorganisation, die durch Informationsnetze Knappheitsveränderungen von Gütern 84

Detzer, Hans, Petrochemie in den 80er Jahren. Informationsveranstaltung für Mitarbeiter mit betrieblichen Führungsaufgaben am 14. Oktober 1981. Archiv der BASF, ohne Nummer. Dr. Detzner war 1981 Leiter des Bereichs Zentrale Planung. ss BASF, Geschäftsbericht für das Jahr 1981, S. 1. BASF, Geschäftsbericht für das Jahr 1977, S. 12. Sie reduzierte zwischen 1974 und 1981 ein Zehntel ihrer früheren Kapazität an Niederdruckpolyethylen. BASF Information, 7. Oktober 1981; Pressemitteilung. Archiv der BASF, ohne Nummer. 88 Interview mit Dr. Herbert Willersinn, Vorstandsmitglied der BASF, in: Mannheimer Morgen, 8. Februar 1978. 89 Interview mit Dr. Herbert Willersinn, Vorstandsmitglied der BASF, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Februar 1978. 87

90 Schon zu dieser Zeit wurde der Gedanke einer Stillegung von Kunststoff-Kapazitäten erwogen. Interview mit Dr. Herbert Willersinn, Vorstandsmitglied der BASF, in: Mannheimer Morgen, 8. Februar 1978.

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frühzeitig erkannte. Trotzdem stellten sich natürlich nicht alle Entscheidungen im Nachhinein als richtig heraus. Auch dafür sei ein Beispiel gegeben. Die BASF hatte sich 1967 an den Danubia Olefinwerken in Schwechat/ Österreich zu 50% beteiligt und produzierte dort insbesondere Polyethylen (NDPE). Obwohl derartige Standardkunststoffe schon in den 1970er Jahren mehrfach Verluste verursacht hatten, stockte die BASF ihren Anteil an der Danubia auf. Doch nach der zweiten Ölkrise, als der BASF-Vorstand dem Konzern einen radikalen Kapazitätsabbau verordnete, wurde die Danubia verkauft. 91 Im Rückblick war die Aktion der BASF nicht optimal; statt den Anteil an der Danubia aufzustocken, hätte er nach der ersten Krise veräußert werden sollen. Entscheidend aber war, daß der Kurs aufgrund der Umorientierung bald korrigiert wurde.

F. Zusammenfassender Vergleich der Krisenreaktionen Die Reaktionen auf die Erdölkrisen deckten exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen und in gewisser Hinsicht auch der politischen Leistungsfähigkeit der beiden Systeme auf. Um den Anforderungen zu begegnen, die die Krisen auslösten, wählten die DDR-Chemie und die BASF zum Teil ähnliche, größerenteils aber differierende Lösungswege. Ähnlichkeiten waren vor allem in den fünf folgenden Punkten festzustellen: - 1. Beide Seiten versuchten, die Ergiebigkeit des Rohstoffs Erdöl zu erhöhen, indem sie große Investitionen in Crackanlagen durchführten, mit deren Hilfe sie die Ausbeute an den gewünschten hellen Fraktionen steigern konnten. - 2. Beide Seiten unternahmen Schritte, den Bezug von petrochemischen Vorprodukten näher an die Ölquellen (UdSSR bzw. arabische Staaten) zu verlagern aufgrund mangelnder Flexibilität in jenen Staaten mit nur eingeschränktem Erfolg. - 3. Beide Seiten wurden aus politischen Gründen davon abgehalten, bei der Energieversorgung jene Lösung zu wählen, die sie für die technisch sinnvollste hielten; die BASF den Einsatz der Atomkraft, die DDR-Chemie den von Öl. - 4. Beide Seiten versuchten, den für sie zentralen Engpaß durch Kooperation mit anderen Partnern zu umgehen. Für die DDR ging es um eine Verbesserung der Arbeitsteilung im RGW. Damit sollte in erster Linie die Versorgung mit bestimmten Waren garantiert und zugleich die Produktionskosten durch Erhöhung der zu fahrenden Losgrößen gesenkt werden. Entscheidend aber war, die Verfügung über Waren zu erlangen. Deshalb suchte die DDR-Chemie ihre Kooperationspartner in der chemischen Industrie anderer RGW-Länder, also in Parallelorganisationen. Dagegen lag für die BASF der generelle Engpaß im Absatz. 9i Bericht über das Geschäftsjahr 1982, S. 20.

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Auch sie versuchte, durch Kooperation mit Partnern ζ. B. aus der Autobranche Abhilfe zu schaffen. Aber die Kooperationspartner der BASF stellten keine konkurrierenden Unternehmen, sondern Abnehmer dar. Gemeinsam war, daß sowohl bei der BASF als auch in der DDR-Chemie diese Kooperationsansätze keine entscheidende Bedeutung erlangten. - 5. Beide Seiten akzeptierten, daß in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen Verluste anfielen. Unterschiedlich war aber die Toleranz. Die Verluste der BASF im Raffineriesektor glichen sich regelmäßig aus. Bereiche, deren Rentabilität auch langfristig in Frage stand, wurden geschlossen oder abgestoßen. Die DDR dagegen akzeptierte defizitäre Bereiche grundsätzlich dann, wenn sie aus stoffwirtschaftlichen Gründen keine Alternative sah. Den Gemeinsamkeiten in den Krisenreaktionen standen Differenzen gegenüber, die Leistungsunterschiede zwischen den beiden Parallelbranchen verursachten: - 1. Die BASF handelte marktorientiert; die DDR-Chemie war in einem stoffwirtschaftlich geprägten Rahmen nicht absatz- sondern verfügungsorientiert. 92 - 2. Die BASF bezog sich bei ihren Entscheidungen nicht auf den bundesdeutschen, sondern auf den Weltmarkt. Ständig steigende Exportquoten und die Ausweitung der Direktinvestitionen bewiesen den Willen zur Expansion. Die DDRChemie arbeitete in erster Linie für den Binnenmarkt und erst in zweiter Linie für den RGW. Jeder Bezug zum Weltmarkt wurde in das Prokrustesbett staatlicher Devisenbeschaffung gepreßt. - 3. Die strategische Zielvorgabe der BASF war, im Wettbewerb jeweils einen Know-how-Vorsprung zu halten. Dem stand in der DDR-Chemie kein systematischer Anreiz zum Wissenserwerb gegenüber. - 4. Durch den Wettbewerb war die BASF zu einer permanenten Überprüfung ihrer Leistung gezwungen. Das führte zu einer ebenso ständigen Verbesserung von Technologie, Verfahren, Produktpalette usw. Dagegen blieben in der DDRChemie Anlagen, Verfahren, Produkte etc. jeweils über lange Zeit, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg, unverändert. Ebenso hielt die DDR-Führung an den Zielen ihrer Fünfjahrpläne fest, obwohl sich deren Grundlage dramatisch verändert hatte. Sie mußte sich deshalb nach der ersten Krise grundsätzlich neu orientieren. - 5. Die Reaktionen der BASF erfolgten zeitlich früher und inhaltlich flexibler. Sie leitete durch ihre ständige Anpassung an den Markt vielfach schon vor den Krisen entsprechende Schritte ein. Die Entscheidungsträger der DDR-Chemie handelten mit einem Zeitverlust. Zugleich erfolgte die Kurskorrektur geradezu brutal.

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Da es sich um keine Marktwirtschaft handelte, kann die DDR-Wirtschaft auch nicht als angebotsorientiert bezeichnet werden.

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- 6. Der BASF standen jeweils mehrere Optionen offen, von denen sie die günstigste auswählen konnte. Dagegen zeigen die Akten des Politbüros, daß für die DDR-Chemie eine Option aus politischen Gründen gewählt wurde, ohne sich die Tür für andere Möglichkeiten offenzuhalten, obwohl die entsprechenden Sachverständigen sich gegen eben diese Option ausgesprochen hatten. - 7. Das schließlich Entscheidende war die Setzung verschiedener Ziele. Oberste Maxime der DDR war die Stabilität des politischen Systems, der ökonomische Vorschläge fachlich ausgewiesener Entscheidungsträger im Zweifelsfall untergeordnet wurden. Dies führte bei immer mehr Personen zu Indifferenz, Demotivation und sogar Groll. Infolgedessen wäre das Ergebnis in seiner Tendenz auch dann nicht sehr viel anders gewesen, wenn der Hauptakteur nicht „Wirtschaftsdiktator" Mittag, sondern andere Personen gewesen wären. Dagegen orientierten sich die Akteure der BASF am langfristigen Gewinn des Unternehmens. Fachliche Leistung war auch das Ausweiskriterium für die Entscheidungsträger der BASF. Die Differenzen in den Entscheidungen der west- und ostdeutschen Chemie waren in erster Linie durch das jeweilige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche System gekennzeichnet, während Differenzen im Ausbildungs- und Kenntnisstand dahinter zurücktraten. Letztendlich waren es zwei Grundfaktoren, die die ökonomischen Leistungsdifferenzen im Laufe der Zeit zunehmend hervortreten ließen: 1. Während sich die Krisenreaktionen im Westen an der wirtschaftlichen Optimierung der Ergebnisse orientierten, war die DDR in erster Linie an einer politischen Optimierung interessiert. Die Ziele ware also verschieden. 2. Für die Bundesrepublik war eine „konsequente Ausdifferenzierung zwischen ökonomischen und sozio-politischen Teilsystemen"93 kennzeichnend. Gerade der Mangel in diesem Bereich, nämlich die Verschmelzung des politischen und des ökonomischen Sektors bei gleichzeitigem Primat politischer Setzung, war das Grundproblem der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR, an dem sie schließlich ökonomisch scheiterte.

Literatur Buchheim, Christoph, Die Wirtschaftsordnung als Barriere des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in der DDR, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 82 (1995), S. 194-210. Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen, Materialien zum Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, versch. Jge. Hohensee, Jens / Salewski, Michael (Hg.), Energie - Politik - Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945, Stuttgart 1993. 93 Kocka, S. 19.

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Innovationsverhalten und Energieversorgung. Die technologische Entwicklung im Türbinen-, Generatorenund Transformatorenbau der Bundesrepublik und der D D R 1949-1965 Von Johannes Bähr

A. Einleitung Am Ende der vierziger Jahre war die Energiewirtschaft in beiden Teilen Deutschlands ein Engpaßbereich. Die Leistungsfähigkeit der Kraftwerke war durch Kriegs- und Kriegsfolgeschäden, durch die Folgen der deutschen Teilung und durch die Investitionslücke in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgeblieben, wobei die Ausgangsbedingungen in der SBZ/DDR noch sehr viel ungünstiger waren als in Westdeutschland. In beiden Volkswirtschaften wurde die Energiewirtschaft in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren zu einem Investitionsschwerpunkt. Während in der Bundesrepublik ein Effizienzkriterium, die rasche Überwindung der Energielücke, ausschlaggebend war, hatte in der DDR die energiepolitische Autarkie oberste Priorität. Die Energiewirtschaft war seit der Jahrhundertwende als technisches System angelegt.1 Die Sicherstellung der Stromversorgung hing von der Primärenergiebasis, vom Entwicklungsstand der Verbundnetze und von der Verfügbarkeit entsprechend leistungsstarker Maschinen und Anlagen zur Energieerzeugung, Energieumformung und Energieverteilung ab. Während der Zwischenkriegszeit gehörten die AEG, die Siemens-Schuckert-Werke (SSW) und die Brown Boveri & Cie. Mannheim (BBC) in der Energietechnik zu den international führenden Unternehmen. Nach 1945 setzten sich neue, in den USA eingeführte, Verfahren durch. Nur durch diese technischen Neuerungen konnte der steil ansteigende Energiebedarf in der

1 Hughes, Thomas P, Networks of Power. Electrification in Western Society, 1880-1930, Baltimore/London 1983; Braun, Hans-Joachim, Konstruktion, Destruktion und der Ausbau technischer Systeme zwischen 1914 und 1945, in: ders./Kaiser, Walter, (Hrsg.), Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914 (= Propyläen Technikgeschichte), Berlin 1992, S. 71-87; Bohn, Thomas/Marschall, Hans-Peter, Die technische Entwicklung der Stromversorgung, in: Fischer, Wolfram (Hrsg.), Geschichte der Stromversorgung, Frankfurt/ M. 1992, S. 38-120.

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Boomphase der Nachkriegszeit gedeckt werden, der immer höhere Grenzleistungen der Kraftwerke und der Schaltgeräte erforderte. Am Beispiel des Turbinen-, Generatoren- und Transformatorenbaus wird im folgenden untersucht, wie in beiden Teilen Deutschlands auf die energietechnischen Herausforderungen der Nachkriegszeit reagiert wurde, welche innovationsfördernden und welche innovationshemmenden Faktoren die Entwicklung auf beiden Seiten bestimmten und welche Auswirkungen sich daraus für die Stromerzeugung und die Stromversorgung ergaben. Davon ausgehend sollen vergleichende Aussagen über das Innovationsverhalten getroffen werden. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR bestand die Notwendigkeit, den Anschluß an neue Verfahren zu gewinnen, die auf dem Weltmarkt bereits eingeführt waren. Im Vordergrund des Vergleichs steht die Frage nach den Faktoren, die eine Ausbreitung dieser technischer Innovationen begünstigten bzw. behinderten. Der Beitrag konzentriert sich dabei auf den Zeitraum vor der Einführung der Kernkrafttechnik. Anders als in der Bundesrepublik blieb die Stromerzeugung in der DDR während der Nachkriegsjahrzehnte hinter dem Wachstum der Industrieproduktion und damit auch hinter dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum zurück, obwohl mehr als ein Drittel aller Industrieinvestitionen in die Energie- und Brennstoffindustrie flössen.2 In der Wirtschaftsgeschichte der DDR ist dies ein besonders signifikantes und folgenschweres Beispiel für die Ineffizienz eines Investitionsschwerpunkts. Aus der vergleichenden Perspektive wird zu zeigen sein, inwieweit der Rückstand der DDR im Bereich der Energieversorgung, der zunächst durch die ungünstigere Ausgangslage nach 1945 bedingt war, durch das industrielle Innovations verhalten beeinflußt wurde. Aus den vorliegenden, in der Bundesrepublik und in der DDR erschienenen Veröffentlichungen ist lediglich bekannt, daß die Steigerung der Stromerzeugung durch die Veränderungen in der Struktur des Primärenergieaufkommens und das niedrige technische Niveau der Kraftwerksausrüstungen behindert wurde. 3 Auch für die Bundesrepublik ist der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der konventionellen Energietechnik und dem wirtschaftlichen Wachstum der fünfziger und sechziger Jahre bislang nicht systematisch untersucht worden, wie überhaupt die Technik- und Innovationsgeschichte der Bundesrepublik in der Forschung immer noch einen „strukturlosen weißen Fleck" bildet.4 Die Über2 Stinglwanger, Wolfgang, Die Energiewirtschaft der DDR. Unter Berücksichtigung internationaler Effizienzvergleiche. Als Manuskript vervielfältigt, Bonn 1985, S. 5; Baar, Lothar/ Müller, Uwe/Zschaler, Frank, Strukturveränderungen und Wachstumsschwankungen. Investitionen und Budget in der DDR 1949 bis 1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jg. 1995, T.2, S. 68 f. Roesler, Jörg, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Berlin 1978, S. 289 ff. 3 Stinglwanger, S. 4 ff.; Gleitze, Bruno, Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan, Berlin 1964, S. 121 f.; Mühlfriedel, Wolfgang/Wießner, Klaus, Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin 1989, S. 229 f. 4 Radkau, Joachim, „Wirtschaftswunder" ohne technologische Innovation? Technische Modernität in den 50er Jahren, in: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold, (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 130. Einen

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windung der Energielücke in der westdeutschen Wirtschaft zu Beginn der fünfziger Jahre wurde vor allem auf die investitionslenkenden Maßnahmen in den Jahren 1950-1952 zurückgeführt. 5 In der längerfristigen Perspektive steht die Veränderung der Primärenergiebasis im Vordergrund, die sich durch die zunehmende Umstellung auf Importöl ab Mitte der fünfziger Jahre vollzog.6

B. Die Energielücke der unmittelbaren Nachkriegszeit Im Jahr 1945 war die Stromerzeugung in allen vier Besatzungszonen unter den Stand von 1936 abgesunken. In den Westzonen wurden 74% des Stands von 1936 (= 42% des Stands von 1943) erreicht. Noch stärker war der Rückgang auf dem Gebiet der SBZ. Hier lag die Elektroenergieerzeugung 1945 bei 46% des Stands von 1936 (= 24% des Stands von 1943).7 In den Westzonen war der Rückgang der Stromerzeugung durch Kriegsschäden und durch den Zusammenbruch der Kohleversorgung bei Kriegsende bedingt. In der SBZ kamen zu diesen Ursachen noch hohe Kriegsfolgeschäden hinzu. Im Rahmen der sowjetischen Reparationspolitik wurde in der Energiewirtschaft der SBZ rund ein Drittel der installierten Maschinenleistung demontiert. 8 Durch die deutsche Teilung und den Übergang zur energiepolitischen Autarkie wurde die Energiewirtschaft in der SBZ/DDR nochmals hart getroffen. Die SBZ/ DDR wurde von einem wichtigen Teil ihrer bisherigen Energiebasis abgetrennt. Die Autarkisierung gegenüber Westdeutschland und die Übernahme des sowjetischen Wirtschaftsmodells zwangen zu einer Umrüstung der Energieerzeugungsanlagen und zu einem forcierten Ausbau der binnen wirtschaftlichen Energiebasis. Anfang der fünfziger Jahre war die DDR im Energiebereich zu 90% Selbstversorger.9 Die Energiewirtschaft wurde neben der Schwerindustrie zum wichtigsten Schwerpunkt der Investitionsplanung während des Zweijahrplans (1949/50) und Überblick über die Entwicklung der Kraftwerkstechnik geben Bohn, Th./Marschall, H.-R, Die technische Entwicklung der Stromversorgung, in: W. Fischer (Hg.). 5 Abelshauser, Werner, Korea, die Ruhr und Erhards Marktwirtschaft: Die Energiekrise von 1950/51, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 45 (1981), S. 287-316. 6 Stokes, Raymond, Opting for Oil. The political economy of technological change in the West German chemical industry, 1945-1961, Cambridge 1994. 7 Schlecht, Ralf, Elektroenergieerzeugung und -Versorgung im ersten Fünfjahrplan, in: Statistische Praxis 11. Jg. (1956), Nr. 8, S. 105. Nach Angaben von Vertretern der westdeutschen Elektrizitätswirtschaft lag die Stromerzeugung im Gebiet der späteren Bundesrepublik 1945 bei 88% des Stands von 1935. Heinrich Freiberger, Vorausschau der deutschen Elektrizitätsversorgung, in: Die Atomwirtschaft 1. Jg. (1956), Nr. 4, S. 139. 8 Harmssen, Gustav W., Am Abend der Demontage. Sechs Jahre Reparationspolitik, Bremen 1951, S. 79; Matschke, Werner, Die industrielle Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ), Berlin 1988, S. 196 ff. 9 Stinglwanger, S. 4.

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des ersten Fünfjahrplans (1951/55). 1955 lag der Anteil der Energie- und Brennstoffindustrie an den Industrieinvestitionen in der DDR bei 41,5%. Mit dem Kohleund Energieprogramm von 1957 erhöhte sich dieser Anteil dann sogar auf 47% (1958). 10 In Westdeutschland bildete die Stromerzeugung nach der Währungsreform ebenfalls einen Engpaß, obwohl hier bereits ein sehr viel höheres Niveau erreicht worden war als in der SBZ/DDR. Die Kraftwerksleistungen konnten mit der Nachfrageentwicklung nach der Währungsreform nicht Schritt halten. Das Münchner Institut für Wirtschaftsforschung bezeichnete damals den Ausbau der Kraftwerksleistungen als „die vordringliche Aufgabe der deutschen Wirtschaft". 11 Die notwendigen Investitionen mußten wegen der Eigenkapitalschwäche der Stromversorgungsunternehmen aus öffentlichen Mitteln aufgebracht werden. Aus dem Sondervermögen des Marshall-Plans (European Recovery Program - ERP) wurden gezielt Investitionsmittel in den Ausbau des Energiesektors gelenkt. Bis 1952 entfiel rund ein Viertel aller in Westdeutschland eingesetzten ERP-Investitionskredite auf die Elektrizitätswirtschaft, der größte Teil davon auf die sieben großen Verbundgesellschaften. 12 Nachdem sich der Energiemangel durch die steigende Nachfrage während des Korea-Kriegs weiter verschärft hatte, flössen nach Inkrafttreten des Investitionshilfegesetzes von Anfang 1952 rund 30% aller Engpaßinvestitionen in die Elektrizitätswirtschaft. 13 Die Energielücke war in beiden deutschen Volkswirtschaften auch durch Kapazitätsengpäße im Energiemaschinenbau und in der starkstromtechnischen Investitionsgüterindustrie bedingt, die auf Kriegsfolgeschäden, auf die deutsche Teilung und auf die Berlin-Krise von 1948/49 zurückgingen. Der Turbinen- und Generatorenbau war vor 1945 auf dem Gebiet der späteren SBZ/DDR unterrepräsentiert. Von den Erzeugnissen des deutschen Dampfturbinenbaus stammten 1943 lediglich 18% aus diesem Gebiet (einschließlich Berlin-Ost). 14 Durch die Demontagen nach Kriegsende ging im mitteldeutschen Kraftmaschinenbau ein großer Teil - nach westlichen Schätzungen bis zu 83% - der Kapazitäten verloren. 15 Die mitteldeut10

Berechnet nach Baar/Müller/Zschaler, S. 68. Zitiert nach Borchardt, Knut/Buchheim, Christoph, Marshall-Plan-Hilfe in industriellen Schlüsselsektoren: Eine ,mikroökonomische' Perspektive, in: Maier, Charles S./Bischof, Günter (Hrsg.), Deutschland und der Marshall-Plan, Baden-Baden 1992, S. 456 f. Vgl. ferner Adamsen, Heiner R., Investitionshilfe für die Ruhr. Wiederaufbau, Verbände und Soziale Marktwirtschaft 1948-1952, Wuppertal 1981, S. 95. 12 Borchardt, K./Buchheim, Ch., Marshall-Plan-Hilfe, S. 457 ff.; Baumgart, Egon R., Investitionen und ERP-Finanzierung, Berlin 1971, S. 75 ff. Speziell zu Südbaden vgl. Laufer, Rudolf, Industrie und Energiewirtschaft im Land Baden 1945-1952. Südbaden unter französischer Besatzung, Freiburg i.Br./München 1979, S. 246-271. 11

13 Adamsen, H. R., S. 230. Vgl. hierzu auch Abelshauser, W., S. 303 ff. 14 Gleitze, Bruno. Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956, S. 197. 15 Der Maschinen- und Apparatebau in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin, Bonn 1950, S. 7.

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sehen Kraftwerke waren auf Lieferungen, Wartungs- und Reparaturleistungen westlicher Turbinenhersteller, vor allem der in West-Berlin gelegenen AEG-Turbinenfabrik, angewiesen. Die AEG-Turbinenfabrik - ehemals das größte Werk dieser Art in Europa - war auch für die westdeutsche Energiewirtschaft von strategischer Bedeutung. Wie nahezu alle Großbetriebe der Elektroindustrie und des Maschinenbaus in Berlin hatte diese Fabrik unmittelbar nach Kriegsende hohe Demontageschäden erlitten. 16 Der Ausfall von Lieferungen aus der AEG-Turbinenfabrik nach der Demontage und dann wieder während der Berlin-Blockade führte in den Westzonen zu Engpässen. So waren die westdeutschen Elektrizitätswerke während der Blockade gezwungen, auch komplizierte Reparaturen selbst vorzunehmen. 17 Im Transformatorenbau hatten sich vor 1945 führende Betriebe wie die AEGTransformatorenfabrik im späteren sowjetischen Besatzungsgebiet befunden. Rund 30% aller Beschäftigten entfielen auf dieses Gebiet.18 Nach Kriegsende führten die sowjetischen Demontagen hier zu schweren Substanzverlusten. In der AEG-Transformatorenfabrik (TRO) im Ostteil Berlins waren nach den Demontagen der ersten Nachkriegsmonate nur noch 10% des früheren Bestands an Einrichtungen und Maschinen vorhanden. Sämtliche Originalzeichnungen und Berechnungsunterlagen waren entnommen worden. Zwei Drittel der technischen Spezialkräfte hatten den Betrieb verlassen. 19 Die deutsche Teilung traf den Transformatorenbau der SBZ/ DDR hart, weil die Betriebe auf qualitativ hochwertige Lieferungen aus der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie angewiesen waren. In den Westzonen zwangen die Kriegsschäden und die Abtrennung von den Transformatorenfabriken im sowjetischen Besatzungsgebiet zu einem kostenintensiven Neuaufbau. Die SSW-Transformatorenfabrik in Nürnberg hatte während des Kriegs schwere Schäden erlitten. Die AEG verlor ihre Transformatorenfertigung im Ostteil Berlins und mußte in Stuttgart neue Kapazitäten errichten. 20 Der Wiederaufbau verlief wegen des Kapitalmangels der öffentlichen Auftraggeber schleppender als in anderen Bereichen der westdeutschen Industrie. Bis zur Währungsreform wurde der größte Teil des Umsatzes mit Reparatur- und Wartungsarbeiten bestritten. Auch die Elektroindustrie bekam in Westdeutschland ERP-finanzierte Investitionskredite zur Verfügung gestellt. Mit diesen Mitteln sollten die Kapazitätsengpässe überwunden werden, die durch die deutsche Teilung und die Berlin-Blocka16 75 Jahre Turbinenfabrik, Berlin 1979, S. 35 ff. Diese Demontagen erfolgten noch vor Errichtung der Viermächteverwaltung im Juli 1945. Bis dahin stand auch der Westteil Berlins unter sowjetischer Militärverwaltung. 17 Unersetzliche Reparaturstätte Berlin, in: Der Morgen Nr. 252 vom 28. 10. 1948. 18 Böttcher, Bodo, Industrielle Strukturwandlungen im sowjetisch besetzten Gebiet Deutschlands, Berlin 1956, S. 133. 19 Vermerk betr. Produktionserhöhung des TRO. LAB (STA), Rep. 411, Nr. 289. 20 Knott, Carl, Die Nürnberger Werke, in: Die Entwicklung der Starkstromtechnik bei den Siemens-Schuckertwerken, Berlin/Erlangen 1953, S. 49 f.; Unsere AEG, Berlin/Frankfurt/ M. 1953, S. 68 f.

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de entstanden waren. Insgesamt hatten die ERP-Kredite in der Elektroindustrie und im Maschinenbau der Bundesrepublik jedoch eine erheblich geringere Bedeutung als in der Elektrizitätswirtschaft. Der Anteil der ERP-Finanzierung an den Bruttoanlageinvestitionen der westdeutschen Elektroindustrie ging schon 1951 auf 1,9% zurück. Der westdeutsche Turbinen- und Transformatorenbau profitierte von den ERP-Gegenwertmitteln eher indirekt, durch die steigende Nachfrage der öffentlichen Energie Versorgungsunternehmen. 21 In der DDR konzentrierten sich die Investitionen dagegen nicht auf die Elektrizitätsversorgung sondern auf den Energiemaschinenbau. Die Hauptverwaltung Energie der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) konnte sich mit einem Konzept, das die vorrangige Modernisierung der Kraftwerke vorsah, nicht durchsetzen.22. Stattdessen wurde der Energiemaschinenbau zu einem Investitionsschwerpunkt des Zweijahrplans erklärt. Die Direktive des ersten Fünfjahrplans sah dann vor, die Bruttoproduktion des Energiemaschinenbaus bis 1955 auf 610% des Stands von 1950 zu erhöhen. Bei der Elektroenergieerzeugung wurde für diesen Zeitraum lediglich eine Steigerung um 77% eingeplant.23 Das wichtigste Projekt des Energiemaschinenprogramms war die Errichtung des VEB Bergmann-Borsig in Ost-Berlin, eines neuen Großbetriebs für den Generatoren-, Kessel- und Turbinenbau. Auf das Bergmann-Borsig-Projekt entfielen 1950 62,5% aller Investitionen für den Energiemaschinenbau.24 Die Prioritäten der Investitionsplanung ergaben sich aus dem energiepolitischen Autarkiekurs, der zu einer möglichst raschen Überwindung der Abhängigkeit von westlichen Energiemaschinen- und Kraftwerksanlagenherstellern zwang. Trotz des niedrigen Niveaus der Stromerzeugung konnte daher ein wirksamer Ausbau der Kraftwerke in der DDR erst angegangen werden als Mitte der fünfziger Jahre leistungsfähigere Turbinen und Generatoren aus eigener Produktion zur Verfügung standen. Im Rahmen des Kohle- und Energieprogramms wurden ab 1957 neue Großkraftwerke (Lübbenau, Schwarze Pumpe) gebaut und die Kapazitäten der Braunkohlenindustrie erweitert. 25 21 Baumgart, E. R., S. 123. Eine Sonderstellung hatte die Elektroindustrie West-Berlins. Hier wurden im Gesamtzeitraum der Jahre 1950-1958 36% aller Brutto-Anlageinvestitionen aus dem ERP-Sondervermögen bestritten. Kuehn, Alfred, Investitionen, Investitionsfinanzierung und Wirtschaftswachstum in West-Berlin, Berlin 1960, S. 55. 22

Mühlfriedel/Wießner, S. 115; Baar, Lothar/Winkler, Simone/Barthel, Horst/Falk, Waltraud/Rheder, Katrin/Roesler, Jörg/Woick, Renate, Die Gestaltung der Industriezweigstruktur der DDR durch die Wirtschaftspolitik der Partei der Arbeiterklasse und der staatlichen Organe, in: Industriezweige in der DDR 1945 bis 1985 (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1988), Berlin 1988, S. 10. 23 Roesler, Jörg/Siedt, Veronika/Elle, Michael, Wirtschaftswachstum in der Industrie der DDR 1945-1970, Berlin 1986, S. 96. 24 Ebda. Zum Aufbau von Bergmann-Borsig vgl. auch Gerhard Zeising, Geschichte des VEB Bergmann-Borsig Berlin-Wilhelmsruh, Teil 2: Die Bergmann-Elektricitäts-Werke in der Zeit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung. Die Gründung des VEB BergmannBorsig 1945-1949, Berlin 1987.

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C. Die Entwicklung im Utrbinen- und Generatorenbau Die führenden Unternehmen des westdeutschen Turbinen- und Generatorenbaus konnten den technologischen Rückstand, der seit den dreißiger Jahren entstanden war, schon in den frühen fünfziger Jahren aufholen. Ihre technologische Wettbewerbsposition verbesserte sich innerhalb weniger Jahre entscheidend. SSW hatte bereits 1951 im Kraftwerksbau „nicht nur in preismäßiger sondern auch in technischer Hinsicht die bisher führenden USA mindestens eingeholt". 1950 entfielen hier rund 60% des Umsatzes mit Turbogeneratoren auf den Export. 26 Die AEG, die stärker als Siemens unter der deutschen Teilung gelitten hatte, erreichte im Dampfturbinenbau mit der 1954 erfolgten Herstellung eines 100 MW(Megawatt)Turbosatzes den internationalen Stand. Diese Entwicklung ist besonders bemerkenswert, da die AEG-Turbinenfabrik nach Kriegsende nahezu komplett demontiert worden war und erst nach Beendigung der Berlin-Blockade systematisch wiederaufgebaut werden konnte. Mitte 1951 wurden hier bereits „Maschinen modernster Bauart bis zu den größten Leistungen hergestellt". Die Exportquote des Werks lag nun bei über 30%. 27 Die Einheitsleistung für Turbosätze hatte in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg noch bei 50 MW gelegen. Zwischen 1930 und 1950 stagnierte hier die Leistungsentwicklung. Wesentlich höhere Grenzleistungen konnten wegen der verwendeten Kühlungssysteme und Materialien nicht erzielt werden. 28 Während die Beschäftigtenzahl Mitte der fünfziger Jahre bei Siemens wieder das Niveau von 1936 erreichte und bei der AEG sogar noch deutlich unter dem Vorkriegsstand lag, hatten beide Unternehmen im Dampfturbinen- und Generatorenbau also die Leistungsgrenzen der Zwischenkriegszeit längst überschritten. Eine Ausnahme bildete der Gasturbinenbau. Hier unterlagen die deutschen Unternehmen bis 1955 alliierten Forschungsbeschränkungen. Bereits am Ende der fünfziger Jahre hatten die westdeutschen Firmen dann auch im Gasturbinenbau den internationalen Stand erreicht. 29 Die Leistungssteigerung zu Beginn der fünfziger Jahre war durch Verbesserungen in der Konstruktion der Niederdruckschaufeln und durch die Einführung des 25 Hübner, Peter, Das Kohle- und Energieprogramm der DDR 1957, in: Zeitschrift für Geschichtswisenschaft 22. Jg. (1984), H.3, S. 195-205. 26 Der Weg der Siemens-Gesellschaften, in: Der Volkswirt 5. Jg. (1951), Nr. 28, S. 25 (Zitat); SSW, 45. Geschäftsbericht für die Zeit vom 1. 10. 1947-30. 9. 1950, Berlin/Erlangen 1950, S. 82. 27 Elektro-Ausfuhr der AEG steigt weiter, in: Die Neue Zeitung vom 27. 5. 1951 (Zitat); Unsere AEG, S. 32 f.; 75 Jahre Turbinenfabrik, S. 38. 28 Ebd., S. 64; Hofer, Stephan/Schleiermacher, Walter, Der Entwicklungsstand im Dampfturbinenbau des Mülheimer Werkes, in: Die Entwicklung der Starkstromtechnik, S. 118 ff.; 75 Jahre Turbinenfabrik, S. 38. 29 Bohn/Marschall, Die technische Entwicklung der Stromversorgung, in: W. Fischer (Hg.). S. 75 f.

10 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Wasserstoffkühlungsverfahrens bedingt. SSW lieferte bereits 1951 wasserstoffgekühlte Turbogeneratoren an das italienische Kraftwerk Travazzano. Die AEG stieg 1952 mit einem Auftrag für das Kraftwerk Aschaffenburg in die Fertigung wasserstoffgekühlter Turbogeneratoren ein. 30 Das Verfahren der Wasserstoffkühlung war Ende der zwanziger Jahre in den USA entwickelt und 1937 von General Electric eingeführt worden. Die Grenzleistung von Turbostromerzeugern wurde dadurch von rund 40 MVA(Megavoltampere) auf mehr als 100 MVA gesteigert. Mit der Leistung nahm der Wirkungsgrad zu. Die Wasserstoffkühlung ermöglichte auch eine deutliche Verbesserung der Wärmeabgabewerte.31 Der technologische Schub, der sich im westdeutschen Turbinen- und Generatorenbau während der frühen fünfziger Jahre vollzog, wurde durch einen Nachfrageboom begünstigt. Die Inlandsnachfrage nahm durch den Erneuerungs- und Erweiterungsbedarf der Kraftwerke zu, deren Modernisierung mit öffentlichen Mitteln gezielt gefördert wurde. Noch dynamischer verlief die Nachfrageentwicklung auf dem westeuropäischen Markt und auf dem Weltmarkt. Der Ausbruch des KoreaKriegs führte 1950 weltweit zu einem Investitionsgüterboom. Die vom ERP ausgehende Handelsintegration der Bundesrepublik ermöglichte es den Unternehmen, von der weltweiten Nachfrageentwicklung zu profitieren. Bis Mitte der fünfziger Jahre erlangten die westdeutschen Hersteller wieder eine führende Position auf dem Weltmarkt. Das von SSW 1956 fertiggestellte 300 MW-Kraftwerk in San Nicolas/Argentinien wurde zu einem Symbol des bundesdeutschen „Exportwunders". 32 Von der Wiedereingliederung in den westeuropäischen Markt und in den Weltmarkt ging ein Modernisierungsdruck auf die bundesdeutsche Industrie aus, der das Innovationsverhalten auch im Bereich der Energietechnik nachhaltig beeinflußte. Siemens und AEG versuchten technologische Rückstände, die durch die Abschottung vom Weltmarkt in den vierziger Jahren entstanden waren, durch eine Intensivierung der Forschungs- und Entwicklungs- (FuE-) Leistungen aufzuholen, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Beide Unternehmen betrieben einen intensiven Technologietransfer aus den USA, wobei sie von älteren Beziehungen zu amerikanischen Firmen (AEG - General Electric, Siemens - Westinghouse) profitierten. Dabei gingen beide Unternehmen davon aus, daß eine dauerhafte Ver30 SSW, Geschäftsbericht 1947-1950, S. 82; Weiher, Sigfrid von/Goetzeler, Herbert, Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1972. Ein Beitrag zur Geschichte der Elektroindustrie (Tradition, Beih. 8), München 1972, S. 171; 75 Jahre Turbinenfabrik, S. 38 u. S. 40; Unsere AEG, S. 33. 31 Leukert, W./Raymund, H., Groß-Stromerzeuger, in: Die Entwicklung der Starkstromtechnik, S. 78 ff.; Bohn/Marschall, Die technische Entwicklung der Stromversorgung, in: W. Fischer (Hg.), S. 66. 32 Weiher, S. v./Goetzeler, H., S. 130. Zur Bedeutung der Nachfrageseite vgl. Volk, Otto Karl, Die Bestimmungsfaktoren für das Wachstum der deutschen Elektroindustrie nach dem Kriege, Rer.pol. Diss., Köln 1963, S. 38 ff.

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besserung der technologischen Wettbewerbsposition nur durch eigene FuE-Leistungen zu erreichen war. Im Energiemaschinenbau erforderte diese Zielsetzung vor allem eine leistungsstarke Werkstoff- bzw. Isolierstofforschung und modernste Prüfstände. 33 SSW begann bereits 1946 mit dem Aufbau von Laboratorien in Nürnberg und Pretzfeld. 1949 errichtete das Unternehmen dann in Erlangen ein Allgemeines Laboratorium für Grundlagenforschung. 34 In der Dampfturbinentechnik konzentrierte sich SSW auf Verbesserungen bei der Zeitstandfestigkeit von Werkstoffen, der Steigerung der Drücke und der Konstruktion von Schaufelschwingungen. Die Prüfund Versuchsanstalt im Mülheimer SSW-Turbinen werk wurde modernisiert. 35 Auch die AEG ging Anfang der fünfziger Jahre dazu über, „das technische Fundament der Firma zu festigen" 36. Wegen der kritischen Finanzlage des Unternehmens ging der Neuaufbau des FuE-Bereichs hier langsamer voran als bei SSW. Schwerpunkte der FuE-Tätigkeit waren die Optimierung von Herstellungsverfahren und die Werkstoffauswahl. Ein neues Labor für zerstörungsfreie Werkstoffprüfung wurde errichtet. 1955 wurde dann auf dem Gelände der AEG-Turbinenfabrik in West-Berlin ein neues Dampfturbinenprüffeld in Betrieb genommen, das mit einem Aufwand von mehr als neun Mio. DM errichtet worden war und zu den modernsten Anlagen dieser Art zählte.37 Daß den westdeutschen Firmen der Anschluß an den internationalen Stand schon Anfang der fünfziger Jahre gelang, war schließlich nur aufgrund umfangreicher Vorarbeiten möglich sowie durch ein hochqualifiziertes und erfahrenes FuEPersonal, das sich seit langem mit Verbesserungen in der Turbinen- und Generatorentechnik beschäftigte. An der Entwicklung des ersten wasserstoffgekühlten Turbogenerators der AEG hatte ζ. B. der Chefelektriker der Turbinenfabrik, Friedrich Moldenhauer, maßgebenden Anteil, der seit Ende der dreißiger Jahre zu den international führenden Experten zählte.38

33 Zur Innovationsstrategie von AEG und Siemens zu Beginn der fünfziger Jahre vgl. AEG, Geschäftsbericht über die Geschäftsjahre vom 1. 10. 1947 bis 30. 9. 1950, Berlin 1950, S. 17; Eckert, Michael/Osietzki, Maria, Wissenschaft für Markt und Macht. Kernforschung und Mikroelektronik in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 148 f.; Erker, Paul, Forschung und Entwicklung in der Transistortechnologie. Entscheidungszwänge und Handlungsspielräume am Beispiel Siemens und Philips, 1947-1960, in: Technikgeschichte Bd. 60 (1993), S. 269 ff. 34 Trendelenburg, Ferdinand von, Aus der Geschichte der Forschung im Hause Siemens (= Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 31), Düsseldorf 1975, S. 258 ff. 35 Hofer, S./Schleiermacher, W., Entwicklungsstand im Dampfturbinenbau des Mülheimer Werkes, in: Die Entwicklung der Starkstromtechnik, S. 114-124. 3 6 Der Bericht der AEG, in: Berliner Wirtschaft 3 Jg. (1953), Nr. 17, S. 534. 37

75 Jahre Turbinenfabrik, S. 38; Erster Neubau bei der AEG-Turbinenfabrik, in: Berliner Wirtschaft 5. Jg. (1955), Nr. 45, S. 1399. 38 75 Jahre Turbinenfabrik, S. 40. 10*

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Längerfristig konnte der westdeutsche Turbinen- und Generatorenbau mit der Entwicklung in den USA nicht Schritt halten. Durch die Kernkrafttechnik nahm die Leistung von Turbogeneratoren in den westlichen Industrieländern seit Ende der fünfziger Jahre sprunghaft zu. 39 AEG, SSW und BBC fertigten Anfang der sechziger Jahre Turbinen mit einer Grenzleistung von 150 MW und bereiteten nun den Einstieg in den Großturbinenbau (200 MW und mehr) vor. Dieser Schritt erforderte wiederum die Überprüfung sämtlicher Konzeptionen. Mitte der sechziger Jahre waren in der Bundesrepublik sechs Großturbinen mit einer Einheitsleistung von 300 MW und mehr im Bau. In den USA wurden zu diesem Zeitpunkt von General Electric bereits Anlagen mit einer Einheitsleistung bis zu 1.000 MW entwikkelt. Der Rückstand der westdeutschen Unternehmen bei der Größe der Turbineneinheitsleistung war sowohl durch den amerikanischen Vorsprung in der Kernkrafttechnik als auch durch die unterschiedliche Marktgröße bedingt. Mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit der Maschinen gingen die Stückzahlen in der Fertigung zurück. Die Auslastung der Betriebe unterlag nun stärkeren Schwankungen. Die damit verbundenen Risiken konnten die bundesdeutschen Hersteller auf dem kleinen Inlandsmarkt für Großturbinen nicht ausgleichen. Auf dem europäischen Markt waren die Expansionsmöglichkeiten begrenzt, da sich rund 60% aller Turbinenhersteller der Welt in Westeuropa befanden. Hinzu kam noch, daß von den bundesdeutschen Großturbinenherstellern nur die AEG in der international dominierenden Kammerbauart fertigte, während Siemens und BBC auf die Trommelbauart setzten.40 In der DDR konnten Mitte der fünfziger Jahre erstmals Turbinen und Generatoren hergestellt werden, deren Leistungsgröße dem Stand der Vorkriegszeit entsprach. Der VEB Bergmann-Borsig hatte 1952 mit dem Turbinenbau begonnen und eine Maschine mit einer Leistung von 10 MW ausgeliefert. Bis 1955 stieg die Leistung auf 50 MW. 4 1 Das qualitative Niveau des Turbinenbaus in der DDR war auch noch nach Verabschiedung des Kohle- und Energieprogramms so niedrig, daß sich das SED-Zentralorgan Neues Deutschland im Februar 1958 veranlaßt sah, die Zustände im VEB Bergmann-Borsig, der 80% aller Ausrüstungen für die Energiewirtschaft der DDR lieferte, scharf zu kritisieren: „In allen Ecken liegen mächtige Turbinenteile, die wegen der schlechten Qualität nicht mehr bearbeitet werden können. Eigroße Löcher, poröse Stellen und Risse machen es beim besten Willen unmöglich, ein noch annähernd brauchbares Werkstück daraus zu fertigen. Man fragt sich, wie ist so etwas möglich?". 42 39 y. Weiher, S. 136. 40

Ludewig, Max, Die Großturbinenfamilie der AEG, in: AEG-Mitteilungen 55 (1965), Nr. 2, S. 65-81. 1969 schlossen Siemens und AEG-Telefunken ihren Kraftwerksbau zur Kraftwerks-Union (KWU) zusammen. Ende 1976 zog sich die AEG nach hohen Verlusten im Bereich der Kernkrafttechnik aus dem Kraftwerksbau zurück. 41 Schlecht, S. 105; Kurzprotokoll der Sitzung am 23. 2. 1962. BArch, Β 137 1/578. 42 Guß wie Schweizer Käse. Schlechte Qualität gefährdet Termine im Kohle- und Energieprogramm, in: Neues Deutschland vom 21.2. 1958. Zitiert nach: IfO-Institut für Wirtschafts-

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Das Bergmann-Borsig-Projekt war 1948/49 als ein Kernstück des Schwermaschinenprogramms angelaufen, um die Abhängigkeit der SBZ/DDR-Wirtschaft vom westdeutschen und West-Berliner Turbinen- und Generatorenbau zu überwinden. Von Anfang an war Bergmann-Borsig auch ein politisches Prestigeobjekt, das als Kontrast zur Stillegung der Borsig-Werke im Westteil Berlins diente. Nachdem sich die ursprüngliche Konzeption aus Kostengründen nicht verwirklichen ließ, wurde das Projekt in einer stark gekürzten, technisch und wirtschaftlich gleichermaßen ungünstigen Version umgesetzt. Die SED rechnete es sich später als Verdienst an, daß das Projekt trotz der Warnungen zahlreicher Experten durchgefühlt wurde. 43 Für den Aufbau des neuen Großbetriebs fehlte das notwendige Know-how. Erfahrene Ingenieure und Facharbeiter standen kaum zur Verfügung. Die Fertigung wurde mit gebrauchten, stark überalterten Maschinen aufgenommen. Der Automatisierungs- und Mechanisierungsgrad lag unter dem Vorkriegsstand. Nach den Planungen sollte ein entscheidender Teil der für die Ausrüstung und für die Fertigung notwendigen Materialien importiert werden. Die Durchführung der geplanten Importe blieb indessen ungeklärt. Aus dem RGW-Raum waren die benötigten schweren Werkzeugmaschinen nicht zu beziehen. Im Rahmen des innerdeutschen Handels konnten die vorgesehenen Anschaffungen wegen des Stahlembargos und des Mangels an Devisen nicht getätigt werden. Auch der Ausfall von Stahl- und Blechlieferungen aus dem Westen zwang zu suboptimalen Lösungen.44 Trotz dieser ungünstigen Ausgangsbedingungen schrieb die Produktionsplanung außerordentlich hohe Zuwachsraten vor. Schon bald waren dann noch kurzfristig eingeplante Aufträge für den RGW-Export zu erfüllen. Die Planauflagen wurden wiederholt willkürlich nach oben korrigiert. 45 Im Rahmen des „Neuen Kurses" von 1953/54 wurden dann die Investitionsmittel für das Energiemaschinenprogramm gekürzt, um die Konsumgüterversorgung zu verbessern. Der Energiemaschinenbetrieb Bergmann-Borsig mußte kurzfristig zusätzlich die Fertigung von Rollschuhen und Rasierapparaten aufnehmen. 46

forschung, Entwicklung und Stand des west- und mitteldeutschen Maschinenbaus. Gutachten im Auftrag des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, Ms., München 1962, S. 77. BArch, Β 137 1/577. Zum Lieferanteil von Bergmann-Borsig ebd., S. 79. 43 Bericht zur Entwicklung des VEB Bergmann-Borsig seit 1945 vom 6. 11. 1953. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), SED-Bezirksleitung Berlin (BPA), IV -2/6/801; Abschlußbericht über das Projekt Borsig/ Bergmann vom 7. 12. 1948. Ebda., Zentrales Parteiarchiv der SED (ZPA), DY 30/IV 2/6.02/ 41, Bl.105-111; Protokoll der Direktionssitzung vom 8. 11. 1948. LAB (STA), Rep. 800/12. 44 Inspektions-Bericht vom 7. 8. 1951. Bundesarchiv, Abt. Potsdam (BArchP), DE 1/ 8010, Bl.11-13; SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/6.02/41, B l . l l ; Roesler/Siedt/Elle, S. 98 f. 4 5 Roesler/Siedt/Elle, S. 96. 46 Ebd., S. 103; Protokoll vom 15. 1. 1954. LAB(STA), Rep. 432/191.

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Die Bedingungen, unter denen sich der Turbinen- und Generatorenbau in der frühen DDR entwickelte, standen der Durchsetzung neuer Verfahren entgegen. Obwohl die in den USA eingeführten Neuerungen und deren Bedeutung bekannt waren, gab es bei Bergmann-Borsig „keine Orientierung, um diesen hohen Stand der Technik zu erreichen" 47. Ein mit dem Nationalpreis ausgezeichnetes Verfahren des Ost-Berliner Ingenieurs August Czempiel, Dampfturbinenschaufeln durch ein Feinpreßverfahren herzustellen, diente bezeichnenderweise vor allem der Importsubstitution und war in einem Kabelwerk entwickelt worden, das sich im Besitz einer Sowjetischen Aktiengesellschaft befand. 48 Die Orientierung an den kurzfristigen Planzielen zwang den Turbinen- und Generatorenbau der DDR zum Verzicht auf langfristige, aufwendige FuE-Projekte. Die Werksleitungen wurden für Planrückstände verantwortlich gemacht, nicht aber für Innovationsrückstände, wie eine offizielle Kritik des ZK der SED zur Arbeit im VEB Bergmann-Borsig vom 26. 1. 1953 belegt. 49 Verbesserungen in der Konstruktion wurden kaum in die Fertigung überführt. Konstruktion und Technologie arbeiteten bei Bergmann-Borsig nahezu vollständig getrennt. Für die Errichtung von Prüffeldern standen keine Mittel zur Verfügung. Bis Ende der fünfziger Jahre war in der DDR kein Prüfstand für größere Turbosätze vorhanden. Die Erprobung mußte in den Kraftwerken vorgenommen werden, wodurch Betriebsstörungen vorprogrammiert waren. 50 Am Ende der fünfziger Jahre lag der Turbinen- und Generatorenbau der DDR daher im Vergleich mit westdeutschen Unternehmen weit zurück. Diese Rückstand bedrohte die Durchführung des Kohle- und Energieprogramms und des Chemieprogramms. Mit dem Siebenjahrplan von 1959, der sich am politischen Ziel der SED-Führung orientierte, die Bundesrepublik innerhalb weniger Jahre zu überholen, nahm die Diskrepanz zwischen Realität und Planung weiter zu. Im Planzeitraum sollte die Dampfturbinenproduktion verdreifacht werden. Schon ab 1959/60 sollten dafür 100 MW-Turbinen in Serienfertigung gehen. Bis 1964 sollte der Einstieg in den Großturbinenbau der 200 MW-Klasse erreicht sein.51 Tatsächlich konnte dann erst 1961 eine 100 MW-Turbine in der DDR gefertigt werden. Möglich war dies allerdings nur durch Importe aus dem Westen, die vor dem Hintergrund der „Störfreimachung" im Vorfeld des Mauerbaus politisch uner47

Einige Informationen über den VEB Bergmann Borsig vom 14. 11. 1963. SAPMOBArch, NY 4182/1032, B1.185. 48 Forschung und Technik (= Schriftenreihe Der Fünfjahrplan, H.2), Berlin 1952, S. 83; Keiderling, Gerhard, Berlin 1945-1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 357. 49 Stellungnahme des Sekretariats zur Arbeit im VEB Bergmann-Borsig, Berlin, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, Bd.IV, Berlin 1954, S. 231-241. 50 Entwicklung und Stand des west- und mitteldeutschen Maschinenbaus, S. 42. Β Arch, Β 137 1/577. 51 Gleitze, Industrie, S. 121 f. u. S. 181.

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wünscht waren. Die 100 MW-Turbine enthielt so viele Einzelteile westlicher Herkunft, daß vom ZK Weisung erging, die Konstruktion zu überarbeiten. 52 Noch größer waren die Probleme im Generatorenbau. Erst Anfang der sechziger Jahre wurde der Übergang zu wasserstoffgekühlten Generatoren angekündigt. Die Betriebe in der DDR beherrschten zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Technologie luftgekühlter 50 MW-Generatoren. 53 Wegen qualitativer Mängel, technologischer Rückständigkeit und langer Lieferzeiten konnten die in der DDR hergestellten 50 MW- und 100 MW-Aggregate nicht wie vorgesehen in andere RGW-Länder und in Länder der „Dritten Welt" exportiert werden. Geplante Lieferungen nach Rumänien kamen nicht zu Stande. Ein Liefervertrag mit der Vereinigten Arabischen Republik platzte. 54 Nach dem Abbruch des Siebenjahrplans gab die DDR den Versuch auf, in den Großturbinenbau einzusteigen. Im Rahmen der Spezialisierungsvereinbarungen mit der UdSSR wurde im Dezember 1962 beschlossen, daß sich die DDR auf den Bau von Turbinen der Leistungsklassen bis zu 100 MW beschränkte und Einheiten über 100 MW aus der UdSSR importierte. Die für 1964 geplante Entwicklung eines 300 MW-Blockes wurde gestrichen. 55 Mit dem Verzicht auf die Herstellung wirtschaftlicherer Leistungsgrößen wurde zu Beginn der Phase des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) die technologische Zukunft des Turbinen- und Generatorenbaus in der DDR besiegelt. Nach einem Bericht des Sekretariats Wirtschaft des ZK der SED war auch den Ingenieuren von Bergmann-Borsig klar, „daß der Betrieb keine Perspektive hat, wenn kein Block über 100 MW-Leistung entwickelt und gebaut wird. Bis jetzt besitzt... kein im Betrieb entwickelter Turbo-Satz Weltniveau . . . " 5 6 .

52 Ohlsen, Bernhard, „Frei von Bonner Störversuchen" (1961). Β Arch, Β 137 1/476. 53 Gleitze, Industrie, S. 181 f. Der damalige Minister für Maschinenbau, Wunderlich, führte den Rückstand im Generatorenbau darauf zurück, daß die Konstrukteure „von Konzernideologien noch befangen waren und sich darum von den alten Konstruktionsprinzipien der AEG- und Siemenskonzerne nicht gelöst haben". Zitiert nach Ebda. 54 SPK, Abt. Maschinenbau und Metallurgie, Hinweise zu Fragen der Veränderung des Produktionsprofils im Maschinenbau vom 25. 3. 1961. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/ 2.029/51; Einige Informationen über den VEB Bergmann Borsig vom 14. 11. 1963. Ebd., NY 4182/1032, B1.184. 55 Ebd., NY 4182/1032, B1.184; Konstantin Pretzel, Die wirtschaftliche Integration der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Ostblock und ihre politischen Aspekte (= Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn/Berlin 1965, S. 207. Bis dahin hatte sich die UdSSR nicht in der Lage gesehen, der DDR 200 MW-Turbinen zur Verfügung zu stellen. Die Aggregate sollten deshalb auf der Grundlage sowjetischer Dokumentationen bei Bergmann-Borsig nachgefertigt werden. Hinweise zu Fragen der Veränderung des Produktionsprofils im Maschinenbau vom 25. 3. 1961. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/2.029/51.

56 SAPMO-BArch, NY 4182/1032, Bl. 184 f.

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D. Die Entwicklung im Transformatorenbau Für die Sicherstellung der Stromversorgung hatte auch der Transformatorenbau eine Schlüsselfunktion. Der Transport der steigenden Energiemengen erforderte den Übergang zu höheren Betriebsspannungen auf den Fernleitungen. Dafür waren wiederum Höchstspannungstransformatoren notwendig, wie sie schon seit Ende der dreißiger Jahre projektiert waren. In der Bundesrepublik gehörte der Transformatorenbau während der frühen fünfziger Jahren zu den am stärksten expandierenden Bereichen der Elektroindustrie. 1952 lag der Anteil des Transformatorenbaus an der Elektroproduktion auf dem Gebiet der Bundesrepublik mit 4,6% bereits doppelt so hoch wie 1936.57 Auch im Transformatorenbau setzten die führenden westdeutschen Hersteller SSW, AEG und BBC frühzeitig hohe Investitionsmittel für den Neuaufbau von FuE-Einrichtungen und Prüffeldern ein. Bei SSW in Nürnberg enstand Anfang der fünfziger Jahre ein neues Großtransformatoren-Prüffeld. Die AEG eröffnete 1953 in Kassel ein neues Hochspannungsinstitut mit einem Hochleistungs-Versuchsfeld. 58 Die Vorbereitungen zur Herstellung von Höchstspannungstransformatoren kamen bei SSW 1953 zu einem vorläufigen Abschluß. Die AEG war 1954 technisch auf den Übergang zur 400 kV(Kilovolt)-Übertragung vorbereitet. Sie hatte sich bereits während des Zweiten Weltkriegs in Schweden Schaltungen für eine 380 kVKraftübertragung patentieren lassen.59 1 957 nahmen die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) die erste 380 kV-Übertragung der Bundesrepublik in Betrieb. 60 Im Vergleich mit den USA lagen die westdeutschen Hersteller aber noch Mitte der fünfziger Jahre technologisch zurück. Während die Elektroindustrie in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Ländern noch darauf angewiesen war, Transformatorenkerne aus warmgewalzten Blechen zu bauen, hatte sich in den USA schon lange die Anwendung kaltgewalzter Texturbleche durchgesetzt, die dort 1934 von N. Goß erfunden worden war. Die Texturbleche waren in den 57 Matz, Wolfgang, Struktur und Entwicklungslinien der West-Berliner Elektroindustrie, Berlin 1953, S. 65. 58 Maurer, Lothar, Das neue Großtransformatoren-Prüffeld der Siemens-Schuckertwerke in Nürnberg, in: Siemens-Zeitschrift 27. Jg. (1953), H.7, S., S. 345-353; Kindler, Helmut, Das AEG-Hochspannungs-Institut in Kassel als Entwicklungsstätte für HochspannungsSchaltgeräte, in: AEG-Mitteilungen 47. Jg. (1957), H.7/8, S. 237 f. 59 Drabeck, Josef/Elsner, Richard, Die Entwicklung von Wandertransformatoren bis zu den höchsten Betriebsspannungen, in: SSW, Die Entwicklung der Starkstromtechnik, S. 219; Dolch, Alexander, Die Planung der 380 kV-Transformatoren, in: AEG-Mitteilungen 48. Jg. (1958), H.8/9,S. 441-447. 60 Eisner, Richard/Drabeck, Josef/Hurrle, Karl, Die 380 kV-Transformatoren für die Übertragung Rommerskirchen-Hoheneck der RWE, in: Siemens-Zeitschrift 32. Jg. (1958), H.7, S. 447-464.

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magnetischen Eigenschaften den konventionellen Blechen überlegen. Sie ermöglichten eine erheblich höhere Induktion als die warmgewalzten Bleche. Die Ummagnetisierungsverluste konnten durch dieses Verfahren um 100%, der Eisen- und Kupferbedarf um rund 20% gesenkt werden. In den USA war die Grenzleistung von Drehstromtransformatoren durch das Textilblechverfahren von 100 MVA auf 200 MVA (bei Übersetzung 220/110 kV) gesteigert worden. 61 1954 wurde in der Bundesrepublik erstmals ein Großtransformatorenkern mit Texturblechen gebaut. Zu diesem Zeitpunkt wurden im Großtransformatorenbau der USA bereits zu 95% Texturbleche verwendet. Die Texturbleche waren in Deutschland zum gleichen Zeitpunkt auf den Markt gekommen wie in den USA. Die technische Ausstattung der Walzwerke ließ hier aber nur die Herstellung kleiner Mengen zu. Die metallverarbeitende Industrie der Bundesrepublik blieb zunächst auf teure Importe aus den USA angewiesen, die u. a. für die Herstellung von Kabelbändern und Meß-Stromwandlern verwendet wurden. Im westdeutschen Großtransformatorenbau konnten sich die kaltgewalzten Texturbleche aus wirtschaftlichen Gründen erst ab Mitte der fünfziger Jahre durchsetzen, nachdem im Ruhrgebiet mehrere Kaltbandwalzwerke in Betrieb genommen worden waren. 62 Obwohl die Umstellung auf Texturbleche völlig neue Konstruktionen erforderte - zur Herstellung der Kerne mußten mehr als 60.000 isolierte, beidseitig gewalzte Bleche geschichtet werden - konnte sich das neue Verfahren nun in der Bundesrepublik rasch durchsetzen. Der Einsatz von Texturblechen ermöglichte in Verbindung mit anderen Verbesserungen - genannt sei hier vor allem der Übergang zur starren Sternpunkterdung in den Netzen - , daß die Leistung der in der Bundesrepublik gefertigten Maschinen- und Netztransformatoren während der späten fünfziger und und in den sechziger Jahren sprunghaft zunahm. Hatte 1955 der größte Drehstrom-Wandertransformator der Welt noch eine Leistung von 200 MVA, so stellte die AEG 1964 für das Kraftwerk Staudinger der Preußag bei Hanau 300 MVA-Transformatoren für die Spannungsebene 220 kV her. Wenige Jahre später erreichte der größte in der Bundesrepublik gebaute Transformator 380 MVA. 6 3 Mit dieser Entwicklung ging die Zahl der für die zu transformierende Leistung benötigten Maschinen zurück. Dadurch sanken wiederum die Investitionskosten. Ähnlich wie im Turbinenbau fiel es den westdeutschen Herstellern wegen der kleineren Stückzahlen aber auch zunehmend schwerer, ihre Kapazitäten kontinuierlich auszulasten.64 61

Küchler, Rudolf, Die Transformatoren. Grundlagen für ihre Berechnung und Konstruktion, Berlin/Göttingen 1956, S. 6 f.; ders., Konstruktion und Fertigung von Grenzleistungstransformatoren, in: AEG-Mitteilungen 48. Jg. (1958), H.8/9, S. 447-455. 62 Stäblein, Fritz/Meyer, Hans-Heinz, Kaltgewalztes Transformatorenblech, in: ElektroTechnische Zeitschrift (ETZ)-B, Bd. 7 (1955), H.10, S. 368-373; Eckart, Karl, Die Eisenund Stahlindustrie in den beiden deutschen Staaten, Stuttgart 1988, S. 215. 63 Breitenacher, Michael/Knörndel, Klaus-Dieter/Schedl, Hans/Scholz, Lothar, Elektrotechnische Industrie, Berlin/München 1974, S. 127; Rix, Erwin, 300-MVA-Drehstrom-Maschinentransformatoren, in: AEG-Mitteilungen 55. Jg. (1965), H.3, S. 205-208.

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In der SBZ/DDR hatte der Transformatorenbau günstigere Ausgangsbedingungen als der Turbinenbau, da sich nach der Errichtung der Zonengrenzen einige der größten deutschen Transformatorenwerke auf dem Gebiet der SBZ (einschließlich Berlin-Ost) befanden. Diese Betriebe hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit schwere Substanzverluste erlitten. Sie verfügten aber noch über einen Stamm erfahrener Ingenieure und Facharbeiter. Auch der Transformatorenbau bildete einen Schwerpunkt der Investitionsplanung in der frühen DDR. Das Transformatorenwerk „Karl Liebknecht" (TRO) in Berlin-Oberschöneweide (ehemals AEG) gehörte zu den Schwerpunktbetrieben des ersten Fünfjahrplans. Bis Mitte der fünfziger Jahre hatte sich jedoch der Rückstand gegenüber dem westdeutschen Transformatorenbau erheblich vergrößert. Die Leitung des TRO mußte 1955 feststellen, „daß wir im Laufe der letzten Jahre in katastrophaler Weise in Rückstand geraten sind" und die Energieverluste bei den Transformatorenblechen noch um 10-30% über dem Vorkriegsniveau lagen.65 Die Bilanz, die der Betrieb damals anläßlich der Leipziger Frühjahrsmesse zog, war vernichtend: „Die diesjährige Leipziger Frühjahrsmesse zeigte mit erschreckender Deutlichkeit auf, daß unser Werk mit seinen Erzeugnissen hinter dem Stand der Technik zurückgeblieben ist und daher z.Zt. keine Aussichten hat, auf dem Weltmarkt mit führenden kapitalistischen Firmen ernsthaft zu konkurrieren. Wir mußten ferner feststellen, daß für eine Reihe unserer Erzeugnisse auch in den befreundeten Ländern kein Interesse mehr besteht, entweder, weil dort die gleichen oder bessere Erzeugnisse hergestellt werden oder weil man vorzieht, technisch bessere Geräte aus dem westlichen Ausland zu beziehen".66

Diese Lage war vordergründig durch Qualitätsmängel und durch Engpäße bei wichtigen Vormaterialien und Rohstoffen bedingt. Als Folge der Abtrennung von westdeutschen Bezugsquellen war die Versorgung mit Dynamoblechen, Buntmetallen, umwickelten Drähten und Kupfer zusammengebrochen. Erschwert wurde die Lage des Betriebs auch durch ständige Plankorrekturen. Die für die Jahre 1954/55 vorgesehenen Investitionsmittel wurden kurzfristig erheblich reduziert. Der gesamte Transformatorenbau der DDR sollte auf das Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden beschränkt werden. Das Kohle- und Energieprogramm sah dann wieder hohe Produktionssteigerungen vor. 67 Die entscheidende Ursache für den Rückstand gegenüber westdeutschen Unternehmen lag aber nach Ansicht der TRO-Direktion im Entwicklungsbereich, dessen Lage als „alarmierend" bezeichnet wurde. 68 In den Jahren 1945-1948 hatten so64

Ebenso wie im Kraftwerksbau fand daher im Transformatorenbau der Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre ein Konzentrationsprozeß statt. Siemens und AEG schlossen ihre Produktionsbereiche zur Transformatoren-Union zusammen. 65 Stand der Technik in der Welt (1955). LAB(STA), Rep. 411/532. 66 Situationsbericht TRO (1955). Ebda. 67 Stellungnahme zum Stand und zur Entwicklung des TRO vom 17. 9. 1958. SAPMOBArch, BPA, IV 2/6/794.

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wjetische Dienststellen noch die Transformatoren- und Wandlerentwicklung in der SBZ gefördert, da ein großer Teil der Produktion dieser Güter als Reparationsleistung in die UdSSR gegangen war. Nach Gründung der DDR nahmen Umfang und Intensität der Entwicklungsleistungen trotz des Energiemaschinenprogramms ab. Begonnene Arbeiten konnten aus Kostengründen nicht abgeschlossen werden. Ab 1952 hatten sich die Konstruktionsbereiche der Betriebe nur noch mit der Beseitigung von aktuellen Mängeln in der Energieversorgung zu beschäftigen („Gegenwartsaufgaben"). Eine Grundlagenforschung fehlte völlig. Längerfristige Entwicklungsvorhaben scheiterten am Fehlen von Laboratoriumseinrichtungen und am Fachkräftemangel. 69 Der Anfang der fünfziger Jahre beantragte Aufbau eines Hochleistungsprüffeldes im TRO wurde zunächst abgelehnt. Bis Ende der sechziger Jahre mußten Hochleistungsversuche in der CSSR vorgenommen werden. 70 Die Direktion des TRO sah denn auch das eigentliche Problem nicht in der Höhe der FuE-Mittel sondern in den technischen Voraussetzungen, diese rentabel zu gestalten. Wegen der langen Entwicklungszeiten ergaben sich auch dann große Rückstände, wenn der Ausgangspunkt der Entwicklung mit vergleichbaren Projekten in der Bundesrepublik identisch war. 71 Die Bedeutung des Übergangs zu kaltgewalzten Texturblechen, der Mitte der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik begann, war damals auch den Experten in der DDR bekannt. Ingenieure und Werkleiter forderten nachdrücklich verfügbare Texturbleche, wobei sie den Entwicklungsstand in der Bundesrepublik auch überhöht darstellten, um die Dringlichkeit zu unterstreichen. 72 Da die UdSSR keine Texturbleche herstellte, war die DDR auf Importe aus dem Westen angewiesen. Eine eigene Produktion war beim technischen Stand der Walzwerke in der DDR kurzfristig nicht realisierbar. Erst 1968 konnte im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) das erste Kaltwalzwerk der DDR in Betrieb genommen werden. Texturbleche mußten aber auch weiterhin aus dem Westen importiert werden Dies führte dazu, daß die Transformatorenwerke praktisch ständig um die Zuteilung von Texturblechlieferungen kämpfen mußten.73 Wegen der geringen Leistungsfähigkeit des Transformatorenbaus in der DDR nahm die Abhängigkeit von westlichen Lieferungen während der späten fünfziger

68 Transformatoren - Stand der Technik in der DDR (1955). LAB (STA), Rep. 411/532. 69 Ebd. 70 Lagebericht 31. 1. 1955. Ebd., /357; Übersicht über Hauptaufgaben vom 18. 12. 1968. Ebd., Rep. 411/52. Transformatoren - Stand der Technik in der Welt (1955). Ebd., Rep. 411/532; Beschreibung des Bauvorhabens vom 14. 11. 1958. Ebd. 72 Situationsbericht TRO (1955). Ebd. 73 Übersicht über Hauptaufgaben vom 18. 11. 1968. Ebd., Rep. 411/52; K. Eckart, Eisenund Stahlindustrie, S. 203

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und frühen sechziger Jahre zu. Im Rahmen des Kohle- und Energieprogramms wurden 400 kV-Leitungen zwischen den neuen Kraftwerken in der Lausitz und Ost-Berlin errichtet. Die für die Einspeisung notwendigen Hochleistungstransformatoren konnten in der DDR nur mit Texturblechen, Regelschaltern, Isolierstoffen und Kühlanlagen aus dem Westen hergestellt werden. 74 Da die Staatliche Plankommission darauf drängte, die Importe aus dem Westen zu substituieren, konnten die 400 kV-Transformatoren nicht termingemäß in Betrieb genommen werden. Die DDR mußte schließlich von einem französischen Hersteller acht Transformatoren beziehen. Der Übergang zu Hochleistungstransformatoren war auch Mitte der sechziger Jahre noch nicht vollzogen. Erst 1969 konnte für das Kraftwerk Boxberg erstmals ein 250 MVA-Transformator aus DDR-Produktion geliefert werden. 75

E. Die Auswirkungen auf die Stromerzeugung und die Stromversorgung In der Bundesrepublik konnte die Stromerzeugung zwischen 1950 und 1960 mehr als verdoppelt werden. Die reale Steigerung lag mit durchschnittlich 9% pro Jahr deutlich höher als in der Zwischenkriegszeit. Der Stromverbrauch stieg dann zwischen 1960 und 1973 nochmals um durchschnittlich 7,5% pro Jahr. 76 Die Entwicklung der Stromerzeugung in der DDR blieb demgegenüber auf einem sehr viel niedrigeren Niveau (siehe Abbildung). 1950 erzeugte die DDR 43,8% der in der Bundesrepublik produzierten Elektroenergiemenge, 1970 nur noch 27,9%. Dieser Rückstand bildete sich in den fünfziger Jahren heraus. Zwischen 1950 und 1960 stieg die Elektroenergieerzeugung in der Bundesrepublik um 251%, in der DDR dagegen um 107%.77 Die fahrbare Leistung der Kraftwerke nahm in der Bundesrepublik allein zwischen 1950 und 1952 um rund 25% zu, in der DDR im gleichen Zeitraum dagegen lediglich um 9% 7 8 . Da sich der optimale Wirkungsgrad der Kraftmaschinen mit ihrer Leistung erhöhte, lagen die Kosten pro installiertes MW in der DDR Anfang der sechziger Jahre doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik 7 9 . 74

Analyse des derzeitigen Standes vom 26. 1. 1960. Ebd., Rep. 411/532. 5 Übersicht über Hauptaufgaben vom 18. 12. 1968. Ebd., Rep. 411/52.

7

76 Schulz-Hanßen, Klaus, Die Stellung der Elektroindustrie im Industrialisierungsprozeß (= Schriftenreihe zur Industrie- und Entwicklungspolitik, Bd. 5), Berlin 1970, S. 199; Müller, Wolfgang D., Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 345. Vgl. hierzu auch Herzig, Thomas, Wirtschaftsgeschichtliche Aspekte der deutschen Elektrizitätsversorgung 1880 bis 1990, in: W. Fischer (Hg.), Geschichte der Stromversorgung, S. 142-150. 77 Stinglwanger, S. 124, 232. 7 « Roesler, S. 106. 79 Kurzprotokoll der Sitzung am 23. 2. 1962. BArch, Β 137 1/578.

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Mrd. kWh

200

H Bundesrepublik • DDR

150 100

1950 1951 1953 1955 1957 1959 1961 1963 1965 Abb.: Elektrizitätserzeugung in der Bundesrepublik und in der DDR 1949-1965 in Mrd. kWh Quellen: Stat. Jahrbuch für die Bundesrep. Deutschland 1956, S. 227; 1960, S. 243; 1967, S. 253; Stat. Jahrbuch der DDR 1958, S. 362; 1960/61, S. 360; 1963, S. 174; 1965, S. 209; 1966, S. 209; Statistische Praxis 11. Jg. (1956), Nr. 8, S. 105.

Die Elektroenergieerzeugung pro Kopf der Bevölkerung (Stromintensität) lag schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der späteren DDR höher als auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik, bedingt durch Unterschiede in der Struktur der Industrie und der Primärenergiebasis. In den frühen fünfziger Jahren nahm dieses Gefälle noch zu. 80 Dennoch blieb die Stromversorgung in der DDR angespannt, da hier mehr als 50% der Primärenergie bei der Umwandlung in Endenergie verloren gingen 8 1 . Die höhere Stromintensität war seit Ende der vierziger Jahre also auch ein Indikator für den technologischen Rückstand der DDR im Kraftmaschinen- und Kraftwerksanlagenbau. Für die gleiche Endleistung war in der DDR ein erheblich höherer Energieeinsatz notwendig als in der Bundesrepublik. Neu errichtete Kraftwerke hatten in Ostdeutschland einen deutlich höheren Verbrauch als in Westdeutschland.82 Insgesamt lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Primärenergie in der DDR noch 1990 um rund 25% höher als in der alten Bundesrepublik, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen unter 50% des westdeutschen Niveaus lag 8 3 . Durch die unwirtschaftliche Energieanwendung und den überhöhten Verso Schlecht, S. 195 u. S. 197. «ι Gleitze, Industrie, S. 126. 82 Ebda. 83 Rüdiger Budde u. a., Übertragung regionalpolitischer Konzepte auf Ostdeutschland (= Untersuchungen des RWI, H.2), Essen 1991, S. 30.

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brauch war die Sicherstellung der Stromversorgung in der DDR mit vergleichsweise höheren ökonomischen und ökologischen Kosten verbunden als in der Bundesrepublik. Der technologische Rückstand der Stromwirtschaft in der DDR war also sowohl durch den energiepolitischen Autarkiekurs bedingt, der zunächst zu einer nahezu ausschließlichen Orientierung auf die Braunkohle und damit auf einen ineffizienteren Primärenergieträger zwang, als auch durch die Innovationsschwäche in der Energietechnik. Der Autarkiekurs, die Vernachlässigung von FuE und die Orientierung auf die Kurzzeitperspektive der Produktionsplanung führten in Verbindung mit dem Mangel an Halbfertigwaren und Rohstoffen dazu, daß der Entwicklungsstand der Energierzeugungs- und -umwandlungsmaschinen hinter dem westlichen Niveau zurückblieb. Innerhalb des technischen Systems der Energiewirtschaft wurden die Auswirkungen der Innovationsschwäche noch durch andere Faktoren (Rückständigkeit des Spannungsnetzes u. a.) verstärkt. Unter den Bedingungen der DDR-Wirtschaft waren technische Systeme aufgrund ihrer Komplexität für Funktionsstörungen besonders anfällig. Die technischen Voraussetzungen für den Übergang zu Hochleistungs-Energiesystemen bestanden in der DDR erst etwa zehn Jahre später als in der Bundesrepublik. Durch den technologischen Rückstand der Stromwirtschaft wurde wiederum der Ausbau energieaufwendiger Industriezweige wie der Chemischen Industrie behindert. Gerade diese Branchen gehörte aber zu den Schlüsselindustrien der DDR. Für die Bundesrepublik wird aus der vergleichenden Perspektive deutlich, daß das Innovationsverhalten entscheidend zur Sicherstellung der Energieversorgung beitrug. Die hohen Zuwachsraten bei der Stromerzeugung wären ohne die FuELeistungen der Unternehmen und die rasche Übernahme neuer, in den USA eingeführter Verfahren nicht möglich gewesen. In Verbindung mit der zunehmenden Umstellung der Primärenergiebasis auf Erdöl trug die steil ansteigende Leistungsfähigkeit der Kraftwerke dazu bei, daß die Furcht vor einer Energielücke ab Mitte der fünfziger Jahre ihren realen Hintergrund verlor. Da diese Effizienzsteigerung auf der Basis von fossil beheizten Kraftwerken erfolgte, sanken damit in der Bundesrepublik aber auch die wirtschaftlichen Erfolgschancen für die Kernkrafttechnologie. 84

84

Zur damaligen Diskussion um die Deckung des Energiebedarfs zu und den Zusammenhängen mit dem Übergang zur Kerntechnik vgl. Müller, S. 345ff; Radkau, Joachim, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983,S. 112 ff.; Fischer, Wolfram, Die Elektrizitätswirtschaft in Gesellschaft und Politik, in: ders. (Hg.), Geschichte der Stromversorgung, S. 28 ff.

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F. Fazit Im Vergleich mit der Bundesrepublik hatte die DDR Ende der vierziger Jahre auch im Bereich des Energiemaschinenbaus und der Starkstromindustrie ungünstigere Ausgangsbedingungen. Wichtige Fertigungszweige wie der Turbinenbau waren hier unterrepräsentiert. Ein großer Teil der bei Kriegsende vorhandenen Kapazitäten war durch Demontagen verlorengegangen. Durch die stetige Abwanderung von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren nach Westdeutschland hatte das technologische Potential dauerhafte Substanzverluste erlitten. Die bundesdeutschen Unternehmen verfügten dagegen über einen modernen Kapitalstock und einen intakten Stamm erfahrener Fachkräfte. Die Fallstudien zum Turbinen-, Generatorenund Transformatorenbau zeigen, daß der Einfluß der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen auf den späteren Rückstand der DDR nicht überbewertet werden sollte. In Bereichen, in denen die DDR über eine vergleichsweise günstige Ausgangsposition verfügte wie im Transformatorenbau war der Rückstand der DDR bereits Mitte der fünfziger Jahre nicht geringer als in solchen Bereichen, die - wie der Turbinen- und Generatorenbau - völlig neu aufgebaut wurden. In der Bundesrepublik bestanden ebenfalls teilungsbedingte Engpäße und Rückstände, die schon Anfang der fünfziger Jahre überwunden waren. Großen Einfluß auf die technologische Entwicklung hatte dagegen die Integration beider deutscher Volkswirtschaften in unterschiedliche Wirtschaftsblöcke. In der metallverarbeitenden Industrie der DDR bestand als Folge der Abtrennung von der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie ein kontinuierlicher Mängel an Rohstoffen und Halbfertigwaren. Daraus ergaben sich zu lange Entwicklungszeiten, qualitative Mängel und eine entsprechend geringe Exportfähigkeit. Durch die Autarkisierung wurde die DDR aber auch von der technologischen Entwicklung in den führenden westlichen Industrieländern abgeschnitten. Die Schwerpunkte der FuE-Tatigkeit orientierten sich im Zweifelsfall am Substitutionszwang und nicht am technologischen Entwicklungsstand. Politische Zielsetzungen wurden - wie im Falle des Bergmann-Borsig-Projekts - auch gegen den technischen und ökonomischen Sachverstand realisiert. In der Bundesrepublik bewirkte dagegen die Weltmarktintegration einen kontinuierlichen Modernisierungsdruck. Hohe FuE-Leistungen waren seit Anfang der fünfziger Jahre notwendig, um die technologische Wettbewerbsposition zu verbessern und die Exportfähigkeit wiederzuerlangen. In den untersuchten Bereichen gelang dies mit beträchtlichem Erfolg. Fortbestehende Lücken waren weniger durch den technologischen Entwicklungsstand als durch Kostenfaktoren bedingt, wie im Fall des Texturblechverfahrens oder der Großturbinen. Die Unterschiede im Innovationsverhalten wurden auch entscheidend von den Spielräumen und der Stellung der FuE-Bereiche geprägt. In der DDR bestimmte der Zwang zur kurzfristigen Erfüllung der Produktionspläne und Plantermine den Horizont betrieblichen Handelns. Mit Sanktionen wurde auf Planrückstände - spä-

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ter auch auf Planschulden - reagiert, nicht aber auf Innovationsdefizite. Langfristige, risikobehaftete FuE-Vorhaben waren mit der kurzfristigen Orientierung auf die Planerfüllung nicht vereinbar. 85 Kostenaufwendige Projekte wie die Errichtung leistungsfähiger Prüffelder wurden aufgeschoben, wenn sie sich nicht unmittelbar in einer Steigerung der quantitativen Produktion niederschlugen. In Verbindung mit dem Zwang zur Substitution westlicher Lieferungen wirkte sich dieser Druck langfristig kontraproduktiv aus, insbesondere in Schwerpunktbereichen, für die ein überdurchschnittlich hohes Produktionswachstum eingeplant war. Die Weichen für diese Entwicklung wurden Anfang der fünfziger Jahre gestellt, als z. B. im Transformatorenbau die FuE-Kapazitäten für die Lösung von „Gegenwartsaufgaben", d. h. für die Überwindung von akuten Mängeln in der Stromversorgung, benötigt wurden. Trotz der wirtschaftspolitischen Kurskorrekturen blieb dieser systemimmanente Mechanismus auch in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren bestehen. Schwerpunktprogramme wie das Kohle- und Energieprogramm von 1957 konnten den Innovationsrückstand nicht verringern. Die Entscheidung zur Übernahme neuer Verfahren ging in der Bundesrepublik von den FuE-Abteilungen und - entscheidender noch - von den Unternehmensleitungen aus, in der DDR von den Wirtschaftsplanungsbehörden, die letztlich nach politischen Kriterien handelten. Hier war die Notwendigkeit neuer Verfahren erst dann einsichtig, wenn die Betriebe auf einen gravierenden Rückstand gegenüber der Bundesrepublik verweisen konnten. Als Folge der Rückständigkeit blieb die DDR aber bei den jeweils neuesten Technologien von Lieferungen aus der Bundesrepublik und anderen westlichen Industrieländern abhängig, wie etwa bei den Höchstspannungstransformatoren, die für die Durchführung des 400 kV-Programms benötigt wurden. Da diese Abhängigkeit andererseits aus politischen Gründen verringert werden mußte, befand sich die DDR in einer „technologischen Falle". Mit dem Übergang zur Hochenergietechnik wurde Anfang der sechziger Jahre aus vergleichender Sicht eine qualitativ neue Stufe erreicht. Während die bundesdeutschen Unternehmen diesen Übergang - wenn auch mit einem erheblichen Rückstand gegenüber den USA - innerhalb weniger Jahre bewältigten, war die Leistungsfähigkeit der Betriebe in der DDR überfordert. Der Versuch, in den Großturbinenbau einzusteigen, scheiterte hier z. B. vollständig. Damit nahm das technologische Gefälle auf diesem Gebiet während der sechziger Jahre scherenförmig zu. Die Option der DDR, leistungsstärkere Maschinen und Anlagen aus der UdSSR zu beziehen, wie es im Turbinenbau vereinbart wurde, war nicht nur mit Einschränkungen in der Qualität und Unwägbarkeiten hinsichtlich der Einhaltung der Lieferverträge verbunden, sondern auch mit einer Begrenzung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und einer Verschlechterung der Außenhandelsposition innerhalb des RGW. Die Alternative des Technologietransfers aus dem Westen war we85 Vgl. hierzu auch Bentley, Raymond, Research and Technology in the Former German Democratic Republic, Boulder/San Francisco 1992, S. 16 ff.

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gen der geringen Exportfähigkeit der DDR-Industrie längerfristig nur noch auf dem Weg der Verschuldung praktizierbar.

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11 Bähr/Petzina (Hrsg.)

Zum Verlauf von Innovationsprozessen in der Rundfunkgeräteindustrie der B R D und der D D R am Beispiel der Einführung der UKW-Technik Von Andreas Vogel

A. Vorbemerkungen Als ein Teil der elektronischen Industrie war die Rundfunkgeräteindustrie in der BRD wie in der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren einer Reihe von Innovationsprozessen ausgesetzt, die zu einer grundlegenden Veränderung der Produkte und Produktionsprozesse in den Branchen dieses Wirtschaftszweiges führten. Für die Rundfunkgeräteindustrie war die Umstellung der Produkte in Folge der Einführung des Ultrakurzwellen(UKW)-Hörrundfunks Anfang der fünfziger Jahre der erste komplexe Innovationsprozeß, den die Unternehmen und die Branche nach dem Krieg durchliefen. Dieser Prozeß wurde in seinem Umfang und Verlauf in beiden Teilen Deutschland ähnlich realisiert, so daß die Reaktionen auf Innovationsanstöße und zu überwindende Entwicklungsbarrieren sehr gut vergleichbar sind. Zudem ergeben sich auch Erkenntnisse über die in beiden Branchen bestehenden Entscheidungsstrukturen. Besondere Berücksichtigung erfährt der im Vergleich zu anderen Branchen relativ stark ausgeprägte private Sektor in der Rundfunkgeräteindustrie der DDR, wobei sowohl seine Einbindung in Entscheidungsstrukturen und dabei eventuelle vorhandene Freiräume als auch die im Ablauf des Innovationsprozesses zu überwindenden Hemmnisse untersucht werden sollen. Dabei wird von einem „weiten" technisch-ökonomischen Innovationsbegriff ausgegangen werden, der Innovationen als Prozesse auffaßt, die auf Unternehmensebene, auf Branchenebene und in der Gesamtwirtschaft stattfinden können. Innerhalb der Prozesse, die zum einen durch die Hervorbringung neuer, auf Erfindung und Entwicklung beruhender technischer Produkte oder technologischer Verfahren und zum anderen durch deren Etablierung und Verbreitung auf dem Markt gekennzeichnet sind, können drei mögliche Phasen unterschieden werden. Die Inventionsphase beinhaltet das Hervorbringen einer neuen technischen Idee und deren Umsetzung in ein technisches bzw. technologisches Wirkprinzip, das für die Funktion des technischen Produktes oder technologischen Verfahrens entscheidend ist. 11

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In der zweiten Phase, der „eigentlichen" Innovation, wird ein auf einem neuen Wirkprinzip beruhendes Produkt oder Verfahren durch weitere Forschung, Entwicklung und Konstruktion für die Anwendung in der Praxis brauchbar gemacht. Die dritte Phase, die Diffusion, ist durch die umfassende Ausbreitung des technischen Produktes oder technologischen Verfahrens gekennzeichnet, beinhaltet also vor allem deren Marktverwirklichung. 1 Die Ausbreitung des Produktes oder Verfahrens ist mit einem Wissens- und Technologietransfer verbunden, der auf der Empfängerseite Innovationsaufnahmefähigkeit und -bereitschaft voraussetzt. Dazu gehören auch die Notwendigkeit und Möglichkeit der Anpassung an angrenzende technische Produkte oder technologische Prozesse. Der Beginn und der Verlauf von Innovationsprozessen unterliegen dabei verschiedenen Einflußfaktoren wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Art. Dabei gibt es Faktoren, die im engeren Sinne der Branche oder dem Unternehmen zuzurechnen sind, wie zum Beispiel das Konkurrenzstreben zwischen verschiedenen Unternehmen oder auch die wirtschaftliche Position eines Unternehmens. Überlagert werden diese durch politische Einflüsse, wie beispielsweise weltpolitische Tendenzen, Gesetzgebungen oder Isolationen vom Weltmarkt. Von entscheidendem Einfluß auf das Innovationsgeschehen insbesondere im Bereich der Konsumgüterindustrie sind auch soziale und kulturelle Einflußfaktoren und Entwicklungen. So können Veränderungen der Nutzungsgewohnheiten von Konsumgütern sowie sozial und kulturell bedingte Akzeptanzverschiebungen bestimmter Techniken einen bedeutenden Einfluß auf den Innovationsverlauf innerhalb einer Branche oder eines Unternehmens haben. Diese sozialen und kulturellen Einflüsse spielten auch beim Innovationsgeschehen in der Rundfunkgeräteindustrie und bei der Einführung der UKW-Technik eine große Rolle. Da die Verwendung der UKW-Technik im Rundfunkempfänger in erster Linie durch Faktoren erzwungen wurde, die zunächst nicht unmittelbar in der Rundfunkgeräteindustrie selbst gelegen haben, ist ein breiterer Ansatz für die Untersuchung des Innovationsverlaufes in der Rundfunkgeräteindustrie der BRD und der DDR notwendig. Mithin ergibt sich eine Dreiteilung der Untersuchung. Zuerst werden die Ursachen und der Verlauf der Einführung des UKW-Rundfunks in Deutschland behandelt. Ein zweiter Teil befaßt sich mit der Darstellung des Verlaufs der Umstellung der Rundfunkempfängertechnik auf den UKW-Empfang, also des Innovationsprozesses selbst. Im dritten Teil sollen schließlich dieser Verlauf und die dabei erkennbaren Entscheidungsstrukturen vergleichend analysiert werden.

1 Dabei ist der Begriff „Markt" strenggenommen natürlich für die Wirtschaft der DDR unzutreffend. Zum Zweck der anschaulicheren Begriffsbestimmung sollen hier aber deren Verteilungs- und Versorgungsmechanismen mit eingeschlossen werden.

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B. Ursachen undVerlauf der Einführung des UKW-Rundfunks in West- und Ostdeutschland I. Ursachen der UKW-Einführung Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges waren die seit Einführung des Rundfunks in Europa beständig getroffenen internationalen Vereinbarungen zur Frequenzverteilung von praktisch allen Ländern mißachtet worden, so daß gemeinhin von einem „Wellenchaos" gesprochen wurde. 2 Das machte eine neue Konferenz notwendig, „um die Wellenbänder und Kanalbreiten neu zu ordnen", 3 zumal quasi noch der Wellenplan von Luzern aus dem Jahre 1933 galt, da der 1939 von der Europäischen Rundfunkkonferenz in Montreux erarbeitete infolge des Krieges nicht mehr realisiert worden war. 4 Besonders während des Krieges war aber die Zahl der Sender drastisch angestiegen. So arbeiteten beispielsweise 1942 allein in Deutschland zweiundzwanzig Sender, dazu kamen noch einmal sechsunddreißig Sender, die Deutschland in den besetzten Gebieten betrieb. Allgemein waren in allen Staaten die Senderleistungen gegenüber den Vorkriegsjahren stark erhöht worden. Eine Reihe von Sendern arbeitete mit sehr instabilen Frequenzen. Diese Situation erforderte eine Neuordnung der Frequenzverteilung in Europa. Die Verhandlungen dazu begannen im Juni 1948 in Kopenhagen. An ihnen nahmen dreiunddreißig Länder teil. 5 Die zunehmende Verschärfung des Ost-West-Konfliktes wirkte sich auch auf den Konferenzverlauf in Kopenhagen aus und zeigte sich vor allem in einer stark politisch beeinflußten Wellenverteilung. Daher waren die Resultate „nicht nur vom sachlichen Geist der Techniker bestimmt", sondern es wirkten sich auch „politische Allianzen und Gegensätze" aus.6 Dabei kam Deutschland nahezu zwangsläufig zwischen die Interessen beider Machtblöcke. Es konnte auf der Konferenz nicht mit einer eigenen Delegation vertreten sein, da es unter alliierter Verwaltung stand. Nach dem Potsdamer Abkommen sollte der Alliierte Kontrollrat die Regierungsgewalt „in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen" 7 ausüben, was die außenpolitische Vertretung mit einschloß und auch für die Kopenhagener Konferenz gegolten hätte. 2

Büscher, Gustav, Wellenchaos im Äthermeer, in: Funk-Technik 3 (1948), H. 10, S. 233; Die Iden des März, in: ebd. 5 (1950), H. 6, S. 163; Glowczewski, Georg von, Der Kopenhagener Wellenplan von 1948. Seine politischen, rechtlichen und technischen Folgen für die ARD, in: Lerg, B./Steiniger, Rolf (Hrsg.), Rundfunk und Politik 1923 bis 1973 (= Rundfunkforschung, Bd. 3); Berlin 1973, S. 386. 3 Glowczewski, S. 386. 4 Ebda.; Lange, Günter, Die Europäischen Rundfunkabkommen., in: Europa-Archiv 2 (1947), S. 1051; Magnus, Kurt, Der Rundfunk in der BRD und Westberlin, Frankfurt/M. 1955, S.55. 5 Die Iden des März, in: Funk-Technik 5 (1950), H.6. 6 7

Liebig, Otto H., Funk - ein neues Weltreich, München 1959, S. 84. Potsdamer Abkommen und andere Dokumente, Berlin 1951, S. 17.

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In der Vorbereitungsphase der Konferenz wurde der Kontrollrat auch noch entsprechend wirksam und erarbeitete einen Plan der für Deutschland notwendigen Frequenzen, um eine flächendeckende Rundfunkversorgung zu ermöglichen.8 Allerdings fielen in diese Zeit bereits die Prozesse, die letztlich bis zur Gründung von zwei deutschen Staaten führten. Als die Westmächte Anfang 1948 in den Kontrollratssitzungen der Sowjetunion Informationen über den Verlauf der im Zusammenhang mit der Einbindung der Westzonen in die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) stehenden Konferenzen in Brüssel und London verweigerten, nahm die sowjetische Seite dies zum formellen Anlaß, um im März 1948 aus dem Kontrollrat auszutreten.9 Dessen Arbeit kam damit zum Erliegen und somit blieb auch die Vertretungsfrage auf außenpolitischem Gebiet offen. Für die Kopenhagener Konferenz bedeutete dies, daß die Besatzungsmächte die Interessenvertretung für ihre Zonen selbst übernahmen und je durch einen Offizier in Kopenhagen vertreten waren. 10 Zudem bestand bereits in der Vorbereitungsphase der Konferenz bei den Vertretern der anderen Staaten Einigkeit darüber, daß Deutschland als Hauptkriegsschuldiger nur mit einem „technischen Minimum" an Frequenzen versorgt werden sollte. 11 Über die Art und Weise, wie dieses Mindestmaß der Frequenzversorgung gestaltet werden sollte, bestand aber kaum Einigkeit. Ursprünglich war daran gedacht worden, Deutschland lediglich die Ausstrahlung eines einzigen Programms für das gesamte Territorium zu gestatten. Dem standen aber die unterschiedlichen Auffassungen und Interessen der vier Besatzungsmächte entgegen.12 Die Verteilung, auf die sich die Konferenzteilnehmer schließlich einigten, kam für Deutschland sehr in die Nähe des „technischen Minimums", indem es „so viel Wellen, wie zur Versorgung jeder Besatzungszone mit einem Programm notwendig" waren, 13 zugesprochen bekam. Jede Besatzungszone konnte dafür zwei Frequenzen nutzen. Diese waren jedoch keine sogenannten „Ausschließlichkeitswellen" die der jeweiligen Sender allein nutzen konnte, sondern sie sollten von anderen Staaten beziehungsweise Rundfunkanstalten mitbenutzt werden. 14 Das bedeutete, daß die auf diesen Frequenzen abzustrahlende Leistung begrenzt war, um die Sendungen der Mitbenutzer nicht zu stören. Neben diesen insgesamt acht Frequenzen sollten die Sender der Besatzungstruppen je eine Frequenz erhalten, auf die Frankreich jedoch verzichtete, wohl weil die Besatzungszone an Frankreich 8 Schuster, Fritz/Pressler, Hans, Deutschland und der Kopenhagener Wellenplan. In: Archiv für das Post- und Fernmeldewesen 10 (1954), S. 670-677. 9 Morsey, Rudolf, Die Bundesrepublik Deutschland, München 1990, S. 15-16. 10 Schneider, Reinhard, Die UKW-Story. Zur Entstehungsgeschichte des UKW-Rundfunks, Berlin 1989, S. 17-18. 11 Kommentare zum Kopenhagener Plan. Bericht der Sachverständigen der UIR. Übersetzt in: Rundfunk und Fernsehen (Hamburg) 1949, Folge 5/6, S. 19 20. 12 Schneider, S. 18.

13 Glowczewski, S. 388. 14 Magnus, S. 57.

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grenzte und somit von den landeseigenen Sendern die Truppenversorgung erfolgen konnte. Außerdem war Deutschland noch die Benutzung der „internationalen Gemeinschaftswelle 1484 kHz" 1 5 gestattet worden. Auf ihr konnten aber nur Sender mit einer relativ kleinen Leistung als Orts- oder Füllsender arbeiten, da die zulässige Strahlungsleistung auf dieser Frequenz noch stärker beschränkt war. Eine Langwelle war nach diesem Plan keiner der Zonen zugeteilt worden. Eine flächendekkende, störungsfreie Versorgung war unter diesen Bedingungen in keiner der Besatzungszonen (unabhängig von der dort anzutreffenden Senderlandschaft) möglich.

II. Verlauf der Einführung des UKW-Rundfunks in Westdeutschland Zwar trat der Kopenhagener Wellenplan, wie vorgesehen, am 15. März 1950 in Kraft, doch wurden sehr rasch von verschiedenen ,Rundfunkstationen mehrerer Länder auch andere als die zugewiesenen Frequenzen benutzt. Formalen Anlaß bot dazu die Ignorierung des Wellenplanes durch Luxemburg, das jedoch den Vertrag nicht unterzeichnet hatte. 16 Die Schuld an der Verletzung der Vereinbarungen von Kopenhagen schoben sich die Länder der beiden Machtblöcke wechselseitig zu. Für Deutschland lagen die Gründe für die Verletzung zweifellos in der beschriebenen prekären Versorgungssituation im Rundfunkbereich, die Schuldfrage wurde aber von beiden Seiten propagandistisch ausgenutzt. Sie erscheint letztlich aber unerheblich, zumal die vereinbarungswidrigen Frequenznutzungen sowohl in der DDR als auch in der BRD mit Billigung der jeweiligen Besatzungsmächte vorgenommen wurden. Die Tabelle 1 weist die reale Frequenzverteilung für die Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik ab März 1950 aus.17 Zu den dort aufgeführten zehn zusätzlichen Frequenzen (neun in der amerikanischen und eine in der britischen Zone) kamen später noch weitere hinzu, so daß 1954 insgesamt achtzehn außerplanmäßige (also im Grunde illegale) Mittelwellenfrequenzen in der Bundesrepublik genutzt wurden. Die Rundfunkversorgung in diesem Wellenbereich konnte damit aber kaum verbessert werden, „insbesondere abends, wenn die Wirkung der Raumwellen einsetzte und weit entfernte Gleichkanalsender den Empfang des eigenen Programms störten". 18 Das hatte seine Ursache nicht zuletzt auch darin, daß andere Staaten ebenfalls neben den geplanten weitere Frequenzen belegten, so daß 1954 schon wieder „in Europa 45% aller Mittelwellen in Abweichung vom Wellenplan genutzt" wurden. 19 15 Schuster/Pressier, S. 670; Der Kopenhagener Wellenplan. In: Funk-Technik 3 (1948), H. 24, S. 604: Glowczewski, S. 389. 16 Glowczewski, S. 390. π Senderverzeichnis ab 15. März 1950. In: Funk-Technik 5 (1950), H. 6, S. 162. ι» Schneider, S. 20.

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Aus funktechnischer Sicht bot der Aufbau eines UKW-Rundfunknetzes Aussicht, die durch den Kopenhagener Wellenplan entstandenen beziehungsweise zu erwartenden Probleme zu lösen und sogar Verbesserungen gegenüber den bisher üblichen Übertragungswegen zu erreichen, erst recht, wenn man statt der Amplitudenmodulation (AM) die Frequenzmodulation (FM) verwenden würde, was im übrigen nur im Ultrakurzwellenbereich möglich ist. Der UKW-Bereich wurde in Deutschland schon vor dem Krieg vor allem bei den Fernsehversuchssendungen benutzt, ohne daß ihm für die Rundfunkversorgung eine Perspektive eingeräumt wurde. 20 Im übrigen schien „die Rundfunkversorgung der Hörer ... damals durch die Sender auf Mittel- und Langwelle gesichert". 21 Dennoch war der Bereich hinsichtlich seiner Ausbreitungseigenschaften weitgehend erforscht. Vor allem die relativ kurze Reichweite von UKW-Sendern stellte sich für die notwendigen Versorgungsaufgaben als Vorteil dar. Damit war es nämlich möglich, vergleichsweise viele Sender zu betreiben, ohne daß die Gefahr bestand, daß sie sich gegenseitig störten. Weniger Erfahrungen lagen auf dem Gebiet der Frequenzmodulation vor. Für die Fernsehübertragungen der dreißiger Jahre wurde sowohl für das Bild als auch für den Ton die Amplitudenmodulation genutzt. Einige Forschungsergebnisse gab es aus dem Bereich militärischer Anwendungen.22 Die Übertragung frequenzmodulierter Sendungen versprach aber einen wichtigen Vorteil des UKW-Rundfunks gegenüber dem AM-Rundfunk. Damit wurde erstens eine Verbesserung der Klangqualität möglich, weil ein breitbandigeres Niederfrequenz-Signal (NF-Signal) gesendet werden konnte. Zweitens ist ein FM-Signal weniger anfällig gegen atmosphärische Störungen, die hauptsächlich amplitudenmodulierend wirken. Gleichwohl wurden noch andere Varianten zur Lösung der Versorgungsprobleme diskutiert. Eine davon war der hochfrequente Drahtfunk. Diese Rundfunkbetriebsart war vor dem Krieg in einigen Großstädten und später auch in kleineren Ortschaften eingeführt worden. Ihre Hauptanwendung lag jedoch in den Städten, da der Drahtfunk in erster Linie an das Telefonnetz der Post gebunden war. Die Programme wurden von speziellen Betriebsämtern auf einer Frequenz im Langwellenbereich in das Netz eingespeist und konnten vom Hörer mit herkömmlichen Rundfunkgeräten empfangen werden. Dazu war es weiterhin notwendig, daß der Hörer über einen entsprechenden Anschluß an das Telefonnetz verfügte, der dann mit dem Antenneneingang des Rundfunkempfängers verbunden wurde. 23 Eine ab19 Glowczewski, S. 390; Schuster/Pressler, S. 682. 20

Schneider, S. 35-40. Im Ausland wurden solche Konzepte durchaus entwickelt. So entwarf beispielsweise Anfang der dreißiger Jahre in der UdSSR Michail A. Bontsch-Brujewitsch ein Konzept zur Rundfunkversorgung der Bevölkerung mittels UKW-Sendungen. Vgl. Ivanov, Α. B., Sovjetskije Inschnerij, Moskau 1985. 21 Schneider, S. 41. 22 Ebd. S. 42. 23 Deutsch, Κ. H., Das Drahtfunknetz in Berlin und seine technische Ausrüstung, in: ebd. 3 (1948), H. 5, S. 106 und 109-110; Was ist bei Benutzung des Drahtfunks zu hören?, in: ebd. 4 (1949), H. 2, S. 50; Drahtfunk, in: ebd. 4 (1949), H. 19, S. 571.

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gewandelte Variante des Drahtfunks sah vor, die Sendungen nicht über Fernmeldeleitungen, sondern über die des Lichtnetzes zu übertragen. Dazu hätte an jeder Trafostation ein Speisesender und in den Wohnungen eine entsprechende Auskopplungsanlage installiert werden müssen. Zwar wären damit im Gegensatz zum Drahtfunk über das Telefonnetz, alle Haushalte zu erreichen gewesen, ungelöst blieb aber die Frage, wie die Sendungen von den Funkhäusern an die Speisesender hätten übertragen werden sollen. Ein weiteres Konzept sah vor, die Sendegebiete mit einem Netz von „Mittelwellenkleinstsendern unter 20 kW" zu versorgen. Bei dieser geringen Leistung waren zwar keine Störungen anderer Stationen zu erwarten, die Reichweite wäre aber so gering gewesen, „daß tausende dieser kleinen Sender hätten aufgestellt werden müssen, wenn man sich nicht auf die Versorgung der Bevölkerungsschwerpunkte beschränken wollte. Auch bei diesem Vorschlag war die Frage der Programmzubringung zu den einzelnen Kleinstsendern noch ungeklärt". 24 Auch ein Ausbau der Versorgung im Kurzwellenbereich schien wenig Tabelle 1 Frequenznutzung der westdeutschen Rundfunkanstalten nach Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes (die im Plan vorgesehenen Frequenzen sind fettgedruckt) Frequenz (kHz)

Nutzende Rundfunkanstalt

Besatzungszone

548

American Forces Network Bayreuth

amerikanische Zone

566

Nordwestdeutscher Rundfunk Berlin

britische Zone

575

Süddeutscher Rundfunk Stuttgart

amerikanische Zone

593

American Forces Network Frankfurt/M.

amerikanische Zone

611

American Forces Network Berlin

amerikanische Zone

719

RIAS

amerikanische Zone

728

Bayerischer Rundfunk München

amerikanische Zone

971

Nordwestdeutscher Rundfunk Köln

britische Zone

971

Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg

britische Zone

989

RIAS

amerikanische Zone

1061

American Forces Network Stuttgart

amerikanische Zone

1196

Südwestfunk

französische Zone

1214

British Forces Network

britische Zone

1358

Radio Bremen

amerikanische Zone

1439

Hessischer Rundfunk Frankfurt/M.

amerikanische Zone

1538

Südwestfunk

französische Zone

1554

American Forces Network München

amerikanische Zone

1586

Nordwestdeutscher Rundfunk Hannover

britische Zone

1602

Bayerischer Rundfunk Nürnberg

amerikanische Zone

24 Schneider, S. 22.

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aussichtsreich. Hiergegen sprachen vor allem die noch schwierigeren Empfangsbedingungen, besonders bei Dunkelheit, und die große Störanfälligkeit der Kurzwellensendungen gegen atmosphärische Einflüsse. Für die Varianten gab es jeweils verschiedene Fürsprecher. So favorisierte die Post den Drahtfunk über Fernsprechleitungen. Dadurch hätte die Rolle der Post im Rundfunkbetrieb wieder gestärkt werden können, nachdem von den Besatzungsmächten in Westdeutschland die Sendeanlagen, die sich bis 1945 in Besitz der Post befunden hatten, entschädigungslos den Rundfunkanstalten übereignet worden waren. Nach dieser Enteignung hatte die Post nur noch die Verbindungsleitungen zwischen den Funkhäusern und Sendern zur Verfügung zu stellen und zu betreiben, einen Entstörungsdienst zu unterhalten sowie die Rundfunkgebühren einzuziehen. Vom Gebührenaufkommen erhielt sie einen in den drei Westzonen unterschiedlichen Pauschalbetrag in Höhe von ca. 20-25% zur Deckung ihrer Aufwendungen. Vom Betrieb eines Drahtfunknetzes versprach man sich in der Fernmeldeverwaltung der Post auf längere Sicht höhere Einnahmen,25 die jedoch in Form einer Gebührenerhöhung hätten erhoben werden müssen. Gerade diese Kostenumlage sprach aber angesichts der geringen durchschnittlichen Einkommen der Haushalte, neben den erwähnten technischen Problemen, gegen diese Variante. Für die von den Rundfunkanstalten getroffene Entscheidung zugunsten einer drahtlosen Übertragung spielte also zweifellos auch eine Rolle, daß damit die Ambitionen der Post, stärker am Rundfunkbetrieb partizipieren zu können, abgeblockt werden konnten. Damit entsprach das Handeln der noch unter Besatzungshoheit stehenden Rundfunkanstalten schließlich auch den Absichten der Besatzungsbehörden in Westdeutschland. Aus den gleichen politischen und ökonomischen Erwägungen wurde auch die von einigen Energieversorgungsunternehmen unterstütze Variante des auf das Lichtnetz gestützten Drahtfunks verworfen. Die Ein- und Auskopplungsinstallationen hätten einen großen Aufwand erfordert. Schwerer wog aber, daß mit dieser Lösung die Rundfunkanstalten in ein Abhängigkeitsverhältnis zu privatwirtschaftlichen Unternehmen geraten wären, wie es von den Besatzungsmächten kategorisch nicht gewollt wurde. 26 Für die Wahl des UKW-Funks aus dem Spektrum der drahtlosen Übertragungsarten sprach schließlich aus Sicht der Rundfunkanstalten vor allem die zu erwartende Qualitätsverbesserung der Übertragung, die der Gleichwellenbetrieb mit kleinen Mittelwellensendern nicht bieten konnte. Auch finanziell bot der UKWRundfunk gewisse Vorteile, da die Sender nicht notwendig über Steuerleitungen, sondern auch drahtlos mittels des sogenannten Ballempfangs-Verfahrens mit Sendesignalen versorgt werden konnten, so daß die Kabelverbindungen zumindest teilweise nicht installiert werden mußten.27 25 Bausch, Hans, Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1945-1962 (= Rundfunk in Deutschland, Bd. 3), München 1980, S. 24-43; Schneider, S. 21. 26 Schneider, S. 21. 27 Ebd. S. 23.

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Eine Vorreiterolle spielte beim Aufbau des UKW-Rundfunks in der Bundesrepublik der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR). Bereits im Oktober wurde im Verwaltungsrat der Anstalt der Beschluß zur Einrichtung von UKW-Sendern gefaßt. Damit sollte nicht nur die Rundfunkversorgung im die gesamte britische Zone umfassenden Sendegebiet sichergestellt, sondern auch ein zweites regional spezifiziertes Programm verbreitet werden. Der erste Versuchssender mit einer Leistung von 100 W ging am 1. März 1949 in Hannover in Betrieb. Dieser Standort wurde unter anderem auch wegen der dortigen Konzentration von Rundfunkgeräteherstellern gewählt, denen damit die Möglichkeit zum Test neuentwickelter UKW-Empfänger gegeben wurde. Bis zum Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes im März 1950 arbeiteten im Sendegebiet des NWDR drei weitere UKW-Sender in Hamburg, Köln und Berlin. Beim Bayerischen Rundfunk begannen die Vorbereitungen für die UKW-Einführung ebenfalls um die Jahreswende 1948/49. Der erste Sender stand in München und hatte eine Leistung von 250 W. Er wurde einen Tag früher als der Sender in Hannover, also am 28. Februar 1949, in Betrieb genommen, obwohl beide Rundfunkanstalten einen gemeinsamen Sendebeginn verabredet hatten. Weitere Sender wurden in Nürnberg und auf dem Wendelstein bis Januar 1950 errichtet. Besonders der letztgenannte erreichte wegen seiner geographischen Lage ein sehr großes Sendegebiet.28 Vor Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes hatten außerdem der Süddeutsche Rundfunk einen und der Hessische Rundfunk drei UKW-Sender in Betrieb genommen, von denen die Anlage des Hessischen Rundfunks auf dem Großen Feldberg im Taunus mit 10 kW die seinerzeit größte Sendeleistung hatte. Bis zur ersten internationalen UKW-Konferenz zur Frequenzverteilung 1952 in Stockholm wurden die Sendenetze der Rundfunkanstalten, auch des Südwestdeutschen und des Saarländischen Rundfunks so weit ausgebaut, daß eine weitgehend flächendekkenden Versorgung mit zwei Programmen gesichert war. Insgesamt waren zu dieser Zeit 65 Sender in Betrieb. 29

I I I . Verlauf der Einführung des UKW-Rundfunks in Ostdeutschland In der sowjetischen Besatzungszone war nach dem Krieg ein zentral organisierter Rundfunk aufgebaut worden. Neben den einzelnen Landessendern und einem Berliner Programm strahlte der Deutschlandsender ein teilweise auf die Westzonen orientiertes Programm aus.30 Für deren Verbreitung wurden bis zum Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes sieben Mittelwellen- und eine Langwellenfre28 Ebd. S. 61-79. 29 Tetzner, Karl, 1.500 Frequenzen angefordert!, in: Funk-Technik 7 (1952), H. 13, S. 339; ders., Ergebnisse der UKW-Konferenz in Stockholm, in: ebd., H. 16, S. 425-426. 30

Ab 1952 wurden im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform zur Schaffung von Bezirken anstelle der Länder die drei Programme zentral von Berlin aus produziert.

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quenz genutzt, womit das Sendegebiet nahezu flächendeckend mit mindestens einem Programm versorgt werden konnte. Die Auswirkungen der neuen Frequenzverteilung wurden in einem Schreiben des Ministers für Post- und Fernmeldewesen Friedrich Burmeister an Wilhelm Pieck als Staatspräsidenten der DDR folgendermaßen eingeschätzt:31 „Die Einführung des Kopenhagener Wellenplanes bedeutet für die DDR, daß nur noch die Ausstrahlung von 2 Programmen durchgeführt werden kann, wobei wesentliche Gebietsteile ohne Rundfunkversorgung bleiben und durch den Wegfall des Langwellensenders eine Abhörmöglichkeit von Rundfunkprogrammen der DDR in Westdeutschland nicht mehr besteht." Dennoch wurden bis Anfang 1950 keine ernsthaften Versuche unternommen, andere Lösungen zur Rundfunkversorgung vorzubereiten, da, so wird in dem Brief weiter berichtet, „von der Abteilung Fernmeldewesen der ehemaligen SMAD und der jetzigen SKK bisher die Ansicht vertreten [wurde], daß mit einer Durchführung dieses Planes nicht zu rechnen sei". 32 Eine Annahme, die im übrigen auch in der Bundesrepublik ausgiebig diskutiert wurde. Eigene Schritte wurden hierbei von der Leitung des Rundfunks oder der Post nicht unternommen, da sich in der SBZ/ DDR die SMAD auch auf dem Gebiet des Rundfunks die Entscheidungsgewalt vorbehielt. Erst Ende Januar 1950 wurde dem für den Betrieb der Sendeanlagen zuständigen Ministerium für Post- und Fernmeldewesen33 von der SKK mitgeteilt, daß der Kopenhagener Wellenplan wie vereinbart in Kraft gesetzt werden würde. Die Sender in Leipzig und Berlin sollten auf die neuen Frequenzen 1043 und 782 kHz umgestellt, die übrigen vorerst stillgelegt werden. Dabei war die Frequenz für den Berliner Sender ursprünglich für den sowjetischen Truppensender vorgesehen und wurde nun der DDR zur Verfügung gestellt, um zwei Frequenzen im alten Mittelwellenbereich nutzen zu können,34 so daß vorerst keine Umrüstung der vorhandenen Empfänger auf das in Kopenhagen festgelegte breitere Mittelwellenband nötig wurde. In der verbleibenden Zeit war es praktisch unmöglich, Maßnahmen zu treffen, um eine Unterversorgung in der DDR zu vermeiden. Daher wurde die UdSSR von 31 Brief des Ministers für Post- und Fernmeldewesen an den Staatspräsidenten der DDR vom 15. 2. 1950, BArchP, DM 3, BRF11/1306. 32 Ebd. Die SMAD wurde nach der Gründung der DDR als Sowjetische Kontrollkomission bezeichnet, da die Vollmachten der SMAD nach der Staatsgründung formal auf die DDRRegierung übertragen worden waren. 33 Da der Rundfunk in der SBZ als Staatsrundfunk konzipiert wurde, war eine Trennung von Rundfunkanstalt und staatlicher Behörde wie in den Westzonen nicht nötig. Daher wurde in der SBZ auch nicht durch Übertragung der Sender in Eigentum der Rundfunkanstalt, die Post vom Rundfunkbetrieb ausgeschlossen. 34 Ebd.; Abschrift Brief der SKK an das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen vom 28. 1. 1950, BArchP, DM 3, BRF 11/1306.

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der DDR-Regierung ersucht, eine ihrer Langwellenfrequenzen dem Deutschlandsender zur Nutzung zu überlassen. Dem wurde vor allem aus politischen Erwägungen zugestimmt, da das Programm inhaltlich stark auf die Bundesrepublik ausgerichtet war und, so die Intention, einen ideologischen Gegenpol zum RIAS bilden sollte. 35 Dessen Empfang so weit wie möglich in der DDR zu unterbinden, blieb daher auch eine wesentliche und vorrangige Zielstellung bei allen Planungen zum Aufbau von Sendeanlagen für den Rundfunk. Um den RIAS, der vor allem von Berlin aus mit einem sehr starken Sender in das Gebiet der DDR einstrahlte, zu stören, wurde ein Netz von kleinen Sendeanlagen entworfen und errichtet, das auf den Frequenzen der RIAS-Sender Berlin und Hof arbeitete und das Programm des DDR-Rundfunk abstrahlte. Insgesamt wurden sechzehn Sender geplant und gebaut. Vor allem entlang der Grenze zur Bundesrepublik verblieben aber noch Lükken ungestörten Empfangs, da Leistung und Standort der Störsender so gewählt werden mußten, daß das Territorium der Bundesrepublik nicht erfaßt wurde. In diesen Gegenden wurden sogenannte Geber installiert, die das DDR-Rundfunkprogramm auf RIAS-Frequenzen über das Lichtnetz ausstrahlten und so den Empfang störten. Von diesen Geräten wurden insgesamt sechshundert installiert. Als dritte Maßnahme war die Entwicklung eines festabgestimmten Geradeausempfängers vorgesehen. Dieses unter dem Namen „Kolibri" vom Stern-Radio Berlin konstruierte und produzierte Gerät erfüllte aber nicht die gestellten Anforderungen. Es hatte eine zu geringe Trennschärfe, so daß vor allem in Berlin selbst der RIAS hinter den DDR-Programmen zu hören war und sich somit die Absicht in ihr Gegenteil verkehrte. Nach einigen Versuchen, die Konstruktion zu verbessern, wurde das Gerät schließlich nicht mehr produziert und verkauft. 36 Diese Projekte wurden alle mit einem erheblichen technischen und ökonomischen Aufwand betrieben, der Kapazitäten für andere Vorhaben auf lange Zeit band und somit auch die Einrichtung eines UKW-Sendernetzes bremste. Aus Sicht der mit der Rundfunkordnung befaßten Funktionäre im Parteiapparat, in der Regierung und dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen hatte es in der Situation des Kalten Krieges eine sehr hohe Priorität, „die Hetz- und Lügensendungen des Rias unwirksam zu machen".37 Es war aber abzusehen, daß der „Umfang der technischen Maßnahmen zur Überdeckung der unerwünschten Sender ... aus volkswirtschaftlichen Gründen und mit Rücksicht auf die Forderung, daß die Sendungen des demokratischen Rundfunks möglichst störungsfrei empfangen werden [sollten], auf einige Frequenzen beschränkt bleiben" mußte. Das waren die RIAS-Fre35 BArchP, DM 3, BRF 11/1306: Brief des Staatspräsidenten der DDR an die SKK. Vom 9. 2. 1950; Brief der SKK an den Staatspräsidenten der DDR, ebd. 36 Schwerpunkte für Beschlußvorläge (Aktennotiz); Aktennotiz „Betr. Rundfunkversorgung" (a) und (b); ebd., BRF 11/58; Besprechungsprotokoll zum „Kolibri" vom 29. 5. 1954, ebd., DG 3/5177; Besprechungsprotokoll zum „Kolibri" vom 31. 10. 1954, ebd./5205; Prüfprotokolle zum „Kolibri", ebd./5206: 37 Schwerpunkte für Beschlußvorlage (a), ebd., DM 3, BRF 11/58.

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quenzen. Der Störsenderaufbau sollte daher von Agitationseinsätzen flankiert werden. Außerdem wurde erwogen, um „das Abhören unerwünschter Sender als Massenerscheinung zu verhindern, ... auf eine entsprechende Kontrolle aller empfängerbauenden Betriebe zu achten". Damit sollten Empfängerkonstruktionen „welche durch unerwünschte Peilmöglichkeit infolge von Ferritantennen oder Rahmenantennen gekennzeichnet sind, von der Produktion" ausgeschlossen werden. 38 Ob nun aber das Fehlen von Ferritantennen in den Rundfunkempfängern der DDR während der Jahrgänge bis 1955/56 tatsächlich auf eine solche Anordnung zurückzuführen ist oder ob Produktionsprobleme bei Ferritantennen die Ursache waren, kann zur Zeit noch nicht zweifelsfrei geklärt werden. Dazu sind weitere Recherchen notwendig, ob ein solcher administrativer Eingriff in die Produktentwicklung stattgefunden hat. Zur möglichst störungsfreien Versorgung der Bevölkerung mit den eigenen Rundfunkprogrammen wurden die Lösungsmöglichkeiten Gleichwellenrundfunk (auf der dem Wellenplan entsprechenden Frequenz 1570 kHz) und UKW-Rundfunk zwar seit Anfang 1950 konzipiert, waren aber kurzfristig nicht zu realisieren. Nachdem nach Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes sehr rasch deutlich wurde, daß eine Reihe von Ländern den Plan nicht einhielten, wurde zudem der Ausbau der vorhandenen Mittelwellensender mit größeren Sendeleistungen betrieben. Gleichzeitig wurden die vorübergehend stillgelegten Landessender wieder in Betrieb genommen.39 Mit der Einführung des UKW-Rundfunks wurde in der DDR mit einem Entwicklungsrückstand von etwa einem Jahr gegenüber der Bundesrepublik begonnen. Gegenüber dem Ausbau des Mittelwellen-Rundfunks auf der Basis eines Gleichwellennetzes besaß der UKW-Rundfunk aber eine deutlich geringere Wertigkeit. Sein Aufbau wurde daher auch weniger nachdrücklich betrieben, so daß noch 1954 der wissenschaftlich-technische Rat des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen, ein Beratungsgremium der Leitung, auf die immer noch vorhandene „falsche Meinung" hinweisen mußte, „dass man mit Hilfe starker Mittelwellensender an allen Orten der DDR in der Lage ist, die drei von uns ausgesandten Programme zu empfangen". 40 Darauf hatte der Rat schon seit 1951 mehrfach verwiesen und einen beschleunigten Ausbau des UKW-Rundfunks empfohlen. Auf Mittelwellensendungen sollte im Inland völlig verzichtet werden. Die vorhandenen Mittelwellen(MW)-Sender sollten für den Auslandsrundfunk, vor allem in Richtung BRD, genutzt werden. Dieser Vorschlag entsprach im übrigen auch der technischen Situation der Mittelwellensender, die größtenteils so alt waren, daß sie komplett rekonstruiert werden mußten. Ein Umstand, der sich in der Folge zusätzlich hemmend auswirkte. Auch in den folgenden Jahren wurde dem Mittelwellen38 Ebd. 39 Aktennotiz zur Besprechung zur technischen Lage des Rundfunks in der DDR. vom 25. 3. 1950, ebd./1306. 40

Situationsbericht der Technik beim Rundfunk und Fernsehen, ebd., BRF 1/128 (rot).

Innovationsprozesse in der Rundfunkgeräteindustrie

175

rundfunk von der Leitung des DDR-Rundfunks eine größere Bedeutung zugemessen, als ihm zur Versorgung eigentlich noch zukommen konnte. 41 Bei der Ausgestaltung der Sendernetze standen also an erster Stelle die Bemühungen, die Empfangsmöglichkeiten von Sendern der Bundesrepublik einzuschränken, an zweiter Stelle der Ausbau der Mittelwellennetze und an dritter die Einführung des UKW-Rundfunks. Damit rangierte der UKW-Rundfunk bei den Versuchen, die Versorgungsdichte mit Rundfunkprogrammen zu verbessern, vorerst in der DDR an dritter Stelle hinter Konzepten, die auf den traditionellen Übertragungsverfahren mit Amplitudenmodulation beruhten. Daß dennoch ein vor diesem Hintergrund durchaus großzügiges UKW-Sender-Bauprogramm entworfen wurde, ist zweifellos auch darauf zurückzuführen, daß die DDR aus Prestigegründen mit der rascheren Entwicklung in der Bundesrepublik mithalten wollte und mußte. Die Realisierung des Programms erfolgte aber anfangs sehr schleppend, da es in den Planungen keine besondere Priorität hatte. Hinzu kamen Koordinations- und Verständigungsprobleme zwischen den mit dem Senderbau befaßten Firmen Funkwerk Köpenick und Werk für Fernmeldewesen (HF) Berlin-Oberschöneweide. Im HF-Werk wurden die Baumuster für die Sender entwickelt, die dann im Funkwerk zur Serienreife gebracht und produziert wurden. Diese Aufteilung gestaltete sich vor allem auch dadurch kompliziert, daß das HF-Werk zu dieser Zeit noch als SAG-Betrieb firmierte und das Funkwerk der Hauptverwaltung Rundfunk- und Fernmeldewesen (RFT) im Ministerium für Maschinenbau unterstellt war. Das Postministerium als verantwortliche Behörde für den Senderbau mußte also sehr verschiedene Partner koordinieren. Hauptsächlich die Zusammenarbeit mit dem HF-Werk gestaltete sich schwierig und zwar vor allem hinsichtlich der Übergabe von Konstruktionsunterlagen, der Freistellung von Mitarbeitern für gemeinsame Arbeitsgruppen und der Regelung der Kostenfragen. 42 Darüber hinaus standen anfangs in der DDR keine geeigneten Senderöhren für den UKW-Bereich zur Verfügung. Diese mußten von westlichen Herstellern bezogen werden. Die Realisierung dieses Importes wurde aber im Ministerium für Maschinenbau verzögert. Damit war dann auch die weitere Zuweisung von Entwicklungsmitteln zeitweilig in Frage gestellt, wenn nicht, „wie in der Besprechung beim PFZ ... klar herausgestellt wurde, der Betrag bei irgendeiner Stelle sofort bar verfügbar" wäre 4 3 Gleichzeitig wurden Entwicklungsprojekte für eigene Röhren zurückgestellt. Dies war eine unmittelbare Folge der fehlenden Dringlichkeitseinstufung des UKW-Programms in den Planungen.

41 Hermann, Siegfried/Kahle, Wolf/Kniestedt, Joachim, Der deutsche Rundfunk, Heidelberg 1994, S. 169. 42 Aktenvermerk über Besprechung im HF am 10. 10. 1951; Aktenvermerk über Besprechung im Funkwerk Köpenick am 1. 11. 1951, BArchP, DM 3, BRF 11/1306. 43 Bericht über den Stand des Funkprogrammes 1952, ebda. Mit „PFZ" wurde das Postund Fernmeldetechnische Zentralamt des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen abgekürzt.

176

Andreas Vogel Tabelle 2 UKW-Sender in der DDR (Stand 30.6.1953)

Standort

Sendefrequenz

Senderleistung

Programm

Brocken

94,5 MHz

250 W

Berlin I

Leipzig

88,0 MHz

250 W

Berlin I Berlin I

Schwerin

89,2 MHz

250 W

Berlin

92,5 MHz

250 W

Berlin III

Inselsberg

94,0 MHz

250 W

Berlin III

Die Situation besserte sich, als im Mai 1952 anstelle der Funktion des Sendereferenten eine spezielle Hauptverwaltung Funk im Postministerium eingerichtet wurde, der dann die gesamte Realisierung der verschiedenen Senderbauprogramme oblag. Während bis dahin die ohnehin sehr zögerlichen Planungen nur schleppend realisiert worden waren, wurde das UKW-Programm nun weitaus konsequenter verfolgt. Der Ausbau des UKW-Netzes ging nun zügiger vonstatten und bis Mitte 1953 waren insgesamt 5 UKW-Sender in Betrieb (vgl. Tabelle 2), von denen besonders die Sender auf dem Brocken und dem Inselsberg ein relativ großes Gebiet 44

versorgten. Allerdings wurde das UKW-Netz auch weiterhin nur als Parallelstruktur zum Mittelwellenrundfunk angesehen, mit dem vor allem Versorgungslücken zwischen den Ausbreitungsgebieten der MW-Sender geschlossen werden konnten. Somit wurde der Aufbau nie so forciert betrieben, wie in der Bundesrepublik, so daß noch 1960 je nach Programm erst in 15-60% des Territoriums der DDR UKW-Sendungen empfangen werden konnten.45 Obwohl der Bau nun eine höhere Dringlichkeit in den Planungen erhalten hatte, traten dennoch auch in der Folgezeit immer wieder Verzögerungen auf, so daß zum Teil deutliche Planrückstände entstanden. Diese wurden aber nicht mehr vorrangig von den mit dem Senderbau betrauten Firmen verursacht. Statt dessen verzögerte sich der Ausbau der Gebäude und Antennenanlagen. Daher mußte beispielsweise die Inbetriebnahme des Senders auf dem Brocken immer wieder verschoben werden, obwohl die Anlage selbst längst fertiggestellt war. 46

44

Bericht über den technischen Stand der Rundfunkversorgung. Per 31. 12. 1953, ebd./58. 5 Hermann/Kahle/Kniestedt, S. 169 u. S. 184.

4

46

Investitionen 1953; Investitionen 1954; Situationsbericht der Technik beim Rundfunk und Fernsehen, BArchP, DM 3, BRF 1/128 (rot).

Innovationsprozesse in der Rundfunkgeräteindustrie

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C. Der Verlauf des Innovationsprozesses der UKW-Einführung in den Rundfunkgeräteindustrien der BRD und der DDR I. Der Innovationsverlauf in der BRD Auf die von den Rundfunkanstalten in bezug auf das Inkrafttreten des Kopenhagener Wellenplanes sehr früh getroffene Entscheidung zum Aufbau eines UKWRundfunknetzes wurde von den Rundfunkgeräteherstellern anfangs mit großer Skepsis reagiert. Die Ursachen für die abwartende bis ablehnende Haltung der Unternehmen lagen in der wirtschaftlichen Lage der Branche im Jahre 1949. In Folge der Währungsreform hatte der Absatz an Rundfunkempfängern zwischen Juli und November 1948 stark zugenommen. Dies waren aber zum Teil noch Geräte, die bereits vor der Reform produziert und in den Lagern noch vorhanden waren. In erheblichem Maße waren an diesem Absatzhoch noch einmal die in den Nachkriegsjahren neu gegründeten kleinen Unternehmen beteiligt. Deren Modelle waren aber häufig sehr einfach konstruiert und von schlechter Qualität, so daß sie sich zunehmend nicht mehr am Markt behaupten konnten. Teilweise waren die Händler aber gezwungen, diese Modelle anzubieten, „weil zeitweilig eine ausgesprochene Knappheit an Geräten erster Marken bestand".47 Diese Mangelsituation besserte sich aber im genannten Zeitraum zunehmend, da die Rundfunkgerätehersteller ihre Produktion sehr rasch von rund 18.000 Geräten im Monat in der Zeit vor der Währungsreform auf monatlich bis zu 80.000 Stück erhöhten. Von diesen Empfängern kam der überwiegende Teil aus den Werken in der Bizone. Der hauptsächliche Hersteller in der französischen Besatzungszone, die Firma SABA, und die Westberliner Werke waren daran nur mit etwa 10.000 Geräten beteiligt. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß in Berlin produzierte Empfänger wegen der Blockade nur per Flugzeug und daher in geringem Umfang nach Westdeutschland gelangen konnten. Alles in allem entsprach die Produktionsmenge aber dennoch bereits wieder dem monatlichen Gesamtumsatz in ganz Deutschland von 1936. Damit verkehrte sich aber der Aufschwung der Branche ins Gegenteil, da diese Menge zunehmend nicht mehr abzusetzen war und es entstand eine bis Mitte des Jahres 1949 anhaltende Absatzkrise. Im Handel trat ab etwa Januar 1949 ein Rückgang des Umsatzes auf, „der im März die Verkäufe auf 30% der Novemberumsätze absinken ließ". 48 Dafür gab es verschiedene Gründe. Es begann sich wieder, wie vor dem Krieg, ein Saisoncharakter des Geschäftes mit Rundfunkempfängern einzustellen, bei dem die Hauptabsatzzeit in der zweiten Jahreshälfte lag und in der ersten Hälfte der Absatz etwas zurückging. Die Einbußen des Frühjahrs 1949 waren dafür aber zu stark. Hauptsächlich waren die Preise vor dem Hintergrund eines großen Bedarfs

47 Tetzner, K., Rundfunkwirtschaft im Fegefeuer, in: Funk-Technik 4 (1949), H. 9, S. 248. 48 Ebda. 12 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Andreas Vogel

an nahezu allen langlebigen Konsumgütern deutlich zu hoch. Sie lagen Anfang 1949 noch bei etwa 200% des Niveaus von 1936, während die Löhne nur auf etwa 120% gegenüber 1936 gestiegen waren. 49 Da, je nach Statistik, in den Jahren 1949/50 zwischen 4,9% und 7% 5 0 des Budgets von Haushalten zur Anschaffung von Hausrat und ähnlichem zur Verfügung standen, waren für eine Mehrheit von Haushalten die bis zu 500 DM für einen Rundfunkempfänger kaum aufzubringen. Die Ursachen für das hohe Preisniveau der Rundfunkempfänger wurden in der Fachzeitschrift „Funk-Technik" so bewertet: „Die hohen Erzeugerkosten, die den Endpreis bestimmen, haben ihre Ursache u. a. in sehr hohen Preisen für Einzelteile und deren vielfach minderen Qualitäten, in der noch immer nicht friedensmäßigen Arbeitsleistung der Belegschaft, in der hier und da noch mangelhaften Ausstattung der Fabriken mit Maschinen und Geräten, und schließlich in der Belastung des Werksausgangspreises durch die Wiederaufbaukosten. ... Maßgebende Kreise der Radioindustrie sind der Auffassung, daß die Kapazität der heutigen Fabriken völlig ausreicht, soweit es sich um Zusammenbaubetriebe handelt, von denen es, so meinen die gleichen Experten, zu viel in Westdeutschland gibt. Dagegen wird ein weiterer Ausbau der Zuliefererbetriebe befürwortet und auf das amerikanische Beispiel verwiesen, wo selbst größte Montagefirmen den überwiegende Teil der eingebauten Einzelteile von ganz wenigen hochspezialisierten Unternehmen beziehen, die auf Grund ihrer Massenfertigung alle Rationalisierungsmaßnahmen anwenden und alle nur möglichen Preisvorteile bieten". 51 Das in dieser Einschätzung konstatierte Mißverhältnis von Kapazitäten bei den Zulieferern und Geräteherstellern zwang diese dazu, kostenintensiv Bauteile selbst zu fertigen. Um die Fertigung rationeller zu gestalten, nahmen verschiedene und zunehmend mehr Hersteller sogenannte Kleinsuper in ihre Produktionsprogramme auf. Diese Empfänger konnten zu Preisen angeboten werden, die auf dem Niveau der in den Nachkriegsjahren dominierenden Geradeausempfänger lagen, weil sie im Vergleich zu Mittelklassegeräten relativ einfach aufgebaut waren. 52 Freilich wurden mehr Röhren benötigt, jedoch waren die Kapazitäten der Röhrenhersteller inzwischen so weit ausgebaut worden, daß sie diesen Mehrbedarf decken konnten und nicht zu den beschriebenen Disproportionen beitrugen. Zudem war nach der Währungsreform auch wieder der Import von Röhren möglich. Er erfolgte aber nur in beschränktem Umfang und bei solchen Typen, die in Deutschland noch nicht produziert wurden. 53 Der Rundfunkhandel führte wieder das Teilzahlungsgeschäft 49 Ebda. 50 Die erste Angabe wurde entnommen aus: Wildt, Michael, Am Beginn der Konsumgesellschaft. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren (= Forum Zeitgeschichte, Bd. 3), Hamburg 1994, S. 394. Die zweite Angabe stammt aus: Tetzner, Rundfunkwirtschaft im Fegefeuer, S. 247. 51 Tetzner, Rundfunkwirtschaft im Fegefeuer, S. 248. 52 Zwei Sonderleistungen im deutschen Gerätebau., in: Funk-Technik 4 (1949), H. 2, S. 38-39.

Innovationsprozesse in der Rundfunkgeräteindustrie

179

ein, um den stockenden Absatz zu beleben, wenngleich er dadurch mit einem erhöhten Risiko belastet war, da die Hersteller sich noch nicht wieder zu einer Absicherung bereit fanden. 54 Wirksam wurden diese Maßnahmen jedoch erst in der zweiten Jahreshälfte 1949, nachdem die erneuerten Geräteprogramme auf den Markt gebracht worden waren. Damit festigte sich im übrigen auch die bereits erwähnte Tendenz zum Saisoncharakter des Rundfunkgeräteabsatzes. 55 Die Vorbereitungen und Erörterungen zur UKW-Einführung fielen genau in den Zeitraum der krisenhaften Situation in der Branche und wurden deshalb von den Herstellern und den Händlern zuerst auch eher abgelehnt als begrüßt, zumal die Kunden eine abwartende Haltung erkennen ließen, die den ohnehin schwachen Absatz zusätzlich bremste. In dieser Situation boten die Hersteller für 1949/50 noch keine UKW-Empfänger an, obwohl seit April 1949 mit der Aufstellung von Sender begonnen worden war und somit in einigen Gebieten bereits Empfangsmöglichkeiten bestanden. Erst um die Jahreswende nahmen einige Unternehmen Vorschaltgeräte in ihr Produktionsprogramm auf, mit denen herkömmliche Rundfunkgeräte für den UKW-Empfang erweitert werden konnten.56 Die bis dahin auf Messen gezeigten Modelle waren nicht zur Serienproduktion vorgesehene Baumuster und Studioempfänger, die der Information der potentiellen Kunden über das neue Sendeverfahren dienten. Zu berücksichtigen ist hierbei aber auch, daß für die neuentwickelten Geräte eine gewisse Entwicklungs- und Testphase nötig war. Dafür mußte in der Nähe der Produktionsstandorte auch ein entsprechender Sender vorhanden sein. Insofern kann die sehr frühzeitige Aufstellung einer Sendeanlage in Hannover durchaus im Zusammenhang mit der Tatsache gesehen werden, daß in diesem Raum mehrere Unternehmen Produktionsstandorte betrieben. Andere Unternehmen stellten vorübergehend eigene lokale Sendeanlagen auf, um ihre Produkte zu testen.57 Angesichts der anfänglichen Zurückhaltung der Rundfunkgerätehersteller forcierten die Rundfunkanstalten die Werbung für den UKW-Rundfunk unter anderem mit einem an die Radiobastler gerichteten Wettbewerb für UKW-Empfänger. 58 Auch das Unternehmen Rhode & Schwarz, das eigentlich durch den Bau von Sendeanlagen an der UKW-Einführung beteiligt war, entwickelte Anfang 1949 einen eigenen AM/FM-Empfänger. Einerseits diente das Modell als Vorführgerät bei Informationsveranstaltungen für den Handel, solange die etablierten Hersteller keine Geräte anboten. Andererseits sollten diese Unternehmen zu Eigenentwicklungen 53

Diffring, W., Noch einmal: Ein Wort für die deutsche Röhre, in: ebd., H. 3, S. 67. Tetzner, Karl, Teilzahlung - das A und Ο des Radiogeschäftes, in: ebd., H. 15, S. 437. 55 Ders., Der Start des neuen Funkjahres, in: ebd., H. 16, S. 469. 56 Ders., Rundfunkwirtschaft im Fegefeuer. S. 247; Brauns, H., Radioschau in Hannover. Bericht von der technischen Exportmesse, in: Funkschau 21 (1949), H.7, S. 119-120; Tetzner, Karl, Gedämpfter Optimismus in Hannover, in: Funk-Technik 4 (1949), H. 11, S. 309; ders., Rundgang durch die Messehallen, in: ebd., H. 11, S. 310-319. 57 Schneider, S. 66. 58 Ebd. S. 45-49. 54

12*

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angeregt werden. Dazu wurde die Großserienproduktion des Modells angekündigt. 59 Diese erfolgte dann aber nicht, offenbar weil inzwischen (1950) eine Vielzahl von Modellen auf den Markt gekommen war. Tabelle 3 Anteile der UKW-fähigen Empfänger am Gesamtprogramm der westdeutschen Rundfunkempfängerindustrie (einschließlich Musiktruhen) 60 Produktionsjahrgänge Rundfunkempfängermodelle insgesamt davon:

1950/51

1951/52

241

189

kombinierte AM/FM-Empfänger

74

162

Vorschaltgeräte und Ergänzungsmodule

22

6

Bei der Markteinführung von UKW-Empfängern durch die Unternehmen wurden zwei verschiedene Wege beschritten. Es wurden spezielle Vorschaltgeräte und Module angeboten, die vorhandene AM-Geräte zum UKW-Empfang erweitern konnten. Vorschaltgeräte waren im Prinzip universal anzuwenden, da sie über den Tonabnehmeranschluß des Empfängers mit diesem verbunden wurden. Die Module dienten zur Nachrüstung speziell dafür vorgesehener Geräte. Damit war es den Kunden möglich, zuerst, solange in ihrer Nähe noch kein UKW-Sender arbeitete, einen herkömmlichen Empfänger zu erwerben und diesen später bei Bedarf zu erweitern. Kombinierte AM/FM-Empfänger wurden auch 1950 noch in relativ geringem Umfang angeboten. In der ersten Jahreshälfte hatte nur Blaupunkt diese Geräte im Produktionsprogramm. Doch ab dem Neuheitentermin dieses Jahres, also in der zweiten Hälfte, nahm der Anteil dieser Geräte dramatisch zu. Gleichzeitig konnten auch preiswertere Modelle auf den Markt gebracht werden. 61 Allerdings verlief der Absatz von UKW-Geräten in dieser Zeit relativ zögerlich, was in erster Linie auf die noch nicht flächendeckende Senderdichte zurückzuführen ist. Zudem spielte es eine Rolle, daß die Rundfunkanstalten in ihrer Werbung für UKW häufig die Einrichtung eines zweiten Programms ankündigten, das aber nicht immer sofort ausgestrahlt wurde und auch nach seinem Start anfänglich zu einem erheblichen Teil aus Wiederholungen von Sendungen der ersten Programme bestand. Hörerbefragungen der Rundfunkanstalten zeigten, daß der UKW-Rundfunk sich nur dann durchsetzen konnte, wenn er ein alternatives und die Interessen 59 Ein AM/FM-Superhet., in Funk-Technik 5 (1950), H. 7, S. 204; Rhode, L., Der 28. Februar 1949. Ein historischer Tag, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. 2.1964. Beilage „Der Mensch und die Technik", S. 2. 60 Reuber, Claus, Die deutschen Empfänger 1950/51, in: Radiomentor 16 (1950), H. 8, S. 419- 422; Rundfunkempfänger 1951/52., in: Funk-Technik 6 (1951), H. 14, S. 372-377. 61 Tetzner, Karl, Neue UKW-Geräte, Teil 2, in: ebd. 5 (1950), H. 13, S. 386; Reuber, C., Deutsche UKW-Empfänger.

Innovationsprozesse in der Rundfunkgeräteindustrie

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der Hörer ansprechendes Programm ausstrahlte. Da dies eine gewisse Zeit dauerte, konnten die Rundfunkgerätehersteller in der Zwischenzeit den anfänglichen Rückstand bei der Empfängerproduktion aufholen. Ab dem Jahrgang 1951/52 hatte sich der UKW-Bereich bei den Heimempfängern praktisch durchgesetzt.62

II. Der Innovationsverlauf in der DDR In der DDR verlief die Einführung der UKW-Empfänger in die Produktionsprogramme der verschiedenen Hersteller insofern rascher als der Senderaufbau und damit fast unabhängig von diesem, als relativ früh Neuentwicklungen vorgestellt und ihr Verkaufsstart angekündigt wurde. Allerdings trat der für die DDR-Wirtschaft insgesamt als typisch zu bezeichnende Umstand auf, daß geplante und angekündigte Produkteinführungen verzögert wurden, weil die Produktion nicht wie vorgesehen anlief. Die Ursache lag dabei häufig in Lieferschwierigkeiten der Zuliefererbetriebe. Gerade in der Rundfungeräteindustrie trat diese Situation aufgrund der komplexen Struktur der Produkte und den daraus resultierenden weit gefächelten Zuliefererbeziehungen oft und verstärkt ein. Im Extremfall konnte durch das Ausbleiben bestimmter Bauteile die gesamte Branche in Produktionsschwierigkeiten geraten, wenn die Teile von einem Alleinhersteller gefertigt wurden. Eine solche Situation entstand beispielsweise in den Jahren 1951 bis 1953 immer wieder durch fehlendes Rohselen zur Produktion von Trockengleichrichtern im Gleichrichterwerk Großräschen. Die damit verbundenen Produktionsausfälle konnten durch die erhöhte Fertigung von Gleichrichterröhren nur teilweise kompensiert werden, da auch die dafür vorhandenen Kapazitäten an Produktionseinrichtungen und Material beschränkt waren. Die Folge war im Jahre 1953, in dem die stärksten Lieferprobleme bei Rohselen auftraten, eine komplette Untererfüllung der Produktionspläne in der gesamten Branche. 63 Dies offenbart ein strukturelles Problem der DDR-Wirtschaft: die starke und einseitige Konzentration der Fertigung bestimmter Produkte in einem oder wenigen Betrieben, von denen dann ganze Branchen abhängig waren, ließ diese abhängigen Firmen extrem störanfällig gegen Lieferprobleme werden. Alternativlieferanten standen kaum oder gar nicht zur Verfügung und konnten, wenn vorhanden, selten hinreichend schnell auf solche Krisensituationen reagieren, da innerhalb der Planungsmechanismen freie Material- und Produktionskapazitäten praktisch nicht vorhanden waren. Entsprechende Planänderungen bedurften stets der Zustimmung der zuständigen Ministerial- und Planungsinstanzen und waren durch die betroffe62 Eberhard, Fritz, Der Rundfunkhörer und sein Programm. Ein Beitrag zur empirischen Sozialforschung, Berlin 1962, S. 41. 63 HV RFT, Abteilung Planung, Jahresbericht über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1953, BArchP DG 3/4993.

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nen Betriebe kaum in Gang zu setzen. In der Rundfunkgeräteindustrie traten solche Krisensituationen nahezu permanent bei Röhren, Lautsprechern und Gehäusen auf. Damit entstand immer wieder eine mehr oder weniger weite Schere zwischen der Entwicklung und Produktionsplanung neuer Erzeugnisse auf der einen Seite und ihrer tatsächlichen Fertigung und Markteinführung 64 auf der anderen Seite. Diese Schere ist auch bei der Einführung der UKW-Technik festzustellen. Schon 1951 wurden einige UKW-Empfänger auf der Leipziger Messe ausgestellt, die sowohl von staatlichen als auch von privaten Herstellern entwickelt worden waren. Die RFT-Betriebe in Rochlitz und Staßfurt zeigten vier kombinierte AM/FM-Empfänger, zwei Mittelsuper, ein Großsuper und eine Rundfunk-Phono-Kombination sowie drei Modelle von Vorsatzgeräten zur Erweiterung von AM-Empfängern. Die Firma Blohm in Plauen bot eine Rundfunk-Phono-Kombination an, REMA Stollberg einen Mittel- und einen Großsuper. Im Vergleich zum Gesamtspektrum der Empfängerproduktion, das alles in allem dreißig Modelle umfaßte, ist das ein relativ großer Anteil an UKW-fähigen Geräten. Auffällig ist vor allem auch die Gleichverteilung der Anbieter von UKW-Empfängern. Von den dreizehn Rundfunkgeräteherstellern, sieben staatliche und sechs private, waren je zwei in diesem Bereich vertreten. Dies deutet, zumindest im staatlichen Sektor, auf eine Aufgabenverteilung zwischen den Firmen der Hauptverwaltung RFT hin. Technisch waren praktisch alle Lösungsvarianten vertreten, die auch von den westdeutschen Unternehmen genutzt wurden. Tabelle 4 Anteile der UKW-fähigen Empfänger (einschließlich Musiktruhen) am Angebot der Rundfunkgeräteindustrie der DDR, in Klammern Zahl der Modelle der privaten Hersteller 65

Rundfunkempfängermodelle insgesamt davon:

1951

1952

1953

1954

1955

30 (12)

39 (12)

37 (10)

44 (17)

50 (14)

kombinierte AM/FMEmpfänger

7

(3)

12

(4)

23

Vorschaltgeräte und Ergänzungsmodule

3

(0)

3

(1)

3

(5) 34 (1)

1

(12) 43 (11) (1)

5

(3)

Es ist aber eine klare Trennung bei der Verwendung der Röhren zu erkennen. Während Stern-Radio Staßfurt und die privaten Hersteller mit herkömmlichen Röhren der Baureihe U / E - l l arbeiteten, verwendete Stern-Radio Rochlitz die in 64 Ebda. Zur Verwendung des Begriffes Markt im Zusammenhang mit der DDR-Wirtschaft siehe oben Anmerkung 1. 65 Leipziger Messenotizen, in: Funk-Technik 8 (1953), H. 18, S. 577; Technische Messe Leipzig 1954, in: ebd. 9 (1954), H. 20, S. 559-566.

Innovationsprozesse in der Rundfunkgeräteindustrie

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der DDR neu entwickelte Reihe der Gnom-Röhren. Diese waren eine konstruktive Mischung aus den in der Bundesrepublik produzierten Rimlock- und Pico-Röhren, von denen Form und Aufbau übernommen wurden und den Röhren der 11er Reihe, deren Parameter realisiert worden waren. 66 Im darauffolgenden Jahr waren 50% der Modelle von Mittel- und Großsupern, sowie auch zwei Kleinsuper, mit einem UKW-Teil ausgestattet.67 Das vor allem im Vergleich zur Senderdichte relativ breite Angebot an UKW-Geräten soll jedoch nicht darüber hinweg täuschen, daß der neue Frequenzbereich auch in den versorgten Gebieten nur sehr zögerlich vom Hörer angenommen wurde. Das ist nicht zuletzt auch dem Umstand zuzuschreiben, daß ein großer Teil der Hörer den DDRRundfunk überhaupt nicht einschaltete und statt dessen, wo möglich, die Programme der bundesdeutschen Rundfunkanstalten empfing. Bis auf den Raum Berlin war das nur auf Mittelwellenfrequenzen möglich. 68 Insofern war auch in der DDR die UKW-Akzeptanz eng mit der Programmakzeptanz verbunden, wenngleich untern anderen Gesichtspunkten als in der Bundesrepublik. Trotz des zunehmenden Anteils an AM/FM-Geräten blieben aber Vorsatzgeräte und Ergänzungsmodule weiterhin im Angebot verschiedener Hersteller. Auch in den Jahren 1953 bis 1954 wurden weiterhin ausschließlich AM-Empfänger und Vorsatzgeräte gefertigt (vgl. Tabelle 4). Der Anteil der vom Handel auf den Submissionen georderten AM/FM-Empfänger war dabei etwa gleich groß wie der Anteil an reinen AM-Empfängern. Von den 1953 bestellten knapp 600.000 Heimempfängern in 37 Modellen waren etwa 280.000 Geräte von 23 Modellen auch für den UKW-Empfang geeignet. Hinzu kamen rund 12.000 Vorsatzgeräte und Einbaumodule.69 Das leichte Übergewicht von AM-Geräten deutet auf eine geringere Nachfrage nach UKW-Empfängern hin. Diese muß als Folge der unzureichenden und langsamen Verbreitung des UKW-Rundfunks und auch der fehlenden Akzeptanz für die DDR-Programme angesehen werden. Gleichwohl kann die Einführung der UKW-Technik bei Rundfunkempfängern in DDR als im Jahr 1955 abgeschlossen angesehen werden. Ab diesem Zeitpunkt waren, von marginalen Ausnahmen abgesehen, praktisch alle Modelle mit einem UKW-Teil ausgestattet.70

66 Tetzner, Karl, Verbesserte Qualität in Leipzig, in: Funk-Technik 6 (1951), H. 7, S. 174177. 67 Leipziger Messe 1952 - Radio, in: Deutsche Funktechnik 1 (1952), H. 4, S. 101-107. 68 Hermann/Kahle/Kniestedt, S. 184. 69 Fabrikationsprogramm der gerätebauenden Industrie 1953; Ergebnisse der Submissionen. BArchP, DG 3/5416. 70 Rundfunk auf der Leipziger Messe, in: Funk-Technik 10 (1955), H. 19, S. 554-555.

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D. Vergleich des Innovationsprozesses der Einführung der UKW-Empfängertechnik und der Entscheidungsstrukturen in der BRD und der DDR I. Innovationsprozeß Bei der Beurteilung der Innovationsprozesse zur Einführung der UKW-Technik ergeben sich vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Begriffsbestimmung, wie sie eingangs beschrieben wurde, zwei Aspekte. Zum einen kann von einer Produktinnovation in einem sehr strengen Sinne gesprochen werden, wenn als Bezugsrahmen allein die Rundfunkgeräteindustrie gewählt wird. Da aber die UKWTechnik und speziell auch das Verfahren der Frequenzmodulation bereits in den dreißiger und vierziger Jahren in der kommerziellen und militärischen Funktechnik angewandt worden und mithin in der Nachrichtentechnik bereits eingeführt war, stellt sich die Nutzung der UKW-FM-Technik für den Hör- (und später auch Fernseh-)Rundfunk zugleich auch als eine Diffusion einer Innovation zwischen verschiedenen Technikbereichen im Sinne der in der zugrunde gelegten Begriffsklärung formulierten Anpassung an angrenzende technische Produkte dar. Beide Aspekte sind freilich eng miteinander verknüpft, sollen also nicht gegeneinander aufgewogen, sondern im Komplex gesehen werden. Die Entwicklung und Markteinführung von UKW-Empfängern stellt sich als nahezu typische Produktinnovation dar. Es wurde eine völlig neue Generation von Rundfunkempfängern erzeugt, bei der die Signalverarbeitung nach einem anderen Prinzip erfolgte als bis dahin. Zur Herstellung der Geräte waren nur punktuelle Veränderungen am bisherigen Produktionsablauf notwendig. In der Endfertigung mußten die Prüfung und der Abgleich der Empfänger anders gestaltet werden. Dafür waren neue Verfahren und teilweise Geräte einzuführen. Im übrigen konnten die Empfänger praktisch auf den gleichen Anlagen, zumeist Fließbändern, gefertigt werden, wie die bisherigen AM-Empfänger. Dies gilt gleichermaßen für die Rundfunkgeräteindustrie der Bundesrepublik, wie für die der DDR. Darüber hinaus bestanden aber deutliche Unterschiede im Innovationsverlauf, vor allem hinsichtlich der verfolgten Diffusionstrategien. Für die westdeutsche Rundfunkgeräteindustrie ist auffällig, daß von den Unternehmen sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen wurden, um die neuen Empfänger am Markt zu etablieren. Neben den universal an praktisch jedem Gerät (auch von anderen Herstellern) einzusetzenden Vorsatzgeräten, wurden speziell auf die eigenen Baureihen abgestimmte Ergänzungsmodule und auch von Anfang kombinierte AM/FM-Empfänger produziert und angeboten. Bei den Vorschaltgeräten und Ergänzungsmodulen wurden zudem nicht nur Superhetschaltungen verwendet, mit denen die Vorteile des FM-Rundfunks bei der Wiedergabe geringere Störanfälligkeit der Übertragungen und bessere Klangqualität weitgehend vollständig ausgenutzt werden konnten, sondern auch Geradeausempfänger, die es praktisch nur erlaubten, überhaupt Sendungen auf UKW in einer der gewohnten Mittelwellen-

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qualität entsprechenden Weise zu empfangen. Die verfolgten Diffusionsstrategien bewegten sich also praktisch zwischen zwei Extremen, die in der bereits erwähnten Zeitschrift „Funk-Technik" an anderer Stelle folgendermaßen zusammengefaßt wurden: „Die eine Gruppe ist mehr technisch eingestellt und verlangt, daß die künftig auf den Markt kommenden UKW-Vorsatz- und Einsatzgeräte sofort alle Vorzüge der Frequenzmodulation ... ausnutzen sollen. Nach Möglichkeit solle man auf Vorsatzgeräte überhaupt verzichten und nur hochwertige FM/AM-Super bauen ... Die zweite Gruppe argumentiert etwa wie folgt: wir können damit rechnen, daß in absehbarer Zeit auf dem UKW-Band ... zusätzliche Programme abgestrahlt werden. Wenn wir diese Darbietungen nur mit der gleichen Qualität wie bisher die AM-Sendungen auf Mittelwellen hören können, sind wir schon zufrieden (fürs erste). . .". 7 1 Diese extrem konträren Lösungskonzepte waren aber nur als Übergangslösungen bis zum vollständigen Ausbau des UKW-Rundfunks gedacht. Tendenziell wurde von allen Herstellern der kombinierte AM/FM-Empfänger anvisiert. Die Diffusionstrategien der staatlichen und auch der privaten Rundfunkgerätehersteller in der DDR waren primär an den Planvorgaben für den Senderaufbau ausgerichtet. Außerdem gab es auch eine deutliche Orientierung am Entwicklungsstand in der Bundesrepublik, die je nach Fortgang der eigenen Entwicklung positiv oder negativ bewertet wurde. So schließen beispielsweise 1953 die Betrachtungen über die Empfängerproduktion in der BRD mit dem Ausblick auf eine „immer weitere Verbreitung" der UKW-Geräte „nach dem neuesten Stand der Technik" in der DDR 7 2 . Im nächsten Jahr wird der westdeutschen Empfängerproduktion „trotz aller technischen Fortschritte das typische Bild des rücksichtslosen Konkurrenzkampfes, der die Hersteller dazu zwingt, wegen des Absatzes oft unnötigen technischen Aufwand zu treiben", bescheinigt. Für die DDR wird daraus geschlußfolgert, „nur eine begrenzte Anzahl von Rundfunkempfängertypen zu produzieren, die nach den noch notwendigen Erweiterungen allen berechtigten Ansprüchen der Verbraucher genügen".73 Dieser Bewertungswandel fiel genau in den oben beschriebenen Zeitraum der Lieferprobleme bei den für den UKW-Bereich neu entwickelten Röhren. Planorientierung und Westorientierung erklären aber auch die bereits im zweiten Jahr nach Beginn des UKW-Betriebes mit damals noch nur zwei Sendern relativ umfassende Umstellung von etwa der Hälfte der Produktionsprogramme auf kombinierte AM/FM-Geräte. Das hatte jedoch zur Folge, daß quasi ein Überangebot an FM-fähigen Empfängern bestand, da ja das Sendernetz nur sehr langsam und Tetzner, Karl, Gedämpfter Optimismus in Hannover, in: ebd., 4 (1949), H. 11, S. 309. 72 Kunze, Fritz, Analyse der westdeutschen Empfängerproduktion, in: Deutsche Funktechnik 2 (1953), H. 3, S. 78-79. 73 Analyse der westdeutschen Empfängerproduktion, in: Radio und Fernsehen 3 (1954), H. 4, S. 96.

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unter Planverzug realisiert wurde. Unter Marktbedingungen hätte dies zu krassen Absatzproblemen führen müssen. Nicht so in der zentralverwalteten Wirtschaft der DDR, da hier praktisch alle Produkte beim Kunden abzusetzen waren. Der Handel hatte aber mitunter andere Vorstellungen von den Produktionsprogrammen, da in den Geschäften die Nachfragesituation unmittelbar spürbar wurde, während die Hersteller ihre Planungen relativ unbeeinflußt davon vornahmen. Diese Differenzen zwischen den Handelsorganisationen und den Herstellern waren aber nicht nur auf die UKW-Einführung beschränkt, sondern bildeten ein permanentes Konfliktfeld, wie den Protokollen der Submissionen zu entnehmen ist. 74 Den Wünschen und Vorstellungen der Kunden stand ein relativ starres Angebot gegenüber. Dieser Widerspruch wurde in den Geschäften virulent. Daher rührten die Versuche der Handelsvertreter, in den Submissionen diese Vorstellungen den Herstellern zu vermitteln. Hier handelte es sich um ein systemimmanentes Charakteristikum der DDRWirtschaft besonders im Bereich der Konsumgüterproduktion. Einerseits war die Versorgung der Bevölkerung als Verteilung von Gütern organisiert. Andererseits bestand für die Kunden eine gewisse Wahlfreiheit zwischen verschiedenartigen Produkten, sofern diese verfügbar waren. Theoretisch mußte dabei aufgrund der Planungen die gesamte Produktion abgesetzt werden. In der Praxis ließ sich dies aber nicht immer realisieren. Zudem war die Schere zwischen den entwickelten und angekündigten Empfängermodellen und deren tatsächlichem Vorhandensein im Handel typisch für den Innovationsverlauf bei der UKW-Technik. Letztlich gelang es der Rundfunkindustrie in der DDR also nur, die Einführung bis zum Beginn der Markteinführung relativ schnell umzusetzen. Die fehlende innovative Leistungsfähigkeit muß daher nicht auf Mängel in der technischen Entwicklungsarbeit zurückgeführt werden, sondern auf strukturelle Defekte der DDR-Wirtschaft insgesamt.

II. Entscheidungstrukturen Die Einführung UKW-Technik in der Rundfunkgeräteindustrie war, wie eingangs beschrieben, in erster Linie ein durch nicht unmittelbar wirtschaftliche Faktoren bedingter Prozeß. Die Entwicklungen auf rundfunkpolitischem und -organisatorischem Gebiet Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre im Zusammenhang mit der Umsetzung des Kopenhagener Wellenplanes setzten die Unternehmen unter einen Handlungszwang zur Innovation. Einen Spielraum hatten sie nur hinsichtlich der Entscheidungen, mit welchen Strategien die Markteinführung erfolgen sollte. 74

Fabrikationsprogramm der gerätebauenden Industrie 1953, Ergebnisse der Submissionen. BArchP, DG 3/5416.

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Dabei sprach in der Bundesrepublik die wirtschaftliche Situation der Branche insgesamt zuerst eher gegen die Übernahme der Innovation, zumal in der Anfangsphase des UKW-Rundfunks dieser nur in wenigen Gebieten zu empfangen war und im Grunde auch nur dort Absatzchancen für UKW-fähige Empfänger bestanden. Im konkreten Verlauf der Marktverwirklichung bei den einzelnen Unternehmen sind verschiedene, zum Teil stark differierende Strategien zu erkennen. So setzte die Firma Blaupunkt im Jahrgang 1950/51 fast ausschließlich auf kombinierte AM/FM-Empfänger, von denen sie insgesamt sieben verschiedene Modelle anbot. Andere Unternehmen verzichteten vorerst auf kombinierte Empfänger in ihren Produktionsprogrammen und fertigten nur Vorschaltgeräte, entweder mit aufwendigen Superhetschaltungen oder einfache Geradeausempfänger. Dabei besetzten einige Hersteller (Telefunken, Blaupunkt, Körting und Schaub) nur die Gruppe der Super-Vorsätze, andere nur die der Geradeausempfänger (Loewe-Opta, Graetz, Continental-Radio, SABA, Philips und Grundig), während eine dritte Gruppe (Nordmende und Siemens) beide Ausführungen fertigte. 75 Hier wird deutlich, daß keineswegs aus der Größe oder wirtschaftlichen Position eines Unternehmen in der Branche unmittelbare Rückschlüsse auf die verfolgte Strategie zur UKW-Einführung möglich sind. Diese Strategien wurden aber bereits im folgenden Jahrgang zumindest teilweise wieder geändert. So hatte Blaupunkt sein Angebot an AM/ FM-Empfängern auf nur noch zwei Modelle reduziert, während praktisch alle anderen Hersteller nun in diesem Segment mit dem überwiegenden Teil ihres Produktionsprogramms vertreten waren. Gleichzeitig wurde der Anteil an Vorschaltgeräten bereits drastisch reduziert und nur noch drei Hersteller (Brandt, Metz und Körting) boten diese Geräte an. 76 Es ist also eine anfängliche Phase der Orientierung zu erkennen, in der die Unternehmen nach der erfolgreichsten Strategie suchten. Diese bestand im parallelen Angebot von AM/FM-Empfängern und von Vorschaltgeräten, deren Anteil reduziert wurde, je mehr die Verbreitung von UKW-Programmen zunahm. Inwieweit und in welcher Weise dabei vor allem in der Anfangsphase die konkrete wirtschaftliche Situation der Unternehmen, das Firmenimage und der jeweils praktizierte Führungsstil eine richtunggebende Rolle spielten, bedarf noch weiterer Untersuchungen, die freilich von der Kooperation der Firmen abhängig sind. In der Rundfunkgeräteindustrie der DDR erfolgten die Entscheidungen zur Produktion von UKW-Empfängern weitgehend im Kontext der zentralistischen Planungen zum Aufbau des UKW-Rundfunks. Gleichzeitig galt aber der Entwicklungsstand der westdeutschen Empfängerproduktion als Maßstab für die eigenen Konstruktionen. Zu Beginn der UKW-Einführung in der DDR war dieser Prozeß in der BRD aber bereits relativ weit fortgeschritten, die Produktpaletten der Unternehmen entsprachen nicht mehr der Anfangsphase. Insofern entsprach der große Anteil von kom75 Tetzner, K., Neue UKW-Geräte Teil 2, in: Funk-Technik 5 (1950), H. 13. 76 Rundfunkempfänger 1951/52, in ebd. 6 (1951), H. 14 u. H.15, S. 372-377 u. S. 416.

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binierten Empfängern unter den ersten UKW-Geräten in der DDR 7 7 eher dem internationalen als dem nationalen Entwicklungsstand des UKW-Rundfunks. Der verzögerte Aufbau des geplanten Sendernetzes vergrößerte den Vorlauf der Empfängertechnik noch zusätzlich. Diese Diskrepanz wurde aber durch die beschriebene Schere zwischen der Entwicklung von Empfängermodellen und deren tatsächlicher Fertigung wieder neutralisiert. Darüber hinaus blieben die Entscheidungen zur Produktion von Rundfunkempfängern offenbar nicht frei von politisch motivierten Reglementierungen. Dies ist im hier beschriebenen Fall als eine unmittelbare Folge der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges anzusehen, da die Reglementierungen zur Eindämmung des Einflusses westdeutscher Sender und speziell des RIAS dienten. Da die Ferritantennen, deren Verwendung eingeschränkt werden sollte, zum Empfang von amplitudenmodulierten Sendungen dienten, zielten die Sanktionen nicht unmittelbar auf die Umsetzung der Innovation der UKW-Technik. Dennoch wurden damit deutliche Randbedingungen für die Entwicklungsarbeiten gesetzt. Besonders im internationalen Vergleich wirkten sie sich negativ aus, da Ferritantennen im Heimempfänger dort zunehmend zur Standardausstattung gehörten. 78 Alle drei genannten Aspekte galten gleichermaßen für die staatlichen und die privaten Hersteller von Rundfunkempfängern in der DDR. Darüber hinaus unterlagen die Privatunternehmen der Branche in diesem Zeitraum und Prozeß aber keinen zusätzlichen Beschränkungen. Auch der Umstand, daß sie erst später als staatliche Betriebe mit neu entwickelten Röhrentypen, wie denen der Gnomreihe, beliefert wurden, kann nicht als unmittelbare Restriktion bewertet werden. Besonders vor dem Hintergrund der Qualitätsprobleme, die hier lange Zeit bestanden haben, entstand für die privaten Unternehmen sogar eher eine gewisse, wenngleich kaum beabsichtigte, Entlastung von Zuliefererproblemen. 79

Literatur Bausch, Hans, Rundfunkpolitik nach 1945. Erster Teil: 1945-1962 (= Rundfunk in Deutschland, Bd. 3), München 1980. von Glowczewski, Georg, Der Kopenhagener Wellenplan von 1948. Seine politischen, rechtlichen und technischen Folgen für die ARD, in: B. Lerg/R. Steiniger (Hg.), Rundfunk und Politik 1923 bis 1973 (= Rundfunkforschung, Bd. 3), Berlin 1973.

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Tetzner, K., Verbesserte Qualität in Leipzig, in: Funk-Technik 6 (1951), H. 7. Bericht über den Besuch der Funkausstellung in Düsseldorf 1955, BArchP, DG 3/1307. 7 9 Tetzner, K., Verbesserte Qualität in Leipzig, in: Funk-Technik 6 (1951), H. 7; HV RFT, Abteilung Planung. Jahresbericht zur Erfüllug des Völkswirtschaftsplanes 1953. BArchP, DG 3/4993. 78

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Hermann, Siegfried / Kahle, Wolf / Kniestedt, Joachim, Der deutsche Rundfunk, Heidelberg 1994. Magnus, Kurt, Der Rundfunk in der BRD und Westberlin, Frankfurt/M. 1955. Schneider, Reinhard, Die UKW-Story. Zur Entstehungsgeschichte des UKW-Rundfunks, Berlin 1989.

D i e I n t e g r a t i o n der E l e k t r o n i k i n den wissenschaftlichen G e r ä t e b a u - eine Fallstudie, dargestellt i n einer vergleichenden Betrachtung von C a r l Zeiss Jena u n d C a r l Zeiss O b e r k o c h e n w ä h r e n d der sechziger Jahre Von Roland Kowalski

A. Innovationsimpulse und Perspektiven wissenschaftlichtechnischer Veränderungen im wissenschaftlichen Gerätebau Anfang der sechziger Jahre Der weltweit bedeutendste Produzent wissenschaftlicher Präzisionsgräte, das Unternehmen Carl Zeiss, hätte eigentlich mit Stolz den 100. Jahrestag der Firmengriindung begehen können. Statt dessen mußte im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der beginnenden Spaltung Deutschlands das Überleben des Unternehmens gesichert werden. Hierzu gehörte auch die Gründung eines neuen Zeiss-Werkes durch die von den Amerikanern in ihre Besatzungszone transportierten 84 leitenden kaufmännischen und wissenschaftlich-technischen Angestellten des Jenenser Unternehmens. Sowohl im württembergischen Oberkochen, in dem der neue Zeiss-Betrieb heranwuchs, als auch am „alten" Standort, dem thüringischen Jena, ging es in den Folgejahren darum, die Werke zu stabilisieren und ihren Platz in den mittlerweile entstandenen unterschiedlichen deutschen Staaten und Wirtschaftssystemen zu sichern, was in den Anfangsjahren auf beiden Seiten mit großen Schwierigkeiten verbunden war. Während in Jena die Folgen der von den Sowjets im Oktober 1946 angeordneten Demontage des Zeiss-Werkes allmählich zu überwinden waren, ging es in Oberkochen darum, auf der Basis des Jenenser Stammhauses eine Unternehmensstruktur neu zu schaffen und mit der beginnenden Fertigung von Präzisionsgeräten an das weltbekannte Qualitätsmerkmal CARL ZEISS JENA anzuknüpfen. Insofern standen für beide Werke in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren ähnliche Aufgaben auf der Tagesordnung, die sich vor allem auf die Dekkung des zunehmenden Bedarfs nach wissenschaftlichen Präzisionsgeräten im Inwie im Ausland erstreckten. Trotzdem gehörte die feinmechanisch-optische Industrie in beiden Teilen Deutschlands bis Anfang der sechziger Jahre keineswegs zu den bedeutenden Vertretern innerhalb der Industrielandschaft. 1

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Bestätigt wurde diese Tatsache für die Bundesrepublik im Jahr 1962 mit der erstmaligen Veröffentlichung der betriebswirtschaftlichen Bilanz der Carl-ZeissStiftung, die ihren Sitz in Heidenheim hatte. Demzufolge erwirtschafteten 1961/62 in den Firmen des sogenannten Zeiss-Kreises 19.700 Beschäftigte einen Umsatz von 530 Mio. DM. Dies machte 1961 einen Anteil am Gesamtumsatz der feinmechanischen Industrie der BRD in Höhe von 10,6 % und bei den Beschäftigten in Höhe von 14 % aus. Die Zeiss-Stiftung Heidenheim stand damit an 54. Stelle der 100 größten bundesdeutschen Industrieunternehmen. 2 Im gleichen Jahr verfügte Carl Zeiss Jena über knapp 17.000 Beschäftigte 3, die eine abgesetzte Warenproduktion in Höhe von von rd. 199 Mio. DM-Ost erwirtschafteten 4. Wenngleich die Kennziffern Umsatz und abgesetzte Warenproduktion nicht völlig identisch sind, so wird doch ein Produktivitätsrückstand der Jenenser Seite schon Anfang der sechziger Jahre deutlich. Diese Situation verschlechterte sich im Laufe der kommenden Jahre weiter zuungunsten des DDR-Betriebs. 5 Für Jena war das insofern bedenklich, da das Zeiss-Werk innerhalb der DDR den größten Hersteller wissenschaftlicher Präzisionsgeräte mit einem Anteil von 75-100 % des Gerätebauvolumens verkörperte. Diese Position verstärkte sich noch mit der Kombinatsbildung 1965, wodurch der Betrieb praktisch zum Repräsentanten des Industriezweiges Feinmechanik/Optik avancierte. Damit rückte der wissenschaftliche Gerätebau zunehmend in den Mittelpunkt bei der Suche nach neuen Quellen der Erschließung des Wirtschaftswachstums. Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit auf einen bis Anfang der sechziger Jahre eher vernachlässigten Industriezweig hatte vielschichtige Ursachen, die bis weit in die fünfziger Jahre zurückreichten und sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR das Nachdenken über eine stärkere Einbindung von Wissenschaft und Technik für eine erhöhte wirtschaftliche Effektivität anregten. In beiden deutschen Staaten wurde in den fünfziger Jahren unter den Augen der Alliierten der wirtschaftliche Wiederaufbau, der hauptsächlich materialintensive Industriezweige in den Vordergrund rücken ließ, im wesentlichen abgeschlossen. Dieser Kraftaufwand führte gegen Ende der fünfziger Jahre zu einer deutlichen Erschöpfung der materiellen Potenzen der DDR-Wirtschaft. Allmählich entstand in führenden Wirtschaftskreisen der SED die Einsicht, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik diese Krisensituation zu überwinden. Beschleunigt wurde eine solche Erkenntnis durch bedeutende internationale Fortschritte vor allem im Bereich der Elektrotechnik/Elektronik. 1

Kühn, G., Abhandlungen und Vorträge aus den Jahren 1958 bis 1966, hg. von den Optischen Werken Carl Zeiss in Oberkochen, Oberkochen 1967, S. 41; Mühlfriedel, W./Wießner, K., Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin 1989, S. 313. 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 185 v. 11. August 1962. 3 Statistisches Jahrbuch Carl Zeiss Jena 1968, Jena 1968, S. 18 f. 4 Geschäftsbericht VEB Carl Zeiss Jena 1961, Jena 1961, S. 5. 5

Vgl. Büttner, S., Die Wettbewerbssituation in der feinmechanischen und optischen Industrie, Bayreuth 1993, S. 96.

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Nachdem 1945 in den USA der erste vollelektronische Rechenautomat in Betrieb genommen wurde, war das Computer-Zeitalter angebrochen. Der ebenfalls in den USA 1947 entwickelte Transistor begann die herkömmliche Röhre abzulösen und öffnete damit das Tor zur Miniaturisierung der Elektrotechnik, was für ihre Integration in Erzeugnisse anderer Industriezweige bisher ungeahnte Möglichkeiten schuf. Basierend auf dieser Entwicklung konstruierte der amerikanische Physiker Theodor Maiman 1960 den ersten Rubin-Laser, dem noch im gleichen Jahr ein Gas-Laser folgte. Damit entstand ein neues technisches Wirkprinzip, dessen Integration besonders im feinmechanisch-optischen Gerätebau faktisch zwingend wurde. Dies um so mehr, da sich innerhalb der entwickelten westlichen Industrienationen vor allem im wissenschaftlichen Gerätebau die Konkurrenzsituation nach 1945 entscheidend gewandelt hatte. In zunehmendem Maße gelang es amerikanischen, englischen und schweizerischen Feinmechanikfirmen ihre internationalen Marktpositionen auszubauen. Dies erforderte von Oberkochen entsprechende Reaktionen, bedrohte aber auch mehr und mehr die ohnehin sinkenden Weltmarktchancen des Jenenser Unternehmens. Ein weiterer Innovationsimpuls ergab sich aus der inneren Spezifik des Gerätebaus. Er war vorrangig in der Lage, Kontroll-, Meß- und Steuergeräte herzustellen, mit deren Hilfe u. a. der industrielle Fertigungsprozeß weiter mechanisiert bzw. automatisiert und somit effektiver gestaltet werden konnte. Diese Aufgabe wurde angesichts der überwiegend veralteten Produktionstechnik in der DDR besonders von der SED-Wirtschaftsführung für Carl Zeiss Jena in den sechziger Jahren hervorgehoben. Darüber hinaus sollte der steigende Bedarf der Ostblockländer nach Erzeugnissen des Gerätebaus befriedigt werden. Eine im Mai 1963 von der Staatlichen Plankommission ausgearbeitete Direktive für die perspektivische Entwicklung des wissenschaftlichen Gerätebaus bis 1970 forderte unmißverständlich: „Die DDR muß auf Gebieten, auf denen sie einen Vorsprung und entsprechende Erfahrungen besitzt, die notwendigen Kapazitäten schaffen, um mehrere oder alle Partnerländer ausreichend zu versorgen und die Spezialisierung durchzusetzen ... Die DDR hat ferner bei der Entwicklung des technischen Niveaus der Feingeräteindustrie der Partnerländer, welche eine Unterstützung wünschen, Hilfe zu leisten."6

Diese Vorgabe ist nur ein Beispiel für das staatlich verordnete Durchsetzen des in der Gesellschaftsdoktrin verankerten Grundsatzes vom Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft. Den Betrieben war es in der realsozialistischen Planwirtschaft praktisch unmöglich, solche Anordnungen zu umgehen, oder ihnen gar auszuweichen. Meist immer ohne vorherige Prüfung der ErfüllungsVoraussetzungen von den übergeordneten staatlichen bzw. SED-Leitungen erlassen, verursachten sie bei den Empfängern größtenteils zusätzliche Probleme. So auch im vorliegenden Fall. Dem Jenaer Zeiss-Werk wurden einerseits für die sechziger Jahre rund 75 % seines 6 Direktive der Entwicklung des wissenschaftlichen Gerätebaus für die Ausarbeitung des Perspektivplanes 1964-1970, S. 7 f., Betriebsarchiv Carl Zeiss (im folgenden: BACZ), VA/ 330.

13 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Exportabsatzes gesichert. Bedingt durch die hohe Aufnahmefähigkeit des Ostmarktes konnte der Absatz - absolut betrachtet - im genannten Zeitraum sogar um mehr als das Doppelte erhöht werden. Andererseits standen diese quantitativen Wachstumsraten in keinem Verhältnis zur qualitativen Weiterentwicklung der Exporterzeugnisse. Charakteristisch für die Struktur des Exports in den Ostblock waren meist einfache, aber robuste Meß- und Präzisionsgeräte, die besonders für die Sowjetunion nicht selten in solchen Stückzahlen geordert wurden, die das Produktionsvermögen in Jena um ein Vielfaches überstiegen. Die hieraus resultierende Pflicht der Zeiss-Werker, große Losgrößen mit hoher Qualität, aber ohne viel wissenschaftlich-technisches „Know-how" zu liefern, mußte zwangsläufig die Forschungs- und Entwicklungsarbeit am entsprechenden Erzeugnis in den Hintergrund treten lassen. Aber auch technisch höherentwickelte Geräte für den Ost-Export förderten nicht automatisch innovative Erzeugnisentwicklungen. So waren meist universell einsetzbare Geräte gefragt, die, im Rahmen der Planwirtschaft so üblich, von den Außenhandelsministerien vertraglich gebunden wurden, ohne daß der Produzent die konkreten Bedürfnisse des Anwenders kannte. Direktkontakte zwischen beiden Seiten kamen kaum zustande, so daß spezielle Wünsche der Nutzer weder entwicklungs- noch fertigungsmäßig berücksichtigt werden konnten und dadurch innovative Impulse verlorengingen. An diesem Zustand änderte sich auch kaum etwas, als Carl Zeiss Jena als erster DDR-Betrieb 1965 das Privileg zugestanden bekam, eine eigene Außenhandelsfirma zu gründen, um die Verbindungen zwischen Hersteller und Abnehmer enger zu knüpfen. Aufgrund der diplomatischen Nichtanerkennung der DDR durch die meisten westlichen Industrienationen in den sechziger Jahren mußten für Dienstreisen von Jenaer Zeiss-Mitarbeitern in West-Berlin Visa und Pässe beantragt werden, deren Ausstellung stets mindestens 3-4 Wochen in Anspruch nahm. Der im Geschäftsleben unentbehrliche kurzfristige Direktkontakt war dadurch unmöglich, was ebenfalls zur Verschlechterung der Wettbewerbssituation für Zeiss Jena beitrug. Hinzu kam die Embargopolitik gegenüber der DDR, die besonders konsequent auf wissenschaftlich-technischem Gebiet verfochten wurde. Trotzdem wurde auch in Jena der zu Beginn der sechziger Jahre stärker werdende internationale Trend, zunehmend Spezialgeräte und weniger Universalgeräte zu fertigen und anzuwenden registriert. Allerdings konnte dieser Wende aufgrund der inneren Zwänge der Planwirtschaft nur in kleineren Teilschritten gefolgt werden, da die Einhaltung der Exportverpflichtungen und -Verträge für alle Fertigungsbereiche oberstes Gesetz war. Der einzige Trost in dieser Situation bestand für Carl Zeiss Jena in der vergleichsweise hohen Devisenrentabilität solcher Exportgeschäfte mit dem Osten. Da das Werk aufgrund seiner Erzeugnisstruktur und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit quasi einen ganzen Industriezweig verkörperte, besaß es nicht nur in der DDR, sondern im gesamten RGW eine Monopolstellung. Die Nachfrage nach den meisten Erzeugnissen von Carl Zeiss Jena war ständig höher als das Pro-

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duktions- und Liefervermögen. Diese Tatsache spielte bei Preisverhandlungen auf dem Ostmarkt - trotz aller vordergründigen Bekenntnisse zur Freundschaft und Brüderlichkeit - eine nicht unwesentliche Rolle und ermöglichte es dem Unternehmen, fast immer ein hohes Preisniveau durchzusetzen.7 Ein Blick auf die Rangordnung der Devisenrentabilität bei Carl Zeiss Jena aus dem Jahre 1966 soll als Beweis genügen.

Devisenrentabilität Carl Zeiss Jena 1966 1. sozialistische Länder 2. Jugoslawien 3. kapitalistische Länder 4. Bundesrepublik und Westberlin

1,3 - 1,5 1,2- 1,3

1,0 - 1,2

0,9- 1,1

Quelle: BACZ - VA 00122

Als Maßstab der Rentabilität des Exports oder gar des wissenschaftlich-technischen Niveaus der exportierten Erzeugnisse war die Kennziffer Devisenrentabilität allerdings nicht zu verwerten. Für Carl Zeiss Jena blieben mit der eindeutigen Fixierung des Primats des Ostexports etwa drei Viertel der Erzeugnisse weitestgehend von äußeren Innovationsimpulsen unberührt. Einer wesentlichen Triebfeder wissenschaftlich-technischer Erneuerungen war somit der Weg versperrt. Andere Impulse wurden zuwenig oder zu spät beachtet. So reagierte der Werkzeugmaschinenbau der DDR bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auf Tendenzen der sich in den entwickelten westlichen Industrieländern vollziehenden technischen Wandlungen und begann, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in den eigenen Fertigungsprozeß zu integrieren. Auf diese Weise vermittelte er nicht nur der Produktionsautomatisierung erste Anregungen, sondern erhöhte auch allmählich die Gebrauchseigenschaften seiner Erzeugnisse.8 Das führte zu einem schrittweise wachsenden Bedarf an immer genaueren Meß-, Steuer- und Regelgeräten, der sich aufgrund einer zunehmenden Orientierung besonders der Energie-, Elektro- und Chemieindustrie sowie naturwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen auf die Nutzung von Neuerungen aus Wissenschaft und Technik zu Beginn der sechziger Jahre noch verstärkte. Jena kam diesem Bedürfnissen nur zögernd und mit wachsendem zeitlichen Abstand nach. 7

Während einer Sitzung der Preiskommission bei Carl Zeiss Jena am 3. 11. 1965 wurde offen zugegeben: „Es ist bekannt, daß unsere jetzigen Preise nach den sozialistischen Ländern über den durchschnittlichen Preisen der vergleichenden Konkurrenz liegen." BACZ , VA/00122, s Mühlfriedel/Wießner, S. 255 f. 1*

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Völlig anders gestaltete sich dagegen die Situation in Oberkochen. Das neu gegründete Zeiss-Unternehmen hatte mit der Fertigung mechanisch-optischer Präzisionsgeräte begonnen und konnte sich, vor allem durch das konsequente Festhalten an den Zeiss'sehen Qualitätsmerkmalen der Erzeugnisse, bis zum Beginn der sechziger Jahre im Rahmen der freien Wirtschaft stabile nationale und internationale Marktpositionen erobern. Dies geschah ohne staatlich regulierende Hilfe. Entscheidende Kriterien waren die Qualität und eine möglichst befriedigende Anwendungsmöglichkeit durch den Nutzer sowie ein akzeptabler Preis. Zu Beginn der sechziger Jahre spitzten sich aber auch für Oberkochen die Handlungszwänge, die Marktpositionen zu halten und auszubauen, weiter zu. Die Ursachen lagen hauptsächlich in einer sich verschärfenden Konkurrenzsituation sowie in ständig neuen Anwenderforderungen hinsichtlich der Qualität und Verwendungsfähigkeit der Erzeugnisse. Da neben dem Erstarken westeuropäischer und amerikanischer Feinmechanikhersteller seit Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre nun auch japanische Hersteller mit preiswerten Ferngläsern und Fotoapparaten auf den deutschen Markt vordrangen, war Handlungsbedarf angesagt. Wesentliche Ursachen der veränderten Marktsituation lagen in liberalen Zoll-Bestimmungen der Bundesrepublik einerseits sowie in protektionistischen Einfuhrbestimmungen besonders in Großbritannien und den USA andererseits. 9 Bedingt durch den eingetretenen Situationswandel, sah Oberkochen den einzig gangbaren Weg in einer rascheren Reaktion auf die vielfältigen Kundenwünsche hinsichtlich der Verbesserung der Leistungsparameter und des Bedienungskomforts der Geräte sowie in einer weiteren Senkung der Forschungs-, Entwicklungs- und Fertigungskosten - eine keineswegs leichte Aufgabe angesichts der Tatsache, daß die feinmechanisch-optische Industrie sehr arbeitsintensiv und somit sehr lohnkostenhaltig ist. Zugleich schränkt die erforderliche qualifizierte Arbeit die Möglichkeit der Produktionsverlagerung in Billiglohnländer ebenso ein, wie sie einer möglichst umfassenden Automatisierung des Fertigungsprozesses enge Grenzen setzt. Demzufolge galt es, das Hauptaugenmerk auf die innerbetriebliche Rationalisierung in Forschung, Entwicklung und Fertigung zu legen, um den gestiegenen Qualitätsanforderungen der sechziger Jahre gerecht zu werden. Daneben entstanden im Oberkochener Werk sogenannte „Gast-Labors", die eigens dazu dienten, gemeinsam mit den künftigen Abnehmern möglichst umfassend deren Vorstellungen vom gewünschten Produkt bereits während der Entwicklungsphase zu integrieren und entsprechende Anwendungsmethoden zu erkunden. 10 Das versetzte den Hersteller in die Lage, aus der Praxis kommende Impulse technischer 9

So belegten die USA und Großbritannien Anfang der sechziger Jahre zahlreiche feinmechanisch-optische Geräte mit Einfuhrzöllen von 30-50%. Vgl. Unter uns, Heft 31, Dezember 1969, S. 7. 10 Vgl. Köhler, H., 30 Jahre Forschung und Entwicklung im Zeiss Werk Oberkochen, Band 1, Oberkochen 1983, S. 34.

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Verbesserungen bzw. Neuerungen direkt zu verarbeiten und somit sehr stark marktorientiert zu produzieren. Folgende Anforderungen zeichneten sich zu Beginn der sechziger Jahre bei den Herstellern von Präzisionsgeräten ab: 1. Erhöhung der Meßgenauigkeit und Verminderung der Störanfälligkeit, 2. leichtere Handhabbarkeit und einfache Bedienungsmöglichkeit, 3. Verringerung der Größe und des Gewichtes der Geräte, 4. Möglichkeit der Kopplung einzelner Geräte untereinander, 5. Erweiterung der Funktionsfähigkeit (Messen, Sammeln und Verarbeiten von Daten). Sowohl Carl Zeiss Jena als auch Carl Zeiss Oberkochen hatten sich diesen gewachsenen Ansprüchen zu stellen. Als erfolgreichster Lösungsweg bot sich zu Beginn der sechziger Jahre eine verstärkte Integration der Elektrotechnik bzw. Elektronik in die Erzeugnisse des Gerätebaus an. Dies wurde in beiden deutschen Unternehmen klar erkannt. Allerdings verlangten die Spielregeln der Planwirtschaft auch hierzu eine offizielle Fixierung in einem Plandokument. Dies geschah im Rahmen der Erarbeitung des Perspektivprogramms für den wissenschaftlichen Gerätebau der DDR, welches den Zeitraum von 1964 bis 1970 umfaßte. Neben zahlreichen inhaltlichen Schwerpunkten zur Entwicklung des genannten Industriezweiges wurde auf eine „enge Verknüpfung von feinmechanisch-optischer Meßtechnik und Elektronik" orientiert, wobei bis zum Jahr 1970 der Elektronikanteil auf 60 Prozent des Gerätebauvolumens anzuheben war. 11 Zunächst ist jedoch die Frage zu beantworten, wie sich die wissenschaftlichen und vor allem fertigungstechnischen Voraussetzungen zur Lösung dieses Problems in beiden Unternehmen bzw. Volkswirtschaften entwickelt hatten.

B. Die Voraussetzungen für die Integration der Elektronik In der Bundesrepublik sowie in anderen entwickelten westlichen Industrienationen war zu Beginn der sechziger Jahre der Stand auf wissenschaftlich-technischem wie auf fertigungstechnischem Niveau im Bereich der Elektrotechnik/Elektronik soweit vorangeschritten, daß eine massenhafte Fertigung qualitäts- und sortimentsgerechter Elektronik-Elemente (zur damaligen Zeit vor allem Transistoren, Dioden, Widerstände etc.) möglich war. Renommierte Firmen wie Siemens standen dem Oberkochener Unternehmen hierfür zur Seite. Zu Problemen oder Lieferschwierigkeiten im genannten Untersuchungszeitraum fanden sich in den dem Autor zur Verfügung gestellten Archivalien jedenfalls keine Hinweise. Über eine Ein BArchP, DE 1/42819, Bl. 215 f.

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genfertigung dringend benötigter Zuliefer-Produkte mußte in Oberkochen nicht nachgedacht werden. Weitaus schwieriger war dagegen die Sachlage für Carl Zeiss Jena. Die in den fünfziger Jahren in der DDR getroffenen strukturpolitischen Entscheidungen zugunsten der Schwerindustrie hatten zur Folge, daß eine konsequente Hinwendung zu zukunftsträchtigen Erzeugnislinien auch im folgenden Jahrzehnt stark gehemmt wurde. Zwar hatte sich ab Mitte der fünfziger Jahre der Anteil der elektrotechnischen Industrie innerhalb des metallverarbeitenden Sektors weiter erhöht, jedoch stand diese Niveauverschiebung in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Anforderungen der Zukunft. Eine wesentliche Ursache lag darin, daß die Elektronikentwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren nur sporadisch die Aufmerksamkeit von Staats- und Parteiführung der DDR fand. Obwohl sich Walter Ulbricht bereits 1956 beim damaligen stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden, Fritz Selbmann, darüber beschwerte, daß die Entwicklung der Elektronik nicht genügend Beachtung fand 12 , wurde dieses Defizit in der Folgezeit nicht aufgeholt. Hieran änderte sich auch nichts, als 1957 mit dem Aufbau des seinerzeit größten Elektronikbetriebs, des Halbleiterwerks Frankfurt/Oder, begonnen wurde. Die Schaffung der notwendigen Produktionsbedingungen für elektronische Bauelemente (Reinheit, stabile Klimabedingungen, Bereitstellung superreiner Metalle etc.) gestaltete sich weiterhin schwierig. Gegen Ende des Jahres 1959 betrug die Ausschußquote bei bestimmten Bauelementen im Halbleiterwerk immerhin noch bis zu 98 %, was die Produktions Verluste bis November des gleichen Jahres auf rd. 1,7 Mio. DM-Ost anwachsen ließ. 13 Trotz eingeleiteter Bemühungen, die Rückstände aufzuholen und zugleich den Anschluß an das internationale Niveau nicht zu verlieren, fehlten der DDR-Volkswirtschaft Ende der fünfziger Jahre Fertigungskapazitäten für ca. 40 Mio. Transistoren und Gleichrichter. 14 Außerdem war es der DDR-Industrie nicht möglich, besonders hochwertige und leistungsstarke Halbleiterbauelemente selbst herzustellen. Gerade die am dringendsten benötigten Elektronikerzeugnisse mußten auch in den sechziger Jahren weiterhin aus westlichen Industrieländern importiert werden.

12

„Werter Genösse Selbmann! Ich lenke Deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß ... die Führung des Kampfes um die neue Technik auf wichtigen Gebieten bisher noch nicht gesichert ist. Eines der wichtigsten davon möchte ich herausgreifen: Die Entwicklung elektronischer Rechenautomaten und Datenverarbeitungsautomaten. Diese Anlagen sind zur Steigerung der Arbeitsproduktivität... zur automatischen Steuerung und Kontrolle ganzer Produktionsprozesse sowie zur Einsparung zahlreicher Arbeitskräfte ... von ausschlaggebender Bedeutung. Ungeachtet dieser Bedeutung wurde von der zuständigen Hauptverwaltung Feinmechanik-Optik und vom Ministerium für Allgemeinen Maschinenbau dieses Gebiet sich selbst überlassen ... Es ist unbedingt notwendig, in der weiteren Forschungs- und Entwicklungsarbeit, in der Erprobung vorhandener Geräte und ihrer Überführung in die Produktion eine straffe Leitung seitens der Hauptverwaltung zu sichern." Ebd./48 830, Bl. 335 f. 13 Vgl. Mühlfriedel/Wießner, S. 292. 14 Ebda.

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Vor diesem Hintergrund bedeutete das seit Anfang der sechziger Jahre verfolgte Ziel der engeren Verbindung von Elektronik und wissenschaftlichem Gerätebau eine echte Herausforderung. Das gesamte Vorhaben erhielt mit dem VI. SED-Parteitag 1963 eine neue Dimension, als sowohl der Gerätebau wie auch die Elektrotechnik/Elektronik zu den besonders förderungswürdigen Industriezweigen erhoben wurden. Um künftig die Elektronikentwicklung in der DDR zentralstaatlich besser planen und leiten zu können, entstand 1964 beim Ministerrat ein „Komitee für Elektronik". Seine Aufgabe bestand darin, die Arbeit der staatlichen Gremien, der Industriezweige und der wissenschaftlichen Einrichtungen bei der weiteren Entwicklung der Elektronik zu koordinieren und zu organisieren. Als Hauptaufgaben seiner Tätigkeit wurden u. a. genannt: 1. Sicherung eines wissenschaftlichen Vorlaufs auf dem Gebiet der elektronischen Bauelemente und der industriellen Elektronik, 2. Volle Einbeziehung aller in der DDR dafür vorhandenen wissenschaftlichen Kapazitäten, 3. Sicherung der Standardisierung der elektronischen Bauelemente, Baugruppen und Geräte, 4. Sicherung eines zielgerechten Einsatzes elektronischer Geräte und Anlagen zur Erreichung eines hohen volkswirtschaftlichen Nutzens, 5. Entwicklung eines einheitlich geleiteten elektrotechnisch-elektronischen Anlagenbaus zur Fortführung der Automatisierung und Prozeßsteuerung, 6. Profilierung der Kapazitäten der elektrotechnisch-elektronischen Industrie zur Sicherung einer vorrangigen Entwicklung elektronischer Bauelemente.15 Diese inhaltlich durchaus den wirtschaftlichen Notwendigkeiten geschuldeten Forderungen mußten jedoch zwangsläufig mit den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten kollidieren. Völlig offen blieb außerdem die Frage, wie angesichts der wenig ermutigenden Situation in der elektrotechnisch-elektronischen Industrie der DDR die genannten Aufgaben zu lösen waren. Das hieraus entstehende Spannungsfeld zwischen Zielen und Voraussetzungen bildete die wesentliche Rahmenbedingung, unter der in den sechziger Jahren die Integration der Elektronik in den wissenschaftlichen Gerätebau der DDR vollzogen werden sollte. Insgesamt verkörperten weder die materiellen, die personellen noch die wissenschaftlichen Grundlagen einen solchen Entwicklungsstand, der die Erreichung der gesteckten Ziele ermöglicht hätte. Schwierigkeiten und Probleme blieben damit vorprogrammiert. Im folgenden soll nun dargestellt werden, wie es trotz unterschiedlicher Voraussetzungen in beiden Zeiss-Werken gelang, Elemente der Elektronik in den Gerätebau zu integrieren und welche innovativen Veränderungen damit verbunden waren.

15 BArchP, DE 1/43002, Bl. 114-116.

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C. Die praktische Umsetzung innovativer Veränderungen Unter dem Begriff Innovation sind die Entwicklung und die Produktionseinführung von Erzeugnissen und Verfahren zu verstehen, die auf neuartigen Wirkprinzipien beruhen und damit qualitativ neue Produkte verkörpern bzw. Produktivitätssteigerungen im Fertigungsprozeß bewirken. Der vorliegende Betrachtungszeitraum ist jedoch zu kurz, um den Innovationsbegriff als weitläufigen Prozeß vom Hervorbringen neuer Ideen bis zur umfassenden Markteinführung am Untersuchungsobjekt konkret darzustellen. Vielmehr geht es darum, zu ergründen, inwieweit es beiden Zeiss-Unternehmen gelang, den Anforderungen hinsichtlich wissenschaftlich-technischer Weiterentwicklung ihrer Erzeugnisse nachzukommen und ob im Ergebnis dieser Bemühungen mit Hilfe der Einbeziehung der Elektronik in den feinmechanisch-optischen Gerätebau innovative Fortschritte erzielt wurden. Um eine vergleichende Betrachtungsweise zu ermöglichen, soll die Darstellung auf der Basis der wichtigsten Erzeugnisgruppen, die sowohl in Oberkochen als auch in Jena existierten, erfolgen. Dabei wurden die Bereiche ausgewählt, in denen im Betrachungszeitraum die Integration elektrotechnischer bzw. elektronischer Bauelemente zwecks Erzeugnis Verbesserung angedacht und in der Praxis erprobt wurde. Für die sechziger Jahre waren dies folgende: - Mikroskopie - optisch-physikalische Meßinstrumente - Feinmeßgeräte - geodätische Instrumente - photogrammetrische Geräte - medizinisch-optische Geräte

I. Mikroskopie Die Mikroskop-Fertigung gehörte zu den traditionsreichsten und stabilsten Positionen bei Zeiss. Trotzdem wurde ständig an der Verbesserung der Handhabung sowie erweiterten Einsatzmöglichkeiten gearbeitet, wenngleich Veränderungen am Gerät meist nur partiellen Charakter trugen (ζ. B. mühelose Veränderung der Vergrößerungen ohne Schärfenkorrektur bei laufender Beobachtung etc.). Mit dem Aufkommen der Elektronik und Fernsehtechnik entstand gegen Ende der fünfziger Jahre der Wunsch, das mikroskopische Beobachtungsbild durch fernsehtechnische Mittel zu übertragen. Diese neuartige Verknüpfung von Mikroskopie und Fernsehtechnik lieferte zugleich den Vorteil der Helligkeitsverstärkung der

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Abbildung auf dem Monitor, was die herkömmliche mikroskopische Betrachtungsweise nicht vermochte. In der Firma Siemens fand Carl Zeiss Oberkochen einen gleichwertigen Partner, die theoretischen Überlegungen in die Praxis umzusetzen. Das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit wurde bereits 1958 unter der Bezeichnung Zeiss-Siemens-Fernsehmikroskop der Öffentlichkeit vorgestellt. Es bestand aus einer Verbindung von Forschungsmikroskop und einer Anlage für industrielles Fernsehen, das zur damaligen Zeit noch schwarz-weiß Bilder lieferte. Ab 1971 ermöglichte dann die Integration einer Farbkamera den Übergang zur farbigen Fernsehmikroskopie. 16 Die Verbindung von Mikroskop- und Fernsehtechnik stellte mit ihrem Übergang zur Serienfertigung ab 1960 in Oberkochen eine Verbesserungsinnovation dar, die durch die Kombination zweier bekannter Wirkprinzipien zu einer neuartigen Gerätegruppe innerhalb der Mikroskopie führte und von der Leistung wie den Anwendungsmöglichkeiten besonders in der Medizin (u. a. in der Hämatologie) sich ein breites Feld und eine umfassende Akzeptanz erschloß. Die wichtigste Voraussetzung einer solchen Verbesserung war jedoch ein Entwicklungsstand der Fernsehtechnik, der es ermöglichte, diesen Bereich der Elektrotechnik/Elektronik in den Dienst der Mikroskopie zu stellen. Nur so konnte es gelingen, in der vergleichsweise kurzen Zeit von rund drei Jahren vom Entwicklungsstadium zur Serienproduktion überzugehen. Das Fehlen entsprechender materieller wie wissenschaftlich-technischer Voraussetzungen verhinderte es zu dieser Zeit in Jena, einen ähnlichen Schritt zu gehen. Dafür wurden sowohl in Jena als auch in Oberkochen die Fertigung und die qualitative Verbesserung der Elektronenmikroskopie fortgesetzt. Als Resultat dieser Bemühungen wurde im Juni 1961 in Oberkochen ein weiterentwickeltes Elektronenmikroskop vom Typ EM 9 einem breiten Publikum vorgestellt. 17 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war es nunmehr gelungen, die bis dahin notwendige Sachkenntnis, die zur optimalen Bedienung eines solchen Gerätes erforderlich ist, auf ein Minimum zu reduzieren und der zunehmend breiter werdenden Anwenderschicht (Biologen, Mediziner etc.) damit die Möglichkeit zu bieten, sich voll auf ihre eigentlichen mikroskopischen Untersuchungen zu konzentrieren. Die Kundenwünsche nach einfacher Bedienung, hoher Betriebssicherheit und bequemer Endbildbeobachtung konnten ebenso berücksichtigt werden wie die nach stärkeren physikalischen Leistungsparametern. Damit hatte das Oberkochener Unternehmen ein leistungsfähiges Routinegerät entwickelt, das dank seiner verbesserten Konstruktionsmerkmale seit der Markteinführung 1961 für rund 20 Jahre weltweit richtungsweisend für die Entwicklung und Konstruktion von Elektronenmikroskopen war. Auch dieses Gerät erfuhr im Laufe der sechziger Jahre weitere Veränderungen. So wurden ab 1966 das Beleuchtungssystem verbessert und Nach16 Köhler, S. 61. 17 Unter uns, Heft 16, Dez. 1961.

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rüstsätze angeboten, die es gestatteten, das EM 9 den steigenden Anforderungen anzupassen. Eine ähnliche Entwicklung wurde in Jena nachvollzogen, wobei jedoch die führende Position Oberkochens auf dem Weltmarkt im Bereich der Elektronenmikroskopie anerkannt wurde. 18 Zugleich registrierte man in Jena die Kundenwünsche nach einer kompletten Transistorbestückung, um die Bedienungs- und Service-Freundlichkeit sowie seine Leistungsparameter zu erhöhen, war aber selbst Ende der sechziger Jahre noch nicht in der Lage, diese Bedürfnisse des Marktes zu befriedigen. Eine Weiterentwicklung herkömmlicher Techniken bedeutete die 1968 in Jena vorgestellte Elektronenoptische Anlage EF 4, die auf der Basis der Elektronenmikroskopie ein universell einsetzbares Meß- und Beobachtungsgerät für die chemische Industrie bzw. die Metallurgie verkörperte. Das grundlegende Wirkprinzip des bereits 1931 entwickelten Elektronenmikroskopes wurde sowohl hierbei als auch in den Oberkochener Erzeugnissen beibehalten, was den in der Folgezeit vorgenommenen Änderungen höchstens den Charakter partieller Verbesserungsinnovationen verleiht.

II. Optisch-physikalische Meßinstrumente Die optisch-physikalischen Geräte verkörpern eine der ältesten Erzeugnisgruppen der Zeiss-Fertigung. Sie dienen vor allem der Untersuchung der Zusammensetzung und des chemischen Aufbaus von Stoffen. Zu ihnen gehören Spektrometer, Refraktometer, Photometer und Polarimeter. In beiden Zeiss-Werken konnte bereits Anfang der fünfziger Jahre ein modernisiertes Vorkriegsprogramm dieser Meßgeräte angeboten werden. Im Verlaufe der sechziger Jahre erfuhren die optisch-physikalischen Meßgeräte zahlreiche Weiterentwicklungen. So wurde 1968 in Oberkochen ein robustes Laborgerät des Abbe-Refratometers vorgestellt und zugleich ein Refraktometer mit Durchflußküvette angeboten, das für die Verwendung in der Brauerei-Industrie vorgesehen war. Innovative Entwicklungen verkörperten diese Maßnahmen allerdings nicht. Sie konnten wiederum nur mit Hilfe der Elektronik durchgesetzt werden. Der Markt forderte von den Meßgeräteherstellern Instrumente, die es erlaubten, bisher visuell oder manuell durchgeführte Meßvorgänge mit elektronischen Mitteln ablaufen zu lassen. Die ermittelten Meßwerte sollten analog oder digital wiedergegeben bzw. registriert werden. Im Jahr 1968 brachte Zeiss Oberkochen unter der Bezeichnung Refaktrograph ein solches Gerät auf den Markt, in dem die herkömmlichen Wirkprinzipien des Messens mit der elektronischen Erfassung und Wiedergabe, aber auch der rechnerischen Verarbeitung der Meßwerte verbunden wurden. 19 18 Wissenschaftlich-technische Konzeption der Erzeugnisgruppe Elektronenmikroskope 1971-1978, Jena 1969, S. 12, BACZ (ohne Signatur). 19 Vgl. 75 Jahre Abteilung für optische Meßinstrumente 1893-1968, Carl Zeiss, Oberkochen 1968.

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Ähnliche Vervollkommnungen durchliefen die meisten optisch-physikalischen Meßgeräte in den sechziger Jahren, wobei der bereits erreichte Grad der technischen Entwicklung es gestattete, mit jeweils nur geringfügigen Abwandlungen oder Ergänzungen fast alle photometrischen Aufgabenstellungen erfolgreich zu bewältigen. Insofern blieben die Verbesserungsinnovationen an diesen Geräten nur auf einzelne Elemente bzw. Teilaufgaben (z. B. Erfassung und Wiedergabe der Meßergebnisse) beschränkt. Ein besonderes Beispiel für die Integration eines neuen Wirkprinzips in ein optisch-physikalisches Meßgerät lieferte Carl Zeiss Jena in den sechziger Jahren. Es handelte sich hierbei um die Entwicklung und Verbesserung des Laser-Mikrospektralanalysators IMA 1. Das Gerät war für den Einsatz in der Mineralogie, der Metallographie, der Archäologie und der Biologie sowie der Medizin einschließlich der Gerichtsmedizin vorgesehen. Mit Hilfe eines Laserstrahles wurde eine geringe Substanzmenge verdampft, die mittels Bogenentladung zum Leuchten gebracht und damit ausgewertet werden konnte. Die Idee für die Laseranwendung in der Spektralanalyse entstand jedoch in den USA. Da ein Austausch von Forschungsergebnissen bzw. eine Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet völlig ausgeschlossen war, blieb Jena nur die Möglichkeit der Eigenentwicklung, die in den Jahren 1964-1968 bis zur Serienproduktionsreife vorangetrieben wurde. Die Kopplung eines bewährten Zeiss-Gerätes mit dem Wirkprinzip des Lasers stellte insgesamt eine innovative Neuheit dar, wenngleich sie nur nachvollzogen wurde. Logischerweise kamen die Amerikaner mit ihrem Gerät in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf den westlichen Markt, während Jena versuchte, den Ostmarkt zu bedienen und zugleich am Westmarkt Fuß zu fassen. Dies gelang jedoch nur in Einzelfällen. So wurde nicht ohne Stolz die Bestellung eines LMA 1 durch das Bundeskriminalamt in Wiesbaden 1970 zur Kenntnis genommen.20 Allerdings hatten die Jenenser Zeiss-Werker während der gesamten Fertigungsperiode mit ständigen Zuliefer-Problemen zu kämpfen. Bestimmte Metallschichtwiderstände konnten nur über West-Importe bezogen werden, während die Qualität des im Jenaer Schott-Werk hergestellten Laserglases Anlaß zu permanenter Kritik bot. 21

I I I . Feinmeßgeräte Diese Warengruppe umfaßt alle Geräte für die industrielle Längen- und Winkelmessung und gehört ebenfalls zu den klassischen Produktionsabteilungen bei Zeiss. Seit Ende der fünfziger Jahre richtete sich ein bedeutendes Maß an Forschungsund Entwicklungarbeit im Oberkochener Unternehmen darauf, das bisherige Fein20 BACZ, VA/431. 21 Forschungsthema: Entwicklung und Weiterentwicklung Laser-Mikro-Spektralanalysator LMA 1 (Bearbeiter Dr. habil. Moenke) 1964-68. Ebd./430a.

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meßgeräteprogramm technisch weiterzuentwickeln. Es galt, die mit optischen und mechanischen Mitteln durchgeführten Meßvorgänge durch den verstärkten Einsatz elektronischer Elemente und die Anwendung der Digitaltechnik zu vervollkommnen. Allerdings entsprach der Entwicklungsstand der Elektronik noch nicht dem revolutionierenden Niveau der siebziger Jahre, so daß die eingeleiteten Verbesserungen in den sechziger Jahren hauptsächlich unter Zuhilfenahme elektromechanischer Mittel erreicht werden mußten. Ein erstes Resultat dieser Entwicklungsbemühungen stellte ein digital anzeigendes Werkzeug-Meßmikroskop Anfang der sechziger Jahre dar. Weitere Feinmeßgeräte mit digitaler Anzeige waren die ab 1964 gefertigte Winkellibelle sowie ein Winkelschalttisch mit Vorwahlzähler, der 1968 auf den Markt kam. Die Gemeinsamkeit all dieser Weiterentwicklungen bestand in der mit Hilfe elektromechanischer Elemente integrierten digitalen Erfassung und Wiedergabe von Meßwerten, wobei die traditionellen Wirkprinzipien des Meßvorgangs selbst keine Veränderung erfuhren. 22 Ähnlich geartete Bemühungen der Weiterentwicklung der Feinmeßtechnik sowie der Versuch, ihre Anwendung in numerischen Steuerungen durchzusetzen, scheiterten zur gleichen Zeit in Jena, da es an der ensprechenden BauelementeQualität mangelte. Trotzdem herrschte im Jenaer Zeiss-Werk keineswegs schöpferische Untätigkeit. Hier gelang es 1965 das Tastschnittgerät ME 10, ein Instrument zum Messen von Zahnrädern, auf den Markt zu bringen. In diesem Gerät kamen erstmalig elektronische Baugruppen in größerem Umfang zum Einsatz, die die Erfassung und Weitergabe von Meßdaten an einen Rechner ermöglichten. 23 Damit begann auch in Jena die schrittweise Einbeziehung der Elektronik in die Meßtechnik. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verkörperte das Tastschnittgerät durchaus internationales Spitzenniveau. Ständig weiterentwickelte und technisch vervollkommnete Geräte zur Zahnradmessung stellten auch das Evolventenprüfgerät VG 450 Κ (1966), das Zahnradmeßgerät TA 450 S und das Wälzprüfgerät ZA 450 S (beide 1968) dar. Dank des zunehmenden Einsatzes von elektronischen Elementen arbeiteten diese Geräte bereits weitgehend automatisch und konnten mit einem Schnellschreiber bzw. einem Kleinsteuerrechner zur Datenverarbeitung und Ergebnisausgabe gekoppelt werden. 24 All diese Geräte verkörperten zweifellos Verbesserungsinnovationen, die beim Anwender teilweise spürbare Produktivitätssteigerungen ermöglichten. Damit hatte sich aber auch ihre Wirkung erschöpft, denn weitergehende Impulse in Richtung technischer Neuerungen beim Anwender konnten in den sechziger Jahren ebenso wenig festgestellt werden, wie eine Ausdehnung von Verbesserungsinnovationen über den Rahmen der Feinmeßgeräteherstellung in Jena.

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Vgl. hierzu auch: Köhler, Kapitel 7.8. 3 Jenaer Rundschau, Heft 3/1988, S. 127. 24 Ebda. 2

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Dagegen wurde bereits Anfang der sechziger Jahre unter der Bezeichnung „GM-Magic" in Oberkochen ein Feinmeßgerät zur Positionierung von Werkzeugmaschinen vorgestellt, das unter Verwendung eines Gittermaßstabes eine rein elektronische Meßwerterfassung und deren digitale Wiedergabe ermöglichte. 25 Es stellte zwar das erste, rein elektronisch arbeitende Feinmeßgerät innerhalb der Zeiss-Familie dar, wurde aber aufgrund seiner aufwendigen Fertigungsanforderungen und der damit verbundenen hohen Kosten nicht vom Markt angenommen. In nur wenigen Exemplaren hergestellt, hatte es trotz seines innovativen Charakters keinerlei Auswirkungen auf grundlegende Veränderungen weder innerhalb der genannten Gerätegruppe noch beim Werkzeugmaschinenbau selbst. Insofern konnte auch innerhalb der Feinmeßgerätefertigung in den sechziger Jahren der Rahmen partieller Verbesserungsinnovationen nicht überschritten werden.

IV. Geodätische Instrumente Die geodätischen Instrumente und Geräte gehören seit 1908 zur Fertigungspalette des Zeiss-Unternehmens. Nachdem ihre Produktion in Oberkochen wieder aufgenommen wurde, konnte 1959 nach mehreren Verbesserungen das Präzisionsnivellier Ni 2 vorgestellt werden, das als erstes Nivellier mit automatischer Horizontierung der Ziellinie in Serie gefertigt und in großer Stückzahl in den sechziger Jahren verkauft wurde. Seit der ersten Hälfte der sechziger Jahre fand eine Vervollständigung des Geräteprogrammes statt, die mit einer qualitativen Verbesserung durch das Integrieren elektro-optischer und elektronischer Elemente gekoppelt war. Mit Entwicklung des Elektronischen Tachymeters SM 11 und der Überleitung in die Serienfertigung gelang dem Oberkochener Zeiss-Unternehmen 1967 der Einstieg in die erste Generation elektro-optischer Distanzmesser. Ihr folgte die zweite Generation mit dem Elektrooptischen Distanzmesser Eldi 2 und dem Elektronischen Tachymeter-Theodolit SM 4.26 Die hier verbesserte Einbeziehung elektronischer Elemente (v. a. Dioden) bildete wiederum die Voraussetzung für einen besonderen Qualitätssprung. Im Jahr 1968 gelang es, ein theodolitähnliches Instrument zur kombinierten Messung von Richtungen und Strecken mit nachfolgender Registrierung zu entwickeln. Dieses registrierende elektronische Tachymeter RegElta 14 gestattete es erstmals, den Datenfluß der Feldmessung in einen Bürocomputer zu übertragen und so eine Koppelung von Messung und Datensammlung herzustellen. 27 Eine Fortsetzung dieser Entwicklung bildete die elektronische Weitenmessung, die bei

25 Köhler, S. 18. 26 Ebd., S. 4 f. 27 Ebd., S. 5.

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den Olympischen Spielen 1972 in München zum ersten Mal erfolgreich und werbewirksam eingesetzt wurde. Allerdings führte die Verbindung herkömmlicher mit neuen Wirkungsweisen zu einer Vergrößerung des Geräteumfangs, was wiederum die Handhabung nicht sonderlich erleichterte. Im Jenaer Zeiss-Werk beschränkte sich dagegen die technische Weiterentwicklung vor allem der Theodolite bis gegen Ende der sechziger Jahre auf die praktische Ausreifung der bereits vorhandenen technischen Prinzipien, so daß von innovativen Entwicklungen hier nicht die Rede sein konnte.

V. Photogrammetrische Geräte Die photogrammetrischen Geräte dienen der Gewinnung geometrischer Informationen aus photographischen Aufnahmen. Ihr hauptsächlichstes Anwendungsgebiet besteht in der Herstellung topographischer Karten aus Luftbildaufnahmen. Die Geschichte dieser Gerätegruppe reicht bis zum Beginn unseres Jahrhunderts zurück. Aufgrund der Entwicklung in der Folgezeit stand bis zum Beginn der sechziger Jahre ein weitgehend komplettes Gerätespektrum zur Verfügung, das sich aus Luftbildkammern, Laborgeräten, Stereoskopen, Entzerrungsgeräten, Präzisionskomparatoren und Stereo-Auswertgeräten zusammensetzte. Neben der ständigen Arbeit an der Verbesserung der Leistungsparameter der genannten Geräte kristallisierte sich sowohl in Oberkochen als auch in Jena seit den fünfziger Jahren zunehmend die Qualifizierung der Stereo-Auswertung als wichtigste Forschungs- und Entwicklungsaufgabe heraus. Im Ergebnis der Bemühungen um die Lösung dieser Probleme wurde 1967 ein Präzisionsauswertgerät mit der Bezeichnung Planimat vorgestellt, dessen Verbesserungen jedoch ausschließlich in einer partiellen Optimierung bereits angewandter Techniken bestanden. Die Verknüpfung herkömmlicher mit neuen Wirkprinzipien gelang dagegen in der Weiterentwicklung eines topographischen Kartiergerätes, das bis Ende der fünfziger Jahre mit mechanischen Analogrechnern arbeitete. Dem Zug der Zeit folgend, wurde es ab 1960 mit elektrisch-elektronisch arbeitenden Rechnern verbunden und unter der Bezeichnung Planitop E kurzzeitig angeboten. Der Stand der Technik, insbesondere der zu dieser Zeit gefertigten elektronischen Bauelemente, ermöglichte noch keine befriedigende marktgerechte Lösung der Aufgabe, so daß die Serienreife in den sechziger Jahren noch nicht erreicht werden konnte. Vor ähnlichen Problemen standen die Jenaer Ingenieure. Die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in die Fertigung übergeleiteten Geräte zur Kartenherstellung und Projektierung durch Luftbildvermessung brauchten den Vergleich mit Zeiss Oberkochen oder der Schweizer Firma Wild nicht zu scheuen. Eine technische Weiterentwicklung durch die Kopplung mit einem elektronischen Rechner,

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die das Gerät Stereodicomat beinhalten sollte, mußte jedoch abgebrochen werden. Es fehlte nicht nur an geeigneten Rechnern, sondern sogar an entsprechenden Entwicklungskapazitäten. Das gleiche Schicksal erlitt der in Jena entwickelte Topomat, ein photogrammetrisches Gerät, dem ebenfalls die erforderliche Elektronik fehlte. Dies war um so bedauerlicher, da es insgesamt preiswerter als die Geräte westlicher Firmen produziert wurde und damit durchaus gute Marktchancen gehabt hätte.28 Nicht zuletzt aus diesen Gründen richteten sich die Bemühungen der Entwicklungsingenieure sowohl in Oberkochen als auch in Jena im Untersuchungszeitraum primär auf ein verbessertes Durchsetzen und Anwenden bereits bekannter Mechanismen und Prinzipien, da in vielen Bereichen der Photogrammetrie ihre technische Ausreifung noch nicht erreicht war und andererseits das Geräteprogramm beider Unternehmen Lücken aufwies, die es zu schließen galt. Insofern prägten vor allem partielle Verbesserungen herkömmlicher Funktionsweisen die Entwicklung der photogrammetrischen Instrumente in den sechziger Jahren, wenngleich sich mit fortschreitender Elektronikentwicklung durchgreifende Veränderungen in der Zukunft abzuzeichnen begannen.

VI. Medizinisch-optische Geräte Spezialmikroskope aller Art wurden seit Beginn des wissenschaftlichen Gerätebaus auch im medizinischen Bereich angewandt. Darüber hinaus entwickelten und fertigten beide Zeiss-Unternehmen seit den fünfziger Jahren medizinisch-technische Geräte, die der Untersuchung und der operativen Behandlung von Schäden am menschlichen Auge dienten. Zu diesem Zweck konnte nach jahrelanger Forschungs- und Entwicklungsarbeit in Oberkochen 1959 der Prototyp eines XenonLichtkoagulators vorgestellt werden, der in den sechziger Jahren weiter verbessert und mit Zusätzen versehen wurde. Aufgrund seines großen Zuspruchs, den das Gerät weltweit fand, konnte es bis 1970 vierhundertmal verkauft werden. 29 Es löste den bis dahin gebräuchlichen Sonnenlichtkoagulator ab, der als Lichtquelle die Sonne nutzte. Nach der Erfindung des Lasers 1960 gelang es innerhalb der nächsten 10 Jahre, diese neuartige Technologie auch für die klinische Anwendung der Photokoagulation nutzbar zu machen und den Xenon-Lichtkoagulator zu ersetzen. Für die sechziger Jahre verkörperte er jedoch im medizinisch-technischen Bereich eine Verbesserungsinnovation, deren leichtere und uneingeschränkte Handhabbarkeit (keine Abhängigkeit vom Wetter) dem Anwender einen höheren Nutzeffekt verschaffte. 28 Wissenschaftlich-technische Konzeption für die Gerätegruppe Β (Bildvermessung von räumlichen Makrostrukturen) 1969, S. 13, BACZ (ohne Signatur). 29 Beiträge zur Geschichte des Zeiss-Werkes ab 1945, Stand Sommer 1974, Bibliothek Optisches Museum, Zeiss Oberkochen.

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Interessant ist, daß die Entwicklung und Fertigung des Lichtkoagulators - ähnlich der Weiterentwicklung des Elektronenmikroskops sowie einiger anderer Feinmeßgeräte - fast zeitgleich in Jena ablief und mit Erreichen der Fertigungsreife der Kampf um die besseren Marktpositionen einsetzte. Eine 1969 von Carl Zeiss Jena durchgeführte Marktanalyse wies das Oberkochener Unternehmen u. a. beim Lichtkoagulator als unmittelbaren Konkurrenten aus.30 Daneben wurden in Auswertung der sechziger Jahre für das kommende Jahrzehnt der Stand und die Entwicklungstendenzen der wichtigsten Gerätebereiche in Jena einer genauen Prüfung unterzogen. Die Analysen sind in mehrerer Hinsicht aufschlußreich. Erstens geben sie Auskunft über den aktuellen Stand von Forschung und Fertigung innerhalb der einzelnen Geräteabteilungen. Zweitens werden Erfolge im Rahmen des Weltmarktvergleiches sowie Produktionsprobleme, die vorrangig aus dem Kalten Krieg resultierten, genannt. Und drittens erschließen sich dem aufmerksamen Leser Haltungen und Meinungen zu Fragen künftiger Forschungsschwerpunkte und dem Durchsetzen innovativer Veränderungen in den Zeiss-Erzeugnissen. Zum ersten und zweiten Problemkreis sind die Aussagen unterschiedlich. In einigen Fertigungsbereichen wie den Feinmeßgeräten, der Elektronenmikroskopie, der Medizintechnik sowie der Photogrammetrie konnte Jena auf mehrere Erzeugnisse verweisen, die international durchaus konkurrenzfähig waren und stabile Marktpositionen besaßen. Dagegen deuteten sich Schwierigkeiten in der Weiterentwicklung der Analysenmeßtechnik sowie der Optoelektronik an, die vor allen Dingen in einer mangelnden Zulieferqualität bestanden. Besonders in der Sortiments- und qualitätsgerechten Bereitstellung elektrotechnischer und elektronischer Bauelemente erbrachten die sechziger Jahre keine Verbesserung. Die eigene Industrie vermochte den Bedarf nicht zu decken, die RGW-Länder verfügten mit Ausnahme der Sowjetunion über keine adäquaten Produktionsmöglichkeiten 31 und aus dem westlichen Ausland konnte aufgrund der bestehenden Embargo-Bestimmungen und der permanenten Devisenknappheit der DDR nie die erforderliche Menge importiert werden. Insofern stießen Innovationsbemühungen an harte materielle Grenzen, wie es stellvertretend für fast alle Gerätebaubereiche in der 1969er Analyse zur Entwicklung der Vermessungsgeräte festgehalten wurde: „Die geforderten Bauelemente bzw. Baueinheiten werden ... zum Anschluß dieser Entwicklungen (der Vermessungsgeräte - R. K.) gebraucht. Sie existieren auf dem Welt-

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Weltstandsvergleichskatalog vom 18. 4. 1969, BACZ (ohne Signatur). Im übrigen hielt sich die Sowjetunion mit materieller Unterstützung auf diesem Gebiet stets sehr bedeckt. In zahlreichen Berichten und Analysen hinsichtlich der Einschätzung des Entwicklungsstandes des wissenschaftlichen Gerätebaus bzw. der Elektronikindustrie der Sowjetunion wird ein permanentes Wissensdefizit selbst auf Seiten „eingeweihter" DDR-Stellen deutlich. 31

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markt..., sind allerdings zur Zeit aus Embargo- und Devisengründen nicht in unseren Geräteentwicklungen einsetzbar." 32

Aufschlußreich hinsichtlich der Einstellung und Entscheidungsfreudigkeit zu Forschungs- und Entwicklungsfragen ist dagegen der dritte Komplex. Ausgehend von den Marktanalysen sollten die einzelnen Geräteabteilungen Entscheidungsvorschläge an die Kombinatsleitung hinsichtlich zu erwartender Schwerpunkte der eigenen Entwicklung unterbreiten. Die daraufhin zu Papier gebrachten Meinungen waren im wesentlichen identisch und von einer gewissen Zurückhaltung bzw. Unsicherheit gekennzeichnet. Dies soll nur an einem Beispiel kurz erläutert werden. Obwohl gegen Ende der sechziger Jahre die Bedeutung der Optoelektronik für die Entwicklung der Halbleitertechnik erkannt und richtig eingeschätzt wurde, daß die DDR zur Deckung des Bedarfs auf die Eigenproduktion zurückgreifen muß, wurde vorgeschlagen „.. .eigene Forschungen in angemessenem Umfang durchzuführen, um jederzeit ohne Zeitverlust stärkere Kräfte auf diesem Gebiet zu konzentrieren, falls durch Informationen ein lohnendes Anwendungsgebiet erkennbar wird." 3 3

An anderer Stelle heißt es zu dem gleichen Problem: „Alle Möglichkeiten der Information über zielgerichtete Forschungen und Entwicklungen, vor allem aus den USA, müssen ausgenutzt und objektiv und vor allem kritisch ausgewertet werden, um gegebenenfalls rechtzeitig verstärkt auf diesem Gebiet tätig zu werden." 34

Eine derartig abwartende und lediglich auf das Beobachten von Veränderungen ausgerichtete Haltung zu Fragen des Forschungsvorlaufs innerhalb zukunftsträchtiger Techniken und Technologien war nicht dazu angetan, marktbestimmend zu werden und innovative Entwicklungen auszulösen. Sie drückte eher Unsicherheit oder gar Angst aus, Neuland zu betreten und eventuell Pionierleistungen zu vollbringen. Risikobereitschaft und schöpferische Ideen waren in den eigenen Erzeugnisabteilungen bei Carl Zeiss Jena Ende der sechziger Jahre offenbar immer weniger gefragt. Bleibt in einer abschließenden Wertung zu klären, worin die Ursachen dafür lagen.

32 Wissenschaftlich-technische Konzeption der Erzeugnisgruppe Vermessungsgeräte, Januar 1969, S. 53, BACZ (ohne Signatur). 33 Entwicklungstendenzen der Optoelektronik und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Halbleitertechnik, Jena 1969, S. 5, Ebda. 3 4 Ebd., S. 10.

14 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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D. Innovation und Entscheidungsstrukturen eine abschließende Wertung Für den Zeitraum der sechziger Jahre ist das Bemühen beider Zeiss-Werke sichtbar, sich dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu stellen und ihn in einzelnen Teilbereichen auch mitzubestimmen. Beide Werke waren auf den Binnen- und Außenmärkten aktiv und erhielten - wenn auch in unterschiedlichem Maße und aus verschiedenen Richtungen - zahlreiche Innovationsimpulse, die sie nach ihren Möglichkeiten zu verarbeiten suchten. Der große Unterschied zwischen beiden bestand darin, daß sie in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen ihren Platz hatten und in ihnen als Wirtschaftsfaktor existieren mußten. Hieraus läßt sich - trotz vielfach gleicher oder ähnlicher wissenschaftlich-technischer Aufgabenstellungen - in den sechziger Jahren ein zunehmend auftretendes unterschiedliches Herangehen an deren Lösung erkennen, wobei am Ende der Dekade das Jenaer Zeiss-Werk immer schlechter abschneidet. Das Bemühen, in beiden Werken auf Innovationsimpulse zu reagieren, wurde am Beispiel des Versuchs der Integration elektronischer Bauelemente in die Erzeugnispalette des Gerätebaus dargestellt. In keinem der untersuchten Beispiele konnte - nicht zuletzt auch aufgrund des relativ kurzen Untersuchungszeitraumes - eine Basisinnovation in dem Sinne nachgeweisen werden, daß neue Wirkprinzipien entdeckt und neue Anwendungsgebiete für den Gerätebau erschlossen wurden. Selbst zusätzlich entwickelte Geräteteile vermochten nicht, die Leistungsfähigkeit des gesamten Gerätes revolutionierend zu verbessern. Die eingeführten Neuerungen trugen vielmehr den Charakter einer Verbesserungsinnovation, wenngleich der Grad der erzielten Verbesserung im einzelnen sehr unterschiedlich war. In den überwiegenden Fällen wurde das entsprechende Gerät bzw. die Gerätegruppe nur in einzelnen Teilen oder Elementen, d. h. partiell verändert. Beim Anwender trugen die Veränderungen dazu bei, Arbeitsschritte zu erleichtern oder rationeller zu gestalten. Vielfach gelang es auch, genauere Meßund Untersuchungsergebnisse zu erhalten bzw. die Erzeugnisqualität zu erhöhen. Die partiellen Neuerungen blieben meistens auf das jeweilige Erzeugnis begrenzte Einzelfälle und hatten keinen Einfluß auf durchgreifende innovative Veränderungen in einzelnen Fertigungsbereichen oder gar Industriezweigen. Technisch-technologische oder Prozeßinnovationen konnten in der in Rede stehenden Zeit weder in Jena noch in Oberkochen festgestellt werden. Bezogen auf die Elektronik bleibt festzuhalten, daß der Entwicklungsstand ihrer Fertigung in beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich war. In der DDR wurde gerade mit der industriellen Produktion von einfachen Halbleitern begonnen, deren Qualität sowie Verwendbarkeit in den gesamten sechziger Jahren nie den Anforderungen der Anwender genügte. Hinzu kam, daß die vorrangige Orientierung auf den sehr aufnahmefähigen und im Rahmen des RGW relativ geschützten östlichen Außenmarkt zu einer gewissen Beständigkeit im Sortimentsangebot verleitete und

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technische Neuerungen nicht in der Schärfe verlangt wurden, wie es auf dem freien Markt üblich war. Die Ablösung der Elektronenröhre durch Halbleiterbauelemente besaß in Jena einen weniger wichtigen Stellenwert als in Oberkochen. Trotzdem konnte auch in Oberkochen in den sechziger Jahren der Widerspruch zwischen der Forderung nach umfassender Elektronisierung und Automation von Meßvorgängen, Sammlung, Auswertung und Wiedergabe von Daten einerseits und den vorhandenen elektrotechnisch-elektronischen Möglichkeiten andererseits nicht völlig gelöst werden. Dies konnte erst mit der massenhaften Fertigung preiswerter Mikroelektronik-Bauelemente und ihrer Anwendung im Präzisionsgerätebau der siebziger Jahre gelingen. Insofern stellten die bei Zeiss durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten einschließlich erster praktischer Anwendungsversuche der Kombination von Elektronik und Feinmechanik einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Lösung dieses Problems in den Folgejahren dar. Die Intensität und die Qualität dieses Schrittes wurde von den Beschäftigten beider Unternehmen geprägt, wobei sich zwischen Oberkochen und Jena deutliche Unterschiede abzuzeichnen begannen. Diese wiederum wurden nicht unwesentlich von den Entscheidungsstrukturen geprägt, einem bislang eher unterschätzten Einflußfaktor. Das Oberkochener Zeiss-Unternehmen hatte bei seiner Gründung die Struktur des Jenaer Stammhauses übernommen. Ihr wesentliches Kennzeichen bestand darin, daß die Leiter der einzelnen Geräteabteilungen für die Grundlagenentwicklung, Produktplanung, Entwicklung und den Vertrieb selbst verantwortlich waren und nur der Geschäftsleitung unterstanden. 35 Sie trugen damit die volle Verantwortung für alle Belange der Entwicklung ihrer Abteilung, was wiederum hohe fachliche Kompetenz voraussetzte. Dies ermöglichte es, maßgeblich den inhaltlichen Werdegang der jeweiligen Geräteabteilung mitzubestimmen und die Mitarbeiter entsprechend zu motivieren. So kamen Mitte der sechziger Jahre rund 50-60 % aller Entwicklungsideen bei Zeiss Oberkochen von den eigenen Wissenschaftlern. Etwa 2025 % waren auf Anregungen aus Kundenkreisen zurückzuführen und der Rest stammte aus den Fertigungsbereichen. 36 Derartige Vorschläge bzw. Ideen wurden im eigenen Haus hinsichtlich des wissenschaftlichen Gehalts, der Innovationsträchtigkeit und der Patentlage sowie der Fertigungsmöglichkeit, der Kostenfrage und der Absatzfähigkeit überprüft. Danach erfolgte die konkrete Terminplanung bis zur Endfertigung, wobei ständig der Markt beobachtet wurde, um gegebenenfalls Projekte abzubrechen, für die sich die Marktlage bzw. die Konkurrenzsituation verändert hatte.37 Ein hohes Maß an Eigenverantwortung und die Fähigkeit, rasch zu reagieren und Entscheidungen zu treffen, da jede Fehlentwicklung sich unmittelbar auf das eigene Unternehmen auswirkte, waren bei jedem verantwortlichen Leiter in Oberkochen stets gefragt.

35 Köhler, S. 24. 36 Kühn, S. 121. 37 Ebd., S. 121 f. 14*

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Diese Situation begann sich im Jenaer Werk spätestens ab Mitte der sechziger Jahre merklich zu wandeln. Zwar existierte im wesentlichen die gleiche innerbetriebliche Struktur wie in Oberkochen, jedoch hatten über 10 Jahre Planwirtschaft schon erste Spuren hinterlassen. Die Spezifik des Betriebes ermöglichte bis in die erste Hälfte der sechziger Jahre vor allem dem wissenschaftlich-technischen Personal in seiner Tätigkeit noch zahlreiche Freiräume zur schöpferischen Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Diese Jahre werden noch heute von ehemals leitenden Mitarbeitern der Forschung und Entwicklung als "erfolgreichste und kreativste Zeitin der der "innovative Gedanke am ausgeprägtesten entwickelt war", charakterisiert. 38 Das Neue Ökonomische System - 1963 verkündet - hielt diesen Zustand mit seiner Forderung nach erhöhter Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit der Betriebe zunächst noch aufrecht. Ab Mitte der sechziger Jahre veränderte sich jedoch das Bild. Die genannten Freiheiten wurden schrittweise zurückgenommen und durch eine Ausweitung der Planvorgaben, stärkeren Bürokratismus und Bevormundung ersetzt. Der Prozeß war ein fließender und hatte für Carl Zeiss Jena gesellschaftliche wie innerbetriebliche Ursachen. Gesamtgesellschaftlich setzte das 11. SED-Plenum vom Dezember 1965 mit seinen verordneten Einschränkungen der Handlungsspielräume in Kultur, Politik und Wirtschaft eine entscheidende Zäsur. Die strikte Gängelei und Kontrolle aller gesellschaftlichen Bereiche trat wieder in den Vordergrund und wurde perfektioniert. Damit erhielt ein Teil der leitenden Mitarbeiter bei Zeiss, die bis in die fünfziger Jahre hinein zwangsverpflichtet in der Sowjetunion arbeiteten, stärkere Rückendeckung bei der Durchsetzung eines Leitungs- und Verwaltungsstils, der vornehmlich durch Administrieren und Dirigieren bei gleichzeitiger Beschneidung der Selbständigkeit der Untergebenen gekennzeichnet war. Wenn zweifellos solche Leitungsmethoden für die fünfziger Jahre in der Sowjetunion durchaus angebracht gewesen sein mögen, so mußten sie die Selbständigkeit gewohnten ingenieurtechnischen und wissenschaftlichen Belegschaftsangehörigen mehr und mehr brüskieren. Allmählich wurde ein auf gegenseitigem Vertrauen, auf Verantwortungsfreude, Selbständigkeit und Sachkunde beruhendes Arbeitsklima demontiert und durch Gängelei, Bevormundung und Bürokratismus ersetzt. In der Folge dieser sich fließend vollziehenden Wandlung wurden Begabung und Fähigkeiten immer mehr eingeengt, Sachkunde durch Scheinideologie ersetzt, begrüßenswerte Experimente verstärkt der Willkür einzelner Leiter ausgesetzt, was letztendlich zu einem drastischen Rückgang von Entscheidungsfreudigkeit und Eigeninitiativen führte und ein Betriebsklima schuf, in dem innovatives Gedankengut nur schwer gedeihen konnte.39 Dazu kam am 1. Januar 1965 die Kombinatsbildung, in deren Folge auch der Bürokratie- und Verwaltungsapparat anwuchs. In diese Zeit fiel auch der Wechsel 38 Vgl. Dr. Falta/Dr. Guynot/Prof. Pohlack, Tonbandprotokoll einer Diskussion zur Entwicklung des Jenenser Zeiss-Unternehmens in den sechziger Jahren, Jena, d. 28. 5. 1993. 39 Vgl. ebda. (Prof. Pohlack).

Integration der Elektronik in den wissenschaftlichen Gerätebau

213

des Generaldirektors im Jenaer Zeiss-Kombinat. Professor Hugo Schrade, besonders von der Partei-Bürokratie nach 1945 stets als letzter Repräsentant der alten Konzern-Leitung argwöhnisch betrachtet, wurde kurz nach Erreichen seines 65. Lebensjahres im August 1966 in den Ruhestand geschickt. An seine Stelle rückte sein 1. Stellvertreter, Ernst Gallerach, ein „Kader sozialistischen Typs", dessen Leitungsstil sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mehr und mehr durch Anweisen und Administrieren gegenüber der Belegschaft sowie Versuche abzeichnete, mittels ständigem Dokumentieren ideologischer Zuverlässigkeit die Obrigkeit in Partei und Staat gegenüber der eigenen Person wohlgesonnen zu halten. Zweifellos ging mit einem solchen Wechsel ein weiteres Stück Engagement und schöpferischer Initiative in der Belegschaft verloren. Dies um so mehr, als in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unter Gallerachs Regie der massiven Einflußnahme von SED- und staatlichen Stellen auf den wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Werdegang des Betriebs Tür und Tor geöffnet wurde. Wissenschaftlich-technische wie produktionsbedingte Entscheidungen wurden in zunehmendem Maße von Arbeitsgruppen staatlicher oder SED-Dienststellen getroffen, die auch die praktische Durchführung kontrollierten. Die Handlungsfreiheiten der leitenden Mitarbeiter beschränkten sich im wesentlichen auf das Ausführen von Weisungen. Eigene Entscheidungen waren kaum noch gefragt und bedurften in jedem Falle der Abstimmung mit dem jeweiligen Vorgesetzten. Zweifellos bildete eine solche Wandlung den Hintergrund für die bereits beschriebene abwartende und distanzierte Haltung zu Innovationsfragen. Während in Oberkochen das Agieren der Zeiss-Mitarbeiter nach wie vor gefordert wurde, stand in Jena immer mehr das Reagieren auf der Tagesordnung. Die massive Einmischung des Staates in den Werdegang des Jenenser Zeiss-Werks erlangte ihren traurigen Höhepunkt mit dem Ministerratsbeschluß vom 28. August 1968.40 Er führte Carl Zeiss Jena von seiner eigentlichen Zweckbestimmung, der Fertigung spezieller wissenschaftlicher Präzisionsgeräte, weg und degradierte den Betrieb zum Massen-Zulieferer von Automatisierungsmitteln für die DDR-Volkswirtschaft. Im Ergebnis dieses „Kurswechsels" konnten bis zum Ende der sechziger Jahre beschlossene Pläne nicht mehr erfüllt werden, was zur Folge hatte, daß Carl Zeiss Jena zum ersten Mal in seiner Geschichte im August 1970 zahlungsunfähig war und nur durch einen Sonderkredit aus dem Staatshaushalt diese kritische Situation überwinden konnte.41

40

Beschluß des Ministerrats vom 28. 8. 1968 zur „Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena zum Zentrum der Forschung und Produktion für die Rationalisierungs- und Automatisierungstechnik der DDR auf der Grundlage der Entwicklung und Produktion von Gerätesystemen der wissenschaftlichen Gerätebaus", BACZ (ohne Signatur). Geschäftsbericht für das Jahr 1970, BACZ (ohne Signatur).

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Roland Kowalski

Literatur Büttner, S., Zur Wettbewerbssituation in der feinmechanischen und optischen Industrie, Bayreuth 1993. Köhler, H., 30 Jahre Forschung und Entwicklung im Zeiss Werk Oberkochen, Oberkochen 1983. Kühn, G., Abhandlungen und Vorträge aus den Jahren 1958 bis 1966, hg. von den Optischen Werken Carl Zeiss in Oberkochen, Oberkochen 1967. Mühlfriedel,

W. / Wießner, K., Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin 1989.

Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln: Die Innovationsaktivitäten der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer A G (Würzburg) und V E B Planeta (Radebeul) in den sechziger Jahren Von Susanne Franke und Rainer Klump*

„Im Laufe der Untersuchung war es des öfteren notwendig, den Menschen und seine Handlungen nicht nur aus seiner momentanen Lage, sondern vor allem aus dem zu erklären, was zeitlich vorausgegangen war. Mit diesem Rückgriff auf die Vergangenheit wird eine sehr wesentliche Seite des Menschen erfaßt, nämlich die seiner Zeitbezogenheit." 1

A. Einleitung Die Druckmaschinenbranche ist einer der ältesten und international erfolgreichsten Zweige der deutschen Industrie. 2 Als Friedrich Koenig 1812 die erste funktionstüchtige Zylinderdruckpresse (Schnellpresse) entwickelte, machte er damit den Weg frei für die Mechanisierung des Buch- und Zeitungsdrucks. 1817 gründete Friedrich Koenig dann zusammen mit Andreas Bauer das weltweit erste Unternehmen des Druckmaschinenbaus, die Schnellpressenfabrik Koenig & Bauer in Oberzell bei Würzburg. I m Laufe des 19. Jahrhunderts wurden dann weitere Druckmaschinenfabriken in Deutschland gegründet, wobei sich mehrere regionale Schwerpunkte der Produktion bildeten: der Rhein-Main-Neckarraum, Schwaben und Sachsen.3 Von Beginn an nahmen die deutschen Hersteller von Druckmaschinen * Die Verfasser bedanken sich bei Heinrich Großbauer, Andreas Klaeger und Karl-Heinz Mayer (Koenig & Bauer AG), Helmut Schöne (ehemals VEB Planeta), Klaus Schanze (KBA-Planeta), Hans-Jürgen Tappert und Klaus Goerner (beide Sächsisches Institut für Druckindustrie, Leipzig), Rudolf Ruder und Dieter Raussendorff (TU Chemnitz-Zwickau), sowie Klaus E. Lickteig (VDMA, Fachgemeinschaft Druck- und Papiertechnik) für Anregungen, Informationen und Kritik. Alle Unzulänglichkeiten gehen selbstverständlich zu Lasten der Verfasser. ι Heuß, E., Allgemeine Markttheorie, Tübingen/Zürich 1965, S. 212. Vgl. Porter, M. E., Nationale Wettbewerbsvorteile, München 1991, S. 203 f. Nach Porter lag 1985 der westdeutsche Anteil an den Weltexporten von Druckmaschinen bei 50,2% und an der weltweiten Gesamtproduktion bei 35%. 3 Die auffällige regionale Konzentration der Konkurrenten ergab sich zum einen aus engen personellen Verbindungen zum Pionierunternehmen in Oberzell, sie resultierte aber auch aus 2

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Susanne Franke und Rainer Klump

eine dominierende Stellung auf dem Weltmarkt ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten die westdeutschen Hersteller relativ rasch wieder an diese Tradition anknüpfen und bis heute die Spitzenpositionen im Druckmaschinenbau behaupten.4 Aber auch in Ostdeutschland blieb die Branche, die zunächst in der VVB Polygraph und ab 1970 im Kombinat Polygraph zusammengefaßt war, international erfolgreich, zumindest bis in die siebziger Jahre hinein. Verantwortlich für den großen internationalen Erfolg des DDR-Druckmaschinenbaus, der sich deutlich von anderen Teilen des ostdeutschen Maschinenbaus abhob, war in erster Linie der VEB Druckmaschinenfabrik Planeta in Radebeul bei Dresden. Bereits vor der Teilung Deutschlands war die Planeta AG, die 1925 aus der Fusion der Dresdner und der Leipziger Schnellpressenfabrik hervorgegangen war, einer der bedeutendsten deutschen Druckmaschinenhersteller. Nach der Teilung zählten die Druckmaschinen des VEB Planeta zu den wenigen Markenartikeln der DDR-Wirtschaft auf den westlichen Märkten. 5 Nach der Wiedervereinigung wurde Planeta von Koenig & Bauer übernommen und ist damit heute Teil der Unternehmensgruppe Koenig & Bauer-Albert. Im folgenden Beitrag werden die Innovationsaktivitäten der beiden Druckmaschinenproduzenten Koenig & Bauer AG in Würzburg und VEB Planeta in Radebeul während der sechziger Jahre analysiert und verglichen. Die Konzentration auf die sechziger Jahre erfolgt aus gesamtwirtschaftlichen, wie branchen- und unternehmensspezifischen Gründen. In dieser Zeit, in der mit dem Bau der Mauer die Existenz zweier unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme auf deutschem Boden zementiert wird, ist in der ost- und westdeutschen Druckmaschinenbranche der Wiederaufbau beendet. Gleichzeitig zeichnet sich in der Druckmaschinenbranche mit dem Siegeszug der Offsettechnik, der durch veränderte Nachfragewünsche, Neuentwicklungen in der Druckvorstufe und wachsende ausländische Konkurrenz ausgelöst wird, eine dramatische Wende in den Schwerpunkten zukünftiger Produktentwicklung ab. In beiden betrachteten Unternehmen kommt es daher in den sechziger Jahren zu bedeutenden Innovationen im Bereich der Offsettechnik, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der Anbieter (im Falle des DDR-Beder räumlichen Nähe zu verwandten vor- und nachgelagerten Industriezweigen, so ζ. B. zum Textil- und Dampfmaschinenbau, zur Papierherstellung und natürlich zu den großen Druckereien. 4

Vgl. Rüßmann, Κ. H., Die großen Drei. Noch dominieren die deutschen Druckmaschinenmärkte, in: Manager-Magazin 8/1993, S. 60. Der Weltmarktführer ist die Heidelberger Druckmaschinen AG, an zweiter Stelle folgt die MAN Roland Druckmaschinen AG (Augsburg/Offenbach) und an dritter Stelle die Unternehmensgruppe Koenig & Bauer-Albert (KBA). Indikator für diese Spitzenstellung ist auch die Tatsache, daß die internationale Leitmesse der Branche, die DRUPA, 1951 erstmals mit großem Erfolg in Düsseldorf veranstaltet, bis heute in Deutschland stattfindet; vgl. Seisser, R., DRUPA - Internationale Fachmesse Druck und Papier Düsseldorf 1950-1990. Dokumentation über die Geschichte der DRUPA, Frankfurt a.M. 1991, insbesondere S. 20ff und S. 35 ff. 5 Vgl. den bezeichnenden Titel des Artikels von Biskupek, T., „Von der DDR nichts gewußt, aber Planeta gekannt", in: Die Wirtschaft (Hg.), Kombinate - was aus ihnen geworden ist, Berlin 1993, S. 331 ff.

Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln

217

triebs v.a. in Form hoher Exporte in das nicht-sozialistische Ausland) in der Folgezeit gesichert werden kann. Vor diesem Hintergrund eröffnen sich aus historischem und aus ökonomischem Blickwinkel interessante Vergleichsperspektiven. Die historisch orientierte Analyse untersucht die unterschiedlichen Ausgangssituationen der beiden Unternehmen bei der Anpassung an die allgemeinen Entwicklungstrends in der Druckindustrie; die ökonomisch orientierte Analyse macht Aussagen über den Einfluß der verschiedenen Wirtschaftssysteme auf diese Anpassungsreaktion in Form von innovativem Verhalten. Am Beginn des Beitrags steht eine Präzisierung des Innovationsbegriffs, sowie eine Analyse von Determinanten und Wirkungen von Innovationen unter besonderer Berücksichtigung wirtschaftssystemspezifischer Einflüsse und des Aspektes (internationaler) Wettbewerbsfähigkeit. Daran anschließend wird ein kurzer Überblick über den allgemeinen technologischen Entwicklungstrend in der Druckmaschinenbranche während der sechziger Jahre gegeben. Die Analyse der Innovationsaktivitäten bei der Koenig & Bauer AG und beim VEB Planeta aus historischer und aus ökonomischer Perspektive bildet schließlich den Hauptteil der Untersuchung. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ihrer Bedeutung über die beiden Unternehmen hinaus beschließt den Beitrag.

B. Eingrenzung der Untersuchungsperspektive: Innovationen, Wirtschaftssystem und Wettbewerbsfähigkeit I. Präzisierung des Innovationsbegriffs In der Literatur wird zur Bestimmung des Innovationsbegriffs generell die klassische Definition des Nationalökonomen und Soziologen Joseph A. Schumpeter als Grundlage verwendet. Schumpeter definiert Innovationen als „the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way" 6 . Da diese Definition sehr breit ist und alle Dimensionen einer Neuerung umfaßt, ist der Innovationsbegrifi; sowohl bereits von Schumpeter selbst, als auch in seiner Nachfolge präzisiert worden. Für eine Systematisierung des Begriffes gibt es, aufgrund der Vielschichtigkeit der Innovationen, zahlreiche Möglichkeiten. Abbildung 1 zeigt diejenigen Möglichkeiten zur Differenzierung, die für das hiesige Untersuchungsziel von Bedeutung sind. Betrachtet man Innovationen als Prozesse, trägt man dem Tatbestand Rechnung, daß Innovationen eine zeitliche Dimension haben. Der Neuerungsprozess umfaßt mehrere Phasen. Eine grobe Einteilung beinhaltet folgende zeitliche Abschnitte: die frühe Phase der Invention, in der das neue Wissen entsteht, die Phase der Umsetzung des neuen Wissens in die Produktion, die hier als Innovation im engeren 6

Vgl. Schumpeter, J. Α., The Creative Response in Economic History, in: Journal of Economic History, Vol. VII, Nov. 1947, S. 151.

218

Susanne Franke und Rainer Klump INNOVATIONEN

Phasen

Invention

Innovation i.e.S.

Objekte

Imitation/ Diffusion

technische I

Produkte

nicht-technische

Basisinnovation

Folgeinnovation

^jmonsverfahren

Abbildung 1 : Möglichkeiten zur Systematisierung des Innovationsbegriffs 7

Sinne verstanden wird, und die Diffusions- und Imitationsphase, in der die Innovation sich in der Volkswirtschaft ausbreitet und von anderen imitiert wird. Während der späten Phase verhalten sich die Imitatoren in dem Sinne innovativ, als sie dieNeuerungen in der Regel an die eigenen Produktions- und Marktbedingungen anpassen.8 Diese Begriffspräzisierung ist gerade für den Vergleich von Innovationsverhalten in markt- und planwirtschaftlichen Systemen relevant, da in der deutschdeutschen systemvergleichenden Forschung häufig die These aufgestellt wird, daß die DDR-Betriebe vorwiegend in Form von Imitationen innovativ gewesen sind.9 Eine andere Systematisierung kann anhand der Objekte, die Gegenstand einer Neuerung sind, erfolgen. 10 Die Innovationsobjekte lassen sich dann noch weiter differenzieren in technische und nicht-technische Neuerungsgegenstände. Im Mittelpunkt der Innovationsforschung stehen die beiden technischen Objekte Produkte und Produktionsverfahren. Auch bei den hier zu untersuchenden Innovationsarten der Koenig & Bauer AG und des VEB Planeta handelt es sich ausschließlich um technische Neuerungen. Grundsätzlich kann ein Unternehmen aber auch Innovationen im nicht-technischen Bereich aufweisen, ζ. B. durch besondere Formen der Unternehmensorganisation. 11 7 Vgl. dazu auch Ewers, H.J./Brenck, Α., Innovationsorientierte Regionalpolitik - Zwischenfazit eines Forschungsprogramm, in: Birg, H.,/Schalk, H.J. (Hg.), Regionale und Sektrole Strukturpolitik, Münster 1992, S. 311. 8 Vgl. ζ. B. ebd., S. 310f und Wieandt, Α., Die Entstehung, Entwicklung und Zerstörung von Märkten durch Innovation, Stuttgart 1994, S. 2 f. 9 Vgl. Schwarz, R., Über Innovationspoteniale und Innovationshemmnisse in der DDRWirtschaft, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Forschungsschwerpunkt Marktprozeß- und Unternehmensentwicklung, Discussion Paper, Berlin 1991, S. 1 f. 10 Vgl. Ewers/Brenck, S. 311. 11 Die Unterscheidung in technische und nicht-technische Neuerungen hat bereits, wenn auch nicht explizit, Schumpeter vorgenommen. Er nennt fünf Fälle von neuen Kombinationen: „1. Herstellung eines neuen ... Produktes oder einer neuen Produktqualität. 2. Einfüh-

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Weiterhin können Innovationen anhand ihrer Intensität klassifiziert werden. Aufbauend auf Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und deren Weiterentwicklung wird häufig zwischen Basis- und Folgeinnovationen unterschieden, wobei unter letzteren die Weiterentwicklungen auf bestehenden Gebieten, die durch Basisinnovationen etabliert worden sind, verstanden wird. 12 Folgeinnovationen bedeuten also so etwas wie die Perfektionierung einer grundlegenden Neuerung. Die intensiven Basisinnovationen haben gesamtwirtschaftliche oder branchenspezifische Wirkungen, die Auswirkungen von Folgeinnovationen dagegen beschränken sich in erster Linie auf die betriebliche Ebene. Im vorliegenden Beitrag steht die branchenspezifische Basisinnovation Offsetdrucktechnik im Vordergrund, die Folgeinnovationen auf Betriebsebene auslöste. In der DDR wurden Innovationen bis in die achtziger Jahre unter dem Begriff wissenschaftlich-technischer Fortschritt oder wissenschaftlich-technische Revolution subsumiert. 13 Als der Innovationsbegriff dann schließlich Eingang in die sozialistische Literatur gefunden hat, orientierte sich die Definition deutlich an der westlichen Begriffsbestimmung. So wird im Wörterbuch der Ökonomie beispielsweise zwischen den einzelnen Innovationsphasen unterschieden, Innovationen werden also auch hier als Prozesse aufgefaßt. 14 Ein anderer Definitionsansatz unterscheidet zwischen Basis- und Verbesserungsinnovationen. 15 Ferner spielten in der ostdeutschen Diskussion um technischen Fortschritt und Neuerungen die Begriffe Intensivierung und Veredelung, sowie Überleitung und Überführung eine wichtige Rolle. 16 Das erstgenannte Begriffspaar entspricht im marktwirtschaftlichen Sprachgebrauch in etwa den Verbesserungsinnovationen im Produktionsverfahren. Letzteres Begriffspaar umfaßt einzelne Phasen des Neuerungsprozesses: die Überleitung kann man inhaltlich ungefähr mit der Innovation im engeren Sinne und die Überführung mit der Phase der Diffusion gleichsetzen.

rung einer neuen ... Produktionsmethode ... 3. Erschließung eines neuen Absatzmarktes ... 4. Eroberung einer neuen Bezugsquelle von Rohstoffen oder Halbfabrikaten ... 5. Durchführung einer Neuorganisation [der Unternehmen S. F./R. K.] ..."; Schumpeter, J. Α., Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 7. Aufl., Berlin 1987, S. 100 f. 12 Mensch, G., Das technologische Patt, Frankfurt a.M. 1975, S. 55. Diese Unterscheidung wird in der Marktprozeßtheorie von Heuß wieder aufgegriffen; vgl. Heuß, 4. Kapitel. 13 Vgl. Erdmann, K., Innovationsbemühungen und zentrale Planung - Kernanliegen des Wirtschaftssystems der DDR, in: Die Wirtschaft der DDR unter Leistungsdruck und Innovationszwang, Teil II, 12. Symposium der Forschungsstelle für Gesamtdeutsche Wirtschaftliche Fragen am 20. und 21. November 1986, Bd. 1, Berlin 1986, S. 15. 14 Vgl. Wörterbuch der Ökonomie, Sozialismus, 5. Aufl., Berlin (Ost) 1983, S. 401/402. ι 5 Vgl. Lauterbach, G., Technischer Fortschritt und Innovation - Zum Innovationsverhalten von Betrieben und Kombinaten in der DDR, Erlangen 1982, S. 77. Lauterbach stützt sich dabei auf den namhaften DDR-Ökonomen H. Koziolek. 16 Vgl. Erdmann, S. 16 f. und Lauterbach, S. 78 f.

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II. Innovationen und Wirtschaftssystem Zu den zentralen Aussagen der (westlichen) wirtschaftssystemtheoretischen Analysen gehört die These, daß in kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systemen ein permanenter Anreiz für innovatives Handeln besteht, während ein sozialistisch-planwirtschaftliches System tendenziell innovationshemmend wirkt. Diese These trifft in gesamtwirtschaftlicher Sicht und im Durchschnitt aller Branchen sicher zu und wird durch die langfristige wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik und der DDR auch eindrucksvoll bestätigt. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß auf der Ebene einzelner Firmen auch systemuntypische Verhaltensweisen auftraten. Insofern zwingt gerade die Betrachtung einzelbetrieblicher Innovationsaktivitäten unter Umständen zu einer Modifikation der Standardthese. Nach der Theorie der Marktwirtschaft mit Privateigentum an den Produktionsmitteln sorgt die Abhängigkeit der Unternehmensgewinne von den Marktpreisen in Verbindung mit dem Wettbewerb, dem die Unternehmen ausgesetzt sind, für einen systemimmanenten Anreiz zu innovativem Verhalten. 17 Als Ziel marktwirtschaftlicher Unternehmer wird die Gewinnmaximierung unterstellt. Da der Gewinn sich aus der Differenz von Umsatzerlösen (= Absatzpreise χ abgesetzte Menge) und Produktionskosten (= Faktorpreise χ produzierte Menge) zusammensetzt, haben innovative Unternehmen zwei Möglichkeiten ihre Gewinne auszuweiten. Auf der Inputseite können Verfahrensinnovationen oder organisatorische Verbesserungen die Produktionskosten senken. Auf der Outputseite ermöglichen Produktinnovationen die Erschließung neuer Absatzmärkte und - bei entsprechender Nachfrage nach dem neuen Produkt - das Erzielen hoher Preise. 18 Durch das Privateigentum wird sichergestellt, daß die Kapitaleigner der Unternehmen sich die ihnen durch Innovationen entstandenen Gewinne aneignen und frei über sie verfügen können. Wettbewerbliche Märkte sorgen allerdings dafür, daß die Monopolstellung des innovierenden Unternehmens nur vorübergehend sein wird. Die Konkurrenten erkennnen, daß auf dem neuen Markt Gewinnchancen bestehen, und werden mit Produktvariationen und Imitationen versuchen, ebenfalls in den Markt einzusteigen. Unter der Voraussetzung eines funktionsfähigen Wettbewerbs, wirkt die zunehmende Konkurrenz mittel- bis längerfristig preissenkend und die Abschöpfung von Monopolrenten ist nicht mehr möglich. An dieser Stelle besteht für die Unternehmen erneut der Anreiz, sich durch eine Innovation temporäre Monopolgewinne zu sichern. Eine differenziertere Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Unternehmertätigkeit und Innovationsaktivität in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systemen stammt von Heuß. Er erweitert das Schumpetersche Unternehmermodell, indem er 17

Vgl. Klump, Wirtschaftssysteme, in: Stober, R. (Hg.), Lexikon des Rechts der Wirtschafts - Abteilung Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Neuwied 1992, S. 3; ders., Einführung in die Wirtschaftspolitik. Theoretische Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 2. Aufl. 1992, S. 48 ff. 18

Vgl. ders., Wirtschaftssysteme, S. 3.

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den bei Schumpeter unspezifizierten Nichtpionierunternehmer weiter differenziert. 19 So gelangt Heuß zu vier Unternehmertypen, die er in zwei Obergruppen zusammenfaßt (vgl. Abbildung 2) und die unterschiedliche Innovationsstrategien aufweisen.

initiativer Unternehmer (agiert)

Pionierunternehmer

spontan imitierender Unternehmer

konservativer Unternehmer (reagiert)

unter Druck reagierender Unternehmer

immobiler Unternehmer

Abbildung 2: Die vier Unternehmertypen nach Heuß 20

In die Kategorie der agierenden Unternehmer gehört neben dem Schumpeterschen Pionierunternehmer auch der spontan imitierende Unternehmer. Letzterer übernimmt spontan die vom Pionierunternehmer auf den Markt gebrachte Innovation, er reagiert demnach sehr flexibel und schnell auf die Neuerungen, ohne daß der Wettbewerbsdruck ihn dazu zwingen würde. Die beiden initiativen Unternehmertypen zeichnen sich durch hohe, die zwei konservativen dagegen durch geringe Risikobereitschaft aus. Der konservative Unternehmertypus agiert nicht, sondern reagiert, indem er sich an die geänderten Marktbedingungen anpaßt. Während der unter Druck reagierende Unternehmer erst handelt, wenn er erkennt, daß er auf die Entwicklungen reagieren muß, um nicht aus dem Markt auszuscheiden, reagiert der immobile Unternehmer entweder zu spät oder im Extremfall gar nicht auf Änderungen in der marktlichen Entwicklungsrichtung. „Es ergibt sich somit eine weite Unternehmerskala: Auf der einen Seite der Pionierunternehmer, der auf Änderung der Gegebenheiten und Schaffung von Neuem ausgeht, und auf der anderen Seite der Unternehmer, der mit allen Mitteln das Alte und Bisherige zu konservieren versucht. So bilden sie gleichsam zwei Elemente, die sich wie Feuer und Wasser zueinander verhalten .. .". 2 1 Es ist durchaus möglich, daß im Zeitablauf das gleiche Unternehmen unterschiedliche Strategien verfolgt und damit verschiedenen Unternehmertypen zuzurechnen ist. Ein Beispiel für eine solche Dynamik von Unternehmertypen gibt das Buddenbrook-Syndrom. In der langfristigen Entwicklung familiendominierter Unternehmen tritt immer wieder das Phänomen auf, daß die Erben und Nachfolger dynamischer Pionierunternehmer eine zunehmend geringere Risiko- und Innovati19 Vgl. Heuß, S. 9. Schumpeter definiert den Unternehmerbegriff funktional und nicht personal; auch angestellte Manager können sich als Pionierunternehmer betätigen; vgl. Schumpeter, Theorie, S. 111 f. 20 Vgl. Heuß, S. 10.

21 Ebda.

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onsbereitschaft zeigen. Als Erklärung für diese Entwicklung gilt die Hypothese vom abnehmenden Grenznutzen weiterer Vermögensakkumulation,22 der die Bedeutung des Gewinnmaximierungsmotivs als Triebfeder unternehmerischen Handelns reduziert. Ein anderes Beispiel stellen die Beharrungstendenzen dar, die durch die Existenz betriebsinternen Know-hows in bestimmten Technologien entstehen. Ein Pionierunternehmen, das über längere Zeit durch Innovationen eine bestimmte Technologie weiterentwickelt hat, kann sich gegenüber dem Aufkommen neuer Technologien konservativ verhalten, um damit sein erworbenes Know-how nicht zu entwerten. 23 Auch in wettbewerblichen Systemen sind also nicht immer alle Unternehmen innovativ, sondern es gibt stets auch konservativ agierende. Diese sind allerdings dem Risiko ausgesetzt, langfristig vom Markt zu verschwinden, sofern sie sich nicht den geänderten Marktbedingungen anpassen. In der kritischen Sicht des wirtschaftssystemtheoretischen Ansatzes zeichnet sich das sozialistisch-planwirtschaftliche System durch einen grundsätzlich innovationshemmenden Einfluß auf das betriebliche Neuerungsverhalten aus. Weil die einzelwirtschaftliche Ebene in einer hierarchischen Zentralverwaltungswirtschaft weder die Anreize hat, noch über die notwendigen Handlungsflexibilitäten verfügt, zeigt sie sich, wenn überhaupt, nur in Form von „kleinen" Neuerungen innovativ. Zu diesen „kleinen" Innovationen zählen die Imitationen, die Verfahrensinnovationen, organisatorische Verbesserungen und die Folgeinnovationen (vgl. Abbildung 1). Allerdings muß betont werden, daß diese Arten von Innovation für die Diffusion einer Neuerung in einer Branche oder Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Insofern ist das Werturteil der westlichen systemvergleichenden Forschung über die Mittelmäßigkeit sozialistischer Innovationen als Allgemeinurteil nicht legitim. Zur Begründung der These von der generellen Innovationsschwäche des sozialistischen Wirtschaftssystems wird auf das Auseinanderfallen zwischen einzelbetrieblich rationalen Entscheidungen und gesamtwirtschaftlich optimalen Ergebnissen verwiesen. Einerseits wurde im Sozialismus die wichtige Rolle der Betriebe und Kombinate für die Durchsetzung von Neuerungen betont, 24 andererseits wurden mit der hierarchischen ex-ante Planung des gesamten Wirtschaftsprozesses

22 Vgl. Klump, R., Kondratieff-Zyklen, Gibson-Paradoxon und klassischer Goldstandard, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 80, 1993, S. 313f und ders./ Männel, B., „Lange Wellen" der Unternehmenskonjunktur: Eine Untersuchung der langfristigen Umsatz- und Innovationszyklen der Druckmaschinenfabrik Koenig & Bauer in Würzburg (1817-1992), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 40, 1995, S. 5 und S. 7. 23

Vgl. zum Phänomen des „technological leapfrogging" die Überlegungen von Brezis, E. S./Krugman, P. R./Tsiddon, D., Leapfrogging in International Competition: A Theory of Cycles in National Technological Leadership, in: American Economic Review, Vol. 83, 1993, S. 1211-1219. 24 Gemäß dem sozialistischen Postulat der Interessenidentität von Staat, Gesellschaft und Individuen, tragen Betriebe als gemeinnützige Einheiten zum gesellschaftlich-ökonomischen Wachstum bei.

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und den damit verbundenen Handlungsanweisungen an die Betriebe negative Innovationsanreize gesetzt. Im Gegensatz zu einem marktwirtschaftlichen Unternehmer, dessen Erfolgsziel die Gewinnmaximierung ist, bestand das Erfolgsziel des sozialistischen Betriebleiters in der Erfüllung bzw. Übererfüllung der staatlichen Planvorgaben.25 Da dieses Ziel nur bei konservativem Unternehmerverhalten zu erreichen war, Innovationen aber immer etwas Neues bedeuten, bestand die Gefahr, durch innovatives Verhalten das Plansoll nicht zu erreichen und dadurch materielle Nachteile zu erleiden. 26 Das mit dem Prinzip der Planerfüllung gekoppelte Prämiensystem verstärkte diese Haltung noch zusätzlich, indem es die Erfüllung und Überfüllung der Pläne finanziell belohnte und die Nichterfüllung sanktionierte. Risikofreudiges Verhalten wurde in dem System demnach bestraft, risikoaverses Verhalten dagegen nicht sanktioniert bzw. sogar noch belohnt. Unter diesen Bedingungen hatten Betriebe, selbst unter der Annahme, daß sie die entsprechenden Entscheidungs- und Handlungsspielräume gehabt hätten, kaum Anreize, kostenaufwendige, risikoreiche Innovationen durchzuführen. Wenn überhaupt, wurden nur solche Neuerungen getätigt, die die Planerfüllung nicht gefährdeten. 27 Nach F. A. von Hayek beruhen die Innovationshemmnisse im Sozialismus vor allem darauf, daß das in einer Gesellschaft vorhandene Know-how nicht, bzw. nur bis zu einem gewissen Grad zentralisierbar ist. Demzufolge ist die Verwertung des gegebenen Wissens in einer zentralistischen Planwirtschaft im Vergleich zu einer dezentral geplanten Marktwirtschaft suboptimal. Hayek unterscheidet dabei zwei Arten von Wissen, das wissenschaftliche Know-how und die Kenntnisse der besonderen Umstände von Raum und Zeit. 28 In einer sozialistischen Planwirtschaft werden sämtliche, für die Planung notwendige, Informationen zentralisiert. Weil sich das Wissen und die Informationen über die besonderen Umstände von Raum und Zeit aber nicht zentralisieren lassen, treten schwere Informationsprobleme auf. Zu der Unmöglichkeit, diese Art von Wissen zu zentralisieren, bemerkt Hayek: „In dieser Hinsicht hat praktisch jedermann irgend einen Vorteil vor allen anderen Menschen, besitzt allein Kenntnisse, von denen er vorteilhaften Gebrauch machen könnte, vorausgesetzt, daß die daran hängenden Entscheidungen ihm überlassen oder mit seiner tätigen Mithilfe getroffen werden." 29 Da den Behörden bereits bei der Planausarbeitung relevante Informationen fehlen und sie sich darüber hinaus 25 Vgl. Leipold, H. Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich, Stuttgart 1988, S. 236. 26 Vgl. Lauterbach, S. 119. 27 Zusätzlich verstärkte noch der kurzfristige Planungshorizont von einem Jahr den innovationshemmenden Einfluß, da die Betriebe dadurch auf die Erfüllung ihrer jährlichen Planvorgaben fixiert waren. Innovationen benötigen aber in der Regel längere Planungs- und Entscheidungshorizonte.

28 Vgl. Hayek, F. A. v., Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft, in: ders. Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Aufl., Salzburg 1976, S. 106 f., und Lauterbach, S. 55 f. 29 Hayek, S. 107.

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an Datenänderungen, die während der Plandurchführung entstehen nicht bzw. nicht adäquat anpassen können, wird das vorhandene Wissen in zentralistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen nicht optimal verwertet. 30 Kritisch läßt sich gegen die wirtschaftssystemtheoretische Analyse der Innovationshemmnisse im Sozialismus einwenden, daß die Konzeptionen der Innovation, des Wissens und der Information zu pauschal verwendet werden. Differenziert man beispielsweise zwischen Basis- und Folgeinnovationen, ist auch unter den Bedingungen des sozialistischen Wirtschaftssystems nicht auszuschließen, daß in bekannten Technologiefeldern einzelne Betriebe innovative Weiterentwicklungen betreiben. Dagegen erscheint das Auftreten echter Basisinnovationen als extrem unwahrscheinlich.

I I I . Innovationen, Branchencluster und Wettbewerbsfähigkeit Durch M. E. Porter sind die Beziehungen zwischen betrieblichen Innovationsaktivitäten und Branchenentwicklungen im Zusammenhang mit dem Konzept des Wettbewerbsvorteils bzw. der Wettbewerbsfähigkeit besonders hervorgehoben worden. Innovationen schaffen in der Marktwirtschaft Wettbewerbsvorteile und tragen damit zur langfristigen Sicherung des Unternehmensbestandes bei. 31 Als Folge der Globalisierung von Handels- und Wettbewerbsbeziehungen gewinnt dabei der Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, also die Schaffung von Wettbewerbsvorteilen gegenüber dem Ausland, eine immer größere Bedeutung. Im Zentrum von Porters Ansatz stehen sogenannte Branchencluster, in denen verwandte und sich gegenseitig unterstützende Branchen zusammengefaßt sind, die untereinander enge horizontale und vertikale Beziehungen aufweisen. Aufgrund der engen Beziehungen innerhalb eines solchen Clusters können Innovationen, die in einer der beteiligten Branchen getätigt werden, besonders schnell auch in den verwandten Branchen aufgegriffen und damit zur weiteren Festigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Clusters verwendet werden. 32 Innovationen in einem Unternehmen tragen damit in der Regel immer auch zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in anderen Unternehmen der Branche bzw. des Branchenclusters bei. Interessanterweise hat Porter in seinen Fallstudien für die (westdeutsche Industrie gerade den Druckmaschinenbau als eine Branche identifiziert, die einem ausgesprochen innovativem Branchencluster angehört. 33 Die Breite der dem 30 Vgl. ebd., S. 113. 31 Vgl. auch Wieandt, S. 14. 32 Vgl. Porter, S. 124 f. und S. 172 ff. Weder und Grubel haben in Weiterentwickung der Ideen von Porter hervorgehoben, daß die Herausbildung innovativer Branchen-Cluster selber als eine institutionelle Innovation angesehen werden kann, die der Internalisierung positiver externer Effekte einzelbetrieblicher Innovationstätigkeit dient; vgl. Weder, R./Grubel, H. G., The New Growth Theory and Cosean Economics: Institutions to Capture Externalities, in: Wirtschaftliches Archiv, Bd. 129, Heft 3, 1993, S. 494 i.V.m. S. 497.

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Druckmaschinenbau verbundenen Branchen reicht von der Antriebs- und Steuerungstechnik über die Papierherstellung bis zur Chemie (der Druckfarben- und Druckplattenherstellung); sie umfaßt damit Branchen, die sich in der Vergangenheit durch hohe Innovationstätigkeit auszeichneten. Durch Absorption und Assimilation dieser Innovationen eröffnen sich den westdeutschen Druckmaschinenbauern wiederum besonders gute Möglichkeiten, ihre internationale Wettbewerbsvorteile zu sichern und auszubauen. Die Übertragung von Porters Ansatz auf die Analyse sozialistischer Länder und Betriebe führt zu einigen interessanten Hypothesen über die dort auftretenden Innovationsanreize und -Wirkungen. Immerhin waren die sozialistischen Länder im Handel mit dem nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebiet ebenfalls dem Wettbewerbsdruck des Welthandels unterworfen und konnten sich ihm, wegen ihrer chronischen Devisenknappheit, auch nicht entziehen. Das Fehlen von Marktbeziehungen mit unverfälschten Marktpreisen im Inland, die sozialistische Eigentumsstruktur und die Zentralisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen führten in den sozialistischen Volkswirtschaften dazu, daß die internationale Wettbewerbfähigkeit einzelner Betriebe oder Branchen nicht von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Volkswirtschaft getrennt werden konnte. 34 Das gesamtwirtschaftliche Ziel der Devisenbeschaffung bedingte eine Außenwirtschaftspolitik mit stark merkantilistischen Zügen. Sie setzte auf die Förderung der Exporte, sei es durch Innovationen, sei es durch massive Subventionierung der Exportpreise, wobei die letzte Strategie länger durchgehalten werden konnte als bei privatwirtschaftlich kalkulierenden westlichen Unternehmen. DDR-Betriebe, die als Exporteure auf den Weltmärkten auftraten, mußten sich angesichts intensiver Konkurrenz entweder durch eigene Innovationen den Entwicklungen der Konkurrenten anpassen oder sukzessive die Preise senken. Da betriebliche Exporterfolge in der Regel mit besonderen staatlichen Vergünstigungen verbunden waren, bestand bei außenhandelsorientierten Betrieben durchaus ein Anreiz zu innovativem Verhalten. Außerdem förderten die Außenhandelskontakte die internationalen Spill-over-Effekte von Innovationen. Dagegen wirkte sich das Fehlen dynamischer Branchencluster im Sozialismus extrem innovationshemmend aus. Zwar kann die Einrichtung von Betriebsvereinigungen und Branchen-Kombinaten als Versuch verstanden werden, die horizontalen und vertikalen Kontakte zwischen den einzelnen Betrieben zu verbessern. Allerdings fehlte den staatlich gelenkten Kombinaten gerade jene Dynamik, die die Cluster-Bildung in Marktwirtschaften auszeichnet, nämlich sich in Abhängigkeit von neu aufkommenden 33 Vgl. Porter, S. 203 ff. 34 Dagegen ist es sehr umstritten, inwieweit man in nicht-sozialistischen Ländern von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in Analogie zum betrieblichen Konzept der Wettbewerbsfähigkeit sprechen kann oder sollte; vgl. Krugman, P., Competitiveness: A Dangerous Obsession, in: Foreign Affairs, Vol 73, No.2, 1994, insbesondere S. 41 ff. und Berthold, Ν. Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft - Gefahr in Verzug?, Wirtschaftspolitische Kolloquien der Adolf-Weber-Stiftung, 19, Berlin 1992, S. 9 f. 15 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Innovationen immer wieder neu zu strukturieren und flexibel umzugestalten. Die fehlende Anpassungsflexibilität auf der Ebene der verwandten und benachbarten Branchen erklärt langfristig den deutlichen Vorrang der Preisunterbietungs- vor der Innovationsstrategie im Auslandswettbewerb der sozialistischen Länder. Sie verdeutlicht auch, warum Innovationen in einzelnen Betrieben in der Regel nicht die Wettbewerbsfähigkeit der ganzen Branche verbessern konnten.

C. Eingrenzung des Untersuchungszeitraums: Die Bedeutung der sechziger Jahre für die Druckindustrie Seit mit der Erfindung der Schnellpresse durch Friedrich Koenig die industrielle Produktion von Druckmaschinen eingeleitet wurde, findet ein ständiger Prozeß technischer Neu- und Weiterentwicklungen statt. Entwicklungsschübe oder Änderungen in der drucktechnischen Entwicklung innerhalb der Branche sind auf besonders herausragende Neuerungen zurückzuführen. Solch branchenspezifische Basisinnovationen bestimmten - und bestimmen - die Richtung der langfristigen Entwicklung eines Industriezweiges und seiner Unternehmen. In den sechziger Jahren hat im polygrafischen Maschinenbau weltweit ein drucktechnischer Wandel stattgefunden, der auf einer schon länger zurückliegenden Basisinnovation aufbaute: Der lange Zeit dominierende Hochdruck, ein mechanisches Druckverfahren, wurde zunehmend vom Offsetdruck, einem chemischen Druckverfahren verdrängt (vgl. Abbildung 3). 35 Der Siegeszug der Offsettechnik in Deutschland, der nicht von den Druckmaschinenherstellern selber eingeleitet, sondern von den Nachfragern, von Entwicklungen im Bereich der Druckvorstufe und von der ausländischen Konkurrenz, insbesondere Anbietern aus den USA, angestoßen wurde, betraf sowohl die Bogen-, als auch die Rollendruckmaschinen. 36 Dagegen ist der Tiefdruck, der ähnlich wie der Offsetdruck kurz nach der Jahrhundertwende entwickelt wurde, für den traditionellen Hochdruck nie eine ernsthafte Konkurrenz gewesen (vgl. Abbildung 3).

35 Im Druckmaschinenbau unterscheidet man drei Hauptdruckverfahren: den Hoch-, Tiefund Flachdruck. Während beim Hochdruck die Druckelemente höher als der Bedruckstoff liegen („Bürostempelprinzip"), ist es beim Tiefdruck genau umgekehrt. Beim Flachdruck liegen die druckenden Elemente und Bedruckstoff auf einer Ebene. Innerhalb des Flachdrucks ist der Offsetdruck, der indirekte Flachdruck, das bedeutendste Verfahren; vgl. Maier, H., Offsetdrucktechnik, 7. Aufl., Fellbach 1990, S. 46 und S. 325. 36 Neben der Unterscheidung nach Druckverfahren, klassifiziert der Druckmaschinenbau zwei Arten von Maschinen, Bogen- und Rollenmaschinen. Bogenmaschinen bedrucken einzelne Bogen, bei Rollenmaschinen wird der Bedruckstoff dem Druckprozeß von Rollen zugeführt. Das Haupteinsatzgebiet der großen Rollenmaschinen ist der Zeitungsdruck; vgl. ebd., S. 47.

Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln

— Hochdruck

~

Flachdruck

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Tiefdruck

Abbildung 3: Die Anteile der Hauptdruckverfahren am Gesamtwert der Druckproduktion in der Bundesrepublik in Prozent (1960-1989)37

Der Offsetdruck für das Bedrucken von Papier hat seine Ursprünge in den USA. Die Vorläufer waren Maschinen für den Blechdruck, für die der indirekte Rachdruck um 1870 erstmals entwickelt und angewendet wurde. 38 Kurz nach der Jahrhundertwende entwickelten der Amerikaner I.W. Rubel und der in New York lebende Böhme C. Hermann unabhängig voneinander fast zeitgleich funktionsfähige Offsetdruckmaschinen für das Bedrucken von Papier. 39 Die George Mann & Co. im englischen Leeds wurde zum ersten europäischen Offsetmaschinenhersteller. Die Dresdner-Leipziger Schnellpressenfabrik - die spätere Planeta AG - und Faber & Schleicher 40 in Offenbach gehören im Bereich der Bogenmaschinen zu den deutschen Offsetpionieren, die Vogtländische Maschinenfabrik AG (Vomag) in Plauen41 ist der deutsche Pionier im Rollenoffsetmaschinenbau. 42 37 Die Zahlen stammen vom VDMA, Abteilung Druck- und Papiertechnik. Innerhalb des Flachdrucks ist der Offsetdruck, der indirekte Flachdruck, das mit Abstand wichtigste Verfahren; vgl. Fußnote 35. 38 Vgl. Fuchs, B. Die Renaissance des Rollenoffsetdrucks im Nachkriegs-Deutschland aus der Sicht eines Maschinenkonstrukteurs, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, Bd. 2, Leipzig 1992, S. 227. 39 Vgl. Teichmann, H.-J., 100 Jahre Deutscher Drucker, in Deutscher Drucker, Nr. 44, 24. 11. 1994, S. 13. 40 1957 wurde die Firma umbenannt in Roland Offsetmaschinenfabrik. 1979 ist Roland von der MAN Augsburg übernommen worden und gehört seitdem zum Teilkonzern MAN Roland.

1

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Bevor aber der Offsetdruck für den Hochdruck zu einer ernsthaften Konkurrenz auf dem Druckmaschinenmarkt werden sollte, vergingen noch mehrere Jahrzehnte. Die Offsetmaschinen konnten sich zwar schnell einen gewissen Marktanteil sichern, und es spezialisierten sich bereits mehrere Unternehmen auf diese Maschinenart, aber erst als man in den sechziger Jahren dazu überging, den Fotosatz in der Druckvorstufe einzusetzen, begann das Offsetverfahren sich als das zukünftige Druckverfahren herauszukristallisieren. 43 Zu jener Zeit war eine wachsende Nachfrage nach mehrfarbigen Druckerzeugnissen, v.a. im Bereich der Zeitungen und Zeitschriften, zu beobachten. Mit der Anwendung der Fotosatztechnik konnten im Mehrfarbendruck deutlich bessere Druckergebnisse erzielt werden. Ab diesem Zeitpunkt wurde für den Buch- und Zeitungsdruck das Offsetverfahren eine echte Alternative zum Hochdruck. 44 Inzwischen hat der Offsetdruck in Deutschland einen Marktanteil von 65,1% und damit den Hochdruck mit 19,3% Markanteil am Gesamtwert der Druckproduktion als das bedeutenste Druckverfahren abgelöst.45 Nach dem Ende der Wiederaufbauphase bedeutete der Aufstieg der Offsettechnik die erste neue technologisch-innovative Herausforderung für die einzelnen Anbieter in der west- und ostdeutschen Druckmaschinenbranche. 46 Etwa zur gleichen Zeit wurde mit dem Mauerbau die Teilung Deutschlands und damit die Koexistenz zweier Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme auf deutschem Boden zementiert. Sie ist verbunden mit einer intensiveren Integration der beiden deutschen Staaten 41

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist aus der Vömag der VEB Piamag (Plauener Maschinenfabrik) hervorgegangen. 1991 wurde der Betrieb von MAN Roland übernommen. 42 Vgl. Wolf, H.-J., Geschichte der Druckverfahren, Elchingen 1992, S. 470ff und Fuchs, S. 229 f. 43 In diesem Zusammenhang ist die „stiefmütterliche" Behandlung des Offsetdrucks auf den DRUPA-Messen in den fünfziger Jahren interessant. Der damalige DRUPA-Präsident und Generaldirektor der Heidelberger Druckmaschinen AG Hubert H.A. Sternberg wandte sich in Messekatalogen und -prospekten nur an die Buch (=Hoch)drucker; vgl. Seisser, S. 68 f. 1958 bemerkte Sternberg zu einer Vorlage eines im Offsetverfahren hergestellten Besucherprospektes: „Das Farbbild, das die Besucher auf der Rheinterrasse am Rhein darstellen soll, ist eine farbige undeutliche schmutzige Schmiererei, aber kein Farbdruck. Der sogenannte Plan des Ausstellungsgeländes i s t . . . so fürchterlich, daß man sich schämen muß, Präsident einer Ausstellung zu sein, die für ihre Besucherwerbung so hanebüchene Druckerzeugnisse verschickt."; ebd., S. 69. Als sich allerdings der Siegeszug der Offsettechnik abzuzeichnen beginnt, reagiert Sternberg mit der Heidelberger Druckmaschinen AG spontan auf diese Marktentwicklung. 44 Allerdings muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß mit dem Flexodruck auch der Hochdruck nach dem Zweiten Weltkrieg eine Weiterentwicklung erfahren hat. Mit dem neuartigen Flexodruck konnte die sinkende Bedeutung des Hochdrucks als Druckverfahren gebremst werden; vgl. Kebschull, C., Analyse der Entwicklungstendenzen in der Druckindustrie, Radebeul 1991, S. 4 ff. und S. 14 ff. (Firmenarchiv Planeta, ohne Signatur). 45 Die Zahlen stammen von VDMA, Stand 1993. Auf dem gesamten europäischen Markt und in den USA hat der Offsetdruck jeweils einen Marktanteil von rund 45% und der Hochdruck etwa 25% (Stand: 1991); vgl. Kebschull, S. 4. 46 Die andere bedeutende Weiterentwicklung im Industriezweig während der Zeit der Teilung war mit dem Aufkommen der Mikroelektronik Ende der siebziger Jahre verbunden.

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in unterschiedliche internationale Bündnisse, die Einbindung der BRD in die EWG und der DDR in den RGW. Vor dem Hintergrund der technologischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen sollen nun die Anpassungsreaktionen der beiden ausgewählten Unternehmen analysiert werden.

D. Analyse und Vergleich der Innovationsaktivitäten bei Koenig & Bauer und Planeta I. Langfristige technologische Entwicklungstrends der beiden Unternehmen Bei einem Vergleich der Innovationstätigkeiten bei der Koenig & Bauer AG und beim VEB Planeta ist zu berücksichtigen, daß beide Unternehmen nicht nur in einem unterschiedlichen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Umfeld agierten, sondern auch ganz verschiedene Ausgangsbedingungen für die Anpassung an die weltweite drucktechnische Änderung in den sechziger Jahre aufwiesen. Während bis zu diesem Zeitpunkt beide Druckmaschinenproduzenten sehr unterschiedliche Innovationsfelder besaßen, löste die zunehmende Verdrängung des Hochdrucks durch den Offsetdruck eine innovativ-technologische Annäherung der beiden Unternehmen aus. Dabei betrat der hochdruckorientierte westdeutsche Hersteller technologisches Neuland. Der ostdeutsche Anbieter dagegen konnte, aufbauend auf langjährige Erfahrungen in der Offsettechnik, seine Innovationsanstrengungen spezialisieren. Bei der ältesten Druckmaschinenfabrik der Welt, Koenig & Bauer, wurden bis in die sechziger Jahre keine Offsetmaschinen entwickelt oder produziert. Das Unternehmen war traditionell auf ein umfangreiches Angebot v.a. an Hoch-, aber auch Tiefdruckmaschinen spezialisiert. In den zwanziger Jahren hatten Koenig & Bauer sogar durch ein Abkommen mit dem traditionellen Offsetproduzenten Faber & Schleicher den Bau von Offsetmaschinen vollständig aufgegeben. Das Abkommen sah vor, daß Koenig & Bauer zukünftig auf die Entwicklung und Produktion von Offsetmaschinen und Faber & Schleicher im Gegenzug dazu auf die Produktion von Buchdruckmaschinen im Hochdruck verzichten. 47 Zu jener Zeit war die Entwicklung des Offsetdrucks noch in den Anfängen, während der Hochdruck mit Abstand das am meisten angewandte Verfahren im Druckmaschinenbau war. Mehr als 40 Jahre später wurde diese Entscheidung unter dem Eindruck der völlig veränderten Marktentwicklung revidiert. Seit 1965 konzentrierte die Koenig & Bauer AG ihre Innovationsanstrengungen auf die Offsetmaschinen. Auf der Internationalen 47 Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Abkommen um eine mündliche Absprache, denn einen schriftlichen Vertrag gibt es in den Betriebsarchiven nicht (mehr). Jedoch finden sich in den Geschäftsberichten Hinweise über diese Übereinkunft; vgl. ζ. B. Geschäftsbericht Koenig & Bauer 1922, S. 1, Wolf, S. 475, sowie Klump/Männel, S. 32 f, insbesondere Fußnote 122.

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Fachmesse Druck und Papier (DRUPA) in Düsseldorf, der international bedeutendsten Messe für Druck- und Papiertechnik, stellte das Unternehmen 1967 seine erste Bogenoffsetmaschine vor. Parallel dazu begann man in Würzburg mit der Entwicklung der ersten Rollenoffsetmaschine für den Zeitungsdruck. Seit Anfang der siebziger Jahre lag der Entwicklungs- und Produktionsschwerpunkt bei Koenig & Bauer im Offsetbereich (vgl. Abbildung 4). Hier hat der branchenweite Technologieumschwung auf Unternehmensebene einen technologischen Pfadwechsel bewirkt.

1948

1950

1952

1954

1956

1958

1960

1962

— Hochdruck

1964

1966

- Tiefdruck

1968

1970

1972

1974

1976

1978

1980

Offsetdruck

Abbildung 4: Die Entwicklung der Maschinenauslieferungen bei Koenig & Bauer zwischen 1948 und 1981, differenziert nach Druckverfahren 48

Der sächsische Druckmaschinenhersteller gehörte dagegen zu den deutschen Pionierunternehmen im Bogenoffsetdruck. Anfang der zwanziger Jahre, also zur gleichen Zeit, als Koenig & Bauer sich aus der Produktion von Offsetmaschinen verabschiedeten, entschloß man sich bei der Dresdner Schnellpressenfabrik AG, im Zuge der Zusammenarbeit mit der Leipziger Schnellpressenfabrik, die Offsetmaschinen in das Produktionsprogramm aufzunehmen. Zunächst baute man in Dresden die Offsetpressen nach Lizenzen der englischen Firma George Mann, aber bereits 1923 wird die erste eigene Neuentwicklung im Offsetbereich auf den Markt 48

Seit 1988 ist der Bau von Bogentiefdruckmaschinen wieder aufgenommen worden.

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gebracht. 1925 fusionierten die Dresdner und die Leipziger Schnellpressenfabrik und stiegen mit ihren Maschinen schnell zum deutschen Marktführer im Offsetbereich auf. 49 Rund 60% der zu jener Zeit in Deutschland gebauten Offsetmaschinen kamen aus der Dresdner-Leipziger Schnellpressenfabrik. 50 Nach der Demontage durch die sowjetische Militäradministration wurde das Druckmaschinenwerk, das 1938 den Firmennamen in Planeta umgewandelt hatte, im Zuge der Verstaatlichung der Produktionsmittel 1948 zum VEB. 5 1 Im Rahmen des zweiten Fünfjahrplans beschloß 1956 die damalige Industriezweigleitung die Schaffung von erzeugnisspezialisierten Betrieben, wobei Planeta auf die ausschließliche Produktion von Bogenoffsetmaschinen spezialisiert wurde. 52 In der Folge gab der VEB Planeta den Bau von Hoch- und Tiefdruckmaschinen auf und produzierte ab 1962 ausschließlich Bogenoffsetmaschinen. 53 1 963 begann der Betrieb mit der Entwicklung der Variant-Maschine 54, einer weltweit neuen Maschinenkonzeption im Bogenoffsetbereich (vgl. Abbildung 5). Mit dieser Innovation konnte der Bogenoffsetpionier Planeta an seine technologische Tradition anknüpfen. Aufgrund des großen internationalen Erfolgs der neuen Maschine wurden ab 1975 auch die anderen Bogenoffset-Maschinentypen aus dem Programm genommen und bis zur Wiedervereinigung ausschließlich Variant-Maschinen und deren Weiterentwicklungen, ab 1979 die Super-Variant und ab 1980 die Varimat, hergestellt. 55

49 1926 strebt die Dresden-Leipziger Schnellpressenfabrik eine Fusion mit der Offsetmaschinenfabrik Faber & Schleicher (Offenbach), dem anderen deutschen Bogenoffset-Pionier, an. Kurz vor der Vertragsunterzeichnung läßt das Offenbacher Unternehmen das Vorhaben platzen, da man herausgefunden hatte, daß die Dresdner Firma den Vertragspartner lediglich als Zuliefererbetrieb benutzen wollte; vgl. Roland Offsetmaschinenfabrik Faber & Schleicher AG, Roland Offset - Ein Unternehmen mit Weltruf, Festschrift anläßlich des 100 jährigen Bestehens der Roland Offsetmaschinenfabrik Faber & Schleicher AG in Offenbach, Offenbach 1971, S. 40. 50 Vgl. Funke, M., Die Entwicklung des Druckmaschinenbaus in Sachsen, Teil 3: Der Druckmaschinenbau im Raum Dresden von seinen Anfängen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts an bis zum Ende der Weltwirtschaftskrise 1933, Leipzig 1987, S. 54. 51 Vgl. Krebs, D., Entwurf zur Betriebsgeschichte anläßlich des 90-jährigen Bestehens der Planeta Druckmaschinenfabrik, Radebeul 1988, O.S. 52 Vgl. Feige, R., Das Ringen um Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im polygrafischen Maschinenbau der Deutschen Demokratischen Republik in der Zeit vom VI. bis zum IX. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Freiberg 1981, S. 28. 53 Die Zahlen stammen aus der Lieferstatistik 1946-1978 des VEB Planeta (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. VEB 000028). 54 Vgl. Antrag zur Auszeichnung des Betriebs mit dem Titel „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit", Radebeul 1980, S. 15. (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. VEB 000626). 55 Vgl. ebd., S. 4. Die letzte Super-Variant-Maschine ist 1994 nach Portugal ausgeliefert worden; vgl. Nach 25 Jahren wurde die letzte Planeta-Super-Variant ausgeliefert, in: Deutscher Drucker, Nr. 35, 15. 9. 1994, S. 14.

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400

j

350 --

300 --

H—I—I—I T—r ι—ι—ι—ι—ι Υ ι—ι—ι—ι—KH—I—I—I—I—I—I—I—I—I—I—I—I—I—I 1948

1950

1952

1954

— Hochdruck

1956

1958

1960

--Tiefdruck

1962

1964

1966

1968

1970

- Summe Offsetdruck

1972 -

1974

1976

1978

1980

davon Variai*

Abbildung 5: Die Entwicklung der Maschinenauslieferungen beim VEB Planeta zwischen 1948 und 1980, differenziert nach Druckverfahren 56

II. Ergebnisse und Determinanten der Innovationstätigkeit beim VEB Planeta Im Gegensatz zu den allgemeinen wirtschaftsordnungstheoretischen Aussagen über das Innovationsverhalten in der DDR kam es beim VEB Planeta in den sechziger Jahren zu einer Innovation, die in ihren Eigenschaften zunächst systemuntypisch erscheint. In der betrieblichen Konstruktionsabteilung von Planeta wurde seit 1963 an einer neuartigen Maschinenkonzeption im Bogenoffsetbereich, der späteren Variant-Maschine, gearbeitet. Der Prototyp der Innovation wurde erstmals 1965 auf der Leipziger Messe vorgestellt. 57 Eine der wichtigsten technischen Besonderheiten der Neuerung war die Aggregat- oder Reihenbauweise. Die einzelnen Aggregate bildeten in sich geschlossene Baueinheiten, welche je nach Bedarf 56

Ein Vergleich der Abbildungen 4 und 5 zeigt, daß die Zahl der ausgelieferten Maschinen beim VEB Planeta im Durchschnitt deutlich über denjenigen der Koenig & Bauer AG liegen. Dies hängt damit zusammen, daß Planeta ausschließlich Bogenoffsetmaschinen herstellt, während der Würzburger Betrieb Bogen- und Rollenmaschinen, mit deutlichem Schwerpunkt auf letztere Maschinenart, produziert. Beide Maschinenarten unterscheiden sich in Größe und Konstruktionstechnik beträchtlich und sind daher schwer vergleichbar. Da an dieser Stelle aber lediglich die unterschiedlichen langfristigen technologischen Entwicklungstrends deutlich gemacht werden sollen, erscheint die Verwendung der Maschinenzahlen legitim. 57 Vgl. Krebs, O.S.

Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln

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durch einfaches Hintereinanderschalten der Aggregate von einer Einfarben- ( = eine Baueinheit) bis zu einer Sechsfarbenmaschine ( = sechs Baueinheiten) ausgebaut werden konnten.58

f f

J Τ

V h

Plattenzylinder Gummizylinder Druckzylinder

Fünizylindersystem der Vorläufermaschinen (Doppeldnickwerke nach dem Tandemprinzip)

Plattenzylinder

ι j-

Gummizylinder ^

Druckzylinder

— Übergabetrommel

Dreizylindersystem der Variant mit doppeltgroßer Übergabetrommel und Kombination einzelner Druckwerke in Reihen- oder Aggregatbauweise

Abbildung 6: Der Druckwerkaufbau bei der Variant-Maschine und bei ihren Vorläufermaschinen 59

Durch dieses Baukastenprinzip wurde ein hoher Standardisierungsgrad der Maschinen verwirklicht. Um eine paßgenaue, exakte Weiterleitung der Bogen zwischen den einzelnen Aggregaten zu gewährleisten, wurde die Anzahl der Bogenübergaben minimiert, indem zwischen den Baueinheiten nur eine, doppeltgroße Übergabetrommel geschaltet war. 60 Eine andere technische Neuerung an der Variant-Maschine war der Aufbau des Druckwerks nach dem Dreizylinderprinzip. Das Druckwerk der Variant setzte sich aus jeweils einem Druck-, Gummi-, und Plattenzylinder sowie einer Übergabetrommel zusammen, wobei sich Druckzylinder und Übergabetrommel durch einen doppeltgroßen Durchmesser auszeichneten (vgl. Abbildung 6). Bis zur Entwicklung der Variant hatte man bei Planeta die Bogenoffsetmaschinen nach dem gängigen Fünfzylindersystem im sogenannten Tandemprinzip gebaut, bei dem je zwei Gummi- und Plattenzylinder auf einen Druckzylinder wirkten (vgl. ebenfalls Abbildung 6). Im Gegensatz zum Tandemprinzip 58

Vgl. Schöne, H., Baukastenprinzip - dargestellt am Beispiel der Bogen-Rotations-Offsetmaschine VARIANT, in: Maschinenbautechnik, Bd. 28, 1979, S. 465 f. Helmut Schöne ist der ehemalige Chefkonstrukteur des VEB Planeta und war in den sechziger Jahren maßgeblich an der Entwicklung der Variant-Maschine beteiligt. 59 Vgl. Frenzel, U., Die Entwicklung des Druckmaschinenbaus in Sachsen, Teil 4.: Die Entwicklung des Druckmaschinenbaus im Raum Dresden nach der Weltwirtschaftskrise bis zur Gegenwart, Leipzig 1987, S. 30. 60 Vgl. Autorenkollektiv, Die Bogenoffsetdruckmaschine PLANETA-VARIANT und deren Entwicklung, KDT-Autorenkollektiv des Direktionsbereichs Technik im VEB Polygraph Druckmaschinenwerk Planeta, Radebeul 1979, S. 342. (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. VEB 000506).

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bot die Reihenbauweise von Druckwerken im Dreizylinderprinzip den Vorteil, daß auch Maschinen in ungerader Druckwerksanzahl nach Kundenwunsch gebaut werden konnten. Da die Zahl der Druckwerke die Zahl der im Druck verwendeten Farben determiniert, ergab sich damit ein größerer Spielraum für die Wahl der Farbigkeit der Druckerzeugnisse. 61 Der VEB Planeta blieb lange Zeit der einzige Hersteller von Bogenoffsetmaschinen in der Dreizylinder-Aggregatbauweise. Erst Mitte/Ende der achtziger Jahre ist die Bauweise in ihrer Grundkonzeption von den westlichen Konkurrenten imitiert worden. 62 Die Variant-Maschine war somit eine echte Produktinnovation (vgl. B.I). Als sozialistischer Betrieb war Planeta den tendenziell innovationshemmenden Einflüssen des planwirtschaftlichen Systems ausgesetzt. Besondere technische, historische, aber auch durchaus systembedingte Voraussetzungen - die sich zum Teil gegenseitig bedingten oder verstärkten - erklären, warum diese systemuntypische Innovation bei Planeta zu jener Zeit dennoch stattfinden konnte (vgl. Abbildung 7).

Technologisch-historische Ausgangssituation

Wettbewerbsdruck durch das nichtsozblfetteche Ausland

Branchenbezqgene wirtschaftspolitische Ziele der DDR-Regierung

Technische Untanplizierthdt dcrProduktionsstandardiskTung

Allgemeine Wachstums- und strukturpoUtsche Strategien der DDR-Regierung

Abbildung 7: Einflußfaktoren der Produktinnovation Variant-Maschine beim VEB Planeta 61

Vgl. Nach 25 Jahren, S. G14. Mit der Entwicklung der Variant waren zahlreiche Patentanmeldungen an dieser neuen Maschinenkonzeption verbunden. So wurde beispielsweise 1964 das gesamte Konstruktionsprinzip der Maschine patentiert; vgl. VEB POLYGRAPH Druckmaschinenwerk Planeta, Patentes von Planeta, Radebeul 1988, S. 59 ff. 62 Vgl. Schöne, H., Das Druckmaschinenwerk Planeta und ihr BogenoffsetmaschinenKonzept, Radebeul 1989, S. 2.

Offsetdruck als Herausforderung für innovatives Handeln

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Da der VEB Planeta ein integraler Bestandteil des zentralistischen Wirtschaftssystems der DDR war, kann auch die Innovation der Variant-Maschine nicht losgelöst von den allgemeinen Wachstums- und Strukturzielen der DDR-Regierung und ihren besonderen branchenspezifischen Zielen gesehen werden. Hauptmerkmal einer sozialistischen Planwirtschaft ist die zentrale ex ante Planung des Wirtschaftprozesses. Die Pläne spiegeln die wirtschaftspolitischen Ziele und Programme der Zentralregierung wieder. In der DDR gab es drei Planarten, die sich in ihrer Fristigkeit unterschieden. In der langfristigen Perspektivplanung, die einen Zeitraum von 15-20 Jahren umfaßte, wurde die grundsätzliche ökonomische und soziale Entwicklungsrichtung festgelegt. 63 Die wirtschaftspolitisch relevanten Pläne waren allerdings die Fünfjahrpläne 64 und v.a. die Jahresvolkswirtschaftspläne, welche den Fünfjahrplan jeweils präzisierten. 65 Vor dem Hintergrund der in den langfristigen Plänen festgelegten Wachstumsziele wurden in jedem Fünfjahrplan explizit Branchen genannt, die besonders zu fördern waren. Dies implizierte eine Konzentration der staatlichen Investitionsmittel auf diese Industriezweige. Mitte der fünfziger bis Ende der sechziger Jahre galt der gesamte Maschinenbau als eine der wichtigsten Wachstumsbranchen.66 Laut Direktive der III. SED-Parteikonferenz im Jahre 1956 war überdies während des zweiten Fünfjahrplans (1956-1960) beschlossen worden, innerhalb des Maschinenbaus die polygrafische Branche besonders intensiv zu fördern. 67 Die Sonderstellung des Maschinenbaus im allgemeinen und der polygrafischen Industrie im besonderen in der DDR-Industrie stellten insofern eine wichtige Grundvoraussetzung für die Innovationsprozesse bei Planeta dar, als dem Industriezweig dadurch die notwendigen Finanz- und Investitionsmittel für den Ausbau neuer Fertigungskapazitäten zur Verfügung standen. Da die dezentrale Ebene Betrieb nur geringe Entscheidungspielräume und Verfügungsrechte hatte, war sie auf den Zufluß staatlicher Mittel angewiesen. Hinzu kommt die Konformität der Variant-Maschinenkonzeption mit den technologisch-wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des zuständigen staatlichen Ministerium der polygrafischen Industrie 68. 63 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, DDR-Handbuch, Bd. 2, 3. Aufl., Bonn 1985, S. 987. 64 Der Zeithorizont von fünf Jahren für die mittelfristige Planung wurde während des Bestehens der DDR nicht durchgängig eingehalten. So wurde ζ. B. 1959 ein Siebenjahrplan verabschiedet, der allerdings bereits 1961/62 abgebrochen wurde; vgl. ebd., S. 991. 65 Vgl. ebd., S. 987 f. 66 Während der Wiederaufbauphase, konzentrierte der Staat die Finanz- und Investitionsmittel vorwiegend auf die Grundstoffindustrie und den Werkzeugmaschinenbau. Ab den siebziger Jahren galt der elektronische/elektrotechnische Industriezweig als die wichtigste Wachstumsbranche; innerhalb des Maschinenbaus wurden nur noch einzelne Sektoren, u. a. der Druckmaschinenbau, gefördert; vgl. Feige, S. 8 und Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, S. 990 f. 67 Vgl. Feige, S. 25. 68 Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre haben noch häufig Änderungen in der industriellen Leitungsorganisation und -struktur stattgefunden. Bis 1955 unterstanden die Druckmaschinenbetriebe den wechselnd zuständigen Industrieministerien. 1955 wurden die Industrieministerien aufgelöst und die zentrale Leitung der Industriezweige wurde von Fach-

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Vor dem Hintergrund der allgemeinen wirtschaftpolitischen Zielsetzungen im zweiten Fünfjahrplan (s.o.), erarbeitete der Volkswirtschaftsrat einen „Plan zur technologischen Umgestaltung des polygrafischen Maschinenbaus im zweiten Fünfjahrplan". Im Zusammenhang mit den staatlichen Standardisierungszielen in der Industrieproduktion (s. auch unten) wird in dem Plan als eine der Aufgaben die Entwicklung von Maschinen im Baukastensystem genannt. Noch konkreter ist die direkte Weisung an Planeta, die Konstruktion der Bogenoffsetmaschinen in Aggregatbauweise - wie sie schließlich in der Variant-Maschine verwirklicht wurde bis Anfang der sechziger Jahre abzuschließen.69 Mit diesen staatlich vorgebenen Aufgaben waren gleichzeitig finanzielle Unterstützungen für die Betriebe des polygrafischen Maschinenbaus verbunden. So wurden dem VEB Planeta im Zeitraum von 1958 bis 1962 für die notwendige Modernisierung und Erneuerung des Werkzeugmaschinenparks 70 Mio. DM-Ost für zweckgebundene Investitionen zur Verfügung gestellt.70 Dieses branchenbezogene, wirtschaftspolitische Umfeld wirkte sich auf die Innovationsmöglichkeiten und -anreize beim VEB Planeta positiv aus.71 Ein weiterer Bestandteil sozialistischer Wirtschaftspolitik war schließlich die Standardisierung der Produktion mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsproduktivität. 72 Typenvielfalt und Einzelfertigungen waren nach sozialistischem Verständnis ineffizient und wirkten wachstumshemmend. Insbesondere für die Maschinenbauindustrie wurde die Vereinheitlichung der Produktion als wichtig angesehen. Die Standardisierungsziele wurden auf nationaler und, innerhalb der RGW-Länder, internationaler Ebene verfolgt. „Eine wirksame internationale Zusammenarbeit, die Spezialisierung und Kooperation der Produktion, vor allem im Bereich des Maschinenbaus, setzen die Austauschbarkeit fertiger Erzeugnisse, einzelner Bauteile und von Ersatzteilen voraus .. ." 7 3 Bei den Bogenoffsetmaschinen von Planeta waabteilungen der Staatlichen Plankommission übernommen. 1961 wurden diese Fachabteilungen dann aus der Plankommission ausgegliedert und bei dem Volkswirtschaftsrat vereinigt. Bereits drei Jahre später wurden dann erneut Fachministerien gebildet, wobei der polygrafische Maschinenbau zunächst dem Ministerium für Verarbeitungs- und Fahrzeugbau unterstellt wurde; vgl. Feige, S. 18. 69 Vgl. ebd., S. 25. 70

Vgl. Frenzel, S. 32 i.V.m.; Feige, S. 25ff und Antrag zur Auszeichnung des Betriebes mit dem Titel „Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit", Radebeul 1980 S. 3. (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. VEB 000626). 71 Es gibt Hinweise darauf, daß die staatliche Genehmigung für die Entwicklung der Maschinenkonzeption der Variant erst erteilt wurde, als das Entwicklungsmuster des betrieblichen Konstruktionsbüros bereits fertig, die Maschine also nahezu produktionsreif war. Selbst wenn die Neuerung in diesem Sinne eine Schwarzentwicklung gewesen ist, ist Planeta damit kein großes Risiko eingegangen, da der Betrieb die Unternehmens- und branchenbezogenen Zielsetzungen des Staates kannte. 72 In der politischen Ökonomie des Sozialismus wurde der Produktionsfaktor Arbeit als der wichtigste Wachtumsfaktor angesehen. 73 Beirau, Die Standardisierung - Schlüssel zu erfolgreicher sozialistischer internationaler Spezialisierung, in: Der Außenhandel und der innerdeutsche Handel, Bd. 13, Heft 2, Berlin (Ost) 1963, S. 12.

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ren die staatlichen Ziele der Standardisierung der Produktion technisch einfacher zu verwirklichen, als bei der Konstruktion von Rollenmaschinen. Beide Maschinenarten unterscheiden sich in Größe und Konstruktionsweise beträchtlich. Die Bogenmaschinen sind meistens vergleichsweise kleine Maschinen, die v.a. im Bücher· und Katalogdruck eingesetzt werden. Das Prinzip der standardisierten Serienfertigung läßt sich hier einfach verwirklichen. Bei den Rollenmaschinen dagegen handelt es sich in der Regel um sehr große, technisch komplexe Anlagen, deren Haupteinsatzgebiet der Zeitungsdruck ist. Aufgrund der Größe und Komplexität der Rollenmaschinen werden diese nach individuellen Käuferwünschen bzgl. Format und Maschinengröße gefertigt. Damit ist eine Serienfertigung dieser Maschinenart nur sehr begrenzt möglich. Im Unterschied zum VEB Planeta konnten daher auch beim VEB Piamag in Plauen, dem ostdeutschen Hersteller von Rollenoffsetmaschinen, die staatlichen Ziele zur Vereinheitlichung der Produktion nicht erreicht werden. Ein weiterer Faktor, mit dem die erfolgreiche Innovation erklärt werden kann, ist bereits oben ausführlich dargestellt worden (vgl. D.I.). Die Entwicklung auf dem Druckmaschinenmarkt hin zum Offsetverfahren entsprach der technikgeschichtlichen Unternehmensentwicklung von Planeta. Man kann in diesem Zusammenhang von der Pfadabhängigkeit der betrieblichen Innovationsaktivität sprechen. Der Offsetpionier Planeta blickte zu dem Zeitpunkt, als der Offsetdruck sich zu Lasten des Hochdrucks immer mehr Marktanteile sichern konnte, bereits auf eine langjährige Tradition im Offsetmaschinenbau zurück und konnte früher erworbene Erfahrungen für die Konstruktion des neuen Maschinentyps nutzen. Diese besondere historische Ausgangssituation wurde für Planeta gerade unter den Bedingungen der sozialistischen Planwirtschaft bedeutsam. Da die Marktentwicklung weg vom Hochdruck und hin zum Offsetdruck verlief, erwies sich die systemtypisch geringe Anpassungsflexibilität des sozialistischen Wirtschaftssystems nicht als Innovationshindernis. Im Gegenteil, auf der Basis der verfügbaren Kenntnisse im Offsetbereich konnte durch staatlich gelenkte Spezialisierungsanstrengungen sogar eine schnellere Anpassung an den neuen Weltmarkttrend erreicht werden. So wurden in der DDR als Reaktion auf den technologischen Wandel in der Branche die staatlichen Investitionsmittel für den polygrafischen Maschinenbau auf diejenigen Betriebe konzentriert, die Offsetmaschinen produzierten. 74 Neben Planeta waren dies der Rollenoffsetmaschinenproduzent VEB Piamag in Plauen und ferner die Druckmaschinenwerke Leipzig. Ein Großteil der Betriebe im VVB - bzw. ab 1970 im Kombinat - Polygraph, wurden per staatlicher Weisung sukzessive in Offsetbetriebe, insbesondere den VEB Planeta75, eingegliedert und als Produktions-

74 Vgl. Feige, S. 56ff und S. 76. 75 1954 wurde der VEB Werkzeugmaschinenfabrik Coswig, 1968 der VEB Radebeuler Maschinenfabrik und der VEB Polygraphischer Maschinenbau Cocima (Radebeul), 1969 der VEB Haartex (Coswig), 1985 der VEB Druckmaschinenwerk Victoria (Heidenau) sowie der VEB Kartonagenmaschinenfabrik Kama (Dresden) in den VEB Planeta eingegliedert; die

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Stätten für den Bau von Offsetmaschinen genutzt. Kurz vor der Wende dominierten in der ostdeutschen Branche zwei große Betriebe, die beide zu den Pionieren des deutschen Offsetmaschinenbaus zählen: der Bogenoffsetmaschinen-Produzent Planeta in Radebeul und der Rollenoffsetmaschinen-Hersteller Piamag in Plauen. Insofern erwies sich der Siegeszug des Offsetverfahrens für die in dieser Technik traditionell starken DDR-Betriebe als glücklicher Zufall. Fraglich ist allerdings, ob ihnen auch eine radikale Umstellung auf andere Verfahren ähnlich gut gelungen wäre. 76 Als letzter entscheidender Einflußfaktor für die Innovationstätigkeit von Planeta muß die Sonderrolle hervorgehoben werden, die der Betrieb insofern besaß, als er - anders als die meisten DDR-Betriebe, anders als die anderen Betriebe im polygrafischen Industriezweig der DDR, anders auch als der RollenoffsetmaschinenProduzent VEB Piamag - im intensiven Wettbewerb auf den Märkten des nicht-sozialistischen Auslands stand. Dies hatte zunächst wiederum historische Gründe. Wie bei vielen anderen deutschen Druckmaschinenherstellern lag schon in der Zwischenkriegszeit der Exportanteil von Planeta-Maschinen bei durchschnittlich 60%. 77 Nach 1945 wirkte sich der hohe internationale Bekanntheitsgrad des Unternehmens vor dem Zweiten Weltkrieg positiv auf die Nachkriegsentwicklung aus. Planeta konnte, aufgrund der historischen Ausgangssituation als exportintensiver Anbieter auf zahlreiche Kontakte und Beziehungen zu ausländischen Nachfragern zurückgreifen. Die Exportquote der Planeta-Druckmaschinen konnte relativ schnell auf ein Niveau angehoben werden, welches dasjenige der Zwischenkriegszeit bei weitem überstieg. Über den gesamten Zeitraum des Bestehens der DDR, hatte der VEB Planeta eine durchschnittliche Exportquote von rund 90%, von denen ungefähr die Hälfte in das westliche Ausland ging. 78 Zu den Hauptabsatzmärkten der nicht-sozialistischen Länder gehörten die USA, Frankreich, Italien und die Bundesrepublik. Die außenwirtschaftlichen Erfolge haben sich für den VEB PlaneDaten stammen aus einer internen Chronik des VEB Planeta (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. VEB 000642). 76 Als Indiz dafür, daß das sozialistische System Innovationsaktivitäten in Bereichen unterdrückte, die für die Betriebe technologisches Neuland darstellten, kann gelten, daß der Rollenmaschinenhersteller VEB Piamag zu keinem Zeitpunkt innovativ an der Weiterentwicklung des Hochdruckverfahrens arbeitete, während Koenig & Bauer sich nach ihrem erfolgreichen Einstieg in den Offsetmarkt, mit dem Flexodruckverfahren, einer Weiterentwicklung des traditionellen Hochdrucks, auch in diesem Bereich innovativ zeigte. 77

Vgl. Planeta AG, Zur Erinnerung an das 30- jährige Bestehen der Dresdner-Leipziger Schnellpressenfabrik AG, Radebeul 1928, S. 21. (Firmenarchiv Planeta, Archivnr. Planeta AG 000025). 78 Diese Durchschnittszahl wurde aus verschiedenen Auflistungen zu Maschinenlieferungen und Umsatzbüchern, die sich im Firmenarchiv Planetas befinden, errechnet. In der westdeutschen Branche liegt die durchschnittliche Exportquote der Anbieter zwischen 65% und 75%; vgl. Seisser, S. 90. Der außergewöhnlich hohe Exportanteil Planetas war nicht typisch für die ostdeutsche Branche, sondern hing mit der wirtschaftspolitischen Strategie der SEDRegierung zusammen, international erfolgreiche Betriebe extensiv zu fördern (s.u.). Planeta hat - auf Kosten der inländischen Nachfrage - fast ausschließlich für den Export produziert.

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ta auf die langfristige Entwicklung als DDR-Betrieb in zweifacher Weise positiv ausgewirkt. Erstens war der VEB Planeta auf den westlichen Märkten dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt und konnte sich damit die Marktkontakte erhalten und die technologischen Neu- und Weiterentwicklungen in der Branche verfolgen. Gleichzeitig bestand von den ausländischen Märkten her für den Betrieb der notwendige Wettbewerbsdruck und der damit eng verbundene innovative Handlungsbedarf (vgl. auch B.III.). Zweitens wurde der Betrieb für den Staat eine wichtige Deviseneinnahmequelle und erhielt damit eine Sonderstellung in der ostdeutschen Druckmaschinenbranche bzw. auch in der gesamten DDR-Industrie. Sozialistische Strukturpolitik bestand vorwiegend in der Förderung international erfolgreicher Branchen, aber auch einzelner Betriebe. Der internationale Erfolg wiederum wurde in erster Linie an der Höhe der Deviseneinnahmen gemessen, Betriebe mit intensiven Westexporten kamen somit in den Genuß staatlicher Unterstützung. 79 Es gab also auch innerhalb des sozialistischen Systems für Planeta einen wichtigen Anreizmechanismus zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Die frühen außenwirtschaftliche Erfolge und die damit eng verbundene binnenwirtschaftliche Sonderstellung als DDR-Betrieb waren wichtige positive Einflußfaktoren für die erfolgreiche Entwicklung der Variant-Maschine.

I I I . Ergebnisse und Determinanten der Innovationstätigkeit bei der Koenig & Bauer AG Vor dem Hintergrund des technologischen Umbruchs in der Druckmaschinenindustrie entschloß sich der Hochdruckspezialist Koenig & Bauer 1965 in die Offsettechnik einzusteigen. Noch im selben Jahr begann man mit der Entwicklung der ersten Offsetmaschinen. Ein Vergleich mit den anderen großen westdeutschen Druckmaschinenherstellern zeigt, daß Koenig & Bauer relativ spät auf den Siegeszug der Offsettechnik reagiert hat. Der Weltmarktführer Heidelberger Druckmaschinen AG, ein traditioneller Bogenhochdruck-Spezialist, stellte 1962 auf der DRUPA seine erste Bogenoffsetmaschine vor. Ähnlich wie Koenig & Bauer hatte man in Heidelberg erst in den sechziger Jahren mit der Entwicklung und dem Bau von Offsetmaschinen begonnen, im Gegensatz zum Würzburger Unternehmen allerdings bereits in der frühen Phase des technologischen Wandels. Die MAN in Augsburg, für die Caspar Herrmann bereits 1921 die erste Rollenoffsetmaschine konstruiert hatte, begann Anfang der sechziger Jahre mit der Entwicklung eines kompletten Programms an Rollenoffsetmaschinen. Den Bau von Bogenmaschinen im Offsetverfahren hatte man dort bereits 1951 aufgenommen. 80 Die Offenbacher Offsetmaschinenfabrik Roland war ebenso wie Planeta traditionell auf den Bau 79 Sozialistische Wirtschaftspolitik beinhaltete eine Art Exporterfolg-SubventionierungSpirale. so Vgl. MAN Roland, 150 Jahre Druckmaschinenbau im M A N Konzern 1945-1995, Augsburg/Offenbach 1995, S. 12 f.

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von Bogenoffsetmaschinen spezialisiert. Vor dem Hintergrund der Heuß'schen Unternehmerklassifizierung gehörte die Koenig & Bauer AG im branchenspezifischen Marktprozeß der sechziger Jahre zum konservativen Unternehmenstyp (vgl. Abbildung 2). 8 1 Strategische Markt- und Konstruktionsanalysen über die auf dem Markt befindlichen Offsetmaschinen, insbesondere die der amerikanische Konkurrenz, 82 unterstützen die Hypothese, daß das Würzburger Unternehmer hier als Imitator im Schumpeterschen Sinne aufgetreten ist. Gegenüber den anderen westdeutschen Druckmaschinenherstellern zeichnete sich das Würzburger Unternehmen aber deutlich durch die Breite seiner Innovationstätigkeit aus. Anders als die Heidelberger Druckmaschinen AG, die ebenfalls in den sechziger Jahren erstmals Bogenoffsetmaschinen entwickelte und baute, war die Koenig & Bauer AG der einzige westdeutsche Anbieter, der die Offsettechnik simultan bei den Bogen- und Rollenmaschinen eingefühlt hat. Dieses Verhalten entspricht der bereits historischen Unternehmensstrategie, eine breite Produktpalette anzubieten und damit in allen Marktsegmenten vertreten zu sein. Auf der DRUPA 1967 wurde die erste Bogenoffsetmaschine Koebau-Rapida als Ein-, Zwei- und Vierfarbenmaschine vorgestellt. Die Zwei- und Vierfarbenmaschine waren, wie die früheren Planeta-Maschinen, nach dem traditionellen Fünfzylindersystem konstruiert, allerdings mit doppeltgroßem Druckzylinder (vgl. auch Abbildung 6). 83 Die erste Rollenoffsetmaschine Koebau-Commander, eine 48-SeitenRotation für den Zeitungsdruck, wurde 1969 nach Belgien ausgeliefert. 84 Da man in Würzburg vergleichsweise spät in den Offsetmarkt eingestiegen ist, war es das Ziel, sich durch besondere Produkteigenschaften Marktanteile zu sichern. So zeichneten sich die Bogen- und Rollenoffsetmaschinen von Koenig & Bauer durch ihre hohe Druckgeschwindigkeit aus. Im Bereich der Zeitungsrotationen hat das Unternehmen darüber hinaus die erste umschaltbare Vierfarben-Satellitendruckeinheit entwickelt, wodurch eine hohe Färb- und Produktionsflexibilität der Maschinen ermöglicht wurde. 85 Der Wettbewerbsdruck innerhalb der Branche bewirkte also, daß auch das imitierende Unternehmen neue Akzente für die weitere Entwicklung des gesamten Marktes setzte.

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Es soll hier noch einmal betont werden, daß Verhaltensweisen sich mit der Zeit ändern können. In anderen Entwicklungsphasen der Branche hat das Unternehmen sich nicht konservativ, sondern initiativ verhalten. Als Beispiel sei hier nur die Erfindung der ersten Schnellpresse durch den Pionierunternehmer Friedrich Koenig genannt. 82 Vgl. Großhauser, H., Vortrag am 25. 3. 1971 in Norrköping über KOEBAU-COMMANDER in der Firma Norrköping Tidnigars AB, Norrköping/Schweden 1971, S. 3. Firmenarchiv Koenig & Bauer, ohne Signatur. Heinrich Großhauser ist der ehemalige Chefkonstrukteur der Abteilung Rollenmaschinen bei Koenig & Bauer. Er führte das Offsetverfahren bei den Rollenmaschinen ein. S3 Vgl. Koenig & Bauer, 175 Jahre Koenig & Bauer, Würzburg 1992, S. 104. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 67 f. Die Druckeinheit ist 1970 als erstes Patent von der Koenig & Bauer AG im Bereich der Rollenoffsetmaschinen angemeldet worden. 85

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In der ex-post Betrachtung war der Einstieg in das Offsetverfahren für die langfristige Entwicklung und das Bestehen der Koenig & Bauer AG eine elementare Entscheidung. In der kurzen Frist allerdings führte der technologische Pfadwechsel das Unternehmen in eine Krise. 86 Abbildung 8 zeigt die Investitionsquote am Bilanzvolumen, einen groben Indikator für den Modernitätsgrad des Anlagevermögens, und die Eigenkapitalquote, die bei Koenig & Bauer während der sechziger

O

Investiti onsquote

Β

Eigenkapitalquote

Abbildung 8: Investitions- (Anteil der Sachinvestitionen am Bilanzvolumen) und Eigenkapitalquote (Anteil von Grundkapital und Rücklagen am Gesamtkapital) der Koenig & Bauer AG

Jahre dramatisch sank. Zwar war die technische Umstellung relativ einfach zu bewältigen, die finanziellen Aufwendungen für die Entwicklung der Offsetmaschinen, insbesondere umfangreiche Investitionen in neue Werkzeugmaschinen, verursachten jedoch in Würzburg im Jahre 1971 einen kritischen Liquititätsengpaß.87 Als Koenig & Bauer Anfang der siebziger Jahre mit ihrem Offsetprogramm auf den Markt kamen, begann sich mit sinkenden Auftragseingängen eine gesamtwirt86 In einer Anlage zum Geschäftsbericht 1969 heißt es: „Im Jahr 1969 war, bedingt durch die Auftragslücke des Jahres 1967 und die lange Bauzeit unserer großen Maschinen, die Ausbringung ungenügend. ... Ferner haben wir den Anforderungen des Marktes entsprechend den Bau von Offsetmaschinen aufgenommen. Natürlich hat der Bau dieses neuen Maschinentyps Anlaufschwierigkeiten gebracht, die sich gerade im Jahr 1969 besonders ausgewirkt haben." Vgl. Geschäftsbericht der Koenig & Bauer AG von 1969. 87 Vgl. Koenig & Bauer, S. 51. 16 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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schaftliche Abschwungsphase bemerkbar zu machen. Hinzu kam, daß in dieser Zeit der Wettbewerbsdruck auf dem Offsetmaschinenmarkt sehr groß war, da nun auch alle anderen Anbieter auf die Produktion von Offsetmaschinen spezialisiert waren. Die Konkurrenz löste einen Preisdruck nach unten aus, so daß in Würzburg die tatsächlichen Umsatzerlöse hinter den erwarteten zurückblieben. Als weiterer Faktor kam hinzu, daß die erste Bogenoffsetmaschine Koebau-Rapida, nachdem sie hohe Entwicklungskosten verursacht hatte, technische Funktionsmängel aufwies, die den Absatz erschwerten und zum Sinken der Umsatzerlöse beitrugen. Ein Lizenzvertrag mit der japanischen Druckmaschinenfabrik Hamada über die Rollenoffsetmaschine Koebau-Commander88 und die Erhöhung des Grundkapitals um 50% durch einen ausländischen Geldgeber, der aus geschäftlichen Gründen am Weiterbestehen der Koenig & Bauer AG interessiert war 89 , halfen schließlich dem Unternehmen die Krise zu bewältigen. Inzwischen gehört das Würzburger Unternehmen zu den führenden Herstellern von Offsetmaschinen und hat, besonders im Bereich des Zeitungsdrucks, die Offsettechnik durch Neu- und Weiterentwicklungen immer weiter perfektioniert. 90 Für die Charakteristika der Innovationstätigkeit von Koenig & Bauer war die technologisch-historische Ausgangssituation als ein im wesentlichen hochdruckorientiertes Unternehmen besonders bedeutsam. Hier zeigt sich, daß es auch im wettbewerblichen Umfeld einer Marktwirtschaft Faktoren geben kann, die Unternehmen daran hindern, die Marktsignale spontan wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Bei dem traditionellen Hochdruckmaschinen-Produzent Koenig & Bauer hat das historisch gewachsene Know-how dazu geführt, daß das Unternehmen noch zum Zeitpunkt des Technologieumschwungs in der Branche glaubte, sich dem aufsteigenden Offsetdruck durch Innovationen im Hochdruck entgegensetzen zu können. Noch kurz vor dem Einstieg in den Markt für Offsetmaschinen wurde daher in die Weiterentwicklung von Hochdruckmaschinen investiert. Die Marktentwicklungen auf der Angebots- und Nachfrageseite zwangen indes das Unternehmen, seine Erwartungen zu revidieren. „Das Hochdruckverfahren konnte zum damaligen Zeitpunkt trotz respektabler Druckergebnisse von Bleiplatten keine gleichartige Qualität bieten. Die damals auf dem Markt befindlichen Mikrozinkund Kunststoffwickelplatten waren nicht im geringsten in der Lage, der Offsettechnik drucktechnisch gleichwertiges entgegenzusetzen. Infolge dieser Tatsache war für die Hochdruckmaschine der Zeitpunkt nicht gegeben, Überlegungen anzustellen, inwieweit die Entwicklung dieses Maschinensystems weitergeführt werden sollte." 91

ss Vgl. Geschäftsbericht der Koenig & Bauer AG von 1970, S. 1. 89 Es handelte sich dabei um die Lausanner Organisation Giori, deren Wertpapier- und Banknotendruckmaschinen seit 1953 in Würzburg gebaut werden; vgl. Klump/Männel, S. 31 f., und Koenig & Bauer, S. 116 ff. 90 Vgl. Fuchs, S. 234.

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Technologisch-historische Ausgangssituation der Koenig & Bauer AG

Gesamtentwicklung des westdeutschen Branchendusters

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Besonderheitender Untemehmensverfassung

In· und ausländischer Wettbewerbsdruck durch Vorstufe, Konkurrenten und Nachfragern

Abbildung 9: Einflußfaktoren des Innovations Verhaltens der Koenig & Bauer AG

Neben dem historisch-technologischen Entwicklungspfad verursachte die unternehmensspezifische Organisation als Familienbetrieb zusätzliche Anpassungsinflexibilitäten. Seit seiner Gründung im Jahre 1817 ist Koenig & Bauer ein Familienunternehmen, in dem die Nachkommen der Unternehmensgründer auch aktiven Einfluß auf die Geschäftspolitik haben.92 In den sechziger Jahren leitete Hans Bolza, ein Urenkel des Unternehmensgründers Friedrich Koenig, die Koenig & Bauer AG. Bolza war 1923 in den Vorstand des Unternehmens berufen worden und seit 1931 Vorstands Vorsitzender. Auch die anderen Vorstandsmitglieder der Koenig & Bauer AG waren zu dem Zeitpunkt, als der branchenweite Technologieumschwung stattfand, seit mehr als 20 Jahren in der Unternehmensleitung vertreten. Aufgrund der Erfolge, die das Unternehmen in der Vergangenheit mit den Innovationen im Hochdruckbereich erzielt hatte, verhielt sich die Unternehmensleitung gegenüber dem Offsetverfahren (zunächst) zurückhaltend. Erst 1971 erfolgte mit der Übergabe des Vorstandsvorsitzes an Hans Bolza-Schünemann ein Generationswechsel in der Führung des Unternehmens, das in den folgenden Jahren eine neue strategische Ausrichtung mit einem deutlichen Schwerpunkt in der Offsettechnik erfuhr. In der 91

Großhauser, H., Die moderne Hochdruckrotationsmaschine für Kunststoffwickelplatten - KOEBAU-COURIER 80 - Ihre Entstehung, ihre Produktionsergebnisse, ihre Zukunft, Würzburg 1980, S. 2. 92 Auch nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1920 blieb das Kapital stets mehrheitlich in Familienbesitz; vgl. Klump/Männel, S. 23 ff. 16*

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Zeit der Krise zeigten sich aber auch die besonderen Stärken der familiendominierten Unternehmung. Da nicht unbedingt Rücksicht auf eine marktmäßige Verzinsung des Eigenkapitals genommen werden mußte, bestand ein größerer zeitlicher Spielraum für Anpassungsmaßnahmen und eine größere Bereitschaft für die Übernahme der erheblichen Risiken, die mit dem gleichzeitigen Einstieg in den Bau von Bogen- und Rollenoffsetmaschinen verbunden waren. Mit der Organisation Gioii konnte zudem ein neuer potenter Kapitalgeber gefunden werden, zu dem lange und traditionell gute persönliche und geschäftliche Beziehungen bestanden und der insofern die bestehende Unternehmenskultur nicht veränderte. Abbildung 9 faßt die Einflußfaktoren der innovativen Anpassung bei Koenig & Bauer noch einmal zusammen.

E. Vergleich und Schlußfolgerungen Die Innovationsaktivitäten der beiden betrachteten Unternehmen des deutschen Druckmaschinenbaus erscheinen vor dem Hintergrund der wirtschaftssytemtheoretischen Standardthese zunächst ausgesprochen untypisch. Der DDR-Betrieb entwickelte im Betrachtungszeitraum eine echte Produktneuheit, die zu einem international bekannten Markenerzeugnis wurde; das westdeutsche Unternehmen stieg dagegen erst relativ spät in den neuen expandierenden Markt für Offsetmaschinen ein und geriet dabei in eine bedrohliche Krise. Dieses Ergebnis zwingt zu einer Modifikation der Vorstellung, das marktwirtschaftlich-kapitalistische Wirtschaftssystem wirke in jedem Falle innovationsfördernder als das planwirtschaftlich-sozialistische System; es macht allerdings keine grundlegende Revision der Standardthese erforderlich, sondern lediglich eine Präzisierung ihres Erklärungsanspruchs und ihrer Prämissen. Die Aussagen der Wirtschaftssystemtheorie beziehen sich auf mittel- und langfristige Entwicklungen mehr oder weniger stark aggregierter volkswirtschaftlicher Größen. Gegenläufige Entwicklungen auf einzelbetrieblicher Ebene und in der kurzen Frist stehen dazu nicht unbedingt im Widerspruch, erfordern allerdings eine genauere Erklärung. Im vorliegenden Fall ist vor allem die technologische Tradition der beiden Unternehmen für ihre unterschiedliche Reaktion auf die Herausforderung durch die Offsettechnik von Bedeutung. Der DDR-Betrieb Planeta konnte sich in seinem angestammten Technologiefeld weiterentwickeln und dabei seine traditionellen Stärken einsetzen, während das westdeutsche Unternehmen einen in der betrieblichen Tradition ganz neuen Technologiepfad einschlagen mußte. Der langfristige Erfolg der Koenig & Bauer AG, sich trotz massiver Probleme im Anpassungsprozeß langfristig als innovativer Anbieter im Markt für Bogen- und Rollen-Offsetmaschinen zu etablieren, spricht letztlich wieder für die These, daß die Wettbewerbskräfte in der Marktwirtschaft innovatives Verhalten erzwingen, indem sie fehlende oder falsch orientierte Innovationstätigkeit mit dem Untergang des Unternehmens sanktionieren. Von keinem der DDR-Druckmaschinenhersteller ist

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der erfolgreiche Einstieg in ein ganz neues Technologiefeld bekannt. Mit dem Einzug der Mikroelektronik in den Druckmaschinenbau, der in den siebziger Jahren begann, konnte auch Planeta nicht mehr erfolgreich mithalten. In den Innovationsaktivitäten der beiden untersuchten Unternehmen kommen auch bestimmte Besonderheiten des jeweiligen Wirtschaftssystems zu Ausdruck. Der VEB Planeta profitierte von der Förderung des Maschinenbaus im allgemeinen und der polygrafischen Industrie im speziellen, die von der DDR-Wirtschaftsplanung gerade ab Mitte der fünfziger und während der sechziger Jahre praktiziert wurde. Die Entwicklung eines standardisierbaren und in Serienfertigung herstellbaren Maschinentyps ließ sich zudem gut mit übergeordneten Zielvorstellungen der sozialistischen Wirtschaftsplanung vereinbaren. Nachdem die Innovation sich als Exporterfolg erwiesen hatte, ließ sich relativ schnell eine Produktionsausweitung durch Aufgabe anderer Fertigungsreihen und durch die Integration weiterer Betriebsstätten in den Radebeuler Betrieb erreichen. Bei Koenig & Bauer lassen die Innovationsaktivitäten während der sechziger Jahre dagegen deutlich die besonderen Stärken und Schwächen eines Familienunternehmens erkennen. Die technologische Herausforderung durch den Offsetdruck vollzog sich in einer Phase, in der ein Generationenwechsel in der Unternehmensführung sich zwar andeutete, aber noch nicht vollzogen war. Die lange Kontinuität des alten Managements trug zum Verharren in den angestammten Technologiefeldern bei. Nachdem die Entscheidung zum Einstieg in den Offsetdruck dann aber gefallen war, erwies sich die hohe Flexibilität der familiengeführten Unternehmung bei der Anpassung an die Bedürfnisse der Nachfrager und die Bereitschaft zur Übernahme hoher finanzieller Risiken als wesentliche Voraussetzung für den weiteren Erfolg. Unter dem neuen, verjüngten Management wurde dann in den siebziger Jahren die strategische Neuausrichtung des Unternehmens erreicht. Für die Analyse der Innovationsaktivitäten beider Unternehmen sind schließlich die internationalen Geschäftsverbindungen und die Beziehungen zum Branchenumfeld bemerkenswert. Wie die anderen westdeutschen Druckmaschinenhersteller konnte auch Koenig & Bauer nach Ende des Krieges relativ rasch an die bedeutende internationale Position des deutschen Druckmaschinenbaus in der Vorkriegszeit anknüpfen. Auch Planeta war, anknüpfend an traditionelle Geschäftskontakte, bereits in den fünfziger Jahren auf den Märkten des westlichen Auslands vertreten, blieb allerdings auch das einzige DDR-Unternehmen der polygrafischen Industrie mit einer bemerkenswert hohen Exportquote auf die Märkte des nicht-sozialistischen Auslands. Die intensiven Weltmarktkontake vermittelten einerseits Kenntnisse über die Wandlungen in der Bedarfstruktur für Druckmaschinen und über technologische Neuerungen; sie begünstigten aber auch die Sonderrolle von Planeta im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft. Die Devisenknappheit der DDR führte zu einer gezielten Subventionierung von Betrieben, die Exporterfolge aufwiesen. Diese besondere Rolle, die auch die Zuteilung von Devisen zur Finanzierung des Imports von dringend benötigten Vorprodukten einschloß, führte allerdings dazu, daß die günstige Entwicklung von Planeta sich nicht zum Nutzen, son-

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dem eher auf Kosten der übrigen Branche vollzog. Hier zeigt sich ein markanter Unterschied zwischen der ost- und westdeutschen Branchenentwicklung, über den die einzelbetrieblichen Erfahrungen wieder mit der Standardthese der Wirtschaftssystemtheorie in Übereinstimmung gebracht werden können. Das westdeutsche Unternehmen vollzog die Anpassung an die technologische Herausforderung des Offsetdrucks im Rahmen eines sich dynamisch entwickelnden Branchendusters. Erfolge und Mißerfolge einzelner Unternehmer, die sich innerhalb der Branche rasch verbreiteten, trugen insgesamt zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Branchendusters bei. Die Fixierung auf das Exportziel führte dagegen zu einer ganz anderen Entwicklung in der DDR. Die Förderung von Planeta bedeutete zwangsläufig eine geringere Förderung anderer Kombinatsbetriebe, deren Absatzgebiete im Inland oder im sozialistischen Wirtschaftsgebiet lagen. Damit konnte auch die erfolgreiche Innovationstätigkeit von Planeta nicht zum Schrittmacher von Innovationen innerhalb des gesamten Branchendusters oder zum nachahmenswerten Vorbild für andere Branchen werden, sondern lediglich zur rühmlichen Ausnahme von der ansonsten breit bestätigten Regel geringer Innovationsaktivität. In einer Situation des internationalen Wettbewerbs und aufbauend auf bestimmten günstigen Voraussetzungen und Traditionen konnte das sozialistische Wirtschaftssystem durchaus durch Mobilisierung und Einsatz massiver Ressourcen Innovationen generieren; allerdings gingen im Vergleich zu den investierten Mitteln nur relativ geringe Spill-over-Effekte auf die Gesamtentwicklung der sozialistischen Volkwirtschaft aus. Kaum zu lösende Schwierigkeiten bereitete zudem die Innovationsaktivität in ganz neuen unbekannten Technologiefeldern wie etwa der Mikroelektronik. Sie wurden im Druckmaschinenbau wie auch in anderen Bereichen der DDR-Wirtschaft dadurch gelöst, daß die exportorientierten Betriebe sich nicht mehr durch neue Produkte, sondern verstärkt über sinkende, stark subventionierte Preise im internationalen Wettbewerb zu behaupten versuchten. Damit waren die Verkaufserfolge der sozialistischen Exportförderunternehmen aber letztlich mit erheblichen gesamtwirtschaftlichen Kosten verbunden, während sich im marktwirtschaftlichen System die internationale Wettbewerbsfähigkeit einzelner Branchen uneingeschränkt positiv auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirkte.

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Der Beitrag des Werkzeugmaschinenbaus zur flexiblen Fertigungsautomatisierung in Deutschland Von Dieter Specht und René Haak

A. Vorgeschichte flexibler Automatisierung die Phase der starren Automatisierung Die Bemühungen zur Automatisierung der Fertigung konzentrierten sich in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre mit Hilfe von konventionellen Werkzeugmaschinen überwiegend auf Anwendungen der Groß- und Massenfertigung. In sogenannten Transferstraßen wurden mehrere Werkzeugmaschinen, im wesentlichen hochproduktive Sondermaschinen, nach dem Fließprinzip miteinander verkettet und bei automatisierter Werkstückhandhabung mehrere Fertigungsvorgänge in einer Station zusammengefaßt. 1 Während in den fünfziger Jahren zunächst diese starre Verkettung von Sondermaschinen in Transferstraßen dominierte, setzte sich in den sechziger Jahren verstärkt der Trend zur losen Verkettung der Fertigungseinrichtungen durch. Charakterisiert war die starre Verkettung durch automatische Weitergabe des Werkstükkes, die in einem festgelegten Takt erfolgte, der durch die längsten Bearbeitungsoperationen determiniert war. Schwierigkeiten traten besonders dann auf, wenn eine Störung an einer Fertigungs- oder Transporteinrichtung die gesamte Fertigungsanlage stillegte. Diesen Nachteil konnte die lose Verkettung von Fertigungseinrichtungen beseitigen. Bei der losen Verkettung hatte jede Fertigungseinrichtung einen eigenen Fertigungszyklus. Zwischen den verschiedenen Fertigungssystemen installierte man Werkstückspeicher als Störungspuffer, die kurze Stillstandzeiten einzelner Fertigungseinrichtungen auffangen konnten. Die vor- und nachgelagerten Einrichtungen waren somit in der Lage, ihre Bearbeitungsvorgänge weiterhin durchzuführen. Grundsätzlich kann man „für die Jahre 1950 bis 1965 von einer expansiven Phase der starren Automatisierung sprechen."2 1

Spur, G., u. a., Automatisierung und Wandel der betrieblichen Arbeits weit. Forschungsbericht 6 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Arbeitsgruppe: Automatisierung, Arbeitswelt und künftige Gesellschaft, Berlin u. a. 1993, S. 28. 2 Spur, G., Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Fertigungstechnik., München/Wien 1991, S. 497 f.

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In den fünfziger Jahren setzte man für die Zentralsteuerung der Maschinenfließstraßen einfache Steuerungen ein, die den Ablauf der einzelnen Fertigungsvorgänge bestimmten. Das grundlegende Element einer jeden Maschinenfließstraße war die Steuerung, die zum Gegenstand vertiefter Forschungsanstrengungen wurde. 3 Parallel zu diesen Bemühungen wurde bei der Einrichtung automatischer Fertigungsanlagen auch versucht, neben gleichartigen Werkzeugmaschinen auch verschiedenartige Fertigungsverfahren in den automatischen Fertigungsprozeß einzubinden. Hierzu muß jedoch festgehalten werden, daß „selbst Ende der 60er Jahre noch keine Fertigungslinie für wechselnde Fertigung und die Serienfertigung kleiner Losgrößen zur Verfügung" stand, „die sich durch Auswechseln von Baugruppen und Softwareanpassung an eingehende Fertigungsaufträge anpassen ließ". 4

B. Automatisierung der Einzel- und Kleinserienfertigung Neben den dargelegten Bemühungen im Bereich der Fertigungsautomatisierung für Groß- und Massenfertigung wurden in den sechziger Jahren für die Einzel- und Kleinserienfertigung durch die Entwicklung von leistungsfähigen NC-Maschinen wirtschaftliche Automatisierungslösungen gefunden. Hierbei ist vor allem die Entwicklung numerisch gesteuerter Bearbeitungszentren zu nennen, die durch ihre universelle Auslegung auch komplizierte Werkstücke in einer Aufspannung bearbeiten konnten. Im Jahre 1960 wurde auf der Chicagoer Werkzeugmaschinenausstellung erstmals ein Bearbeitungszentrum vorgestellt. Gekennzeichnet war dieses Maschinensystem durch die maschinenintegrierte Werkzeugwahl, den automatischen Werkzeugwechsel aus einem Magazin der Maschine und den automatischen Werkstückwechsel mit einer Wechselpalette.5 Der numerisch gesteuerte Einsatz verschiedener Fertigungsverfahren in einem Maschinensystem, in diesem Fall das automatische wechselweise Fräsen-, Bohren- und Ausbohren, war in diesem Maschinentyp, dem Bearbeitungszentrum 6, verwirklicht. Obwohl verschiedene fertigungstechnische Fortschritte erzielt wurden, waren die Bearbeitungszentren zu dieser Zeit noch nicht für die kontinuierliche Bearbei3 Spur, Vom Wandel der industriellen Welt, S. 498 f. sowie Mommertz, K. H., Bohren, Drehen und Fräsen. Geschichte der Werkzeugmaschinen, Hamburg 1981, S. 153 f. 4 Spur, Vom Wandel der industriellen Welt, S. 498. 5 Ebd., S. 564 f. 6 Nach Günter Spur trug die Begeisterung des Publikums für die Entwicklung der Bearbeitungszentren wesentlich zur Ermutigung der Steuerungs- und Werkzeugmaschinenhersteller bei. Der neue Name Bearbeitungszentrum wurde sehr freizügig für nahezu alle NC-Werkzeugmaschinensysteme benutzt, die durch irgendwelche Zusatzfunktionen charakterisiert waren. Ebd., S. 565.

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tung einer Vielzahl von Werkstücken ohne zwischengeschalteten manuellen Eingriff ausgelegt. Langfristig zielte die Entwicklung auf eine mehrschichtige, bedienerlose Fertigung. 7 Im Zuge dieser langfristigen Zielsetzung wurden Mitte der sechziger Jahre die ersten Verkettungen numerisch gesteuerter Einzelmaschinen zu flexiblen Transferstraßen präsentiert. In den USA führte International Harvester eine erste Anlage ein, die zwei numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen, durch die die Werkstücke zur Bearbeitung liefen, zu einer Transfermaschine verband. Ein zentraler Leitrechner kontrollierte den FertigungssVorgang. 8 Diese Lösung war jedoch noch mit technischen, wirtschaftlichen und programmtechnischen Schwierigkeiten verbunden. Festhalten läßt sich, daß für die Großserien-, Massen- und auch für die Einzelfertigung schon eine Reihe von Automatisierungslösungen vorlagen. Lediglich in der Mittelserienfertigung traten bei der Suche von Automatisierungskonzepten Probleme auf. Die Lösungsansätze aus der Großserien- und aus der Kleinserienfertigung ließen sich nicht in geeigneter Weise anwenden. Von Mittelserienfertigung sprach man, wenn die Seriengröße zwischen etwa 50 und einigen Tausend Stück lag und wenn der Serienwechsel etwa 5- bis 200mal im Jahr vorkam. Die fehlende Eignung von Transferstraßen wurde damit begründet, daß sie nicht für die Vielzahl verschiedener Bearbeitungsanforderungen in der Mittelserienfertigung eingerichtet werden konnten. Zwar genügten numerisch gesteuerte Bearbeitungszentren technisch den Fertigungsbedingungen, die produktionstechnisch bedingten geringen Mengenleistungen ließen eine Eignung in wirtschaftlicher Hinsicht jedoch als fraglich erscheinen.

C. Synthese aus Transferstraße und Bearbeitungszentrum das flexible Fertigungssystem Unter dem Eindruck der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre forderten Dolezalek und Ropohl eine Synthese zwischen Transferstraße und numerisch gesteuertem Bearbeitungszentrum. In einem solchen flexiblen Fertigungssystem (FFS) sahen sie eine praktikable Lösung für die Automatisierung der Mittelserienfertigung. 9 Unter flexibler Fertigung verstanden sie eine vom Systemgedanken gesteuerte Integration des Informations-, Energie- und Materialflusses im Maschinensystem 7

Mitthof, F., Was brachte die 10. EWA. Neues auf dem Gebiet der Numerik? In: Technische Zeitschrift für Metallbearbeitung (tz für Metallbearbeitung) 61. Jg. (1967), H. 12. 8 Spur, Vom Wandel der industriellen Welt, S. 567. 9 Dolezalek, C. M./Rohpohl, G., Flexible Fertigungssysteme - die Zukunft der Fertigungstechnik, in: Werkstattstechnik. Zeitschrift für den industriellen-Fabrikbetrieb (WT-Z ind. Fertig.) 60. Jg. (1970), Nr. 8, S. 446-451, hier S. 446.

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mit dem Ziel einer automatisierten Serienfertigung. In dieser Betrachtungsweise wurde die einzelne Werkzeugmaschine als Bestandteil eines umfassenden Fertigungssystems angesehen, die sowohl in den Informations- als auch in den Materialfluß voll integriert war. Der Unterschied zum Bearbeitungszentrum bestand darin, daß es nun nicht mehr auf eine große Funktionsvielfalt der Einzelmaschine ankam, sondern vielmehr auf die Abstimmung der Fertigungsmöglichkeiten der Einzelmaschine im Rahmen des Gesamtsystems mit den übrigen Maschinen.10 Nach ersten Versuchen der Integration von zwei numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen in den USA bei der Firma International Harvester wurde bereits 1967 von der Firma Molins Machine Co. das „System 24" entwickelt, das als eines der ersten flexiblen Fertigungssysteme gilt. Das Maschinensystem war in der Lage, massive Leichtmetall-Werkstücke automatisch, d. h. durch einen Rechner direkt gesteuert, aus dem Werkstückmagazin zu einer oder mehreren beliebig auszuwählenden numerisch gesteuerten Maschine11 zu transportieren und den Anforderungen entsprechend bearbeiten zu lassen. Das System 24 zeichnete sich vor allem durch sein aufwendiges automatisches Handhabungssystem, das Werkstückpuffersystem und die leistungsfähige Maschinenauslegung aus. Die Erfüllung der unterschiedlichen Bearbeitungs- und Handhabungsfunktionen machte jedoch eine Steuerungs- und Rechnertechnik erforderlich, „die zu dieser Zeit noch nicht zufriedenstellend im industriellen Einsatz arbeitete" 1 2 , so daß sich die Firma Molins nach zwei Jahren Entwicklungs- und Konstruktionsarbeit entschied, die Weiterentwicklung des Systems einzustellen. Trotzdem darf man den Einfluß dieses ersten flexiblen Fertigungssystems auf die weitere Entwicklung flexibler Fertigungssysteme nicht unterschätzen. Fast zur gleichen Zeit begann in den USA der Aufbau integrierter Transferstraßen mit numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen, wobei es sich vor allem um Einzelmaschinen handelte, die mit Hilfe von automatischen Bestückungseinrichtungen miteinander verbunden waren. 13 Parallel zeigten sich Fortschritte bei Bear!0 Spur, Vom Wandel der industriellen Welt, S. 567. 11 Numerische Steuerung (NC) oder auf englisch „numerical control" steht für eine Maschinensteuerung mit Zahlen. NC-Werkzeugmaschinen sind heute freiprogrammierbare Fertigungsautomaten und besonders geeignet zur Automatisierung der Klein- und Mittelserienfertigung. Am Massachussetts Institute of Technology (MIT) wurde von Parsons in den Jahren 1949 bis 1952 die erste numerische Steuerung für Werkzeugmaschinen entwickelt. Ausführlich zur Entwicklung der numerischen Steuerung: Schröder, S., Innovation in der Produktion. Eine Fallstudie zur Entwicklung der numerischen Steuerung, München/Wien 1995. Die ersten NC-Steuerungen hatten festverdrahtete Funktionen. Das NC-Programm war auf Lochstreifen gespeichert (als Zahlen kodiert, daher auch Steuerung durch Zahlen) und wurde satzweise gelesen und abgearbeitet. Die Programmierung erfolgte in der Arbeitsvorbereitung anfangs manuell im Datenformat der Steuerung und später mit Hilfe von Programmiersystemen auf Großrechnern. 12 Spur, Vom Wandel der industriellen Welt, S. 570. 13 Eines der ersten Maschinensysteme dieser Art bestand aus acht miteinander gekoppelten Bearbeitungszentren und zwei automatischen Bohrmaschinen.

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beitungszentren, die mit automatischen Werkzeugwechslern, Standardwerkzeugsätzen und mit automatischen Werkstückwechslern über Paletten und Handhabungsgeräte ausgestattet waren. 14 Zusammenfassend kann zur frühen Entwicklungslinie der flexiblen Fertigungsysteme festgehalten werden: Eingesetzt wurden die ersten flexiblen Fertigungssysteme bereits 1967 als Prototypen. In Westeuropa sowie in Japan und den USA war eine Weiterentwicklung zu erkennen, die jedoch zu keiner breiten Anwendung dieser Systeme führte. Die Wirtschaftlichkeit von flexiblen Fertigungssystemen bildete von Beginn ihrer Entwicklung an einen Schwerpunkt des Interesses. Dies lag darin begründet, daß FFS im Vergleich zu herkömmlichen numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen durch außerordentlich hohe Anschaffungskosten gekennzeichnet waren. Somit zielte die Beschäftigung mit dieser innovativen Technologie auf eine möglichst effektive technologische und wirtschaftliche Nutzung dieser komplexen Fertigungsysteme.15 Die steigende Nachfrage nach Industrieerzeugnissen bei stark zunehmender Typenvielfalt und erhöhten Lohnkosten bei gleichzeitig verringerter Arbeitszeit der Beschäftigten zwang die Produktionsbetriebe zu Beginn der siebziger Jahre zu fortwährender Rationalisierung. Als Folge stieg das Interesse an flexiblen Fertigungssystemen in Deutschland an. Im Jahre 1971 wurde bei der Firma Heidelberger Druckmaschinen in Zusammenarbeit mit der Firma Burr das erste bundesdeutsche flexible Fertigungssystem zur Gehäuse- und Gestellfertigung in Betrieb genommen.

D. Entwicklungskerne flexibler Fertigungsautomatisierung in der Bundesrepublik Die Publikationen zur flexiblen Fertigung in den frühen siebziger Jahren wurden geprägt durch Bemühungen, eine Definition von FFS sowie eine klare Abgrenzung zu anderen Fertigungssystemen festzulegen. 16 Die Definition 17 des Begriffes Fle14

Frank, E./Haas, S./Rohpohl, G./Schmidt, M., Statistische Untersuchungen als Grundlage für die Entwicklung flexibler Fertigungssysteme, in: WT-Z ind. Fertig. 60. Jg. (1970), Nr. 3, S. 156-161. 15 Hierzu ausführlich: Saljé, E./Peschel, E., Kenngrößen zur Analyse von Werkzeugmaschinen und Fertigungssystemen, in: WT-Z ind. Fertig. 62. Jg. (1972), Nr. 10/13, S. 10-15 sowie Wenzel, H./Glöckner, W., Kenngrößen für die Ausnutzung von Fertigungsanlagen, in: WT-Z ind. Fertig. 59. Jg. (1969), Nr. 4, S. 168-173. 16 Hierzu finden sich weitere Ausführungen bei: P. Scharf/E. Schulz, Integrierte flexible Fertigungssysteme - Stand und Entwicklung industrieller Konzeptionen, in: WT-Z ind. Fertig. 63. Jg. (1973), Nr. 3, S. 130-136; Spur, G./Feldmann, K./Mathes, H., Entwicklungsstand integrierter Fertigungssysteme, in: Zeitschrift für wirtschaftliche Fertigung (ZwF) 68. Jg. (1973), Nr. 5, S. 229-235 sowie Stute, G., Flexible Fertigungssysteme, in: WT-Z ind. Fertig. 64. Jg. (1974), Nr. 3, S. 147-156.

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xibles Fertigungssystem erfuhr im Laufe der Entwicklung einige inhaltliche Änderungen. Die Gründe hierfür lagen in erster Linie in den unterschiedlichen Auffassungsmöglichkeiten des Flexibilitätsbegriffes. So bestand die Möglichkeit der internen und externen Sicht bezüglich der Flexibilität. Während externe Flexibilität auf die Reaktionsfähigkeit der Fertigung auf große Typenvielfalt verbunden mit kleinen Losgrößen abzielte, meinte interne Flexibilität, beispielsweise innerhalb der Produktion kurzfristig einzelne Aufträge disponieren zu können. Flexible Fertigungssysteme standen fertigungstechnisch gesehen zwischen Transferstraßen, in denen dem Fertigungsablauf folgend sich ergänzende Bearbeitungsmaschinen verkettet waren, und dem numerisch gesteuerten Bearbeitungszentrum. Sie befanden sich damit im Spannungsfeld von Produktivität und Flexibilität. Während Transferstraßen eine hohe Produktivität bei geringer Flexibilität hinsichtlich der Anzahl unterschiedlicher Werkstücke aufwiesen, waren numerisch gesteuerte Bearbeitungszentren zwar flexibel, arbeiteten aber lediglich mit einer niedrigen Produktivität. Damit ließ sich der Begriff „Flexibles Fertigungssystem" auf einen weiten Bereich der Fertigungsanlagen anwenden. In diesem Sinne war nach Stute ein flexibles Fertigungssystem ein Fertigungssystem üblicher Definition, das automatisch und in nicht durch Umrüsten unterbrochener Folge verschiedene Werkstücke gleichzeitig bearbeitete und aus mehreren verketteten Einzelmaschinen bestand.18 Zu den Kennzeichen flexibler Fertigungssysteme zählten die Fähigkdit zur Bearbeitung verschiedener Werkstücke mit mehr oder weniger großer Form- und Ferti17 Dem heutigen Verständnis folgend, handelt es sich bei einem Flexiblen Fertigungssystem (FFS) um eine Reihe von Fertigungseinrichtungen, die über ein gemeinsames Steuerund Transportsystem so miteinander verknüpft sind, daß einerseits eine automatische Fertigung stattfinden kann, andererseits innerhalb eines gegebenen Bereichs unterschiedliche Bearbeitungsaufgaben an unterschiedlichen Werkstücken durchgeführt werden. Im allgemeien Sprachgebrauch versteht man unter einem FFS die höchste Stufe der flexiblen Automatisierung, meist eine Gruppe von numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen, die über ein gemeinsames Werkstücktransportsystem und ein zentrales Steuerungssystem miteinander verbunden sind. Die Werkzeugmaschinen des Systems führen alle Bearbeitungen an einem begrenzten Teilespektrum durch, ohne daß die automatische Bearbeitungsfolge durch manuelle Eingriffe unterstützt oder unterbrochen wird. Dazu ist vor allem eine sehr weitgehende Eigenüberwachung der Systemkomponenten erforderlich. Dementsprechend sind die Grenzen zwischen Fertigungszelle, Fertigungsinsel und Fertigungssystem nicht eindeutig zu definieren und werden auch in der Literatur und im Sprachgebrauch nicht scharf gezogen. Nach Spur soll hier unter dem Begriff Flexibles Fertigungssystem immer ein automatisch arbeitendes, flexibles Fertigungssystem für die Zerspanung verstanden werden, unabhängig von der Anzahl der integrierten Maschinen, so daß eine FFS aus folgenden Komponenten besteht: • eine oder mehrere Werkzeugmaschinen, • Werkstück- und Werkzeugtransporteinrichtungen, • automatische Meß- und Überwachungssysteme sowie • ein Rechner. 18 Stute, S. 147-156.

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gungsähnlichkeit sowie die Anpassungsfähigkeit der Bearbeitungsmaschinen an geometrische und technologische Bedingungen der sich ändernden Fertigungsaufgaben. Die materialflußtechnische Integration in die Fertigung bedingte ihrerseits die informationstechnische Integration durch automatisierte Steuerung des technologischen Ablaufs der Fertigung. Der Einsatz integrierter, flexibler Fertigungssysteme brachte erhebliche Umstellungen und Veränderungen im betrieblichen Fertigungsprozeß gegenüber der konventionellen Serienfertigung mit sich. Der Einsatz flexibler Fertigungssysteme führte zu einer Erhöhung der Kapitalintensität, zur Senkung der Anzahl der Produktionsarbeiter sowie zu einer Steigerung der Produktivität. Mit Hilfe dieser Systeme konnten Durchlaufzeiten verkürzt und erforderliche Produktionsflächen verkleinert werden. 19 Mitte der siebziger Jahre wurde der vermehrte Einsatz flexibler Fertigungssysteme aus den USA, vor allem aber aus Japan bekannt, während in der Bundesrepublik Deutschland, von Einzelfällen abgesehen, im wesentlichen Planungen solcher Systeme durchgeführt wurden. Daneben stellten sie weiterhin einen zentralen Forschungsgegenstand von Instituten und Universitäten in der Bundesrepublik dar. Der Grund für den geringen Realisierungsgrad in der Bundesrepublik war, daß die Wirtschaftlichkeit von flexiblen Fertigungssystemen von den potentiellen Anwendern sehr zurückhaltend beurteilt wurde. 20 Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Bewertung flexibel automatisierter Fertigungsanlagen wiesen die Unternehmer immer wieder auf die nicht oder nur schwer quantifizierbaren Kriterien hin, die eine Entscheidung erschwerten. Genannt wurden hier beispielsweise Wettbewerbsfähigkeit, Beitrag zur Unternehmenssicherung, Lieferfähigkeit, Durchlaufzeitverkürzung, Know-how-Erwerb. Die vielfältigen Unsicherheiten hatten zur Folge, daß eine Reihe von FFS-Planungen aufgrund negativer Ergebnisse von Investitionsrechnungen abgebrochen wurden. In einem Fall verglich man für ein einzuführendes Fertigungskonzept zwei Alternativen hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit. Das konventionelle Vergleichskonzept beanspruchte, bei etwa gleicher fertigungstechnischer Leistungsfähigkeit, nur 50% der Anschaffungskosten des flexiblen Fertigungssystem. Für das konventionelle Vergleichskonzept wurde eine Amortisationsdauer von 3,5 Jahren ermittelt, gegenüber 9,7 Jahren für das flexible Fertigungssystem. Die anschließende Entscheidung fiel trotz des Strebens nach größtmöglichem technischen Fortschritt des Anwenders gegen das flexible Fertigungssystem aus.21 Die staatliche Förderung in der Bundesrepublik Deutschland war auf die Entwicklung von flexiblen Fertigungssystemen in bestimmten Anwenderbranchen geEbd., S. 150. Hierzu zählten vor allem die Automobil-, Elektro-, Nähmaschinen, Druck-, Textil- und Flugzeugindustrie. 21 Niefer, W./Hedrich, P., Flexibles Fertigungssystem für eine prozeßrechnergesteuerte Zylinderkopffertigung - Ergebnis einer Projektplanung, in: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI-Z) 120. Jg. (1978), Nr. 9, S. 401-407. 20

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Bähr/Petzina (Hrsg.)

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richtet, um dort Fertigungsprozesse zu modernisieren und sie folglich wirtschaftlich zu gestalten. Des weiteren richteten sich die Anstrengungen der staatlichen Förderung auf den Aufbau leistungsfähiger mittelständischer Strukturen in „technologisch-intensiven" Bereichen der ausrüstenden Industrie sowie auf die Sicherung von Arbeitsplätzen in Schlüsselbereichen der Investitionsgüterindustrie. In diesem Zusammenhang wurde der Sonderforschungsbereich 155 „Fertigungstechnik" der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichtet, in dem umfangreiche Untersuchungen über die Einsatzmöglichkeiten flexibler Fertigungssysteme und die Auslegung solcher Systeme unternommen wurden. 22 Ende der siebziger Jahre nahm der Druck auf die Produzenten zur Flexibilisierung der automatischen Fertigung durch kürzere Produktlebenszyklen bei steigender Variantenvielfalt zu. Hieraus erhofften sich die Werkzeugmaschinenhersteller zusätzliche Impulse für die weitere Entwicklung und Realisierung flexibler Fertigungssysteme.23 Die Erwartungen, die die bundesdeutsche Industrie mit flexiblen Fertigungssystemen Ende der siebziger Jahre verband, konnten nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt werden, die insgesamt die Wirtschaftlichkeit dieser Systeme bestimmen.24 In technischer Hinsicht erwartete man eine Steigerung der Qualität und der Genauigkeit, eine höhere Maschinennutzung bei geringeren Nebenzeiten sowie Flexibilität und Anlagenverfügbarkeit für Prototypserien, bei Produkterweiterungen und -änderungen.25 Organisatorisch versprach man sich von der Einführung flexibler Fertigungssysteme kürzere Durchlaufzeiten und höhere Termintreue. Außerdem sollen die Verminderung des Unfallrisikos sowie die Entlastung von schwerer körperlicher und monotoner Arbeit zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen. Als mögliche Kosteneinsparungen gegenüber herkömmlicher Fertigung wurden Werte zwischen 25% und 50% genannt.26 Anfang der achtziger Jahre war die Situation in der Bundesrepublik Deutschland durch eine massive konjunkturelle Schwäche der Wirtschaft gekennzeichnet, die sich negativ auf den Arbeitsmarkt auswirkte. Steigende Arbeitslosenzahlen führten zu einer anhaltenden Diskussion über flexible Fertigungskonzepte und deren Einfluß auf die Lage am Arbeitsmarkt.

22 Herrman, P., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 124. Jg. (1982), Nr. 15/16, S. 599-607. 23 Warnecke, H. J., Die Zukunft der Produktionstechnik, in: VDI-Nachrichten Bd. 34 (1980), Nr. 5, S. 8. 24

Herrmann, P./Pferdmenges, R., Flexible Fertigungskonzepte, in: VDI-Z 122. Jg. (1980), Nr. 15/16, S. 667-677; P. Herrmann, Flexible Fertigungskonzepte, in: VDI-Z 123. Jg. (1981), Nr. 15/16, S. 615-628. 25 Storr, P., Planung und Realisierung flexibler Fertigungssysteme, in: WT-Z ind. Fertig. 69. Jg. (1979), Nr. 11, S. 681-691. 26 Ebd., S. 682.

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Die konzeptionsbedingte flexible Automatisierung der Fertigung mußte neu überdacht werden. Es bestand zwar kein Zweifel darüber, daß Flexibilität auch auf einem niedrig automatisierten Niveau möglich, und sogar notwendig war, um zukünftige Fertigungsaufgaben zu lösen. Aber gerade die höher automatisierten Fertigungssysteme wurden für geeignet gehalten, zusätzliche Produktivitätsreserven, ein vorhandenes Kostensenkungspotential und damit die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der wachsenden Konkurrenz aus Japan und anderen asiatischen Ländern in der Zukunft zu erhalten. Allerdings wurde die Ansicht vertreten, daß eine vollständige Substitution der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen nicht nur an der Forderung nach Rationalisierungsschutzmaßnahmen, sondern bereits an deren Finanzierbarkeit scheitern würde. 27 Erneut wurde die Forderung nach fertigungstechnischer Flexibilität erhoben und damit begründet, daß auf konjunkturelle Schwankungen, auf den Preisdruck durch Niedriglohnländer sowie auf Kundenwünsche flexibel reagiert werden müsse. Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit sei nicht mehr alleine durch starr automatisierte Produktionsanlagen möglich, da nur noch selten ausreichend hohe Stückzahlen für deren wirtschaftlichen Betrieb realisiert werden könnten. Das Kernstück flexibler Fertigungssysteme bildet die CNC-Werkzeugmaschine 28 , deren materialfluß- und informationstechnische Peripherie Schwerpunkt der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bis Anfang der achtziger Jahre war. Obwohl viele Entwicklungsaufgaben auf diesen Gebieten als technisch gelöst angesehen wurden, kam eine Bewertung der 1982 betriebenen flexiblen Fertigungsanlagen zu dem Schluß, daß die mit solchen Konzepten erzielbaren Vorteile hinsichtlich Produktivität, Automatisierung und Flexibilität durch Errichten und Betreiben von beim Anwender realisierten Anlagen bis dahin häufig Großunternehmen vorbehalten waren. 29 Die bundesdeutsche Maschinenbau- oder Investitionsgüterindustrie war jedoch größtenteils mittelständisch geprägt. Mittelständische Unternehmen besitzen in der Regel begrenzte Entwicklungskapazitäten und knappe finanzielle Ressourcen, so daß Investitionen in stark innovativ und kostenintensiv geprägte Fertigungstechno27 Herrmann, P., Flexible Fertigungskonzepte, in: VDI-Z 123. Jg. (1981), Nr. 15/16, S. 615-628; P. Herrman, Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung (1982), S. 599607. 28

Die CNC-Steuerung (Computerized Numerical Control) ist ein zentrales Steuerungselement der Werkzeugmaschine mit einem freiprogrammierbaren Prozeßrechner. Mit Hilfe dieser Steuerungsgeneration ließ sich erstmals der Funktionsumfang wesentlich steigern, ohne den Hardware-Aufwand entsprechend erhöhen zu müssen. Auf der Werkzeugmaschinenausstellung in Mailand 1971 präsentierte Prof. Duelen von der Technischen Universität Berlin erstmals eine CNC-Steuerung für Drehmaschinen mit einem Minirechner PDP 8. Der Einsatz eines Prozeßrechners als Steuerungsrechner war jedoch zu kostenintensiv. Erst die Verwendung von Mikroprozessoren (ab 1976) als Steuerungsrechner führte zu preisgünstigen CNCSteuerungen. 29 Herrman, P., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung (1982), S. 599-607. 1*

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logien ein besonders hohes Risiko aufweisen. Um dieses Risiko für die Unternehmen zu mindern, wurden einerseits gezielte staatliche Förderungen spezieller Projekte vorgeschlagen, die in Kooperation mit Forschungsinstituten durchgeführt werden sollten. Andererseits wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, daß mit Hilfe von Systemmodulen ein schrittweiser Zugang zu höher automatisierten Fertigungsstrukturen möglich sei. 30 Die Zusammenstellung solcher Systemmodule zu einem flexiblen Fertigungssystem mußte nach Schmoll sowohl unter wirtschaftlichen als auch unter fertigungstechnischen Gesichtspunkten geschehen, mit dem Ziel, einen optimalen Automatisierungsgrad zu erreichen. Seiner Ansicht nach stellte die Kompatibilität der Systemmodule einen wichtigen Gesichtspunkt bei der schrittweisen Automatisierung dar, damit die optimale Nutzbarkeit über die gesamte Maschinenlebensdauer gewährleistet werden konnte.31 Dies führte zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit modularen flexiblen Fertigungssystemen und zur Entwicklung von modularen flexiblen Fertigungssystem-Baukästen. Trotz der allgemein anerkannten Notwendigkeit, flexible Fertigungsformen einzuführen, hielt sich die Zahl der installierten Systeme 1984 weltweit auf einem relativ niedrigen Niveau. So wurden für die drei größten Werkzeugmaschinenproduzenten, Japan, USA und Bundesrepublik Deutschland, die 1984 zusammen einen Anteil von etwa 60 % der Weltproduktion bereitstellten, folgende Zahlen genannt: In Japan waren zwischen 80 und 250, in den USA zwischen 30 und 60 und in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 20 und 50 flexible Fertigungssysteme in Betrieb. Die ungenauen Zahlen wurden damit begründet, daß aufgrund unterschiedlicher Definitionen von flexiblen Fertigungssystemen verschiedene Maßstäbe angesetzt werden konnten, die zu Schwankungen in den Zahlen führten. 32 Gleichzeitig drücken die Spannbreiten der obigen Zahlen die hohe Unsicherheit und eine gewisse Willkür der Schätzungen aus, denn von anderen Autoren wurde im gleichen Jahr die Anzahl der realisierten flexiblen Fertigungssysteme in der Bundesrepublik Deutschland mit höchstens zehn angegeben.33 Dabei ist jedoch von einer Dunkelziffer auszugehen, die nur schwer zu beziffern ist. Eines der wichtigsten Werkzeugmaschinenunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, das der Entwicklung flexibler Fertigungssysteme Anfang der 80er Jahre grundlegende Impluse gab, und hier als Fallbeispiel kurz vorgestellt wird, war die Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG in Berlin. 34 Untersuchungsschwer30 Warnecke, H. J./Steinhilper, R./Schütz, W., Flexibel automatisierte Teilefertigung in mittelständischen Unternehmen, in: VDI-Z 124. Jg. (1982), Nr. 17, S. 611-619. 31 Schmoll, P., Flexible Automatisierung nach Maß, in: tz für Metallbearbeitung 78. Jg. (1984), H. 12, S. 21-30. 32 Steinhilper, R., Planung und Einführung flexibler Fertigungssysteme, in: tz für Metallbearbeitung 78. Jg. (1984), H. 9, S. 11-16. 33 Erkes, K./Schmidt, H., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 126. Jg. (1984), Nr. 15/16, S. 577-591.

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punkt in der Werkzeugmaschinenfabrik Fritz Werner waren die beiden ersten flexiblen Fertigungszellen (Duplexzellen) DFZ 400 und DFZ 630. Seit Mitte der achtziger Jahren nahm die Verbreitung flexibler Fertigungssysteme im Vergleich zu den siebziger Jahren erheblich zu. Zurückzuführen war dies nicht zuletzt durch die Entwicklungen im Bereich der Rechner- und Steuerungstechnologie und den damit verbundenen Kostensenkungen für diesen Grundlagenbereich flexibler Automatisierungsformen. Mit der Innovation der ersten standardisierten Fertigungszellen DFZ 400 und DFZ 630, leistete die Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG nicht nur einen wesentlichen Beitrag zum technologischen Fortschritt flexibler Fertigungssysteme, sondern legte hiermit auch die Grundlagen ihrer wirtschaftlichen und technologischen Erneuerung in den achtziger Jahren. Die Entwicklung der flexiblen Fertigungszellen wurde 1982 aufgenommen. Sie war Ausdruck der seit 1981 eingeleiteten wirtschaftlichen und technologischen Umstrukturierungsmaßnahmen infolge gewandelter strategischer Zielsetzungen des Werkzeugmaschinenunternehmens. Fritz Werner bereinigte sein Produktprogramm und konzentrierte sich fortan ausschließlich auf die Weiterentwicklung der im Jahre 1976 von der Firma Burr, Ludwigsburg, übernommenen Transfer-Center. Schon 1983 konnten die ersten standardisierten flexiblen Fertigungszellen (FFZ), Modelle Duplex DFZ 630 (TC 630), mit vollautomatischer, rechnergefühlter Werkstück- und Werkzeugversorgung anläßlich der Europäischen Werkzeugmaschinenaustellung (EMO) 1983 in Paris präsentiert werden. 35 Für die Entwicklung der Fertigungszellen wurde ein spezielles Team im Bereich der Konstruktion/Planung ins Leben gerufen, das sich sowohl aus Universitätsund Fachhochschulingenieuren als auch aus Technikern des Werkzeugmaschinenunternehmens zusammensetzte. Mitarbeiter des Vertriebs wurden in den Planungsund Entwicklungsprozeß integriert, um über Anwenderwünsche und -probleme Auskunft zu erhalten. Der Vorstand war während des gesamten Innovationsprozesses involviert.

34 Die Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG besitzt kein archivwissenschaftlich erschlossenes Unternehmensarchiv. Dennoch existiert eine Vielzahl von Quellen zu den Innovationsbedingungen der beiden flexiblen Fertigungszellen. Hierzu zählen: Firmenprospekte, Bildmaterialien, Statistiken, Forschungsberichte sowie Veröffentlichungen leitender Mitarbeiter. Insbesondere die Veröffentlichungen von Helmut Hammer, ehemals Vorstandsmitglied des Unternehmens enthalten wertvolle Hinweise über diese Maschinensysteme. Weitere Unterlagen zur Firmengeschichte befinden sich im Landesarchiv Berlin, im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv, im Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität Berlin sowie im Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik. Ferner liegen eine Reihe von Dissertationen vor, die in Kooperation mit Fritz Werner entstanden sind, s. v. a.: Seliger, G., Wirtschaftliche Planung und automatisierte Fertigungssysteme, München/Wien 1983; Vieh weger, B., Planung von Fertigungssystemen mit automatisiertem Werkzeugfluß, München/Wien 1985. 35

Hammer, H., Entwicklung und Stand von flexiblen Fertigungssystemen, in: Information Fritz Werner, o. O., o. J., S. 1.

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Auch Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) sowie der Firma Procam, eine Ausgründung des IPK, beteiligten sich am Planungs- und Entwicklungsprozeß. Das IPK leistete vor allem in der konzeptionellen Phase, im Bereich der Simulation 36 und bei der Erstellung eines Angebotsystems erhebliche Entwicklungsbeiträge, während ergänzend die Firma Procam vor allem die Rechnertechnik, das Kernstück des neuen Systems, in Zusammenarbeit mit Fritz Werner entwickelte.37 Der kurze Innovationsprozeß dieser flexiblen Fertigungszellen läßt sich im wesentlichen auf die vorhandenen personellen und fertigungstechnischen Potentiale38 bei Fritz Werner und auf die intensive Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, insbesondere mit dem Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik, zurückführen. 39 Von der flexiblen Duplexzelle DFZ 400 konnten aufgrund ihrer fehlenden Ergänzungsfähigkeit nur zwei Modelle verkauft werden, während die Entwicklung des Transfer-Centers TC 630, vor allem durch die systemimmanente Erweiterungsmöglichkeit hin zu komplexen flexiblen Fertigungssystemen mit mehreren Transfer-Centern 40, ein „Verkaufserfolg" wurde. 41 Weitere wichtige Kennzeichen dieses Maschinentyps, die den Erfolg begründeten, waren die Kompaktbauweise, die kleine Aufstellfläche, die leichte Bedienbarkeit, eine hohe Antriebsleistung, kurze Nebenzeiten, eine hohe Eilganggeschwindigkeit sowie ein stationäres Werkzeugmagazin als Kettenmagazin auf separatem Ständer. Auch die große Werkzeugspeicherkapazität mit 60 oder 72 Werkzeugplätzen und die sehr hohe Bearbeitungsgenauigkeit und Zuverlässigkeit des Gesamtsystems stellten nicht nur wichtige Verkaufsargumente dar, sondern verbesserten auch nachhaltig die Wettbewerbsposition. Der Einsatzbereich der verschiedenen Transfer-Center lag in der Nähmaschinenproduktion, in der Automobil- (VW, MAN), Textilmaschinen- und Flugzeugindustrie, wobei sie vor allem in der Kleinserienfertigung ihren Anwendungsbereich fanden. 42 Mit Hilfe der flexiblen Fertigungszelle, vor allem durch die automatische Werkzeug- und Werkstückversorgung, konnte der Personaleinsatz um zwei Drittel redu36

Im Rahmen der Auslegungsplanung für die Fertigungszellen wurden Simulationsuntersuchungen zur Bestimmung der technisch erreichbaren Nutzungsgrade durchgeführt. Nähere Angaben finden sich in: Seliger, S. 110 ff. 37 Interview mit Dr. B. Viehweger vom 14. 7. 1994, Entwicklungschef der Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG, Berlin. 3 8 Die Maschine, das Transfer-Center war vorhanden, es ging in erster Linie um die Entwicklung der Systemkomponenten. 39 Interview mit Dr. B. Viehweger vom 14. 7. 1994, Entwicklungschef der Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG, Berlin. 40 Das Transfer-Center TC 630 erlaubte als Basismaschine den Ausbau zu verschiedenen flexiblen Fertigungssystemen. 41 Interview Dr. B. Viehweger 14. 7. 1994. « Ebda.

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ziert, die Nutzungsquote auf 90 Prozent gesteigert und die Stückkosten um mehr als ein Drittel reduziert werden. 43 Die Investitionen für eine Duplexzelle lagen bei 1,5 Mio. DM, so daß sich der Investitionsaufwand für eine derartige Fertigungszelle gegenüber drei handbedienten Zentren um weniger als 10 Prozent erhöhte. 44 Das Entscheidende an dieser Innovation bestand in dem rüstzeitfreien Auftragswechsel, der nur mit Hilfe der erstmals verwirklichten vollintegrierten automatischen Werkzeugversorgung durch Rechnersteuerung möglich war. In diesem Zusammenhang führte Hammer aus: „Wir nutzen bei unseren flexiblen Fertigungssystemen lediglich die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung." 45 Festhalten läßt sich, daß die Basis der Neuentwicklung ein standardisiertes, umfassendes Softwarepaket war, das den gesamten äußerst komplexen Informationsfluß zwischen den adaptierten CNC-Steuerungen, dem Handhabungsgerät und dem Einstellungszentrum für die Zerspanwerkzeuge durch einen übergeordneten Zellenrechner kontrollierte. Für die Informationen im Zellenrechner mußte eine spezielle Datenbank aufgebaut werden. Hierzu führte Hammer aus: „Das bedingte eine ganz neue Rechnerarchitektur - wir mußten eine Datenbank aufbauen, die sämtliche Informationen für die Versorgung der Zentren nach einem Grob- und einem Feinfahrplan mitsamt den Ausfallstrategien bis ins Detail enthält." 46 Die Anwendung von flexiblen Fertigungssystemen beschränkte sich 1985 überwiegend auf Pilotanlagen.47 Darüber hinaus existierten einige wenige Systeme, die nach langwierigen Anlauf- und Lernphasen die Anforderungen hinsichtlich Produktivität und Wirtschaftlichkeit erfüllten. Investitionen in derartige Produktionseinrichtungen wurden immer wieder u. a. mit dem Erwerb des Know-How gerechtfertigt. Trotzdem war ein großes Interesse von allen Seiten an flexibler Fertigung zu verzeichnen. 48 Der Aufbau flexibler Fertigungseinrichtungen war durch hohe Investitionen, vor allem in periphere Einrichtungen, gekennzeichnet. Der Kostenfaktor „Personal" nahm immer mehr ab, so daß tendenziell der Anteil der Fixkosten an den Gesamtkosten zunahm. Die Kostenveränderungen führten zu einem insgesamt flacheren Verlauf der Kostenkurven. Die Abhängigkeit von Stückzahlschwankungen einzelner Produkte wurde geringer, der Zwang zu einer hohen Gesamtstückzahl verstärkte sich jedoch. Gleichzeitig änderten sich die Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter, denn flexible Fertigungssysteme erforderten ein wesentlich 43

Kromberg, J., Berliner Brain. Rechnerintelligenz reduziert Stückkosten an Bearbeitungszentren um mehr als ein Drittel, erhöht Nutzungszeit um mehr als die Hälfte. Sonderdruck aus: NC Fertigung, H. 2 (Mai 1983), S. 2. 44

Hammer zitiert nach: Kromberg, S. 3. « Ebda. 4

* Ebda. Schmidt, H./Erkes, K., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 127. Jg. (1985), Nr. 15/16, S. 591-600, hier: S. 598. 48 Ebd., S. 599. 47

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besser ausgebildetes Personal als konventionelle Fertigungsanlagen. Auf dem Gebiet der Ausbildung und Schulung von Mitarbeitern herrschte Mitte der achtziger Jahre noch großer Nachholbedarf. 49 Nach der 6. Europäischen Werkzeugmaschinen-Ausstellung 1986 in Hannover wurde von einer breiten Offensive in Richtung einer Anwendung von flexiblen Fertigungssystemen gesprochen50, obwohl in einer Untersuchung aus dem Jahre 1985 die Zahl der weltweit installierten flexiblen Fertigungssysteme mit 157 immer noch relativ niedrig angegeben wurde. Auffällig war auf der 6. EMO die Tatsache, daß sich die Systemkonzeptionen in den vorangegangenen Jahren geändert hatten. Während Systeme, die in den siebziger Jahren installiert wurden, meist mehrstufige Fertigungssysteme mit begrenzter Teilevielfalt waren, überwogen Mitte der achtziger Jahre flexible Fertigungssysteme mit universelleren, sich ersetzenden Maschinen und einer größeren Anzahl unterschiedlicher Werkstücke. Mitte der achtziger Jahre rückte die umfassende Betrachtung der Fertigung und des ganzen Betriebes stärker in den Mittelpunkt. Die automatisierte Fabrik wurde systemtechnisch als eine Einheit stark strukturierter Funktionsblöcke angesehen, für deren Zusammenspiel ein Datenverbund zwischen allen Bereichen eines Unternehmens notwendig war. Aufgrund der Tatsache, daß zur Optimierung der Produktionsplanung, der Fertigungssteuerung, der Planung und Steuerung von Logistikfunktionen sowie zum Betrieb der Bearbeitungskomponenten ständig mehr Rechner zum Einsatz kamen, entstand neben der rein mechanischen Fertigungsstruktur eine zweite, systemtechnisch beschreibbare Struktur: die Rechnerstruktur. Erfahrungen mit flexiblen Fertigungssystemen in der Bundesrepublik wurden 1986 in einer Studie51 untersucht. Danach ging der anfängliche Trend in den siebziger Jahren eindeutig zu großen flexiblen Fertigungssystemen, dann Anfang der achtziger Jahre zu flexiblen Fertigungszellen (FFZ) und kleineren Systemen, die mit bis zu fünf Maschinen, vor allem Bearbeitungszentren, ausgestattet waren. Die Analyse der durch FFS/FFZ ersetzten konventionellen Fertigung zeigt, daß diese Systeme wegen abnehmender Losgröße und steigender Variantenvielfalt, mithin zur Erhöhung der Flexibilität, nur in 11% der Fälle installiert wurden. Entscheidend war vielmehr der Aspekt der Produktivitätssteigerung, da man mit diesen Systemen mehrschichtig, teilweise auch ohne Bedienpersonal, fertigen konnte. 52 Zwar waren bereits zahlreiche flexible Fertigungssysteme im In- und Ausland bekannt und wurden auch beschrieben, doch machten sie im Vergleich zur industriellen Fertigung insgesamt auch 1987 nur einen Bruchteil der im Einsatz befind49 Ebd., S. 600. so Ebd., S. 581. 51

Fix-Sterz, J./Lay, G./Schultz-Wild, R., Flexible Fertigungssysteme und Fertigungszellen - Stand und Entwicklungstendenzen in der BRD, in: VDI-Z 128. Jg. (1986), Nr. 11, S. 369-379. 52 Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 128. Jg. (1986), Nr. 15/16, S. 581-594, hier: S. 589.

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liehen Produktionsmittel aus. So betrug der Anteil der CNC-Maschinen in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr nicht mehr als etwa 8 Prozent. 53 Prognosen aus dem Jahre 1988 gingen von einem steigenden Bedarf für flexible Fertigungssysteme aus. Danach sollte sich der mit flexiblen Fertigungssystemen zu tätigende Umsatz in Europa bis 1993 mehr als verdreifachen, wobei hiervon 35% in der Bundesrepublik erzielt werden sollten. Allerdings scheiterte der Einzug dieser Systeme in mittelständische und kleinere Unternehmen immer noch am unzureichenden Wirtschaftlichkeitsnachweis der mit hohen Investitionen behafteten automatisierten Fertigungseinrichtungen. 54 Die ausgehenden achtziger Jahre brachten keine wesentlichen maschinenseitigen Neuentwicklungen, vielmehr fielen Detaillösungen bei den peripheren Einrichtungen auf. So wies die Entwicklung der flexiblen Fertigungssysteme in den achtziger Jahren eine Verlagerung der Aktivitäten vom Ausgestalten der Bearbeitungsaufgabe bzw. der Fertigungsoperationen im System hin zur Auslegung von systemtauglichen Handhabungs- und Verkettungskomponenten auf. 55 Insgesamt konnte zum Ende der achtziger Jahre von einer Trendverschiebung weg von standardisierten „FFS von der Stange" hin zu individuellen, maschinenbaulichen und informationstechnischen Detaillösungen gesprochen werden. 56

E. Flexible Fertigungsautomatisierung in der DDR In den siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich sowohl die Werkzeugmaschinenproduktion als auch die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit in der DDR im wesentlichen auf drei Großkombinate, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre gebildet worden waren. 57 Hierbei handelte es sich um: 1. Das Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert", Karl-Marx-Stadt, für die Fertigung von Werkzeugmaschinen zur spanenden Bearbeitung prismatischer Werkstücke mit den Fertigungsverfahren Fräsen, Hobeln, Flachschleifen und Bohren.

53 Schmidt, H./Erkes, K., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDIZ 129. Jg. (1987), Nr. 8, S. 48-62, hier: S. 59. 54 Erkes, K./Schönheit, M./Wiegershaus, U., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 130. Jg. (1988), Nr. 9, S. 62-77, hier: S. 78. 55 Steinhilper, R., Flexible Fertigungssysteme für die neunziger Jahre, in: VDI-Z 131. Jg (1989), Nr. 3, S. 36-42. 56 Schönheit, M./Wiegershaus, U., Fachgebiete in Jahresübersichten: Flexible Fertigung, in: VDI-Z 131. Jg. (1989), Nr. 9, S. 49-64. 57 Wießner, K., Aspekte der sozialistischen Rationalisierung im Werkzeugmaschinenbau der DDR nach der Bildung sozialistischer Industriekombinate. VEB Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" Karl-Marx-Stadt 1970 bis 1978, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1983/III, S. 29-50, hier: S. 30.

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2. Das Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober", Berlin, für die Fertigung von Werkzeugmaschinen zur spanenden Bearbeitung von rotationssymmetrischen Werkstücken mit den Fertigungsverfahren Drehen, Fräsen, Schleifen und Feinstbearbeitung. 3. Das VEB Werkzeugmaschinenkombinat Umformtechnik „Herbert Warnke", Erfurt, für die Fertigung von Werkzeugmaschinen zur Massivumformung metallischer Werkstücke sowie die Blechformung. 58

Die Konstituierung der Werkzeugmaschinenkombinate hatte zunächst damit begonnen, daß im Jahre 1967/68 Werkzeugmaschinenbetriebe mit gleicher oder ähnlicher Erzeugnisstruktur zu kleinen Kombinaten zusammengefaßt worden waren. Im weiteren sollten Werkstücke mit ähnlichen geometrischen und fertigungstechnischen Parametern zu größeren Fertigungslosgrößen zusammengefaßt werden. 59 Im Jahre 1970 war die Gründungsphase der drei Werkzeugmaschinenkombinate abgeschlossen. Die Bildung der Werkzeugmaschinenkombinate stellte eine grundlegende Zäsur im Bereich der Leitung und Produktionsorganisation der ostdeutschen Werkzeugmaschinenindustrie dar. Die Errichtung der Kombinate führte sowohl zur Auflösung der Vereinigung Volkseigener Betriebe Werkzeugmaschinen und Werkzeuge (VVB WMW) als auch zur Auflösung der Vereinigung Volkseigener Betriebe Werkzeuge, Vorrichtungen und Holzbearbeitungsmaschinen (VVB WVH), dem größten Zulieferer der Werkzeugmaschinenindustrie. Verschiedene Betriebe dieser VVB bildeten zusammen mit Betrieben des Industriezweiges Eisen-, Blech- und Metallwaren das Werkzeugmaschinenkombinat Schmalkalden, das ebenfalls, im Gegensatz zur Bundesrepublik, zum Werkzeugmaschinenbau gerechnet wurde, so daß insgesamt vier Werkzeugmaschinenkombinate den DDR-Werkzeugmaschinenbau repräsentierten. Die Kombinate unterstanden bei ihrer Gründung zunächst dem Ministerium für Verarbeitungs- und Fahrzeugbau und seit 1973 dem Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau. 60 Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Rechner und der numerischen Steuerungstechnologie, die die Möglichkeit boten, komplexe Fertigungsprozesse der Klein- und Mittelserienfertigung zu automatisieren, forcierte die politische Führung Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Realisierung von flexiblen Fertigungssystemen. Zu den Entwicklungszentren dieser neuen Technologie zählte, neben dem Forschungszentrum des Werkzeugmaschinenbaus und dem Stammbetrieb des Werk58

Zu den Werkzeugmaschinenkombinaten der DDR siehe auch: Schwartau, C., Der Werkzeugmaschinenbau in der DDR, in: DIW-Wochenbericht Nr. 29/1982, S. 384-389 sowie derselbe: Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau, in: Materialien zur Lage der Nation im geteilten Deutschland 1987, Teil B. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1987, S. 371-374. 59 Wießner, S. 32. 60 Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BArchP), DG 9, Angaben: Frau Rauschenbach (Verantwortlich für die Außenstelle Ruschestr.) 1994.

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zeugmaschinenkombinats „7. Oktober", der Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert". Im Fünfjahrplan 1970-1975 erhielt das Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert"umfangreiche Investitionsmittel, um die Entwicklung der Werkzeugmaschinentechnologie voranzutreiben sowie die Produktion zu optimieren. 61 Diese Mittel flössen vor allem in die Erweiterung der Fertigungstiefe des Kombinats, hier vor allem in den Neubau einer Graugußgießerei in Meuselwitz und in die Errichtung neuer Fertigungskapazitäten im VEB Mikromat Dresden, um von weiteren Zulieferungen in diesen Bereichen unabhängig zu werden. Daneben kamen diese auch der Entwicklung von „Schwerpunktvorhaben der Produktionsrationalisierung" zugute.62 Die Investitionen konzentrierten sich zudem auf Projekte, die fertigungstechnisches Neuland beschritten. Hierunter fiel die Entwicklung und Errichtung des rechnergesteuerten Maschinensystems, eines flexiblen Fertigungssystems, mit dem Namen „Prisma 2", das sowohl ein automatisches Werkstück als auch Werkzeugflußsystem aufwieß. Die Notwendigkeit, in zunehmenden Maße auch im metallverarbeitenden Bereich verschiedene kleine Losgrößen flexibel zu fertigen, führte nicht nur im Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert" zur Realisierung flexibler Fertigungseinheiten, sondern auch im Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats „7. Oktober", das mit der Entwicklung des flexiblen Fertigungssystems Rota-FZ-200 die zweite Säule flexibler Fertigungsautomatisierungstechnologie in der DDR bildete. 63 Die Entwicklung und Errichtung des flexiblen Fertigungssystems Prisma 2 für die Bearbeitung werkstückmaschinenspezifischer kastenförmiger Werkstücke für die Fertigung von Fräsmaschinen im Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert" wurde Ende 1968 beschlossen. Die Pilotanlage entstand nach drei Jahren durch die Zusammenarbeit von Betrieben des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert", der Elektrotechnik und Elektronik, des Feingerätebaues, der Meßtechnik und der Optik. Die letzte Ausbaustufe von Prisma 2 erreichte man jedoch erst im Jahr 1974. Das Forschungszentrum des Werkzeugmaschinenbaus, das aus dem Institut für Werkzeugmaschinen hervorgegangen war und seit 1970 zum Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" gehörte, trug einen nicht unwesentlichen Anteil an der Systementwicklung.64

61 Wießner, S. 35. 62 Ebd., S. 36. 63 Ganz allgemein läßt sich festhalten, daß es sich bei einem flexiblen Fertigungssytem um den Verbund unterschiedlicher Automatisierungsmittel, angefangen bei den Maschinenund Transportmittelsteuerungen, über Werkzeugmaschinen bis hin zu Leitrechnern einschließlich Peripherie handelt. 64 Hierzu die Ausführungen von Russig, Α., Profil durch Tradition und Leistung. 30 Jahre FZW Beitrag zur Werkzeugmaschinenforschung in der DDR, Karl-Marx-Stadt 1986,S. 105.

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Das flexible Fertigungssystem Prisma 2 war technologisch so konzipiert, daß 16 unterschiedliche Werkstücke automatisch gefertigt werden konnten. Der Fertigungsprozeß war in folgende Operationen unterteilt: Schruppbearbeitung, Schlichtbearbeitung, Schnittzustelloptimierung, Aufmaßmessung, Werkstückbehandlung, Auf-, Ent- und Abspannen, Entspannen, Waschen und Kühlen, Qualitätskontrolle sowie Ver- und Entsorgung. Das System umfaßte ein Werkzeugsortiment von 300, vorwiegend hartmetallbestückter Werkzeuge. Der grundlegende Vorteil dieses Fertigungssystems bestand in der Arbeitsproduktivitätserhöhung durch die wesentlich längeren Maschinenlaufzeiten der im System integrierten numerisch gesteuerten Bearbeitungszentren. Das System wurde über zwei miteinander korrespondierende Rechner gesteuert. Beim automatischen Werkstückflußsystem kamen Transportpaletten mit werkstückspezifischen Vorrichtungen zum Einsatz. Das System, das über 13 Jahre im Einsatz war, erreichte nach Angaben von Russig eine Auslastung von 82 bis 85 Prozent. 65 Die Entwicklung und Fertigstellung des flexiblen Fertigungssystems Prisma 2 steht in einem engen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Gründung des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert". Im Herbst 1966 hatte das Politbüro des ZK der SED die schrittweise Bildung von volkseigenen Kombinaten beschlossen, mit dem Ziel, die Produktion der verschiedenen Werkzeugmaschinenbetriebe „durchgängig zu rationalisieren, zu spezialisieren und zu konzentrieren sowie ihre Kräfte und Mittel für die Forschung und Entwicklung zu vereinen". 66 Am 1. August 1968 wurde auf der Grundlage eines im ersten Halbjahr desselben Jahres ausgearbeiteten Modells zur Konzentration der Produktion im Fräsmaschinenbau, das Fräsmaschinenkombinat „Fritz Heckert" gebildet. Das neue Kombinat setzt sich zunächst aus den vier Betrieben Fritz Heckert Werk, Werna Auerbach, Werna Thun und Werna Aschersleben zusammen. Zum Direktor des Werkzeugmaschinenkombinats und gleichzeitig zum Werkdirektor des Stammbetriebes wurde Werner Richter berufen. Auf der Gründungsversammlung stellte er das Aufgabengebiet des Kombinats wie folgt vor: „Die Hauptaufgabe des Kombinats besteht in der Entwicklung, der Produktion und dem Absatz der strukturbestimmenden Haupterzeugnisse, die zum größten Teil mit numerischer Steuerung gefertigt werden". 67 Nur knapp zwei Monate nach der Gründung des Werkzeugmaschinenkombinats fand am 3. Oktober 1968 eine Sitzung mit Vertretern der SED, den Direktoren und Haupttechnologen der Kombinatsbetriebe mit dem Ziel statt, zum 20. Jahrestag der DDR ein zentrales Automatisierungsvorhaben durchzusetzten, wobei das Pro65 Ebd., S. 106. 66 Schubert, K. H., Heckert Werker machen Geschichte. Betriebsgeschichte des VEB Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" Karl-Marx-Stadt-Stammbetrieb 1885-1985. Autorenkollektiv unter Leitung von Karl-Heinz Schubert, Berlin 1987, S. 182. 67 Betriebsarchiv Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert: Fritz Heckert Werk (FHW), Archivmaterialien, 13826.

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jekt innerhalb von 12 Monaten im Stammbetrieb des Werkzeugmaschinenkombinats realisiert werden sollte. Die Vorstellungen richteten sich zum einen auf die Entwicklung eines NC-Bearbeitungszentrums im Fertigungsbereich Apparatebau und zum anderen auf die Verwirklichung einer Konsolfräsmaschinen-Fließmontage. Ende 1968 wurden diese Überlegungen in eine Konzeption „zur Führung des Wettbewerbs 1969/70 im Kombinat „Fritz Heckert" umgesetzt". Hierbei ging es vor allem, wie schon so oft zum Programm erhoben und doch selten im ursprünglichen Sinne realisiert, „um Spitzenleistungen bei der Meisterung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Erfüllung aller Vertrags Verpflichtungen." 68 Einer der zentralen Schwerpunkte der neuen Konzeption war die Konstruktion eines Fertigungssystems „Prisma". 69 Für die weitere Entwicklung des ostdeutschen Werkzeugmaschinenbaus, des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert" und insbesondere für das flexible Fertigungssystem Prisma, stellte die Industriezweigkonferenz des ZK der SED und des Ministerrates der SED in Oelsnitz am 13. und 14. Februar 1969 die Weichen. Dem Industriezweig Verarbeitungsmaschinen und Fahrzeugbau wurde die Aufgabe übertragen, seine Produktion bis 1975 gegenüber 1967 auf das 2,5fache zu steigern und etwa im gleichen Verhältnis die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Um dieses Ziel zu erreichen, orientierten sich die Perspektivplanziele der Konferenz „auf die Durchsetzung der planmäßigen und systematischen Automatisierung ganzer Produktionsabschnitte, die Durchsetzung der Konzentration von Forschung und Entwicklung zur Erzielung von Weltspitzenleistungen, insbesondere bei der Entwicklung von komplexen Maschinensystemen, den rationellen Einsatz von EDV-Anlagen für Leitung und Planung der Betriebe sowie für die Automatisierung und Rationalisierung der konstruktiven und technologischen Vorbereitung und der Steuerung der Produktion, schließlich auf die Durchsetzung des Konzentrationsprozesses zur Herausbildung der sozialistischen Großproduktion und der dazu notwendigen Organisationsformen." 70 Auf der Grundlage der Oelsnitzer Beschlüsse legte die Betriebsparteiorganisation des Stammbetriebes des Werkzeugmaschinenkombinats im April 1969 eine Entschließung vor, die eine neue Entwicklungsphase des Kombinats einleitete. Neben der Veränderung der Kombinatsstruktur war ein grundlegender Bestandteil der Entschließung die Entwicklung eines Fertigungssystems Prisma zur automatischen Bearbeitung prismatischer Teile. 71 Die Umsetzung der politischen Vorstellungen zur wirtschaftlichen, organisatorischen und vor allem technologischen Neuausrichtung des Industriekombinats 68 Schubert, S. 183. 69 Betriebsarchiv Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert: FHW, Archivmaterialien, 10892. 70 Schubert, S. 185. 71 Betriebsarchiv Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert: FHW, Archivmaterialien, 10627.

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„Fritz Heckert" übertrug man einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Generaldirektors der VVB WMW, Winter. Zur Arbeitsgruppe gehörten ferner der stellvertretende Kombinatsdirektor des Fräsmaschinenkombinats „Fritz Heckert", Köhler, der Kombinatsdirektor des 1968 gegründeten Kombinats Bohrmaschinen, Wiese, und Vertreter der Vereinigung Volkseigener Betriebe des Werkzeugmaschinenbaus, des Instituts für Werkzeugmaschinen (IfW), der Kombinatsbetriebe, von Universitäten, Hochschulen und Instituten, der Staatsbank und des Außenhandelsbetriebs.72 Durch den Minister für Verarbeitungsmaschinen- und Fahrzeugbau, Georgi, wurde der Leiter der Arbeitsgruppe, Winter, mit der Leitung des Kombinatsbetriebes beauftragt. 73 Das Maschinensystem Prisma 2 wurde wie folgt charakterisiert: „Mit dem Maschinensystem 'Prisma Τ entsteht gleichzeitig ein für den Werkzeugmaschinenbau völlig neues Fertigungsprinzip. Die Werkstücke werden zur Bearbeitung auf Paletten gespannt und durchlaufen automatisch über ein von Linearmotoren getriebenes Transportsystem sämtliche notwendigen Bearbeitungs- und Zwischenstationen. Der gesamte Durchlauf einschließlich der optimalen Auslastung der einzelnen Stationen wird über einen zentralen Rechner gesteuert. Prisma 2 ist praktisch schon 1971 eine Erstlösung der flexiblen, automatischen Fertigung." 74 Doch während der nächsten Jahre zeigte sich immer wieder, daß die Steuerungstechnologie des Systems noch nicht ausgereift war. Hohe Stillstandszeiten, ein enormer Instandhaltungsaufwand und Probleme bei der Aufrechterhaltung des kontinuierlichen Betriebes bedingten, daß das System nicht zu einem „Exportschlager" wurde. Obwohl die Entwicklung und konstruktive Umsetzung des Systems für die frühen siebziger Jahre außergewöhnlich und beachtenswert war, erfuhr das System Prisma 2 keine Verbreitung. Neben dem flexiblen Fertigungssystem Prisma 2 stellte die Entwicklung des Fertigungssystem ROTA-FZ-200 des Werkzeugmaschinenkombinats „7. Oktober" eine weiteres Beispiel für die Entwicklung der flexiblen Fertigungstechnik in der DDR dar. Das flexible Fertigungssystem ROTA-FZ-200 wurde zwischen 1970 und 1972 als ein stufen weises flexibles Fertigungssystem für die Fertigung von Stirnrädern 75 in der Klein- und Mittelserienfertigung entwickelt. Im Gegensatz zum Modell Prisma 2, das nur ein einziges Mal realisiert wurde, konnte dieses System mehrfach hergestellt und verkauft werden. Ausgelegt war das Maschinensystem für die Herstellung von 270000 Stirnrädern pro Jahr mit rund 70 unterschiedlichen Positionen, teilweise mit Innenprofil und Innenverzahnung. Das System setzte sich aus 63 Bearbeitungsstationen zusammen, 72

Betriebsarchiv Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert: FHW, ebd., Κ 26. Schubert, S. 188. 14 Ebd., S. 204 f. 73

75 Mit diesem System konnten Stirnräder folgender Abmessungen hergestellt werden: Außendurchmesser 60 bis 200 mm, Radlänge 12 bis 100 mm, Zahnbreite 12 bis 70 mm, Modul 1,5 bis 4 mm.

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die auf beiden Seiten einer Transportbahn und der Speicherregale angeordnet waren, wobei ein Querlager mit 220 Speicherplätzen beide Maschinenstränge verband. 76 Die steuerungs-, fertigungs- und arbeitsorganisatorische Integration von 63 Bearbeitungsstufen stellte eine der größten Herausforderungen für die Werkzeugmaschinenindustrie jener Jahre dar. Für die Fertigungsstufen Drehen, Bohrungs- und Planschleifen, Wälzfräsen, Schlagentgraten, elektromechanisches Entgraten, Schaben und Räumen standen 52 Bearbeitungsstationen zur Verfügung, die mit Werkstückwechsel und Palettentakteinrichtungen ausgestattet waren, so daß die Möglichkeit bestand, Werkstückpaletten mit 24 oder 48 Werkstücken fortlaufend automatisch zu bearbeiten. Neben den schon genannten Fertigungsstationen, zeichnete sich das System durch drei automatisch beschickte Waschmaschinen, zwei Prüfplätze, zwei Flachschleifmaschinen sowie vier Bohrungsschleifmaschinen mit manueller Beschickung aus. Die Funktions- und Leistungsfähigkeit des gesamten Systems wurde nachhaltig durch die Fertigungssteuerung bestimmt, die das Herz der Anlage bildete. Im System wurden zwei gekoppelte Prozeßrechner vom Typ KRS 4201 mit Trommelspeicher zur Steuerung eingesetzt. Das Programmsystem setzte sich aus 35 Steuerprogrammen sowie 78 Serviceprogrammen zur Systembedienung zusammen. Nachdem das System installiert worden war, benötigte man noch ein halbes Jahr, um die vollständige Funktionsfähigkeit der automatischen Steuerung herzustellen. 77 Nach Fertigstellung der flexiblen Fertigungssysteme Rota FZ 200 und Prisma 2 wurde zwischen 1972 und 1983 der weiteren Entwicklung flexibler Fertigungssysteme von der politischen Führung keine Priorität mehr eingeräumt. Die Forschungs· und Entwicklungsanstrengungen richteten sich in diesen Jahren in erster Linie auf die Vervollkommung von Bearbeitungszentren zur Fertigung prismatischer Werkstücke 78 sowie auf die Erhöhung der Produktion mit der vorhandenen Technologie. Kostspielige „fertigungstechnologische Abenteuer", wie sie noch unter Ulbricht möglich waren, sollten vermieden werden. Die vorhandenen Kapazitäten wurden für eine die Erhöhung der Ausbringungsmenge genutzt. Ab Mitte der siebziger Jahre verlagerte sich die Entwicklung des Werkzeugmaschinenbaus besonders durch „Maßnahmen zur Gewährleitung einer allseitigen intensiven Nutzung der in den Vorjahren neugeschaffenen Produktionskapazitäten" 79 , d. h. eine Abkehr von Entwicklungsschwerpunkten hin zur Nutzung des vorhandenen Maschinenparks zur quantitativen Produktionssteigerung. Erst seit Anfang der achtziger Jahre wandte sich das Politbüro wieder der Entwicklung flexibler Fertigungssysteme zu, denn um weiterhin auch in den Westen liefern zu 76 77 78 79

Eine Abbildung dieses Maschinensystems finden sich in: Russig, S. 108 ff. Ebd., S. 110. Wießner, S. 37. Ebd., S. 38.

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können, mußte man fertigungstechnisch, konstruktiv und vor allem auch informationstechnisch auf die dortigen Marktbedingungen reagieren. Der zunehmend steigende Ausstattungsgrad der Werkzeugmaschinen und die Anforderungen individueller Kundenwünsche wirkten der Entwicklung des für eine arbeitsteilige Produktion notwendigen Seriencharakters entgegen. Die Seriengrößen stagnierten oder gingen bei einigen Sortimenten sogar zurück. 80 Diese Entwicklung führte dazu, daß Gegenstand und Ziel der Automatisierungsbemühungen des DDR-Werkzeugmaschinenbaus seit 1983 sich zunehmend auf die Entwicklung und den Einsatz von flexiblen Fertigungssystemen richteten. Hierbei versuchte man an die Entwicklung anzuschließen, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre begonnen hatte, doch rund zehn Jahre nicht weiterverfolgt worden war. Zunächst rückten mikroelektronisch 81 gesteuerte Werkzeugmaschinen und dann etwa seit Mitte der achtziger Jahre zunehmend auf dieser neuen Steuerungstechnologie basierende Bearbeitungszentren sowie Fertigungszellen in den Mittelpunkt der Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen der ostdeutschen Werkzeugmaschinenindustrie. Mit dem Politbürobeschluß vom 22. März 1983, der mit der Aufgabe „zur beschleunigten Realisierung von 12 automatisierten Fertigungsabschnitten" 8 2 die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Entwicklung flexibler Fertigungssysteme in der DDR schuf 83 , reagierte die politische Führung der DDR auf die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen der letzten Jahre. Für die Realisierung der 12 Automatisierungsvorhaben wurden insgesamt 454,4 Mio. DMOst bereitgestellt, von denen 44,4 Mio. für Baumaßnahmen und 377,9 für technologische Ausrüstungen vorgesehen waren. Die 12 Automatisierungsvorhaben der metallverarbeitenden Industrie, zu denen der Werkzeugmaschinenbau die fertigungstechnischen Grundlagen bereitstellte, sollten in folgenden Kombinaten und Betrieben verwirklicht werden: 1

VEB Elektromotorenbau Dresden Ost des VEB Kombinats Elektromaschinenbau (Gleichstromstellmotore).

2

VEB Elektromotorenwerk Dessau des VEB Kombinats Elektromaschinenbau (Nähmaschinenstoppmotoren).

so Ebd., S. 43. 81 Mit Beginn der achtziger Jahre verzeichnete die Fertigungsautomatisierung, insbesondere durch die Verfügbarkeit von Robotron-Rechnern (Mikrorechnersysteme Kl520/1530 und Κ1620/1630), gegenüber den schleppenden Fortschritten im Verlauf der siebziger Jahre eine spürbare Entwicklungsdynamik. 82 Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau (MWV), Weisung Nr. 4/85 vom 25.1. 1985 des Ministers (VD 34.1/6/85). BArchP, DG 9/191.90, Bl. 2. 83 Bericht über den Stand der Durchführung des Politbürobeschlusses vom 22. 03. 83 zu den automatisierten Fertigungsabschnitten in der mvl und Vorschläge zur Sicherung der Inbetriebnahme von Automatisierungsvorhaben zu Ehren des 35. Jahrestages der DDR, 15. 06. 84, S. 1. BArchP, DG 9/192.90.

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3

Stammbetrieb des VEB Kombinats ORSTA-Hydraulik Leipzig (Servo- und Proportionalventile).

4

VEB Hydraulik Rochlitz des VEB Kombinats ORSTA-Hydraulik Leipzig (Hydraulische Arbeitszylinder).

5

VEB Getriebewerk Kirschau des VEB Kombinat Landmaschinen Fortschritt (Getriebegehäuse für Landmaschinen).

6

VEB Getriebewerk Brandenburg des VEB Kombinats Nutzkraftwagen (Getriebegehäuse für Nutzkraftwagen).

7

VEB Druckmaschinenwerk Planeta Radebeul des VEB Kombinats Polygraph (Seitenwände für Druckmaschinen).

8

Stammbetrieb des VEB Werkzeugkombinats Schmalkalden (Mähmesserklingen).

9

VEB Hartmetallwerk Immelborn des VEB Werkzeugkombinats (Genauigkeitswendeschneidplatten).

10 VEB Maschinenfabrik Meuselwitz des VEB Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Hekkert" (Prismatische Großteile). 11 Stammbetrieb des VEB Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert" (Prismatische Teile). 12 VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik des VEB „7. Oktober" (Technologische Einheit Drehen). 84

Werkzeugmaschinenkombinat

Nach Einschätzung der Abteilung Automatisierungsvorhaben des Ministeriums für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau bildeten Mitte Juni 1984 „die im Entstehen befindlichen automatisierten Fertigungsabschnitte eine solide Basis für die Durchsetzung des erforderlichen marktorientierten Strukturwandels des DDRWerkzeugmaschinenbaues und wichtiger Zulieferbereiche." Ziel der Automatisierungsvorhaben war es, Beispiellösungen zu schaffen, „deren Merkmale ein hoher Automatisierungsgrad, Flexibilität in der Bearbeitung eines breiten Teilespektrums und eine effektive Integration in den betrieblichen Reproduktionsprozeß sowie die Referenztätigkeit für den Export waren." 85 Die Inbetriebnahme der Gesamtsysteme bzw. spezifischer Teilabschnitte der flexiblen Fertigungssysteme der ersten fünf Automatisierungsvorhaben war für den Zeitraum Juni 1984 bis zum 7. Oktober 1984 vorgesehen. Hierzu gehörten die folgenden Projekte: 1. Mähmesserklingenfertigung Schmalkalden, 2. Stammbetrieb Servo- und Proportionalventile ORSTA-Hydraulik Leipzig, 3. Seitenwände für Druckmaschinen Planeta Radebeul, 84 Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau, Abteilung Automatisierungsvorhaben der mvl, Einschätzung des Standes bei der Durchführung des Politbürobeschlusses zu den 12 automatisierten Fertigungsabschnitten der mvl und weitere Schlußfolgerungen zur Sicherung der inhaltlichen und terminlichen Zielsetzungen, Berlin, den 18. 4. 1984, S. 1 f. der Anlage. BArchP, DG 9/192.90. 85 MWV, Bericht über den Stand.. .15. 06. 84, S. 2, ebd.

18 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Dieter Specht und René Haak

4. Ringelemente und Kolbenstangen Hydraulik Rochlitz, 5. Roboter- und werkzeugmaschinenspezifische Gleichstromstellmotore, 1. Etappe Elmo Dresden. Das Vorhaben Technologische Einheit Drehen in der Berliner Werkzeugmaschinenfabrik war schon Ende 1983 abgeschlossen worden. 86 Um die Entwicklung flexibler Fertigungssysteme in der DDR zu forcieren, wurden im Staatsplan Wissenschaft und Technik sowie in den Betriebsplänen Wissenschaft und Technik des Jahres 1984 insgesamt 41 komplexe Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für flexible Fertigungssysteme aufgenommen, deren Entwicklungs- und Überleitungszeiten zwischen durchschnittlich 13 Monaten (z. B. Entwicklungsprojekt Hydraulik Rochlitz) und 30 Monaten (Automatisierungsvorhaben Elmo Dessau) lagen. Mit dem Ziel, die Forschungs- und Entwicklungsaufgaben zu beschleunigen, wichen die Werkzeugmaschinenkombinate und insbesondere die Forschungszentren des Werkzeugmaschinenbaus von den festgeschriebenen Entwicklungsnomenklaturen ab und konzentrierten die Ressourcen auf den Einsatz von „ErstanWendungslösungen". Hierzu gehörten die „Modifizierung und teilweise Sonderkonstruktion von NC-Bearbeitungszentren der Baureihen CW/CS 500, 800 und 100, die Fertigungszellen für die Drehbearbeitung bei den Vorhaben Hydraulik Rochlitz, Elmo Dessau und Elmo Dresden, die leitgeführten Transportroboter und CNC-gesteuerten Kräne, die systemgerechten Metallwaschmaschinen für die Vorhaben Getriebewerk Kirschau, Brandenburg, Rochlitz und FHK-Stammbetrieb sowie die Bereitstellung von neuentwickelter Meßtechnik, neuen Zu- und Abführeinrichtungen, Übergabe- und Spannstationen, Ovaltaktspeicher und Sonderwerkzeugen." 87 Probleme bei der Umsetzung der Automatisierungsprojekte ergaben sich vorrangig bei bestimmten technischen Parametern, insbesondere bei der Rechnergeschwindigkeit, der Speicherkapazität und der Verfügbarkeit der Ausrüstungen. Bei den neuentwickelten numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen kam die Steuerungsgeneration CNC 600 zum Einsatz, die ab 1985 durch die CNC 700 Κ und ab 1986 durch die CNC 700 abgelöst werden sollte. 88 Das gravierendste Problem bei der Entwicklung und beim Einsatz flexibler Fertigungssysteme bildete die Erarbeitung und Anwendung moderner Software. Die objektspezifische Aufbereitung der Prozeßsteuersoftware, die die Projektierungsdauer und Anwendungsbreite der flexiblen Fertigungssysteme bestimmte und unmittelbar auf die Exportfähigkeit der Systeme wirkte, war der entscheidende Engpaß. Um diese Probleme zu überwinden, wurde vom Forschungszentrum des Werkzeugmaschinenbaus in Kooperation mit den Kombinaten des Bereichs Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau sowie Elektrotechnik und Elektronik die 86 Ebd., S.2. 87 Ebd., S. 4. 88 Ebd., S. 5.

Werkzeugmaschinenbau und flexible Fertigungsautomatisierung

275

Entwicklung des „Modularen Programmsystems" (MPS) als Modulbank für multivalent einsetzbare Funktionen von Systemsteuerungen mit hohem Allgemeinheitsgrad aufgenommen, um Modulbausteine für spezifische Anwendungsfälle in den flexiblen Fertigungssystemen bei den Anwendern bereitzustellen. Für dieses Innovationsprojekt setzte man 120 Forschungs- und Entwicklungskräfte aus verschiedenen Fachbereichen ein. 89 Die 1984 beschlossenen Staatsaufträge des Staatsplanes Wissenschaft und Technik zielten auf die Entwicklung der vorhandenen Grundbausteine flexibler Automatisierung, nicht nur im Werkzeugmaschinenbau, sondern auch in den wichtigsten Zulieferbereichen. Folgende Grundbausteine flexibler Fertigungsautomatisierung sollten weiterentwickelt werden: 1

Numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen, Bearbeitungszentren und Fertigungszellen (Werkzeugmaschinenindustrie).

2

Automatisierte Montage- und Funktionsprüfungslösungen mittels Robotertechnik der 2. und 3. Generation (Werkzeugmaschinenindustrie, der Elektrotechnik/Elektronik und den Anwenderbereichen).

3

Automatisierte Werkzeugmaschinensysteme (Werkzeugindustrie).

4

Moderne Antriebs-, Meß-, Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektrotechnik/Elektronik).

5

Auf der Grundlage der Robotertechnik aufgebaute Transport-, Umschlag- und Lagersysteme mit flexibler Verkettungsfunktion (Schwermaschinenbau und den Anwenderbereichen).

6

Auf der Basis moderner Mikroelektronik aufgebaute Informationsverarbeitungstechnik (Elektrotechnik/Elektronik). 90

Nachdem 1984 fünf Automatisierungsprojekte ihre geplante Ausbaustufe erreicht hatten, sollte im Jahre 1985 die Arbeit an weiteren sechs Vorhaben fortgeführt werden, um das Niveau der 2. Integrationsstufe zu erreichen. Das bedeutete die Realisierung flexibel automatisierter Fertigungsabschnitte und Fertigungssysteme unter Einbeziehung der Fertigungsvorbereitung mittels CAD/CAM Systemen, der Montage und der entsprechenden Prüfprozesse. Nur das Automatisierungsprojekt Hartmetallwerk Immelborn war hierbei eine Ausnahme. Zu den Automatisierungsvorhaben, die 1985 abgeschlossen werden sollten, zählten: • Automatisierungsvorhaben Gleichstromstellmotore für Industrieroboter und Werkzeugmaschinen im VEB Elektromotorenwerk Dresden-Ost - 11/85 • Automatisierungsvorhaben Getriebegehäuse für Landmaschinen im VEB Getriebewerk Kirschau - 06/85 89 Ebda. 90 MWV, Der Minister, Weisung Nr. 4 vom 25. 1. 1985 zur Durchsetzung des Beschlusses des Politbüros vom 11. 12. 1984 und des Präsidiums des Ministerrates vom 20. 12. 84 über die Ergebnisse bei der Durchführung des Politbürobeschlusses vom 22. 3. 1983 zur beschleunigten Realisierung von automatisierten Fertigungsabschnitten in der mvl der DDR, S. 2. BArchP, DG 9/191.90. 18*

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• Automatisierungsvorhaben Nähmaschinenstopmotore im VEB Elektromotorenwerke Dessau - 08/85 • Automatisierungsvorhaben prismatische Werkzeugmaschinenteile im VEB Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" - Stammbetrieb - 10/85 • Automatisierungsvorhaben prismatischer Werkzeugmaschinen - Großteile im VEB Maschinenfabrik „John Schehr" Meuselwitz - 12/85 • Automatisierungsvorhaben Getriebehäuse für Nutzfahrzeuge im VEB Getriebewerk Brandenburg - 1. Etappe - 08/85. 91

Schon zu Beginn des Jahres 1985 zeigte sich, daß die zeitlichen Vorstellungen für die Realisierung der Maschinensysteme zu knapp bemessen waren. Die Realisierungs- und Inbetriebnahmekollektive wurden verstärkt auf die Einhaltung der Hauptfristpläne für die Automatisierungsvorhaben eingeschworen.92 Die Realisierungsprobleme flexibler Fertigungssysteme lagen Anfang 1985 vor allem in der nicht termingerechten Bereitstellung von Zulieferungen und Leistungen aus den Kombinaten Robotron, Automatisierungsanlagenbau, Takraf, Umformtechnik Erfurt, Werkzeugmaschinenkombinat Schmalkalden und den Kombinaten des Bauwesens.93 Bis Ende August 1985 konnte nicht ein einziges der noch anstehenden flexiblen Fertigungssysteme abgeschlossen werden. Die Erfüllung des Gesamtinvestitionsumfangs lag zwar bei 87,6 Prozent, darunter 98,9 Prozent Baumaßnahmen und 86,6 Prozent für technische Ausrüstungen, 94 doch fehlten bei den meisten Maschinenzentren wichtige Zulieferteile, um die vollständige Funktionsfähigkeit der flexiblen Fertigungssysteme herzustellen. Der Entwicklungs- und Umsetzungsprozeß der verbliebenen sechs Automatisierungsprojekte, zu denen Elmo Dresden, Elmo Dessau, FHK Stammbetrieb, Mafa Meuselwitz, Getriebewerk Kirschau und Getriebewerk Brandenburg zählten, wurde durch eine Vielzahl von Faktoren behindert. Hierzu zählten in erster Linie technische Schwierigkeiten und Softwareprobleme, aber auch Qualifikationsdefizite. 95 Zum Jahresende 1985 verschärfte sich diese Problemkonstellation. Ende November 1985 wurde von der Abteilung Automatisierungsvorhaben des Ministeriums für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau über die Fortschritte bei den Automatisierungsobjekten des XI. Parteitages festgehalten: „Der gesamte Prozeß 91 MWV, Der Minister, Weisung Nr. 4 vom 25. 1. 1985, S. 6, ebd. 92 MWV, Information über den Stand der Durchführung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 22. 3. 1983 zur Realisierung von 12 automatisierten Fertigungsabschnitten in der metallverarbeitenden Industrie mit Unterstüzung des Werkzeugmaschinenbaus der DDR - Stand vom 30. April 1985, S. 1, ebd./192.90. 93 MWV, Information über den Stand ... 30. April 1985, S. 2, ebd. 94 MWV, Information über den Stand der Durchführung der Beschlüsse des Politbüros des ZK der SED vom 22. 3. 1983 und 11. 12. 1984 zur Realisierung von 12 automatisierten Fertigungsabschnitten in der metallverarbeitenden Industrie mit Unterstüzung des Werkzeugmaschinenbaus der DDR - Stand 31. August 1985, S. 2, ebd. 95 Ebd., S. 3.

Werkzeugmaschinenbau und flexible Fertigungsautomatisierung

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der Sicherung des Automatikbetriebes und der Vorbereitung des stabilen Dauerbetriebes verläuft besonders in den Objekten des XI. Parteitages sehr konfliktreich und vielschichtig, wobei sich unter Zeitdruck und zunehmenden Rückständen gegenüber den festgelegten Inbetriebnahmeabläufen die untauglichen Versuche zur Verschleierung der realen Situation oder des Abwälzens von Verantwortung häufen. So führte die nicht rechtzeitige und ehrliche Information zum wirklichen Aufarbeitungsstand des Modularen Programmsystems (MPS) durch das FZW zu einer ernsthaften Gefährdung des System- und Dauerbetriebes von 5 Parteitagsobjekten, weil erst Mitte November 1985, als bereits alle Inbetriebnahmeaktivitäten vor Ort der Vorhaben abgebrochen werden mußten, notwendige Entscheidungs- und Lösungsvorschläge veranlaßt werden konnten". 96 In verschiedenen Materialien des Forschungszentrums des Werkzeugmaschinenbaus (FZW) und des Werkzeugmaschinenkombinats „Fritz Heckert" wurden als wesentliche Ursachen für die Probleme bei der Entwicklung und Realisierung flexibler Fertigungssysteme die Versäumnisse des Kombinats Robotron genannt. Die Abteilung Automatisierungsvorhaben des Ministeriums für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau bestätigte diesen gravierenden Engpaß: „So würde die vom Rechnerhersteller bereitgestellte Basissoftware nicht den gestellten Anforderungen einer Prozeßsteuerung entsprechen und außerdem habe das Kombinat Robotron weder im Jahr 1984, sondern erst ab August 1985 an der Automatisierungskonzeption mitgearbeitet." 97 Die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen konzentrierten sich hierbei auf die flexible Fertigungsautomatisierung der Klein- und Mittelserienfertigung. Ein umfangreicher Teil der flexiblen Fertigungseinrichtungen wurde vorrangig zur Produktion von Exportgütern, insbesondere hochwertigen Werkzeugmaschinen, eingesetzt. Abnehmer dieser Werkzeugmaschinen waren vor allem die Sowjetunion, aber auch westeuropäische Industrieländer. Das Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert", auf die Produktion von Werkzeugmaschinen für die prismatische Bearbeitung von Werkstücken spezialisiert, entwickelte und fertigte den Großteil flexibler Fertigungssysteme der DDR. Hierzu zählte unter anderem das flexible Fertigungssystem 400, das für die Bearbeitung von LKW-Getriebegehäuseteilen ausgelegt war. Die flexiblen Fertigungssysteme 630 und 800 waren für die Bearbeitung von gehäuseförmigen Werkstükken des Landmaschinenbaus vorgesehen, während das flexible Fertigungssystem 1000 für die Bearbeitung von prismatischen Werkzeugmaschinenteilen und das flexible Fertigungssystem 1600 für die Bearbeitung von Großteilen des polygrafi96 MWV, Information über den Stand der Fertigstellung und Aufnahme des stabilen Dauerbetriebes der 12 automatisierten Fertigungsabschnitte im Bereich der metallverarbeitenden Industrie mit den beschlossenen wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Parametern, Berlin 29. 11. 1985, S. 3, BArchP, DG 9/192.90. 97

MWV, Information über den Stand der Fertigstellung und Aufnahme, Berlin 29. 11. 1985, S. 7, ebd.

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sehen Maschinenbaus durch das Werkzeugmaschinenkombinat produziert worden waren. Das Kombinat Umformtechnik „Herbert Warnke", Erfurt, zuständig für die Herstellung von Werkzeugmaschinen für die Blech- und Massivumformung, entwickelte nur eine flexible Fertigungsstraße für die Herstellung von Mähmesserklingen. Noch in den Jahren 1986 und 1987 wurde bei allen Automatisierungsprojekten an der Verbesserung der technischen Verfügbarkeit und der Zuverlässigkeit der Systemtechnik einschließlich der angewandten Software gearbeitet. Viele Fertigungssysteme und einzelne Ausrüstungen wiesen eine Reihe von Funktionsfehlern auf, so daß die Fertigungsanlagen häufig ausfielen oder gar nicht erst in Betrieb genommen werden konnten. Für die Fertigung fortschrittlicher automatischer Werkzeugmaschinen benötigten die Betriebe vor allem elektrische und elektronische Schaltund Steuerelemente, die Mitte der achtziger Jahre nicht immer und nicht in entsprechender Qualität zur Verfügung standen, so daß viele innovative Konstruktionen nicht verwirklicht werden konnten. Die Weiterentwicklung der Steuerungen war durch ungenügende Funktionssicherheit und Qualitätsprobleme bei den Halbleiterbauelementen behindert. Bei den entwickelten numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen handelte es sich im wesentlichen um den Nachvollzug internationaler Entwicklungen, wobei im Detail eigenständige Lösungen vorlagen. Trotz anfänglicher Erfolge zeigte sich in zunehmenden Maße seit Mitte der siebziger Jahre der technologische Rückstand numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen aus DDR-Produktion gegenüber bundesdeutschen Entwicklungen. Insbesondere die Wende in der Wirtschafts-, Forschungs- und Technologiepolitik seit Anfang der siebziger Jahre hat die technologische Weiterentwicklung des ostdeutschen Werkzeugmaschinenbaus nachhaltig beeinflußt. Erst im Herbst 1976 beschloß die Führung der SED die eigene Herstellung von CNC-Steuerungen, um an die technologische Entwicklung wieder anschließen zu können. Als in der DDR die Serienproduktion von CNC-Steuerungen im Jahre 1981 anlief, waren in der Bundesrepublik schon über 10000 Steuerungen produziert worden. In der Bundesrepublik boten Anfang der achtziger Jahre rund 50 Firmen numerische Steuerungen an, darunter fast die Hälfte ausländische Hersteller. Im Gegensatz hierzu war die Herstellung von Steuerungen im VEB Numerik „Karl Marx" konzentriert, der auf Zulieferungen des Kombinats Robotron (Dresden) angewiesen war. Engpässe bei der Herstellung von Mikrorechnern sowie Qualitätsmängel führten zwangsläufig zu Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung und Fertigung von CNC-Werkzeugmaschinen, da die Betriebe nicht in der Lage waren, auf andere Steuerungshersteller auszuweichen, um ihren Qualitäts- und Produktionszielen zu entsprechen. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Rechner und der numerischen Steuerungstechnologie, die die Möglichkeit boten, komplexe Fertigungsprozesse der Klein- und Mittelserienfertigung zu automatisieren, forcierte die politische Führung der DDR Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die

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Realisierung von flexiblen Fertigungssystemen. Die Entwicklung innovativer flexibler Fertigungssysteme wurde jedoch Mitte der siebziger Jahre abgebrochen. Erst Anfang der achtziger Jahre richtete das Politbüro wieder seine Aufmerksamkeit auf flexible Fertigungssysteme, wobei der technologische Rückstand gegenüber der Bundesrepublik, insbesondere im Bereich der Steuerungstechnologie, nicht mehr aufgeholt werden konnte. Ende der achtziger Jahre war ein erheblicher qualitativer Rückstand der ostdeutschen Steuerungstechnik und damit der numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen eingetreten. Gegenüber den Marktführern der Steuerungstechnik Siemens und Fanuc betrug der Rückstand der DDR-Steuerungstechnik zwei Generationen. Insbesondere die Abkoppelung vom internationalen Wettbewerb, der die technologische Entwicklung der bundesdeutschen Werkzeugmaschinenindustrie nachhaltig gefördert hat, scheint hier einen entsprechenden Entwicklungsdruck verhindert zu haben. Im Gegensatz zur Entwicklung in der DDR erhielten in der Bundesrepublik während der achtziger Jahre die flexiblen Fertigungssysteme im Verlauf zunehmender Konjunktur neuen Auftrieb und die automatisierte flexible Fertigungszelle bekam als Grundstein für integrierte Fertigungssysteme eine entscheidende Bedeutung. Die ersten standardisierten deutschen Fertigungszellen (FFZ) mit vollständig automatischer, rechnergeführter Werkstück- und Werkzeugversorgung, die die neuere Entwicklung der flexiblen Fertigungssysteme maßgeblich bestimmt haben, wurden anläßlich der EMO 1983 in Paris vorgeführt. Die Entwicklung der Werkzeugmaschine von der rein mechanischen Einzelmaschine zu einem rechnerintegrierten Fertigungssystem machte auch eine branchenübergreifende Zusammenarbeit in der Forschung und Entwicklung unumgänglich. Die nach wie vor mehrheitlich mittelständischen Betriebe in der Bundesrepublik kooperierten hier sehr eng mit der produktionstechnischen Wissenschaft und Forschung an Universitäten und Einrichtungen der angewandten Forschung. Zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren der Entwicklungs- und Durchsetzungsprozesse flexibler Fertigungssysteme in der Bundesrepublik zählten: Der - auch internationale - Austausch zwischen angewandter Forschung, Hochschul- und Industrieforschung, ein expandierender Markt sowie schließlich eine hochwertige internationale Zulieferstruktur auf der Grundlage qualifizierter Fach- und Ingenieurarbeit.

Literatur Kromberg, J., Berliner Brain. Rechnerintelligenz reduziert Stückkosten an Bearbeitungszentren um mehr als ein Drittel, erhöht Nutzungszeit um mehr als die Hälfte. Sonderdruck aus: NC Fertigung, H. 2 (Mai 1983).

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Dieter Specht und René Haak

Mommertz, K. H., Bohren, Drehen und Fräsen. Geschichte der Werkzeugmaschinen, Hamburg 1981. Russig , Α., Profil durch Tradition und Leistung. 30 Jahre FZW Beitrag zur Werkzeugmaschinenforschung in der DDR, Karl-Marx-Stadt 1986. Schröder, S., Innovation in der Produktion. Eine Fallstudie zur Entwicklung der numerischen Steuerung, München/Wien 1995. Spur, G., Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Fertigungstechnik., München/Wien 1991. Spur, G. u. a., Automatisierung und Wandel der betrieblichen Arbeitswelt. Forschungsbericht 6 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Arbeitsgruppe: Automatisierung, Arbeitswelt und künftige Gesellschaft, Berlin u. a. 1993. Schubert, Κ. H., Heckert Werker machen Geschichte. Betriebsgeschichte des VEB Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" Karl-Marx-Stadt-Stammbetrieb 1885-1985. Autorenkollektiv unter Leitung von Karl-Heinz Schubert, Berlin 1987. Stute, G., Flexible Fertigungssysteme, in: Werkstattstechnik. Zeitschrift für den industriellen Fabrikbetrieb 64. Jg. (1974), Nr. 3, S. 147-156. Wießner, K., Aspekte der sozialistischen Rationalisierung im Werkzeugmaschinenbau der DDR nach der Bildung sozialistischer Industriekombinate. VEB Werkzeugmaschinenkombinat „Fritz Heckert" Karl-Marx-Stadt 1970 bis 1978, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1983/III, S. 29-50.

Das Finanzsystem in der frühen SBZ/DDR Effizienzprobleme aus institutionenökonomischer Sicht Von Frank Zschaler

A. Einleitung Seitdem Douglass North bemerkenswertes Buch „Structure and Change in Economic History" 1988 in deutscher Übersetzung erschienen ist 1 , hat auch die deutsche wirtschafts- und sozialhistorische Forschung die Theorie des Institutionenwandels als Erklärungsmuster entdeckt. Diese Edition erschien, obwohl vom hochgeschätzten Autor sicher nicht vorhergesehen, zum richtigen Zeitpunkt. Durch die Umbruchprozesse in den ehemals staatssozialistischen Ländern Europas verschaffte sich der Institutionenwandel 1989/90 auch über den relativ kleinen Kreis von Wissenschaftlern hinaus breites öffentliches Interesse. Die unmittelbar Betroffenen erlebten in kurzer Zeit den Zusammenbruch des ancien régime und die schnelle Einführung neuer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Institutionen wie in Polen, Ungarn, Tschechien und Ostdeutschland, den Beginn einer bedrükkenden Zeit langsamen Wandels mit nicht eindeutigem Ziel wie in Rußland und den meisten Nachfolgestaaten des sowjetischen Imperiums bzw. das schnelle Wiederaufleben der alten, nur fiktiv gewandelten Institutionen wie in Rumänien und Bulgarien. Im Osten Deutschlands erlangte innerhalb der Umbruchprozesse eine Institution besonderen Stellenwert, die symbolhaft für den Wohlstand des Westens, die Effizienz der Wirtschaft und den Erfolg der Politik stand, die Deutsche Mark. Obwohl Freiheit und Demokratie als Ziele keineswegs von rein egoistischem Konsumstreben entwertet wurden, wie in der Rückschau manchmal vermutet, stand keine Institution der repräsentativen Demokratie, sondern eine des Finanzsystems am Anfang des 1990 immer schneller verlaufenden Wiedervereinigungsprozesses. Interessanterweise markierte dieselbe Institution fast auf den Tag genau 42 Jahre zuvor den Beginn der deutschen Teilung. Die beiden Währungsreformen 1948 nahmen die Geschichte der deutschen Teilung praktisch voraus. Zugegebenermaßen sehr vereinfacht und klischeehaft ergab sich für den Betrachter deutsch-deutscher Wirklichkeit das folgende Bild: Im Westen wurde eine Währung eingeführt, für die alle 1

North, Douglass C., Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988.

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Frank Zschaler

Güter zu haben waren. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ging es seit Beginn der fünfziger Jahre mit Wirtschaftskraft und Lebensstandard immer bergauf, der Deutschen Mark wuchs eine identitätsstiftende Wirkung für die Bundesrepublik zu, die in anderen westlichen Demokratien von politischen Institutionen oder Personen ausging. Im Gegensatz dazu stand im Osten die sog. Tapetenmark2 am Beginn eines Mißerfolgs. Zwar wurden bereits im Juli 1948 richtige Geldscheine einer Deutschen Mark der Deutschen Notenbank gedruckt und verteilt, einer ihrer westlichen Schwester vergleichbaren Wertschätzung konnte sich die DM-Ost jedoch nie erfreuen. Sie war Recheneinheit im zentralistischen Planungssystem und Bezugsschein für Grundbedarfsgüter und Dienstleistungen, aber keine ,»richtige Währung". Knappe und daher begehrte Güter waren nur im Austausch gegen andere, ebenso knappe Güter oder gegen konvertierbare Valuten, darunter vor allem DMWest zu haben. Somit trug die DM-Ost nicht unwesentlich zum Identitätsverlust des ostdeutschen Staates bei. Wenn also Geldwert und Finanzpolitik so große Wirkungskraft besaßen, daß sie das Lebensgefühl von Generationen zu prägen vermochten3, wäre die wirtschaftshistorische Forschung in besonderem Maße gefordert, sich der Finanzgeschichte während der deutschen Zweistaatlichkeit zuzuwenden. Dem Forscher öffnet sich in der Tat ein höchst interessantes Untersuchungsfeld. Nach dem völligen Scheitern der Finanzpolitik des NS-Regimes und dem Zusammenbruch der bisherigen staatsfinanzwirtschaftlichen Institutionen begann in allen deutschen Ländern, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Besatzungszonen zunächst ein Rückbesinnen auf demokratische Traditionen. Während sich aber in den westlichen Zonen bis zum Ende der vierziger Jahre eine föderative, parlamentarisch-demokratische Staats- und die ihr entsprechende Finanzverfassung herausbilden konnten, war die Situation in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) komplizierter. Bei allen Bedenken, auf die noch ausführlich einzugehen sein wird, kann man auch dort auf dem Gebiet von Finanzverfassung und Finanzpolitik im Prinzip den Beginn eines Institutionenwandels in Richtung Föderalismus und Demokratie konstatieren. Dieser wurde jedoch bereits vor Gründung des ostdeutschen Staates abgebrochen und in das Gegenteil verkehrt. Straffe Zentralisation führte zu einem Bedeutungs- und Kompetenzverlust bei den Gebietskörperschaften, die Finanzpolitik verlor ihre Eigenständigkeit und führte ein Schattendasein als Anhängsel der Ordnungs- und vor allem der Wirtschaftspolitik. Bei den Geld- und Kreditbeziehungen in der Wirtschaft gab es diesen doppelten Institutionenwandel jedoch nicht. Im Unterschied zu Westdeutschland, wo nach der Währungsreform ein freier Geldund Kapitalmarkt wieder entstand, folgte in Ostdeutschland auf die Bewirtschaftung des NS-Regimes die Regulierung der staatlichen Planwirtschaft nach sowjetischem Muster. Banken, Geld und Kredit bekamen eine grundsätzlich andere Funktion, die Finanzen der staatseigenen Wirtschaftsbetriebe wurden mit den öffentli2 Da neue Geldscheine noch nicht zur Verfügung standen, wurden Reichsbanknoten mit Spezialkupons beklebt. Diese Kupons besaßen nicht die Sicherheitsmerkmale von Banknoten und lösten sich wegen der schlechten Qualität des Klebers oft von den Noten ab.

Das Finanzsystem in der frühen SBZ/DDR

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chen Haushalten verbunden. Der Institutionenwandel im Finanzsystem erweist sich somit als Indikator für die Transformation des Ordnungs- und Wirtschaftssystems, die durch die Zentralisierung verursachten Transaktionskosten lassen außerdem Rückschlüsse auf die Effizienz dieses Modells zu. Solche Überlegungen sind eigentlich nicht neu. Heinz Lampert stellte bereits vor einigen Jahren fest, daß sich in „kaum einem Bereich gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung... die Interdependenz der Ordnungen deutlicher (zeigt - F. Z.) als im Bereich zwischen Staatsverfassung und Finanzverfassung". 4 Trotzdem ist die deutsche Finanzgeschichte nach 1945 von der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung nur selten thematisiert worden. Während für die „alte" Bundesrepublik immerhin Untersuchungen vorgenommen und deren Ergebnisse publiziert wurden,5 war und ist die Finanzgeschichte der SBZ/DDR ein noch weitgehend unbestelltes Feld. Fragt man nach den Gründen für das mangelnde Interesse der historischen DDR-Forschung an finanzhistorischen Fragestellungen, bieten sich zwei Erklärungsmuster an: Erstens unterlagen alle Aktenbestände zur Finanz- und Währungspolitik Ostdeutschlands6, vor allem jedoch die Daten, bis zur politischen Wende in der DDR 1989/90 strikter Geheimhaltung. Neue Darstellungen ohne aussagefähige Quellengrundlagen wären daher wenig sinnvoll gewesen. Zweitens war das Interesse an diesem Thema gering. Die DM-Ost gehörte zu den schwachen Währungen des Ostblocks, die als reine Binnenwährungen international keine Rolle spielten. Außerdem war, wie bereits erwähnt, die ostdeutsche Finanzpolitik schon frühzeitig in der allgemeinen Wirtschaftspolitik aufgegangen. 7 Untersuchungen über den ma3

Im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung hat die Finanzsoziologie begonnen, diese Fragestellungen zu thematisieren. Vgl. Zatlin, Jonathan, Hard Marks and Soft Revolutionaries: Aspects of German Unification, 1989-1990 (Manuskript), ο. Ο. 1994. 4 Lampert, Heinz, Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, München/Wien 1985, S. 121. 5 Vgl. u. a.: Schmiedeberg, Victor, Geschichte und Entwicklung der Haushaltspolitik des Vereinigten Wirtschaftsgebiets und des Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1954, (=Schriftenreihe des Bundesminsteriums der Finanzen, alte Reihe Heft 4), Bonn o. J.; Mück, Wolfgang J. (Hg.), Föderalismus und Finanzpolitik. Gedenkschrift für Fritz Schäffer, Paderborn 1990; Renzsch, Wolfgang, Finanzverfassung und Finanzausgleich. Die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948-1990), Berlin 1991. 6

Einen zusammenhängenden Quellenbestand zum Finanzsystem gibt es in den heute zugänglichen ostdeutschen Archiven leider nicht. Vielmehr befinden sich relevante Akten im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (BArchP), Bestand Ministerium der Finanzen (normaler und Verschlußsachenteil = DN 1 und DN 1-VS), Deutsche Notenbank (DN 6), Deutsche Wirtschaftskommission (C 15), Präsidium des Ministerrates (C 20), sowie im Zentralen Parteiarchiv der Stiftung Archiv der Parteien und Organisationen der DDR im Bundesarchiv. Weitere wichtige Aktenbestände liegen in den Landesarchiven und den Archiven der ehemaligen Blockparteien. 7

Daher fand sie in westdeutschen Veröffentlichungen nur marginales Interesse. Vgl. ζ. B.: Leptin, Gert, Der öffentliche Haushalt in der DDR, in: Berichte des Bundesinstituts für ost-

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Frank Zschaler

teriellen Planungsprozeß erschienen daher naheliegender als solche über das Finanzsystem.

B. Der doppelte Institutionenwandel der Finanzverfassung Unter Finanzverfassung versteht man bekanntlich den rechtlichen Rahmen finanzpolitischer Entscheidungsprozesse, vor allem die Festlegung von Kompetenzen der Gebietskörperschaften und Parafisci, die Aufstellung von Grundsätzen der Haushaltsführung und die Abgrenzung von Rechten und Zuständigkeiten von Legislative und Exekutive. Ertragshoheit und Verwaltungshoheit der Steuern und Abgaben stellen dabei einen besonderen Schwerpunkt dar. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Leitinstitutionen der bisherigen Finanzverfassung, Reichsfinanzverwaltung und Reichsbank, zusammengebrochen. Das durch die Weimarer Verfassung begründete Finanzsystem hatte, unbeschadet zentralistischer Tendenzen, den Ländern und Gemeinden bis zum Beginn der dreißiger Jahre mehr als 50 Prozent des gesamten Steueraufkommens des Reichs (Reichsüberweisungssteuern, weitere Reichssteuern, Landes- und Gemeindesteuern) für die Erfüllung ihrer Aufgaben zugestanden.8 Im Zusammenhang mit den rüstungs- und kriegswirtschaftlichen Maßnahmen des NS-Regimes veränderte sich das Verhältnis zuungunsten der Länder und Gemeinden.9 Ihr finanzpolitischer Spielraum nahm kontinuierlich ab. Während des Krieges ging der Anteil der ordentlichen Staatseinnahmen als Deckungsmittel für den Finanzbedarf der Reichs immer weiter zurück, im Gegenzug wuchs die innere Verschuldung bedrohlich an. 1944 sank der Anteil der ordentlichen Staatseinnahmen an der Finanzierung der öffentlichen Gesamtausgaben unter 20 Prozent, im Dezember 1944 sogar unter 10 Prozent. Unter diesen Umständen begann die Kriegsfinanzierungspolitik der Reichsregierung zu kollabieren. Der Liquiditätsbedarf des Reichs konnte in den letzten Kriegsmonaten im Prinzip nur noch über die Notenpresse befriedigt werden. Daher mußte nach Kriegsende die erforderliche Neuordnung der Finanzverwissenschaftliche und internationale Studien, Heft 3 1977; Haase, Herwig E., Grundzüge und Strukturen des Haushaltsweses der DDR, Berlin 1978. In den fünziger Jahren wurde dieser Frage wegen der zeitlichen Nähe der Ereignisse und der größeren Informationsdichte mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. ζ. B.: Abeken, Gerhard, Das Geld- und Bankenwesen in der Sowjetischen Besatzungszone und im Sowjetsektor Berlins von 1945 bis 1954 (=Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1955. 8 Im Rechnungsjahr 1931/32 entfielen auf die Länder und Gemeinden ζ. B. 52,6 Prozent der Steuern, das Reich verfügte über 47,4 Prozent. Vgl. Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reichs. 9

Während 1936/37 57,3 Prozent der Steuern vom Reich und 42,7 Prozent von den Ländern und Gemeinden verbraucht wurden, erhob das Reich 1938/39 auf 67,7 Prozent und 1939/40 bereits auf 74,0 Prozent der gesamten Steuerneinnahmen Anspruch. (Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reichs.)

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fassung mit einer Sanierung der bedrohlich angeschlagenen Staatsfinanzen verbunden werden. Da die oberste Regierungsgewalt in Deutschland an die vier alliierten Siegermächte Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA übergegangen war, lag die letzte Entscheidungsbefugnis zur Lösung beider Probleme bei diesen Mächten. Theoretisch waren drei Lösungsansätze denkbar: Erstens die Restauration der Finanzverfassung der Weimarer Republik und die Wiederbelebung ihrer Institutionen, zweitens die Übertragung der in den Siegerländern üblichen Modelle oder drittens die Schaffung eines anderen Typus, der entweder ganz neu sein oder als Mischform Elemente von erstens und zweitens enthalten konnte. Außerdem war offen, ob sich die Alliierten auf eine gesamtdeutsche Finanzverfassung einigen, zonenspezifische Lösungen bevorzugen oder alle Kompetenzen bei den Ländern belassen würden. Den legislativen Rahmen für die Finanzpolitik bildete in allen Besatzungszonen das weiterhin gültige Reichsrecht. 10 Der Alliierte Kontrollrat änderte mit keinem seiner Gesetze ausdrücklich das Haushaltsrecht.11 Außer Kraft gesetzt wurden jedoch diskriminierende Regelungen und Privilegien aus der NS-Zeit („Sonderbestimmungen für Juden, Polen und Zigeuner . . . , ebenso die Ausnahmebestimmungen zugunsten von Nationalsozialisten"). Die Auslegung der „Vorschriften ... nach nationalsozialistischer Weltanschauung" wurde verboten. 12 Darüber hinaus besaßen die Besatzungsmächte uneingeschränkte Weisungsvollmacht gegenüber den deutschen Behörden. Den Verwaltungen waren in der Regel Kontrolloffiziere zugeordnet. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten vollzog sich der Institutionenwandel in den einzelnene Besatzungszonen auf unterschiedliche Art und Weise. Am weitesten war die Übertragung von Verwaltungsbefugnissen auf zonale Gremien in der britischen Besatzungszone gediehen. Dort entstanden im Verlaufe des Jahres 1946 neben Zonenämtern für Justiz, Wirtschaft, Ernährung und einigen Hauptverwaltungen zentrale Finanzbehörden: die Leitstelle der Finanz Verwaltung (zur Einziehung der Steuern), das Zonenhaushaltsamt sowie Rechnungshof und Schuldenverwaltung. In Verantwortung des Zonenhaushaltsamts, das seinen Standort am Sitz des Zonenbeirats der britischen Zone in Hamburg hatte, wurde ein Zonenhaushaltsplan in enger Anlehnung an die Reichshaushaltspläne der Weimarer 10

Es handelte sich dabei insbesondere um folgende Gesetze und Verordnungen: Reichshaushaltsordung in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 17. Juni 1936, Beiträgegesetz vom 24. März 1934, Erstattungsgesetz vom 18. April 1937, Reichskassenordnung vom 6. August 1927, Rechnungslegungsordnung vom 3. Juli 1929, Wirtschaftsbestimmungen für die Reichsbehörden vom 11. Februar 1929, Gemeindehaushaltsverordnung vom 4. September 1937. 11

Vgl. Meier, Helmut, Die Entwicklung des Haushaltswesens in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ^Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen des OsteuropaInstituts der Freien Universität Berlin, hg. von Karl C. Thalheim, Bd. 10), Berlin 1960, S. 47. 12 Vgl. Runderlaß Nr. 3 vom 27. August 1945 des Präsidenten der DZFV. BArchP, DN 1/ 2616, o. Bl.

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Republik aufgestellt. Als Haupteinnahmequellen für diesen Etat dienten die drei Hauptsteuern: Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer. Die Länder wurden durch Zuweisungen aus dem Zonenhaushalt alimentiert. Obwohl in der amerikanischen Besatzungszone schon im Oktober 1945 auf Veranlassung der Militärregierung ein Länderrat gebildet wurde, kam es zu keiner Zentralisierung von Verwaltungsfunktionen. Die Länder erhoben ihre Steuern selber und übten die Haushaltshoheit aus. Ähnlich verlief die Entwicklung in der französischen Zone. Dort wurde aber ein „beratender Finanzausschuß" eingerichtet, der - wenn auch nicht mit den Zonenämtern der britischen Zone vergleichbar - als Verbindungsstelle der Länder zur französischen Militärregierung fungierte. Zonale Steuereinziehung oder einen übergreifenden Etat gab es aber nicht. Die französische Besatzungsmacht lehnte darüber hinaus eine überzonale Zusammenarbeit der deutschen Länder zunächst ab. 13 In der sowjetischen Besatzungszone ordnete die SMAD im Frühsommer 1945 an, „mit dem Ziel der Entwicklung der Volkswirtschaft, der Regelung des Wirtschaftslebens und zur Beseitigung von Hindernissen, welche die Entwicklung der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands hemmen" bei den Landes- und Provinzialverwaltungen Finanzabteilungen (das waren die späteren Finanzministerien) zu bilden und übertrug den Ländern und Provinzen gleichzeitig die Steuerhoheit. 14 Damit waren die Länder und Provinzen auch auf dem Gebiet der Finanzverwaltung Träger der deutschen Staatlichkeit (Selbstverwaltung). Bei ihnen lebte das traditionell landesspezifische Haushaltsrecht wieder auf. Die Länder zogen über ihre Finanzämter alle Steuern und Abgaben ein, auch die bisherigen Reichssteuern. Die alten Institutionen der föderativen Finanzverfassung wurden restauriert. Als Folge des Krieges und der Besatzung ergaben sich finanzpolitische Sonderaufgaben, wie Begleichung von Besatzungskosten, Verrechnung der Reparationsleistungen, Finanzierung des Wiederaufbaus, Unterstützungszahlungen etc. Da der Krieg Angelegenheit des Reichs gewesen war, standen die Länder auf dem Standpunkt, dafür das Reichssteueraufkommen zu verwenden. Im Juli 1945 richtete die SMAD in ihrer Zone sog. Deutsche Zentralverwaltungen als zonale Selbstverwaltungsbehörden ein. Mit dem SMAD-Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 wurde neben anderen Zentral Verwaltungen auch die Deutsche Zentralfinanzverwaltung (DZFV) gegründet. In die Spitzenpositionen gelangten Personen, die früher in der mittleren Führungsebene der Reichsfinanzverwaltung oder in Banken tätig gewesen waren und nicht der NSDAP angehört hatten. Als zuständige Kontrollbehörde fungierte die bei der sowjetischen Militärregierung in BerlinKarlshorst ansässige Finanzabteilung der SMAD. Diese räumte der DZFV in der 13

Vgl. Schmiedeberg. Amtliche Bekanntmachung des Stabes der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland über die Organisation der Finanz- und Kreditinstitute in Deutschland vom 04. August 1945, in: Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Sammelheft 1 (1945), Berlin 1946, S. 28 f. 14

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Aufbauphase bei der Festlegung des Aufgabenbereichs, der Stellung gegenüber den anderen Zentralverwaltungen und der Personalpolitik beachtlichen Gestaltungsspielraum ein. Eine Analyse der Gründungsphase macht deutlich, daß sich die DZFV praktisch als Nachfolgerin des Reichsministeriums der Finanzen betrachtete. Als oberste Zonenbehörde fühlte sie sich für folgende Augaben zuständig: Budget, Erhebung und Verwaltung der Besitz- und Verkehrsteuern, Zölle, Monopole, Erträge aus wirtschaftlichen Unternehmen, öffentlichen Vermögen, kommunale Finanzwirtschaft, Wirtschaftsfinanzierung, Kriegsfolgelasten, Finanzausgleich sowie Preisbildung und Lohngestaltung. Sie übte außerdem die Banken-, Sparkassen-, Genossenschafts- und Versicherungsaufsicht aus.15 Bei der Regelung ihres Verhältnisses zu den anderen Deutschen Zentralverwaltungen knüpfte die DZFV direkt an die Finanzverfassung der Weimarer Republik an. Der Präsident beanspruchte für sich eine ähnliche Sonderstellung, wie sie der Reichsminister der Finanzen gegenüber den anderen Mitgliedern der Reichsregierung besessen hatte. Mit Rundschreiben an die Präsidenten der Deutschen Zentral Verwaltungen von Oktober 1945 regte der DZFV-Präsident an, die Festlegungen des Paragraphen 27 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichsministerien auf die Zentralverwaltungen zu übertragen. Danach hätten der DZFV alle Anordnungen der anderen Zentralverwaltungen, die öffentliche Ausgaben zur Folge haben, vorgelegt werden müssen.16 Um die personellen Probleme der Finanzverwaltung zu lösen, wurde im Dezember 1945 eine „Vormerkstelle für Angehörige der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung" eingerichtet. Parteipolitische Erwägungen spielten zunächst keine nennenswerte Rolle. Die Entnazifizierung, d. h. die von der Besatzungsmacht angeordnete Entlassung aller ehemaligen Angehörigen der NSDAP aus dem öffentlichen Dienst, wurde bei der DZFV im Vergleich zu anderen Behörden pragmatisch gehandhabt. Um die Erfüllung der Sachaufgaben nicht durch einen zu großen Personalabbau zu gefährden, gestattete die SMAD, wenig belastete ehemalige NSDAP-Mitglieder außerhalb leitender Stellungen weiter zu beschäftigen. 17 Mit einem überwiegend aus Fachleuten („bürgerlichen Spezialisten") bestehenden Personalstamm setzte sich die DZFV allerdings bereits im Umfeld ihres Aufbaus der Kritik von KPD-Funktionären aus. Obwohl offenbar von der zentralen Finanzverwaltung eine Restaurierung der Weimarer Finanzverfassung vorgesehen war und in einigen Punkten auch durchgesetzt werden konnte, brachen bei dem Versuch, die Erhebung und Verteilung von 15

Mönig, Wilhelm, Ein Rückblick: 3 Jahre demokratische Finanzverwaltung in der sowjetischen Besatzungszone, in: Deutsche Finanzwirtschaft, Monatsschrift für Etat-, Kredit- und Währungsfragen, Hefte 2/1949, S. 62-77. 16 Rundschreiben Nr. 5. des Präsidenten der DZFV, BArchP, DN 1/2073/1, o. Bl. 17 Protokoll einer Besprechnung des Präsidenten der DZFV, Meyer, mit dem Vizepräsidenten der Landes Verwaltung Sachsen und Leiter der Abteilung Finanzen, Gerhard Rohner, in Dresden am 11. 1 1946, Sächsisches Hauptstaatsarchiv (SäHStA), Landesregierung Sachsen (LRS), Ministerium der Finanzen (MdF), Nr. 576, Bl. 14 (RS).

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Steuern und Abgaben ebenfalls nach dem Weimarer Modell zu regeln, sofort Interessenkonflikte mit den, Ländern auf. Diese weigerten sich, den Runderlaß Nr. 3 des Präsidenten der DZFV vom 27. August 1945 auszuführen, in dem verfügt worden war, die Steuern an eine bei der DZFV neu eingerichtete Zentrale Finanzkasse zu überweisen. 18 Als Begründung wurde angeführt, daß die Zentralisierungsbestrebungen der Zonenfinanzverwaltung dem Befehl der SMAD vom 4. August 1945 widersprächen, durch den die Finanz- und Steuerhoheit an die Länder gegeben worden war. Die Länder waren auch nicht bereit, auf einen Kompromißvorschlag der DZFV einzugehen. Dieser sah vor, nur noch 40 Prozent des Ist-Aufkommens der Reichssteuern und 40 Prozent des Aufkommens der gemeindlichen Gewerbesteuer zu zentralisieren. 19 Außerdem protestierten die Länder gegen die Praxis der DZFV, als oberste Behörde mit Weisungsbefugnis gegenüber den Landes- und Provinzialfinanzverwaltungen aufzutreten. Die Länder lehnten jedoch Zentralbehörden nicht a priori ab, sondern vertraten den Standpunkt, „daß die Zentrale nur Gesetze und Verordnungen über Fragen erlassen solle, die allgemein geregelt werden müßten". 20 Somit stellten die Länder dem von der DZFV favorisierten Weimarer Finanzverfassungsmodell ein stark föderales entgegen, in welchem die Zonenfinanzverwaltung nur koordinierende Aufgaben wahrnehmen sollte, die finanzpolitischen Souveränitätsrechte aber weiterhin bei den Ländern lagen. Interessanterweise beriet sich die Finanzabteilung der SMAD, die eine Entscheidung herbeiführen mußte, zunächst mit deutschen Finanzpolitikern aus den Landesverwaltungen. Dabei ergriff der Präsident der Landesverwaltung Sachsen, Rudolf Friedrichs, die Initiative. In einem Memorandum unterbreitete er zwei Lösungsvorschläge: Erstens, den Bedarf der Zentralfinanzverwaltung durch Beiträge der Länder und Gemeinden zu decken, oder zweitens festzulegen, welche Anteile aus dem Gesamtsteueraufkommen den Ländern und Gemeinden verbleiben können.21 Die SMAD folgte dem ersten Vorschlag. In der Praxis mußten die Länder und Provinzen auf Befehl der Besatzungsmacht jährlich neu festgesetzte Beträge und alle Etatsüberschüsse am Ende des Haushaltsjahres auf Sonderkonten bei der Bankenverrechnungsstelle der Provinzialbank Brandenburg überweisen. Ein Zonenhaushalt durfte nicht aufgestellt werden. Die Erhebung und Verteilung der Steuern blieb Sache der Länder, ebenso wie die Gesetzgebungskompetenz, soweit sie durch das übergeordnete alliierte Recht legitimiert war. Für die künftige Gestaltung des Verhältnisses der Länder zu den Zentralverwaltungen wurden von der SMAD folgende Regelungen verfügt: 1. Die zentralen Verwaltungen haben auf Anordnung der SMAD Planungen aufzustellen und durchzuführen, sie sind berechtigt, die Durchführung dieser Pläne zu überwachen; 2. Die zentralen Verwaltungen sind is BArchP, DN 1/2616, o. Bl. 19 Vgl. Runderlaß Nr. 13 vom 21. September 1945 des Präsidenten der DZFV, in: ebd. 20 SäHStA, LRS, MdF, Nr. 574, Bl. 1. 21 Ebd., Ministerpräsident (MP), Nr. 1580, o. Bl.

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nicht berechtigt, unmittelbar in die Verwaltung der Länder und Provinzen einzugreifen, sich Teile der Landesverwaltungen, deren Behörden und Beamte zu unterstellen; 3. Die zentralen Verwaltungen haben bei wichtigen Fragen die Länder und Provinzen vorher zu hören; 4. Der Verkehr der zentralen Verwaltungsstellen darf nur über die Präsidenten der Länder und Provinzen gehen und schließlich 5. Die Länder und Provinzen sind in keiner Weise nachgeordnete Behörden der zentralen Verwaltungsstellen. 22 Mit beiden Regelungen, der über die Finanz- und Steuerhoheit und der über die Stellung der Zentralverwaltungen, entsprach die SMAD weitgehend den Forderungen der Länder. Damit hatte sich bis Ende 1945 in der SBZ eine Finanzverfassung herausgebildet, die viel föderaler als die Weimarer war. Die Länder und Provinzen überwiesen an die Zentrale, fast so wie im Kaiserreich, Matrikularbeiträge zur Finanzierung von gemeinsamen Aufgaben und zur Deckung der persönlichen und sachlichen Ausgaben der zentralen Verwaltungen. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß ein erheblicher Teil der öffentlichen Einnahmen für die Deckung des Geldbedarfs der Besatzungsmacht und weitere Kriegsfolgen aufzuwenden war. Im ersten vollständigen Nachkriegshaushaltsjahr 1946 waren davon 73,3 Prozent des gesamten Steuer- und Abgabenaufkommens der Zone betroffen. Aber schon 1947/48 verbesserte sich die Situation. Die Länder leisteten Beiträge in Höhe von 55,7 Prozent des zonalen Steueraufkommens, behielten also 44,3 Prozent. Im darauffolgenden Haushaltsjahr konnten sie bereits über ca. 56 Prozent der Steuern und Abgaben verfügen. 23 In der bisherigen Literatur wurde der Umfang der Länderbeiträge zumeist überschätzt, da nicht genügend berücksichtigt worden ist, daß die Reichsüberweisungssteuern und weiteren Reichssteuern früher ohnehin dem Reich zustanden. Das eigentliche Problem bestand in der kriegsfolgebedingten Zweckbindung eines großen Teils der öffentlichen Ausgaben (Besatzungskosten, Reparationen, Barzahlungen an die SMAD etc.), die dann für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügungen stehen konnten. Da aber die Nachkriegskosten bei aller Härte nur einen zeitlich begrenzten Etatsposten bilden würden, erwarteten die ostdeutschen Finanzpolitiker in den Ländern und Provinzen nach dem Abschluß der Übergangsund Besatzungszeit die Rückgabe der bisher durch die Besatzungsmacht und den kriegsfolgebedingten Finanzbedarf beschnittenen Souveränitätsrechte auf finanzpolitischem Gebiet. Nach dem ersten Institutionenwandel war die Finanzverwaltung in der SBZ also nicht so stark zentralisiert wie in der britischen Zone, wohl aber etwas stärker zentralistisch strukturiert als in der amerikanischen und französischen Zone. Der zweite Institutionenwandel begann zunächst schleichend. Seine Ursachen sind in Veränderungen der Ordnungs- und Wirtschaftspolitik zu suchen. 22 Ebd., MdF, Nr. 576, Bl. 17. 23 Bundesarchiv Koblenz (BArch), OMGUS, ODI Nr. 7/26-3/6, o. BL; vgl. auch: Helmut Meier, Die Entwicklung des Haushaltswesens in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Berlin 1960, S. 75. 19 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Einige dieser Indikatoren waren daher für den zeitgenössischen Betrachter nur schwer erkennbar. So wurden die Bankenschließung und Kontensperre ebensowenig als endgültig angesehen wie die besatzungsrechtlichen Enteignungen im agrarischen und gewerblichen Sektor der ostdeutschen Wirtschaft. Obwohl also im Zeitraum bis 1948 bereits gravierende Veränderungen der wirtschaftlichen Ordnung eingetreten waren, bestanden starke tradierte Politikelemente weiter fort. Erst nach dem Scheitern der Viermächte Verwaltung im Frühjahr 1948 wurde in der SBZ die Hinwendung zu einer Gesellschaft sowjetischen Musters beschleunigt. Von deutscher Seite zeichnete für den politikpraktischen Bereich die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) verantwortlich. Die von der DWK-Führung (ζ. T. personell mit der SED-Parteiführung identisch) durchgeführte Wirtschaftspolitik wirkte gravierender auf die Transformation des Ordnungssystem der SBZ als die bisherigen Veränderungen. Erst zu diesem Zeitpunkt begann eine Instrumentalisierung der Finanz- und Budgetpolitik zur Beseitigung der föderalen Staatsstruktur und zur Zentralisierung von öffentlichen Einnahmen und Entscheidungen über ihre Verwendung. Im Zusammenhang mit offen unternehmerfeindlichen Normensetzungen, insbesondere im Steuerrecht, lösten diese Veränderungen den Widerspruch von Expertengremien auf Länder- und zonaler Ebene aus. Damit begann die Sowjetisierung der Finanzverfassung Ostdeutschlands. Die wichtigste Aufgabe der DWK bestand nach ihrer Kompetenzerweiterung im Frühjahr 1948 in einer Vereinheitlichung des Wirtschaftsapparates der Länder, der Beschleunigung der Transformationspolitik von Besatzungsmacht und SED-Führung mittels strafferer Organisationsprinzipien und der Vorbereitung und Durchführung des Zweijahresplanes 1949/50. Dabei kollidierte die von der DWK-Führung um Heinrich Rau, Fritz Selbmann und Bruno Leuschner vertretene politische Linie sehr bald mit der Interessenlage in den Ländern einerseits und in einigen ehemaligen Deutschen Zentral Verwaltungen andererseits. Die bisherigen Deutschen Zentralverwaltungen erhielten den Status von Hauptverwaltungen der DWK, d. h. die DZFV wurde nunmehr Hauptverwaltung Finanzen (HVF), und war dem Sekretariat der Kommission unterstellt. Damit erreichte der zweite Institutionenwandel einen ersten Höhepunkt. Auf zentraler Ebene verlor die Finanzverwaltung faktisch übergangslos ihre bisherige relativ unabhängige Stellung. Da die materielle Volkswirtschaftsplanung nach sowjetischem Vorbild als wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik galt, wurde die Finanzpolitik als bloßes Instrument zur Durchsetzung gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Zielvorstellungen eines großen Teils des bisherigen Gestaltungsspielraums beraubt. Sie sollte jetzt in erster Linie die Finanzströme (Haushaltsmittel, Wirtschaftskredite) für den materiellen Planungsprozeß zur Verfügung stellen. Für diese Aufgaben stand ein Teil des Führungspersonals der zentralen Finanzverwaltung aber nicht mehr zur Verfügung. Die Proteste der Verwaltung gegen ihren Bedeutungsverlust führten nicht zu einer einvernehmlichen Lösung der Konflikte, da diese eine ordnungspolitische Dimension angenommen hatten. Bei einer Aussprache im Frühjahr 1948 zeigten sich die SED-Funktionäre an der Spitze der

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DWK auch nicht mehr kompromißbereit. Nunmehr die Machtfrage stellend, warfen Leuschner, Rau und Selbmann den Finanzfachleuten vor, die Wirtschaft beherrschen zu wollen und Mißtrauen zu schüren. Als diese auf ihren Standpunkten und der Einhaltung des Status quo beharrten, ließ sich Selbmann sogar zu der Äußerung hinreißen: „Man sollte nicht auf Gegner hören." 24 Der Personalwechsel an der Spitze der zentralen Finanzverwaltung wurde kurz nach der Währungsreform im Sommer 1948 vollzogen. An Stelle des fachlich kompetenten bisherigen DZFV-Präsidenten Henry Meyer wurde der Direktor der Treuhandanstalt in Ostberlin, Willy Rumpf 25 , zum Leiter der Hauptverwaltung Finanzen berufen. Fast zeitgleich erfolgte die Abberufung des Leiters der Finanzabteilung der SMAD. Damit begann die Gleichschaltung dieser Verwaltung. Die Verdrängung der bisherigen Bediensteten wurde auf die mittlere und untere Ebene ausgedehnt. Im August 1948 legte das SED-Zentralsekretariat fest, die sogenannten bürgerlichen Spezialisten in den Finanzverwaltungen von Zone und Ländern durch SED-Funktionäre zu ersetzen 26 und griff damit in bisher nicht praktiziertem Umfang in die Kompetenzen dieser Verwaltungen ein. Das Verhältnis der Einheitspartei zu den Zentralbehörden hatte sich offenbar gewandelt. Der Staat und damit auch dessen öffentliche Einnahmen wurden als sich der öffentlichen Kontrolle entziehende machtpolitische Instrumente benutzt. Bis zum Ende der fünfziger Jahre dauerten Auseinandersetzungen und Säuberungsaktionen an. 27 Nunmehr wurde die Finanzverfassung grundsätzlich verändert. Die sowjetische Besatzungsmacht unterstützte diesen Prozeß, zumal die Moskauer Führung um Stalin der Bildung eines ostdeutschen Separatstaates zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ablehnend gegenüberstand. Bei einer Besprechung am Sitz der russischen Militärregierung in Berlin im November 1948 wurden die Kompetenzen auf finanz- und haushaltspolitischem Gebiet neu geregelt. 28 Im Dezember 1948 reisten die SED-Führer nach Moskau, um mit der UdSSR-Führung die weitere Perspektive für die SBZ zu beraten. Sie wollten u. a. auch „grünes Licht" für die Veränderung der Finanzverfassung bekommen. Einen breiten Raum in den Gesprächen nahmen Informationen über das Finanzsystem der UdSSR ein. So wurden die Finanzplanung der staatseigenen Wirtschaft, die Struktur der öffentlichen Einnahmen und 24 Protokoll des Gesprächs vom 21. Mai 1948, BArchP, DN 1/2539, o. Bl. 25 Seine „fachliche Befähigung" als Finanzpolitiker schöpfte Rumpf, der dem SED-Zentralsekretariat angehörte, aus einer Tätigkeit als Versicherungsvertreter in der Zwischenkriegszeit. 26 Die Durchführung des Beschlusses wurde der Abteilung Wirtschaftspolitik des SEDParteivorstandes übertragen. Vgl. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Zentrales Parteiarchiv (ZPA), DY 30, I IV 2/2.1/ 225, o. Bl. 27 Säuberungswellen fanden 1950 bei der Deutschen Notenbank und den Finanzministerien in Sachsen und Thüringen sowie 1954 und 1958 bei regionalen Finanzverwaltungen und Banken statt. 28 BArchP, DN 1/2539, o. Bl. 19*

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Ausgaben des Staatshaushalts der UdSSR und die Grundsätze der Besteuerung erläutert. 29 Die Länder verloren im Verlauf des Haushaltsjahres 1949 die Finanz- und Steuerhoheit. Die SED-Führung betrachtete es als nicht länger hinnehmbar, daß der Gestaltungsspielraum ihrer Politik von Landtagsentscheidungen begrenzt werden konnte. 30 Die Gesetzgebungskompetenz auf finanzpolitischem Gebiet und die Erhebungs- und Verteilungsbefugnis der öffentlichen Einnahmen gingen an die DWK über. Bei oberflächlicher Betrachtung waren diese Regelungen zum Teil mit der Finanzverfassung der Weimarer Republik vergleichbar, d. h. an die Stelle der Abhängigkeit der Zone von den Ländern trat die Abhängigkeit der Länder von der Zone. Tatsächlich wies das neue System aber zwei gravierende Unterschiede zu Weimar auf. Es besaß erstens keine demokratische Legitimation, weil die Entscheidungen der DWK keiner parlamentarischen Kontrolle unterlagen. Auch die Länder und Gemeinden, wo noch die 1946 gewählten Parlamente bestanden, wurden durch ihre „finanz- und wirtschaftspolitische Entmachtung" von der Mitsprache auf diesem Gebiet ausgeschlossen. Zweitens war das System ein zentralstaatliches. Länder und Gemeinden verfügten über keine nennenswerten eigenen Steuereinnahmen. Auch die Zuweisungen aus dem zentralen Haushalt glichen diese Differenz nicht aus, da ein erheblicher Teil der Politikbereiche, die bisher von Ländern und Kommunen wahrgenommen wurden, nunmehr in den Zuständigkeitsbereich der Zentrale abgegeben werden mußte. Von den gesamten öffentlichen Einnahmen aus den Steuern verfügte die Zentrale im Jahr 1950 über 74 Prozent, die anderen Gebietskörperschaften nur über 26 Prozent. Das entsprach in etwa der Einkommenszentralisierung während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dieses Verhältnis blieb in den Folgejahren mit nur ganz geringen Nuancierungen bestehen.31 Die neue Finanzverfassung war also - obwohl die Länder formal bis 1952 existierten - nicht mehr bundes-, sondern zentralstaatlich. Da die Staatlichkeit deutscher Länder in besonderem Maße von der Wahrnehmung solcher finanzpolitischen Souveränitätsrechte wie Verfügung über eigene Einnahmen, Haushaltshoheit, Gesetzgebungs- und Weisungsbefugnis auf finanz- und haushaltspolitischem Gebiet etc. abhängig ist, muß am Staatscharakter der ostdeutschen Länder seit 1949 erheblicher Zweifel geäußert werden. Die bisherigen Landesregierungen gerieten in die Position von untergeordneten Provinzverwaltungen ohne wirkliches Entscheidungsrecht. Obwohl der Verfassungstext der DDR von 1949 den neuen Staat als Bundesstaat definierte, hatte die SBZ bereits vor der ostdeutschen Staatsgründung ihren bundesstaatlichen Charakter verloren. Die DDR entstand daher in Wirklichkeit als Zentralstaat. 29 Die Protokolle der Moskauer Beratungen befinden sich im Nachlaß von Pieck, SAPMO-BArch, ZPA, NY 4036/695, Bl. 35 ff. 30 BArchP, DN 1/2539, o. Bl. 31 Vgl. Meier, S. 75.

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Während der zweite Institutionenwandel auf zentraler Ebene bereits vor der Gründung des ostdeutschen Staates abgeschlossen abgeschlossen war, bestanden die Interessen der beiden anderen Finanzebenen, Länder und Gemeinden, zunächst weiter. Für sie stellte sich die Frage nach ihrem künftigen Entscheidungsspielraum mit größerer Schärfe neu. Unmittelbar nach der Gründung der DDR, bis dahin benötigten SED-Führung und SMAD die Spitzenpolitiker in den Landesfinanzministerien als Bündnispartner, setzten politische Säuberungen auf Landesebene ein. Gerade die Finanzminister von Sachsen und Thüringen, die der CDU bzw. der LDPD angehörten, gelangten in den Schnittpunkt zweier Säuberungswellen, einer gegen die sog. „bürgerlichen Spezialisten" in den öffentlichen Verwaltungen und einer gegen oppositionelle Politiker aus den nichtkommunistischen Parteien. Gerhard Rohner (Sachsen) war in der „Sächsischen Zeitung", damals Landesparteizeitung der SED, im Januar/Februar 195032 Sabotage und Verrat vorgeworfen worden. Gegen Leonhard Moog (Thüringen) und leitende Angestellte seines Ministeriums fand im Dezember 1950 ein Schauprozeß in Erfurt statt.33 Obwohl es Rohner und Moog rechtzeitig gelang, nach West-Berlin bzw. in die Bundesrepublik zu fliehen, hatten diese und andere Willkürakte eine starke disziplinierende Wirkung. Der größte Teil noch verbliebener Finanzfachleute verließ die DDR, der Elitenwechsel bei den Finanzverwaltungen kam somit zu Beginn der fünfziger Jahre weitgehend zum Abschluß. Im Ergebnis des hier beschriebenen doppelten Institutionenwandels bildete sich eine Finanzverfassung heraus, die der Wirtschaftsordnung entsprach. Da die Finanzpolitik aber in dem Maße in der allgemeinen Wirtschaftspolitik aufging, wie der Staat Planung und Vollzug aller wirtschaftlichen Betätigung übernahm, wurde sie in ihrer Gestaltungsfunktion stark beschränkt. Jedoch vollzog sich auch diese Subsumtion prozessual über einen längeren Zeitraum, unterbrochen von partiellen Reformphasen. Im zweiten Abschnitt wird die Effizienz des neu entstandenen finanzpolitischen Systems an einem Beispiel untersucht.

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Was ist im sächsischen Finanzministerium los?, in: Sächsische Zeitung, Dresden, 4. Januar 1950; Das Finanzministerium der Deutschen Demokratischen Republik zum Artikel der „SZ", in: ebd., 27. Januar 1950; Minister Rohners Regierungsgeschäfte ruhen. Eine Erklärung des Finanzministers vor dem Politischen Ausschuß des Hauptvorstandes der CDU, in: ebd; Herrnstadt, Rudolf, Hickmann - das Profil einer Reaktionärs, in: ebda.; Die Lehren aus dem Fall Rohner, in: ebd., 7. Februar 1950. 33 Berichte über diesen Prozeß wurden in den Aktenbeständen der Deutschen Notenbank gefunden, BArchP, DN 6/1462, o. Bl.

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C. Budgetpolitik als Fallbeispiel für Möglichkeiten und Grenzen der Finanzpolitik in den fünfziger Jahren 34 Die Budgetpolitik gehört in allen hochindustrialisierten Staaten marktwirtschaftlicher Ordnung zu den wichtigsten Steuerungsinstrumenten konjunktureller Prozesse. Die Finanzpolitik ist somit bemüht, die wirtschaftlichen Aktivitäten von Unternehmen, privaten Haushalten und Gebietskörperschaften so zu beeinflussen, daß ein möglichst hoher Beschäftigungsgrad gesichert wird, das Produktionspotential wächst, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht erhalten bleibt und inflationsbedingte Veränderungen im Preissystem nicht zu groß werden. 35 In den Staaten, deren Wirtschaftsordnung auf dem sowjetischen Modell basierte, war der öffentliche Haushalt nicht in gleichem Maße Schlüsselinstrument der Wirtschaftspolitik. Das Budget war vielmehr in Konsequenz des Fortbestehens eines Bewirtschaftungssystems mit gesamtwirtschaftlichem Anspruch dem Volkswirtschaftsplan, einem Mengenplan, untergeordnet und stellte gemeinsam mit dem Kreditplan und den Finanzplänen der Staatsunternehmen ein Residuum des Planungsprozesses dar. Die Aufgabe des Budgets bestand also, wie bereits angemerkt, in der Sicherstellung der zum Mengenplan korrespondierenden Finanzströme. 36 Darin unterschied sich die ostdeutsche Entwicklung nicht von der UdSSR und den anderen Ostblockstaaten.37 Unabhängig davon hatten dennoch Besonderheiten Bestand, die sich sowohl aus Nachwirkungen von deutschen finanzpolitischen Traditionen als auch aus dem industriellen und sozialen Entwicklungsniveau Ostdeutschlands ergaben.38 Gemeinsamkeiten mit der Bundesrepublik bestanden auch über den doppelten Institutionenwandel heraus bei einem Teil der Regierungsaufgaben, bei den Techniken der 34 Vgl. Baar, Lothar/Müller, Uwe/Zschaler, Frank, Strukturveränderungen und Wachstumsschwankungen. Investitionen und Budget in der DDR 1949 bis 1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jg. 1995, T.2, S. 47-74. 35 Vgl. Buck, H. F., Ordnung des Haushaltswesens und staatliche Ausgabenpolitik in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gutmann, G., (Hg.), Basisbereiche der Wirtschaftspolitik in der DDR. Geld-, Finanz- und Preispolitik, Köln 1983, S. 103. 36 Vgl. Holzmann, R., die Neugestaltung des staatlichen Budgetwesens. Notwendigkeit und Erfahrungen in mittel- und osteuropäischen Ländern im Übergang (= Forschungsbericht 9117, hg. vom Ludwig Boltzmann Institut für ökonomische Analysen wirtschaftspolitischer Aktivitäten), Wien 1991. 37 Eine sehr detaillierte Untersuchung über den Staatshaushalt der UdSSR wurde bereits Mitte der fünfziger Jahre unter der Leitung von Karl C. Thalheim erarbeitet. Vgl. Förster, W./Menz-Goller, G., Die Rolle der Finanzwirtschaft im sowjetischen Wirtschaftssystem (= K. C. Thalheim [Hg.], Berichte des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Wirtschaftswissenschaftliche Folge Nr. 6), Berlin 1955. 38

Vgl. zum Transformationsprozeß der Finanzverfassung der SBZ/DDR: Zschaler, F., Die Entwicklung einer zentralen Finanzverwaltung in der SBZ/DDR (1945-1949/50), in: Mehringer, H. (Hg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, München 1995, S. 97-138*

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Budgetierung, den Grobstrukturen der öffentlichen Haushalte, der Bereitstellung öffentlicher Güter und Leistungen sowie deren vorrangiger Finanzierung durch öffentliche Einnahmen, also staatlich bestimmte Zwangsabgaben. Auch in der DDR existierte eine nach den Grundsätzen der Kameralistik geführte Rechnungslegung über den Vollzug des öffentlichen Haushalts. Sie war aber nicht öffentlich, Haushaltspläne und -rechnungen hatten den Charakter von Staatsgeheimnissen, publiziert wurden allenfalls Globaldaten. Trotzdem müssen die genannten Merkmale der Haushaltswirtschaft als systemneutral bewertet werden, aus ihnen ergaben sich ähnliche Hauptaufgaben für die Staatsfinanzwirtschaft. Die Unterschiede waren aber dennoch gravierend. Es handelte sich dabei, um nur einige zu nennen, um den hohen Sozialisierungsgrad, die Dominanz der güterwirtschaftlichen gegenüber der finanziellen Lenkung der Wirtschaft, den weitgehenden Verlust der Eigenständigkeit aller Finanzebenen jenseits der Zentrale, die starke Zentralisierung von wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen, schließlich den direkteren Zugriff des Staates auf das Kreditsystem. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen einer budgetpolitischen Steuerung des Wirtschaftswachstums in der DDR überhaupt sinnvoll ist. Die Antwort hängt davon ab, welche Bedeutung dem Staatshaushalt für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der DDR beigemessen werden kann. Nach dem Selbstverständnis der DDR-Finanzwissenschaft war der Staatshaushalt ein zentrales Instrument der finanziellen Seite der Wirtschaftsplanung, mit dessen Hilfe beträchtliche Teile des Nationaleinkommens umverteilt werden konnten. 39 Obwohl die Bedeutung des Budgets für die staatliche Finanzplanung der DDR nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, handelte es sich dabei weder um ein alleiniges Lenkungsinstrument der Wirtschaft noch um einen Finanzplan der gesamten Volkswirtschaft. Trotzdem besaß die Budgetpolitik in der DDR, wie auch in den anderen staatssozialistischen Ländern sowjetischen Typs, Einfluß auf die Allokation von Ressourcen, die Distribution des Volkseinkommens und, wenn auch eingeschränkt, die Stabilisierung wirtschaftlicher Prozesse. Außerdem wuchs dem Staatshaushalt zumindest zeitweise die Bedeutung als „größtes Kapitalsammelbecken" der Volkswirtschaft zu. Wenn das Budget und damit die Budgetpolitik auch in starkem Maße von der zentralen Wirtschaftsplanung abhingen, waren sie doch bessere Instrumente für die Wirtschaftslenkung als andere Bestandteile der Finanzpolitik. 40 Die öffentlichen Haushalte stellen nur einen Teil der Gesamtaktivitäten des Staates dar. Gerade in einer Zentralplanwirtschaft ist das Wachstum des Budgets also kein ausreichender Indikator für den Staatsinterventionismus. Dieser drückt sich ζ. T. stärker in der Dominanz staatlicher Unternehmen, der quantitativen Volks39

Vgl. J. Gurtz, Staatshaushalt, in: Ökonomisches Lexikon, 3. Bd., 3. Auflage, Berlin 1980, S. 222 f. 40 F. Buck, S. 108.

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Wirtschaftsplanung, weiteren regulativen Staatseingriffen, der unterschiedlichen Behandlung von staatlichen und privaten Unternehmen bei der Erhebung von Steuern, der staatlich gelenkten Kreditvergabe etc. aus.41 Dennoch kann vor allem die Staatsquote, also der Anteil der Ausgaben der öffentlichen Haushalte am produzierten Nationaleinkommen42 als brauchbare Meßgröße dienen, um zu ermitteln, in welchem Umfang das Sozialprodukt über den Staat umverteilt wurde. Damit sind Rückschlüsse auf den Zentralisierungsgrad möglich. In Phasen zunehmender Zentralisierung müßte die Allokation und Distribution von Kapital und Einkommen über öffentliche Haushalte wachsen, in Phasen der Dezentralisierung wegen einer stärkeren Betonung von Selbstfinanzierungsinstrumenten jedoch zurückgehen. Die im Rahmen der Untersuchungen ausgewerteten Daten 43 erlauben folgende Einschätzung. Mit Ausnahme der Jahre 1956 und 1957 44 bewegte sich die Staatsquote während der fünfziger Jahre bei oder über 60 Prozent, näherte sich aber nur 1953 der 70 Prozentmarke. In diesen Zahlen spiegelt sich die stark zentralistische Wirtschaftslenkung in dieser Zeit wider. Weitere Schlußfolgerungen lassen sich aus der Entwicklung von staatlichen Investitionen und Subventionen ableiten. Dabei ist zunächst zu klären, was in einer Zentralverwaltungswirtschaft mit dominierendem Staatseigentum unter „staatlichen" oder „öffentlichen" Investitionen zu verstehen ist, zumal nicht im marktwirtschaftlichen Sinn zwischen einem öffentlichen und einem privaten Sektor unterschieden werden kann. 45 Man könnte daher die Auffassung vertreten, daß alle Investitionen in staatseigenen Unternehmen ohnehin staatliche Investitionen gewesen sind. Eine solche generalisierende Definition berücksichtigt den temporär unterschiedlich ausgeprägten Entscheidungsspielraum der staatlichen Unternehmen jedoch nicht. Außerdem war die Investitionsfinanzierung in der DDR vielschichtiger. Für die hier zu untersuchende Fragestellung ist es günstiger, vom Be41 Vgl. dazu für die Entwicklung in der Bundesrepublik: Ambrosius, G., Staatsausgaben und Staatsquoten der Bundesrepublik in den 50er Jahren - ihre Einflußfaktoren im internationalen Vergleich, in: Petzina, D. (Hg.), Ordnungspolitische Weichenstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 203), Berlin 1991, S. 3453. 42 Für diese Studie wurden die öffentlichen Gesamtausgaben lt. Haushaltsrechnung so korrigiert, daß nur das Bilanzsaldo der Sozialversicherung, welches tatsächlich aus dem Haushalt finanziert wurde, bei den Sozialausgaben Berücksichtigung fand. Dazu war es erforderlich, die Einnahmen der Sozialversicherung auf beiden Seiten der Haushaltsrechnung abzuziehen. 43 Es handelt sich dabei um die Haushaltsrechnungen der DDR für die Rechnungsjahre 1950 bis 1989, BArchP, verschiedene Signaturen. 44 Für diese Ausnahmen gibt es noch keine ausreichende Erklärung. 45 In marktwirtschaftlichen Systemen erfolgen direkte öffentliche Investitionen normalerweise in Infrastrukturbereichen oder öffentlichen Unternehmen, während privaten Wirtschaftsunternehmen Investitionshilfen gewährt werden. Beide Formen werden in dieser Studie vereinfachend als öffentliche Investitionen bezeichnet.

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griff der öffentlichen Hand, respektive des öffentlichen Haushalts auszugehen. Bei öffentlichen Investitionen handelt es sich daher um aus dem Staatshaushalt stammende öffentliche Darlehen und Zuschüsse an inländische Unternehmen zur Finanzierung von Investitionen. Für die Finanzierung von Investitionen gab es in Ostdeutschland verschiedene Instrumente. Neben den öffentlichen Haushalten wurden eigene Mittel der Staatsunternehmen, sog. Grundmittelkredite 46 der staatlichen Banken und weitere Finanzierungsmittel innerhalb der sich ändernden Rechtsvorschriften eingesetzt. Für die Investitionen staatlicher Einrichtungen und für den Wohnungsbau standen außerdem das Vermögen der öffentlichen Hand und Obligationen zur Verfügung. Generell gilt für jede Volkswirtschaft, daß eine rein ökonomisch optimale Investitionsquote47nicht zu ermitteln ist, d. h. die Höhe von öffentlichen Investitionen kann positiv oder negativ wirken und hängt in starkem Maße von anderen Faktoren ab, darunter weiteren Finanzierungsinstrumenten und der außenwirtschaftlichen Verflechtung. Die Datenanalyse gestattet nun folgende Bewertung: Bis 1959 erfolgte die Investitionsfinanzierung zu 41 bis 67 Prozent durch direkte Staatszuschüsse. Sie wurden von der Politik als geeignetes finanzpolitisches Instrument für die Steuerung des Aufbaus neuer Produktionskapazitäten auf Grundlage der staatlichen Schwerpunktprogramme angesehen. Dieses Ziel wurde im Prinzip erreicht. Ab 1960 sank dann der Anteil der öffentlichen an den Gesamtinvestitionen. Diese Entwicklung war aber noch nicht Ausdruck von nennenswerten Dezentralisierungen, sondern stand vielmehr im Zusammenhang mit der Beendigung der Kapazitätserweiterungs- und Autarkieprogramme der fünfziger Jahre. Für die fünfziger Jahre war also die Nutzung des Budgets als finanzpolitisches Instrument zur Allokation von Kapital auf Schwerpunktbereiche der wirtschaftlichen Entwicklung typisch. Unter marktwirtschaftlichen Aspekten sind staatliche Investitionen, vor allem wenn sie außerhalb des Infrastrukturbereiches erfolgen, nur zum Ausgleich bestimmter konjunktureller Schwankungen und Schieflagen gerechtfertigt. Sie sind daher mit dem wachstumspolitischen Ziel einer allgemeinen Steigerung von Produktionsmöglichkeiten verbunden, sollen also vorrangig in Engpaßbereichen eingesetzt werden, zu zusätzlichen privaten Investitionen führen und damit zukünftiges Wachstum sichern. Daher war die Übernahme der Funktion des Investors durch den Staat im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende nicht nur auf Planwirtschaften beschränkt. In der Bundesrepublik 48 wurden öffentliche Investitionen als Folge des 46 Das waren Kredite für Gebäude und Ausrüstungen. 47x Vgl. Krelle, W., Investitionen und Wachstum, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 176, Stuttgart 1964, S. 1 ff. 48 Auch in Frankreich erlangten öffentliche Investitionen in den vierziger und fünfziger Jahren im Rahmen der „planification" einen bedeutenden Anteil an den Gesamtinvestitionen der privaten Wirtschaft, zwischen 1947 und 1965 wurden vier Investitionspläne durchgeführt. Vgl. Müller-Ohlesen, L., Strukturwandel und Nachkriegsprobleme der Wirtschaft Frankreichs (= F. Baade (Hg.), Kieler Studien, Bd. 22), Kiel 1952.

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noch nicht ausreichend funktionierenden Kapitalmarktes im gesamtwirtschaftlichen Interesse vergeben, um sektorale und/oder strukturelle Not- oder Mißstände zu beseitigen oder zu mildern, den Wohnungsbau und Notstandsgebiete zu fördern und eine Verbesserung der Agrarstruktur zu unterstützen. 49 In der Wiederaufbauperiode der Bundesrepublik bis 1955/56 erfolgten öffentliche Investitionen vor allem im Wohnungsbau, im Verkehrswesen, im Kohlenbergbau, in der Eisen- und Stahlindustrie, der Grundchemie und den Zellstoffindustrien. 50 Ab 1956 dienten sie dann Strukturverbesserungen, Rationalisierungen und Modernisierungen und wurden nicht mehr vorranging in Großunternehmen, sondern auch in Mittel- und Kleinunternehmen und in der Landwirtschaft eingesetzt.51 Die Zäsur zwischen beiden Abschnitten ergab sich aus einem Wandel der Förderstrategie. An die Stelle der weiten Streuung von öffentlichen Investitionen trat eine stärker an qualitativen Gesichtspunkten orientierte Auswahl. Seit den sechziger Jahren stieg der absolute Wert der öffentlichen Investitionen weiter an, war jedoch unterproportional im Vergleich zu anderen Ausgabekategorien. Obwohl es dafür keine hinreichenden Erklärungen gibt, muß berücksichtigt werden, daß investive Maßnahmen zum Wiederaufbau immer weniger benötigt wurden, aber auch andere Staatsausgaben, darunter die Sozialhaushalte und Personalkosten, schneller anstiegen. Der Anteil der öffentlichen Investitionen an den öffentlichen Ausgaben ging also auch in der Bundesrepublik zurück, aber aus anderen Gründen und mit anderen Auswirkungen als im Osten Deutschlands.52 Öffentliche Investitionen haben in keiner Volkswirtschaft ex definitione eine positive Qualität. Der Rückgang ihres Anteils an den öffentlichen Ausgaben bzw. Gesamtinvestitionen ist unter allokativen Gesichtspunkten nicht von vornherein kritisch. Er wird jedoch zu einem Problem wenn trotz Bedarfs die Durchführung öffentlicher Investitionen unterbleibt. Der Umfang der öffentlichen Investitionen hängt also unter Umständen nicht allein vom Bedarf, sondern auch vom Volumen der Einnahmen einerseits und/oder der als kurzfristig unabwendbar geltenden Ausgaben andererseits ab. In der DDR blieb die Budgetpolitik aber immer unflexibel. Die herrschende Mangelwirtschaft begrenzte die Effizienz finanzpolitischer Instrumente. Ebenfalls nachteilig wirkte sich die rasche Expansion des Subventionsbedarfs der Staatswirtschaft aus. Es gehörte zu den originären Aufgaben der Budgetpolitik in der DDR, Teuerungswellen auf den äußeren Beschaffungsmärkten zunächst abzufangen, Stützungszahlungen für die politisch gewollte Preisstabilität von Grundbedarfsgü49 Over, L., Öffentliche Finanzinvestitionen als Instrument der Finanzpolitik. Empirische und theoretische Untersuchungen, Staatswissenschaftliche Diss. Freiburg im Breisgau, Wuppertal-Elberfeld 1966, S. 12 ff. 50 Beckner, F., Zehn Jahre öffentliche Finanzierungshilfen, in: Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, H. 3/1960, S. 113. 51 Ebda. 52

Littmann, K., Öffentliche Investitionen, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 9 (Nachtrag), 1982, S. 812 ff.

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tern zu gewähren und die Verluste von Unternehmen auszugleichen, deren Kosten durch das Industriepreissystem nicht gedeckt waren. Die Quellensituation erlaubt nur eine Bewertung der Preisstützungen für Güter des Binnenverbrauchs. Diese Subventionsart53 kann als Mischform zwischen Barsubventionen und Verbilligungssubventionen angesehen werden, weil der Staat Zahlungen an Unternehmen mit dem Ziel leistete, Güter zu einem geringeren als dem Kostenpreis zur Verfügung zu stellen. Genauso verhält es sich mit dem Erwerb von bestimmten Waren durch staatliche Aufkauf- bzw. Handelsgesellschaften zu höheren als den Kostenpreisen und ihren Verkauf unter den Kostenpreisen. Zwischen 1953 und 1959 war der Anteil der Preisstützungen an den öffentlichen Gesamtausgaben ungefähr genauso hoch wie der Anteil der öffentlichen Investitionen (ca. 14 Prozent). Exportpreisstützungen spielten im Unterschied zu den siebziger und achtziger Jahren im ersten Jahrzehnt der Existenz des ostdeutschen Staates noch keine nennenswerte Rolle. Da die wirtschaftspolitische Zielgenauigkeit des Instruments Preisstützungen sehr mangelhaft ist, lassen sich Allokationseffekte, abgesehen von einer Unterstützung der Autarkiebestrebungen in den fünfziger Jahren, kaum nachweisen. Distributiv wurde zwar eine Umverteilung von Unternehmens- und privaten Einkommen erreicht, ihre langfristigen Wirkungen waren aber geradezu kontraproduktiv. Stabilisierungseffekte traten daher, wie auch bei der Investitionspolitik, nur temporär auf.

D. Resümee und Ausblick Die für das Ordnungs- und Wirtschaftssystem Ostdeutschlands typische Finanzverfassung hatte sich bereits bis zum Beginn der fünfziger Jahre herausgebildet. Im Gegensatz zu demokratisch verfaßten Ordnungen war sie nur zum Teil normiert. Bestimmte Normen der Staatsverfassung, ζ. B. der durch die Verfassung von 1949 festgeschriebene Bundesstaatscharakter oder der dort ebenfalls apostrophierte Gleichheitsgrundsatz der Bürger vor dem Gesetz, die eigentlich den Handlungsrahmen für Politik und Verwaltung begrenzen sollten, fanden keine adäquate Widerspieglung in der Finanzverfassung. Gesetze und Verordnungen wurden vielmehr bis zur Mitte der fünfziger Jahre ganz offen nach den jeweiligen gesellschaftpolitischen Zielsetzungen der SED-Führung ausgelegt. In diesem Sinne besaß die Finanzverfassung totalitäre Züge und wurde als ordnungspolitisches Instrument zur offenen oder verdeckten Enteignung des wirtschaftlichen Mittelstandes und der Eigentümer privater Vermögenswerte eingesetzt.

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Außer den hier untersuchten gibt es noch andere offene und verdeckte Subventionen. Eine vollständige Subventionsstatistik aufzustellen ist aber unmöglich. Auch dieses Problem ist aus der bundesdeutschen Statistik bekannt. Vgl. Adel, N., Subventionen, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 7,1977, S. 491 ff.

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Unterhalb dieser Ebene hatte die Finanzpolitik aber „normale" Aufgaben zu erfüllen, die weiter oben erläutert worden sind. Dazu gehörte auch der Einsatz von finanzpolitischen Instrumenten, um Ziele der allgemeinen Wirtschaftspolitik erfüllen zu können. Obwohl die materielle Volkswirtschaftsplanung wegen des Ressourcenmangels Vorrang vor der Budgetierung hatte, verlor die Budget- und damit auch die Finanzpolitik nicht völlig an Bedeutung. In den fünfziger Jahren sollten über die öffentlichen Haushalte vor allem öffentliche Investitionen für die wirtschaftspolitischen Programme bereitgestellt werden, weniger priviligierte Branchen wurden ebenso vernachlässigt wie die Regionen, in denen sich keine Investitionsschwerpunkte befanden. Nachdem die starke Zentralisierung von finanzpolitischen Entscheidungen und Kompetenzen bei den Zentralbehörden auf wachsenden Unmut in den Regionen gestoßen war, begann ab 1958 mit der Einführung der sog. komplex-territorialen Finanzwirtschaft eine stärkere Einbeziehung der kommunalen Gebietskörperschaften in den Prozeß der staatlichen Finanzplanung. Auf regionaler finanzpolitischer Ebene wurden damit Entwicklungen vollzogen, die bei der Zentrale und auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik erst im Zusammenhang mit dem sog. Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in den sechziger Jahren begannen. Allerdings gingen die Finanz- und Wirtschaftsreformen nicht über die Grenzen des Systems hinaus. Der Abbruch dieser Prozesse Mitte der sechziger Jahre und die Hinwendung zu einer ausgabenorientierten Politik seit 1971 leiteten die Niedergangsphase der ostdeutschen Staatsfinanzwirtschaft ein. Zunächst versuchte die Finanzpolitik, mit der Umverteilung von Ressourcen den ständig wachsenden Staatsbedarf zu decken. Die Sozialpolitik, die allmählich Subventionscharakter annahm, und die im Widerspruch zur Kostenentwicklung stehenden Subventionen für Grundbedarfsgüter, Mieten und Dienstleistungen erforderten immer mehr öffentliche Mittel. Diese standen für öffentliche Investitionen nicht mehr zur Verfügung. Ein Teil der Sozialprogramme, darunter der Wohnungsneubau, wurde über die innere Verschuldung des Staates finanziert. Durch die Innovations- und Produktivitätsschwäche der Wirtschaft entstanden den Staatsunternehmen darüber hinaus ständig wachsende Kosten, um auf den Außenmärkten konvertible Valuten zu erwirtschaften. Auch diese Verluste hatte die öffentliche Hand auszugleichen. Die systembedingten Transaktionskosten waren also außerordentlich hoch. In den achtziger Jahren wuchs die Staatsquote auf über 90 Prozent. Damit hatte nicht nur die finanz- und wirtschaftspolitische Zentralisierung einen historischen Höhepunkt erreicht, sie war nunmehr nicht mehr in der Lage, steuernd einzugreifen. Als letzter Strohhalm blieb dann nur noch die Erhöhung der äußeren Verschuldung. Ende der achtziger Jahre befanden sich Finanzverfassung und Finanzpolitik in einem im Rahmen des System nicht mehr reformierbaren, stagnanten Zustand.

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Literatur Baar, Lothar / Müller, Uwe / Zschaler, Frank, Strukturveränderungen und Wachstumsschwankungen. Investitionen und Budget in der DDR 1949 bis 1989, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jg. 1995, T.2, S. 47-74. Buck, H. F., Ordnung des Haushaltswesens und staatliche Ausgabenpolitik in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gutmann, G., (Hg.), Basisbereiche der Wirtschaftspolitik in der DDR. Geld-, Finanz- und Preispolitik, Köln 1983. North, Douglass C., Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988. Mück, Wolfgang J. (Hg.), Föderalismus und Finanzpolitik. Gedenkschrift für Fritz Schäffer, Paderborn 1990. Renzsch, Wolfgang, Finanzverfassung und Finanzausgleich. Die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948-1990), Berlin 1991. Schmiedeberg, Victor, Geschichte und Entwicklung der Haushaltspolitik des Vereinigten Wirtschaftsgebiets und der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1954, (= Schriftenreihe des Bundesminsteriums der Finanzen, alte Reihe Heft 4), Bonn o. J.

Demontage und Konversion Zur Einbindung rüstungsindustrieller Kapazitäten in technologiepolitische Strategien im Deutschland der Nachkriegszeit Von Lutz Budraß und Stefan Prott

A. Problemaufriß und Fragestellung Folgt man den maßgebenden Studien zu Wirtschaft und Industrie im Nachkriegsdeutschland, so ist die Geschichte der Rüstungskonversion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kurz. Obwohl die Wirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands umfassend für einen Krieg mobilisiert hatte und industrielle Kapazitäten aufgebaut worden waren, die ausschließlich der Ausrüstung eines Heeres von Millionen Soldaten mit einer wachsenden Menge hochwertiger Waffen dienen sollten, wurden diese Kapazitäten und die in ihnen gebundenen personellen und materiellen Ressourcen nicht Gegenstand einer Politik, die ihre aktive Nutzung für eine Friedenswirtschaft angestrebt hätte. Die Konversion der deutschen Rüstungsindustrie sei nach 1945 erzwungen worden, heißt es, durch eine von außen verfügte, zeitlich befristete Einschränkung der Produktion bestimmter Rüstungsgüter und durch eine umfassende Demontage von rüstungsindustriellen Kapazitäten in beiden deutschen Staaten. Einer Konversionspolitik, sei es der Unternehmen, sei es der nicht souveränen deutschen Regierungen, wurde somit der Boden entzogen.1 Wenngleich in der Tat festgestellt werden muß, daß die Politik aller Alliierten genau diese Ziele in erster Linie verfolgte, die deutsche Wirtschaft zu demilitarisieren, die Werksanlagen abzubauen, die zur Herstellung von Waffen errichtet worden waren und darüber hinaus die kriegswirtschaftlich bedingte Herstellung von bestimmten Rohstoffen - Synthesebenzin und -kautschuk, Magnesium - zu unterbinden, so läßt sich diese These dennoch nicht vorbehaltlos stützen. Nicht, weil sich etwa Unterschiede ergeben hätten bei der Ernsthaftigkeit, mit der die Demilitarisierung in den westlichen Zonen und in der SBZ verfolgt wurde, oder den deutschen Unternehmen und Regierungen das Bemühen um eine heimliche Aufrechterhaltung von militärisch nutzbaren Kapazitäten unterstellt werden könnte.2 1

Köllner, Lutz, Abrüstung und Konversion als Problem in der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Bald, Detlef, (Hg.), Militär, Ökonomie und Konversion. Beiträge und Bibliographie. Das Werk von Lutz Köllner, Baden-Baden 1993, S. 19.

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Vielmehr zeigte sich schon bei Kriegsende, daß - die Strukturumbrüche in der Industrie, die im Zuge des Aufbaus der Kriegswirtschaft entstanden waren, nicht revidierbar waren, - der Rüstungskomplex so eng mit der deutschen Wirtschaft verzahnt und gleichzeitig so groß war, daß er als Objekt für Abbaumaßnahmen nicht hinreichend genau definierbar war, - eine weiträumige Tilgung aller mit der Rüstung des Zweiten Weltkriegs verbundenen Industrieunternehmen die Wirtschaft der Besatzungszonen nachhaltig geschädigt hätte, - und schließlich eine Verwertung der in diesem weiteren Rüstungsbereich existierenden Kapazitäten, über einzelne Entnahmen und eine Abschöpfung von Innovationen der Kriegszeit hinaus, angesichts der in allen kriegführenden Staaten anstehenden Reduktion des Rüstungssektors auch im Sinne von Reparationsleistungen auf Schwierigkeiten stieß. „Am Abend der Demontage"3 stand demnach, so die These, auf der sich der folgende Beitrag aufbaut, ein beträchtlicher Teil der materiellen, vor allem aber das fast ungeschmälerte Potential der personellen Kapazitäten des deutschen Rüstungswirtschaft für eine Konversion an. Die Form und der Verlauf der Reintegration dieser Residuen der deutschen Kriegswirtschaft ist bislang noch nicht Gegenstand historischer Analysen geworden. Ausgeklammert werden jene Fragen, die auf langfristige technologische Effekte der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft zielen. Zwar gibt es zentrale Debatten über die industrielle Ausgangslage des Jahres 1945, die Bedeutung der „intellektuellen Reparationen"4 und die „modernisierende" Wirkung der nationalsozialistischen Rüstungspolitik auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft. Industriegeschichtliche Darstellungen, die die technologische Ausstrahlung auf die industrielle Entwicklung in beiden deutschen Staaten untersuchen, stehen jedoch bis auf einige wenige Untersuchungen aus.5 Auch aus den Arbeiten zur Demontage der deutschen Industrie, die in den achtziger und neunziger Jahren vorgelegt worden sind, um die überblicksartigen Vor2

Mühlfriedel, Wolfgang/Wießner, Klaus, Die Geschichte der Industrie der DDR bis 1965, Berlin 1989, S. 44. 3 Harmssen, Gustav W., Am Abende der Demontage. Sechs Jahre Reparationspolitik, Bremen 1951. 4 Albrecht,Ulrich/Heinemann-Grüder, Andreas/Wellmann, Arend, Die Spezialisten. Deutsche Naturwissenschaftler und Techniker in der Sowjetunion nach 1945, Berlin 1992; Gimbel, John, Science, Technology and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990; Bower, Tom, The Paperclip Conspiracy. The Hunt on Nazi Scientists, Boston/Toronto 1987; Hunt, Linda, Secret Agenda. The United States Government, Nazi Scientists, and Project Paperclip, 1945-1990, New York 1991. 5

Reich, Simon, The Fruits of Fascism. Postwar Prosperity in Historical Perspective, Ithaca/London 1990.

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läufe der späten siebziger Jahre empirisch zu verdichten, lassen sich in dieser Hinsicht keine Erkenntnisse ziehen. Sie widmen sich explizit bestimmten Regionen bzw. Besatzungszonen,6 wohingegen ausdrücklich sektorale Analysen der Demontagepolitik und -folgen fehlen. Einzelne Branchen werden nur unter der Maßgabe einer für die zeitgenössische und heutige Demontagediskussion typischen Orientierung auf die Grundstofferzeugung wahrgenommen. Behandelt werden lediglich Branchen, die angesichts erwarteter Multiplikatoreffekte im Zentrum der „Demontageabwehr" standen, hier vor allem die Stahlerzeugung.7 So ist die Auseinandersetzung um die Stahlquote vom ersten Industrieniveauplan bis hin zum Petersberger Abkommen8 ein Kernbestand der Darstellungen zur „industriellen Abrüstung" in den Westzonen,9 während diejenigen Branchen, die von derartigen Multiplikatoreffekten betroffen wurden, also beispielsweise der gesamte große Bereich des Maschinenbaus, in den neueren Darstellungen nur summarisch behandelt werden. Aber selbst, wo neuerdings auch die Kernregion der deutschen rüstungsendverarbeitenden Industrie untersucht worden ist, die 1945 fast vollständig mit der SBZ zur Deckung kam, werden die Wirkungen der Demontagen und Reparationen auf diese Rüstungsendverarbeitung, also auf die Waffen-, Panzer- und Flugzeugwerke und ihre Vorindustrien, hintan gestellt. Auch in diesem Fall widmet sich die historische Analyse den Demontagen und Reparationen in der Grundstofferzeugung, weil hier die Interessen der Besatzungsmacht jenseits des Demilitarisierungsarguments besonders deutlich wurden und die Ursachen für eine unmittelbare und langfristige Schädigung der Wirtschaft der SBZ bzw. DDR ermittelt werden können. Versuche, die drastischen Reparationsentnahmen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) als Ausfluß einer Demilitarisierungsstrategie zu analysieren, kranken einerseits daran, daß „Rüstungsindustrie" zuvor begrifflich nicht abgegrenzt wird, 10 während andererseits die Einschränkung von Konversionsstrategien 6 Röchling, Martina, Demontagepolitik und Wiederaufbau in Nordrhein-Westfalen, Diss. Bochum 1992; Kramer, Alan, Britische Demontagepolitik in Hamburg, 1945-1950, Hamburg 1991. Zur Demontagepolitik in den Westzonen ansonsten maßgebend: Hoebink, Hein, Demontage in Nordrhein-Westfalen, 1947-1950, in: Westfälische Forschungen 30 (1980), S. 215-234; Forst, Walter, Die Politik der Demontage, in: Ders. (Hg.): Entscheidung im Westen, Kölnu. a. 1979, S. 111-143. 7 Nölting, Claudia/Nölting, Erik, Wirtschaftsminister und Theoretiker der SPD (18921953), Essen 1989, S. 240 f. 8

Müller, Gloria, Sicherheit durch wirtschaftliche Stabilität? Die Rolle der Briten bei den Auseinandersetzungen um die Stahlquote des I. Industrieplanes, in: Petzina, Dietmar/Euchner, Walter (Hg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet, 1945-1949, Düsseldorf 1984, S. 41-62; Lademacher, Horst, Das Petersberger Abkommen, in: Forst, Walter (Hg.): Zwischen Ruhrkontrolle und Mitbestimmung, Köln u. a. 1982, S. 67-87, bes. S. 78. 9 Mai, Gunter, Die Alliierten und die industrielle Abrüstung Deutschlands 1945-1948, in: Bald, Detlef (Hg.), Rüstungsbestimmte Geschichte und das Problem der Konversion in Deutschland im 20. Jahrhundert (= Jahrbuch für historische Friedensforschung Bd. 1 1992), Münster/Hamburg 1993, S. 68-88, hier S. 75. 10 Karisch, Rainer, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR, 1945-1953, Berlin 1993, S. 79 f. Hier wird u. a. versucht, die Interessen der sowjetischen Besatzungs-

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auf Demontage und Reparation allein auch hier wenig darüber aussagt, was beispielsweise mit den in der endverarbeitenden Rüstungsindustrie gebundenen Beschäftigten nach der Zerstörung der Werksanlagen geschehen ist. 11 Vor diesem Hintergrund widmen sich die folgenden Ausführungen fünf Fragen: Erstens, läßt sich ein Begriff der Rüstungskonversion jenseits der „Demontage" etablieren, der eine zielgerichtete Umwidmung der materiellen und personellen Ressourcen des aus der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft überkommenen Rüstungskomplexes zum Inhalt hatte? Zweitens, wer gestaltete diese Rüstungskonversion? Drittens, gab es bestimmte Wahrnehmungsmuster der Residuen der Rüstungswirtschaft und welche Rolle wurde ihnen darin für eine Weiterentwicklung der deutschen industriellen Struktur eingeräumt? Viertens, auf welche Ausschnitte des verbliebenen Potentials konzentrierte sich die Konversionspolitik? Und fünftens, läßt sich ein Schema von Konversionspolitik jenseits der Fixierung auf Demontage und Remontage entwickeln, das zugleich einen Ausschnitt der Technologiepolitik in beiden deutschen Staaten beleuchtet? Konversion in der hier vertretenen Auffassung meint eine gezielte Reallokation von materiellen und personellen Ressourcen der Rüstungswirtschaft, die ausdrücklich dahin gerichtet ist, das in diesen Ressourcen gebundene Potential dauerhaft in zivile Strukturen zu überführen. Sie setzt eine bewußte Wahrnehmung dieser Potentiale durch Akteure auf betrieblicher, regionaler und/oder zentralstaatlicher Ebene voraus, wenn im Zuge des Umstellungsprozesses innovative Impulse für eine „Friedenswirtschaft" genutzt werden sollen. Diese Akteure stehen daher im Zentrum des Konversionsprozesses. Entsprechend entscheidet sich die Struktur dieses Prozesses, bezogen auf die Situation im Nachkriegsdeutschland, vor allem daran, inwieweit deutsche Regierungen und Unternehmer die Selbständigkeit der Entscheidung besaßen, eine derart gezielte und dauerhafte Politik in Gang zu setzen. Im folgenden wird daher ein Phasenschema angenommen, dessen Zäsuren sich nach den schrittweise erweiterten Handlungsspielräumen staatlicher und unternehmerischer Akteure richten. Die Untersuchung wird zugespitzt auf die Konversionsprozesse der Flugzeugindustrie. In allen kriegführenden Mächten wurde die industrielle Szenerie des Zweiten Weltkrieges durch den industriellen Flugzeugbau dominiert. In Deutschland hatte die Luftrüstungsindustrie ab 1942 einen Anteil von durchschnittlich 40 Prozent am Wert der Rüstungsproduktion, in Großbritannien einen Anteil von 37 Prozent. 12 Entsprechend machte der Flugzeugbau auch den wichtigsten Teil der Kapamacht darzulegen, indem Feinmechanik und Optik summarisch als besonders rüstungsintensiv charakterisiert werden. 11 Mühlfriedel, Wolfgang, Zur industriellen Konversion in der sowjetischen Besatzungszone, in: Bald (Hg.), Rüstungsbestimmte Geschichte, S. 89-100. 12 Wagenführ, Rolf, Die deutsche Industrie im Kriege 1939-1945, Berlin 1955, S. 73; Harrisson, Mark, A Volume Index of the total munitions Output of the United Kingdom 19391944, in: Economic History Review, XLIII(1990), S. 657-666.

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zitäten aus, die in der Demontagepolitik der Alliierten unter „Rüstungsindustrie" gefaßt wurden. Selbst in einem gemeinhin nicht mit dem Flugzeugbau assoziierten Land wie Nordrhein-Westfalen fanden sich auf der Demontageliste vom Oktober 1947 unter den 43 reinen Rüstungsbetrieben allein 19 Flugzeugbauunternehmen diverser Verarbeitungsstufen. 13 Die „verbotenen Industrien" aller Industrieniveaupläne zwischen 1946 und 1949 umfaßten stets nicht nur den Flugzeugbau, sondern auch seine wichtigsten Vorindustrien, vor allem die Erzeugung von Aluminium und Magnesium.

B. Phasen und Entwicklungslinien der Rüstungskonversion in der Flugzeugindustrie I. Erste Phase: Improvisierte Konversion und Demontageabwehr 1945-1947 Über die Perspektiven der Luftfahrtindustrie konnte es zu Kriegsende keine Illusionen geben: Grundsätzlich hatten die Alliierten bereits in der Potsdamer Konferenz die Vernichtung des deutschen Flugzeugbaus beschlossen, und im Industrieniveauplan des Alliierten Kontrollrates vom 28. März 1946 wurde dessen totales Verbot bestätigt. Eine Konversion innerhalb der Branche konnte damit für die deutsche Flugzeugindustrie keine Option darstellen - selbst nicht unter der Maßgabe einer höchst unsicheren Hoffnung auf die langfristige Lockerung der alliierten Auflagen: Dem Flugzeugbau fehlte eine ausgeprägte zivile Tradition der Vorkriegszeit, da der marginale Umfang des zivilen Luftverkehrs - zumal in Deutschland - in den dreißiger Jahren bestenfalls einem Bruchteil der Industrie einen Markt bieten konnte. 14 Ob der enorme Aufschwung des weltweiten Passagierflugs nach dem Zweiten Weltkrieg auch nur in Ansätzen absehbar war, muß bezweifelt werden. Selbst die amerikanische Flugzeugindustrie, die während der Kriegsjahre ähnlich stark expandiert hatte wie die deutsche und 1944 mehr als 2 Mio. Menschen beschäftigte, erwartete vom Frieden katastrophale Produktionsrückgänge um 85 Prozent. 15 Entsprechend fand die Forderung der Alliierten, den Flugzeugbau in Deutschland auf unabsehbare Zeit zu verbieten und alle existierenden Anlagen abzubauen, 13 Demontageliste der Britisch-Amerikanischen Zone vom 17. Oktober 1947, in: Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard. Versuch einer Wirtschaftsbilanz, Bremen 1947, S. 101. 14 Zu den Erwartungen über den zukünftigen Umfang des internationalen Luftverkehrs im Land Nordrhein-Westfalen s. Röhm, Heinz, Die Entwicklungstendenzen im deutschen Luftverkehr, Düsseldorf 1952 (= Verkehrswissenschaftliche Veröffentlichungen des Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 21) !5 1939 lag der Beschäftigtenstand noch bei rund 40.000. Ballard, Jack Stokes, The Shock of Peace. Military and Economic Demobilization after World War Two, Washington, D.C. 1983, S. 139 f.

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selbst auf der deutschen Seite keinen Widerspruch. Allerdings legte die Annahme, es sei möglich gewesen, die Rüstungsindustrie gleichsam aus der deutschen Industrie herauszuschneiden, letztlich eine Vorstellung zu Grunde, die der Struktur einer modernen Kriegswirtschaft widersprach: Nämlich die, daß Werkstätten existierten, in denen nicht nur die Waffen selbst, sondern auch alle ihre Vorprodukte entstanden. Die totale Rüstung des Deutschen Reiches implizierte dagegen nicht nur, daß der weit überwiegende Teil der gesamten deutschen Wirtschaft Güter für die Wehrmacht herstellte, sondern auch, daß der Sektor, der die eigentlichen Waffen produzierte, eine tief gestaffelte Pyramide bildete, in der lediglich die Betriebe der Endverarbeitung überhaupt als Rüstungsproduzenten identifiziert werden können. Der größere Teil der deutschen „Rüstungsindustrie" war Teil einer differenzierten Mischproduktion von „Dual-Use Gütern", also Teilen und Komponenten für Waffen und Waffensysteme, die selbst ohne Änderungen einer zivilen Produktion zugeführt werden konnten. So rechnete das Rüstungsministerium Albert Speers im Jahr 1944 damit, daß an der Herstellung von Geräten und Flugzeugen für die Luftwaffe rund 1,8 Mio. Menschen beteiligt waren, während die eigentlichen Flugzeughersteller - auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reiches" - zur gleichen Zeit nur 356.000 Personen beschäftigten. 16 In der Tat mußten die Alliierten in allen Besatzungszonen bestimmte Aushilfen definieren, um dem Ziel einer weitgehenden Demilitarisierung der deutschen Wirtschaft Herr zu werden. Diese definitorischen Hilfskonstruktionen spiegelten aber das ganze Dilemma der auf Demilitarisierung zielenden Abbaumaßnahmen. In Ermangelung eines ansonsten fehlenden vollständigen Datensatzes über den Beschäftigungsstand und die Erzeugungsgröße der deutschen Industrie während des Krieges orientierten sich die von allen Alliierten ausgehandelten Industrieniveaupläne vom März 1946 und Oktober 1947 an der Erhebung des Reichsamtes für wehrwirtschaftliche Planung mit dem Stichjahr 1936 17 . Die Orientierung an diesem Stichjahr wies zwar prinzipiell auf eine Wiederherstellung des Status quo ante hin, mußte aber notgedrungen zu Disproportionen führen: Schon im Jahr 1936 hatte die nationalsozialistische Rüstungskonjunktur die deutsche Industriestruktur nachhaltig verändert. Gerade die Industrien, die bis dahin und danach am stärksten expandiert hatten, unterlagen nun aber den schärfsten Beschränkungen bzw. Verboten. Hieraus ergab sich in einzelnen Industrien angebotsseitig ein extremer Anpassungsdruck im Übergang von der rüstungswirtschaftlichen Struktur zur avisierten

16 Β Arch R3/1822, RMfRuK, WiStat., Entwicklung der Zahl der Beschäftigten nach Bedarfsgruppen, 13. 10. 44-23. 11. 44; United States Strategie Bombing Survey (USSBS), Aircraft Division Industry Report (European Report #4), o.O. 1947, S. 18a (faks. in: Maclsaac, David, The United States Strategie Bombing Survey, Volume II, New York/London 1976). 17

Die deutsche Industrie. Gesamtergebnisse der amtlichen Produktionsstatistik, Berlin 1939 (= Schriftenreihe des Reichsamtes für wehrwirtschaftliche Planung, Heft 1). Zur ursprünglichen Funktion dieser Erhebung: Petzina, Dietmar, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 79.

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Entmilitarisierung, der durch die Demontagen bzw. Liquidation der Rüstungsbetriebe ausgelöst, aber eben nicht bewältigt wurde. Der Anpassungsdruck war allerdings in der SBZ weitaus stärker als in den Westzonen. Die beiden industriellen Verdichtungsräume dieser Zone, das Gebiet zwischen Saale-Elbe und Erzgebirge und der Großraum Berlin, hatten im Zuge der Rüstungskonjunktur überdurchschnittliche Zuwächse in nahezu allen Industriebereichen erzielt. Die Zahl der Beschäftigten im Maschinenbau verdreifachte sich im Industriegebiet Saale-Elbe-Erzgebirge zwischen 1933 und 1939.18 Ein großer Teil dieses Wachtums ist dem Ausbau der Flugzeugindustrie und ihrer Vorindustrien zuzurechnen. Von den rund 125.000 Beschäftigten, die die Flugzeugindustrie schon 1936 zählte, arbeiteten mehr als 70 Prozent auf dem Gebiet der späteren SBZ. 19 1944 stand dieser Raum für 57 Prozent der Beschäftigten im „Altreich" und Österreich. 20 Im Zuge des Aufbaus dieser Industrie verzeichneten alte Zentren der deutschen Industrialisierung wie Leipzig, wo 1944 über 30.000 Menschen Flugzeuge bauten, eine gravierende Veränderung ihrer sektoralen Struktur, andere Räume wie das Land Anhalt entwickelten faktisch eine industrielle Monostruktur, die allein auf die Herstellung von Flugzeugen konzentriert war. Darüber hinaus war die Luftrüstung dafür verantwortlich, daß der unterentwickelte Raum an der Ostsee rapide industrialisiert wurde. Bereits 1936 gaben die Werke von Dornier in Wismar, Heinkel in Rostock und Arado in Warnemünde mit zusammen knapp 15.000 Beschäftigten mehr Menschen Arbeit als der restliche industrielle Sektor (ausgenommen die Nahrungsmittelindustrie) des Landes Mecklenburg zusammengenommen.21 Die strukturellen Anpassungsprobleme in den vier Verdichtungsräumen des mitteldeutschen Flugzeugbaus - Ostseeküste; Berlin-Potsdam; Dessau; Halle-Leipzig - waren allein aus quantitativer Perspektive weitaus gravierender als im Westen.22 is Produktivkräfte in Deutschland 1917/18 bis 1945, Berlin 1988, S. 359. 19 BArchP 31.02/3028, Statistisches Reichsamt, Industrielle Produktionsstatistik: Die Flugzeugindustrie 1933-1938, Februar 1938. Diese Erhebung des Statistischen Reichsamtes (Geheime Reichssache) stellt eine Ergänzung zu der Darstellung des Reichsamtes für wehrwirtschaftliche Planung dar, wo die Flugzeugindustrie unter „Baugewerbe und sonstige Industriezweige" subsumiert wurde. S. auch Gleitze, Bruno, Ostdeutsche Wirtschaft. Industrielle Standorte und volkswirtschaftliche Kapazitäten des ungeteilten Deutschland, Berlin 1956, S. 184 f. 20

USSBS, Report, S. 18a. Die relative Zunahme der Bedeutung Westdeutschlands erklärt sich aus der strategischen Reorientierung auf die Produktion von Jagdflugzeugen in der zweiten Hälfte des Krieges, die von westdeutschen Erzeugern (Messerschmitt AG und FockeWulf GmbH) dominiert wurde. Der überproportionale Beschäftigtenzuwachs dieser beiden Firmen ist freilich in der Hauptsache Dienstverpflichtungen und der Rekrutierung von Zwangsarbeitern zuzuschreiben. Budraß, Lutz/Grieger, Manfred, Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen am Beispiel des Volkswagenwerks und der Henschel Flugzeug-Werke, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1993, T.2, S. 112 f. 21 Die deutsche Industrie, S. 128 ff., vgl. BArchP 31.02/3028, Statistisches Reichsamt, Industrielle Produktionsstatistik: Die Flugzeugindustrie 1933-1938, Februar 1938. 22 USSBS, Report, S. 18a.

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Schon zeitgenössisch ist darauf verwiesen worden, daß die Demontage der Rüstungsendverarbeitung dem Zweck der Reparation nur unvollkommen dienlich war. Wo es eine weltweite Überkapazität von Anlagen zur Geschütz-, Panzer- und Flugzeugherstellung gab, konnten gerade solche Reparationsgüter nur sehr schwer untergebracht werden. Eine Demontage, die Reparationsinteressen verfolgte, mußte sich demnach notwendig auf Aggregate und Verfahren konzentrieren, die nicht ausschließlich für die Produktion von Waffen geeignet waren. 23 Dieser Effekt verstärkte denjenigen, der aus der Festlegung des Jahres 1936 als Basisjahr resultierte: Rüstungsanlagen wurden zwar in weitem Umfang abgebaut und zerstört, die Entnahmen und Demontagen erreichten aber bei weitem nicht die Totalität, die nötig gewesen wäre, die deutsche Wirtschaft zu „ent-rüsten". Wenn im Jahr 1943 allein im Bereich des Rüstungskommandos Lüdenscheid 68 Betriebe als Spezialproduzenten des Kriegsflugzeugbaus gezählt wurden, 24 so reflektiert die erwähnte Zahl von 19 Flugzeugbetrieben, die auf der Demontageliste für Nordrhein-Westfalen aufgeführt wurden, das Dilemma der Demilitarisierung. Angesichts der „Ver-rüstung" der deutschen Wirtschaft hätte ein Abbau, der den Buchstaben der alliierten Demilitarisierungsforderungen entsprach, in einer Deindustrialisierung gemündet: So wurde im Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung im Jahr 1947 konstatiert, „daß eine rigorose Beseitigung aller Industrieanlagen, die historisch einmal mittelbar oder unmittelbar der Rüstungsproduktion gedient haben, auch elementare zivile Lebensbedürfnisse der Gegenwart und Zukunft bedrohlich mittreffen kann.... Man kann nicht das Industriepotential, das dem Kriege diente, abbauen, wenn man einen für die Versorgung ausreichenden Rest von reiner Friedensfertigung erhalten will. Es bestehen Diffusionsmöglichkeiten von Kriegs- und Friedensfertigung. Gerade aus England wird die Umstellung einer Flugzeugfabrik auf die Produktion von Badewannen gemeldet". 25 Wenn dieser Vorschlag die Umstellung der Rüstungsindustrie zwar nicht systematisch reflektierte, so verdeutlichte er doch die zeitgenössische Wahrnehmung des Problems: Das Ziel konnte nicht Demontage, sondern mußte langfristig Konversion sein. Konversion war in allen Besatzungszonen zunächst eine Strategie der Demontageabwehr, und zwar bis zur Neugründung lokaler und regionaler Verwaltungen vor allem eine Strategie der Betriebe und Belegschaften. Im Falle der Flugzeugindustrie waren die Konversionsoptionen allerdings außerordentlich stark verengt. Die 23

Zur Problematik von „spin-off'-Effekten der Rüstungsindustrie generell s. DiFilippo, Anthony, From Industry to Arms. The Political Economy of High Technology, New York u. a. 1990. 24 Henne, Franz, Die Industrie des Bergischen Landes und Märkischen Sauerlandes in der Rüstungspolitik des Nationalsozialismus und das Problem der Konversion nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Bald (Hg.), Rüstungsbestimmte Geschichte, S. 31-47, hier S. 40. 25 Hasenack, Wilhelm, Betriebsdemontagen als Reparationsform. Teil I: Beweggründe und Zeitpunkt der Demontage-Aktion (= RWI, Schriften der Betriebswirtschaftlichen Abteilung Bd. 1), Essen 1948, S. 49 f.

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alliierten Industriepläne verwehrten die Chance einer intrasektoralen Konversion in technologisch verwandte Branchen mit typischer Montageproduktion. Der Schiffbau unterlag wie die Flugzeugproduktion einem totalen Verbot, Kraftfahrzeug·, Waggon- und Landmaschinenbau erheblichen Einschränkungen.26 Am ehesten gelang der Wechsel in diese Märkte solchen Flugzeugbauunternehmen, die bereits während der dreißiger Jahre hinreichend diversifiziert gewesen waren und somit wieder an zivile Unternehmenstraditionen anknüpfen konnten. Ein Beispiel dafür ist die Henschel und Sohn GmbH, die während des Krieges im wesentlichen Flugmotoren und Flugzeuge an mehreren Standorten produziert hatte. Das traditionsreiche Kasseler Unternehmen nahm von 1945/46 an schrittweise jene zivilen Produktionsstränge wieder auf, mit denen es in den zwanziger Jahren und auch noch während des Krieges gute Erfolge verzeichnet hatte: Werkzeugmaschinen, Dieselmotoren für Lokomotiven, stationäre Motoren und Lastkraftwagen. 27 Wo ein solches Friedensprofil fehlte, fiel die zivile Neuorientierung naturgemäß schwer, zumal nach der Beschlagnahmung der Werke respektive der Verhaftung der Unternehmensleitungen von einem dispositiven Vakuum auszugehen ist. 28 Erste Planungen für eine Friedensproduktion, wie sie etwa in der amerikanischen Rüstungsindustrie seit 1943 angestellt worden waren 29 , beschränkten sich in Deutschland zumeist auf die improvisierte Herstellung von Konsum- und Haushaltsgütern. Angesichts der großen Nachfrage mag diese Orientierung wie im Falle des berühmten Beispiels der „Stahlhelme zu Kochtöpfen" zwar plausibel erscheinen. Vor dem Hintergrund der Qualifikationsstrukturen im Flugzeugbau muten aber die Muster für Milchkannen, Schubkarren und Kochtöpfe, die etwa im November 1945 bei Junkers in Dessau entstanden30, geradezu grotesk an. Allerdings stellten solche Produktpaletten keine Ausnahme dar, und sie wichen auch nicht von den Prophezeiungen ab, die schon in der Spätphase des Krieges intern kursierten. Bereits im März 1944 hatte etwa Fritz Jastrow, Syndikus des Reichs Verbandes der deutschen 26

Für den Pkw- und Lkw-Bau galten Kapazitätsbegrenzungen von 16 bzw. 72 Prozent, im Landmaschinenbau eine Kapazität von 80 Prozent und im Waggonbau eine Produktion von 30.000 Stück. Vgl. Jerchow, Friedrich, Deutschland in der Weltwirtschaft 1944-1947. Alliierte Deutschland- und Reparationspolitik und die Anfänge der westdeutschen Außenwirtschaft, Düsseldorf 1978, S. 203 ff. 27 Hessisches Hauptstaatsarchiv, Rep. 507/2067, Vorlage für den Hessischen Wirtschaftsminister 1.6. 1950. 28 Im Zuge der Entnazifizierung waren in der SBZ 1947 nur noch 6,2 Prozent der Werkleiterposten von den früheren Direktoren besetzt; rund 40 Prozent der VEB-Leitungen stammten aus den alten Führungsschichten. S. Zank, Wolfgang, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945-1949, Probleme des Wiederaufbaus in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (= Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 31), München 1987, S. 53. 29 Bis hin zu Remontageplänen für die bei Kriegsausbruch sorgfältig eingelagerten „zivilen" Teile der Maschinenparks. Ballard, S. 136 ff. 30 Fabrikationsprogramm Junkers-Dessau vom 23.11. 1945, Deutsches Museum, Sondersammlungen, Luft- und Raumfahrtarchiv, Bestand JFM, Reg. Nr. 162a. Erst in einer - zeitlich unbestimmten - späteren Fertigungsstufe war die Produktion von Bauelementen aus Metall sowie von Fahrzeugen und Landmaschinen in Leichtbauweise geplant.

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Luftfahrtindustrie (RDLI), befürchtet, daß unabhängig vom Ausgang des Krieges Aufräumarbeiten, Ziegelputzen und Reparaturen das Hauptbetätigungsfeld der Luftfahrtfirmen bilden würden. 31 Für die Belegschaften der beschlagnahmten bzw. unter „Sequester" stehenden ehemaligen Flugzeugwerke stellten daher die Demontagen selbst zunächst die oftmals einzige Perspektive dar. Die Räumung, aber auch der Abbau der weitläufigen Rüstungsanlagen nahm soviel Zeit und Arbeitskraft in Anspruch, daß die ehemaligen Rüstungsarbeiter schon dadurch - und natürlich durch die Wiederaufbauarbeiten in den zerstörten Städten - am Ort gebunden waren. 32 Entsprechend entwickelten sich die ersten Konversionsinitiativen sowohl in den Westzonen als auch in der SBZ auf betrieblicher Ebene direkt aus diesem Arbeitszusammenhang, teilweise flankiert durch die Intervention der kommunalen Verwaltungen. Mitarbeitergruppen versuchten, einen bescheidenen Teil der Ausrüstungen vor dem Abtransport zu bewahren oder nach Totaldemontagen wenigstens die Sprengung der Gebäude zu verhindern. Das Betätigungsfeld solcher meist informeller, kleinräumiger Zusammenschlüsse entsprach der dürftigen verbliebenen Maschinenausstattung und bestand im wesentlichen aus personalintensiven Reparaturarbeiten. Im Augsburger Hauptwerk der Messerschmitt AG stellte eine auf vierzig Köpfe geschrumpfte Belegschaft im Jahr 1945 Milchkannen, Kochtöpfe und Lockenwickler her. 33 Ähnliche Beispiele aus dieser Frühphase lassen sich auch für die SBZ belegen. Auf dem Gelände der ehemaligen Arado-Flugzeugwerke GmbH in Warnemünde waren im August 1945 auf Betreiben der Kommunalverwaltung die „Stadtwerke Warnemünde" entstanden, ein Werkstattbetrieb, in dem bis zu 400 Arbeitskräfte beschäftigt werden konnten. „In erster Linie soll dieses Unternehmen Arbeit sichern für die infolge des durch Kriegsschluß bedingten Ablebens der Flugzeugindustrie erwerbslos werdende Bevölkerung unserer Stadt", schrieb die Stadtverwaltung im März 1946 an das ZK der KPD. Im Betrieb wurden aus Halbfabrikaten „die von Umsiedlern, Neubauern und Flüchtlingen so dringend benötigten Herde und Öfen sowie Haushalts- und Landwirtschaftsartikel erstellt". Der Bedarf für diese Artikel sei „riesengroß, so daß auf absehbare Zeit ein Auftragsmangel nicht zu erwarten ist". Dennoch stand dem Betrieb Ende März die Sprengung bevor, wogegen die lokalen Parteien (KPD/SPD), der FDGB und die 31

Jastrow, Fritz, Entwurf einer Ansprache vor dem Verwaltungsrat des RDLI, 11.3. 1944, Henschel Flugzeugwerke Archiv, Tagesbericht Nr. 621. 32 So band die Demontage der Henschel-Flugzeugwerke im Jahr 1946 rund 2.000 Arbeiter aus dem Berliner Raum. Zank, S. 60 f. 33 Zu Messerschmitt: Bouwer, Günter, Rüstungsproduktion und Rüstungskonversion in Deutschland, 1883-1956. In: Albrecht, Ulrich u. a. (Hg.), Rüstung und soziale Sicherheit, Frankfurt a.M. 1985, S. 196; Ebert, Hans J./Kaiser, Johann B./Peters, Klaus, Willy Messerschmitt - Pionier der Luftfahrt und des Leichtbaus. Eine Biographie, Bonn 1992, S. 301 f.. Zu Henschel: Baumann, Carl-Friedrich, 175 Jahre Henschel, Der ständige Weg in die Zukunft 1810-1985, Moers 1985. Für BMW: Mönnich, Horst, BMW. Eine deutsche Geschichte, München/Zürich 1991, S. 470 f.

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Stadtverwaltung in letzter Minute - vergeblich - zu intervenieren versuchten. 34 Dieses und ähnliche Beispiele35 zeigen, wie selbst „demokratisch geführte" Nachfolgebetriebe der großen mitteldeutschen Flugzeugproduzenten, in denen sich fruchtbare Ansätze einer betrieblichen Konversion entwickelt hatten, offenbar derart stigmatisiert waren, daß eine „Schleifung" des ausgeschlachteten Geländes zu befürchten stand. Demgegenüber waren zwar auch in den Westzonen die Chancen, eine Demontage zu verhindern, für die reinen Rüstungsbetriebe und besonders die Flugzeugwerke nur gering. Ein Beispiel ist der letztlich gescheiterte Versuch, die Sprengung von Gebäuden in Düsseldorf zu verhindern, in denen der Rüstungsmischkonzern Rheinmetall Flugzeugteile - später Bratpfannen und Kochtöpfe - hergestellt hatte. 36 Eine bereits zum Zeitpunkt der Demontagen vollzogene improvisierte Konversion setzte die Besatzungsmächte jedoch zumindest unter erheblichen Legitimationsdruck. 37 Aus den Zonenberichten der Besatzungsmächte geht dementsprechend hervor, daß selbst die reinen Rüstungsbetriebe der Kategorie I, zu denen auch die Flugzeugendproduzenten zählten, in den Westzonen nur in den seltensten Fällen bis auf die Grundmauern zerstört wurden. So hatten die Briten lediglich 7 Prozent von 284 Rüstungsbetrieben und 348 verbotenen Betrieben ihrer Zone „liquidiert", die Franzosen nur 6 von 64 Betrieben. Konkrete Angaben über Liquidationen in der amerikanischen Zone liegen nicht vor, generell Schloß jedoch das amerikanische Verständnis von einer „Neutralisierung" des Kriegspotentials gerade nicht die Sprengung der Gebäude ein. 38 Angesichts der stark verengten Marktperspektiven und der Gefahr der Liquidation kam Reparationsaufträgen an ehemalige Flugzeug- und Flugmotorenhersteller sowohl in den Westzonen als auch in der SBZ eine wichtige Rolle zu. Für sämtliche großen Unternehmen der Flugzeug- und Flugzeugmotoren- sowie Panzerindustrie in den Westzonen (BMW, Daimler-Benz, Ford, Henschel, Borgward, Opel, Volkswagen) sind Verträge mit den alliierten Besatzungsbehörden über die Wartung des militärischen Fuhrparks überliefert. BMW-Allach, vormals eines von zwei sogenannten 1000-Motoren-Werken der deutschen Luftwaffe, entwickelte sich 1945/46 zeitweilig zum weltgrößten Reparaturwerk für Automobile. 39 34

Stadtverwaltung Warnemünde, an ZK der KPD v. 25.3. 1946, betr.: Sprengung eines industriellen Aufbau-Unternehmens, SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/602/51, Bl.85-90. 3 5 Ebda. Weitere ähnliche Beispiele in derselben Akte: Heinkel AG Rostock (Bl. 99-102), Henschel AG Schönefeld (Bl. 133), Autoflug Lübbenau (Bl. 172) 36 Rheinmetall-Borsig AG an Wirtschaftsministerium NRW, betr. Demontage, 22. 9. 47, HStA-NRW, NW 203/121, Fol. 84-87 und weitere Stücke in dieser Akte. 37 Bouwer, S. 211 ff. Bouwer führt als Beleg allerdings einen ehemaligen Werftbetrieb des U-Boot-Baus an, die Deutschen Werke Kiel, die schon 1946 erfolgreich in den Fahrzeug- und Maschinenbau konvertiert hatte. 3 8 Mai, S. 68-88, hier S. 80 f. 39 Vgl. zu BMW: Mönnich, S. 470 f. Zur Automobilindustrie: Reich. Zu Henschel: Baumann, S. 57 u. S. 66.

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In der SBZ ermöglichte es das Interesse der sowjetischen Rüstungsindustrie am deutschen Flugzeugbau sogar, unter sowjetischer Leitung das vorhandene technische und technologische Wissen zu sammeln, Rekonstruktionen bzw. Remontagen an den zerstörten Werken durchzuführen und einzelne Entwicklungen bis zur Nullserienproduktion voranzutreiben. An den Standorten der mitteldeutschen Luftfahrtindustrie in Dessau, Rostock, Berlin, Halle und Staßfurt 40 entstanden im Sommer 1945 sogenannte „Sonderkonstruktionsbüros" (OKB), realiter industrielle Entwicklungswerke von beachtlicher Größe 41. In den OKB wurden Konstrukteure und Facharbeiter weiterbeschäftigt sowie ausgewählte Spezialisten anderer, bereits demontierter Flugzeugwerke zusammengezogen. Mit der Kommandoaktion Ossoaviachim am 22. Oktober 1946 brach diese Perspektive jedoch buchstäblich über Nacht zusammen. Die Spezialisten und Facharbeiter wurden samt der Konstruktionsunterlagen in die Sowjetunion verbracht, die Werksanlagen demontiert und ebenfalls abtransportiert. Für die am Ort verbliebenen Rüstungsarbeiter stellte sich der Zwang zur Konversion nun um so dringlicher. In den ehemaligen Siebel-Flugzeugwerken in Halle, die bis zur Aktion Ossoaviachim als Sonderkonstruktionsbüro (OKB) 2 4 2 an der Weiterentwicklung des Überschallflugzeuges DFS 346 gearbeitet hatten, wurden 1600 Mitarbeiter bereits wenige Tage nach dem Abtransport der Spezialisten mit der Totaldemontage und Sprengung des Werkes konfrontiert. Der Betriebsrat bemühte sich am 1. November 1946 mit einem Schreiben an den Zentralvorstand der SED, zumindest den Erhalt der Verwaltungs- und Sozialgebäude und einiger Werkstätten zu erwirken: „Es besteht nämlich die Absicht, diese Gebäude einem friedlichen Zweck dadurch zuzuführen, dass eine kleinere Fabrik für Werkzeuge eingerichtet wird". Rund 350 Mann könnten mit der Fertigung von Pressen, Stanzen, Drehbänken und Bohrmaschinen aus Schrotteilen zumindest für ein Jahr eine Beschäftigung gegeben werden. 43 Die Eingabe blieb allerdings erfolglos, sämtliche Gebäude wurden Anfang 1947 gesprengt. Abgesehen vom Fortbestand der Spezialistengruppen in der Sowjetunion mag der Nutzen der sogenannten „Sonderkonstruktionsbüros" vor allem den kleinen und mittleren Betrieben zu Gute gekommen sein, die in dieser Übergangsperiode Lieferbeziehungen zu den Finalproduzenten aufrechterhalten konnten. Der gene40 Albrecht/Heinemann-Grüder/Wellmann, S. 126ff; vgl. Ciesla, Burghard, Von der Luftrüstung zur zivilen Flugzeugproduktion: Über die Entwicklung der Luftfahrtforschung und Flugzeugproduktion in der SBZ/DDR und UdSSR 1945-1954. In: Beiträge zur Geschichte der Binnenschiffahrt, des Luft- und Kraftfahrzeugverkehrs, Β 169, (= Schriftenreihe der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V.), Bergisch Gladbach 1994, S. 179203, hier S. 185 f. 41 In Dessau waren 3.500-4.000, in Staßfurt 2.200 Menschen beschäftigt. Ciesla, S. 187. 42 Albrecht und Ciesla verwenden abweichende Numerierungen: Bei Ciesla bezeichnet das OKB Halle mit der Nummer 3. 43 Betriebsrat des Sondertechnischen Büros Halle an Zentralvorstand der SED v. 1. 11. 1946, SAPMO-BArch, ZPA, DY30/IV 2/602/52, Bl. 11-13.

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relie Befund, daß die Reparationsaufträge das „hauptsächliche und entscheidendste Element" des industriellen Konversionsprozesses in der SBZ waren 44 , gilt für die ehemalige Flugzeugindustrie freilich nicht: Die Rüstungsproduktion wurde in den Sonderkonstruktionsbüros lediglich verlängert und mündete schließlich - ohne jede zivile Perspektive - in der abrupten Liquidation der Werke. Auch die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG), die in vielen Branchen zum Erhalt wichtiger industrieller Kerne in der SBZ beigetragen hatten45, übten im Bereich der Flugzeugindustrie nur vorgehend einen strukturkonservierenden Effekt aus. Lediglich einige wenige Betriebe, die im Zuge der Aufrüstung auf die Flugzeugproduktion umgestellt worden waren wie die Gothaer Waggonbau, wurden als SAG-Betrieb von den Sowjets übernommen. 46 Insgesamt zeigt die Entwicklung in der frühen Phase einige bemerkenswerte Übereinstimmungen in Ost- und Westdeutschland. 1. Die Demontage der ehemaligen Flugzeugendproduzenten wurde im Westen wie im Osten gleichermaßen konsequent durchgeführt. Bis Mitte 1947 waren die Maschinenparks und Anlagen der Flugzeughersteller demontiert. Allerdings vollzogen sich die Demontagen in der SBZ im Rahmen eines umfassenden Prozesses der Deindustrialisierung, in dem die Frage nach dem rüstungswirtschaftlichen Charakter der Betriebe eine untergeordnete Rolle spielte. Die Möglichkeiten einer zivilen Ausrichtung der Zulieferindustrie verschlechterten sich dadurch drastisch, während im Westen Teilhersteller leichter der Demontage entgingen und durch bestimmte Sonderentwicklungen auch Kernbetriebe der deutschen Luftrüstung wie Opel und Volkswagen geschont wurden. 2. Ansätze, die Demontage oder gar Schleifung der Werke abzuwehren und so ein Restpotential für eine zivile Produktion zu erhalten, gingen überwiegend von den Betrieben bzw. den Belegschaften aus.47 Nur selten fanden solche Initiativen die Unterstützung der deutschen Verwaltungen, die etwa im Bereich der Montanindustrie frühzeitig gegen den Abbau einzelner Werke interveniert hatten. Im Ge44 Mühlfriedel, S. 96. 45 Karisch, Rainer/Bähr, Johannes, Die sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) in der SBZ/DDR, in: Lauschke, Karl/Welskopp, Thomas (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 3), Essen 1994, S. 214-255, hier S. 249. 46 Liste der SAG (Stand 1948) in: Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard, H.l, S. 125. Die Gothaer Waggonfabrik wurde bereits 1947 im Zuge der ersten Rückgabewelle von SAG unter deutsche Verwaltung gestellt. 47 Generell sind derartige betriebliche Initiativen von der sowjetischen Besatzungsmacht positiver aufgenommen worden als in den Westzonen. S. Matschke, Werner, Die industrielle Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) von 1945 bis 1948, Berlin 1988, S. 134 ff. Im Falle der reinen Rüstungsbetriebe muß aufgrund der oben angeführten Beispiele jedoch von erheblichem Mißtrauen der sowjetischen Stellen ausgegangen werden.

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genteil: Die reinen Rüstungsbetriebe wurden von westdeutscher Seite bisweilen als „Verhandlungsmasse4' eingesetzt, um den Abbau anderer Betriebe hinauszuzögern und gegebenenfalls Korrekturen an den Demontagelisten zu erwirken. Einen Zeitaufschub erhoffte sich im Herbst 1947 etwa die niedersächsische Staatsregierung, „da vermutlich die Demontage der ausgesprochenen Rüstungsbetriebe die verfügbaren Arbeitskräfte so stark absorbieren wird, daß der Abbau von Betrieben, die für die deutsche Wirtschaft wichtig sind, ohnehin nicht von heute auf morgen möglich sein wird". 4 8 Angesichts der erfolglosen Interventionen gegen die Demontage selbst strategisch wichtiger Industriebetriebe in der SBZ erscheint es fraglich, ob die Länderverwaltungen in der SBZ überhaupt als Akteure mit eigenständigem Handlungsspielraum auftreten konnten, zumal die SMAD selbst in den Jahren 1945/46 kaum eine wirksame Kontrolle über die Demontagezüge ausüben konnte. 49 3. Zivile Reparationsaufträge sowie die Verlängerung der Rüstungsproduktion übten vorübergehend einen strukturkonservierenden Effekt aus und verschafften den ehemaligen Flugzeugwerken prinzipiell die Chance, den eigentlichen Umstellungsprozeß hinauszuschieben. Dagegen blieb die vermeintliche „Atempause" durch die fortlaufende flugzeugtypische Produktion in der SBZ folgenlos. Entgegen den in Aussicht gestellten Plänen auf einen Erhalt oder gar Wiederaufbau der Flugzeugindustrie 50 brach die Entwicklung durch die Verlagerung der Sonderkonstruktionsbüros in die Sowjetunion und die Sprengung der verbliebenen Werksanlagen im Herbst 1946 ab.

II. Zweite Phase: Betriebliche Orientierung und regionale Konversion 1948-1952 Das Jahr 1948 stellt für die langfristige Betrachtung der Konversionsprozesse in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur dar. Zum einen waren die Demontagen der Flugzeugunternehmen weitgehend abgeschlossen,51 denn „als die Demontageliste veröffentlicht wurde, war der größte Teil der aufgeführten Rüstungswerke bereits völlig demontiert". 52 Zum anderen setzte ab 1948 eine Phase des Wiederaufbaus ein, 48 Zit. n. Treue, Wilhelm, Die Demontagepolitik der Westmächte nach dem Zweiten Weltkrieg, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die Wirtschaft in Niedersachsen, Göttingen et al. 1967, S. 57 f. 49 Zu internen Konflikten und Kompetenzüberschneidungen im Rahmen der sowjetischen Demontagen s. Karisch, S. 47 ff. und 64 ff. so Ciesla, S. 185. 51 Zur Periodisierung der Demontagenwellen in der SBZ s. Karisch, S. 71-84 sowie weitgehend übereinstimmend Harmssen, S. 77 f. 52 Treue, S. 55. Die Demontagelisten der Bizone wurden am 17. Oktober 1947 veröffentlicht, jene der französische Zone am 6. November 1947.

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in der erstmals auch deutsche staatliche Akteure einen stärkeren Einfluß auf die Wirtschaftspolitik ausüben konnten. Indizien dieser Entwicklung sind das selbstbewußte Auftreten der westlichen Länderregierungen in den Verhandlungen um planmäßige Durchführung der Demontagen bzw. Remontagen53 sowie die Installation der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) in der SBZ, die ab Februar 1948 mit legislativer Kompetenz ausgestattet war. 54 Und schließlich waren in der Zeit zwischen der Londoner Viermächtekonferenz im November 1947 und dem sowjetischen Austritt aus dem Alliierten Kontrollrat (März 1948) die Vorentscheidungen zur doppelten Staatsgründung gefallen. Die zwangsläufige Konsequenz einer Spaltung des Wirtschaftsgebietes schlug sich nunmehr in der sowjetischen Reparationspolitik nieder, die nicht mehr allein auf Wiedergutmachung zielte, sondern auch dem Wiederaufbau und der Stabilisierung in der SBZ/DDR Rechnung tragen mußte.55 Ab 1948 eröffnete sich damit erstmals die Möglichkeit, gestaltend in den Konversionsprozeß einzugreifen. Der Handlungsbedarf ergab sich nicht nur daraus, für die ehemaligen Flugzeugproduzenten neue Marktlücken zu schaffen, sondern es erwies sich vielmehr, daß bestimmte Leistungen ersetzt werden mußten, die der Flugzeugbau jenseits seiner produzierenden Funktion erbracht hatte. Es sind insgesamt drei Aspekte zu nennen, die sich unmittelbar aus dem Abbau der reinen Rüstungsbetriebe ableiten: der Wegfall von Arbeitsplätzen in den regional konzentrierten Großbetrieben des Flugzeugbaus, der Verlust endverarbeitender Zentren für ein tiefgestaffeltes System industrieller Vor- und Unterlieferanten und die Entkoppelung eines hochentwickelten Forschungszweiges von seinem Anwendungsgebiet. Aus regional-, beschäftigungs- und technologiepolitischer Sicht schuf die unmittelbare „Entmilitarisierung" der deutschen Wirtschaft zwischen 1945 und 1947 also erst die Konversionsprobleme der folgenden Jahre. Dies wird im Falle der SBZ/DDR am besten deutlich durch die Entwicklung in Mecklenburg bzw. im Bezirk Rostock. Im Zuge der umfassenden Liquidation der Flugzeugindustrie an der Ostseeküste56 nach Kriegsende drohte hier die Gefahr ei53 Die institutionelle Formierung der Demontageabwehr ab dem Herbst 1947 markiert in Nordrhein-Westfalen den Beginn einer Industriepolitik des Landes. Zuvor hatte es im Sonderreferat Demontagen des Wirtschaftsministeriums „nicht einmal ein Telefon" gegeben. Köchling, Demontagepolitik, S. 158 sowie S. 227 ff. 54 Mühlfriedel, Wolfgang, Der Wirtschaftsplan 1948. Der erste Versuch eines einheitlichen Planes zur ökonomischen Entwicklung der sowjetischen Besatzungszone. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1985, Teil 3, S. 9-26. Zur Bedeutung der DWK: Zank, Wolfgang, Wirtschaftliche Zentralverwaltungen und Deutsche Wirtschaftskommission (DWK). In: Broszat, Martin/Weber, Hermann (Hg.), SBZ-Handbuch, München 1990, S. 253-290, bes. 260 ff. 55 Die Entnahmen aus der laufenden Produktion hielten zwar auch nach dem Demontagestopp bis Ende 1953 an, wurden aber ab 1948 kalkulierbarer und konzentrierten sich auf einige Schwerpunktbereiche. Karisch, S. 175 ff. 56 Vollständig demontiert wurden die Heinkel-Werke Rostock sowie die Arado-Zweigwerke Anklam und Warnemünde (gesprengt), teildemontiert die Dornier-Werke in Wismar. Harmssen, S. 102; Archiv Flugzeugwerft Dresden (FWD) V 245/55-4302 (447a), Bl. 50-52.

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ner langfristigen Deindustrialisierung des ganzen Raumes. Aufgefangen und kompensiert werden konnte dieser Prozeß durch den forcierten Aufbau der Schiffbauindustrie, dessen Tempo und regionale Konzentration beispiellos in der Industriegeschichte der frühen Nachkriegszeit ist und die wohl bedeutendste regionale Strukturwandlung auf dem Gebiet der SBZ/DDR darstellte. 57 Bereits 1946 setzte auf Befehl der SMAD ein großes Schiffbauprogramm ein, das sich zunächst auf den einzigen bedeutenden Vorkriegs-Standort konzentrierte, die 1946 zur SAG umgewandelte Neptun-Werft in Rostock. Innerhalb von acht Jahren entstanden an der Ostseeküste vier Großwerften und Zulieferbetriebe mit insgesamt 40.000 Beschäftigten. Entsprechend resümierte das Institut für Raumforschung in Bonn bereits 1954: „Der Aufbau der Werftindustrie bedeutet für den ostseenahen Raum gewissermaßen einen Ausgleich für den Fortfall der unmittelbar vor und nach dem Kriege aufgebauten Flugzeugindustrie, durch deren Entwicklung die Wirtschaftsstruktur dieses Gebietes auch bereits erheblich verändert worden war". 58 Dieser Strukturwandel läßt sich auch auf betrieblicher Ebene nachweisen. Aus der völlig unbedeutenden Bootswerft Kröger (bis 1947 SAG) auf dem Gelände der ehemaligen Arado-Flugzeugwerke entstand in Warnemünde die wichtigste Großwerft der DDR, die Warnow-Werft, die schon 1954 9.000 Beschäftigte zählte. In Wismar wurde ab April 1946 auf dem Komplex der ehemaligen Dornier-Flugzeugwerke die Schiffsreparaturwerft Wismar (ab 1951: Mathias-Thesen-Werft) gegründet, die durch die Eingliederung der Waggonfabrik Wismar (Februar 1947) und durch erhebliche Investitionen bis 1954 zur zweitgrößten Werft der DDR anwuchs.59 Einige erhaltene Gebäude der Heinkel-Werke in Rostock wurden in die Neptun-Werft integriert, auf einem weiteren Geländeteil wurde 1949 das Dieselmotorenwerk Rostock als Zulieferer der Werften gegründet. 60 Da die Werftindustrie sich bis 1954, innerhalb von acht Jahren, zum wichtigsten industriellen Arbeitgeber dés Bezirks Rostock entwickelte, erscheint ein Wechsel vom Flugzeug- zum Schiffbau für große Teile der Industriearbeiterschaft plausibel, zumal der Bestand an ausgebildeten Werft-Facharbeitern in der SBZ nach Kriegsende ausgesprochen gering war. 61 Darüber hinaus boten sich höher qualifizierten 57

Die Fahrzeugindustrie in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Teil III: Die Werftindustrie. Hg. v. Institut für Raumforschung Bonn, bearb. von der Außenstelle Berlin (= Mitteilungen aus dem Institut für Raumforschung, 22, Bd. 2), als Manuskript vervielfältigt, Bad-Godesberg 1954, S. 33-81. ss Ebd., S. 43. 59 Ebd., S. 67 ff. Vgl. Kornprobst, Rudolf, Zur Geschichte des Schiffbaus der Deutschen Demokratischen Republik, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1988: Industriezweige in der DDR 1945-1985, Berlin 1989, S. 257-269, bes. 258 f. 60

Heinkel-Gebäude wurden als Lehrwerkstatt der Neptun-Werft genutzt. Übersicht zu früheren Flugzeugproduzenten und jetzigen Nachfolgern, o.D. (Mai 1952), FWD V 245/554302 (447a), Bl. 50-52. 61 Auf einer schiffbautechnischen Tagung in Berlin gab der Staatssekretär im Ministerium für Transportmittel- und Landmaschinenbau, Schneider, im Herbst 1953 bekannt, daß die

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Facharbeitern, Technikern und Ingenieuren aus der Flugzeugindustrie im Rostokker Raum nur wenige adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten, so etwa im Autoreparaturwerk Wismar (ebenfalls auf dem ehemaligen Dornier-Gelände), in dem 1952 „die weitaus meisten Belegschaftsangehörigen ... Fachkräfte im Flugzeugbau" waren. Am ehemaligen Arado-Standort Anklam arbeiteten dagegen zu Beginn der fünfziger Jahre zahlreiche ehemalige Flugzeugbauer mangels Alternativen in einer Möbelfabrik. 62 Unbeschadet der vorausgegangenen Demontagen bzw. Liquidationen der Werke der Luftfahrtindustrie läßt sich der skizzierte Strukturwandel im Ostseeraum als regionaler Konversionsprozeß begreifen. Der Schiffbau übernahm hier funktional die Rolle, die während des Dritten Reiches die Luftfahrtindustrie im Rostocker Raum inne hatte, und zwar einerseits als wichtigster Industriearbeitgeber, andererseits als Produktionskern, um den sich sukzessive eine regionale Zulieferindustrie gruppieren konnte.63 Die Motive und Akteure unterscheiden sich freilich: Der Strukturwandel an der Ostseeküste vollzog sich unter dem Diktat sowjetischer Reparationsforderungen. Regionale Akteure spielten dabei keine Rolle, und auch der Einfluß der SED muß angesichts der allfälligen Ohnmacht gegenüber der sowjetischen Besatzungspolitik als ausgesprochen gering eingeschätzt werden. Der regionale Konversionsprozeß war somit ein Nebenprodukt. Seine durchaus kritisch zu bewertenden Strukturfolgen - wie die Substitution einer industriellen Monostruktur durch eine andere, die Überdimensionierung der Werftindustrie im Rahmen der DDR-Wirtschaft - , aber auch die Anpassungskosten durch den erzwungen Entzug erheblicher Investitionsmittel aus dem Wiederaufbauprozeß 64, können hier nicht diskutiert werden. Angesichts seiner Konsistenz, der zeitlichen und der räumlichen Konzentration des Prozesses bleibt das Rostocker Beispiel allerdings ohne Parallele. Ähnlich geschlossene Übergänge lassen sich in anderen ehemaligen Verdichtungsräumen der Luftfahrtindustrie in Ostdeutschland - Dessau, Berlin und Halle - nicht nachweisen. In Westdeutschland finden sich dagegen ähnliche Entwicklungen, freilich mit einer regional geringeren Bedeutung. Der Flugzeugbau war zu Beginn der dreißiger Jahre ein Diversifikationsfeld der großen Nordseewerften gewesen, so daß bei Blohm & Voss bzw. der AG Weser (Weserflug Gmbh) nach 1950 die Chance zu SBZ nach Kriegsende über kaum 2.000 gelernte Werftarbeiter verfügt habe. Eine Gruppe von Werftarbeitern - 800 bis 1.100 Personen - soll 1947 aus Stettin in den Bezirk Rostock gekommen sein. S. Fahrzeugindustrie in der SBZ, S. 64. 62 Autorenkollektiv, Studie über den Aufbau einer Luftfahrtindustrie in der DDR, o.D. (Juli 1952), S. 161, FWD, V 216/55-689/700 (1240). Bezeichnenderweise waren 11 der 13 Autoren dieser Studie - allesamt ehemalige Flugzeugbauer - 1952 in der Werftindustrie beschäftigt. Ebd., S. 20. 63 Zur Zulieferindustrie der Werften: Kornprobst, bes. S. 263 f. 64 Eine Bewertung des Schiffbauprogrammes der SBZ/DDR aus volkswirtschaftlicher Sicht stellt zudem ein Desiderat der Forschung dar. Auch Mühlfriedel/Wießner klammern den Schiffbau weitgehend aus. Vgl. Mühlfriedel/Wießner, S. 121.

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einer unternehmensinternen Umschichtung des Personals bestand.65 Von hier ging auch ein Impuls für den größten norddeutschen Flugzeughersteller aus: So suchte die Zellenbatifirma Focke-Wulf GmbH in Bremen seit Beginn der fünfziger Jahre Geschäftsverbindungen zu den örtlichen Werften, die in zunehmendem Maße Leichtmetall-Elemente verwendeten, und produzierte Treibstoff- und Wasserbehälter, Ruderhäuser und Aufbauten für Schiffe. 66 Das Volkswagenwerk, in dem seit 1939 fast ausschließlich Flugzeugteile hergestellt worden waren, konnte schon 1945 die Produktion seines Personenwagens wieder aufnehmen und schöpfte durch sein rasantes Wachstum nach der Gründung der Bundesrepublik das Potential ab, das in einem kleineren Verdichtungsraum der Luftfahrtindustrie um Braunschweig (Lutherwerke, Niedersächsische Motorenwerke) entstanden war. 67 Generell zerfiel die Umstellung von der Rüstungs- auf die zivile Produktion weiterhin in ein komplexes Nebeneinander von betrieblichen Konversionsprozessen, die allerdings alle nicht in der Lage waren, das Potential der ehemaligen Rüstungsfirmen vollständig zu binden. Das gleichsam klassische Konversionsmuster bildete die Aufnahme der Nutzfahrzeug- und Personenfahrzeugproduktion, wie etwa der Bau von Lastkraftwagen bei Henschel & Sohn, von Kleinwagen bei Dornier in Friedrichshafen, Krafträdern und Rollern bei der Firma Heinkel und Nähmaschinen bei Messerschmitt. 68 Ein anderes Betätigungsfeld ergab sich in jenen Industrien, die besondere Anforderungen an die Blechverarbeitung stellten. Darüber hinaus gibt es auch Beispiele aus dem Bereich des Maschinenbaus. Die erfolgreiche Umstellung des Lindauer Dornier-Werkes auf die Produktion von Webmaschinen, die Dornier in den folgenden Jahrzehnten bis zu einer noch heute marktbeherrschenden Position ausbauen konnte, stellt allerdings eher eine Ausnahme dar, wenngleich auch die Roller von Heinkel und die Nähmaschinen von Messerschmitt bis in die sechziger Jahre hinein ihren Platz auf dem Markt behaupte,

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ten. In der SBZ fanden sich die ehemaligen Flugzeugproduzenten, nach ihrer Umgründung in Volkseigene Betriebe, in verschiedensten Zweigen der Schwerindustrie wieder: die Zellenbau-Werke neben dem bereits angesprochenen Bereich der Werften zum Beispiel im Stahlleichtbau (Focke-Wulf Johannisthal), im Apparatebau (Junkers Motorenwerk Magdeburg) oder Waggonbau (Gothaer Waggonfabrik), beim Bau von Bäckereimaschinen (Siebel Halle) oder von Kühlschränken und kältetechnischen Großanlagen (Henschel Johannisthal, Siebel Schkeuditz). An den 65 Loew, G., Die Flugzeugwerke am Strom, in: Flugwelt 10(1957), S. 922 ff.; Wiborg, Susanne/Blohm, Walter, Schiffe und Flugzeuge aus Hamburg, Hamburg 1993, S. 132 ff. 66 Flugwelt 12 (1959), S. 800. 67 Reich, S. 170 ff.; The Motor Car Industry in Germany durnig the Period 1939-1945, BIOS Overall Report No. 21, London 1949. 68 Zu Dornier, Messerschmitt und Heinkel: Rosellen, Hans Peter, Deutsche Kleinwagen nach 1945. Augsburg 1991. Zu Henschel: Baumann, S. 66 ff. 69 Ebert/Kaiser/Peters, S. 303 f.; Wachtel, Joachim, Claude Dornier, Ein Leben für die Luftfahrt, Planegg 1989.

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früheren Triebwerk-Standorten wurden überwiegend Motoren für Pkw und Krafträder (BMW Eisenach), für Traktoren (Henschel Johannisthal) oder für Schiffe (Heinkel Rostock) produziert. Die vermeintliche Vielfalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß insgesamt nur ein kleiner Teil der Endproduzenten in technologisch verwandte rüstungsnahe Bereiche konvertieren konnte. Die Ursachen sind vor allem in der generellen Tendenz der Industriepolitik unter dem ersten Fünfjahrplan (1951-1955) begründet. Die Investitionsanteile der metallverarbeitenden Industrie waren darin - gemessen an ihrem Produktionsanteil - unterproportioniert zugunsten der starken Förderung der Grundstoffindustrien. 70 Zudem waren die Investitionen innerhalb der metallverarbeitenden Industrie fast ausschließlich auf die sogenannten Schwerpunktbetriebe konzentriert, nämlich auf 25 Betriebe des Schwermaschinenbaus sowie auf drei Hochseewerften. 71 Für die Rekonstruktion der demontierten Flugzeugwerke konnten somit Investitionsmittel nur in geringem Umfang zur Verfügung stehen. Entsprechend ist davon auszugehen, daß die Mehrzahl der ehemaligen Flugzeugbauer gegen Ende der vierziger Jahre in fremden Betrieben oder gar Branchen beschäftigt wurde. Diese These wird auch gestützt von den Diskrepanzen auf dem Arbeits"markt": Während die SBZ generell von - auch qualifizierten - Arbeitskräften „geradezu überschwemmt"72 war, herrschte lokal ein empfindlicher Mangel an Facharbeitern. Bezeichnenderweise zählte die Gruppe der „Metallarbeiter", unter die auch die ehemalige Flugzeugbauer gefaßt wurden, 1949 zu den fünf wichtigsten Mangelberufen, obwohl gleichzeitig 37.000 Metallarbeiter als fremdberuflich beschäftigt registriert waren. 73 Die Schwerpunkte der Investitionspolitik und die Dislokation von Facharbeitern verdeutlichen insgesamt, daß in der SBZ/DDR bis zum Beginn der fünfziger Jahre keine zentralgeleiteten Initiativen ergriffen wurden, um das Potential der Kriegsluftfahrtindustrie im Sinne einer technologisch orientierten Konversionspolitik zu nutzen. Gleiches kann weitgehend auch für die Westzonen bzw. die Bundesrepublik festgehalten werden. Lakonisch bemerkt Radkau, in der bundesdeutschen Politik sei „bis Mitte der 50er Jahre ,Technik' kein großes Thema" 74 gewesen. Ansätze zu ei70 S. Tabelle 8 bei Roesler, Jörg, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Aufgaben Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftsplanung in der zentralgeleiteten volkseigenen Industrie während der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin 1978, S. 18. 71

Liste der Schwerpunktbetriebe bei Mühlfriedel/Wießner, S. 247, Fußnote 96. Zank, S. 57. 73 Die Zahl von insgesamt 60.000 fremdberuflich Beschäftigten aus Mangelberufen, unter denen die Metallarbeiter die bei weitem größte Gruppe darstellten, überstieg 1949 die Zahl sämtlicher offener Stellen in der SBZ. Ebd., S. 81. 72

74 Radkau, Joachim, „Wirtschaftswunder" ohne technologische Innovation? Technische Modernität in den 50er Jahren, In: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre (= Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 33), Bonn 1993, S. 129-154, hierS. 133.

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ner technologieorientierten Konversionspolitik finden sich allerdings auf regionaler Ebene, und weniger im endverarbeitenden Bereich, sondern bei den Vorlieferern, bei welchen das Konversionsproblem bei einer oberflächlichen Betrachtung zunächst eher klein zu sein schien. Es erlangte aber eine zentrale Bedeutung, als die Strukturverzerrungen offenbar wurden, die die nationalsozialistische Rüstungskonjunktur hervorgebracht und die alliierte Entmilitarisierungspolitik, bedingt durch die oben angesprochenen Definitionsprobleme, eher noch verstärkt hatte. Das wichtigste Beispiel ist die Entwicklung im Land Nordrhein-Westfalen. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet war zwar kein Endproduzent von Flugzeugen aufgebaut worden, hier konzentrierte sich aber die Halbzeugherstellung für den Flugzeug- und Flugmotorenbau. Das spätere Land Nordrhein-Westfalen entwickelte sich während der dreißiger Jahre zu einem der größten deutschen Standorte der Aluminiumherstellung und spielte eine fast noch bedeutendere Rolle als Sitz von Aluminiumverarbeitern. Mit der Aluminium- und Magnesiumelektrolyse wurden seit den dreißiger Jahren zwar in der Hauptsache Bitterfeld, die Lausitz und Niederbayern verbunden, zwei der größten Elektrolysen der staatlichen Vereinigten Aluminiumwerke fanden sich jedoch ebenfalls seit den dreißiger Jahren in Grevenbroich und Lünen. 75 Im bergischen und märkischen Industriegebiet lagen die größten Hersteller von Aluminiumguß (Rautenbach, Solingen; Honsel, Meschede), während eines der drei Werke der Vereinigten Leichtmetallwerke, größter Lieferant von Flugzeughalbzeug, in Bonn lag und die Dürener Metallwerke, trotz des Neuaufbaus von Werkstätten in Berlin, einen wichtigen Standort am alten Sitz des Unternehmens behielten. Während des Krieges entstanden zudem Kapazitäten zur Leichtmetallverarbeitung direkt im Ruhrgebiet, in Essen und Dortmund sowie in Düsseldorf und Krefeld. 76 Zudem beherbergte das Ruhrgebiet monopolartig die Herstellung des wichtigsten Halbzeugkonkurrenten der Aluminiumverarbeitung. Die Deutschen Edelstahlwerke mit Sitz in Krefeld, Bochum und Remscheid sowie die Ruhrstahl AG in Witten stellten die ganze Bandbreite der Produkte aus Feinstahlguß her, ein Werkstoff, der nicht erst mit der Verschlechterung der Rohstoffversorgung im Krieg als gleichwertige Alternative zum Aluminium angesehen wurde und nach Ansicht der alliierten Untersuchungsgruppen zu den „Highlights of German Iron and Steel Production Technology" zählte.77 Kein anderes Industriegebiet in Deutschland wies während des Krieges eine so tief gestaffelte Palette von Erzeugnissen des Flugzeugbaus auf wie das Industriegebiet in den südlichen und westlichen Teilen des späteren Landes Nordrhein-Westfalen, zumal hier, bei 75 Aluminium Woerwerke, Erftwerke, Grevenbroich, CIOS Final Report XXII-4. The Wrought Light Alloy Industry in the Ruhr, BIOS Final Report No. 375. Alumina and Aluminium Production at the Lippewerke (V.A.W.), Lünen, BIOS Final Report No. 974. 76 Light Alloy Foundries in Germany, BIOS Final Report No. 1861. Vereinigte Leichtmetall Werke G.m.b.H., Hannover-Linden, CIOS Final Report XXXI-73. 77 The Ferrous Metal Industry in Germany during the period of 1939-1945, BIOS Overall Report No. 15, London 1949, S. 132 ff.; Deutsche Edelstahlwerke, Krefeld, CIOS Final Report XXIV-28; Ruhrstahl A.G., Annener Works, Witten Annen, CIOS Final Report XXIX-26.

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den Firmen Schloemann (Düsseldorf) und Siempelkamp (Krefeld) der Schwerpunkt der Erstellung von sehr spezifischen Werkzeugmaschinen des Flugzeugbaus lag, der Bau von Schmiedepressen größten Ausmaßes zur Verdichtung von Leichtmetallegierungen. Die Bilanz des Strukturwandels, der sich im rheinisch-westfälischen Industriegebiet vollzogen hatte, läßt sich demnach aus dem Wachstum der Aluminiumerzeugung ableiten. Waren auf dem Gebiet des späteren Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 1933 lediglich 900 to Aluminium erzeugt worden, ein Zwanzigstel der deutschen Produktion, so stieg die Erzeugung bis 1936 auf 25.800 to, die dann rund ein Viertel der deutschen Gesamtproduktion ausmachten - eine Quote, die bis zum Ende des Krieges Bestand hatte.78 Gerade in der Aluminiumerzeugung zeigte sich daher, daß eine „Entrüstung" dieser Strukturen nicht handhabbar war. Als im ersten Industrieplan vom März 1946 eine vollständige Einstellung der Elektrolyse von Hüttenaluminium in Deutschland festgelegt und lediglich noch die Aluminiumverarbeitung aus Umschmelzaluminium und Importen gestattet wurde, gaben die deutschen Wirtschaftsinstitute das Argument vor, das die deutsche Haltung in der Demontagefrage generell kennzeichnete: Einem Abbau der Vorlieferungen für die Flugzeugindustrie werde zwar kein Widerstand entgegen gesetzt, jedoch hätte die Flugzeugindustrie 1936 lediglich 12,5% des erzeugten Aluminiums verbraucht, während Aluminium in der Hauptsache als Austauschwerkstoff in die Metallverarbeitung diffundiert sei und hier gerade unter den Bedingungen der Nachkriegszeit nicht mehr entbehrt werden könne. 79 Die Konservierung des Standes der Aluminiumerzeugung und -Verarbeitung machte entsprechend einen Ansatz für die Konversionspolitik des Landes Nordrhein-Westfalen aus. Der durch die Rüstungskonjunktur der dreißiger Jahre erreichte Strukturgewinn sollte geschützt werden. Die Aluminiumerzeugung bzw. -Verarbeitung wurde ein Schwerpunkt der Demontageabwehr. Das Wirtschaftsministerium, die Industrie- und Handelskammern und die betroffenen Firmen kooperierten eng, erwiesen sich in den Verhandlungen als „zähe Lobby, die den Briten achtbare Ergebnisse abrang", so daß substantielle Kapazitätsverluste vermieden werden konnten.80 So wurden die Honselwerke in Meschede, die während des Krieges hauptsächlich Flugmotorenblöcke gegossen hatten, nach langen Auseinandersetzungen von der Demontageliste abgesetzt,81 während es dem Land Nordrhein-Westfalen 1949 gelang, das Permit für eine der drei westdeutschen Elektrolysen von Aluminium in Lünen zu erhalten. 82 Mit einer Kapazität von 31.000 Tonnen/Jahr war damit etwa die Produktionsbasis wiederhergestellt, für die das Land 7

8 Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, München 1949, S. 294. 79 Deutsche Wirtschaft und Industrieplan, Essen 1947, S. 57 ff. so Henne, S. 45.

81 Zur Diskussion um die Honsel werke finden sich zahlreiche Dokumente in: HStA-NRW NW 203/182-184. 82 Harmssen, S. 120. 2*

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1938 gestanden hatte. Bis in die fünfziger Jahre hinein setzte die nordrhein-westfälische Landesregierung ihre Politik zugunsten der aluminiumverarbeitenden Industrien 83 im bergisch-märkischen Raum mit gezielten Remontagekrediten fort. Entsprechend gelang es einigen Unternehmen, bereits am Ende der vierziger Jahre wieder mit flugzeugtypischen Produkten auf Exportmärkten Fuß zu fassen. 84 Die Phase zwischen dem Abschluß der Demontagen und der Zweistaatlichkeit ist durch folgende Entwicklungen in der Politik der Rüstungskonversion gekennzeichnet. 1. Es gab, wie schon in der Phase unmittelbar nach Kriegsbeginn, eine Dominanz betrieblicher Umstellungen, in die nun Akteure auf regionaler und staatlicher Ebene einbezogen wurden. Gleichermaßen gab es die Tendenz, systematisch auf technologisch höherwertige Produkte umzustellen. Die Lockenwickler bei Messerschmitt machten Nähmaschinen Platz, die Flugzeugwerke im Land Sachsen-Anhalt gingen im Schwermaschinenbau auf. Gerade in der zentralgeleiteten Wirtschaft der SBZ fand sich jedoch kein systematischer Ansatz, die technischen Vorzüge des Flugzeugbaus in geeigneten Nachbarbereichen umzusetzen. Im Gegenteil, im Osten zeigte sich noch eine mangelnde Einpaßbarkeit in die allgemeine Tendenz der Wirtschaftspolitik, während im Westen die Unternehmen ohnehin, aber auch Landesregierungen wie in Nordrhein-Westfalen zumindest das Potential sichern wollten. 2. Gleichwohl zeichnete sich die Tendenz ab, regionale Strukturpolitik zu betreiben, um wenigstens die Folgen der Demontagen zu lindern. Gerade die rigorose Vernichtung des Ostseestandortes der deutschen Flugzeugindustrie und die geringe Beschäftigungsintensität auch der westdeutschen betrieblichen Konversionen ließ zum Ende der vierziger Jahre ein freies Potential von Beschäftigten der ehemaligen Flugzeugindustrie entstehen, das auch durch die Rekrutierungen von „Spezialisten" in die SBZ nur geringfügig abgeschöpft wurde. 3. Aus diesen beiden Vorgängen, einerseits der Sicherung von bestimmten Produktionsstufen des Flugzeugbaus, andererseits der Freisetzung der personellen Kapazitäten, schälte sich die Perspektive von Rüstungskonversion als Technologiepolitik heraus: die nach der Demontage politisch und ökonomisch arrondierten Anlagen mit einer gezielten Werbung des „vagabundierenden" personellen Potentials zu neuen Produktionseinheiten zusammenzufassen. Diese Perspektive prägte die dritte Phase der Rüstungskonversion in der DDR und in der Bundesrepublik. 83 Zum Stellenwert dieser Industrien in der frühen nordrhein-westfälischen Wirtschaftspolitik: Abelshauser, Werner, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise in der nordrhein-westfälischen Industrie, in: Köllmann, Wolfgang/Düwell, Kurt (Hg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 3., Wuppertal 1984, S. 343-361. 84

Für den internationalen zivilen Flugzeugmarkt lieferten zunächst die Vereinigten Leichtmetallwerke (VLW) in Bonn sowie die Firma Fuchs in Meinerzhagen. S. Die Luftfahrt im Lande NRW, 1955-1965, hg. v. Ministerium für Wirtschaft und Verkehr des Landes NRW (Gruppe Luftfahrt), Düsseldorf 1965, S. 141 ff.

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I I I . Dritte Phase: Konversion und Rekonversion 1952-1960 Für die Betrachtung der langfristigen Konversionsprozesse im Flugzeugbau stellt das Jahr 1952, als die Vorentscheidungen zur Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten fielen, einen Einschnitt dar. Im Falle der Bundesrepublik wird die Zäsur markiert vom Abschluß des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) am 27. Mai 1952 in Paris, in dem der bundesdeutsche Wehrbeitrag im Rahmen eines europäischen Truppenverbundes festgelegt wurde. 85 Schon seit dem Angebot Adenauers an die Alliierten vom August 1950 kreiste die Debatte um westdeutsche Streitkräfte auch um die Frage, welchen rüstungswirtschaftlichen Beitrag die Bundesrepublik bei der Ausstattung dieser Streitkräfte leisten könne. 86 Freilich führten die Hinnahme eines Verbots einer deutschen Fertigung von Flugzeugen im ersten Entwurf des EVG-Vertrages und der von Adenauer Anfang Mai 1952 als politischer Preis für den Vertrag angebotene Verzicht auf eine deutsche Flugzeugindustrie überhaupt erst dazu, daß sich die Luftfahrtindustrie wieder als Unternehmensverband reorganisierte, um gegen diese Planungen vorzugehen. Während es schon seit dem Beginn der fünfziger Jahre Konzepte für eine Beteiligung deutscher Firmen an der Marinerüstung gab 87 , verspätete sich die Reorganisation der deutschen Flugzeugindustrie durch diese Entwicklungen augenfällig. Erst mit dem Scheitern des EVG-Vertrages bot sich die Perspektive, daß eine westdeutsche Flugzeugindustrie als Lieferant für die entstehende Bundesluftwaffe notwendig sein könne. 88 Hingegen ging die DDR nach der zunächst verdeckt betriebenen Aufrüstung 89 früh zu einer offenen Militarisierung über: Auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 kündigte Generalsekretär Walter Ulbricht den Aufbau „nationaler Streitkräfte" an. Eine entsprechende Abstimmung mit der sowjetischen Seite hatte bereits Anfang April 1952 stattgefunden. Vereinbart wurde mit der Sowjetunion eine 85

Wettig, Gerhard, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943-1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bd. 25), München 1967, S. 472 f.; Zum EVG-Vertrag umfassend: Köllner, Lutz u. a., Die EVG-Phase (= Anfänge deutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Band 2), München 1990. 86 Zur Rüstungswirtschaft in den fünfziger Jahren: Brandt, G., Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik, Witten 1966; Krüger, Dieter, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg 1993, bes. S. 99-114; Berghahn, Volker, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985, S. 258-279. 87 Sommer, Karl-Ludwig, Wiederbewaffnung im Widerstreit von Landespolitik und Parteilinie. Senat, SPD und die Diskussion um die Wiederbewaffnung in Bremen und im Bundesrat 1948/49 bis 1957/58, Bremen 1988, S. 183 ff. 88 Weyer, Johannes, Akteurstrategien und strukturelle Eigendynamiken. Raumfahrt in Westdeutschland 1945-1965, Göttingen 1993, S. 166 ff. 89 Vgl. dazu die Beiträge in: Thoß, Bruno (Hg.), Volksarmee schaffen - ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer „verdeckten Aufrüstung" in der SBZ/DDR 1947-1952 (= Beiträge zur Militärgeschichte, hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 51), München 1994.

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militärische Stütze für den „Kurs zum Sozialismus"90 und zugleich der Aufbau eines eigenen rüstungswirtschaftlichen Sektors der DDR, der in der Politbüro-Sitzung am 29. Juli 1952 beschlossen wurde. Entsprechend verfaßte die Abteilung Planung und Organisation der HVA in Zusammenarbeit mit dem Büro für Wirtschaftsfragen (BfW) ein „Exposé über den Aufbau der Flugzeugindustrie in der DDR". Das Exposé sah vor, ehemalige Werke des deutschen Kriegsflugzeugbaus wiederzubeleben und bis 1955 schrittweise die Lizenzproduktion von vier Flugzeugtypen einzuleiten, und zwar zunächst eines Schulflugzeuges, später auch eines Jägers, eines Schnellbombers sowie eines zivil und militärisch nutzbaren Transportflugzeuges. Parallel zum Lizenzbau wurde außerdem die Eigenentwicklung von Zellen und Triebwerken avisiert. 91 Als wichtigste Voraussetzung für den Wiederaufbau nannte der Verfasser des Exposés, Erich Miller, das Potential qualifizierter Techniker und Ingenieure, da „die früheren Kräfte der Flugzeugindustrie im allgemeinen noch vorhanden sind und jetzt in der gleichen Gegend in anderen Industriezweigen arbeiten", insbesondere im Maschinenbau, Fahrzeug- und Gerätebau. Darüber hinaus hatte die HVA 1952 bereits 1650 Rückkehrer aus der Sowjetunion „listen- und karteimäßig erfaßt", darunter 60 Prozent Angehörige der „technischen Intelligenz" 92 . Wenngleich die Vorarbeiten bis ins Jahr 1951 zurückreichen, blieben die Pläne der Luftfahrtgruppe in der HVA vergleichsweise diffus und zeichneten sich durch völlig überzogene Erwartungen aus: Schon im dritten Jahr nach dem Start sollte die Luftfahrtindustrie der DDR über 1000 Flugzeuge produzieren, darunter 398 Jäger. 93 Systematisch wurden die Voraussetzungen für den Neubeginn der Luftfahrtindustrie von einer im Sommer 1952 eingesetzten Regierungskomission geprüft, der 13 Experten des ehemaligen Kriegsflugzeugbaus angehörten. Nach einer Besichtigung der verbliebenen Produktionsstätten legte die überwiegend mit ehemaligen Heinkel-Mitarbeitern besetzte Kommission ein 400seitiges Gutachten mit Vorschlägen für den Wiederaufbau in Dessau und im Rostocker Raum vor. 94 Die konkrete Umsetzung wurde schließlich zum Jahreswechsel 1952/53 dem neugeschaffenen Ministerium für Transportmittel- und Landmaschinenbau95 übertragen und 90

Eisert, Wolfgang, Zu den Anfängen der Sicherheits- und Militärpolitik der SED-Führung 1948 bis 1952, in: Thoß (Hg.), S. 203. 91 Büro für Wirtschaftsfragen/Erich Miller, Plan für den Aufbau der Flugzeugindustrie in der DDR vom 22. 7. 1952, in: BArchMZAP/Bestand Hauptverwaltung Ausbildung/Pt 888, Bl. 158-280. 92 Ebd., Bl.269-270. 93 Ebd., Bl. 158-280. 94 FWD, V 216/55-689/700 (1240): Autorenkollektiv, Studie über den Aufbau einer Luftfahrtindustrie in der DDR, o.D. (Juli 1952) 95 Minister für Transportmittel- und Landmaschinenbau wurde bezeichnenderweise Bernd Weinberger, bis dahin Generalmajor der Kasernierten Volkspolizei und Chef des Büros für Wirtschaftsfragen im Ministerium des Innern. Das Ministerium für Transportmittel- und Landmaschinenbau trug mit der Zuständigkeit für den Schiff-, Flugzeug- und Panzerbau deutlich rüstungswirtschaftlichen Charakter. Entsprechend wurde es auch nach dem Abbruch

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hier von der Hauptverwaltung Transportmaschinenbau (HVT) 9 6 bearbeitet. Im Januar 1953 übernahm die HVT die Verwaltung von 16 Betrieben des Maschinenund Fahrzeugbaus, die in der Regel Nachfolger der ehemaligen mitteldeutschen Flugzeug- und Flugmotorenproduzenten waren oder ein einschlägiges technologisches Profil aufwiesen. Die HVT prüfte die vorhandenen Anlagen und Maschinenausstattungen und wählte im April 1953 die Direktbetriebe aus, die auf die sogenannte „neue Produktion" umzustellen waren: für den Triebwerkbau die VEB Auto-Union Zwickau und das Motorenwerk Chemnitz, für den Zellenbau das Reichsbahnausbesserungswerk Dessau und die Maschinenfabrik Schkeuditz, für den Gerätebau das Gasgeräte-Werk Dessau und die Hallesche Bäckereimaschinenfabrik „Habämfa" Halle, für Fahrwerke der VEB Optima Leipzig. 97 Nachdem die erforderlichen Investitionsmittel von Minister Weinberger genehmigt worden waren, wurde mit den Bauarbeiten und der Beschaffung der Maschinen begonnen. In weiteren 20 Zulieferbetrieben ließ die HVT Konstruktionsbüros einrichten, die eine Zusatzproduktion von Geräten und Flugzeugteilen vorbereiten sollten.98 Als Entwicklungszentrum des Flugzeugbaus war bereits 1951 das sogenannte Materialamt Pirna eingerichtet worden. Der Gebäudekomplex auf dem Sonnenstein hatte zunächst als Sammelstelle für die zurückkehrenden Luftfahrtspezialisten aus der Sowjetunion gedient und wurde im Zuge des Luftfahrtprogramms zum Entwicklungswerk für Triebwerke erweitert. 99 Das wichtigste Projekt des Programms war jedoch der Wiederaufbau des Hauptsitzes der ehemaligen Junkers Flugzeug- und Motorenwerke zum Zentrum der DDR-Luftfahrtindustrie. Auf dem zentralen Junkersgelände in Dessau wurden ab Mai 1953 die Fundamente eines neuen Serienwerkes für die Zellenmontage gelegt. des Rüstungsprogramms im November 1953 wieder aufgelöst; Minister Weinberger wurde von der SED-Führung gerügt und sämtlicher Ämter enthoben. Broszat/Weber (Hg.), S. 1053. 96 Zum Leiter der HVT wurde zunächst der ehemalige Mitarbeiter des Büros für Wirtschaftsfragen Erich Miller berufen, der bereits als Autor des Exposés vom 22. 7. 1952 gezeichnet hatte. Wegen der geringen fachlichen Qualifikation Millers übernahm im Frühjahr 1953 Walter Meister die Leitung der HVT. Als technischer Leiter stand ihm Friedrich Tops zur Seite, ein Mitglied der Regierungskommission, der aufgrund seiner über 30jährigen Erfahrung im Flugzeugbau als ausgewiesener Experte galt und im Krieg zuletzt technischer Direktor der Arado-Werke in Warnemünde gewesen war. Brunolf Baade an Walter Ulbricht betr. Freistellung von Kadern v. 28. 6. 1955, FWD, V 433/2-20-58 (469). 97

Zurückgegeben an die entsprechenden Fachministerien wurden die VEB Eisengießerei und Maschinenfabrik Dessau, Kranbau Kothen, Polygraph Leipzig, Möbelfabrik Anklam, ABUS Behälterbau Magdeburg, LOWA-Waggonfabrik Gotha sowie VEB Mihoma Markranstädt, Waggonfabrik Dessau, Nagema Maschinenfabrik Heidenau, Autoreparaturwerk Wismar und Industriewerk Ludwigsfelde, die als sogenannte „Doubleurbetriebe" auf eine spätere Erweiterung der Produktionskapazitäten im Flugzeugbau vorzubereiten waren. Beschluß des Politbüros vom 28.4. 1953, SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/JIV 2/2/277. 98 Zusammenfassend: Hauptverwaltung Transportmaschinenbau, zentrale Aufbauleitung, Stand der Investvorhaben Juni 1953, FWD, V 186/55-592 (1225), Bl. 23-26. 99 Zur Gründung des Materialamtes Pirna s.: ebd., V 374/55-4818 (469), mehrere Dokumente.

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Die erhaltenen Verwaltungsgebäude wurden instandgesetzt und nach dem „neuesten Stand der Technik" eingerichtet. Sie sollten als Sitz der Hauptverwaltung Transportmaschinenbau sowie als Konstruktionsbüros dienen. 100 Als flankierende Maßnahme sah die HVT umfangreiche Wohnungsbauten in Dessau („Intelligenzsiedlung") und in Schkeuditz vor. Zudem wurden zwei Fachschulen für Flugzeugbauer in Kothen und in Dresden eingerichtet. Die Ingenieure sollten an der neuzugründenden Hochschule für Transportmaschinenbau in Dresden ausgebildet werden. Der Projektfinanzplan der HVT umfaßte für das Jahr 1953 insgesamt Ausgaben von rund 179 Mio. DM-Ost, davon Investitionen in Höhe von 99,56 Mio. DMOst. 101 Wenige Monate nach dem Beginn der Arbeiten führten jedoch die Ereignisse des 17. Juni zum Abbruch des Luftfahrtprogrammes. Nachdem Minister Weinberger noch am 16. Juni ein weiteres Teilprojekt genehmigt hatte, verfügte die HVT am 24. Juni die Einstellung sämtlicher Bauarbeiten und ordnete die Wiederaufnahme der ursprünglichen Produktion in den betroffenen Betrieben an. 1 0 2 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die HVT insgesamt rund 35 Mio. DM-Ost für die „neue Produktion" verausgabt - davon rund 20,5 Mio. DM-Ost für Investitionen, die zunächst vorwiegend auf den Wiederaufbau der Junkerswerke Dessau und auf das Entwicklungszentrum Pirna konzentriert wurden. 103 Insgesamt ist das erste Luftfahrtprogramm der DDR als gezielter und umfassender Versuch zu werten, das Potential der mitteldeutschen Luftfahrtindustrie wiederzubeleben. Seine militärische Motivation erklärt einerseits die beachtliche Dynamik und Dimension des Aufbauprozesses. Seine Einbettung in das kostspielige Rüstungsprogramm der DDR, das als „wesentliche Ursache der Krise von 1953" 104 bewertet wird, führte andererseits zum vorzeitigen Abbruch nach nur einem Jahr. Die ursprünglich militärische Ausrichtung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Flugzeugproduktion in der DDR grundsätzlich technologiepolitisch definiert wurde. Im November 1953, kurz nach dem Abbruch des Luftrüstungsprogramms, faßte der Leiter der liquidierten Hauptverwaltung Transportmaschinenbau, Walter Meister, seine Erfahrungen unter der Überschrift „Institut oder Indu!00 Vorprojekt Dessau, bestätigt von Minister Weinberger am 11. 3. 1953. Ebd. V 195/55605 (741a). 101 Bericht über die Liquidierung der Hauptverwaltung Transportmaschinenbau, Oktober 1953. Ebd. V 369-55/5627 (1020), Bl. 62. 102 HVT, Richtlinien über die Aufstellung einer Bilanz wegen der Einstellung der Produktion des Transportmaschinenbaus v. 24. 6. 1953. Ebd., V 235/55-4489 (444). 103 Siehe Bericht über die Liquidierung der Hauptverwaltung Transportmaschinenbau, Oktober 1953. Ebd., V 369-55/5627 (1020), Bl. 37-72. Zur Realisierung der einzelnen Teilprojekte: HVT, zentrale Aufbauleitung: Stand der Investvorhaben Juni 1953. Ebd., V 186/55592 (1225), Bl. 23-26. 104 Diedrich, Torsten, Aufrüstungsvorbereitung und -finanzierung in der SBZ/DDR in den Jahren 1948 bis 1953 und deren Rückwirkungen auf die Wirtschaft, in: Thoß (Hg.), Volksarmee, S. 326. Die Gesamtkosten des Rüstungsprogrammes in den Jahren 1952 und 1953 beziffert Diedrich mit rund 2 Mrd. DM-Ost. Vgl. auch: Ders., Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk. Berlin 1993.

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strie?" zusammen: Es sei „unbedingt notwendig" in der DDR eine „Keimzelle" der Flugzeugindustrie zu schaffen, und zwar entweder in Form eines Instituts „oder, was noch besser ist, eine kleine gut arbeitende Luftfahrtindustrie" für den Bau „eines nicht zu schwierigen Baumusters" (Hervorhebung im Original). Diese Keimzelle könnte die übrige Industrie „durch fortschrittliche Konstruktionen und. Technologien" maßgeblich beeinflussen und als Auffangstelle für die rückkehrenden SU-Spezialisten dienen. 105 Die Diskussion über den Umgang mit dem technologischen und personellen Potential der Flugzeugindustrie verlief in der Bundesrepublik nach einem nahezu identischen Muster. Die amerikanische Planung, mit der Bundeswehr einen Abnehmer zweitklassiger Rüstungsgüter aus amerikanischer Produktion zu schaffen, öffnete geradezu ein Einfallstor für Überlegungen, eigene deutsche Rüstungskerne zu bilden. 106 Als sich abzeichnete, daß es eine westdeutsche Flugzeugindustrie geben würde, die auch Kriegsflugzeuge für die Bundesluftwaffe herstellen könnte, war es auch hier der Kern der Diskussion, ob Neuentwicklungen von deutschen Herstellern oder Lizenzproduktionen vornehmlich amerikanischer Typen bevorzugt werden sollten. 107 In gleicher Weise setzte die westdeutsche Wiederbewaffung auch Überlegungen in Gang, inwieweit die schon aus der Weimarer Zeit überkommene Zersplitterung der Flugzeugindustrie durch einen planvollen Konzentrationsprozeß bereinigt werden könnte, in dessen Verlauf gleichzeitig Mittel für leistungsfähige Entwicklungsbüros und geeignete Fertigungswerkstätten bereit zu stellen wären. In der Tat liegen hier die zentralen Kennzeichen der Wiedergründung der westdeutschen Luftfahrtindustrie: die Beschränkung auf die Lizenzproduktion von ausländischen Flugzeugtypen und die Zusammenfassung von Unternehmen, die schließlich einen vorläufigen Abschluß in der Gründung der Messerschmitt-Bölkow-Blohm GmbH fand. 108 Diese beiden Haupttendenzen schälten sich jedoch erst heraus, nachdem im Zuge der Verhandlungen um den westdeutschen Beitritt zur NATO die Beschränkung der Rüstungsproduktion entlang der Bestimmungen des EVG-Vertrages endgültig fallengelassen worden 109 und die Bundesregierung mit einem Remontagekredit 105

Meister, W., Bemerkungen über die Beschäftigung mit der Luftfahrt in der DDR, o.D. (November 1953), FWD, V 369/55-5627 (1020). 106 Abelshauser, Werner, Rüstung, Wirtschaft, Rüstungswirtschaft: Wirtschaftliche Aspekte des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren, in: Maier, Klaus A./Wiggershaus, Norbert (Hg.), Das Nordatlantische Bündnis 1949-1956, München 1993, S. 90-108. 107 Strauß, Franz-Josef, Die Bundesregierung zur Förderung der deutschen Luftfahrtindustrie bereit, in: Flugwelt 11 (1958), S. 480-483; ders., Aktuelle Probleme um die deutsche Luftfahrtindustrie, in: ebd. 12 (1959), S. 302; Berghahn, S. 275. 108 Zu beiden Kennzeichen instruktiv: Bölkow, Ludig, Erinnerungen, München/Berlin 1994, S. 160 ff. u. 214 ff.; Ebert/Kaiser/Peters, S. 340 ff. u. S. 355. 109 Maier, Klaus Α., Die internationalen Auseinandersetzungen um die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland und um ihre Bewaffnung im Rahmen der europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: Köllner u. a., S. 202 ff.

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über 35 Mio. DM 1956 auch materiell in die Förderung der Luftfahrtunternehmen eingetreten war. 110 In der Bundesrepublik wurde der Weg, die Residuen der deutschen Flugzeugindustrie über eine Rekonversion in eine eigene Rüstungsindustrie technologiepolitisch zu sichern, zu einem Zeitpunkt beschritten, an dem das vergleichbare Projekt in der DDR bereits wieder abgebrochen worden war. Die zeitliche Asynchronizität der beiden Vorgänge wird durch einen weiteren Umstand akzentuiert. Bevor die Bundesregierung und insbesondere der Verteidigungsminister Franz Josef Strauß sich anschickten, die Überbleibsel der Luftfahrtindustrie erneut militärisch zu nutzen, hatte es ein Konversionsprojekt gegeben, in dem am Beginn der fünfziger Jahre nicht die Bundesebene, sondern vielmehr das Bundesland Nordrhein-Westfalen die maßgebliche Rolle spielte. Dieses Projekt hingegen richtete sich ausdrücklich darauf, den Flugzeugbau zivil und als Impulsgeber der technischen Entwicklung im Land zu nutzen. Die konzeptionelle Führerschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) in der Konversion der deutschen Luftrüstungsindustrie resultierte aus zwei zunächst unverbundenen Vorstößen: einerseits den geschilderten Bemühungen um eine Konservierung des während der nationalsozialistischen Rüstungskonjunktur erreichten Strukturgewinns in der Aluminiumverarbeitung, andererseits der Absicht, Repräsentanten und Institute an das Land zu binden, die aus der außeruniversitären, vom Reich geförderten naturwissenschaftlichen Forschung verblieben waren. Leo Brandt, seit 1949 stellvertretender Verkehrsminister des Landes, später Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, verfügte als ehemaliger Leiter der Entwicklungsabteilung bei Telefunken über Kontakte zu Spitzenvertretern der deutschen Luftfahrtforschung. In den fünfziger Jahren war er die treibende Kraft bei der Ansiedlung von Instituten der ehemaligen „Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt" (DVL) und der Einrichtung von Lehrstühlen für ihre beamtenrechtlich nicht abgesicherten „Forschungsprofessuren" , i n Die Konzentration auf die Luftfahrtforschung bildete dabei keinen Selbstzweck. Vielmehr lassen sich hier Elemente einer Konzeption wiedererkennen, die schon in den dreißiger und vierziger Jahren als Ansatz zu einer Reform der gesamten naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland präsentiert worden waren. Die Vielgestaltigkeit der Fragestellungen, die durch den Bau von Flugzeugen aufgeworfen würden, der Aufwand, der zu ihrer Bearbeitung notwendig sei, und die Ausstrahlungseffekte der Luftfahrtforschung auf die beteiligten Wissenschaftsgebiete lasse es sinnvoll erscheinen, die Frageestellungen des Flugzeugbaus zum Ordnungsraster für die gesamte naturwissenschaftliche Forschung in Deutschland zu erheben, hatte vor allem der Leiter der Forschungsabteilung im Reichsluftfahrtministerium,

110 Rothe, Leo S., Vom Aufbau der deutschen Luftfahrtindustrie, in: Flugwelt 9 (1956), S. 487-489.

m Stamm, Thomas/Brandt, Leo, in: Forst (Hg.), S. 178-199; Rusinek, Bernd, Leo Brandt (1900-1971), in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 173-187.

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Baeumker, seit 1936 mehrfach angeregt. 112 Diese Idee, die Luftfahrtforschung zum Gerüst für eine Technologie- und Forschungsförderung des Landes NRW zu erheben, nahm Brandt auf, 113 nachdem im Juni 1950 die „Arbeitsgemeinschaft Forschung des Landes NRW" (AGF) als Clearingstelle der Forschungsförderung des Landes gegründet worden war. 114 Als 1954 eine erste Bilanz der Forschungsförderung des Landes gezogen wurde, konnte die AGF darauf verweisen, daß drei der Institute der DVL nach der Wiedergründung 1951 ihren Sitz in NRW genommen hatten. 115 Bis 1964 sollten es sechs von dann insgesamt zwanzig werden. 116 An der TH Aachen wurden bis 1954 insgesamt sieben Lehrstühle errichtet, „die direkt oder indirekt mit der Luftfahrttechnik in Verbindung stehen." 117 Die Tatsache, daß es erhebliche Auseinandersetzungen mit den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen um die Standorte der neu und erneut zu gründenden Luftfahrtforschungsanstalten und Luftfahrtvereinigungen gab, sollte nicht über die Intensität der Bemühungen des Landes NRW hinwegtäuschen und darüber, daß die anderen Bundesländer und der Bund wenig mehr denn ideelle Gesichtspunkte in diese Auseinandersetzung einbringen konnten. Bevor der Entschluß zu einer bundesseitigen Förderung der Luftfahrt gefallen war, stellte diese, vom materiellen Standpunkt aus betrachtet, eine Veranstaltung des Landes NRW dar. Von den 5,2 Mio. DM, die die DVL noch im Jahr 1956 einnahm, stammte wie in den Vorjahren der weit überwiegende Teil aus Mitteln des Landes NRW, nämlich 3,2 Mio. DM, während der Bund 0,92 Mio. DM und das Land Bayern lediglich 0,195 Mio. DM beisteuerten. 118 Die Ansiedlung des freien Potentials der Luftfahrtforschung bildete den Schwerpunkt im „Hegemoniestreben" des Landes NRW. 1 1 9 In den Debatten der AGF bildete sich jedoch gleichsam ein Zwei-Stufen-Schema heraus, das eine Parallele in den Diskussionen bietet, die etwa gleichzeitig in der DDR geführt wurden. Da in 112 Trischler, Helmut, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt/M./New York 1992, S. 208 f. u. 247 ff. u 3 Zur „Schrittmacherfunktion" der Luftfahrtforschung s. Brandt, Leo, Die Bedeutung der Luftfahrt für den Wiederaufbau Deutschlands, in: Jahrbuch der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Luftfahrt 3(1954), S. 35-41, bes. S. 38; Jastrow, F., Die deutsche Luftfahrtindustrie, in: ders./Blume, W., Luftfahrtindustrie im Aufbau, Düsseldorf 1953, (= Verkehrswissenschaftliche Veröffentlichungen des Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr NRW, Heft 28), S. 6. 114

Brautmeier, Jürgen, Forschungspolitik in Nordrhein-Westfalen, 1945-1961, Düsseldorf 1983, S. 67 ff.; Trischler, S. 313 ff. u 5 AGF, 18 neue Forschungsstellen im Land Nordrhein-Westfalen, Köln/Opladen 1954. u 6 Die Luftfahrt im Lande NRW, 1955-1965, hg. vom Ministerium für Wirtschaft und Verkehr des Landes NRW (Gruppe Luftfahrt), Düsseldorf 1965, S. 103. 117 Brandt, S. 38. us Luftfahrt in NRW 1955-1965, S. 105. 119 Trischler, S. 320.

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Rheinland und Westfalen keine Reste der großen Luftfahrtwerke existierten und die Zulassung des Luftfahrzeugbaus in Westdeutschland ausstand, war die Frage nach „Institut oder Industrie" in Nordrhein-Westfalen ganz eindeutig zugunsten der ersten Option entschieden. Dennoch ließen weder Brandt noch andere Exponenten der Forschungsförderung einen Zweifel daran, daß die Förderung des Flugzeugbaus notwendig aus der Förderung der Luftfahrtforschung folgerte. Schon seit dem Beginn der fünfziger Jahre wurde diese Tendenz sichtbar. Als Teil der Forschungsförderung des Landes wurden Mittel für ein an der TH Aachen angesiedeltes Projekt verausgabt, das die Konversion an einem der bekanntesten Produkte der nationalsozialistischen Rüstungstechnik zum Inhalt hatte. Dem Erfinder des sogenannten Schmidt-Rohres, des Antriebsaggregats der Fi 103 („VI"), sollte Gelegenheit gegeben werden, dieses einfach aufgebaute Pulsotriebwerk zu einem universell einsetzbaren Antriebsaggregat für Flugzeuge weiter zu entwikkeln. Den wichtigsten Strang der Aktivitäten des Landes im Produktionsbereich bildete jedoch die Förderung von Kleinunternehmen, die von Angehörigen der ehemaligen großen Flugzeugfirmen gegründet worden waren. Bereits Ende der vierziger Jahre unterstützte das Land NRW eine Gruppe von Ingenieuren der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, 120 und in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre förderte das Land Projekte einer Gruppe um den ehemaligen Leiter der Entwicklungsabteilung des Arado-Konzerns, Walter Blume, sowie des Unternehmers Willy Messerschmitt. Gleiches galt für die Firma Alfons Pützer KG, die ab 1954 in der Nähe von Bonn Sportflugzeuge baute, und schließlich das größte nordrhein-westfälische Flugzeugbauunternehmen, die Rheinflug-GmbH, die von ehemaligen Ingenieuren der Firma Focke-Wulf gegründet worden war. 121 Die Nutzung von Impulsen der Luftfahrtforschung im produktiven Bereich stand im Vordergrund dieser Anstrengungen, und sie hatte zumindest die Folge, daß die Konstruktionen des Ingenieursbüros Blume und der Rheinflug GmbH zwei der lediglich fünf voll entwickelten Flugzeuge darstellten, die bei der Beschaffung der Ausrüstung der Bundesluftwaffe aus der deutschen Entwicklung in Frage kamen. 1 2 2 Zugleich rundete die Ansiedlung von Flugzeugproduzenten den Aluminiumsektor ab. Es sei ein „Glück", hieß es auf einer Tagung der AGF 1952, zu der Willy Messerschmitt geladen worden war, „daß die ganze Zubringerindustrie der Aluminiumwerkstoffe in bestentwickelter Form hier erhalten oder dank der Großzügigkeit unseres Wirtschaftsministeriums remontiert ist. Die leitenden Gießereien und Halbzeugwerke haben wir in unserem Beritt, so daß eigentlich nur der Flugzeugkonstrukteur mit seinem ganzen Werkskomplex fehlt." 1 2 3

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Lichte, August, Luftfahrtforschung als Verpflichtung. Es gilt, die Junkers-Tradition neu zu beleben, in: Flugwelt 10 (1957), S. 16 f. 121 Luftfahrt in NRW 1955-1965, S. 108-110, sowie Die Luftfahrt im Lande NRW, 19651970, hg. vom Ministerium für Wirtschaft und Verkehr des Landes NRW (Gruppe Luftfahrt), Düsseldorf 1970, S. 143 ff. 1 22 Weyer, S. 183.

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Die Initiative des Landes NRW war für die ehemaligen Luftrüstungsunternehmen im Westen in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits drohte der Kontakt zum Stand der Flugzeugbautechnik in anderen europäischen Ländern abzureißen, 124 zum anderen zeigten sich die Grenzen des Bemühens, in rüstungsnahen Produktgruppen den Vorsprung der etablierten Hersteller aufzuholen. Die konvertierten Rüstungsunternehmen gerieten in eine Krise. Die Firma Henschel, die während des Krieges zwar im Dampflokomotivbau präsent gewesen war, konnte bei der Umrüstung der Bundesbahn auf Diesel- und Elektrolokomotiven nicht mithalten. 125 Mitte der fünfziger Jahre war die Messerschmitt AG konkursreif, und auch die von einer Konzerntochter im ehemaligen Regensburger Werk betriebene Herstellung des „Messerschmitt-Kabinenrollers" mußte 1956 eingestellt werden. 126 Vor diesem Hintergrund stellte das Angebot des Landes NRW, Unterstützung für die Rückkehr in den alten Produktbereich zu gewähren, eine Alternative zu den Projekten dar, die sowohl Messerschmitt als auch Heinkel seit dem Beginn der fünfziger Jahre in Spanien und Ägypten betrieben, um wieder auf den Flugzeugbau einzuschwenken. Die Tatsache, daß im Jahr 1953 die Messerschmitt GmbH Rheinland gegründet und hier sogleich mit der Entwicklung eines Strahltriebwerks „für stationäre Anlagen und Verkehrsfahrzeuge aller Art" begonnen wurde, ist ein deutlicher Beleg, daß der Versuch, die bedeutenden ehemaligen Flugzeughersteller zu einer Verlegung ihres Standortes zu bewegen, durchaus nicht unrealistisch war. 127 Allerdings bestand das wichtigste Problem bei der Ansiedlung von Flugzeugunternehmen in Nordrhein-Westfalen darin, daß es hier während des Krieges keine Endverarbeitung mit entsprechender Infrastruktur gegeben hatte. Die beiden Versuchsflugzeuge des Ingenieursbüros Blume mußten bei Focke-Wulf in Bremen hergestellt werden. Die Rheinflug GmbH konnte erst 1958/59 den Fertigungsbetrieb in eigenen Hallen auf dem Gelände des Flugplatzes Mönchengladbach aufnehmen. 128 Mit der Entscheidung zum Aufbau der Bundesluftwaffe war der Höhepunkt in den nordrhein-westfälischen Luftfahrtaktivitäten jedoch überschritten. Sämtliche Flugzeughersteller kehrten in den angestammten Bereich zurück, selbst wenn sie im Zuge des Konversionsprozesses nach 1945 erfolgreich diversifiziert hatten. Alle produzierten, mit Ausnahme der in Donauwörth neu gegründeten Siebel-ATG 123

Diskussionsbeitrag Haas, Max H. (TH Aachen) zum Vortrag von Seewald, Friedrich, Die Flugtechnik und ihre Bedeutung für den allgemeinen technischen Fortschritt, in: Veröffentlichungen der AGF, Heft 17, Köln/Opladen 1953, S. 35. 124 Die Diskussionen in der AGF kreisten stets um die Frage, ob die deutschen Flugzeugkonstrukteure „in der Zeit, in der wir ausgeschaltet waren," den Kontakt zu den Fragestellungen des modernen Flugzeugbaus verloren hätten. Wortbeitrag Seewald zum Vörtrag von Lachmann, G. V., An einer neuen Entwicklungsschwelle im Flugzeugbau, in: Veröffentlichungen der AGF, Heft 41, Köln/Opladen 1955, S. 52. Zu Henschel: Nur Rüstung kann retten, in: Der Spiegel 11 (1957), H. 40, S. 26-28. ™ Bölkow, S. 214 f.; Ebert/Kaiser/Peters, S. 311. 127 Ebert/Kaiser/Peters, S. 304 f. i 2 « Luftfahrt in NRW 1955-1965, S. 143 f.

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(ehemals Halle-Leipzig) an ihren alten Standorten. Die überkommene Nord-SüdTeilung der westdeutschen Standorte der Flugzeugindustrie bildete sich bald darauf auch in den Konzentrationsprozessen ab, die vom Bund, Bayern und Bremen/ Hamburg in Gang gesetzt wurden. Die Konversion der bundesdeutschen Industrie mündete in einer umfassenden Rekonversion, die das „zivile" Projekt des Landes NRW marginalisierte. Eine derartig massive Wiederbelebung der alten Rüstungsstandorte war in der DDR unter dem Druck des 17. Juni 1953 gescheitert. Der Plan, das verbliebene Potential der Kriegsflugzeugindustrie zu nutzen, überdauerte jedoch die Krise und wurde bereits ein halbes Jahr später erneut aufgegriffen. Im Materialamt PirnaSonnenstein, das auch nach der Liquidation des ersten Luftfahrtprogrammes der DDR bestehen blieb, entwickelte eine zunächst kleine Gruppe von Experten ab Ende 1953 „auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen der UdSSR und der DDR" neue Pläne für den Aufbau einer Flugzeugindustrie in der DDR, nunmehr allerdings unter der Maßgabe einer zivilen Produktion. 129 Im Februar wurde die „Gruppe Sonnenstein" zur „Hauptverwaltung Flugbedarfexport" (HV 18) im Ministerium für Maschinenbau aufgewertet und mit der Leitung des gleichnamigen Industriezweigs beauftragt. 130 Im Kontrast zum ersten Luftfahrtprogramm der Jahre 1952/53 beschränkte sich die neue Konzeption auf eine Minimalausstattung: Neben dem Entwicklungszentrum Pirna verwaltete die neue Hauptverwaltung zunächst nur zwei Betriebe, den VEB Maschinen- und Apparatebau Schkeuditz für den Zellenbau sowie das Büromaschinenwerk Wanderer Continental in KarlMarx-Stadt für den Trieb- und Fahrwerkbau. Der kostspielige Plan, in der ehemaligen „Junkers-Stadt" Dessau ein neues Zentrum des Flugzeugbaus zu errichten, war gänzlich verworfen worden. Statt dessen ging die SED-Spitze nun davon aus, daß „der Raum Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig aus sicherheits- und fertigungsorganisatorischen Gründen der Geeignetste (sie!) ist" 1 3 ^ Vergleichsweise günstige Voraussetzungen für den Flugzeugbau bot allerdings allenfalls das Werk in Schkeuditz. Während des Krieges hatte die Siebel Flugzeugwerke GmbH (SFW) hier Rümpfe, Tragflächen und Leitwerke für die Typen Do 17, Ju 188, Si 104 bauen und gegen Kriegsende auch Zellen montieren lassen. 1 3 2 Nach den Demontagen 1946/47 wurde die Flugzeugwerft in den „VEB Nagema Maschinen- und Apparatebau Schkeuditz" umgewandelt und produzierte Kühlkompressoren, Kühlanlagen, Kühlschränke und -zellen. Noch 1952 waren 60 Pro129 Meister, Walter, Aufbau der Luftfahrtindustrie in der DDR, 1. Entwurf v. 27. 11. 1953, FWD, EF V 369/55-5607, Bl. 103-111. Meister war zuvor Leiter der HVT. 130 Vorlage betr. Aufbau eines Industriezweiges zur Produktion von Rugzeug-Triebwerken, -zellen, -geräten und Ersatzteilen für die Sowjetunion v. 19.2. 1954, SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/JIV 2/202/56, Bd. 1. 131 Ebda.(S. 2 des Dokuments). 132 Maclsaac, Vol. II, Übersicht auf S. 18. Vgl. auch die (unbelegten) Angaben in: Michels, Jürgen/Werner, Jochen (Hg.), Luftfahrt Ost 1945-1990, Bonn 1994 (= Die deutsche Luftfahrt, Bd. 22), S. 322 ff.

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zent der 900 Beschäftigten ehemalige Flugzeugbauer. Weitere Fachkräfte waren problemlos zu rekrutieren, „da in Leipzig und Halle Junkers-, Siebel- und Lufthansa-Mitarbeiter in ausreichendem Maß vorhanden" 1 3 3 waren. Erleichtert wurde die Rekrutierung solcher Fachkräfte, weil deren branchenfremde Beschäftigung seit Beginn der fünfziger Jahre registriert worden war. Vermittels dieser Listen warb die Hauptverwaltung in Pirna gezielt Personal für die neue Produktion a n . 1 3 4 Neue Dynamik erhielt der Aufbau der Flugzeugindustrie ab Mai 1954 durch die Rückkehr der letzten Spezialisten aus der Sowjetunion. 1 3 5 Während im Politbürobeschluß vom 19. Februar 1954 nur die Lizenzproduktion der russischen Propellerflugzeugs II 14 vorgesehen war, zeichnete sich nun die Eigenentwicklung der „152" ab, eines strahlgetriebenen Mittelstrecken-Verkehrsflugzeugs, das von der Spezialistengruppe um den ehemaligen Junkers-Konstrukteur Brunolf Baade noch während ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion entworfen worden war. 1 3 6 Nach Abstimmung mit der Sowjetunion faßte das Politbüro im Dezember 1954 einen zweiten Beschluß über den Aufbau der Flugzeugindustrie der DDR. Neben dem Lizenzbau der II 14 Ρ mit einer geplanten maximalen Ausbringung von 10 Maschinen pro Monat sollte der Industriezweig die „152" entwickeln, und zwar als Versuchsmuster schon „flugfertig im III. Quartal 1956". 1 3 7 Entsprechend den erweiterten Aufgaben wurden schrittweise weitere Produktionsstätten in die Flugzeugindustrie integriert, zunächst der Flugplatz DresdenKlotzsche als Standort einer neu zu bauenden Montagewerft, später das Industriegelände Dresden-Nord für den Bau von Zellenteilen sowie die Industriewerke Ludwigsfelde für die Serienfertigung des Strahltriebwerkes 014, das für die 152 in Pirna entwickelt wurde. Innerhalb von nur drei Jahren entstand bis 1958 die VVB Flugzeugbau mit einer Gesamtbelegschaftsstärke von 25.000 Mitarbeitern, darunter allein 8.000 im Kernbetrieb der VVB, der Flugzeugwerft Dresden. Die wichtigste Voraussetzung für diesen raschen Aufbau war zweifellos das Potential an Fach- und Führungskräften aus dem ehemaligen Kriegsflugzeugbau. So wurden Ende 1955 5.000 Beschäftigte als „Kader" („Leiter, Ingenieure, Meister und Angestellte") eingestuft, von denen 24 Prozent als „Flugzeugbauspezialisten"

133 BArchMZAP, Bestand Hauptverwaltung Ausbildung/Pt 888, Bl. 48 ff. 134 FWD, V 286/51-4-61 (1019a). In der Liste sind 760 Ingenieure, Wissenschaftler und besonders qualifizierte Techniker des Kriegsflugzeugbaus sowie deren Arbeitspätze zu Beginn der fünfziger Jahre aufgeführt. 135 Ciesla, Burghard, Der Spezialistentransfer in die UdSSR und seine Auswirkungen in der SBZ und DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu Das Parlament) 28. Jg. (1993), Β 49-50, S. 24-31. 136 Zeiler, Fritz, Bericht über die Besprechung anläßlich des Besuches vom 18.-21. Mai 1954, SAPMO-BArch, ZPA, DY30/J IV 2/202/56, Bd. 1. Baade war bei Junkers ab 1941 Leiter der Arbeitsgruppe Ju 288 gewesen. 137 Vorlage betr. Aufbau eines Industriezweiges zur Produktion von Flugzeug- und GeräteErsatzteilen für die Sowjetunion, 4. 12. 1954. Ebda.

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ehemaligen Rüstungsbetrieben angehört hatten. 138 Betriebliche Traditionen im Flugzeugbau konnten dagegen nur an zwei Standorten, in der ehemaligen SiebelWerft Schkeuditz sowie im Triebwerk-Serienbetrieb Ludwigsfelde, vormals Daimler-Benz-Motorenwerk Genshagen, aufgegriffen werden. Alle weiteren Betriebe mußten vollständig mit neuen Maschinenparks ausgestattet oder - wie im Falle der Flugzeugwerft Dresden-Klotzsche - erst gebaut werden. Zehn Jahre nach Kriegsende entstand damit in der DDR ein Flugzeugbaukomplex ziviler Natur, in den das „Erbe" der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie sinnvoll integriert werden konnte. Dieses Erbe bestand 1954/55 im wesentlichen aus den zahlreichen in der DDR verbliebenen Ingenieure und Techniker, die in anderen Industriezweigen eine Beschäftigung gefunden hatten, sowie der Gruppe der zurückgekehrten Spezialisten aus der Sowjetunion. Zweifelsohne war dieses „Humankapital" eine notwendige, angesichts der hochgesteckten Ziele des Industriezweiges aber wohl kaum hinreichende Voraussetzung für den Aufbau. Insbesondere die Freimachung und Umsetzung von ehemaligen Flugzeugbauern aus anderen Branchen erwies sich in den Aufbaujahren 1955 bis 1958 immer wieder als zentrales Problem. 139 Angesichts des Mangels an Führungskräften kritisierte der technische Direktor der Flugzeugindustrie, Brunolf Baade, 1955 in einem vertraulichen Gespräch, es sei „eine Utopie anzunehmen, daß man nun durch strenge Maßnahmen die Termine erreichen kann", vielmehr sei es „unmöglich, mit einem dermaßen kleinen Apparat den Flugzeugbau neu aufzubauen" 1 4 0 . Unbeschadet der beachtlichen Erfolge des sächsischen Flugzeugbaus141 muß daher festgehalten werden, daß das verbliebene Potential der Kriegsflugzeugindustrie in der DDR zwar frühzeitig, nämlich ab Beginn der fünfziger Jahre, wahrgenommen, aber angesichts der geschilderten Konflikte nicht rechtzeitig in eine industriepolitisches Konzept eingebunden werden konnte. In der strategischen Frage nach „Institut oder Industrie?", wie sie etwa der HVT-Leiter Walter Meister 1953 gestellt hatte, entschied sich die SED-Führung 1954 schließlich für eine Flugzeugindustrie mit hohem Produktionsausstoß und beträchtlichen Entwicklungsaufgaben, deren Anforderungen weit über das hinausgingen, was noch als „Konversionsmasse" an materiellem und immateriellem Potential zur Verfügung stand.

138 Zeiler, F., ZK-Abt. Technik Sektor 1, Jahresbericht 1955 der Durchführung des Beschlusses vom Dezember 1954 über den Aufbau der Flugzeugindustrie, o.D. (Anfang 1956). Ebd., J IV 2/202/56, Bd. 1, Die Gruppe der Flugzeugbauspezialisten bestand keineswegs nur aus den zurückgekehrten Teams aus der Sowjetunion: Der „Anteil der SU-Spezialisten an den Flugzeugbauspezialisten" betrug 34,5 Prozent. Ebda. 139 Verwaltung für Industriebedarf (Vfl), Liste der von der Vfl allein nicht zu lösenden Probleme v. 29. 6. 1955; FWD, V 433/2-20-58 (469), sowie weitere Dokumente in derselben Akte. 1 40 Auszüge aus einer Unterredung mit Prof. Baade, transkribierte Tonbandaufnahme v. 16. 10. 1955, SAPMO-BArch, ZPA, DY30/JIV 2/202/56, Bd. 1. 141 Zur weiteren Entwicklung vgl. Kieselbach, Andreas, Der sächsische Raum als Zentrum des DDR-Flugzeugbaus 1954/55 bis 1961, in: Sächsische Heimatblätter 37 (1991), S. 38-41.

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C. Resümee: Thesen zur Rüstungskonversion im Nachkriegsdeutschland Das Beispiel der Flugzeugindustrie widerspricht der Vorstellung, die deutsche Rüstungsindustrie sei nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb eines kurzen Zeitraumes in zivile Strukturen transformiert worden. Vielmehr deuten die beschriebenen Prozesse der zehn Nachkriegsjahre darauf hin, daß sich staatlicherseits erst allmählich Konzepte entwickelten, das rüstungswirtschaftliche Potential aufzugreifen und auf adäquatem Niveau in die Friedenswirtschaft zu integrieren. Wenngleich die Perspektiven eines neuerlichen deutschen Flugzeugbaus durch die politischen Rahmenbedingungen zwar über Jahre verstellt waren, bleibt festzuhalten, daß alternative zivile Verwendungen dieses Potentials von den politischen Entscheidungsträgern erst spät in Betracht gezogen wurden. Als eine Folge dieser verspäteten Wahrnehmung entwickelten sich Konversionsinitiativen in den Jahren 1945 bis 1948 vor allem auf betrieblicher Ebene unter dem Motiv der Demontageabwehr. Erst in der zweiten Phase zwischen 1948 und 1952 gibt es in West- und Ostdeutschland regionale Ansätze, die durch die Liquidation der Flugzeugindustrie entstandenen „Lücken" im industriellen System zu schließen. Besonders deutlich wird dies am Aufbau der ostdeutschen Schiffbauindustrie. Wenngleich sich deren Aufbau unter dem Diktat sowjetischer Reparationsinteressen vollzog, stellten die neuen Hochseewerften als großindustrielle Kerne de facto einen Ersatz für die liquidierte Flugzeugindustrie dar und verhinderten damit eine umfassende Deindustrialisierung der Küstenregion. Indizien für eine regionale Konversionspolitik lassen sich in NRW in der gezielten Förderung der bergisch-märkischen metallverarbeitenden Industrie erkennen, die nach Kriegsende neue Märkte für ihre hochspezialisierten Produkte erschließen mußte. Die Forschungspolitik der Landesregierung zielte darüber hinaus darauf, ein luftfahrtspezifisches Profil zu bilden und Nordrhein-Westfalen als Standort der endverarbeitenden Flugzeugproduzenten zu empfehlen. Zentralgeleitete Versuche, das Potential des deutschen Kriegsflugzeugbaus aufzugreifen und in den industriellen Wiederaufbau zu integrieren, lassen sich dagegen erst ab 1952 nachweisen. Die Strategiebildung überlagerte sich in der dritten Phase freilich mit der Debatte um die Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten. In der DDR gaben die weitreichenden Rüstungsbeschlüsse des Jahres 1952 den Anstoß für eine Remontage der alten Flugzeugwerke, die enormen finanziellen Belastungen der Aufrüstung besiegelten jedoch ebenso im Sommer 1953 den Abbruch des „Dessauer" Projektes. Der Entwicklungsbruch war indes nur von kurzer Dauer: Gerade ein halbes Jahr später beschloß das Politbüro im Frühjahr 1954 ein zweites, nunmehr ziviles Luftfahrtprogramm. Als plausibles Motiv für diese zunächst kuriose Entscheidung muß die technologische Schlüsselrolle des Flugzeugbaus in Betracht gezogen werden: Der Aufbau einer exportorientierten Luftfahrtindustrie erschien prestigeträchtig und bot grundsätzlich die Chance, den 22 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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von der Sowjetunion kritisierten Kurs der Schwerindustrialisierung 142 zugunsten einer Hochtechnologie zu korrigieren und besonders qualifizierte Ingenieure und Techniker langfristig in der DDR-Wirtschaft zu binden. „Die Frage des Flugzeugbaues in der DDR", so eine Einschätzung aus dem ZK-Apparat der SED, habe eine „fortschrittliche(n) Bedeutung für die Hebung des gesamten technischen Standes der Produktion in der gesamten Volkswirtschaft", aber „ auch einen politischen tiefen Inhalt": Zu befürchten stehe sonst eine Abwanderung der Spezialisten in die westdeutsche Rüstungsindustrie, denn dort „fehlen noch Kader, die sie bei uns suchen". 1 4 3 Die sich im Westen abzeichnende Konversionskrise Mitte der fünfziger Jahre wurde von einer umfassenden Rekonversion bei gleichzeitiger Zentralisierung der Luftfahrtpolitik überlagert. Nur über den Umweg der erneuten Rüstungsproduktion gelang es den bundesdeutschen Flugzeugunternehmen schließlich, auch im zivilen Flugzeugbau Fuß zu fassen und sich eine Beteiligung in den internationalen Konsortien zu sichern. In der DDR entfielen dagegen die so wichtigen Synergie- und spill-over-Effekte zwischen militärischer und ziviler Flugzeugproduktion. Sieht man von geringfügigen Reparatur- und Wartungsaufträgen für die NVA ab, war die DDR-Flugzeugindustrie seit dem Abbruch des Luftrüstungsprogrammes 1953 auf einen rein zivilen Markt beschränkt - mit der Folge, daß sämtliche Forschungsund Entwicklungsausgaben sich in den Gestehungskosten ihrer Produkte niederschlugen und nicht auf militärische Etats abgewälzt werden konnte. 1 4 4 Diesen Unterschied gilt es, bei einer vergleichenden Beurteilung des wirtschaftlichen Erfolgs der Flugzeugindustrien in den beiden deutschen Staaten zu berücksichtigen.

142

Bentley, Raymond, Research and Technological Change in the former German Democratic Republic, Boulder/San Francisco 1992, S. 15. Bentley bezieht sich auf das Dokument über die grundlegende Kritik der sowjetischen Führung an der Linie der SED vom Juni 1953, abgedruckt bei: Przybylski, Peter, Tatort Polibüro, Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 240249. Bericht über die Flugzeugindustrie der DDR v. 11. 11. 1955, SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/JIV 2/202/56, Bd. 1. 1 44 Dieser strukturelle Nachteil der DDR-Luftfahrtindustrie wurde auch von den Verantwortlichen wahrgenommen. So schrieb der technische Direktor Brunolf Baade 1957: „Es ist selbstverständlich, daß bei dem trotz seiner absoluten Größe doch relativ niedrigen Bestand an Aufträgen für Verkehrsflugzeuge es für einen privatkapitalistischen Betrieb günstiger ist, den staatlich finanzierten Militärflugzeugbau sich erst zu einer gewissen Reife entwickeln zu lassen und dann die abgeschlossenen Entwicklungen in den Verkehrsflugzeugbau zu übernehmen". Baade, Brunolf, Die Perspektiven des Luftverkehrs, einige daraus resultierende Entwicklungsprobleme und die von der Luftfahrtindusterie der DDR zu lösenden Aufgaben, in: Deutsche Flugtechnik 1 (1957), H.l, S. 3.

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„Das wahre Wirtschaftswunder" Flugzeugproduktion, Fluggesellschaften und innerdeutscher Flugverkehr im West-Ost-Vergleich 1955-1980 Von Hans-Liudger Dienet

A. Einleitung Der folgende Beitrag vergleicht Innovationen und Entscheidungsstrukturen in der zivilen Luftfahrt der BRD und der DDR. In drei eng zusammenhängenden Fallstudien werden die Flugzeugfertigung, die nationalen Fluggesellschaften und der Inlandsluftverkehr gegenübergestellt. In vielen Branchen erfolgte der wirtschaftliche Wiederaufbau mit technischen Lösungen aus der Vorkriegszeit - darauf haben Joachim Radkau und andere hingewiesen.1 Die zivile Luftfahrt wurde dagegen nach einer längeren Zwangspause in beiden Ländern neu aufgebaut, und es wurden neue technische Lösungen gesucht. Der Beitrag verfolgt diesen Weg bis etwa 1980, bis zum Ende des innerostdeutschen Luftverkehrs, konzentriert sich aber besonders auf die Jahre 1955-1965. Im Ergebnis zeigt der Blick auf das Innovationsverhalten der Wirtschaft und das Subventionsverhalten des Staates, daß bis 1961 die Luftfahrt in der DDR eine größere Rolle gespielt hat als im Westen. Das gilt besonders für die Flugzeugproduktion, aber auch für den Wiederaufbau der zivilen Luftfahrt. Das staatliche Interesse wird an dem ökonomisch wenig sinnvollen, aber gleichwohl massiv geförderten innerostdeutschen Luftverkehr besonders augenfällig. Im Westen hat demgegenüber in den 1950er Jahren eine vergleichsweise sparsame und vorsichtige Haltung gegenüber den industriellen Wünschen nach einer Subvention von Flugzeugproduktion und ziviler Luftfahrt vorgeherrscht. Dieser Befund ändert sich allerdings in den 1960er Jahren deutlich. Die Entscheidung zur Auflösung der Flugzeugindustrie minderte in der DDR auch das Interesse an der zivilen Luftfahrt, während in der Bundesrepublik gleichzeitig die ordnungspolitischen Bedenken gegenüber dem staatlichen Engagement in der Verkehrsluftfahrt zurücktraten. Die Analyse der Entscheidungsstrukturen, die zweite methodische Fragestellung des Sammelbandes, bietet Erklärungen für die unterschiedlichen Befunde im Inno1 Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1989, S. 313.

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vationsverhalten. Konkret vertrete ich die These, daß die staatlichen Entscheidungsstellen im Osten bis 1961 die Vorschläge der Luftfahrttechniker übernahmen, während in der westdeutschen Ministerialbürokratie mehr ökonomischer Sachverstand verankert war. Der Beitrag weist also die weitverbreitete These zur Wirtschaftsgeschichte der DDR, nämlich, daß der technische Sachverstand nach und nach verdrängt worden sei, für den Bereich der Luftfahrt zurück und behauptet vielmehr, daß die DDR-Flugzeugproduktion an einem zeitweise übergroßen Einfluß der Ingenieure litt, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zuwenig ökonomischen Kontrollen ausgesetzt waren. In anderen Branchen ist der Einfluß der Techniker und ihrer Leitbilder auf die politischen Akteure sicher geringer gewesen, wie durch die Beiträge dieses Sammelbandes belegt wird. Chronologisch schließt die Analyse an den vorangegangenen Beitrag von Budraß und Prott an. Der Vergleich zwischen beiden Beiträgen zeigt den Zuwachs der Handlungsspielräume der ostdeutschen Luftfahrtingenieure nur zu deutlich. In der Öffentlichkeit fand die zivile Luftfahrt in beiden deutschen Staaten große Resonanz. Als Vorbild für den Ausbau der Luftfahrt in den fünfziger Jahren dienten dabei in beiden Staaten die USA. Auch in der DDR erschienen mitten im Kalten Krieg am Ende der 1950er Jahre Bücher mit amerikanischen Flugzeugtypen auf den Titelseiten. Die Flugzeugtechnik und die Größe der Zivilluftfahrt der USA galten in den populären Darstellungen, die in beiden deutschen Staaten erschienen, als Vorbild. 2 Umso mehr galt dies für die Fachliteratur. Bis zum Ende der Luftfahrtindustrie 1961 orientierten sich die Luftfahrtingenieure der DDR ganz offen am westlichen Standard und schrieben das auch in ihre Berichte. Beide deutsche Staaten hatten zudem kein Problem damit, sich ungebrochen in die Tradition der deutschen NS-Luftfahrttechnik zu stellen.3 Erst in den 1960er Jahren, mit dem starken Aufstieg der zivilen Luftfahrt in der UdSSR, etablierte sich in der DDR ein neues Leitbild für den Luftverkehr. Diese Gemeinsamkeiten wurden allerdings von einem wichtigen Unterschied kontrastiert. Innerhalb der staatlichen Behörden hatte die Prestigefunktion, vor allem die internationale Prestigefunktion der Luftfahrt in der DDR bis 1961, eine viel größere Bedeutung für die Entscheidungen als im Westen. Der Beschluß zur Auflösung der Flugzeugproduktion von 1961 manövrierte dann aber auch die zivile Fluggesellschaft der DDR für viele Jahre ins gesellschaftliche Aus. Diese Hauptthese soll in drei Fallstudien näher beleuchtet werden: bei den Entscheidungen für den Bau von Verkehrsflugzeugen, beim Aufbau der nationalen Fluggesellschaften und schließlich beim innerdeutschen Luftverkehr. Der letzte Abschnitt greift sodann die Ausgangsthese wieder auf und zieht ein vergleichendes Resümee. 2 Vgl. z. B. Seifert, Karl-Dieter, Flugzeuge überall, Berlin 1960; Picht, Wolf-Dieter, Straßen der Zukunft, Berlin 1957. 3

Eine handschriftliche Notiz von Erich Apel, dem späteren Chef der Staatlichen Plankommission, auf einem Brief von Brunolf Baade an ihn vom 18. 2. 1959 fordert die Verkaufsabteilung der DDR-Flugzeugindustrie dazu auf, auch international die Junkerstradition stärker zu betonen. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/IV 2/2012/53.

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B. Der Bau von Verkehrsflugzeugen In beiden deutschen Staaten gab es ambitionierte Versuche zum Bau von Verkehrsflugzeugen, die aber bis zum Beginn der westdeutschen Kooperation im Airbusprogramm erfolglos blieben. Art und Umfang der staatlichen Förderung dieser Projekte weisen deutliche Unterschiede auf. Als Nachweis für die Modernität und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft spielte die Luftfahrt im Osten eine wichtigere Rolle als im Westen. Zudem hatten die Techniker im Osten eine größere Definitionsmacht für die Vorhaben. Jm Westen war die staatliche Förderpraxis dagegen vorsichtiger. Erst nach dem Scheitern der Industrie im Osten 1961 stieg in der westdeutschen Ministerialbürokratie die Bereitschaft zur Finanzierung des Flugzeugbaus. Sechzig Prozent der deutschen Flugzeugindustrie lagen 1945 auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone. Von besonderer Bedeutung waren die Flugzeugwerke von Junkers in Dessau, Heinkel in Rostock, Henschel in Berlin-Schönefeld und Arado in Potsdam. Doch auch in Westdeutschland lagen wichtige flugzeugbauende Unternehmen, vor allem Dornier in Friedrichshafen, Weserflug und Fokke-Wulf in Bremen, Messerschmitt bei Augsburg und Blohm in Hamburg. Zudem versuchten mehrere Betriebe, deren Hauptsitz in der sowjetischen Zone lag (Heinkel, Junkers u. a.), in ihren westlichen Werken neue Stammsitze aufzubauen. In jedem Fall gab es nach 1945 eine massive Abwanderung vor allem der leitenden Mitarbeiter der ehemaligen Flugzeugindustrie und der Lufthansa in die westlichen Zonen. Für alle Zonen, bzw. für beide deutsche Staaten ab 1949, bestand bis 1955 ein generelles Verbot der Flugzeugproduktion. Doch während im Osten nach der zwangsweisen Verlagerung der Sonderkonstruktionsbüros in die Sowjetunion seit 1946 keine technisch-industriellen Strukturen für die Flugzeugproduktion mehr bestanden, gelang es den westdeutschen Unternehmen, mit zivilen Produkten außerhalb der Flugtechnik ihre Betriebe aufrecht zu erhalten und zum Teil relativ schnell wieder in die Gewinnzone zu führen. Subventionen der Bundesländer für den Aufbau dieser Unternehmen dürfen nicht zu dem vorschnellen Schluß verleiten, daß auch seitens der Bundespolitik großes Interesse an einem Wiederaufbau der Flugzeugproduktion bestand. Diesem Schluß stehen vielmehr andere Befunde entgegen. International war die deutsche Politik sehr bereit, die Flugzeugproduktion nicht zu einem zusätzlichen Problem bei der Eingliederung in den Westen zu machen. Noch 1952 verzichtete Konrad Adenauer gegenüber der Alliierten Hohen Kommission ausdrücklich auf den Bau von Flugzeugen in Deutschland, als die Unternehmen bereits in den Startlöchern saßen und gute internationale Industriekontakte aufgebaut hatten. Außerdem verhielt sich der Bund gegenüber den industriellen Forderungen nach einer direkten staatlichen Subventionierung der Branche eher ablehnend. Das Verkehrsministerium weigerte sich auch, staatlichen Druck auzuüben, als es um die Berücksichtigung der deutschen Luftfahrtindustrie bei der Beschaffungspolitik der Lufthansa ging.

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Die westdeutschen Flugzeugbauer verfügten bis 1955 also über viel Selbstvertrauen, eine große Vergangenheit und zivil genutzte Fertigungseinrichtungen, aber keine Produktionserlaubnis oder gar Aufträge. Anfang 1952 hatten sich die alten Flugwerke in einem Verband zur Förderung der Luftfahrtindustrie organisiert, aus dem der Bundesverband der deutschen Luftfahrtindustrie (BDLI, später BDLRI) hervorging. 4 Dieser Industrieverband versuchte vom Verkehrsministerium, Verteidigungsministerium (und Vorläufer) und vom Wirtschaftsministerium verschiedenste Unterstützungen zum Aufbau der Flugzeugfertigung zu erhalten. Der Verband forderte die Verpflichtung der neugründeten Lufthansa zum Kauf von Flugzeugen aus deutscher Produktion, die Subventionierung eigener deutscher Entwicklungen von Zivilflugzeugen und die Entwicklung von Militärflugzeugen. Doch in Bonn war man gerade gegenüber eigenen Neuentwicklungen sehr reserviert. Das Wirtschaftsministerium wollte die Entwicklung von deutschen Zivilflugzeugen nicht fördern, das Verkehrsministerium bestand gegenüber der Lufthansa nicht auf einer Beteiligung der deutschen Luftfahrtindustrie bei der Beschaffung des fliegenden Materials, und selbst das Büro Blank - das spätere Verteidigungsministerium war vorwiegend an der Förderung von Lizenzbauten interessiert, während die deutsche Flugzeugindustrie gern eigene Militärflugzeuge entwickelt hätte. An dieser Politik hielt auch der technikbegeisterte Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister fest. Gegenüber den zahlreichen Anträgen auf Entwicklung eigener Flugzeuge bestand das Ministerium auf dem Know-how-Erwerb durch Lizenzproduktion und der Konzentration der Industrie in wenigen Gruppen. Die Flugzeugbauer in Westund Ostdeutschland waren sich in ihrer Arbeitsweise und ihren Konzepten also ähnlicher als die staatliche Verwaltung. Leitende Mitarbeiter aus dem Osten, wie der 1960 abgewanderte Leiter der Trieb werksentwicklung Fritz Frey tag - nach Brunolf Baade die Nummer 2 in der ostdeutschen Flugzeugindustrie - fanden in den westdeutschen Betrieben sofort Anstellung. Im Zusammenhang mit der Wiedergründung der westdeutschen Lufthansa konkurrierten vor allem englische und amerikanische Flugzeugfirmen um die zu erwartenden Aufträge. Der größte Auftrag war die Bestellung von Langstreckenflugzeugen für die Transatlantikroute. Amerikanische Flugzeuge hatten hier aus technischen Gründen die Nase vorn. Der ambitionierte englische Jet Comet war zu teuer, zu klein, zu unökonomisch und zu wenig erprobt. Auch personell stand die AG für Luftverkehrsbedarf (Luftag), aus der dann die Deutsche Lufthansa AG hervorging, den Amerikanern näher.5 Die beiden wichtigsten amerikanischen Konkurrenten, die Firmen Douglas und Lockheed, verfolgten unterschiedliche Verkaufsstrategien. Während der alte Donald Douglas, zu jener Zeit der erfolgreichste Verkehrs4 Am 13. 11. 1951 fand eine konstituierende Sitzung statt. Die Eintragung ins Vereinsregister erfolgte erst 1952. Archiv DASA-Bremen, Nachlaß Feilcke, Verband zur Förderung der Luftfahrtindustrie. 5 Der technische Vorstand der Luftag, Gerhard Höltje, der für die Auswahl der Flugzeuge verantwortlich war, hatte nach dem Krieg in amerikanischen Diensten im Flughafen Tempelhof gearbeitet. Zur Luftag siehe unten S. 353.

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flugzeugbauer der Welt, auf die alten deutschen Flugzeugunternehmer zuging und ihnen eine Beteiligung am Bau der Flugzeuge versprach, falls seine Firma den Zuschlag erhalten sollte, setzte die Firma Lockheed auf attraktive Finanzierungsangebote und den Kontakt zur Politik. Im Februar 1953 machte Lockheed die Firma Technocommerz, die Josef Abs und seinem Vertrauten Frank-Fahle gehörte, zum Lockheed-Repräsentant in Deutschland. Die deutschen Flugzeugbauer bildeten eine Gruppe mit Claude Dornier als Sprecher, die sich in Bonn nachdrücklich für Douglas einsetzte. Bis zum 23. März waren sich Vorstand und Aufsichtsrat der Luftag einig, die DC 6 von Douglas anzuschaffen. Am 14. Mai nahm der Aufsichtsrat allerdings „zur Kenntnis, daß die an Convair und Douglas gerichteten letters of intent mit Rücksicht auf die politische und finanzielle Lage zurückgezogen sind'4.6 Nur einen Monat später fiel in einer Besprechung zwischen dem Vorstand der Luftag 7 und einigen Aufsichtsratsmitgliedern die endgültige Entscheidung zugunsten der Lockheed Super Constellation, vorerst für vier Maschinen.8 Die Gründe für den spontanen Umschwung sind nicht völlig klar. Die Lufthansa hat später auf Finanzierungsbedingungen hingewiesen. Die Möglichkeit von massivem Druck oder Bestechung ist nicht auszuschließen.9 Martin Bongers kritisiert in seiner Autobiographie die Entscheidung für Lockheed.10 Für Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge war die Angebotspalette wesentlich größer. Die Vertreter der Luftfahrtindustrie favorisierten eine Lizenzproduktion des schwedischen Scandia Propellerflugzeuges, die den deutschen Unternehmen sowohl Entwicklungs- als auch Fertigungsaufträge verschafft hätte.11 Die Entscheidung der Lufthansa aber fiel zugunsten der amerikanischen Convair Maschinen. 6 Aufsichtsratsprotokoll der Luftag vom 14. 5. 1953. Zitiert nach: Schlußbericht der Arbeitsgruppe „Lockheed Dokumente" vom 22. 12. 1977, S. 9. Deutsche Lufthansa AG, Firmenarchiv, ohne Signatur. 7 Vertreten durch die Vorstandsmitglieder Bongers und Höltje. 8 Der Verkauf kam durch Vermittlung der Deutschen Commerz GmbH zustande, die seit dem 17. 2. 1953 als alleinige Vertreterin für Lockheed in der Bundesrepublik auftrat und die dem Bankier Josef Abs sowie Dr. Magener und den Eheleuten Frank-Fahle gehörte. Schlußbericht der Arbeitsgruppe „Lockheed Dokumente" vom 22. 12. 1977, S. 9. Deutsche Lufthansa AG, Firmenarchiv, ohne Signatur. 9 Im Zusammenhang mit der Anschaffung von schließlich insgesamt 12 Lockheed SuperConstellations liefen rund 4,6 Mio. DM Provisionsansprüche an den deutschen Lockheed-Repräsentanten Frank-Fahle auf, von denen aber nur 3,4 Mio. DM an ihn ausgezahlt wurden. Der Restbetrag ist nach Aussagen führender Lockheed-Mitarbeiter vermutlich an beteiligte Entscheidungsträger in Deutschland geflossen. Schlußbericht der Arbeitsgruppe „Lockheed Dokumente" vom 22. 12. 1977. Ebda. 10

„Der Luftag-Vorstand, der weiter an seiner idealen Flotte festhielt, wurde in die Enge gedrängt. Lockheed ... verfügte über eine ausgezeichnet funktionierende Lobby. Von dort schien die Initiative zu kommen, den Vorstand über den Aufsichtsrat auszumanövrieren, was auch teilweise gelang." Bongers, Hans M., Es lag in der Luft. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten Luftverkehr, Düsseldorf/Wien 1971, S. 238. 11 Projekt Scandia. Abschätzende Überlegungen zum Serienbau des Scandia Verkehrsflugzeuges. Bremen, 13. 11. 1954. Archiv DASA-Bremen, Weser Flugzeugbau, Nachlaß Feilcke.

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Zusätzlich wurden drei alte DC-3 gekauft und später, nicht zuletzt aus politischen Gründen, die englische Vickers Viscount.12 Nach 1955 setzte gleichwohl eine starkes Wachstum der deutschen Flugzeugindustrie ein, ermöglicht vor allem durch die militärischen Lizenzfertigungen. 1960 standen 14.000 Beschäftige im Westen etwa 25.000 im Osten gegenüber. Bis 1970 stieg die Zahl im Westen aber auf über 40.000.13 Die deutschen Flugzeughersteller bewarben sich auch nach der Grundausstattung der Lufthansa bei den Bonner Ministerien für Verkehrs- und Wirtschaft wiederholt um die Förderung der Entwicklung und des Baus von Verkehrsflugzeugen. Seit mit dem Durchbruch der Strahlflugzeuge im Mittel- und Langstreckenbereich die Vorherrschaft der amerikanischen Firmen in diesem Marktsegment in den späten fünfziger Jahren deutlich wurde, konzentrierten sich die deutschen Unternehmen auf zwei Nischenbereiche, in denen sie eine weltweite Führungsrolle erringen wollten, auf Kurzstreckenjets und auf Senkrechtstarter. 14 Bis 1960 waren Propellerflugzeuge nur im Mittel- und Langstreckenbereich durch Jets ersetzt worden. Die deutschen Jets sollten den Erfolg amerikanischer Strahlflugzeuge für die Kurzstrecke wiederholen. Die meisten Vorschläge wurden allerdings nicht gefördert. Die vorsichtige Förderpraxis des Staates gilt deshalb unter Luftfahrtenthusiasten als eigentliche Ursache für den ausbleibenden Erfolg. Verwiesen wird etwa auf die Ablehnung der He 211, einem zweistrahligen Kurzstreckenflugzeug für 20 Passagiere.15 Doch entscheidend für den fehlenden Erfolg war die falsche Einschätzung des Marktes für Kurzstreckenjets bzw. die fehlende Marktorientierung der deutschen Firmen. Dies belegen die beiden schließlich realisierten Vorhaben. 1968 startete die HFB 320 des Hamburger Flugzeugbaus und 1972 nach lOjähriger Entwicklungszeit die VFW 614 aus Bremen. Beide Flugzeuge enthielten höchst innovative neue Technologien; so waren bei der HFB 320 die Flügel nach vorne gepfeilt, bei der VFW 614 lagen die Düsen oberhalb und nicht unterhalb der Flügel. Doch beide Flugzeuge scheiterten schließlich am Markt. Bis in die 1980er Jahre waren Kurzstreckenflugzeuge nämlich vorwiegend mit Propeller- oder Turboproptriebwerken ausgestattet. Man könnte den Mißerfolg aber auch auf die starke zeitliche Verzögerung der Projekte zurückführen und behaupten, daß zuwenig Geld und zuwenig staatli12 Bongers, Luft, S. 284. ι 3 Andres, Christopher Magnus, Die bundesdeutsche Luft- und Raumfahrtindustrie vom Ende des 2. Weltkrieges bis zur Etablierung der europäischen Flugzeugprogramme „Tornado" und „Airbus" zu Beginn der siebziger Jahre. Ein Industriebereich im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Militär. Diss. München 1995, Anhang. 14 Projekte für senkrechtstartende Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge: ERNO 260 (später FW 260), ERNO 300 (FW 300), He 212 (später VC 400), VC 500. Projekte für senkrechtstartende Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge. Archiv DASA-Bremen, ohne Signatur. 15 Neben der Entwicklungsfinanzierung forderten die Protagonisten der He 211 auch den Ausbau und die Einbeziehung der mehr als 150 Flugplätze neben den 9 Verkehrsflughäfen. Vgl. z. B.: Köhler, Dieter, Ernst Heinkel. Pionier der Schnellflugzeuge, Koblenz 1983, S. 236.

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che Unterstützung für das Vorhaben vorhanden waren. Eine massive Verkaufsunterstützung durch die Regierung erfolgte jedenfalls nicht. Ein wichtiger Effekt der beiden Projekte aber war die Fusion von Entwicklungsgruppen. Sie war die Vorbedingung für die Subvention. So ist die VFW von Heinkel nach Bremen gekommen. Die zweite Entwicklungsnische waren zivile und militärische Senkrechtstarter. Dem Senkrechtstarter wurde in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik als universell einsetzbares, flexibles Transportgerät eine große Zukunft prophezeit. Die bundesdeutschen Flugzeugfirmen schlugen rund ein Dutzend Projekte vor, doch die staatliche Unterstützung blieb begrenzt. Nur im Verteidigungsministerium war man förderwillig. Von hier wurden einige Vorhaben bis zur Serienreife betrieben, die Kampfflugzeuge VJ 101 und VAK 191 und der Aufklärer DO 31, der auch als Transportflugzeug einsetzbar war. Keines der Flugzeuge ging allerdings in Serie. In der DDR konzentrierte sich die Flugzeugindustrie ganz auf den Bau von Verkehrsflugzeugen. Im Gegensatz zu ihren westdeutschen Pendants war die politische Führung der DDR nach 1952 nur zu bereit, die Forderungen der Flugzeugindustrie nach massiver Unterstützung ihrer ambitionierten Entwicklungsprojekte nach Kräften zu unterstützen. 16 Der Aufbau der Flugzeugindustrie ging sogar auf einen politischen Anstoß zurück. Äußerer Anlaß war die anstehende Rückkehr mehrerer hundert deutscher Flugzeugspezialisten aus der UdSSR, für die attraktive Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden sollten. Diesem ambitionierten Industrievorhaben war bereits 1952/53 ein Programm zum Aufbau einer zivilen und militärischen DDR-Flugzeugindustrie vorausgegangen, das nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 eingestellt wurde. 17 Diese Flugzeugbauer waren von der sowjetischen Militärverwaltung nach 1945 in Sonderkonstruktionsbüros in der Besatzungszone zusammengefaßt und mit Ent16

Zur Geschichte des Flugzeugbaus in der DDR: Michels, Jürgen/Werner, Jochen (Hg.), Luftfahrt Ost 1945-90. Geschichte der deutschen Luftfahrt in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Bonn 1994; Kieselbach, Andreas, Der sächsische Raum als Zentrum des DDR-Flugzeugbaus 1954/ 55 bis 1961. In: Sächsische Heimatblätter 37 (1991), S. 38-41; DDR Flugzeugbau. Aufstieg und Fall. In: Fliegerrevue Sonderausgabe 1991; Ciesla, Burghard, Über Möglichkeiten und Grenzen der DDR-Flugzeugindustrie (1954-1961). Vortrag auf dem IX. Moskauer Symposium für die Geschichte der Luft- und Raumfahrt, Ms. 1993; ders., Von der Luftkriegsrüstung zur zivilen Flugzeugproduktion. Über die Entwicklung der Luftfahrtforschung und Flugzeugproduktion in der SBZ/DDR und UdSSR 1945-54., in: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Binnenschiffahrt, des Luft- und Kraftfahrzeugverkehrs, Bergisch-Gladbach 1994, S. 179-203; Barkleit, Gerhard/Hartlepp, Heinz, Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961 (= Berichte und Studien aus dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 1), Dresden 1995; Seifert, Klaus-Dieter, Weg und Absturz der Interflug. Der Luftverkehr der DDR, Berlin 1994. 17 Werner, Jochen, Luftfahrtindustrie in der DDR (1952-61), in: Michels, J./Werner, J. (Hg), S. 73.

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wicklungsprojekten beauftragt worden. 1946 wurden diese Gruppen in die Sowjetunion gebracht. Die Flugzeugspezialisten bauten ab 1946 in Podberesje nördlich von Moskau und Uprawientscheski bei Kuibyschew an der Wolga und später in Sawjelowo nördlich von Moskau Strahlflugzeuge. Kennzeichnend für die spätere ostdeutsche Flugzeugindustrie war die große personelle Konstanz der Arbeitsgruppen, die zumeist schon vor 1945 zusammengearbeitet hatten. Bereits zwischen 1945 und 1946 wurde Brunolf Baade der wichtigste Organisator der Konstruktionsbüros der Besatzungszone. Er leitete 1946 das Dessauer Konstruktionsbüro 1, später den deutschen Flugzeugbau in der Sowjetunion und ab 1954 in Dresden. 1950 begann die gruppenweise Rückkehr der Flugzeugtechniker aus der Sowjetunion. 1953 und 1954 kamen mehrere hundert Entwicklungsingenieure in Sonderzügen mit ihren Laboratorien und Zeichnungen in die DDR. Das explizite, auch mit der Sowjetunion abgesprochene Ziel dieser Gruppe war der Aufbau eines DDR-Strahlflugzeugbaus. Bereits in der SU hatten die deutschen Spezialisten ab 1953 Vorstudien für ein vierstrahliges Verkehrsflugzeug angestellt. Von 1953-1960 wuchs die Flugzeugindustrie in den Räumen Dresden und Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) auf rund 25.000 Mitarbeiter an. Ihre wichtigste Aufgabe war die Entwicklung und der Bau eines vierstrahligen Mittelstreckenjets, der 152, sowie die Lizenzfertigung der Iljushin P-14, eines zweimotorigen Verkehrsflugzeuges, das der DC-3 recht ähnlich sah. Hinzu kamen eine Reihe weiterer Flugzeugprojekte, der 153, 153a und 155, die aber nicht gebaut wurden, sowie die Fertigung von Segelflugzeugen. Kritische Stimmen über die technische und ökonomische Realisierbarkeit der Entwicklung im Staatsapparat waren selten. Weder die Abteilung Luftfahrtindustrie der Staatlichen Plankommission, noch die ZK-Abteilung Transport- und Nachrichtenwesen, deren eigentliche Aufgabe die Kontrolle, Kommentierung und Entschleierung von Anträgen und Berichten an das ZK gewesen wäre, stellte sich gegen dieses gigantische Investitionsvorhaben. Vielmehr hatten die ostdeutschen Flugzeugtechniker die Definitionsmacht für die Bewertung der Vorhaben. Es wurde das wichtigste und teuerste industrielle Innovationsprojekt der späten fünfziger Jahre. Bis 1960 wurden über 1,6 Mrd. DM-Ost investiert. 18 Der Begriff „Technikerherrschaft" geht aber zur Charakterisierung des großen Einflußes der Flugzeugentwickler zu weit. Formal war die VVB Flugzeugbau eine nachgeordnete Dienststelle des Ministeriums. Wie können wir uns diese Unterschiede der staatlichen Subventionierung zum Aufbau der jungen Flugzeugindustrie erklären? Ein Aspekt ist die unterschiedliche Funktion von industriellen Prestigeprojekten in West- und Ostdeutschland. Die westdeutsche Ministerialbürokratie knüpfte nach 1949 weitgehend an die Tradition der vorsichtigen Sparsamkeit in der Technikförderung an, die Joachim Radkau als deutschen Stil in der Technik beschrieben hat, 19 und die auch für die mittelständische Industrie typisch war, nicht allerdings für die im „Dritten Reich" verwöhnte is SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/JIV 2/2A/805. 19 Radkau, S. 339-348.

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Flugzeugindustrie. Die staatliche ostdeutsche Technikpolitik wurde von drei recht eigenständigen Akteuren verantwortet: dem ZK der SED und ihrem Apparat, der Staatlichen Plankommission, die ebenfalls über einen Apparat verfügte, und der Ministerialbürokratie mit Ministerien, Ministerrat und seinem Präsidium. Für alle drei Säulen, am meisten aber für die Plankommission, die über keinen institutionellen Vorläufer verfügte, gab es eine Tendenz hin zu großen technischen Lösungen. 20 Während sich die westdeutschen Wirtschafts- und das Verkehrsministerium in den fünfziger Jahren mit Bedenken gegen eine massive staatliche Technologieförderung trugen, erblickten die staatlichen Instanzen in Ostdeutschland ihre Funktion gerade in der zentralen Planung und Organisation des technischen Fortschritts. Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen für die Modernisierung der Industrie waren für die Förderbereitschaft von entscheidender Bedeutung. Große Innovationsprojekte spielten eine wichtige Rolle nicht nur für die Legitimierung des sozialistischen Staates und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sondern insbesondere auch der neuen Planungs- und Entscheidungsstrukturen, nämlich der Plankommission und des Zentralkomitees. Wenn die unrealistischen Zielvorstellungen und Wünsche der technischen Leiter aus Dresden bei den Mitarbeitern von Plankommision und ZK-Abteilung in Berlin auf Skepsis stießen, wurde diese von den Vorgesetzten schnell beiseite gewischt.21 Erst zeitgleich mit dem Beschluß zur Auflösung gestand sich die Plankommission ein, den Flugzeugtechnikern zu unkritisch gegenübergetreten zu sein. 22 Der Versicherung der Realisierbarkeit eines schnellen Erfolgs wurde vorschnell geglaubt und insbesondere die Absatzchancen der produzierten Flugzeuge nicht untersucht. Erst ab 1959 sind Studien über die Absatzchancen angefertigt worden, die zu vernichtenden Ergebnissen kamen und mit einer gewissen Verzögerung dann auch konsequenterweise zum Abbruch dieses technischen Großvorhabens führten. In der Forschung herrscht inzwischen Konsens, daß dem Ende der DDRLuftfahrtindustrie keine direkte Weisung aus der SU voranging, sondern die Erkenntnis der fehlenden Absatzmärkte. 23 Ähnlich wie in Westdeutschland war die 20 Zur Planwirtschaft der DDR im Bereich des Verkehrswesens: Hecht, Jochen, Die Entwicklung der Organisationsstruktur der zentralen Organe der Verkehrswesens in der Zeit vom Mai 1945 bis November 1954. Diss. Dresden 1980; Rehbein, Elfriede/Keil, Rudi/Kirchberg, Peter/Schmädicke, Jürgen/Wehner, Heinz, Zur verkehrspolitischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1972, T.2, S. 183-

211.

21 BArchP, DE 1/14433; ebd., /8049 (Stellungnahmen der SPK zu den Planungen der Luftfahrtindustrie). 22 Ebd. /8050, Bl. 176-180. 23 Die Umstellung der militärischen Abschreckung von Fernbombern auf Raketen setzte in der UdSSR seit 1957 Kapazitäten in der Luftfahrtindustrie frei. Das zurückgehende Interesse war der DDR-Luftfahrtindustrie seit April 1959 bekannt, als eine technische Kommission unter Leitung von Cyron bei der Aeroflot war. Bericht über Besprechungen mit Aeroflot in der Zeit vom 16.-18. 4. 1959 betr. Wirtschaftlichkeitsanalysen 152 und 153. Privatarchiv Joachim Grenzdörfer, Berlin.

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Marktorientierung ganz schwach. Auch technische Details zeigten dies überdeutlich. Beispielsweise hatte die 152 Stützräder an den Flügeln, deren Spurweite zu breit für die gängigen Rollbahnen war. Erst 1959, also nach den ersten Probestarts, begann überhaupt eine Marktforschung für die 152. 24 Die Geringschätzung des Marktes in der DDR-Industrie mag als ein Reflex der Geringschätzung von Individualität gedeutet werden. Im Februar 1961 beschloß das Politbüro der SED aufgrund einer Vorlage aus der Staatlichen Plankommission den radikalen Abbruch der Entwicklung und die Auflösung der Flugzeugindustrie. Dieser Beschluß dokumentiert erneut den Willen zu großen Lösungen: eine bescheidene Lizenzfertigung oder eine Entwicklung kleiner Agrarflugzeuge, wie sie etwa in der Tschechoslowakei erfolgreich betrieben und von der DDR-Flugzeugindustrie angeregt wurde, 25 kam für die Plankommission nicht in Frage. 26 Nicht nur die technischen und ökonomischen Schwierigkeiten der Flugzeugproduktion vor 1961, sondern auch die gewaltigen Kosten der Umprofilierung einer ganzen Branche nach 1961 wurden völlig unterschätzt. Auf der anderen Seite ist der radikale Abbruch eine große Leistung, die auch die Stärke des zentralistischen Systems unter Beweis stellt, Fehlentwicklungen konsequent zu beenden. Im Westen haben ökonomisch fragwürdige Entwicklungsprojekte auf Sparflamme und mit Finanzierungen von ganz unterschiedlichen Stellen oft sehr viel länger durchgehalten, bevor sie schließlich starben. Das abrupte Ende ist auch ein Zeichen dafür, daß Sensoren für Fehlentwicklungen in der DDR-Industrie sehr schwach ausgebildet waren. „Wer Fehler rückmeldete", schreibt der ehemalige ZK-Sekretär Günter Schabowski heute, „bezweifelte die Gültigkeit der Richtlinie. Zwangsläufig führte die Fehlervermeidung zur Fehlerverleugnung." 27 Auffällig ist die Polarität der staatlichen Förderpraxis in der Bundesrepublik und in der DDR. Bis 1961 wurde die massive Förderung im Osten von der sparsamen 24

1959 begannen Hans-Joachim Pusch, Konrad Schade und Jürgen Knothe mit der Marktforschung im Westen und versuchten insbesondere, die 152 in Südamerika zu verkaufen. 25 Kurz vor dem Beschluß zum Abbruch der Luftfahrtindustrie machte der technische Leiter Brunolf Baade am 29. 10. 1960 Vorschläge zur Reduzierung des Luftfahrtindustrie und zum Bau von kleineren Flugzeugen, etwa Agrarflugzeugen. Ein ähnliches Schreiben sandte Baade am 4. 11. 1960 auch an den Chef der SPK Bruno Leuschner. BArchP, DE 1/8050, S. 176-87. Auch der ZK-Abteilungsleiter für Maschinenbau und Metallurgie, Friedrich Zeiler, der 1954 die Gespräche über die Rückführung der deutschen Spezialisten in der UdSSR geführt hatte (SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/J IV 2/202/56), wandte sich Anfang November 1960 an Walter Ulbricht, um „aus politischen und ökonomischen Gründen" die von der SPK angedachte Auflösung abzuwenden. Die Auswirkungen einer solchen Maßnahme seien von der SPK „nicht tiefgründig und zu konfliktlos herausgearbeitet." SAPMO-BArch, ZPA, NY 4182/1015, S. 95-99 u. S. 100-107. 26 Der Meinungswandel in der SPK kam eventuell auch durch den Weggang des zuständigen Abteilungsleiters Hans Cichy von der SPK zustande. Er übernahm 1960 das Amt des Hauptdirektors der Flugzeugindustrie und ließ in der SPK damit eine Lücke unter den Protagonisten des Projektes. 27 Schabowski, Günter, Abschied von der Utopie. Die DDR - das deutsche Fiasko des Marxismus, (= Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 60), Stuttgart 1994, S. 23.

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bundesdeutschen Unterstützung kontrastiert. Nach der Auflösung der ostdeutschen Luftfahrtindustrie 1961 setzte im Westen dann ein massiver Förderboom ein. Es ist offensichtlich, wenn auch im Einzelfall schwer belegbar, daß dieses antipodische Verhalten auch auf die wechselseitige Perzeption der Technikpolitik in beiden antagonistischen deutschen Staaten zurückgeführt werden kann. Der eiserne Vorhang trennte Deutschland in zwei Staaten und ermöglichte damit, ja erzwang förmlich, den permanenten Systemvergleich. Die öffentliche Verwaltung, die sich gegenseitig beobachtete und verglich, stand unter dem Druck, sich in ihrer Politik zu unterscheiden. „Das Besondere der Wirtschaftspolitik der Deutschen Demokratischen Republik", so schrieb ein ostdeutscher Ökonom 1960, „ist die Erringung der Überlegenheit über Westdeutschland". Glücklicherweise käme der Westen käme nicht umhin, „die Flugzeugindustrie als das wahre deutsche Wirtschaftswunder anzuerkennen".28 Wir kennen diesen Zwang zur Polarität auch von der parlamentarischen Demokratie, bei der die Parteien in gegensätzliche Position gedrängt werden. Der doppelte Seitenwechsel von 1961 in der Förderung der Flugzeugbaus ist nur ein besonders schönes Beispiel für den Zwang zur Polarität der Technikpolitik beider Systeme. Wir werden weiter unten weitere Beispiele finden. Im Westen stiegen also in den 1960er Jahren die Subventionen der Flugzeugindustrie sprunghaft an, wurden aber an die Kooperation und Fusion von Unternehmen gebunden. Deshalb gründeten die Firmen trotz alter Ressentiments und starker Konkurrenz zwei Gemeinschaftsunternehmen, die Entwicklungsringe Nord und Süd. 1968 kam es zum Messerschmitt-Bölkow-Blohm Konzern, der in den 1990er Jahren als Deutsche Aerospace (DASA) und Tochter des Daimler-Benz-Konzerns die Motoren- und Turbinenunion (MTU), Dornier und schließlich auch Fokker übernahm und damit heute weit über 90% der deutschen Flugzeugindustrie repräsentiert. Es ist ganz offensichtlich, daß die staatlichen Auflagen diesen Fusionsprozeß erzwungen bzw. möglich gemacht haben. Auf industrieller Seite gab es dagegen, von wenigen Ausnahmen wie Ludwig Bölkow abgesehen, Widerstände. Bis heute ist meinem Eindruck nach die Standort-, Projekt- und traditionelle Firmenidentität bei den Mitarbeitern der DASA ausgeprägter als die DASA-Identität. Resümierend läßt sich festhalten, daß die westdeutschen Flugzeugbauer mit ihren Wünschen nach staatlicher Unterstützung des Baus von zivilen Flugzeugen bis in die 1960er Jahre weitgehend scheiterten. Der westdeutsche Staat kam deshalb in den 1950er und 1960er Jahren anteilsmäßig mit weniger verlorenem Zuschuß aus als etwa Frankreich, England und die DDR. Dies änderte sich erst seit Mitte der 1960er Jahre, als gemeinsame europäische Vorhaben entwickelt wurden, die schließlich zum Airbus-Programm führten. 28 Kindscher, Rolf, Entwicklungstendenzen im Luftverkehr. Eine politisch-ökonomische Betrachtung, Berlin 1960, S. 114 u. S. 117. Zwischen 1957 und 1960 finden wir auch häufige Hinweise auf die Überlegenheit der ostdeutschen Lufthansa gegenüber der westdeutschen, ζ. B.: Der Luftverkehr in Westdeutschland, in: Fliegerjahrbuch 1958. Eine internationale Umschau des Luftverkehrs, Berlin 1959, S. 43-46; Die westdeutsche Luftfahrtindustrie im Dienste der Wiederaufrüstung, in: Fliegerjahrbuch 1959, Berlin 1960, S. 55-63.

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Vergleichen wir die beiden Flugzeugindustrien und die Vorhaben ihrer leitenden Mitarbieter, zeigen sich eher vergleichbare Seiten. In beiden Lagern gaben führende Entwicklungsingenieure der Vorkriegsflugzeugindustrie den Ton an. Die Firmen wurden von Ingenieuren und nicht von Kaufleuten geleitet. In beiden Ländern waren die Zahl der Neuentwicklungen und das Vertrauen in die eigene technische Leistungsfähigkeit groß, der Konstruktionsstil mit häufigen Änderungen und einer Tendenz zu ungewöhnlichen Lösungen ähnlich und die Marktorientierung und die Verkaufserfolge klein. Ohne die militärische Lizenzfertigung wäre auch die westdeutsche Flugzeugindustrie zum Scheitern verurteilt gewesen. Im zivilen Bereich hat erst die Kooperation im Airbus-Programm vor allem mit den französischen Flugzeugherstellern zu größeren Verkaufserfolgen geführt. Der Verkaufserfolg des Airbus-Programms geht vor allem auf die Franzosen zurück. In beiden deutschen Staaten gab es offensichtlich keine erfolgreichen Flugzeugverkäufer. Dieses Geschäft benötigte neben diplomatischem Geschick auch politische Unterstützung und finanziellen Einsatz (Provisionen in Millionenhöhe), die den west- und ostdeutschen Flugzeugverkäufern nicht zu Gebote standen.29

C. Der Aufbau von Fluggesellschaften 1954/55 gründeten beide deutsche Staaten nationale Fluggesellschaften unter fast gleichem Namen: die Deutsche Lufthansa AG im Westen und die Deutsche Lufthansa im Osten. Bereits seit 1945 hatten in allen Besatzungszonen Mitarbeiter der alten Lufthansa mit Überlegungen zum Wiederaufbau eines deutschen Luftverkehrs begonnen. Die deutschen Verwaltungen beschäftigten sich spätestens seit 1949 mit Fragen der Wiedergründung. Im Westen sammelten sich in Berlin, in München und in Norddeutschland leitende Mitarbeiter der Lufthansa mit dem Versuch einer Wiedergründung. Am aktivsten war dabei der spätere Lufthansavorstand Hans Bongers, der - allerdings vergeblich - den amerikanischen Militärbehörden in München und später der Britischen Militärverwaltung in Hannover den Aufbau einer deutschen Bodenorganisation für den Flugverkehr anbot. Bongers baute gleichzeitig ein Netzwerk von alten Lufthanseaten auf und bereitete damit eine Wiedergründung vor. Nicht zuletzt durch dieses Netzwerk setzte sich Bongers nach 1949, als die Bundesregierung Vorüberlegungen für eine nationale Fluggesellschaft anstellte, als entscheidender Berater durch.

29 Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es allerdings mit Junkers einen weltweit sehr erfolgreichen Flugzeugbauer. Die Verkaufs- und Marketingorganisation von Junkers ist aber weder im Westen noch im Osten von den Nachkriegsunternehmen reaktiviert worden. Für Hinweise zum Verkaufsstil in Deutschland und Frankreich danke ich Herrn Wolfgang Wagner aus Köln.

Flugzeugproduktion und innerdeutscher Flugverkehr

353

Die deutsche Selbstverwaltung in Frankfurt und auch die spätere Bundesregierung in Bonn verhielten sich gegenüber den an sie herangetragenen Vorschlägen zur Gründung einer Fluggesellschaft allerdings recht abwartend. Das zuständige Referat (ab 1951 Abteilung) beim Bundesverkehrsministerium hatte im Hause eine schwache Stellung. Mehr Interesse gab es bei einigen Ländern, vor allem in Nordrhein-Westfalen mit seinem rührigen Staatssekretär Leo Brandt. Große Aktivität zeigten dagegen die Kommunen und Länder beim Wiederaufbau von Flughäfen. In der amerikanischen Zone Schloß OMGUS mit den Flughafenstädten Ausbauverträge, in der britischen Zone wurde der Ausbau auf Besatzungskosten vorgenommen. 30 Viele Flughäfen arbeiteten bereits kurz nach Kriegsende wieder und gründeten 1947 eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Verkehrsflughäfen (ADV, ab 1950 als e.V.). Als erste nationale Organisation mit potenten Mitgliedern wurde die ADV der einflußreichste Verband der zivilen Luftfahrt in Deutschland. Sein Geschäftsführer Hans Knipfer übernahm 1951 konsequenterweise die neue Abteilung Luftfahrt im Verkehrsministerium, und für mehrere Jahrzehnte blieben die Verbindungen zwischen Ministerium und Verband eng. Zurück zu den Fluggesellschaften. Hans Bongers hatte im Mai 1951 vom Bundesverkehrsminister einen offiziellen Auftrag erhalten, ihn in „Fragen eines zukünftigen Luftverkehrs zu beraten". 31 Zusätzlich wurde ein Vorbereitungsausschuß für Luftverkehr gegründet, dem acht Vertreter von Bund, Ländern und Wirtschaft angehörten. Vorsitzender war Kurt Weigelt, der bereits im Aufsichtsrat der alten Lufthansa gewesen war und später dem neuen Aufsichtsrat Vorsitzen sollte. Der Ausschuß bereitete die Gründung einer Fluggesellschaft vor. Am 6. Januar 1953 wurde die Luftag als Aktiengesellschaft gegründet, die sich Anfang August 1954 in Deutsche Lufthansa AG umbenannte. Die Aktien lagen zu über 80% beim Bund. Mit der Berufung des früheren Verkehrsleiters der alten Lufthansa und Ökonomen Hans Bongers und der Gründung der Fluglinie als Aktiengesellschaft zeigte der Bund sein Interesse an einer sparsamen Neugründung. 32 Die politische Führung ordnete die Wiedererrichtung einer deutschen Fluggesellschaft aber den politischen Zielen der Westintegration völlig unter. So unternahm die Bundespolitik nichts, was bei den westlichen Partnern als Affront gegen das Besatzungsstatut gedeutet werden konnte.

30

Β Arch, Β 108/1897 (Referat über Luftverkehr auf der Verkehrsministerkonferenz am 18. 11. 1949). 31 Die Zeit im Fluge. Geschichte der Deutschen Lufthansa 1926-1990, Köln 1990, S. 66; Reul, Georg, Planung und Gründung der Deutschen Lufthansa AG 1949 bis 1955. Köln 1995. 23 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Aufwand und Erträge der Deutschen Lufthansa in Mio. DM 3 3 1955

1956

1957

1958

1959

1960

1965

1970

1975

1980

Aufwand

44

101

156

213

273

394

897

2020

3727

6398

Ertrag

24

81

129

178

231

352

940

2033

3760

6404

In den folgenden Jahren wurde die Lufthansa für den Staat zwar etwas teurer als von Bongers kalkuliert, weil die teuren viermotorigen Maschinen für die internationalen Flüge nach kurzer Betriebszeit gegen Jets ausgetauscht und abgeschrieben werden mußten. Da 1955 das Jet-Zeitalter bereits absehbar war - schon seit 1952 flog die wenig erfolgreiche Comet - wäre auch die noch bescheidenere und ökonomischere Lösung denkbar gewesen, für die ersten Jahre nur einen nationalen und kontinentalen Dienst aufzubauen und mit den Fernstrecken bis zur Marktreife der Jets zu warten. Doch ein Verzicht auf die Transatlantikstrecke schien der Leitung der Lufthansa und dem Ministerium 1955 aus Prestigegründen nicht möglich. 34 Von diesem teuren Lockheed-Zwischenspiel abgesehen, war die Lufthansa aber keine große ökonomische Belastung. 1963 flog sie erstmals Gewinne ein. Bei der Auswahl des fliegenden Materials ließ das Ministerium der Lufthansa, soweit die Quellenlage dies erkennen läßt, mehr Entscheidungsfreiheit, als dies bei anderen nationalen Fluggesellschaften etwa in Frankreich und Großbritannien der Fall war. Die Quellenlage zu Entscheidungen über Flugzeugbeschaffungen ist allerdings sehr problematisch. 35 Vermutlich gab es eine Vorgabe über den mittelfristigen britisch-amerikanischen Proporz bei der Bestellung. Auf jeden Fall kam es zu einer recht heterogenen Flotte, was von Hans Bongers, dem Vorstandsvorsitzenden der Lufthansa, auch vorsichtig gerügt wurde. 36 In den 1970er Jahren versuchten die Ministerialvertreter die Beschaffungspolitik der Lufthansa allerdings im Sinne des Airbus-Programms zu beeinflussen. Die Beteiligung an der Lufthansa ist gerade in den 1970er und 1980er Jahren mit diesem Argument begründet worden. In der DDR spielte die nationale Fluglinie in der staatlichen Planung und Selbstdarstellung zwischen 1954 und bis 1961 eine größere politische Rolle als im Westen. Seit Februar 1950 gab es ein Referat Messeflugverkehr im Verkehrsministeri32

Zum ökonomischen Zugriff von Bongers vgl. Bongers, Hans M., Deutscher Luftverkehr. Entwicklung, Politik, Wirtschaft, Organisation. Versuch einer Analyse der Lufthansa, Bad Godesberg 1967. 33 Deutsche Lufthansa AG (Hg.), Weltluftverkehr. Lufthansa und Konkurrenz, Köln 1994, S. 21. 34 Die Lufthansa orderte bereits etwas später als andere Gesellschaften. Bongers, Luft, S. 274 u. 295. 35 Die Korrespondenzen zur Flugzeugbeschaffung sind im Lufthansa-Archiv für die Benutzung weitgehend gesperrt. 36 Braunburg, Rudolf, Die Geschichte der Lufthansa. Vom Doppeldecker zum Airbus, Hamburg 1991, S. 188.

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355

um, 37 das 1954 zu einer Abteilung aufgewertet wurde. 38 Das Ministerium gab dabei in seinen internen Planungen unumwunden zu, es handele sich „in erster Linie um eine Prestigefrage". 39 Zu einer seit 1954 formal wieder souveränen DDR gehörte aus Sicht des Ministeriums ein funktionierender Luftverkehr. Im Mai 1955 beschloß der Ministerrat der DDR die Gründung der Deutschen Lufthansa. 40 Im September 1958 folgte die Interflug als Chartergesellschaft. Diese Gründung war wegen des Rechtstreites mit der westdeutschen Lufthansa um Namen und das Markenzeichen des Kranichs notwendig geworden, denn der ostdeutschen Lufthansa drohte die Verweigerung der Landeerlaubnis auf vielen Flughäfen. Vier Jahre später wurden beide ostdeutsche Gesellschaften unter dem Namen Interflug zusammengelegt. Zahl der Mitarbeiter von Lufthansa (LH) und Interflug (IF) 4 1 1955

1960

1965

1970

1975

1980

1985

1990

LH

2.040

9.564

14.990

21.984

25.340

30.664

34.905

47.619

IF

450

1.916

2.742

3.620

5.826

6.976

7.437

7.666

Bis 1961 profitierte die ostdeutsche Fluggesellschaft von der Bedeutung der Flugzeugindustrie. Sie war in ihrem Schlepptau, befand sich aber auch in ihrem Windschatten. Die Unabhängigkeit der westdeutschen Lufthansa gab es nicht. Die beiden ersten Direktoren der ostdeutschen Lufthansa/Interflug waren eher Kulturpolitiker und Ideologen, die ein öffentlichkeitswirksames Paradepferd vorführen sollten. Der erste Hauptdirektor ab 1955 war Arthur Pieck, der als Sohn von Wilhelm Pieck über beste Beziehungen zum ZK verfügte. 42 Pieck war ein kulturinteressierter, harmoniebedürftiger Mensch - in der Sowjetunion hatte er ein Theater geleitet - mit diplomatischem, ausgleichendem Wesen. Von der zivilen Luftfahrt verstand er auch nach eigener Einschätzung nicht viel, sondern strebte nach einer harmonischen Verwirklichung der ZK-Beschlüsse. Piecks Nachfolger war einer 37

Bzw. nach dessen Auflösung 1953 im Staatssekretariat Kraftfahrwesen. » Archiv BMV-Ost Ml/1244. 39 Ebd./3631. 3

40 Neumann, Petra, Erarbeitung einer sachlich chronologischen Darstellung über die Entwicklung der zivilen Luftfahrt in der DDR im Zeitraum von 1955-1965 anhand der Quellen des Verwaltungsarchives der INTERFLUG, Ms. Potsdam 1978. 41 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.), Statistisches Jahrbuch des Transportwesens. 1970. Archiv BMV-Ost, M2/15.000; Deutsche Lufthansa AG (Hg.), Weltluftverkehr. Lufthansa und Konkurrenz, Köln 1994, S. 24; Statistisches Jahrbuch der DDR; ab 1975 schließen die Interflug-Werte alle Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt ein. 42 Zudem wohnte der Referatsleiter Luftverkehr der ZK Abteilung Verkehrswesen (später Transport- und Nachrichtenwesen), Herr Werl, im Hause Arthur Piecks. Information von Dr. Joachim Grenzdörfer.

23*

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seiner Mitarbeiter, ebenfalls kein Techniker, sondern Direktor für Kultur und Arbeit bei der Interflug, Karl Heiland. Die Routenplanung für die Fluggesellschaft der DDR erfolgte deshalb nach politischen Gesichtspunkten. Wichtig war in erster Linie die Dokumentation der bilateralen Freundschaft und internationalen Anerkennung der DDR und zweitens die Dokumentation des eigenen Fortschritts in der zivilen Luftfahrt. 42a So gab es recht früh Linien nach Hanoi und Kuba. Als Schaufenster zum Westen spielten die Flüge zur Leipziger Messe eine unverhältnismäßig wichtige Rolle in der Planung der Interflug. Der Abbruch der Flugzeugproduktion erschütterte auch die ostdeutsche Lufthansa/Interflug. Die politische Bedeutung der Luftfahrt ging nun stark zurück. Nur kurze Zeit später setzte ab 1963 das Neue Ökonomische System neue Zeichen. Man könnte sogar noch weitergehen und fragen, ob das Scheitern der Flugzeugindustrie den gesamten Schnellverkehr behinderte. Es ist jedenfalls ein ungelöstes Problem, warum die DDR trotz ideologischer Präferenz für den Massenverkehr in den 1960er Jahren dem Städteschnellverkehr keine Priorität bei den Investitionsmitteln einräumte. Zwar wurde der Städteschnellverkehr, vergleichbar dem westdeutschen Intercity, eingefühlt, blieb aber bis auf wenige Strecken rhetorische Makulatur. Magnetschwebebahnprojekte etc. wurden nur auf Sparflamme weiterbetrieben. Auf der anderen Seite sicherte sich die Interflug in den folgenden Jahren ein Aufgabenspektrum und eine Machtfülle, von der ihre westdeutsche Schwester nur träumen konnte. 1965 wird die staatliche Flughafenverwaltung in die Interflug eingegliedert. Der Ökonom Kurt Diederichs, ab Februar 1970 Nachfolger von Karl Heiland, versuchte zwar noch einmal, die Interflug zu dezentralisieren, die Flughäfen und den Agrarflug auszugliedern, stieß aber bei dem Leiter der Hauptabteilung Zivile Luftfahrt des Verkehrsministeriums, Klaus Henkes, einem überzeugten Zentralisten, auf energischen Widerspruch. Henkes entmachtete Diederichs und wurde daraufhin selbst Generaldirektor. Kurzfristig wurde Diederichs zwar Henkes Nachfolger als Leiter der Hauptabteilung Zivile Luftfahrt im Ministerium, doch nach dessen Pensionierung übernahm Henkes beide Positionen. Wenig später übernahm er auch die Leitung der Prüfstelle für Luftfahrtgerät und vereinigte damit alle relevanten Positionen in der zivilen Luftfahrt, die sich eigentlich kontrollieren sollten, auf seine Person. Innerbetrieblich reorganisierte Henkes, der bei der NVA den Rang eines Generalleutnants bekleidete, die Interflug militärisch und baute einen Führungsstab und später einen Operativstab auf. In den letzten zehn Jahren war die Machtvollkommenheit der Interflugleitung damit wesentlich größer als bei der westdeutschen Lufthansa. 43 Das Aushebeln der gegenseitigen Kontrolle von Betrieben und Behörden durch Ämterhäufung funktionierte in der DDR durch die Dreisäulenherrschaft von Ministerialbürokratie, Parteibürokratie und Staatlicher Plankommission. Dieses Neben42a Ehmer, Hansjochen, Der zivile Luftverkehr der DDR. Berlin 1983, S. 83. « Seifert, S. 97.

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einander dreier Exekutiven begünstigte die Lösung von Machtfragen auf personaler Basis und damit die Entstehung unkontrollierter Herrschaftsbereiche. Fest steht, daß im Westen die unternehmerischen Aktivitäten zur Gründung einer Fluggesellschaft zwar früher begannen als im Osten, daß die staatliche Unterstützung ab 1953 im Osten aber relativ größer war. Im Westen war die Lufthansa in den 1950er Jahren dagegen auf eine sparsame Politik festgelegt worden. Seit 1963 schrieb sie erstmals schwarze Zahlen. Ihr kontinuierlicher Aufstieg hängt vor allem mit ihrem Markterfolg zusammen. Im Osten begannen mit dem Ende der Flugzeugindustrie 1961 sparsame Jahre. Auch die Luftfahrt rückte aus dem Zentrum der politischen Aufmerksamkeit heraus und ging stark zurück. In den 1970er und 1980er Jahren konnte sich die Interflug allerdings eine unabhängige Nischenposition im System ausbauen. Durch die Zusammenführung von Betriebsführung, technischer und politischer Kontrolle in Form der Ämterhäufung des Generaldirektors Henkes war die Interflug praktisch von außen nicht mehr kontrollierbar.

D. Innerdeutscher Flugverkehr bis 1980 Wegen der geographischen Kleinräumigkeit konkurrierte der innerdeutsche Flugverkehr in beiden Ländern mit anderen Fernverkehrssystemen. Sein Auf- und Ausbau mußten politisch gewollt und gestützt werden. Die Unterschiede zwischen dem west- und ostdeutschen Inlandsluftverkehr erklären sich zum Teil aus den bereits geschilderten verschiedenen Funktionen und Rahmenbedingungen der Flugzeugindustrie und der nationalen Fluggesellschaften. Im Osten konnte der Inlandsflugverkehr gegenüber den anderen Verkehrssystemen drei wichtige Vorzüge ins Feld führen: er war das modernste Verkehrsmittel sein Ausbau belegte damit eindrucksvoll die Modernität des hinter ihm stehenden Systems - und er war ein öffentliches Massenverkehrssystem. Drittens bot er einen Markt für die Produkte der Flugzeugindustrie. Aus diesen Gründen hatte der Inlandsflugverkehr bis 1961 hohe Priorität. Etwas über ein Jahr nach der Gründung der eigenen Fluggesellschaften begann im Frühjahr 1956 der Sonderflugverkehr zur Leipziger Messe in eigener Regie, im April 1957 der Rundflugverkehr in Berlin und Leipzig und im Juni 1957 der Inlandslinienflugverkehr zwischen Berlin, Barth, Dresden, Erfurt und Leipzig. Im Frühjahr 1958 folgte der Flughafen Karl-Marx-Stadt, von dem aus Linien nicht nur nach Berlin sondern auch in die benachbarten Städte Erfurt (180 km), Leipzig (100 km) und Dresden (75 km) angeboten wurden. Die durchschnittliche Länge aller Verbindungen betrug im Mittel nur rund 200 km. Es handelte sich also in der Terminologie der Verkehrswissenschaftler um Ultrakurzstreckenverkehr. Das innerostdeutsche Luftverkehrsnetz war in den 1960er Jahren vergleichsweise eng und machte 1965 39% des gesamten DDR-Luftverkehrs aus. Seither sank der Anteil. 1977 waren es nur noch 7%. 4 4

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Neben den oben geschilderten Vorteilen hatte der innerostdeutsche Luftverkehr aber einen großen Nachteil. Es gelang ihm kaum, für den reisenden Passagier eine Zeitersparnis gegenüber den konkurrierenden Verkehrssystemen Autobahn und Reichsbahn zu erreichen. Die Zeitersparnis aber war der wichtigste Reisegrund für dienstlich reisende Passagiere. Diese Schwäche hing nicht nur mit der kleinräumigen Geographie der DDR und der Mittelpunktslage ihrer Hauptstadt zusammen, sondern auch mit der Flugstreckenführung, die auf drei alliierte Luftstraßen nach Berlin Rücksicht zu nehmen hatte, die von den DDR-Flugzeugen unterflogen werden mußten. Deshalb war das Inlandsflugnetz im Vergleich zum analogen Eisenbahnstreckennetz wesentlich länger. 45 Außerdem war die Flughöhe im innerostdeutschen Luftverkehr auf 3000 m begrenzt und damit auf Propellerflugzeuge festgelegt. Zudem waren die Flugpläne weder auf die Dienstzeiten und Aufgaben von Geschäftsreisenden abgestimmt, noch mit den Fahrplänen der Reichsbahn koordiniert. Ein weiterer Grund war die Pünktlichkeit. Durchschnittlich fielen 10% der Rüge ersatzlos aus. Die anderen Flüge hatten im Durchschnitt eine halbe Stunde Verspätung. Eine deutliche Zeitersparnis gab es nur auf den Rügen zu den beiden Ostseeflughäfen Heringsdorf und Barth, die nahezu ausschließlich von Sommerurlaubern angeflogen wurden. Wegen der fehlenden Zeitersparnis blieb trotz der relativ niedrigen Rugpreise auch der Auslastungsgrad unbefriedigend. 46 1963 kam eine ostdeutsche Dissertation zu dem eindeutigen Schluß, daß es keine ökonomische Begründung für den innerostdeutschen Luftverkehr gebe,47 sondern daß bei der Entscheidung für das Flugzeug zumeist „ausschließlich außerwirtschaftliche Motive bestimmend sind." 48 Seine Existenz könne nur politisch begründet werden. Im Inlandsflugverkehr war diese Disparität von Geschäftsreiseanspruch und Erlebnisrealität besonders eklatant. Eine so harte Analyse war nur vor dem Hintergrund der aufgelösten Rugzeugindustrie denkbar. Sie hatte auch dem Inlandsflugverkehr einen Schlag versetzt, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Bereits 1962 war der Flugverkehr nach Karl-Marx-Stadt wieder eingestellt worden. Die Erweiterung und Wiedereröffnung des Rughafens standen in den folgenden 20 Jahren zwar in vielen Plänen, wurde aber nicht realisiert. 49 In den Vorarbeiten für den Perspektivplan gestand die 44 1958 wurde für den Inlandsverkehr im Jahr 1965 ein Anteil von 22,2 % an den Pkm prognostiziert. Schimkat, G., Bedarfsforschung für den Flugzeugbau der DDR. Forschungsbericht VF 1019/8 und 0506/8, S. 41. Privatarchiv Dr. Joachim Grenzdörfer, Berlin; Gutachten zur Zukunft des Verkehrswesens der DDR vom ZFfV 1978. Archiv BMV-Ost, M 2/8998, S. 43. 45

Grenzdörfer, Joachim, Analyse zur Stellung des Luftverkehrs im einheitlichen sozialistischen Transportwesen der Deutschen Demokratischen Republik (1961/62), Diss. Dresden 1964, S. 162. 46 Die Flugpreise in den fünfziger Jahren orientierten sich an den Vorkriegstarifen der Lufthansa, die mit 2 multipliziert wurden. Archiv BMV-Ost, M 2/5915. 47 Grenzdörfer, S. 164. 4

« Ebda.

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Hauptverwaltung für zivile Luftfahrt des MfV am 7. 1. 1963 unumwunden zu: „Die in den ursprünglichen Perspektivvorstellungen (wie im Siebenjahrplan vorgesehen) ungewöhnlich starke Entwicklung des Inlandsflugverkehrs hat sich durch die inzwischen erfolgte Aufgabenteilung der sozialistischen Verkehrsträger als nicht richtig erwiesen." 50 In Zukunft habe sich der Verkehr auf „einen reibungslosen Bäder- und Messeverkehr (zu) konzentrieren." Die Investitionsmittel für den Flughafenausbau wurden ab 1963 bis 1970 fast völlig gestrichen. 51 Das Ministerium für Verkehrswesen und die Interflug gingen in ihren Prognosen bis in die 1970er Jahre zwar von einem wachsenden Inlandsluftverkehr aus,52 doch die tatsächlichen Planungen liefen in die entgegengesetzte Richtung.53 Im Mai 1970 fiel die Verbindung Dresden-Erfurt weg und mit Einführung des Städteschnellverkehrs der Reichsbahn die Verbindungen Berlin-Dresden und Berlin-Leipzig. So waren ab 1974 bis auf die Strecke Erfurt-Berlin nur noch die Bäderflüge existent. Mit der Außerdienststellung der Flugzeuge AN 24 mußte auch der Ostseeflughafen Barth geschlossen werden, denn er war für die größeren Maschinen zu klein. Der lange geplante Bau des Flughafens Rostock wurde nicht durchgeführt. In den letzten fünf Jahren von 1975 bis 1980 gab es also neben der Erfurt-Berliner Strecke nur noch Bäderflüge nach Heringsdorf. Die unklare politische Zielsetzung kommt in einer Studie des Zentralen Forschungsinstituts für Verkehrswesen der DDR zum Ausdruck, die 1978 resümierte: „Der Inlandsflugverkehr wird infolge der konkreten Situation nicht weiter ausgebaut. In Abhängigkeit von der Substitutionsmöglichkeit der Inlandsflugleistungen durch andere Verkehrsmittel wird sich die Notwendigkeit der Weiterführung des Inlandsflugverkehrs erweisen." 54 Aus welchen Gründen benutzten Passagiere in der DDR überhaupt das Flugzeug? Für die Mitarbeiter der Interflug war es schlicht die preiswerteste Möglichkeit, privat zu reisen. Nach einer gewissen Zeit hatte jeder Mitarbeiter das Recht auf 4 Inlands- und 4 Auslandsflüge pro Jahr! Für die politische Nomenklatura bot das Flugzeug manche Annehmlichkeiten gegenüber einer Bahnreise. Nur 6% der innerostdeutschen Fluggäste nutzten 1963 den Rug als Zubringer zum internatio49 Eine Studie des Bereichsleiters Verkehr der Interflug vom 10. 7. 1967 prognostizierte die Inbetriebnahme des Flughafens Rostock für 1975, des Flughafens Karl-Marx-Stadt für 1980. Archiv Interflug A 160, S. 4. so Ebd. III/84/3.

51 Ebd. 111/87/1. 52 So ζ. B. in: Prognose des MfV vom 11.7. 1967: Steigerung des Inlandsflugverkehrs bis 1980 auf 1,1 bis 1,4 Mio. Passagiere, Archiv Interflug, A 160, S. 5; ebd. A 590, Abb. 1; Ministerrat der DDR, MfV (Hg): Verkehrszweigprognose der zivilen Luftfahrt für den Zeitraum 1970-1980, Berlin 1968, SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/JIV/A2/605/119, Anlage 8. 53 Die Prognosegruppe Interflug formulierte in ihrer „Strategischen Konzeption zur Luftfahrt der DDR" schon am 18. 2. 1971, die Beibehaltung des Inlandsflugverkehrs nur bis 1980. Danach sollten im Inlandsflug Senkrechtstarter einen Ergänzungsluftverkehr zu den internationalen Linien anbieten. Archiv Interflug ΠΙ/39, S. 2. 54 Gutachten zur Zukunft des Verkehrswesens der DDR vom ZFfV 1978. Archiv BMVOst, M 2/8998, S. 43.

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nalen Flugverkehr. Die Mehrheit der zahlenden Passagiere flog in der DDR nicht, um Zeit zu sparen, sondern um einmal geflogen zu sein. Im Sommer 1963 gaben 62,8 % der Passagiere in einer Befragung an, auf Urlaubsreise zu sein. Im Winter war die Auslastung deshalb notorisch schlecht. Obwohl vorausschauend bereits so viele Flugzeuge für den Winter eingemottet wurden, daß der Ausnutzungsgrad der II 14 im Jahresdurchschnitt 1960 auf unter 2 Stunden pro Kalendertag sank, stieg der Sitzladefaktor selten über 50%. 55 Gut ausgelastet waren nur die Sommerflüge zu den Ostseebädern.56 Konsequenterweise wurde der innerostdeutsche Flugverkehr 1980 komplett eingestellt. Schon seit den späten 1960er Jahren wurde der Tourismus die wichtigste Aufgabe der DDR-Luftfahrt. 57 Der Beförderungsbedarf durch die Interflug war nun „maßgeblich durch die Anforderungen des Auslandstourismus gepägt." Doch der Anteil der Flugreisen an den Urlaubsreisen blieb im Osten wesentlich niedriger als im Westen. In der notorisch schlecht ausgelasteten Wintersaison waren zwar 75 Prozent der Fluggäste laut Befragung im Rahmen einer Dienst- oder Geschäftsreise unterwegs. Doch die Mehrheit dieser Passagiere benutzte das Flugzeug in der ganzen Wintersaison nur ein einziges Mal. Dies läßt den Schluß zu, daß es sich auch bei diesen Passagieren um „Erlebnisflieger" handelte. Die relativ niedrigen Flugtarife der ostdeutschen Lufthansa/Interflug machten Urlaubsflüge möglich. Da dieser Sachverhalt seit 1963 bekannt war, kann man den innerostdeutschen Flugverkehr durchaus als einen frühen Versuch der DDR-Führung interpretieren, auf dem Konsum- und Freizeitsektor für die Bevölkerung etwas zu tun, nämlich ein modernes Massenverkehrsmittel anzubieten. Neben der schlechten Auslastung und den niedrigen Tarifen gab es noch einen dritten Grund für die großen Verluste des Inlandsflugverkehrs. Die ostdeutsche Fluggesellschaft hatte für die kurzen Distanzen keine geeigneten Flugzeuge zur Verfügung. Die vor allem eingesetzte IL-14 hatte ihr ökonomisches Optimum bei einer Distanz von 900 km, die AN 24 bei 550 km und die später verwendete TU 134 sogar bei 1100 km. In den offiziellen Verlautbarungen machte die Interflug freilich Gewinn. Die Rentabilität der Interflug war eine ganz künstliche Größe. Von ihr hingen aber die Prämien der Mitarbeiter ab. Zwar mußte der rechnerisch erwirtschaftete Gewinn abgeführt werden, doch er war die Bemessungsgrundlage für die Prämienausschüttungen und insofern eine brisante lohnrelevante Größe.

55

Die durchschnittliche Auslastung der Inlandsflüge im Jahr 1963 betrug 33,2%. Ebd./

5072. 56

Im Sommer stieg die durchschnittliche Auslastung auf über 65%, auf einzelnen Strekken, etwa Leipzig-Barth sogar auf über 85%. Analyse der volkswirtschaftlichen Effektivität des Inlandsfluggastverkehrs der Interflug und dessen mögliche Weiterentwicklung bis 1980, S. 7. Archiv Interflug III/27. 57 Zum DDR-Flugtourismus: Auswitz, Gerhard, Die Auswirkungen des passiven Auslandstourismus der DDR auf den Luftverkehr, in: Technisch-ökonomische Informationen der zivilen Luftfahrt 4 (1967), S. 3-9.

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Fragen wir uns nun, warum die DDR-Führung überhaupt den Inlandsflugverkehr bis Anfang der 1980er Jahre subventionierte. Eine Erklärung wäre der Verweis auf das Vorbild der Sowjetunion, die in den 1960er Jahren den inner sowjetischen Flugverkehr zu einem Massenverkehrsmittel ausbaute. Die DDR folgte hier der Sowjetunion unter Vernachlässigung der unterschiedlichen Größenverhältnisse. In der Sowjetunion machte der Flugverkehr in vieler Hinsicht Sinn: er bot tatsächlich einen enormen Zeitgewinn, er integrierte den Vielvölkerstaat und ermöglichte eine horizontale Mobilität. Die Kosten für den innersowjetischen Luftverkehr waren gewaltig. Genaue Zahlen stehen allerdings nicht zur Verfügung. Wie der Inlandsverkehr der Sowjetunion läßt sich auch der innerostdeutsche Luftverkehr als ein bewußt gesetztes Zeichen für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs verstehen. Wir müssen berücksichtigen, daß sich das ostdeutsche Verkehrsministerium in einer argumentativen Zwangsposition gegen den individuellen Verkehr mit privaten Verkehrsmitteln und für den Ausbau der Massenverkehrsmittel befand. Eines der berühmtesten Projekte zur Untermauerung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrs und exemplarischen Verwirklichung der sozialistischen Überflußgesellschaft in der Sowjetunion war der Bau der Moskauer U-Bahn seit den 1930er Jahren. In der DDR wurde seit den frühen fünfziger Jahren das Angebot von Leihwagen und Taxis ausgebaut und vor allem in der Presse entsprechend herausgestellt.58 In den fünfziger und frühen sechziger Jahren plante die ostdeutsche Lufthansa sogar das Angebot von Lufttaxis. Auf den 32 Flugplätzen der Gesellschaft für Sport und Technik sollten je 2 Lufttaxis stehen.59 1958 kaufte die Lufthansa tschechische Propellerflugzeuge vom Typ Super-Aero 45 für diesen Zweck. 60 Doch der tatsächliche Einsatz als Lufttaxi ließ sich mit diesen wenigen Maschinen ebenso wenig realisieren wie der Aufbau eines Leih wagennetzes. Das Lufttaxi blieb Fiktion und die Bevölkerung konnte die Super-Aero 45 nur für feste Rundflüge nutzen. Den großen Anteil der Erlebnisflieger suchten die DDR-Fluggesellschaften zu verheimlichen. Denn der Freizeit- und Urlaubsverkehr hatte um 1960 noch keine politische Bedeutung, obwohl er bereits über 50% des gesamten Personenverkehrs ausmachte.61 Deshalb argumentierte die Fluggesellschaft in den 1950er Jahren in erster Linie mit dem Geschäftsverkehr und verwahrte sich sogar 1958 ausdrücklich gegen eine zu starke Inanspruchnahme der Deutschen Lufthansa für den Touristenverkehr. 62 Eine Ausnahme machte die im September 1958 gegründete Interflug. 58 Archiv BMV-Ost, M 2/9864. 59 In einer Kostenberechnung der ostdeutschen Lufthansa für das Ministerium über den Betrieb von 6 Lufttaxis korrigierte der Hauptdirektor der ostdeutschen Lufthansa, Artur Pieck, handschriftlich den Zuschußbedarf von 367.000 DM-Ost auf 65.000 DM-Ost herunter, um die Realisierung des Vorhabens zu fördern. Ebd., M 1/3631. 60 Michels/Werner (Hg.), S. 171. Im Jahr 1963 setzte sich Ulbricht persönlich für den Taxiluftverkehr ein. Archiv Interflug A 143 (Liquidierung der Deutschen Lufthansa). 61

Bundesminister für Verkehr (Hg.), Verkehr in Zahlen, Bonn 1993, S. 205. 62 Archiv BMV-Ost, M 1/2643.

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Sie war für den Ausbau der touristischen Beziehungen nach Nord- und Westeuropa vorgesehen und fusionierte 1963 mit der Deutschen Lufthansa zur Interflug.

DB

DDR

Kürzeste Etappe

Hamburg-Bremen

100 km

70 km

Längste Etappe

Düsseldorf-München

480 km

375 km

250 km

210 km

16

9

Mittlere Etappenlänge Anzahl

Abb. 1: Inland-Luftverkehr 1959 Etappen-Längen Quelle: Prof. Dr.-Ing. Schimkat, TH Dresden

Leipzig-K.-Marx-St. Dresden-Barth

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Abb. 2: Inlandflugliniennetz der DLH Ausbaustufe 1975

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Ein weiterer Grund für das Überleben des Inlandsflugverkehrs war das Interesse der Interflug an diesem Unternehmensbereich. Zwar war der Interflug bewußt, daß die tatsächlichen Kosten des Inlandsflugs viermal höher als die Einnahmen waren, 63 doch noch im Herbst 1979, kurz vor dem endgültigen Aus für den Inlandsflugverkehr, schlug Interflug vor, wenigstens den Sommerverkehr zu den Bädern aufrecht zu erhalten. 64 Im Westen war der innerdeutsche Flugverkehr von Anfang an und bis heute überwiegend Geschäftsverkehr. Seit den frühen sechziger Jahren pendelt der Wert zwischen 82% und 87%. 65 Das stellte den Inlandsflugverkehr im Westen auf eine ganz andere Basis als im Osten. Der Inlandsflugverkehr begann in den westdeutschen Zonen früher als im Osten, allerdings nicht unter deutscher Leitung. Bereits 1946 erlaubten die Besatzungsmächte ihren Fluglinien, deutsche Flugplätze anzufliegen. Seit Mai 1946 gab es auch einen innerdeutschen Linienverkehr. Den Anfang machte American Overseas auf der Strecke Frankfurt-Berlin. Die Berliner Blockade 1948 belegte eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit der Luftinfrastruktur und förderte den Ausbau des Luftverkehrs im Westen. Bereits im Oktober 1947 war eine Arbeitsgemeinschaft deutscher Verkehrsflughäfen gegründet worden (seit 1950 als eingetragener Verein), die in den folgenden Jahren die einflußreichste Institution im Bereich der zivilen Luftfahrt wurde. Die Flughäfen waren also bereits lange vor der Übernahme der Zuständigkeit der Luftfahrt durch Bund und Länder am 5. Mai 1955 (Pariser Verträge) weitgehend unabhängige Unternehmen im Bereich des zivilen Luftverkehrs. Im September 1951 richtete das Verkehrsministerium eine Abteilung Luftverkehr ein. Abteilungsleiter wurde bezeichnenderweise der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft deutscher Verkehrsflughäfen, Kurt Knipfer. Der Inlandsflugverkehr war in der frühen Bundesrepublik ein wichtiger Teil des Fernverkehrs. Für den Sommer 1949 schätzte das Bundesverkehrsministerium die Einnahmen im Inlandsflug auf 40% der Einnahmen der Bundesbahn im Fernverkehr. 66 Für die Lufthansa hatte der internationale Flugverkehr Priorität. Schon die Beschaffungspolitik des fliegenden Materials machte deutlich, wo die Lufthansa ih63 Nach einer Berechnung aus dem Jahr 1963 kostete der Inlandsflugverkehr 20,44 Mio. DM-Ost und erbrachte 4,74 Mio. DM-Ost. Archiv BMV-Ost M 2/5915 (Berichte über die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Inlandsflugverkehr vom 17. 3. 63). Eine Studie aus dem Jahr 1971 errechnete, daß für „für M 100,- Erlöse (ist) ein Kostenaufwand von M 410,97 nötig (sei)." Analyse der volkswirtschaftlichen Effektivität des Inlandsfluggastverkehrs der Interflug und dessen mögliche Weiterentwicklung bis 1980, S. 7. Archiv Interflug III/93. 64 Konzeption zur Gestaltung des Inlandsflugverkehrs nach 1980. Vorlage für Dienstbesprechung des Generaldirektors am 30. 8. 79. Ebd. 1/523. 65 Bachmann, K./Focke, H., Die Nachfrage im Passagierluftverkehr der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2000 und 2010 (= DVFLR Informationsberichte 370-88/2), Köln 1988, S. 85. 66 Β Arch, Β 108/1897 (Referat über Luftverkehr auf der Verkehrsministerkonferenz am 18. 11. 1949).

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ren Schwerpunkt sah: im Transatlantikverkehr. Dort flogen ab 1960 auch Jets, die im Inlandsverkehr erst nach 1968 erstmalig eingesetzt wurden. Nur wegen alliierter Auflagen begann der Flugverkehr am 1. April 1955 mit dem Inlandsflug. Die meisten Flüge waren Teilabschnitte der ins Ausland führenden Flugrouten, etwa die Verbindung Hamburg-Düsseldorf-London. Sie waren dem internationalen Verkehr angepaßt und konnten den Bedürfnissen des Inlandsflugverkehrs nicht gerecht werden. 67 1953 rechnete die Luftag für das erste volle Betriebsjahr 1956 mit 6,7 Mio. DM Einnahmen aus dem Inlands- und gesamten Europaverkehr und 30,5 Mio. DM Einnahmen aus dem Nordatlantikdienst. 68 Das geringe Interesse der Lufthansa am innerwestdeutschen Flugverkehr hatte ökonomische Gründe. Gewinne versprachen nur die Strecken nach Berlin, und zwar wegen der unsicheren Landverbindung. Hier gab es den ersten Massenflugverkehr in Deutschland. Bereits 1953 flogen zeitweise täglich mehr als 100 Maschinen von Berlin nach Westdeutschland. Die Berlinflüge wurden aus politischen Gründen massiv staatlich subventioniert. Doch wegen der alliierten Kontrollrechte lagen die Flugrechte in der Hand der drei alliierten Fluggesellschaften und waren der Lufthansa bis 1990 verschlossen. Auch im restlichen innerdeutschen Luftverkehr hatten ausländische Fluggesellschaften sich bis 1955 bereits fest etabliert, insbesondere die KLM, die Swissair und die SAS. Die Lufthansa mußte sich gegen diese Konkurrenz erst durchsetzten. Zwar hatte sie 1961 im Inlandsflug (ohne Berlin) bereits wieder einen Anteil von 84% erreicht, doch der Sitzladefaktor im Inlandsflug blieb in den ersten Jahren meist unter 50%. 69 Die Lufthansa bezeichnete den Inlandsflugverkehr deshalb bis in die jüngste Vergangenheit als ein sicheres Verlustgeschäft. Wegen seiner Zubringerfunktion für die internationalen Rüge hielt sie ihn dennoch für notwendig. Von Seiten der Verkehrsflughäfen, die an einer Ausweitung des innerdeutschen Luftverkehrs interessiert waren, führte eben diese Zubringerfunktion rechnerisch zu den roten Zahlen, denn für die Zubringerflüge rechnete die Lufthansa intern wesentlich niedrigere Preise als für vergleichbare reine Inlandsflüge. In beiden deutschen Staaten konkurrierte der Luftverkehr mit anderen Fernverkehrssystemen. Seine Berechtigung resultierte aus der Reisezeitverkürzung. Die Lufthansa verfolgte aufmerksam die Entwicklung der bodengebundenden Verkehrsträger und prognostizierte für ihre Inlandsstrecken die verbleibenden Zeitvorteile. Die Umstellung der Inlandsflotte von Propellermaschinen auf Jets zwischen 67 Johenning, F. W., Der Wiederaufbau der kommerziellen Zivilluftfahrt der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Diss. Köln 1963, S. 130. 68 Rentabilitätsbild nach der Ertrags- und Aufwandsplanung (Stand 4. 7. 1953), Β Arch, Β 108/1906. 69 Deutsche Lufthansa AG (Hg.), Jahresbericht 1961, Köln 1961, S. 10.

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1968 und 1971 führte zu einer deutlichen Verkürzung der Reisezeiten und Verbesserung der Situation der Lufthansa. 70 Den größten Anteil am innerdeutschen Personenfernverkehr hatte spätestens seit 1960 der Autoverkehr. Im Osten fuhren zumindest die leitenden Funktionäre kaum mit der Bahn, sondern vorzugsweise mit dem Auto. Erst die Schnellbahnprojekte ließen den Bahnverkehr geschwindigkeitsmäßig wieder mit dem Autoverkehr gleichziehen. In beiden deutschen Staaten gab es seit den 1960er Jahren Entwicklungsvorhaben zu Magnetschnellbahnen und anderen schnellen bodengebundenen Verkehrssystemen. 71 Im Westen wurde schon in den 1950er Jahren von Verkehrs Wissenschaftlern dem Hubschrauberverkehr eine große Zukunft im Regionalverkehr zugetraut, vergleichbar vielleicht zu dem Lufttaxiprojekt im Osten. Stadtarchitekten planten um 1955 bereits Heliports in ihre Stadtentwürfe ein. Neben dem Liniendienst gab es auch die weitverbreitete Hoffnung auf preiswerte, kleine Hubschrauber für den individuellen Luftverkehr. Diese Idee scheiterte aber an einer restriktiven Genehmigungspraxis für Außenstarts. Trotz jahrzehntelangem Tauziehen war eine generelle Genehmigung für Außenstarts für private Zwecke nicht zu bekommen. Mehr Chancen gab es dagegen für den Hubschrauberliniendienst. Im Sommer 1953 formierte sich die Deutsche Studiengemeinschaft Hubschrauber mit dem Zweck, zu verläßlichen Aussagen über die Verwendbarkeit des Hubschraubers zu kommen. 72 Als wissenschaftliche Vereinigung bemühte sie sich um eine gemäßigtere Haltung als die Hersteller von Hubschraubern und Senkrechtstartern, befürwortete aber gleichwohl in ihren Veröffentlichungen die Einrichtung von Hubschrauberlinien. 73 Im Herbst des Jahres 1953 eröffnete die SABENA die Hubschrauberlinie BonnKöln-Maastricht-Lüttich-Brüssel und kurze Zeit später Linien nach Düsseldorf, Duisburg und Dortmund. Sieben Fluggäste fanden im Hubschrauber Platz. Auch

70

Doms, Susanne, Der Wettbewerb um den innerdeutschen Linienluftverkehr. Diplomarbeit Köln 1990, S. 12. 71 Haupt, R. J., Innerdeutscher Linienluftverkehr des Jahres 2000. Finanzielle und kapazitive Auswirkungen von Angebotsvarianten unter Berücksichtigung der Kooperation mit Schnellbahndiensten (= DFVLR-Forschungsbericht 83-03), Köln 1983. Schmitt, A. u. a., Verkehrliche Auswirkungen eines elektromagnetischen Schnellbahnsystems Frankfurt-Paris (= DFVLR-Forschungsbericht 82-18), Köln 1982. 72 Die Gründung beschlossen der Stuttgarter Oberbürgermeister Klett und die Herren Seifriz (Land Baden-Württemberg), Bode (Arbeitsgemeinschaft Hubschrauber, Bremen), Kreidler (für Frohne, Deutsche Bundesbahn), Ennenbach (Wissenschaftliche Gesellschaft für Luftfahrt, Braunschweig), Popp (Verband zur Förderung der Luftfahrt, Düsseldorf), Issel (für Höltje von der Luftag), Treibel (AG deutscher Verkehrsflughäfen). Trischler, Helmuth, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft. Frankfurt/Main 1992, S. 327-329. 73 Treibel, Werner, Planung und Bau von Huschrauber-Flughäfen (II), in: Der Bau und die Bauindustrie 24 (1952), S. 564-566; ders., Stand des Hubschrauber-Baues. Planung und Bau von Hubschrauber-Flughäfen. In: Technische Mitteilungen 46 (1953), H. 7.

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die Lufthansa erwog eine Zeitlang die Einrichtung von Hubschrauberdiensten und Hans Bongers flog in New York Probe. 74 Aus der Studiengemeinschaft Hubschrauber ging später die Deutsche Forschungsanstalt für Hubschrauber und Vertikalflug (Stuttgart-Flughafen) hervor, die 1961 in einer Marktstudie für die Aussichten und Möglichkeiten eines Nahluftverkehrs im süddeutschen Raum große Zeitvorsprünge gegenüber der Bahn ermittelte. 75 Doch die hohen Betriebskosten des Hubschraubers erlaubten schlechterdings keine Gewinne. Außerdem schlugen dem Hubschrauber wegen seiner großen Lärmbelastung und wegen der im Vergleich zum Flugzeug niedrigeren Sicherheit viel Opposition entgegen. Die SABENA stellte ihren Linienverkehr jeweils nach kurzer Zeit wieder ein. Ein Linienverkehr ist seither nicht wieder eröffnet worden. In den sechziger Jahren mehrten sich die Forderungen aus der Wirtschaft aber auch aus der Verwaltung nach einer Vergrößerung der innerdeutschen Flugdienste, zum einen nach einer Vermehrung der Flüge zwischen den großen Flughäfen und zum zweiten nach einer Integration der kleineren Flughäfen in das Inlandsnetz. Besonders interessiert an der Aufnahme eines regionalen Flugverkehrs waren die deutschen Flugzeugwerke, die in den 1960er Jahren mit der He 211, der HFB 320 und der VFW 614 Kurzstreckenjets entwickelt hatten. Von Seiten der Flugzeughersteller wurden deshalb regelmäßig Studien vorgelegt, die nachweisen sollten, daß ein innerdeutscher Regionalluftverkehr profitabel sein könnte. Eine VFW-Studie kam 1972 auf einen notwendigen Auslastungsgrad von 57% . 7 6 Demgegenüber hatte die Lufthansa Mindestsitzladefaktoren von über 70% kalkuliert. Seit 1964 gab die Lufthansa einzelne Verbindungen an Regionalfluggesellschaften ab, welche die Verbindungen dann unter Lufthansanummern beflogen. Gegen den Aufbau eines regionalen Luftverkehrs, wie er etwa in Frankreich von der Air France Tochter Air Inter betrieben wurde, sperrte sich die Lufthansa aus ökonomischen Gründen. Von außen bedrängt, trat die Lufthansa 1967 die Flucht nach vorn an und schlug den Aufbau einer Regionalfluggesellschaft als doppelte Gründung mit einem privat- und einem gemeinwirtschaftlichen Unternehmen vor. Letzteres

74 Bongers, Luft, S. 286. 75

So ζ. B. für folgende Strecken: Köln-Kassel: (Bahn: 323 min, Hubschrauber: 81 min); Bonn-Hannover: (Bahn: 292 min, Hubschrauber: 93 min). Walther Lambert, Verkehrswirtschaftliche Fragen des Nahluftverkehrs. In: Berkenkopf, Paul (Hg.), Der Verkehr in der wirtschaftlichen Entwicklung des Industriezeitalters (= Festschrift zum 40-jährigen Jubiläum des Instituts für Verkehrswissenschaft an der Universität Köln), Düsseldorf 1961, S. 153-172, speziell S. 159. Vgl. auch Lambert, W., Bedarf und Aussichten eines Nahluftverkehrs im südwestdeutschen Raum. Stuttgart 1963. 76 Stüssel, Rolf, Möglichkeiten des wirtschaftlichen Einsatzes von Strahlverkehrsflugzeugen im Regionalluftverkehr (= VFW-Berichte, 1272), Bremen 1969, S. 42; VFW-Fokker (Hg.), Streckenanalyse der VFW 614 auf innerdeutschen Flugverbindungen. Erstellt für den Herrn Bundesminister für Verkehr. Kommission für Binnenländischen Luftverkehr, Bremen 1970 (sowie vergleichbare Studien an das BMWi).

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sollte mit staatlicher Unterstützung die betriebswirtschaftlichen Verluste abdekken. 77 Auf den Hauptstrecken zwischen den deutschen Verkehrsflughäfen sah allerdings auch die Lufthansa einen potentiell großen Markt und nahm mehrere Anläufe, einen Massenflugverkehr zu initiieren. Im Jahr 1963 führte die Lufthansa auf der Strecke Frankfurt-Hamburg den Air Bus ein; ein Shuttle-Dienst zwischen Frankfurt und Hamburg ohne viel Komfort und zu extrem günstigen Preisen. Es gab kein Essen an Bord, die Flugscheine wurden an Bord gelöst und der Preis sollte bei 60 DM liegen. Gegen diese Konkurrenz rührte sich bei der Bundesbahn massiver Widerspruch. Sie setzte beim Verkehrsministerium eine Anhebung auf unattraktive 75 DM durch. Doch nicht nur wegen des Preises, auch wegen der zu seltenen Flüge blieb dem Experiment der Erfolg versagt. Die Air Bus Flüge wurden 1966 wieder eingestellt. Eine Ursache für das verhaltene Interesse der Lufthansa am innerdeutschen Flugverkehr war die Existenz der staatseigenen Bundesbahn. Das Verkehrsministerium war nicht daran interessiert, eine starke Konkurrenz zwischen Bundesbahn und Lufthansa zuzulassen. Im Aufsichtsrat der Lufthansa hatten die Vertreter von Bund, Ländern und Bundesbahn eine Mehrheit. Bis heute hat die Bundesbahn einen Sitz im Aufsichtsrat, die Chartergesellschaft Condor ist gar eine Gemeinschaftsgründung von Lufthansa und Bundesbahn. Aus Sicht der Bundesbahn befanden sich beide Verkehrsunternehmen in einer harten Konkurrenz um Passagiere. Die 1957 eingesetzten Trans-Europa-Express(TEE)-Züge hatten das explizite Ziel, mit dem Luftverkehr komfort- und geschwindigkeitsmäßig mitzuziehen.78 Die Lufthansa war in den 1960er und 1970er Jahren durchaus nicht abgeneigt, die Zubringerfunktion an die Bundesbahn abzutreten. 1969 forderte die Lufthansa den Arbeitskreis Regionalverkehr der ADV auf, zukünftig auch Repräsentanten der Bundesbahn zu den Beratungen einzuladen.79 Immer wieder wurden Vorschläge diskutiert, mit dem Fluggepäck bereits an den Hauptbahnhöfen einchecken zu können. Seit März 1982 fuhren Lufthansazüge (Airport-Express) von Düsseldorf über Köln und Bonn nach Frankfurt. Erst, seit sich in den achtziger Jahren die Wirtschaftlichkeit entscheidend änderte und der Inlandsflugverkehr auch aus Lufthan77

Scharlach, Hans, Studie Ergänzungsluftverkehr, Köln 1966; Vorschläge zum innerdeutschen Ergänzungs-Luftverkehr. Eine Studie der Lufthansa. Pressedienst Lufthansa vom 20. 2. 1967. Deutsche Lufthansa AG, Firmenarchiv, ohne Signatur. 78 Hansen, Ernst, Das Flugzeug im Wettbewerb mit Eisenbahn und Überseeschiffahrt, Hannover 1951. Doganis, Rigas, Air versus Rail in Western Europe, in: Flight (1964), S. 614616; Giese, Dieter, Regionalluftverkehr und Eisenbahn als Wettbewerber im deutschen und grenzüberschreitenden Personenverkehr, Berlin 1992. 79 Scharlach, Hans, Eisenbahn und Inlandsluftverkehr. Folgerungen aus Entwicklung und Planung der Deutschen Bundesbahn für den Luft-Personenverkehr in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1969, S. 27. Vgl. auch ders., Das Flugzeug im Inlands verkehr. Köln 1970 (Schriftenreihe der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft Dl7); Müller, G., Der Wettbewerb zwischen der Deutschen Bundesbahn und den Luftfahrtunternehmen im innerdeutschen Eisenbahn- und Flugreiseverkehr, Diss. Mainz 1966, S. 10-11.

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sasicht in die Gewinnzone rückte, verschärfte sich die Konkurrenzsituation mit der Bahn. 79a Der Flughafenzug wurde 1993 eingestellt.80 Um die Bahnanbindung der Flughäfen wird heftig gerungen. Doch bis in die Gegenwart bestehen Bundesbahn und Lufthansa als Träger öffentlichen Verkehrs in der Außendarstellung auf den Begriffen Kooperation und Ergänzung zur Charakterisierung ihres Verhältnisses statt Konkurrenz und Verdrängung. 81 Der Aufstieg des Inlandsflugverkehrs in den frühen achtziger Jahren wurde durch mehrere kleine Fluggesellschaften angestoßen, die schnelle regionale Verbindungen anboten.82 Den Anfang machte Delta Air mit dem Metroliner, einem schnellen Turbopropflugzeug mit 18 Sitzplätzen. Dieses Angebot war so erfolgreich, daß sich auch die Lufthansa umstellen mußte. Seit März 1983 fliegen CityJets im Taktverkehr zwischen deutschen Flughäfen. Die Flugpreise gingen drastisch nach unten und die Zahl der Reisenden stark nach oben. Inzwischen fliegen zwischen vielen deutschen Metropolen mehr Flugzeuge als Züge fahren. Trotz des massiven Preisverfalls macht die Lufthansa mit ihrem innerdeutschen Flugverkehr Gewinn. Auf den kleineren Verkehrsflugplätzen, etwa Bremen, hat sich durch den Aufstieg der Regionalverkehrs die Zahl der Flugbewegungen stark erhöht. Inzwischen starten und landen auf diesen Flugplätzen zu zwei Dritteln kleine Turbopropmaschinen.

E. Resümee Die zivile Luftfahrt erfüllte in den beiden deutschen Staaten unterschiedliche Funktionen und wies deshalb große Unterschiede auf. In den 1950er Jahren ließ sich die ostdeutsche Ministerial- und Parteibürokratie von einem vermeintlichen technischen Sachverstand der Flugzeugbauer blenden und verfolgte eine äußerst ambitionierte Luftfahrtpolitik. Der Aufbau der nationalen Fluggesellschaft fand im Schlepptau der Flugzeugproduktion statt. Während im Westen alte Lufthanseaten die Neugründung leiteten, waren im Osten Parteiideologen in der Fluggesellschaft am Ruder. Deutsche Lufthansa Ost und Interflug wa79a Haupt, Rolf J., Rückwirkungen von Angebots Veränderungen im Luftverkehr auf den Schienenverkehr in der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2000. Köln 1983. so Vgl. Akte Airport Express, Deutsche Lufthansa AG Firmenarchiv, ohne Signatur. 81 Zuletzt in einer gemeinsamen Studie: Schulz, Joachim, Bedeutung von Umweltwirkungen von Schienen und Luftverkehr in Deutschland. Februar 1995. Dort wird die gemeinsame Position gegenüber dem motorisierten Individualverkehr betont. Baum, Herbert, Kooperation zwischen Schienen- und Luftverkehr in Deutschland. Köln 1992. 82 So German Wings ab 1989; Aero Lloyd (YP) ab 1980, Deutsche Luftverkehrsgesellschaft (DLT), Nürnberger Flugdienst (NFD), Arcus Air (YY), Cimber Air (GW), Südavia (FV), Delta Air (DI), Interrot (IQ), Roland Air (DU), Regionalflug GmbH (VG), Contact Air (VJ) und der Rheinland Air Service (ROA).

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Bähr/Petzina (Hrsg.)

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ren Aushängeschilder, die von der starken Stellung der Flugzeugbauer profitierten. Die Entscheidungsfreiheit der Fluggesellschaft war in den 1950er Jahren sehr gering. So war es z. B. völlig klar, daß die Produkte der eigenen Flugzeugproduktion gekauft werden mußten. Im Westen verfolgte das Bundesverkehrsministerium in den 1950er Jahren eine ökonomische, sparsame Luftverkehrspolitik. Aus diesem Grund scheiterte die westdeutsche Flugzeugindustrie mit ihren Projekten und wurde die neue westdeutsche Lufthansa als Aktiengesellschaft unter kaufmännischer Leitung gegründet. Die Lufthansa legte ihre Priorität auf den gewinnversprechenden Transatlantikverkehr. Der Inlandsflugverkehr wurde von ihr dagegen als notorisch defizitär betrachtet und wenig geliebt. Für die ostdeutsche Interflug spielte die fehlende ökonomische Grundlage des Inlandsflugverkehrs anfangs nur eine sekundäre Rolle. Die Bereitschaft zur Subventionierung dieses modernen Massenverkehrsmittels waren in der Plankommission, dem Zentralkomitee und dem Verkehrsministerium gleichermaßen groß. Doch mit dem Ende der Flugzeugproduktion 1961 ging das politische Interesse für den Flugverkehr stark zurück. Investitionsmittel gab es in den 1960er Jahren kaum. Erst zum Ende der 1960er Jahre stieg die Bereitschaft wieder, kam aber nicht mehr dem Inlandsluftverkehr zugute. Denn seit dem Ende der sechziger Jahre, als der westdeutsche Inlandsflug langsam auf Jets umstellte, war mit dem altmodischen innerostdeutschen Luftverkehr kein Prestigeerfolg mehr zu erzielen. Dadurch sank das staatliche Interesse an einer Subventionierung weiter ab. Als die Ölkrise mit zeitlicher Verspätung auch die ostdeutschen Treibstoffkosten nach oben trieb, stieg auch bei der Interflug die Bereitschaft zur Einstellung des Inlandsluftverkehrs. Man muß allerdings einräumen, daß allein aufgrund der geographischen Gegebenheiten der innerdeutsche Flugverkehr im Osten immer nur eine ganz geringe Chance hatte, zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen zu werden. Im Westen gab es in den 1960er Jahren viele Projekte für einen Inlandsschnellverkehr. Doch die Lufthansa sträubte sich gegen die Aufnahme eines Regionalluftverkehrs, ohne zusätzliche Finanzierungen. Erst ab 1980, als im Osten der Inlandsflugverkehr eingestellt wurde, gingen in Westdeutschland die Zahlen der Flugpassagiere steil in die Höhe. Hierfür war aber weniger die Lufthansa oder gar die staatliche Verkehrspolitik verantwortlich, sondern die Verbesserung des Angebots von dritter Seite.

Literatur Andres, Christopher Magnus, Die bundesdeutsche Luft- und Raumfahitindustrie vom Ende des 2. Weltkrieges bis zur Etablierung der europäischen Flugzeugprogramme „Tornado" und „Airbus" zu Beginn der siebziger Jahre. Ein Industriebereich im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Militär, Diss., München 1995.

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Barkleit, Gerhard / Hartlepp, Heinz, Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 19521961 (= Berichte und Studie aus dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, 1), Dresden 1995. Braunburg, Rudolf, Die Geschichte der Lufthansa. Vom Doppeldecker zum Airbus, Hamburg 1991. Ciesla, Burghard, Von der Luftkriegsrüstung zur zivilen Flugzeugproduktion. Über die Entwicklung der Luftfahrtforschung und Flugzeugproduktion in der SBZ/DDR und UdSSR, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Binnenschiffahrt, des Luftund Kraftfahrzeugverkehrs, Bergisch-Gladbach 1994, S. 179-203. Grenzdörfer, Joachim, Analyse zur Stellung des Luftverkehrs im einheitlichen sozialistischen Transportwesen der Deutschen Demokratischen Republik (1961/62), Diss. Dresden 1964. Johenning, F. W., Der Wiederaufbau der kommerziellen Zivilluftfahrt der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Diss. Köln 1961. Michels, Jürgen / Werner, Jochen (Hg.), Luftfahrt Ost 1945-90. Geschichte der deutschen Luftfahrt in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), Bonn 1994. Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1980. Seifert, Karl-Dieter, Weg und Absturz der Interflug, der Luftverkehr in der DDR, Berlin 1994. Trischler, Helmut, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt/M. 1992.

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Stadttechnik und Nahverkehrspolitik Entscheidungen um die Straßenbahn in Berlin (West/Ost), Dresden und München Von Burghard Ciesla und Barbara Schmucki

A. Vorbemerkungen Die Fallstudien über die Stadttechnik Straßenbahn befassen sich mit der Funktion, den Aufgaben sowie den Entscheidungs- und Organisationsstrukturen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in den beiden deutschen Staaten nach 1945. Den Schwerpunkt bilden die Entscheidungsstrukturen. Es werden die Prozesse der Entscheidungsfindung und - umsetzung zur Herausnahme, Reduzierung, Beibehaltung oder zum Ausbau des Verkehrsträgers Straßenbahn auf den verschiedenen Ebenen der Entscheidungshierarchie analysiert. Als günstig für einen Vergleich erweist sich hierbei die Beobachtung, daß die Nahverkehrsbetriebe in Ost und West als kommunale Unternehmen1 organisiert wurden, und damit sehr stark in die jeweiligen öffentlichen Verwaltungsstrukturen integriert waren. Die von den jeweiligen Ministerien ausgehenden verkehrspolitischen und finanzpolitischen Steuerungen stellten außerdem für die Handlungsspielräume der Nahverkehrsbetriebe in Ost und West gleichermaßen entscheidende Einflußgrößen dar. Wobei für die DDR grundsätzlich herausgestellt werden muß, daß die Entscheidungsfreiheiten der Nahverkehrsbetriebe infolge der volkswirtschaftlichen Planvorgaben, der Beschlüsse der zentralen Staatsorgane und der Doppelstruktur von Kommune und SED ungleich stärker eingeschränkt wurden als in der Bundesrepublik.2 1 In der DDR waren die kommunalen Verkehrsbetriebe sogenannte volkseigene Betriebe (VEB), die der örtlichen Versorgungswirtschaft angehörend den Staatsorganen in den Städten unterstellt waren. Für die BRD handelt es sich bei kommunalen Betrieben um Unternehmensformen, bei denen die Anteilsrechte bei den öffentlichen Körperschaften (hier der Gemeinde) liegen. Der öffentlichen Hand kommt bei der Zielsetzung und Führung des Unternehmens eine entscheidende Rolle zu. Ring, Alexander, Öffentlicher Personennahverkehr in städtischen Regionen - eine theoretische und empirische Analyse alternativer Finanzierungsformen, (Forum Finanzwissenschaft, 3) Nürnberg 1993, S. 17. 2 Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip wurden die meisten öffentlichen Aufgaben in der BRD von den Gemeinden und Gemeindeverbänden erfüllt. Beim Bund verbleiben nur Aufgaben von gesamtstaatlicher Bedeutung, die zur Durchführung auf die Gemeinden übertragen werden.

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Das Innovationsverhalten spielt in den Fallstudien eine untergeordnete Rolle, da in dem hier in Frage kommenden Untersuchungszeitraum die Straßenbahn unter dem technischen Aspekt (Schienenfahrzeug, Elektroantrieb usw.) nicht mehr als Basisinnovation gelten kann.3 Dort wo es sich anbietet, werden aber die vorgenommenen konstruktiven Veränderungen an Straßenbahnfahrzeugen als Verbesserungsinnovationen angesehen bzw. die Einführung der sogenannten Schnellstraßenbahn im Sinne des „weiten" technisch-ökonomischen Innovationsbegriffes verstanden. Die Auswahl der Fallbeispiele München und Dresden erfolgte nach der Maßgabe, typische „Straßenbahnstädte" mit einem in ihrer Ausgangssituation vergleichbaren wirtschaftlichen und administrativen Stellenwert einzubeziehen. Das Fallbeispiel Berlin bot sich vor allem aufgrund seiner Besonderheiten an. Einmal spiegelt die Entwicklung in Ost- und Westberlin die deutsch-deutsche Nahverkehrsentwicklung nach 1945 en miniature. Andererseits wird gerade durch die Gegenläufigkeit der Entwicklungsprozesse in den beiden Stadthälften das Entscheidungsgefüge sehr markant im Vergleich erkennbar.

B. Zur Stadttechnik Straßenbahn Die Straßenbahn ist eine Innovation des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie ist ein sich in der Regel auf in die Straßenoberfläche eingelassenen Geleisen bewegendes öffentliches Verkehrsmittel, das im wesentlichen der Personenbeförderung dient. In den zwanziger und dreißiger Jahren kam es zu einem Schub von Verbesserungsinnovationen, die sich vor allem auf die Leistungsparameter, Bauweise und Ausstattung der Fahrzeuge auswirkten. Eine führende Position nahmen dabei die Vereinigten Staaten ein, die mit dem Straßenbahn-Großraumwagen (PCC)4 eine

3 Für die Durchsetzung von Verbesserungsinnovationen spielten interessanterweise gesetzliche Regelungen zumindest für die Bundesrepublik eine Rolle. So legte in beiden Staaten die BOStrab (Bau- und Betriebsordnung für Straßenbahnen) den Bau, die Inbetriebnahme und Instandhaltung von Straßenbahnfahrzeugen und -anlagen sowie den Betriebs- und Verkehrsdienst fest. Diese gesetzlichen Bestimmungen hatten unter anderem Einfluß auf die Bauweise und andere technische Parameter der Fahrzeuge. Die erste BOStrab wurde 1937 durch das Reichsverkehrsministerium erlassen. In der Bundesrepublik erfolgte die erste Neufassung 1965, in der DDR 1950. Bauer, Gerhard (Hg.), Straßenbahn Archiv, Bd. 1, Geschichte, Technik, Betrieb, Berlin 1983, S. 142; Hendlmeier, Wolfgang, Handbuch der deutschen Straßenbahngeschichte, Bd. 1, München 1981, S. 24. 4 PCC: Presidents' Conference Car (Schmid, Georg/Lindenbaum, Hans/Staudacher, Peter, Bewegung und Beharrung. Eisenbahn, Automobil, Tramway: 1918-1938, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 149.) oder Presidental Command Car (Yago, Glenn, The Decline of Transit. Urban Transportation in German and US Cities 1900-1970, Cambridge 1984, S. 63.). Die Forschung ist sich in der Namensgebung uneins. Der Großraumwagen war erstmals in Leichtwagen-

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neue Generation von Straßenbahnfahrzeugen entwickelt hatten. Zu diesem Zeitpunkt setzte jedoch in den USA bereits das große „Straßenbahnsterben" ein. Mit dem Automobil war der Straßenbahn dort schon nach dem Ersten Weltkrieg eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen. Straßenbahnlinien wurden vielfach eingestellt und durch den Busbetrieb ersetzt. Dahinter steckte nicht selten die Automobilindustrie, die über Zwischenfirmen Straßenbahngesellschaften aufkaufte und den Weg für die „autogerechte Stadt" freimachte. 5 In Deutschland verfolgte man den „amerikanischen Weg" erst nach dem Zweiten Weltkrieg im großen Stil. Doch auch deutsche Stadt- und Verkehrsplaner hatten diesen Verdrängungsprozeß schon in den zwanziger und dreißiger Jahren angedacht. Zwischen Ost- und Westdeutschland gab es jedoch nach 1945 signifikante Unterschiede hinsichtlich der Straßenbahnnutzung. Während sich die Verdrängung in Westdeutschland nach dem amerikanischen Vorbild relativ „problemlos" vollzog, wurde im Osten Deutschlands aufgrund fehlender wirtschaftlicher und finanzieller Kapazitäten notgedrungen weiter auf die Straßenbahn gesetzt. In den planerischen Vorstellungen blieb aber der Gedanke an der Zurückdrängung dieser Stadttechnik noch lange erhalten. Zumindest wurde auch im Osten die Straßenbahn aus den meisten Stadtkernen entfernt. Am Ende der siebziger Jahre setzte in Westdeutschland die sogenannte „Renaissance der Straßenbahn" ein. Kommunen entschieden sich nun wieder für die Straßenbahn. Es waren vor allem Schnellstraßenbahnsysteme auf weitgehend eigenen Gleiskörpern, mit deutlich besseren Leistungs- bzw. Komfortparameter, die als alternative Lösungen im öffentlichen Nahverkehr eingesetzt wurden. In Ostdeutschland wurde im Vergleich dazu schon in den sechziger Jahren mit der Erprobung und Einführung von Schnellstraßenbahnsystemen begonnen. Insbesondere mit dem Wohnungsbauprogramm (1971) erhielt diese Entwicklung in der DDR einen weiteren Aufschwung. 6 So gesehen kann die Straßenbahn durchaus als eine Art Leitbildindikator angesehen werden.

bauweise konzipiert, mit neuen elektrischen Motoren ausgestattet (Viermotorige Vierachser) und dank automatischer Türen, Pedalsteuerung und Sitzplatzanordnung im Einmannbetrieb einsatzfähig. 1947 kaufte CKD-Tatra die Lizenz. In der BRD kam dieser Wagentyp erst nach 1945 zur Anwendung. 5 Braun, Hans-Joachim/Kaiser, Walter, Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, in: Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5, Berlin/Frankfurt 1992, S. 123. 6 Köstlin, Reinhart/Wollmann, Hellmut, Renaissance der Straßenbahn, Basel/Boston, (Stadtforschung aktuell, 12), Stuttgart 1987; Bochynek, Franz, Maßnahmen zur Beschleunigung des ÖPNVim Straßenraum, in: DDR-Verkehr 11(1987), S. 337-340.

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C. Verkehrsplanung und Nahverkehrspolitik Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fehlte es in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen an wirksamen Planungsgrundlagen für Stadt- und verkehrspolitische Entscheidungen. Das große Problem war, daß verläßliche Datenerhebungen zur Stadt- und Verkehrsentwicklung aufgrund der Kriegszerstörungen noch nicht wieder zur Verfügung standen. Zudem wies das Prognoseinstrumentarium der Verkehrswissenschaft für die Stadt- und Verkehrsentwicklung nur einen geringen Entwicklungsgrad auf. 7 Eine Qualifizierung der Verkehrsplanung 8 ist für Ost- und Westdeutschland erst in den sechziger Jahren faßbar. Die in diesem Zusammenhang von Thomas Südbeck getroffene Feststellung, daß zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik „integrierte Entwicklungsplanungen auf nahezu allen politischen Ebenen üblich wurden und ein erweitertes Komplexitätsbewußtsein sowie verfeinerte Planungsmethoden nicht zuletzt die Hoffnung stärkten, auch das immer weiter steigende Verkehrsaufkommen lenken zu können"9 traf auch für die DDR zu. In der Bundesrepublik fand seit Ende der fünfziger, vor allem aber Anfang der sechziger Jahre der Generalverkehrsplan (GVP) als gültiges Verkehrsplanungsinstrument der Städte und Gemeinden immer größere Akzeptanz. Der GVP wurde integraler Bestandteil der städtebaulichen Gesamtplanung und hat die Aufgabe, die mittel- und langfristigen Maßnahmen zur geordneten Entwicklung des Planungsraumes in der Bundesrepublik aufzuzeigen und entsprechende Entscheidungsgrundlagen für die längerfristige Stadt- und Verkehrsentwicklung zu liefern. Die Durchsetzung blieb in den sechziger Jahren jedoch auf die kommunale Ebene beschränkt. Eine Vereinheitlichung setzte sich erst 1969 mit dem Merkblatt „Generalverkehrspläne der Gemeinden"10 durch. Die Entscheidungen der westdeutschen Gemeindeparlamente hinsichtlich der Verkehrslösungen wurden dadurch maßgeblich vereinfacht. Gerade in der Auseinandersetzung der westdeutschen Kommunen um den GVP verdeutlichte sich der Stellenwert der Nahverkehrspolitik für die Städte und Gemeinden. Grundsätz-

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Südbeck, Thomas, Motorisierung, Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik in Westdeutschland in den 50er Jahren, in: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 170-187; Klenke, Dietmar, „Freier Stau für freie Bürger". Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949-1994, Darmstadt 1995. 8 Die Verkehrsplanung hat die Aufgabe, ausgehend vom Verkehr, den Verkehrsmitteln und dem Verkehrswegenetz, einen einwandfreien, sicheren und leistungsfähigen Verkehrsablauf zu gewährleisten. Verkehrsplanung kann einerseits als Entwicklungsprozeß der Raumstruktur, andererseits als Durchführungs- und Entscheidungsprozeß auf administrativer Ebene verstanden werden. 9 Südbeck, S. 163. !0 Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen e. V., Merkblatt Generalverkehrspläne der Gemeinden (MGVP) 1969; Schaechterle, Karlheinz, Städtische General Verkehrsplanung im Wandel (Forschungsarbeiten aus dem Straßenwesen, 94), Bonn-Bad Godesberg 1979.

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lieh lag und liegt es bei den Gemeindeparlamenten diese Pläne nach Maßgabe ihrer verkehrspolitischen Vorstellungen zu beschließen. In der DDR legte man ab Mitte der sechziger Jahre GVP als Führungsdokumente zur langfristigen Entwicklung des Verkehrswesens vor. Die GVP wurden für Bezirke, Kreise und Städte (Ballungsgebiete) erarbeitet und dienten den staatlichen Leitungen des jeweiligen Territoriums ähnlich wie in der Bundesrepublik als Handlungsrichtlinien. Gleichzeitig war der GVP Bestandteil der sogenannten Gesellschaftsprognose für ein Territorium und damit eng vernetzt mit dem Generalbebauungsplan.11 Für die Städte und Gemeinden in der DDR blieb aber die Entscheidungsfreiheit der westdeutschen Kommunen unerreichbar, da der Beschluß vom Ministerium für Verkehrswesen genehmigt werden mußte. Trotzdem zeigte sich bei den Verhandlungen um die Ausgestaltung der Pläne eine beachtliche Verhandlungsautonomie und damit Handlungsspielraum für die Kommunen, da u. a. die Richtlinien vom Ministerium für Verkehrswesen nur als Ziel vorgegeben wurden. Die Zielvorgaben waren wiederum wie im Westen Deutschlands recht offen formuliert. So konnten zum Beispiel Städte wie Dresden, Magdeburg, Erfurt oder Potsdam in ihren Generalverkehrsplänen die Straßenbahn als Grundverkehrsmittel festschreiben. Andere Kommunen wie Gera oder Zwickau entschieden sich für die Abschaffung der Straßenbahn.12 Aufgrund der schon erwähnten knappen Ressourcen- und Investitionszuteilungen durch die Zentrale (Staatliche Plankommission) fielen aber verkehrspolitische Entscheidungen bei den Kommunen, die oftmals wenig mit einer durchdachten Nahverkehrspolitik zu tun hatten. Alternative Konzepte (Obus) hatten des weiteren immer nur im vorgegebenen wirtschaftspolitischen und ideologischen Rahmen eine reale Durchsetzungschance. Mit der Ideologisierung der Verwaltungsstrukturen seit den fünfziger Jahren spielte außerdem verstärkt die schon erwähnte Existenz einer Doppelstruktur von SED- und kommunalen Einrichtungen eine immer maßgeblichere Rolle.

D. Straßenbahn in Westberlin ein Opfer der „schnittigen" Moderne Kurzbeschreibung des Entscheidungsprozesses - In Westberlin wurde 1953 gegen eine Modernisierung der Straßenbahn entschieden. Die unter anderem für eine Erneuerung der Straßenbahn vorgesehenen finanziellen Mittel setzte die BerlinerVerkehrs-Gesellschaft (BVG) in Westberlin letztendlich nur zur Modernisierung des Omnibus-Fahrzeugbestandes ein. Der Anteil der Straßenbahn an den Verkehrs11

Lexikon der Wirtschaft, Verkehr, Berlin 1972, S. 140; General Verkehrsplanung und ihre Wechselbeziehung zum sozialistischen Städtebau, 3. Symposium des ZFIV und KDT, Berlin 1977. 12 Machel, Wolf-Dietger, Zwischen Notwendigkeit und Tradition. Zur Entwicklung der Straßenbahnen in der DDR, in: Straßenbahn Magazin 1994/94, S. 325.

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mittein der BVG/West lag zu diesem Zeitpunkt bei 53% (Omnibus: 21%). Die Entscheidung gegen die Straßenbahn leitete die schrittweise Einstellung des Straßenbahnbetriebes im Westteil der Stadt ein. Unter der irreführenden Bezeichnung „Konzentration der Straßenbahn" wurde am 1. Juli 1954 mit dem Stillegungsprogramm begonnen. Am 2. Oktober 1967 war dieses Programm abgeschlossen. Der Omnibus hatte mit einem Anteil von 65% damit die Beförderungsfunktion der Straßenbahn weitgehend übernommen. Der Ausbau des U-Bahnnetzes (ab 1953) als Ausgleich für die Stillegung der Straßenbahn hatte dagegen nur geringe Bedeutung. Insgesamt wurde von 1953 bis 1967 ein 267 Kilometer umfassendes und gut ausgebautes Streckennetz systematisch beseitigt.13 Graphik 1 Beförderungsleistung der Verkehrsmittel in Mio. Beförderungsfallen, Berlin (West), 1950-1979

c o c o o î c s i m o o ^ ^ r r ^ 0 ) 0 0 ) 0 ) 0 ) 0 ) 0 ) 0 ) 0 ) Quelle: Statistisches Jahrbuch Berlin (West), div. Jg.

Einflußfaktoren - Die Entscheidungsfindung um die Herausnahme der Straßenbahn ist maßgeblich durch die damaligen Vorstellungen über die Massenmotorisierung bzw. moderne Stadt, d. h. „autogerechte Stadt", beeinflußt worden. Erkennbar wird der wachsende Einfluß dieser gesellschaftspolitischen Leitideen in der drastischen Veränderung der Annahmen über den künftigen Motorisierungsgrad der Stadt. Noch 1950 setzten die Verkehrsexperten auf der Grundlage der Verkehrszählungen von 1939 die Motorisierungsquote für Berlin auf 100 Pkw/1000 Einwohner an. Nur vier Jahre später gingen die Planer in ihren Prognosen von einer Quote von 200 Pkw/1000 Einwohner aus 14 , obwohl die PKW-Motorisierung ganz allgemein 13 Wangemann, Volker, Nah Verkehrsentwicklung und Nah Verkehrsplanung in Berlin (West) seit 1945, Berlin 1984, S. 159; Frenz, Eckehard, Die Straßenbahnstillegungen in der Bundesrepublik Deutschland - Eine historische Analyse, in: Köstlin/Wollmann, S. 70-71. 14 Wangemann, S. 130-132.

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Graphik 2 %-Anteil der Verkehrsträger an den Beförderungsfällen, Berlin (West), 1950-1979

lObus dl Bus Β U-Bahn • Straßenbahn

Quelle: Statistisches Jahrbuch Berlin (West), div. Jg.

noch keine Anzeichen einer stürmischen Aufwärtsentwicklung zeigte.15 Vielmehr beschränkte sich die PKW-Motorisierung „in diesen Jahren noch auf einen kleinen Kreis gewerblicher Nutzer und auf sozial bessergestellte Kreise". 16 Im Jahre 1960 lag die Relation von PKW bezogen auf die Einwohnerzahl Westberlins real bei 93 Pkw/1000 Einwohner 17 und damit noch bedeutend unter den Annahmen von 1954. Damit wurde in den fünfziger Jahren im wesentlichen „eine Politik der sich selbst erfüllenden Prophezeiung betrieben" 18, die für LKW, Omnibus und PKW die Straßen in Westberlin radikal freimachte. Besonderes Gewicht bei der Entscheidungsfindung kam der politischen Instrumentalisierung des Berliner Nahverkehrs im Rahmen des Kalten Krieges zu. Beide Seiten benutzten die verschiedenen Nahverkehrsmittel als politische Druckmittel oder zur Demonstration ideologischer Befindlichkeiten. 19 Vor allem die sowjetische Berlin-Blockade (1948) hatte in Westberlin eine Art Psychose erzeugt, da der politische Erpressungsversuch recht deutlich die Verletzbarkeit Westberlins im Be15 Lediglich die LKW-Motorisierung und damit auch die Produktion von Omnibussen hatte nach 1949 aufgrund steuerpolitischer Vorteile, die noch aus der NS-Zeit stammten, beachtliche Zuwachsraten in Westdeutschland zu verzeichnen; Klenke, S. 5 u. S. 13ff.; Wolf, Winfried, Berlin - Weltstadt ohne Auto? Verkehrsgeschichte 1848-2015, Köln 1994, S. 96. 16 Klenke, S. 5. π Wolf, S. 98. is Ebd. S. 96. 19 Wangemann, S. 157 u. S. 167; Hilkenbach, Sigurd/Kramer, Wolfgang, Die Straßenbahnen in Berlin, Düsseldorf 1994, S. 76 u. S. 82; Landesarchiv Berlin (LAB), Rep. 11/47, Protokoll der Direktionssitzung vom 23. 01. 1953, Nr. 1/53.

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reich der Infrastruktursysteme - der städtischen Lebensadern - gezeigt hatte. In den fünfziger Jahren setzten die Verantwortlichen deshalb auch andere Prioritäten bei der Nahverkehrseptwicklung als in Ostberlin, um eine größere Unabhängigkeit zu erlangen und weniger Angriffsfläche zu bieten. Grundsätzlich bestanden damit für Berlin im Vergleich zu anderen deutschen Städten besondere Handlungsprämissen. Ab den fünfziger Jahren legte man bei der Stadt- und Verkehrsgestaltung außerdem mehr und mehr einen gewissen missionarischen Eifer an den Tag, der darauf abzielte, die jeweilige Stadthälfte als „Schaufenster" für den vermeintlich besseren Gesellschaftsentwurf herzurichten. 20 So verkündete der Regierende Bürgermeister von Westberlin Ernst Reuter in einer Botschaft an die Ostberliner Bevölkerung im Juli 1953: „Alles, was wir tun können, um durch den Aufbau unserer eigenen Stadt Euch zu zeigen, wie Eure eigene Zukunft sein kann und sein wird, wenn ihr frei seid". 21 Umgekehrt wurde die städtebauliche Entwicklung im Westen und die damit verbundene Nahverkehrspolitik als Zeichen imperialistischer Fremdherrschaft in Deutschland bezeichnet.22 Zwar relativierten sich die Ansprüche und Meinungen im Laufe der Zeit entsprechend der wechselnden politischen Situation, doch die Vorbildrolle wurde bei den Stadt- und Nahverkehrsentwürfen immer mitgedacht und blieb ein gewichtiges Einflußkriterium bis 1989. Entscheidungshintergrund - Hinzu kamen handfeste Interessen von Seiten der Industrie. So bot die Omnibusindustrie einen speziell für Berlin entwickelten Doppeldecker-Bus an. Damit ein kostendeckendes Betriebsergebnis zustande kam, war die Industrie an größeren Bauserien sehr interessiert. Dagegen war die Produktion von Straßenbahnfahrzeugen im Auftrage der BVG/West für die Berliner Waggonund Elektroindustrie nicht unbedingt notwendig, da diese mit der Projektierung neuer U-Bahn-Fahrzeuge für Berlin und der Produktion von Straßenbahnfahrzeugen für andere deutsche Städte ausgelastet war. 23 In der Industrie wurde deshalb eine Entscheidung gegen die Straßenbahn schon allein unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit und der Absatzlage als vorteilhaft erachtet. Entsprechend dürfte der Druck auf die kommunalen Entscheidungsträger gewesen sein. Zu berücksichtigen ist zusätzlich, daß von den verantwortlichen Politikern sich niemand dem Aufschwung des motorisierten Straßenverkehrs und der aggressiv auftretenden LKW20 Schätzke, Andreas, Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945- 1955, (Bauwelt Fundamente, 95) Braunschweig/Wiesbaden 1991, S. 42-45; Lehner, Friedrich, Der öffentliche Großstadtverkehr in den USA. Erlebtes, Erschautes, Erfragtes, in: Verkehr und Technik (Sonderheft USA), 13 (1960), S. 2-31. 21 LAB, Rep. 200, Nachlaß Reuter/111. Ernst Reuter zur Wiederaufnahme des Verkehrs zwischen West- und Ost-Berlin am 09. 07. 1953. 22

Durth, Werner/Gutschow, Niels, Träume in Trümmern. Stadtplanung 1940-1950, (dtv Wissenschaft 4604) München 1993, S. 174. 23 Berlin wählt Straßenbahn, in: SIGNAL-Sonderausgabe, (= hg. von der Gesellschaft für Verkehrspolitik und Eisenbahnwesen e.V.), Berlin 1995, S. 8; Gammrath, Dietmar/Jung, Heinz, Berliner Omnibusse, Düsseldorf 1988, S. 26-28 u. S. 62-63; Wangemann, S. 173.

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Lobby in den Weg stellen wollte 24 , zumal die Straßenbahn als veraltet galt und der Omnibus neben dem PKW als ein Sinnbild des „neuzeitlichen" Stadtverkehrs angesehen wurde. Die Vorstellung von der „autogerechten Stadt" und die politische Instrumentalisierung des Nahverkehrs beeinflußten den Entscheidungsablauf um die Stillegung der Straßenbahn in Westberlin nachhaltig. Auch argumentierten die Verantwortlichen rechtfertigend, daß andere Metropolen (ζ. B. Paris, London, New York) „auch ohne Straßenbahnen auskamen"25 und Westberlin als wiederauflebende Metropole diesen internationalen Trend mitgehen sollte. Entscheidungsablauf - Mit der Spaltung der BVG (1949) setzte bei der BVG/ West eine Konsolidierungsphase ein, da die Hälfte der Anlagen, Fahrzeuge, Gebäude und noch anderer Betriebsmittel nach der Spaltung zur BVG/Ost gehörten. Eine Neuorganisation der Verwaltungs- und Betriebsstrukturen war deshalb dringend erforderlich. Vor allem mußten die halbierten Verkehrsaufgaben neu ausgerichtet und die auf Verschleiß gefahrenen Anlagen bzw. Fahrzeuge ersetzt werden. Die schwierige Finanz- und Wirtschaftslage Westberlins setzte aber gerade der dringend notwendigen Modernisierung Grenzen. Der Rekonstruktions- und Modernisierungsbedarf im Bereich U-Bahn und Omnibus der BVG/West war ähnlich oder noch größer. Etwa Ende 1950 konnte bei der Straßenbahn die Konsolidierungsphase abgeschlossen werden. 26 Zu diesem Zeitpunkt wurde jeweils ein Großraumwagen von AEG und Siemens aus Mitteln des European Recovery Programm (ERP) von der BVG/West bestellt.27 Nach der Erprobung dieser beiden Großraumwagen wollte sich die BVG für einen von den beiden Großraumwagentypen entscheiden und mit einer größeren Stückzahl die fällige Modernisierung der Straßenbahn durchführen. Die erste große Aussonderung von veralteten Fahrzeugen wurde im Dezember 1952 beschlossen und betraf 171 Fahrzeuge.28 Die Erprobung der Großraumwagen zeichnete sich jedoch durch Konzeptionslosigkeit aus, da nur zwei Fahrzeuge dieser Art auf einer Linie eingesetzt wurden. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn die BVG eine Linie typenrein mit Großraumwagen ausgestattet hätte. „(E)rst auf diese Weise hätte sich wirklich ein objektives Bild über die Möglichkeiten des Großraumwagens ergeben". 29 So war es nicht verwunderlich, daß die Erprobung mehr und mehr als Mißerfolg bewertetet wurde. Interessanterweise sind nicht technische Erprobungsmängel von den BVG-Verantwortlichen beanstandet worden, sondern rein betriebliche Schwierigkeiten 30 mußten später als Argu-

24 Klenke, S. 14. 25 Gammrath/Jung, S. 28. 26 Hilkenbach/Kramer, S. 76-77; Wangemann, S. 166; LAB, Rep. 11/47, Protokoll der Direktionssitzung vom 18. 04. 1950, Nr. 7/50, ebd., Protokoll der Direktionssitzung vom 08. 09. 1950, Nr. 18/50; ebd., Protokoll der Direktionssitzung vom 05. 12. 1950, Nr. 24/50. 27 Ebd., Protokoll der Direktionssitzung vom 18. 12. 1951, Nr. 17/51; ebd., Vermerk vom 07.01. 1952. 28 Ebd., Protokoll der Direktionssitzung vom 15. 12. 1952, Nr. 12/52. 29 Wangemann, S. 169.

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Burghard Ciesla und Barbara Schmucki

mente bei der Entscheidung gegen die Großraumwagen herhalten. Noch während der Erprobung bewarb sich die BVG um einen weiteren ERP-Kredit in Höhe von 12 Millionen DM (Februar 1953).31 Mit diesem sollten 40 Großraum-Straßenbahnzüge und 20 Zweiachsige-Doppeldecker-Omnibusse angeschafft werden. 32 Eine Entscheidung, welcher der beiden in Erprobung befindlichen Straßenbahn-Großraumwagentypen dafür in Frage kam, stand zu diesem Zeitpunkt noch aus. Der Kredit-Verwendungszweck „Straßenbahnen und Autobusse" wurde jedoch vom Abgeordnetenhaus in „Straßenbahn oder Autobusse" geändert. 33 Im April 1953 traf der Ablehnungsbescheid für den 12 Millionen DM Kredit aus ERP-Mitteln bei der BVG ein. Sofort sprang die Sparkasse der Stadt Berlin (West) ein und gewährte einen Kredit in gleicher Höhe und zu gleichen Konditionen.34 Am 28. August 1953 wurde schließlich im „BVG-Beirat" entschieden. Mit dem Kredit sollte die Anschaffung von 140 Doppeldecker-Bussen finanziert werden. Der Beirat setzte sich aus je fünf Vertretern des Senats und des Abgeordnetenhauses sowie zwei BVG-Personalvertretern zusammen. Am Tage der Entscheidung waren von diesem Gremium nur 9 Vertreter anwesend. Der Beschluß des BVG-Beirates fiel mit 7 zu einer Stimmen bei einer Einhaltung gegen die Straßenbahn zugunsten der Omnibusse aus. Im Januar 1954 stimmte auch der Senat diesem Beschluß zu und machte die Entscheidung damit rechtskräftig. 35 Inwieweit hier die schon unter dem Abschnitt Entscheidungshintergrund geschilderten Zusammenhänge eine Rolle gespielt haben, kann bisher nur vermutet werden. Der Einfluß der Berliner Industrie und des neuen Kreditgebers scheinen durchaus eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Außerdem erhielt Rolf Schwendler (SPD) 1955 die für nahverkehrspolitische Entscheidungen wichtige Position des Bausenators.36 Schwendler war für seine Bewunderung amerikanischer Verkehrsverhältnisse bekannt. Nach einer Studienreise in die USA wurde berichtet: „Was er (Schwendler) dann (...) in den USA sah, begeisterte ihn so, daß er auch Berlin zur 'autogerechten Stadt' machen wollte". 37 Insofern war es nicht weiter verwunderlich, daß im Mai 1956 ein weiterer Antrag zur Neubeschaffung von Straßenbahnfahrzeugen abgelehnt wurde. 38 30 Bei den Großraumwagen handelte es sich um Ein-Richtungs-Züge die nur auf Strecken mit Wendeschleifen eingesetzt werden konnten. Ebenfalls wurde bemängelt, daß der Schaffner Mühe hatte, das Ein- und Aussteigen zu überwachen. Dadurch entstanden bis zu 20% längere Aufenthalte an den Haltestellen. Des weiteren wurde angeführt, daß die Fahrzeuge zu groß bemessen seien, so daß ihr Einsatz nicht wirtschaftlich genug wäre; Berlin wählt Straßenbahn, S. 7-8. 31 LAB, Rep. 11/47, Protokoll der Direktionssitzung vom 24. 02. 1953, Nr. 2/53. 32 Ebda. 33 Berlin wählt Straßenbahn, S. 7. 34 LAB, Rep. 11/47, Protokoll der Direktionssitzung vom 10. 04. 1953, Nr. 4/53. 35 Berlin wählt Straßenbahn, S. 7; Wolf, S. 95. 36 Wangemann, S. 175. 37 Zitiert bei ebd., S. 132.

Stadttechnik und Nahverkehrspolitik

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E. Straßenbahn in Ostberlin - eine Alternative als Notlösung Kurzbeschreibung des Entscheidungsprozesses - In Ostberlin bildete die Straßenbahn zusammen mit der S-Bahn ohne Unterbrechung bis 1990 das Grundgerüst des öffentlichen Nahverkehrs. Die Streckenstillegungen bei der Straßenbahn (1951-1975) hielten sich in Ostberlin schon aufgrund fehlender Investitionsmittel für eine andere Verkehrsinfrastruktur in Grenzen. Mit dem Beschluß des Wohnungsbauprogramms durch die SED (1971) erhielt der Verkehrsträger Straßenbahn einen unerwarteten Entwicklungsschub, da nun eine Stadttechnik benötigt wurde, die eine schnelle Anbindung der neuen Wohngebiete ermöglichte und vor allem billig war. Schnell, billig und der Rohstoffsituation der DDR am besten angepaßt war ohne Zweifel die Straßenbahn. Anfang 1974 fiel die Entscheidung, das Straßenbahnsystem in Ostberlin großzügig auszubauen.39 Ab 1976 bekamen die Berliner· Verkehrs-Betriebe (BVB) neue Straßenbahnen vom Typ Tatra aus der CSSR (1967-1988: 583 Fahrzeuge) bei gleichzeitiger Aussonderung veralteter Fahrzeuge. Neben der umfangreichen Rekonstruktion des bestehenden Streckensystems wurden zwischen 1979 und 1991 auch rund 26 Kilometer Straßenbahnstrecke neu gebaut. 40 Insgesamt wuchs das Liniennetz von 326,7 Kilometer im Jahre 1970 auf 637,7 Kilometer im Jahre 1989 an. 41 Einflußfaktoren - Ein vollkommener Verzicht auf die Straßenbahn stand in Ostberlin zwischen 1945 und 1990 nie zur Debatte. Eine Diskussion darum gab es schon deshalb nicht, weil wie schon erwähnt ganz allgemein die harten wirtschaftlichen, städtebaulichen und ideologischen Realitäten in der DDR die wirtschaftlichen Möglichkeiten und verkehrspolitischen Gestaltungsfreiheiten außerordentlich einschränkten. 42 Trotzdem waren bis Anfang der siebziger Jahre auch im Ostteil der Stadt erhebliche Streckenreduzierungen bei einem gleichzeitigen Ausbau von U-Bahn und einer Förderung des Omnibusses vorgesehen. Von dem 174 Kilometer umfassenden Streckennetz der Straßenbahn sollten laut Nahverkehrsentwurf (GVP 1967), der an die konzeptionellen Vorstellungen der Verkehrsplanung vor 1945 anknüpfte 43, nur noch 65 Kilometer verbleiben. Dafür waren rund 36 Kilometer 38 LAB, Rep. 11, Protokoll der Direktionssitzung vom 28. 05. 1956, Nr. 2/56, Nr. 47. 39

Ciesla, Burghard, Öffentlicher Nahverkehr in einer geteilten Stadt: Grundzüge der Entwicklung in Berlin 1945 bis 1990, in: Dienel, Hans-Liudger/Schmucki, Barbara, Mobilität für alle. Geschichte des öffentlichen Personenverkehrs in der Stadt zwischen technischem Fortschritt und sozialer Pflicht, in Druck. 40 Hilkenbach/Kramer, S. 87-88. Statistisches Jahrbuch Berlin (Ost) 1990, S. 155; Statistisches Jahrbuch der Hauptstadt der DDR Berlin 1972, S. 124. 42 Ciesla, Öffentlicher Nahverkehr. 43 Jung, Gerhard/Lenz, Joachim, Grundzüge und Zielkriterien des Generalverkehrsplans der Hauptstadt der DDR, Berlin, in: Deutsche Eisenbahntechnik 17(1969)/7, S. 333-337; Ciesla, Burghard, U-Bahn oder Straßenbahn? Die hauptstädtische Verkehrsplanung der 60er und 70er Jahre und die Realisierung des Tatra-Programms bis 1985, in: Berliner Geschichte 11(1990), S. 10-23.

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Burghard Ciesla und Barbara Schmucki Graphik 3 Beförderungsleistung der Verkehrsmittel in Mio. Beförderungsfällen, Berlin (Ost), 1957-1986

•Gesamt • Straßenbahn U-Bahn Bus Obus — - - — S-Bahn 1957

1961

1965

1970

1976

1986

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, div. Jg.; Statistisches Jahrbuch Berlin (Ost), div. Jg. Graphik 4 %-Anteil der Verkehrsträger an den Beförderungsfällen, Berlin (Ost), 1957-1986

OS-Bahn • Obus IH Bus Β U-Bahn • Straßenbahn 1957

1961

1965

1970

1976

1986

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, div. Jg.; Statistisches Jahrbuch Berlin (Ost), div. Jg.

U-Bahnstrecke vorgesehen. Die Beförderungsaufgaben der Straßenbahn wollten die Verkehrsplaner vor allem auf die Außenbezirke Ostberlins konzentrieren. Als Leitbild der städtischen Verkehrsentwicklung galt: Tangentiale Berührung des Stadtzentrums, Trennung der Verkehrsströme und kreuzungsfreie Stadtschnellstraßen. Hier wird deutlich, daß sich die Vorstellungen der Ostberliner Verkehrsplaner

Stadttechnik und Nahverkehrspolitik

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eigentlich wenig von denen ihrer Kollegen in Westberlin unterschieden. Diese Feststellung gilt auch für die siebziger und achtziger Jahre. Zwar wollte man die „autogerechte Stadt der kapitalistischen Welt" nie nachempfinden, doch alternative Ideen zur „Auto-Stadt" boten auch die Ostberliner Nahverkehrsentwürfe nicht an. Die Stadt- und Verkehrsplanung Ostberlins entwickelte sich mit ihren technokratischen Lösungsangeboten in den bekannten westeuropäischen Bahnen.44 Wie im Westen wurde auch die Situation im öffentlichen Nahverkehr Ostberlins „von der großen und ungebrochenen Nachfrage nach Privatwagen und dem gleichbleibend hohen ungedeckten Bedarf an infrastrukturellen Investitionen für den Straßenverkehr und (...) für den öffentlichen Personenverkehr" 45 beeinflußt. Immerhin kam es zu einer Verachtfachung der zugelassenen PKW in Ostberlin von 1963 bis 1989, d. h. tendenziell stand der städtische Nahverkehr in Ostberlin vor den gleichen Problemen wie im Westteil der Stadt. Graphik 5 Pkw-Entwicklung in Ostberlin zugelassene Fahrzeuge per 31.12., 1963-1989

Quelle: Statistisches Jahrbuch Berlin (Ost), div. Jg.

Diese Probleme traten jedoch auf andere Art in Erscheinung als in Westberlin. Obwohl schon sehr frühzeitig eine „Erhöhung der Beförderungskultur" 46 angekündigt wurde, trug die Qualität der Massenverkehrsmittel in Ostberlin wenig dazu bei, das Bedürfnis auf Verzicht nach individuellen Fortbewegungsmitteln zu unterdrücken. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Ostberliner Straßenbahn betrug aufgrund der auf Verschleiß gefahrenen Nahverkehrsmittel und den nicht ausreichend vorgenommenen Modernisierungen beispielsweise zu Beginn der siebziger Jahre 16 km/h. Dagegen erreichten individuelle Verkehrsmittel damals noch 44 Werner, Frank, Stadt, Stadtbau, Architektur in der DDR, Erlangen 1981, S. 80-85. 45 Ebd., S. 81. 46 Bundesarchiv Abteilungen Potsdam (BArchP), DM 1/2783. 25 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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Burghard Ciesla und Barbara Schmucki

eine Reisegeschwindigkeit von 35 km/h. 47 Insbesondere der Zustand des Streckennetzes der Straßenbahn rief große Besorgnis hervor. So hatten sich allein 1972 die Langsamfahrstrecken von 38,7 km auf 41,2 km erhöht. Die Wirkungen auf die Reisezeit, Fahrplan und Fahrgastsicherheit (ζ. B. Entgleisungen) waren bedenklich. 4 8 Die Nahverkehrsentwicklung in Ostberlin wurde außerdem stark durch die Sonderstellung der Stadt innerhalb der DDR geprägt. Gerade mit dem Ausbau des Stadtzentrums ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und dem direkt Ostberlin betreffenden Wohnungsbauprogramm (1973) wurden der Stadt für DDR-Verhältnisse enorme Baukapazitäten und Investitionsmittel zugeteilt, die gleichzeitig den Bezirken der DDR entzogen wurden. Gerade in den sechziger und siebziger Jahren hatte diese Vorgehensweise verheerende Folgen für die praktische Umsetzung der Stadt- und Verkehrsplanungen in den Bezirken der DDR. 4 9 Entscheidungshintergrund und -ablauf - Die Entscheidung für den Ausbau des Straßenbahnsystems in Ostberlin hängt eng mit den Beschlüssen der SED zu den Wohnungsbauprogrammen (1971/ für Berlin 1973) zusammen. Die großzügigen U-Bahn-Planungen der sechziger Jahre hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt immer weiter verzögert. Von den geplanten umfangreichen Streckenerweiterungen waren bis zum Juni 1973 lediglich 1,2 Kilometer gebaut worden. Für diese 1,2 Kilometer benötigte man ganze 4 Jahre. 50 Für eine schnelle Anbindung der geplanten Neubaugebiete mit der U-Bahn fehlten letztendlich ganz einfach Zeit, bautechnisches Know-how, finanzielle Mittel und entsprechende Baukapazitäten. Vor allem wurden Probleme bei der Finanzierung immer wieder geltend gemacht, die mit dem Wohnungsbauprogramm, den Repräsentationsvorhaben im Stadtzentrum (ζ. B. Palast der Republik), dem Bau von Botschaften („Anerkennungswelle") und den Vorleistungen für die X. Weltfestspiele der Jugend (1973) eng zusammenhingen. Aus diesen Gründen suchte man vor allem eine billigere Lösung als den U-Bahnbau, der mit rund 1 Mrd. DM-Ost veranschlagt worden war. 51 Im Vergleich dazu standen allein für den Auf- und Ausbau des Stadtzentrums und der Botschaften 1,3 Mrd. DM-Ost zu Buche. Demgegenüber wurde von den Verkehrsexperten bis zum Linieneinsatz der neuen Straßenbahnfahrzeuge vom Typ Tatra eine Summe von etwa 110 Mill. DM-Ost 52 veranschlagt. Aus diesem Blickwinkel wird zumindest 47 LAB (STA), Rep. 775 (Kombinat Berliner Verkehrsbetriebe-B VB), 114/76 (im folgenden die Signatur-Nummern des Bestandes des ehemaligen Archivs des Kombinat Berliner Verkehrsbetriebe. Dieser Bestand wurde vom BVB-Archiv an das LAB übergeben und ist bei der Außenstelle STA des LAB einsehbar); Rüger, Siegfried, Der Personenverkehr in Ballungsgebieten - Probleme und Lösungswege, in: DDR-Verkehr 4(1971), S. 140. 48 LAB, Rep. 775, BVB, 22/76, 300/77 und 287/77. 49 Vgl. unter anderem bei Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv (SAPMO-BArch), vorl. SED, Abteilung Transport- und Nachrichtenwesen, 39575/2. 50 Ciesla, U-Bahn, S. 12. 51 Ebd., S. 13. 52 Ebd., S. 17.

Stadttechnik und Nahverkehrspolitik

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leicht verständlich, warum sich der Magistrat von Ostberlin Anfang 1974 zum Ausbau der Straßenbahn entschloß. In der Richtlinie zur Tatra-Entscheidung heißt es: „Beginn des Aufbaus eines Schnellstraßenbahnsystems durch den schrittweisen Einsatz von Tatra-Fahrzeugen auf den wichtigsten Radialen nach Weißensee, Heinersdorf, Biesdorf und Hohenschönhausen".53 Hinter dieser Entscheidung des Magistrats muß jedoch vor allem der Einfluß des ZK der SED bzw. des Politbüros gesehen werden, da der Ausbau Berlins im wesentlichen nicht ohne die Kenntnisnahme und Zustimmung der SED-Führung vonstatten ging. Andererseits trat die Verkehrsplanung Ostberlins und damit auch die Nahverkehrspolitik des Magistrats mit dem Wohnungsbauprogramm hinter die Stadtplanung. Insgesamt war die Entscheidung, die Straßenbahn in Ostberlin auszubauen, für die Verantwortlichen eine Notlösung gewesen. Die Tatsache, daß sich diese Stadttechnik international zunehmend als Alternative zu anderen Stadttechniken des öffentlichen Nahverkehrs und zum Individualverkehr entwickelte, spielte bei der Entscheidungsfindung in Ostberlin keine wesentliche Rolle.

F. Die „kapitalistische" Straßenbahnstadt (München) Kurzbeschreibung des Entscheidungsprozesses - In München blieb die Straßenbahn im Gegensatz zu anderen westdeutschen Städten im Verkehrssystem erhalten. In den fünfziger Jahren erfolgte eine systematische Modernisierung dieses Verkehrsmittels. Allerdings verlagerte sich die Bedeutung ihres Stellenwertes zunehmend zugunsten des Busses. Der Anteil der Straßenbahn an der Betriebsleistung 54 des gesamten öffentlichen Verkehrs sank von 100% nach dem Krieg bis Anfang der sechziger Jahre auf 75%. Aber nicht nur der Bus avancierte zu einer veritablen Konkurrenz, sondern auch die U-Bahn stellte das längerfristige Bestehen der Straßenbahn als Hauptverkehrsmittel zunehmend in Frage. Der Entscheid des Stadtrates 1964 anstelle der geplanten unterirdischen Straßenbahn eine U-Bahn zu bauen, hatte gravierende Folgen für die Ausgestaltung des Liniennetzes. Noch wurde die Straßenbahn in den sechziger Jahren als notwendige Übergangslösung zur U-Bahn ausgebaut und leistungsfähig erhalten. Allerdings erhielt die U-Bahn dank der Olympischen Spiele 1972, die 1966 München zugesprochen worden waren, eine ungeahnte Förderung, die ihren Bau enorm beschleunigte. Mit ihrer vorzeitigen Eröffnung 1971 wurden 53 Zitiert bei ebd., S. 16. 54 Die Betriebsleistung ist die von Fahrzeugen erbrachte Leistung. Die Größe „Wagenkilometer" macht sowohl Aussagen über gefahrene Distanzen als auch über die eingesetzten Wagen. Damit läßt sich das Angebot im städtischen Nahverkehr umreißen. Die Beförderungsleistung wird in Beförderungsfällen gemessen und verdeutlicht die im Personenverkehr in Anspruch genommene Leistung. Dadurch wird etwas über die Nachfrage nach den Verkehrsmitteln ausgesagt.

25*

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Burghard Ciesla und Barbara Schmucki Graphik 6 Beförderungsfalle der Verkehrsmittel in Mio. Beförderungsfällen, München, 1945-1990

"Gesamt - Straßenbahn U-Bahn - - - • Bus — - — - S-Bahn

1956

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Quelle: Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt München, div. Jg., Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsberichte, div Jg. Ab 1971 zusammen mit S-Bahn (Münchner Verkehrs verbünd, M W ) . Graphik 7 %-Anteil der Verkehrsträger an den Beförderungsfallen, München, 1945-1990

• S-Bahn Dl Bus • Obus S U-Bahn • Straßenbahn

c o c o c n o t D O L O o - ^ - L O c n c o o ^ ^ r r r L n m c D O D r - r ^ - r - r ^ c o c D O i Q o i a i m f f l o i o l O î O i o i a i o i Quelle: Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt München, div. Jg., Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsberichte, div Jg. Ab 1971 zusammen mit S-Bahn (Münchner Verkehrs verbünd, M W ) . die Straßenbahnen großflächig aufgehoben. Ihr Anteil am Verkehrsangebot halbierte sich 1968 bis 1975 auf einen Anteil von 35%. Ende der siebziger Jahre stand die Entscheidung zu Diskussion, die Straßenbahn gänzlich abzuschaffen. Die stark emotionale Auseinandersetzung um die Frage Tram oder Bus wurde mit dem Beschluß des Stadtrats 1985 beendet. Danach sollte die Straßenbahn i m öffentlichen

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Verkehrssystem Münchens behalten und die Grundlage für eine Aufwertung dieses traditionellen Nahverkehrsmittels geschaffen werden. Einflußfaktoren - Die Entscheidungsfindung um die Beibehaltung der Straßenbahn in München war ebenso wie in Westberlin von einem Leitbild in der Verkehrsplanung geprägt, daß zunehmend den Automobilverkehr ins Zentrum rückte. Allerdings wies diese Entwicklung in bezug auf die Straßenbahn eine abgeschwächtere Stringenz auf, als das in Westberlin der Fall war. Der 6. Generallinienplan 1952, der von Stadt und Verkehrsbetrieben ausgearbeitet worden war und erstmals nach dem Krieg Planungsgrundlagen für den Stadtverkehr festlegte, maß der Straßenbahn noch eine wichtigen Stellenwert im Verkehrssystem zu. 55 Unter dem Eindruck des allgemeinen Wandels durch Wirtschaftsaufschwung und Motorisierung in den fünfziger Jahren veränderten sich die allgemein gültigen Leitbilder in der Verkehrsplanung und erhielten auch in München allmählich politische Durchschlagskraft. Die Verkehrsplanung erfolgte zunehmend nach neuen Maßstäben des Leitbilds der „Trennung der Verkehrsarten", womit Autoverkehr und Schienenverkehr gemeint waren. Dem Straßenverkehr und damit dem Straßenbau wurde dabei das bedeutend größere Interesse entgegengebracht. So konzentrierte sich das Gutachten zur Verkehrsplanung 1956 ausschließlich auf die Straßennetzgestaltung. Der öffentliche Verkehr wurde erst in einem Zusatz berücksichtigt. 56 Doch noch immer erhielt im Rahmen des öffentlichen Verkehrs die Straßenbahn höchste Priorität, die als „wirtschaftlichstes Massenverkehrsmittel solange als möglich, ggf. durch Maßnahmen an der Oberfläche, beibehalten und durch eigene Bahnkörper unterstützt werden sollte". 57 Der öffentliche Personenverkehr galt aber schon nicht mehr als zukunftsweisend. Die Prognosen des Gutachtens zeigen dies deutlich: Man prognostizierte eine Stagnation, ja sogar einen Rückgang des Anteils an der Personenbeförderungsleistung in der Stadt von ca. 80% auf 40-50% bis 1975. Diese Tendenz, den öffentlichen Verkehr als isolierten Zusatz der Straßennetzplanung unterzuordnen, setzte sich im General verkehrsplan von 1958 und im Stadtentwicklungsplan von 1963 fort. 58 Letztere hatten zum Ziel, den Durchgangsverkehr von der Innenstadt fernzuhalten und ihn auf einen noch auszubauenden 55 6. Generallinienplan 1952. Stadtarchiv München, Verkehrsbetriebe 50. Der Generallinienplan sah das öffentliche Verkehrsnetz als ein System von drei Ringen und Radialachsen, wobei das Stadtinnere grundsätzlich von Straßenbahnen erschlossen werden sollte. 56 Sondergutachten Dr. Lübbecke über die Eingliederung der Massen Verkehrsmittel 1965, ebda. 57 Gutachten zur Verkehrsplanung, Generalbericht 1956, ebda. Das Gutachten wurde durch die Arbeitsgemeinschaft für Verkehrsplanung München, Ingenieurbüro Dorsch-Gehrmann, F.H. Kocks KG, erstellt und behandelte hauptsächlich die Frage der Zusammenfassung der an der Stadtgrenze endenden drei Autobahnen. 58 Stadtentwicklungsplan 1962, München 1962; Olympiastadt München, Straßen- und Verkehrsausbau eines Jahrhunderts, Bonn-Bad Godesberg 1972, S. 4.

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„Mittleren Ring" zu konzentrieren. Widersprüchlicherweise war trotzdem auch für die Innenstadt der Ausbau zahlreicher Radialstraßen mit kreuzungsfreien Knotenpunkten vorgesehen. Für den öffentlichen Verkehr gingen die Vorstellungen dahin, daß weiterhin die Straßenbahn das Hauptverkehrsmittel in einem radialen Netz sein sollte. Die Trennung der Verkehrsarten machte dabei einen Schritt vorwärts: Zum einen sollte die Straßenbahn durch das Abtauchen in den Untergrund aus der Straßenoberfläche verschwinden, um dort mehr Platz zu schaffen. Zum anderen galt sie nicht mehr als zukunftsträchtiges Verkehrsmittel. War im Generalverkehrsplan von 1958 noch eine reine Straßenbahn im Untergrund vorgesehen, stellte sie 1963 nur noch eine Übergangsform zur U-Bahn dar. Damit stand von der Planungsvorgabe für München fest, daß die Straßenbahn längerfristig ihre Stellung im Verkehrssystem abgeben, wenn nicht gar aufgeben würde. Das öffentliche Verkehrssystem wurde sternförmig auf die City ausgerichtet. Obwohl der Stadtentwicklungsplan von 1975 versuchte, diesen Prozeß abzuschwächen und einen Übergang von der monozentristisch ausgebauten Stadt zum Polyzentrum anstrebte, beinhaltete dieser Netzplan für die öffentlichen Verkehrsmittel keinerlei konkrete Korrektur gegenüber dem Plan von 1963.59 Das radiale U-Bahnsystem als Rückgrat sollte weiterhin durch Straßenbahn und Bus ergänzt werden. In der Umsetzung wurden alsbald Straßenbahnen stillgelegt und durch Busse ersetzt. Das Liniennetz der Straßenbahn schrumpfte von seiner größten Ausdehnung 1964 von 134,6 km auf 104,6 km 1978. Die größte geplante Stillegung in der Geschichte der Straßenbahn bei der Inbetriebnahme der Linie U 8 (Olympiazentrum-Neuperlach Süd) 1978 evozierte erstmals massive Proteste in der Öffentlichkeit, die Druck zugunsten der Straßenbahn auf die Verkehrspolitik ausübten. Die Entscheidung um die Stillegung wurde damit aus der Isolation des Kompetenzbereichs der kommunalen Planungsbehörde und Verkehrsbetriebe gerissen und aufgrund neuer Gutachten revidiert: die Straßenbahn wurde weniger schnell aus dem Verkehr gezogen und blieb dadurch erhalten. Im Rahmen der ökologischen Krise und des drohenden Verkehrsinfarkts der Städte hatte sich in den achtziger Jahren schließlich ein Leitbild entwickelt und durchgesetzt, welches die Straßenbahn wieder ins Verkehrssystem einbezog.60 Entscheidungshintergrund - Das unerwartet starke Bevölkerungswachstum und die gleichzeitig zunehmende Zahl der Pkws machten die Ende der vierziger Jahre entstandenen Verkehrsplanungen schon Mitte der fünfziger Jahre wieder zunichte. Die Einwohnerzahl hatte ausgehend von einem Nachkriegsstand von 480000 die Millionengrenze 1957 überschritten und stand 1962 - mit der größten jährlichen Zuwachsrate - auf 1139000. Der Gesamtumsatz der Münchner Wirtschaft betrug

59 Schneider, Wolfgang, In München hat die Trambahn eine Zukunft, (Münchner Forum, Sammlungsreihe, 26) München 1982, S. 12. 60 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Gutachten „ÖV 2000", München 1982; ÖVGutachten, 4 Bd., München 1983.

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1950 6 Milliarden DM, 1960 22 Milliarden DM. Anfang der sechziger Jahre kamen täglich 100000 Pendler in die Stadt; vor dem Krieg waren es 13000. Lag der Motorisierungsgrad 1950 bei 24 Pkw/1000 Einwohner, betrug er 1960 bereits 159 Pkw/1000 Einwohner. 61 Mit diesem rasanten Wachstum der fünfziger und sechziger Jahre hatte die Stadt- und Verkehrsplanung nicht gerechnet. Ihre Konzepte beruhten auf Expertengutachten, die 1950 vorausgesagt hatten, daß mit einem Absinken der Münchner Bevölkerung auf 683 000 Personen 1975 zu rechnen sei. Unter dem starken Eindruck der Motorisierung wurde die „Verkehrsnot" in den Städten zum viel diskutierten Politikum, das Ende der fünfziger Jahre der Lösung harrte. 62 Das Primat des Individualverkehrs in der „autogerechten Stadt" drückte Verkehrsplanung und Verkehrspolitik den Stempel auf, der öffentliche Verkehr erhielt zunehmend die Funktion der Ergänzung des Individualverkehrs. Deutlich wird dies in der Einschätzung des auf seine Münchner Amtszeit zurückblickenden Oberbürgermeisters Vogel: „Gegen das Auto Stellung zu nehmen, war deshalb (das Auto galt als Symbol des Wiederaufstiegs d.V.) in den fünfziger Jahren für einen Politiker nahezu lebensgefährlich." 63 Der öffentliche Verkehr, insbesondere die Straßenbahn, wurde in der politischen Diskussion um die Verkehrsnot - ähnlich wie in West-Berlin - für die Behinderung des individuellen Straßenverkehrs verantwortlich gemacht.64 Beim Regierungsantritt von Oberbürgermeister Vogel (SPD) 1960 gab es allerdings noch keinen Verkehrsplaner im engeren Sinne. Im Zeichen des Wachstums setzte Vogel deshalb um so mehr auf den Aufbau eines funktionstüchtigen Stadtplanungsamtes, das eine langfristige, koordinierte Planung auch in Hinsicht auf den Verkehr verwirklichen sollte. Mit dem Stadtentwicklungsplan von 196365 wurden diese Ansprüche teilweise verwirklicht. Die Zielvorstellungen des Plans richteten sich aber nach der herrschenden Vorstellung der Wachstumsideologie und nahmen daher die Motorisierung als eine Art Naturgesetz hin. Deshalb wurde auf die Verbesserung des Nahverkehrs durch die Verlegung des Schienenverkehrs in den Untergrund gesetzt. Während am Ausbau der U-Bahn ein ganzes Referat arbeitete, das Maßnahmen und Veränderungen sehr schnell umsetzen konnte, blieb derweil das Interesse für die Straßenbahn gering. Obwohl beim Entscheid zugunsten der U-Bahn die Bewerbung für die Olympischen Spiele 1972 scheinbar keine Rolle spielte, da diese „Idee" erst im Herbst 1965 geboren wurde, trug die Nomination Münchens zu einer Halbierung der geplanten Bauzeit und zur massiven finanziellen Förderung durch Bund und Land bei. 66 61

Statistisches Jahrbuch der Landeshauptstadt München, div. Jahrgänge. Ohmer, H., Betrachtungen zur Verkehrsnot in München, in: Verkehr und Technik 2(1955), S. 40-41. 63 Vogel, Hans-Jochen, Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre. Ein Erlebnisbericht, München 1972, S. 69. 64 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1961, S. 23. 65 Der Stadtentwicklungsplan war am 10. 7. 1963 von der Vollversammlung des Stadtrats genehmigt worden. 62

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Die seit 1974 rückläufige, in den achtziger Jahren stagnierende Bevölkerungsentwicklung (ca. 1280000 Einwohner), das kaum noch zunehmende quantitative Wachstum an Arbeitsplätzen, der weiterhin stark gestiegene Motorisierungsgrad (262 Pkw/1000 Einwohner 1970, 385 Pkw/1000 Einwohner 1980) und veränderte Wirtschaftsfaktoren bildeten neue, planungstechnisch nicht erwartete Rahmenbedingungen. Diese Entscheidungen beeinflußten wiederum die Straßenbahn maßgeblich. Mit der Umsetzung des Stadtentwicklungsplans 1983 bewilligte der Stadtrat nun das Grundkonzept eines integrierten ÖPNV-Netzes, das alle Verkehrsmittel gleichermaßen berücksichtigte, und sich gegen eine überholte Straßenplanung stellte.67 Entscheidungsablauf - Die Verkehrsbetriebe konnten in den fünfziger Jahren aufgrund des Investitionsprogramms für die Neuanschaffungen von Straßenbahngroßraumwagen (1952) vorerst den Wagenpark systematisch erneuern; der Stadtrat genehmigte 1953 eine Verlängerung für die Wirtschaftsjahre 1954-56.68 Bis 1955 waren 9 Linien auf Großraumwagen umgestellt, 77 veraltete Triebwagen von 1898-1908 verschrottet und 30 modernisiert worden. München besaß zu diesem Zeitpunkt mit 113 Trieb- und 91 Beiwagen nach Hamburg die zweitgrößte Anzahl Großraumwagen in der BRD. 6 9 In Zusammenarbeit mit der ansässigen Industrie erprobten die Münchner Verkehrsbetriebe seit 1948 3-achsige Lenkgestellfahrzeuge. Die Prototypen unter der Bezeichnung „München" wurden dem Stadtrat 1950 vorgestellt und ab Mai 1950 in Dienst genommen.70 Bereits 1955 galt die Verlegung der Straßenbahn in den Untergrund als erstrebenswerte Lösung der Verkehrsnot in München. Der Stadtrat billigte ein unterirdisches Straßenbahnsystem als Teil des General verkehrsplanes. 71 Die Umsetzung dieses städtischen Vorhabens verzögerte und veränderte sich jedoch in der Auseinandersetzung mit der Bundesbahn, die die Linienführung der Straßenbahn aus eigenen Interessen an ihrer Ost-West-Trasse nicht akzeptieren wollte und Einspruch

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Zimniok, Klaus, Eine Stadt geht in den Untergrund. Die Geschichte der Münchner Uund S-Bahn im Spiegel der Zeit, München 1981,S. 65. 67 Buhmann, Dieter, Droht den Großstädten der Verkehrskollaps? Gegenstrategien am Beispiel München, in: SNV Studiengesellschaft Nahverkehr mbH (Hg.), Stadtverkehr 2000. Chancen des öffentlichen Nahverkehrs - Notwendigkeiten zur Veränderung? (Schriftenreihe Verkehr und Technik, 77), Bielefeld 1989, S. 83. 68 Stadtratsbeschluß 10. 11. 1953, Stadtarchiv München, Verkehrsbetriebe 37. 69 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1953, 1; Geschäftsbericht 1958, S. 69; Betriebskennzahlen und kurzer Leistungsbericht für die Zeit seit April 1952, S. 3; Stadtarchiv München, Verkehrsbetriebe 50. 70 Wasil, Heinrich, Münchner Tram. Eine Geschichte der Straßenbahn in München, Düsseldorf 1976, S. 107. 71 Ohmer, H., Betrachtungen zur Verkehrsnot in München, in: Verkehr und Technik 2(1955), S. 40. Eine Verlegung des Schienenverkehrs in den Untergrund mit der Unterpflasterbahn war bereits 1952 beim Generallinienplan „erwogen", allerdings als wirtschaftlich undurchführbar verworfen worden.

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erhob. 72 Für eine Verbesserung des öffentlichen Verkehrs sorgten damit schon 1959 zwei Konzepte: S-Bahn oder städtisches Schienenfahrzeug, wobei die städtische Lösung anfänglich für eine reine, Anfang der sechziger Jahre bereits für eine auf U-Bahn umwandelbare Straßenbahn plädierte. Zwischen Stadt und Bundesbahn herrschte ein überaus gespanntes Verhältnis, Gutachten stand neben Gegengutachten73; das Ganze entwickelte sich mehr und mehr zu einer Prestigefrage, die eine Lösung erschwerte. Die Verkehrsnot drängte nach einer Entscheidung, worauf der Stadtrat am 29. 1. 1964 die Straßenbahn endgültig zugunsten der U-Bahn fallen ließ. 74 Der S-Bahn wurde die klassische Trasse zugesprochen. Das hing vor allem damit zusammen, daß die Stadt nur durch einen Verbund von S-Bahn und städtischem Verkehr eine finanzielle Beteiligung des Bundes erwarten konnte. Gleichzeitig hatte ein neuerliches Gutachten75 für die U-Bahn plädiert und eine Stadtratsgruppe, die im Frühsommer 1963 am Hamburger Vorbild den Eindruck gewonnen hatte, München sei jetzt schon reif für eine U-Bahn, setzte sich für dieses neue Verkehrsmittel ein. 76 Noch beinhaltete der Stadtratsbeschluß zum Ausbau der U-Bahn auch Investitionen für die Straßenbahn, die „angesichts der veranschlagten Bauzeit von 10 Jahren im Stadtzentrum funktionsfähig zu erhalten ist." 7 7 Die Verkehrsbetriebe reagierten mit der Umstellung der Obuslinie (Ratzingerplatz-Fürstenried), der Verlängerung des Liniennetzes nach Hasenbergl (1964) und Milbertshofen und insbesondere auch mit Beschleunigungsmaßnahmen. Von 1961 bis 1972 wurden sechs Beschleunigungsprogramme durchgeführt. 78 Die rückläufige Gesamtzahl der Wagenkilometer und Beförderungsfälle am Ende der sechziger Jahre zeigten aber, daß sich die Bemühungen um die Trambahn nicht positiv auf die Leistung ausgewirkt hatten. Einerseits behinderten der zunehmende Individualverkehr und Großbaustellen die Straßenbahn. Die U-Bahn wurde 1965 in offener Bauweise begonnen, während 72 Ders., Lichtblicke für den Münchener Verkehr. U-Straßenbahn gewinnt an Boden, in: Verkehr und Technik 8(1959), S. 243-244. 73 Hübner, Hermann, S-Bahn oder U-Straßenbahn - was kommt zuerst in München?, in: Der Stadtverkehr 1(1961), S. 9-12; Colberg, Rolf, Nochmals: S-Bahn oder U-Straßenbahn in München?, in: ebd. 3(1961), S. 69; Blum, Hans, Vor der Münchener Entscheidung, in: ebd. 7/8(1961), S. 154-156; Hübner, Hermann, Vor der Münchner Entscheidung, in: ebd. 11/ 12(1961), S. 244-246. 74

Der Stadtrat hatte schon am 10. 7. 1963 die „Studie über die Schaffung eines unterirdischen Verkehrswegs", die für die U-Bahnlösung und die Abtretung der klassischen Trasse plädierte, gutgeheißen (vgl. Anm. 75). Leinfelder, Johann, Nun doch U-Bahn in München, in: ebd. 2(1964), S. 63. 75

Gutachten Zimniok, 1963, Stadtarchiv München, Verkehrsbetriebe 39. Ratssitzungsprotokolle 1963, Stadtarchiv München 736/17. 77 Denkschrift über die Verkehrslage Münchens unter besonderer Berücksichtigung des Straßenbahnverkehrs, München 1964. 78 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1964, S. 21; Geschäftsbericht 1967, S. 21 u. Geschäftsbericht 1972, S. 24; Engelbrecht, Peter, Der öffentliche Nahverkehr im Großraum München, in: UITP Revue 4 (1973), S. 279. 76

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sich gleichzeitig diverse Verkehrsknotenpunkte (Karlsplatz von 1967-71) in Umgestaltung befanden. Andererseits entschieden sich die Verkehrsbetriebe in der langfristigen Perspektive für einen stärkeren Einsatz von Bussen und die Abschaffung der Straßenbahn und schränkten die Straßenbahn sukzessive ein. 79 Im Zuge der UBahneröffnungen ab 1971 hoben die Verkehrsbetriebe die Straßenbahnen großflächig auf - im Schnitt drei Straßenbahnlinien für eine U-Bahnlinie - und ersetzten diese Linien zum Teil durch Busse.80 Seit 1969 hatten die Verkehrsbetriebe keine neuen Straßenbahnwagen mehr angeschafft, Investitionen wurden vom Stadtrat ausschließlich für U-Bahnwagons und Busse bewilligt. Der Anteil der Stadt München am effektiven Errichtungsaufwand für die U-Bahn betrug 28%, der Rest entfiel auf Bund (54%) und Land (18%). 81 Straßenbahnen dagegen wurden, da nicht subventioniert, auch nicht modernisiert und nach Ablauf ihrer Betriebszeit zur Verschrottung gebracht. Noch 1982 ließen die Verkehrsbetriebe in ihrem Geschäftsbericht verlauteten: „Die heute noch vorhandenen Straßenbahnwagen erreichen in den nächsten etwa 10 Jahren stufenweise das Ende ihrer technischen und wirtschaftlichen Nutzdauer." 82 Insbesondere befand die Münchner Stadtregierung (von 1978-84 unter Oberbürgermeister Kiesl (CSU)) die Straßenbahn für ein nicht investitionswürdiges Verkehrsmittel. Allerdings regte sich jedoch parallel zu dieser Nahverkehrspolitik der Widerstand. Auf Initiative des „Münchner Forum - Münchner Diskussionsforum für Entwicklungsfragen e.V." aktivierten sich Politiker, Presse und Bevölkerung für die Straßenbahn. Eine Unterschriftensammlung, die 1979 gestartet worden war, brachte im Juni 1980 die ersten 60000 Unterschriften beim Bürgermeister ein. Die in Gang gesetzte öffentliche Diskussion unterbrach vorerst die stillschweigende Abschaffung der Straßenbahn und führte dazu, daß im Zeichen der „Renaissance der Straßenbahn" ab Mitte der achtziger Jahre die Trambahn in München wieder ein neues Ansehen fand. 83 1988 wurden aufgrund des Trambahnbeschlusses von 1985 erstmals wieder Neuanschaffungen im Straßenbahnwagenpark in Form von drei Prototyp-Fahrzeugen einer neuen Generation in Niederflurbauweise und Drehstromantriebstechnik getätigt. Für 1991 wurden 20 neue Wagen bestellt.84

79 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1969, S. 22 u. S. 24; Münchner Forum, Zur Diskussion um die Zukunft der Münchener Trambahn, München 1979. 80 Gerät die Trambahn aufs Abstellgleis? Rathausopposition: Verkehrsbetriebe arbeiten gezielt auf Ersatz durch Busse hin, in: Süddeutsche Zeitung 16. 11. 1978, S. 16. 81 Hochmuth, Werner, München bleibt weiter auf U-Bahn-Kurs, in: Der Stadtverkehr 2(1979), S. 60. 52 Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1982, S. 27. 53 25 Jahre Münchner Forum 1993. München 1993, S. 78. 84

Stadtwerke München Verkehrsbetriebe, Geschäftsbericht 1988, S. 21.

Stadttechnik und Nahverkehrspolitik

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G. Die „sozialistische44 Straßenbahnstadt (Dresden) Kurzbeschreibung des Entscheidungsprozesses - Die Straßenbahn spielte im Verkehrssystem in Dresden über den ganzen Zeitraum eine zentrale Rolle. Der Vergleich mit München zeigt, daß auch hier Bus und Obus als Alternativen die Personenbeförderung ergänzten. Erfolgte in beiden Städten der Einsatz der verschiedenen Verkehrsmittel in den fünfziger Jahre noch synchron, blieb die Straßenbahn für Dresden in der weiteren Entwicklung das dominierende Verkehrsmittel. Bis 1961 vergrößert sich ihr Angebot stetig. Eine umfassende Modernisierung des Wagenparks wurde als unbedingtes Ziel formuliert. In der Realität jedoch waren Neuerungen aufgrund fehlender Investitionsmittel und produktionstechnischer Schwierigkeiten kurzfristig nicht zu verwirklichen. Im Rahmen der Produktionskooperation zwischen den Ländern des RGW zeichnete sich 1964 eine Spezialisierung beim Straßenbahnfahrzeugbau ab. Die Produktion wurde durch die CSSR übernommen. Das in diesem Zusammenhang für Dresden formulierte Tatraprogramm (ab 1967) sollte die Aktivitäten im Bereich der Straßenbahn bündeln und dem Konzept der Trennung der Verkehrsarten Vorschub leisten. Die Neuanschaffungen von TatraStraßenbahnwagen (T4D) wirkten sich in Dresden längerfristig nicht positiv auf die Verkehrsleistung aus. Seit Mitte der siebziger Jahre war diese rückläufig und auf einen Beförderungsanteil von 65% (1989) geschrumpft. Graphik 8 Beförderungsfälle der Verkehrsmittel in Mio. Beförderungsfällen, Dresden, 1957-1989 450

Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, div. Jg.

Zunehmend spielte in Dresden der Bus eine wichtigere Rolle. Im selben Zeitraum verdoppelte sich sein Anteil von 13% auf 31%. Interessant ist hier die Parallele zu München. Auch dort steigerte sich der Anteil des Busses bei den beförder-

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ten Personen auf 35% am ÖPNV. Die Buszuwachsphasen liegen zeitlich verzögert, in München bis 1969, in Dresden ab den siebziger Jahren. Einflußfaktoren - Im 1. Dresdner Aufbauplan von 1946, der bis zum Rekonstruktionsplan 1959richtungsweisend blieb, definierten die kommunalen Behörden die Neugestaltung der Stadt. Dabei wurden Wohngebiete an Stellen errichtet, die z.T. verkehrsmäßig schlecht erschlossen waren und zu erheblichen logistischen Problemen für die Verkehrsbetriebe führten. Die Innenstadt sollte zum Verwaltungs-, Kultur- und Einkaufszentrum ausgebaut, der Wohnungsbau auf die Randgebiete konzentriert werden. Der Plan verwies die Straßenbahn auf eine Ringverbindung. Querlinien sollten den Stadtkern nicht mehr durchschneiden, vielmehr nur noch tangential berühren. Die Ausnahme stellte ein Kreuzungspunkt in der Innenstadt dar. Ansonsten sollte der innerstädtische Verkehr von Bussen übernommen werden. 85 Graphik 9 %-Anteil der Verkehrsträger an den Beförderungsfällen, Dresden, 1957-1989 100% 80%

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60% Β S-Bahn

40%

• Obus • Bus

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• Straßenbahn 0%

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Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, div. Jg.

Anfang der sechziger Jahre begann in allen ostdeutschen Städten die verordnete Etappe der Entwicklung zur „sozialistischen Großstadt". Die staatlichen Planungen, die auch Dresden einschlossen, richteten sich erstmals in koordinierter Weise auf städtische Regionen aus. In diesen sollte das Stadtzentrum nach „sozialistischen Maßgaben" ausgebaut, neue Wohngebiete erstellt wie die Entwicklung von Industriestandorten vorangetrieben werden. 86 Insbesondere machten sich auch in 85

Rat der Stadt Dresden, Dezernat Bauwesen, Planungsgrundlagen, Planungsergebnisse für den Neuaufbau der Stadt Dresden, 1950, S. 27. 86 ZK-Beschluß über den Aufbau von Zentren schwerzerstörter Städte, 1961.

Stadttechnik und Nahverkehrspolitik

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den Städten der DDR in zunehmenden Umfang die Unzulänglichkeiten in der Verkehrsabwicklung infolge des Anwachsens des individuellen Verkehrs bemerkbar. Das Ministerium für Verkehrswesen legte deshalb zur Behebung der georteten Verkehrsprobleme den Stellenwert des öffentlichen Verkehrs im Gesamtsystem fest. 87 Die Trennung der Verkehrsarten avancierte dabei auch im Osten zum Leitbild, wobei zwar stets das Primat des öffentlichen Verkehrs als kollektive Transportmöglichkeit betont wurde, das Schwergewicht der Planung aber wie im Westen beim Straßenverkehr lag. 88 Die Planung zum Generalverkehrsplan in Dresden, der im Rahmen eines Generalbebauungsplans vom Rat der Stadt und der Bezirksleitung der SED 1967 beschlossen wurde, sah in diesem Zusammenhang die Einführung eines S-Bahnnetzes in Dresden vor, das die Umgestaltung des Liniennetzes mit sich bringen und die Straßenbahn zugunsten des Busses als Zubringer einschränken sollte. 89 Die Dominanz der architektonischen Standpunkte, d. h. „die Übermacht" der Stadtplanung räumte dem öffentlichen Verkehr wenig Spielraum ein. 90 Leitbild und Vormachtstellung der Stadtplanung blieben in den folgenden Jahren grundsätzlich unverändert. 91 Entscheidungshintergrund - Durch die enormen Zerstörungen in Dresden waren die Probleme in der Bereitstellung eines effektiven Liniennetzes und eines stabilen Fahrzeugeinsatzes besonders groß. Das Stahlembargo durch den Westen (1950) wirkte sich äußerst negativ aus. Infolge des Schienen- und Fahrleitungsmangels kam es zu häufigen Störungen wegen überalterter Materialien. Ersatzlieferungen und Erweiterung des Straßenbahnwagenparks wurden dadurch erschwert, daß sich die traditionellen Hersteller in den westlichen Besatzungszonen befanden. Nach diversen Umstrukturierungen 92, wurde die Produktion von Straßenbahnen 1954 in 87

Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List" (Hg.), Außerordentlicher Forschungsauftrag erteilt durch (Gerhard) Rehbein in Übereinstimmung mit dem Ministerium für Verkehrswesen mit Unterstützung von (Horst-Guido) Müller unter der verantwortlichen Leitung von (Herbert) Hider. Zur Schaffung von Grundlagen für die weitere Entwicklung des Verkehrs in den Städten unserer Republik (DDR). Grundsätzliche Methoden für die Planung und Entwicklung des städtischen Nahverkehrs, 5 Bd., Berlin 1961. 88 Junghanns, Dietrich, Die Planung des öffentlichen Personennahverkehrs in großstädtischen Räumen und Ballungsgebieten, Berlin 1972, S. 45; Krüger, Hans, Der städtische Nahverkehr in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1961, S. 199. 89 Der Planungszeitraum erstreckte sich von 1962-1967, wobei 1966 die Weisung vom Ministerium für Verkehrswesen erfolgt war, einen solchen vorzuweisen und bewilligen zu lassen. Beschlußvorlage zur 2. Lesung des Generalverkehrsplans 21. 11. 1967, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 1714/9. 90 Verkehrsbetriebe der Stadt Dresden, Stellungnahme zum Generalverkehrsplan (GVP) der Stadt Dresden, 5.9. 1967, ebd., 1714/2. 91 Gutachten zum Generalverkehrsplan der Stadt Dresden 9. 4. 1976, BArchP, DM 1/7269. 92 Ab 1949 begann die Vereinigung Volkseigener Betriebe Lokomotiv- und Waggonbau (LOWA) einen neuen Einheits-Straßenbahntyp zu entwickeln. 1954 wurde der Betrieb bereits

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Gotha konzentriert. Dort vermochte man es aber bis zur Einstellung der Produktion 1968 nicht, den weiteren Bedarf zu decken. Die neuen Wagen waren zudem sehr störanfällig. 93 Der ständig steigende Straßenverkehr - die Anzahl der Kraftfahrzeuge hatte sich bei einer stagnierenden Bevölkerungszahl von 1958 bis 1963 von 35000 auf 64700 fast verdoppelt 94 - , die krisenhafte Entwicklung in der Straßenbahnwagenproduktion und im Personalbereich 95 sowie die verbilligten Erdöllieferungen zur Kraftstofferzeugung aus der Sowjetunion verschoben das Augenmerk der Verkehrspolitik in Richtung Straßenausbau und Buseinsatz. Verfochten mehrheitlich die SED-Bezirksleitung und die städtische Bauplanung die Linie der Straßenplanung, setzen sich die Verkehrsbetriebe dagegen für die Modernisierung der Straßenbahn ein und versuchten, eine Erneuerung durch das Tatraprogramm zu erzielen. Dieses hing zusätzlich mit der Produktionsumstellung im Rahmen den Spezialisierungen des RGW 1964 zusammen. Die seit 1958 laufende Entwicklung der vierachsigen Großraumwagen T4/B4 in der DDR wurde damit abgebrochen und die Produktion verlagert. Das hatte zur Folge, daß die Auslieferung einer Neuentwicklung verzögert wurde, da 1964 weder ein alternativer Produktionsstandort bekannt noch kurzfristig ein adäquater Fahrzeugtyp zu beschaffen war. In dieser Phase der Unsicherheit gelang es den Verkehrsbetrieben Dresden, sich innerhalb des Tatraprogramms für die DDR als Leitunternehmen zu etablieren und die Anforderungen an den speziell für die ostdeutschen Städte noch zu entwickelnden Fahrzeugtypen entscheidend mitzubestimmen.96 Eine langfristige Modernisierung der Straßenbahn konnte aber nicht erzielt werden. Die ständig rückläufige Tendenz der Zahl der Straßenbahnfahrer und -fahrerinnen, die seit 1967 gelieferten T4D, die durch enorme technische Mängel hohe Schadwagenquoten verursachten, wie auch der permanente Ersatzteilmangel infolge der Betriebseinstellung der Gothaer Produktion führten zur zwangsläufigen Reduzierung der Betriebsleistung. 97 Zusätzlich war nun unter der Maxime der „sozialistischen Rationalisierung" des VII. Parteitages die „Konzentration" der Straßenwieder aufgelöst. Ab 1950 stellte Waggonbau Werdau ebenfalls Bei- und Triebwagen her. Machel, Wolf-Dietger, Zwischen Notwendigkeit und Tradition. Zur Entwicklung der Straßenbahnen in der DDR, in: Straßenbahn Magazin 94 (1994), S. 319. 93 VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresbericht 1959, S. 5. 94 Entsprechend stieg der Motorisierungsgrad in Stadt- und Landkreis von 56 Kfz/1000 Einwohner 1958 auf 103 Kfz/1000 Einwohner 1963. Prognose zum Perspektivplan der Stadt Dresden bis 1970, 8. 9. 1964, Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 1714/2. 95 VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresberichte 1960-64. 96 Machel, S. 322. Folgemaßnahmen bei Einführung von Straßenbahn-Großraumwagen der Type T4D, 18. 4. 1966, Technischer Vorstand 1714/13. 97 Anfang der 70er Jahre trat eine kurzfristige Verbesserung der Betriebsleistung der Straßenbahn ein, die aber aufgrund von Verschleißerscheinungen bereits schon Mitte der 70er Jahre wieder abnahm. VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresberichte 1967-76.

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bahnlinien angesagt, die im neuen, geschrumpften Liniennetz von 1969 umgesetzt wurde. Im Rahmen des Wohnungsbauprogrammes fielen auch in Dresden eine Reihe Entscheidungen, ähnlich wie in Ostberlin, zugunsten der Straßenbahn. So wurden bis 1975 die Großstandorte Johannstadt, Zschertnitz und Leuben geschaffen, die teilweise einen Straßenbahnanschluß notwendig machten. Zudem sah der Beschluß des Rats der Stadt Dresden zum Generalverkehrsplan 197798 nicht zuletzt auch unter dem Eindruck des progressiv steigenden Motorisierungsgrads vor, die geplanten Neubaugebiete Prohlis und Gorbitz mit der Straßenbahn zu erschließen. Aber auch durch die Rationierung der Energieträger Anfang der achtziger Jahre rückte die Straßenbahn als primäres Verkehrsmittel ins Zentrum der Verkehrspolitik. Allerdings scheiterte ihr faktischer Ausbau an den Mittelzuteilungen des zunehmend auf die kommunale Ebene durchgreifenden Zentralstaates.99 Entscheidungsablauf - Bis 1959 blieben die Aufbauarbeiten im Verkehrssektor auf die Initiative der kommunalen Einheiten, die Verkehrsbetriebe und den Rat der Stadt Dresden, beschränkt. Die Eingriffe der Zentralen waren bis zu diesem Zeitpunkt minimal. Die Absicherung des Berufsverkehrs hatten absoluten Vorrang. Die Verkehrsbetriebe der Stadt Dresden 100 mußten vor allem alte Wagen rekonstruieren und das Liniennetz ausweiten. Im Jahre 1951 wurden die ersten 4 Triebwagen und 10 Beiwagen aus der DDR-Produktion in Betrieb genommen.101 Entscheidungen zur Umsetzung einer „umfassenden sozialistischen Modernisierung und Neuorientierung" wurden erstmals mit dem Rekonstruktionsplan von 1959, der im Rahmen des 7-Jahrplanes aufgestellt worden war, getroffen. Dieser legte fest, welche Ersatz- und Neuinvestitionen bis 1965 geleistet werden sollten. 1 0 2 Investitionen wurden in diesen Planungen ausdrücklich nicht in erster Linie als Neuanschaffungen verstanden. Die Verkehrsbetriebe mußten noch immer davon ausgehen, daß das Platzangebot nicht verändert werden konnte. Der Schwerpunkt der Investitionen lag damit vorerst weiterhin in der Ersatzerneuerung des Busparkes und der betriebstechnischen Anlagen. Die benötigten Neuanschaffungen bei der Straßenbahn scheiterten an den Finanzierungsmöglichkeiten. Notwendige

98 Gutachten zum Generalverkehrsplan der Stadt Dresden, 9. 4. 1976, Ministerium für Verkehrswesen 7269. Schriftverkehr mit dem Rat der Stadt 1984-87, Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 2988. 99 Roesler, Jörg, Räumliche Auswirkungen der Wirtschaftspolitik im geteilten Deutschland: Der ostdeutsche Raum, in: Wysocki, Josef (Hg.), Wirtschaftliche Integration und Wandel von Raumstrukturen im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge 232), Berlin 1994, S. 139. 100 Seit 1951 VEB.

ιοί Bauart LOWA (Werthau), die Einheitstriebwagen ET 50, 1954 ET 54, 1957 ET 57. Von 1951-1961 wurden insgesamt 82 Triebwagen und 136 Beiwagen geliefert. ι 0 2 Rekonstruktionsplan 1959-1965, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden Technische Planung 1364.

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Ersatzinvestitionen für Großraumfahrzeuge waren nach einer Langzeitperspektive erst für 1963 vorgesehen. 103 Dieser Entscheid für einen modernen Straßenbahneinsatz basierte darauf, daß die DDR ab 1957 eigene Wagen produzierte und ein vierachsiges Großraumfahrzeug aus eigener Entwicklung den kommunalen Abnehmern in Aussicht stellte. 104 Dieser Rekonstruktionsplan mußte 1961 bereits grundsätzlich überarbeitet werden. Schon ein Jahr zuvor waren bei den Verkehrsbetrieben in der praktischen Umsetzung starke Abweichungen vom Planverlauf aufgetreten. 105 Zusätzlich beeinflußte auch die angelaufene Generalverkehrsplanung und das Programm „Dresden - eine sozialistische Großstadt" die Nahverkehrspolitik nachhaltig. Die Verkehrsbetriebe sollten demnach mit einem attraktiven, erweiterten öffentlichen Verkehrsangebot die Abwanderung zum individuellen Fahrzeug aufhalten. Diese Forderungen konnten sie aber nicht verwirklichen, da Investitionsmittel kaum zur Verfügung standen und vorwiegend auf Busse festgeschrieben wurden, aber auch weil die Lieferfirmen unzureichende Kapazitäten aufwiesen. So mußten ζ. B. 112 schrottreife, zweiachsige Straßenfahrzeuge weiterhin im Dienst bleiben. 106 Die Verkehrsbetriebe beklagten die mangelnde Initiative der Staatsorgane bei Entscheidungen und warfen den zentralen staatlichen Organen eine Unterschätzung des Verkehrs vor. 1 0 7 Anfang 1964 wurden von der Abteilung Verkehr des Rates des Bezirkes Arbeitsgruppen gebildet, die die Aufgabe hatten, die Entwicklung sämtlicher Bereiche des Verkehrs- und Straßenwesens bis 1970 zu planen. Die Verkehrsplanung wurde nun zunehmend als koordinierte Zusammenarbeit zwischen zentralen und örtlichen Organen propagiert. Seit 1966 lagen vom Ministerium für Verkehrswesen verbindliche Richtlinien für die städtischen Generalverkehrspläne vor. Zwar war damit von staatlicher Seite das Primat des öffentlichen Verkehrs festgeschrieben worden, in der Praxis hatten aber straßentechnische Maßnahmen, die den Verkehr flüssig halten sollten, den Vorrang. Besonders die verstärkte Einflußnahme der staatlichen Gremien machte sich ab dieser Zeit für die Verkehrsbetriebe bemerkbar. In ihrer Stellungnahme zum Generalbebauungs- und General verkehrsplan 1967 der Stadt kritisierten die Verkehrsbetriebe eine Zurückstellung der Straßenbahn, die im Zuge der Trennung der Verkehrsarten im Stadtinnern gänzlich verschwinden und dort wo sie blieb keine Vortrittsrechte gegenüber dem Individualverkehr mehr haben sollte. 108

103 VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresbericht 1959, 84; Erläuterungen zum Perspektivplan, 3. 6. 1959, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden, Technische Planung 1364. 104 Ein Prototyp wurde 1959 vorgestellt. Ökonomische Begründung für den Einsatz von T4D Straßenbahnwagen, 19. 7. 1966, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden 1714/13. 105 VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresbericht 1960,27. 106 Ergebnisse zum Programm Dresden eine sozialistische Großstadt, 14. 4. 1962, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 1675/5. 107 VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresbericht 1960, 60.

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Als außerdem 1964 - wie schon erwähnt - der Betriebsleitung durch Anfrage an das Ministerium für Verkehrswesen bekannt wurde, daß die Gothaer Produktion eingestellt werden sollte, war man anfangs ratlos, denn damit war der Straßenbahneinsatz fundamental gefährdet. Vor allem waren keine anderen Lieferanten für den geplanten Großraumwageneinsatz bekannt. 109 Seit 1954 waren keine Generalreparaturen mehr vorgenommen worden. 1966 waren 68% der Trieb- und 72% der Beiwagen älter als 30 Jahre 110 , zudem herrschte ein großer Personalmangel, der auch mit Rationalisierungsmaßnahmen wie der Einführung des schaffnerlosen Betriebes nicht hatte behoben werden können. In dieser Krisensituation nahm die Betriebsleitung der Dresdner Verkehrsbetriebe bei einem Besuch in Prag Vertragsverhandlungen für die Erprobung eines T3 Fahrzeuges aus der Produktion von CKD Praha auf. Unter der Federführung der Verkehrsbetriebe Dresden kam es 1965 zu einem Spezialisierungsvertrag, in welchem die CSSR als Hauptproduzentin für Straßenbahnwagen festgemacht wurde. 111 Im folgenden blieben die Verkehrsbetriebe bestimmende Verhandlungspartnerin der DDR für die Serienproduktion der neuen Großraumfahrzeuge, denn diese mußten den regionalspezifischen technischen Bedingungen angepaßt werden. Nach vierjährigen Verhandlungen konnte der Typ T4D ab 1968 in Serienproduktion gehen. Aufgrund dieser neuen Perspektive entschieden die Verkehrsbetriebe zugunsten eines Schnellstraßenbahnnetzes.112 Von 1971 bis 1975 waren 267 T4D und 170 B4D angeschafft worden, der Anteil der Tatrawagen betrug 75% am Gesamtwagenpark der Straßenbahn. Die Verkehrsbetriebe erreichten damit aber keine Verbesserung der Verkehrsleistung. Insbesondere die Erschließung der Neubaugebiete in den siebziger Jahren stellten den Betrieb vor große Schwierigkeiten. Das Beförderungsaufkommen konnte aufgrund „unzureichender Kennziffernbereitstellung und Bilanzierung von Baumaßnahmen" nicht abgedeckt werden. Zwar wurden neue Linien ausgebaut, um den neuen Verkehrsströmen ein entsprechendes Angebot entgegenzusetzen, gleichzeitig wurde das Liniennetz zunehmend auf wichtige Radialen konzentriert. Material- und Ersatzteile fehlten sowohl im Fahrzeug- wie im Gleisbaubereich und reduzierten Entscheidungen auf eine notdürftige Aufrechterhaltung des Verkehrsangebots. Zudem wurde in den achtziger Jahren infolge von Mittelknappheit und dem Abzug wichtiger notwendiger Ressourcen nach Berlin die Zuführung von notwendigen neuen Wagen eingeschränkt. 113

108 Verkehrsbetriebe der Stadt Dresden, Stellungnahme zum Generalverkehrsplan (GVP) der Stadt Dresden, 5.9. 1967, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 1714/2. 109 Prognosen zum Perspektivplan der Stadt Dresden bis 1970, ebda. 110

Ökonomische Begründung für den Einsatz von T4D Straßenbahnwagen, ebd. 1714/13. 10. 7. 1965:^ Spezialisierungsvertrag zwischen VVB und Außenhandelsunternehmen der DDR und der CSSR. 112 Stand Perspektivplanung, 16. 12. 1965, Archiv der Verkehrsbetriebe Dresden, Technischer Vorstand 1714/2. 111

26 Bähr/Petzina (Hrsg.)

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H. Fazit Sowohl die ostdeutsche als auch die westdeutsche Verkehrspolitik zeigen im historischen Vergleich, daß eine ideologiefreie und interessenübergreifende Infrastrukturpolitik weitgehend fehlte. Die Entscheidungen wurden durch gesellschaftspolitische Leitideen, wirtschaftspolitische Ziele, Verteilungskämpfe bei den Ressourcen oder durch kulturelle Wertigkeiten in beiden Staaten gleichermaßen geprägt. 114 Erwartungsgemäß hatte das amerikanische Leitbild der „autogerechten Stadt" bzw. „autogerechten Gesellschaft" auf die hier untersuchten Entscheidungen in Westberlin und München einen starken Einfluß. Doch auch in Ostberlin und Dresden hinterließ dieses Leitbild markante Spuren in den Stadtlandschaften. Unter dem Aspekt der Stadttechnik bedeutete die Umsetzung des Leitbildes der „autogerechten Stadt" im wesentlichen das Primat des Straßenverkehrs bei strikter „Trennung der Verkehrsarten". Die in beiden Staaten gleichermaßen betriebene Trennung läßt erkennen, daß oftmals denselben Handlungs- und Entscheidungsmustern gefolgt wurde, wenn auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen Modifikationen bei der Umsetzung erforderten. So zeigen die Beispiele Dresden und Ostberlin, daß die allgemeine Produktionsabsicherung, die Erfüllung politischer Zielsetzungen, die reibungslose Gewährleistung des täglichen Berufsverkehrs und die permanente Ressourcenknappheit die praktische Umsetzung maßgeblich beeinflußten. Der Straßenbahn boten sich dadurch in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik Überlebenschancen und weitreichende Entwicklungsperspektiven an. Diese Chancen und Perspektiven dürfen jedoch nicht mit einer durchdachten alternativen Förderung dieser Stadttechnik oder mit der sich international vollziehenden „Renaissance der Straßenbahn" verwechselt werden. Grundsätzlich wurde beispielsweise über Alternativvorstellungen zur westlichen „Auto-Stadt" nach der Verkündung des Wohnungsbauprogramms (1971) nicht einmal mehr in der Fachwelt der DDR offen diskutiert oder zumindest nachgedacht. Vielmehr gehorchte man notgedrungen den wirtschaftspolitischen Sachzwängen, da den Kommunen aufgrund der von der SED-Führung festgelegten ideologischen Zielsetzungen und der knappen Investitionen gar nichts anderes übrig blieb, als sich für die billigere Stadttechnik Straßenbahn zu entscheiden. In den Nahverkehrsentwürfen der DDR wurde im Gegensatz zur Bundesrepublik immer der Vorrang des öffentlichen Verkehrs als kollektive Transportmöglichkeit gegenüber dem Individualverkehr betont. In der Realität konzentrierten sich die DDR-Planer aber auch auf den Straßenverkehr. Spätestens ab den siebziger Jahren wurde nicht mehr die Frage gestellt, ob die prognostizierte Stellung des Individual113

VEB Verkehrsbetriebe Dresden, Jahresberichte 1978-1989; Ministerium für Verkehrswesen, Abt. Investitionen und Grundfonds, Grundfondswirtschaftliche Untersuchung zur Reproduktionssituation von Straßenbahn-Fahrzeugen in ausgewählten Städten der DDR, 31.8. 1982, ebd. 463/3. iw Vgl. hierzu auch Klenke, S. 1-2.

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Verkehrs für die Gesellschaft der DDR richtig war, sondern es wurde nur noch auf eine schnelle Lösung der sich auftürmenden Probleme gedrängt. 115 Letztendlich stellten Stadt- und Verkehrsplaner hinsichtlich der für DDR-Verhältnisse dynamischen Entwicklung des Individualverkehrs fest: „Darüber zu räsonieren hat keinen Sinn. Nur eine den wirklichen Tatsachen entsprechende realistische Einstellung hilft hier weiter" 116 . Die Unterschiede in der Nahverkehrspolitik beider Staaten waren damit bei Vernachlässigung ideologischer Komponenten und begrenzter wirtschaftlicher Kapazitäten der DDR im wesentlichen gradueller Natur. Zum Vorschein kamen diese graduellen Unterschiede etwa in der unterschiedlichen Dynamik der Motorisierungsentwicklung und dem daraus folgenden phasenverschobenen Handlungsbedarf in Ost und West. Die Fallstudien haben insgesamt gezeigt, daß die Veränderung von Rahmenbedingungen und Verfügungsrechten einen großen Einfluß auf die Nahverkehrspolitik und deren Umsetzung hatten. Im Falle des Wohnungsbauprogrammes der DDR wurde die Verkehrsplanung der Stadtplanung bedingungslos untergeordnet. Deutlich wird diese Tatsache vor allem in der Fallstudie über Ostberlin. In der Bundesrepublik war dagegen der steuernde Einfluß der Verkehrspolitik auf die Stadtentwicklung ganz allgemein nie ernsthaft in Gefahr gewesen. Noch deutlicher wird die Wirkung von veränderten Rahmenbedingungen im Hinblick auf die externen wirtschaftlichen Faktoren. Für die DDR brachten beispielsweise die Produktionsspezialisierungen im Rahmen des RGW in den sechziger Jahren eine Reihe negativer Wirkungen mit sich. So stellte die Straßenbahn eine langlebige Infrastrukturtechnik dar, die längerfristige Planungen und Investitionsentscheidungen erforderte, die, einmal gefällt, schwer rückgängig zu machen waren. Bei den erzwungenen Produktionsumstellungen wie im Rahmen der RGW-Spezialisierungen gab es große Unsicherheiten, aber es wurden auch neue Handlungsspielräume eröffnet. Am Beispiel Dresdens wird ersichtlich, daß gerade in Phasen von Unsicherheiten weitreichende Handlungsspielräume eröffnet werden konnten. Für die Bundesrepublik bildeten dagegen vorwiegend finanzpolitische Einflußgrößen den Rahmen für die Entscheidungen gegen die Straßenbahn. Im Falle München wird der finanzpolitische Aspekt offensichtlich, da hier die Kommune beim Bau der U-Bahn von den finanziellen Beiträgen der bayrischen Staatsregierung bzw. der Bundesregierung abhängig war. Gleichermaßen spielten Großereignisse wie zum Beispiel die Olympiade in München bei der beschleunigten Umsetzung von bereits entschiedenen Stadttechnikkonzepten eine wichtige Rolle. Interessant erscheint auch die Beobachtung, daß die Genese der Generalverkehrspläne in beiden deutschen Staaten etwa zeitgleich vonstatten ging. Sicher hatten die Kommunen in der Bundesrepublik eine viel größere und wirksamere Eritscheidungsautonomie, doch auch unter den Bedingungen einer immer knapperen Ressourcenzuteilung ergaben sich für die Städte und Gemeinden in der DDR Freins Werner, S. 82-83. 116 Zitiert nach ebd., S. 82. 26*

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räume, auch wenn diese in den siebziger und achtziger Jahren aufgrund der Vorrangstellung Ostberlins mehr und mehr schrumpften. Die Fallbeispiele Ost- und Westberlin stellen in diesem Zusammenhang Sonderfälle dar, da hier die politische Instrumentalisierung durch den direkten Systemgegensatz spezifische Handlungsprämissen geschaffen hatte. Beide Stadthälften fungierten als „Prestigeobjekte", die als Schaufenster für die kapitalistische und sozialistische Überlegenheit galten. Jedoch hatten auch die Interessen der Industrie bzw. der Finanzwelt auf die Entscheidung gegen die Westberliner Straßenbahn in den fünfziger Jahren einen beachtlichen Einfluß.

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