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German Pages 261 Year 2012
Innovationsmanagement für Wirtschaftsingenieure von
Prof. Dr. Karsten Löhr
Oldenbourg Verlag München
Karsten Löhr ist Professor im Studiengang Wirtschaftingenieurwesen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und Honorarprofessor an der Technischen Universität Darmstadt. Er hat Physik studiert an den Universitäten Kiel und Göttingen. Seine Doktorarbeit an der Universität Pierre et Marie Curie in Paris wurde mit dem Preis des CNRS für Ingenieurwissenschaften ausgezeichnet. Anschließend leitete er Forschungsprojekte im Automobilbau und in der Luftfahrtindustrie und ist Urheber von zahlreichen Patenten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Dr. Gerhard Pappert Herstellung: Tina Bonertz Titelbild: shutterstock.com; Gestaltung: Irina Apetrei Zeichnungen: Elisabeth Kohn und Dr. Andreas Lütgert Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik & Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71262-9 eISBN 978-3-486-71986-4
Vorwort „Innovation“ ist zu einem geflügelten Wort unserer Alltagssprache geworden. Wer irgendeine Zeitschrift aufschlägt, findet auf jeder Seite mit großer Sicherheit von irgendetwas Innovativem berichtet. Wer irgendeine Rede über Politik oder Wirtschaft hört, dem wird gewiss auch etwas über Innovationen erzählt. Offenbar verwenden heutzutage Autoren, Journalisten, Politiker oder Manager gerne dieses Wort, um sich zu erklären. Allerdings wird der Gebrauch dieses Begriffes dadurch mehr und mehr erweitert und beliebig, sodass scheinbar alles irgendwie innovativ wird – aber nichts mehr wirklich neu erscheint. Bei einer Innovation erwarten wohl die meisten Menschen zunächst einen neuen technischen Effekt. Und viele erkennen darin auch eine neue Möglichkeit für Geschäfte. Tatsächlich handelt es sich bei Innovationen um beides, also technische und wirtschaftliche Leistungen von Personen und Unternehmen. Entsprechend kommen dabei sowohl ingenieurwissenschaftliche als auch wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse zur Anwendung. Ein verbreiteter Irrtum über Innovationen besteht zunächst meist in der Annahme, dass man nur eine einzige gute Idee braucht, um etwas zu erschaffen. Und viele träumen davon, dass bereits diese eine Idee zu einem persönlichen, unmittelbaren Erfolg führt – und zu dauerhaftem Wohlstand verhilft. Dagegen zeigt die Erfahrung, dass es erheblicher Anstrengungen und Ressourcen bedarf, um Innovationen zu erzeugen. Und dass man ständig weitere Ideen braucht, um einen ersten Ansatz immer wieder anzupassen oder zu erweitern. Das Schaffen von Innovationen benötigt eine unternehmerische Kultur aus Management, Marketing und wissenschaftlicher Arbeit. Erst diese Kultivierung der Vorgehensweise unterscheidet eine glückliche Fügung von der professionellen Leistung einer Innovation. Eine andere häufige Fehleinschätzung zur Innovation betrifft ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Denn etwas wirklich Neues muss zunächst immer außerhalb der Realität stehen. – Wenn es vorab bereits irgendwie verwirklicht wäre, dann wäre es doch umgekehrt nicht wirklich neu. Daher handelt es sich bei Innovationen zu Beginn immer nur um Erwartungen oder um Forderungen, um Hoffnungen oder auch um pure Fantasie. Und daher befasst sich das Management von Innovationen auch mit den eher unwirklichen Dingen, welche vielleicht noch vernünftig erscheinen, aber eben nicht auf wissenschaftlich gesicherten Tatsachen beruhen. So erscheint es zunächst doch recht vernünftig, in der Lösung für ein Problem immer auch etwas Innovatives zu erwarten. Demzufolge scheint es dann auch vernünftig zu sein, nach noch unbekannten Problemen zu forschen, um über deren Lösung zu Innovationen zu gelangen. Weiter scheint es sogar recht vernünftig zu sein, künftige Probleme zu prognostizieren, um dafür bereits frühzeitig Lösungen zu erforschen. Und schließlich scheint selbst die Annahme vernünftig, dass ein ureigenes menschliches Bedürfnis darin besteht, die Welt nach eigenen Wünschen und Können fantasievoll zu gestalten. All dies gilt es zu managen, um Innovationen zu schaffen.
„Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Menschen niemals ein. Wenn sie den Stein der Weisen hätten, fänd sich kein Weiser für den Stein!“ Entlehnt aus „Faust 2“ von Johann Wolfgang von Goethe1
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1
Was sind Innovationen?
1
1.1
Ökonomische Innovationen ....................................................................................... 4
1.2
Evolutionäre Innovationen ......................................................................................... 8
1.3
Revolutionäre Innovationen ..................................................................................... 13
1.4
Technologische Innovationen .................................................................................. 18
2
Wie macht man Innovationen?
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Innovationsprojekte ................................................................................................. 26 Die beiden Erfolgsfaktoren ...................................................................................... 30 Die verschiedenen Innovationsphasen ..................................................................... 36 Die vier Promotoren................................................................................................. 45 Eine Innovationskultur ............................................................................................. 55
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Innovationsmarketing .............................................................................................. 66 Der Innovationszyklus ............................................................................................. 71 Die Innovationsbarrieren ......................................................................................... 79 Ein Innovationsdesign.............................................................................................. 83 Open Innovation ...................................................................................................... 88
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Scientific Innovation ................................................................................................ 93 Elenktik: Der Ursprung von Innovationen ............................................................. 101 Entelechie: Das Bild vom Innovationstrichter ....................................................... 108 Epistemik: Das Prüfen einer Innovation ................................................................ 112 Kategorien: Das Innovationssystem....................................................................... 118
3
Wie (er-)findet man Innovationen?
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4
Erfindungen durch Problemlösungen..................................................................... 130 Die Qualitätsprobleme ........................................................................................... 137 Die Osborn-Methode ............................................................................................. 141 Die Innovativen Grundprinzipe ............................................................................. 145 Die Morphologische Analyse ................................................................................. 150
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Erfindungen durch Forschung................................................................................ 153 Skeptische Tropen .................................................................................................. 160 Logische Unentscheidbarkeit ................................................................................. 166 Eristische Kunstgriffe ............................................................................................ 170 Technische Parameter ............................................................................................ 176
21
125
X
Inhaltsverzeichnis
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Erfindungen durch Prognosen ................................................................................182 Delphi-Studien ........................................................................................................188 Trendfaktoren .........................................................................................................193 Szenarien ................................................................................................................199 Roadmaps ...............................................................................................................205
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
Erfindungen mit Fantasie........................................................................................209 Intuition durch Meditation ......................................................................................215 Inspiration durch Assoziation .................................................................................220 Improvisation durch Provokation ...........................................................................225 Abstraktion durch Interpretation.............................................................................229
4
Die Innovationsformel
235
Index
239
Anmerkungen und Verweise
245
1
Was sind Innovationen?
Das Wort Innovation bezeichnet wörtlich eine Erneuerung. Im Unterschied zu einem Novum, d.h. einer beliebigen Neuheit, weist allerdings die Vorsilbe „in“ auf das Erzeugen von etwas Neuem hin, welches in voller Absicht in die Welt hineingebracht wird. Eine Innovation ist demnach nicht nur irgendwie neu, sondern sie wird bewusst neu geschaffen. Diesen Aspekt menschlichen Handelns beschreibt erstmals der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter im Jahr 1912 mit seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.2 Darin betrachtet er die Erneuerung von Waren und anderen Wirtschaftsgütern durch schöpferische Unternehmer. In diesem Sinne steht eine Innovation insbesondere für das Schaffen neuer wirtschaftlicher Werte. Eine Innovation hängt also mit der grundsätzlich menschlichen Eigenart zusammen, den Dingen in der Welt auch einen bestimmten Wert zu geben. Demnach gibt es nicht nur bestimmte Dinge, sondern sie haben auch einen bestimmten Wert. Zwar entstehen Neuerungen auch auf natürliche Weise, allerdings werden diese grundsätzlich als kostenlos und wertfrei angenommen. Erst die Bewertung durch Menschen ordnet ihnen einen neuen Wert zu. Und anders als bei einer natürlichen Entwicklung wird bei einer Innovation ein bewusstes Handeln mit einer gezielten Absicht unterstellt. Historisch lässt sich diese Bewusstwerdung der Menschheit in der von Karl Jaspers beschriebenen Achsenzeit ansiedeln.3 Zwischen 800 und 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden auf der Erde die ersten Gemeinschaften, die sich des Wertes ihres Handelns bewusst waren. Und in diesen Gemeinschaften begann man dann auch, diese Werte zu kultivieren, zu hinterfragen und zu entwickeln. Erstaunlicherweise entstanden diese Kulturen annähernd zeitgleich, wenn auch an unterschiedlichen Orten der Welt und anscheinend unabhängig voneinander mit ihren jeweiligen Vordenkern: in China mit Laotse und Konfuzius, in Indien mit Buddha, in Persien mit Zoroaster, in Israel mit den Propheten, in Griechenland mit den Philosophen – um nur diejenigen zu nennen, deren Gedanken uns noch bekannt sind. Als erster Philosoph der abendländischen Kultur gilt Thales von Milet (ca. 624–546 v.Chr.), dem bereits eine gewisse Innovationsfähigkeit zugeschrieben wird.4 Als man ihm vorwarf, dass seine Philosophie nichts einbringe, nutzte er seine Betrachtungen des Marktes und der Preisveränderungen für eine innovative Investition: Er mietete bereits frühzeitig im Winter die vorhandenen Ölpressen zu einem günstigen Preis. Als dann eine reiche Ernte anfiel und die Pressen benötigt wurden, verlieh er die Pressen wieder weiter zu einem beliebig hohen Preis und wurde dadurch reich. Daran erkennt man bereits einen wesentlichen Charakterzug von Innovatoren, nämlich die Markteroberung durch Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals. Nach Aristoteles bewies Thales damit, dass man mit Philosophie leicht vermögend werden kann, wenn man es darauf anlegt. Somit wären die Philosophen auch die ursprüngliche Form von Innovationsmanagern. Bis zur Industrialisierung allerdings bezogen sich die meisten Innovationen auf Werte außerhalb des Handels mit Waren und Dienstleistungen. Als Schöpfer von Neuerungen galten
2
1 Was sind Innovationen?
zunächst nur die Poeten, welchen ein gewisses Recht zugestanden wurde, die göttlich gegebenen Gesetzmäßigkeiten der Natur auf neuartige Weise zu beschreiben. Die Erfüllung von anderweitigen menschlichen Bedürfnissen und Wünschen wurde allein den Geistwesen – Feen und Dämonen – zugestanden. Ein Höhepunkt dieser Beschränkung von Innovationen auf das Künstlerische wurde mit dem Hexenwahn im Mittelalter erreicht, als sich jede technische Errungenschaft gegen den Vorwurf wehren musste, ein Teufelswerk zu sein. Erst mit der Wiedergeburt der antiken Philosophie in der Renaissance ab dem 16. Jahrhundert wurden auch die technischen Neuerungen gesellschaftsfähig, wenn auch zunächst außerhalb von unternehmerischen Interessen. Als besonders innovativ gilt bis heute Leonardo da Vinci (1492–1519), sowohl was seinen künstlerischen Ausdruck als auch, was seine technische Findigkeit angeht. Aber zur damaligen Zeit dienten seine Erfindungen vorwiegend einzelnen Mäzenen zum Schmuck oder zu kriegerischen Zwecken. Es war damals noch nicht denkbar, dass solche Schöpfungen auch einen wirtschaftlichen Nutzen darstellen können. Dieser Nutzen wurde erstmals rund 100 Jahre später im Zeitalter der Entdeckungen beschrieben. Der Lordkanzler der englischen Krone, Sir Francis Bacon, veröffentlichte um 1620 sein programmatisches Werk der Instauratio Magna, wie er damals die große Erneuerung der Wissenschaften bezeichnete.5 Darin entwarf er bereits ein Konzept für die systematische Erkundung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten, um einen allgemeinen Wohlstand zu erreichen. Der wirtschaftliche Nutzen durch gezielten Einsatz wissenschaftlicher Kenntnisse war denkbar geworden. Aber wieder dauerte es mehr als 100 Jahre, bevor 1754 das erste Forschungsinstitut für Kunst, Handwerk und Handel gegründet wurde mit der Royal Society, instituted at London, for the Encouragement of Arts, Manufacturers and Commerce – die dort heute noch als RSA besteht. Zunächst beschränkte sich dieser Ansatz allerdings auf das liberale England mit dem aufstrebenden Bürgertum und erreichte auch dort nur begrenzt eine öffentliche Wirkung. Erst im Frankreich nach der Revolution erkannte man die nationale Bedeutung von technischen Erfindungen und gründete 1794 die Ecole Polytechnique zur Ausbildung des Ingénieur, was sich wörtlich etwa als schöpferischer Gelehrter übersetzen lässt. Und nachdem Napoleon Bonaparte derart erfolgreich die technische Findigkeit der Ingenieure für seine Feldzüge genutzt hatte, breitete sich dieser neue Beruf auch bei seinen Gegnern aus. In vielen europäischen Fürstentümern wurden daher Ingenieurschulen gegründet. Zunächst vorwiegend, um neuartiges Kriegsgerät zu erschaffen – später zunehmend auch, um neuartige öffentliche Bauvorhaben zu realisieren. In der Folge erkannten schließlich auch die Unternehmer in der industriellen Revolution die Vorteile dieser Arbeitsweise für ihren ökonomischen Erfolg. Die rasante Entwicklung der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts geht somit einher mit dem, was wir heutzutage Innovation nennen. Sie besteht entsprechend gleichermaßen aus technischen und wirtschaftlichen Leistungen von Menschen und Unternehmen. Und diese neue Arbeitsweise wurde dann von Joseph Schumpeter erfasst und beschrieben. Als Lektion wird der zuvor ausgeführte Inhalt auf einen Merksatz reduziert: Lektion 1:
Innovationen werden absichtlich gemacht!
1 Was sind Innovationen?
3
Harnstoff-Synthese (Wöhler)
Motorflug (Wright) Gussbeton (Edison)
Elektrolyse (Faraday)
Kautschuk (Hofmann)
Phenol & Anilin (Runge)
Turbine (Kaplan)
Elektromotor (Jacobi)
Vitamin (Funk/Teruchi)
Revolver (Colt) Telegrafie (Morse)
Ammoniak-Synthese (Haber/Bosch) Röhrensender (Meissner)
Fotografie (Daguerre)
Tonfilm (Vogt/Engel/Masolle)
Kunstdünger (Liebig)
Kohlensäure-Synthese (Warburg)
Narkose (Morton) Telefon (Reis)
Insulin (Mackard/Benting/Best) Hydrierung (Fischer/Tropsch)
Farbstoff-Synthese (Perlin) Dynamo (Siemens)
elektronisches Fernsehen (Tihanyi)
Eisenbeton (Monier)
UKW-Sender (Esau)
Dynamit (Nobel)
Penicillin (Fleming)
Viertaktmotor (Otto) Indigo-Synthese (Bayer) Setzmaschine (Mergenthaler) Automobil (Benz)
Magnet-Tonband (Pfleumer) Acetylen-Kunststoffe (Reppe) Düsentriebwerk (von Ohain/Whittle) Vitamin C-Synthese (Reichstein) Nylon (Carothers)
Kinofilm (Lumiere)
DDT-Insektizid (Müller)
Funksender (Marconi) 1830 Abb. 1:
1840 1850
1860
1870 1880
1890
1900
1910 1920
1930
Das Jahrhundert der industriellen Revolution anhand von 40 Innovationen
Als Übung werden nachfolgend Aufgaben zum eigenen Verständnis formuliert: Übung 1: Untersuchen Sie eine der Innovationen aus der industriellen Revolution! Versuchen Sie herauszufinden, wann diese erstmals denkbar wurde! Weshalb konnte sie gerade dann erstmals realisiert werden? Und welche Absicht war damit verbunden?
4
1.1
1 Was sind Innovationen?
Ökonomische Innovationen
Aufgrund der beschriebenen Absicht ist eine Innovation sicherlich immer irgendwie auch technisch, wenn man das griechische Wort in seiner allgemeinen Bedeutung für künstlich und daher unnatürlich versteht. In diesem erweiterten Sinne ist es allerdings nicht unbedingt erforderlich, dass eine Innovation mit der Erfindung von technischen Produkten verbunden ist, die in Bild 1 zusammengestellt sind. Es kann sich durchaus auch um eine geschäftstüchtige Findigkeit handeln, wie bei der eingangs erwähnten den Ölmühlen des Thales von Milet. Denn im Unterschied zu einer technischen Erfindung erwartet man bei einer Innovation grundsätzlich auch einen wirtschaftlichen Erfolg. Diesbezüglich bezeichnet das Wort Ökonomie grundsätzlich die Kunst, seinen Haushalt in Ordnung zu halten. Wirtschaftlich versteht man darunter den ständigen Ausgleich beim Handeln mit Waren und Leistungen. Denn sobald ein Wert den Besitzer wechselt, muss dafür ein entsprechender Gegenwert zurückerstattet werden. Ansonsten ist ein Haushalt nicht ausgeglichen und der Handel nicht fair. Aber bereits Karl Marx erkannte, dass es neben einem defizitären Geschäft, beispielsweise bei Bankrott, Verlust, Diebstahl oder Betrug, auch einen Anlass für einen Mehrwert geben kann, beispielsweise durch den Einsatz von Maschinen oder durch sonstige Rationalisierung von Arbeitsprozessen.6 Und Joseph Schumpeter erkannte darüber hinaus noch einen weiteren Mehrwert, wenn neuartige Güter angeboten werden. Dazu grenzte er diese Innovationen ab von den bestehenden Waren, die er als Arbitrage bezeichnete, was auf Deutsch etwa Erzeugnis bedeutet im Sinne einer üblichen und daher einschätzbaren Ware. Ein solches gewöhnliches Handelsgut erfährt seine Wertstellung am Markt durch einen einigermaßen offenen Ausgleich der Interessen, was auch als Gesetz von Angebot und Nachfrage bekannt ist. Durch vergleichende Betrachtung kommt es dabei zu einer eher einvernehmlichen Entscheidung, zu welchem Wert etwas verkauft und gekauft wird. Zusätzlich versucht der Händler, zum Arbitrage-Preis eine Handels-Marge zu erzielen. Falls dagegen der Händler etwas ganz Neuartiges anbieten kann, dann lässt sich außer der Marge auch ein Aufgeld dafür erzielen, dass es keinen Wettbewerber für dieses Angebot gibt. Die so geschaffene Monopolstellung ermöglicht somit einen besonderen Wert: den Innovationspreis. Der Unterschied zwischen Arbitrage und Innovation äußert sich folglich in einem besonderen Preis und demnach in einer besonderen unternehmerischen Rendite. In den Industrienationen wird für solche schöpferische Erneuerungen sogar ein Schutzrecht gewährt. Dies scheint ökonomisch durchaus berechtigt, um mit den Innovationsrenditen die Entwicklungsinvestitionen wieder zu erwirtschaften und das eingegangene geschäftliche Risiko auszugleichen. Durch ein Patent wird daher sogar ein zeitlich begrenztes Monopol für die ökonomische Verwertung einer Erfindung im jeweiligen Wirtschaftsraum zugesichert. Patente verbriefen also das Recht auf die ausschließliche kommerzielle Nutzung einer Erfindung mit Alleinstellungsmerkmalen. Der Grad einer ökonomischen Innovation besteht demnach zunächst im Ausmaß des Alleinstellungsmerkmals. Ein eher geringer Unterschied zur Arbitrage, also dem bestehenden Angebot am Markt, wird dann meist als inkrementell bezeichnet. Ein eher großer Unterschied in der Entwicklung heißt dann meist radikal. Der Wert einer Innovation richtet sich dann nach dem erreichten Unterschied. Und dadurch lassen sich die erforderlichen Entwicklungskosten entsprechend wieder erwirtschaften.
1.1 Ökonomische Innovationen
5
Grundsätzlich scheint es für die Unternehmen zunächst erstrebenswert, etwas im besonderen Maße Neuartiges – also Radikales – auf den Markt zu bringen, um über ein hohes Alleinstellungsmerkmal über längere Zeit einen möglichst hohen Innovationspreis zu erzielen. Daneben hat sich allerdings auch eine Vorgehensweise in vielen kleinen – also inkrementellen – Schritten bewährt. Denn es ergibt sich meist eine besondere Progression, wenn jeder Fortschritt auf dem jeweils zuvor Erreichten aufbaut. Der einzelne Schritt scheint dann weniger riskant und geht bereits von einem erhöhten Niveau aus, wodurch der relative Zuwachs jeweils höher ausfallen kann und dadurch überproportional steigt. Auf Dauer schlägt eine schnelle Folge von inkrementellen Fortschritten dann jede einzelne radikale Entwicklung.
Wert
Arbitrage Entwicklung Abb. 2:
Arbitrage Entwicklung
Ökonomische Innovationen mit radikalen oder inkrementellen Schritten
Bei so einer Marktneuheit denkt man zunächst wohl an ein neues Produkt, wie einen neuen Werkstoff für Gebäude oder Maschinen, einen neuen Wirkstoff für Medikamente, ein neues Bauteil für eine Maschine oder ein neues Gerät mit neuen Funktionen. Tatsächlich spielt die Neuheit eines Produktes in der Wahrnehmung der Kunden oft eine bedeutende Rolle für die Kaufentscheidung. Gerade für die Exklusivität oder ein Alleinstellungsmerkmal ist man oft erst bereit, einen Innovationspreis zu bezahlen. – Im modernen Marketing werden für das Ausmaß an Neuheit einer Produktinnovation verschiedene Abstufungen an Exklusivität verwendet: von den eher kleinen Innovationen als Facelift, also ein neues Aussehen oder Ausstattungspaket eines Serienmodells, beispielsweise bei Automobilen – bis zu den umwälzenden Innovationen als Blockbuster, also das Durchbrechen des bestehenden Produktangebots mit etwas umwerfend Neuem, beispielsweise ein neuartiger Wirkstoff bei Medikamenten. Umgekehrt ist aber der Begriff exklusiv inzwischen selbst zu einem Merkmal für einen besonderen Wertanspruch in der Werbung geworden, der nicht unbedingt mit einer radikalen Alleinstellung verbunden sein muss.
Zumindest ebenso wertvoll kann für einen schöpferischen Unternehmer aber auch sein, einen neuen Prozess in der Produktentstehung einzuführen, beispielsweise in der Verarbeitung, Fertigung oder Veredelung seiner Produkte. Der Innovationspreis ergibt sich dann allerdings auf eher indirekte Weise, indem die Selbstkosten im Vergleich zum Wettbewerb sinken oder eine exklusive Leistung von besonderer Qualität für ein bestehendes Produkt angeboten werden kann. – Auch für solche Prozessinnovationen werden verschiedene Abstufungen nach der Innovationshöhe verwendet: von den eher kleinen Innovationen durch Kaizen, d.h. einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP), beispielsweise im Zusammen-
6
1 Was sind Innovationen? bau von Fahrzeugen, Flugzeugen oder deren verschiedene Baugruppen – bis zu Kaikaku, d.h. einer Einführung und Umstellung auf völlig neue Maschinen oder Produktionstechniken, beispielsweise für eine neue Beschichtungs- oder Reinigungstechnik, die schneller, billiger oder zuverlässiger funktioniert.
Am Markt lassen sich aber auch Wertschöpfungen durch Vertriebsinnovationen darstellen, beispielsweise durch Werbung, Markterschließung oder eine neue Logistik. Diese gewinnen im Rahmen der Globalisierung sogar zunehmend an Bedeutung. Die Wertstellung für solche Innovationen ist allerdings kaum mehr am Preis der einzelnen Waren oder Dienstleistungen festzumachen, sondern wird erst aus einer gesamtwirtschaftlichen Bilanzierung ersichtlich. Dadurch wird folglich der ursprüngliche Innovationsbegriff erheblich erweitert. – So kann es sein, dass ein höherer Umsatz bereits durch die eher kleine Innovation eines eingängigen Slogans bei einer Werbebotschaft erzielt wird, beispielsweise durch einen Klingelton als Erkennungszeichen im Rundfunk, Fernsehen oder der Telekommunikation. Aber auch hier kann ein großer Durchbruch erfolgen mit der Erschließung eines neuen Marktes, beispielsweise durch eine Vertriebspartnerschaft auf neuen Märkten, wie Brasilien, Russland, Indien oder China.
Blockbuster
radikale Innovation
Facelift
Kaikaku
Kaizen
inkrementelle Innovation Slogan
Markterschließung Abb. 3:
Schulung
Restrukturierung
Unterschiedliche Aspekte der Innovation unternehmerischer Aufgaben
Ferner gibt es noch zahllose Möglichkeiten für Wertschöpfungen durch Innovationen in der Organisation, beispielsweise in den Arbeitsabläufen oder in der Zusammenarbeit, sowohl innerhalb eines Unternehmens oder auch mit externen Partnern. Und auch hierbei ist der Wert der Innovation nicht mehr am einzelnen Preis der Güter zu erkennen, sondern ergibt sich eher durch die Erfahrung, die Überzeugung der Verantwortlichen oder deren Beratern, dass eine innovative Organisation zu einer Wertsteigerung des gesamten Unternehmens beiträgt. – Wieder reichen die Abstufungen bei Organisationsinnovationen von einer eher kleinen Verbesserung durch eine Schulung, Teamentwicklung oder Weiterbildung, beispielsweise für Entwickler, Produktionstechniker oder die Mitarbeiter von Vertrieb und Service – bis zu einer wahrhaft durchschlagenden Restrukturierung eines ganzen Unternehmens, die meist von Unternehmensberatern unterstützt wird.
1.1 Ökonomische Innovationen
7
Umgekehrt scheint es fast so, als würde heutzutage jede Wertsteigerung eines Unternehmens mit einer entsprechenden Innovation begründet sein. Für börsennotierte Unternehmen führt dies mitunter zum schwer verständlichen Umstand, dass die sogenannte „Fantasie“ einer Aktie am Kapitalmarkt höher bewertet wird als der reale Geschäftserfolg. Das führt dann zu den dramatischen Spekulationsblasen, die in den letzten Jahren zunehmend beobachtet werden konnten. Den Möglichkeiten zur ökonomischen Innovation – und dem entsprechend geschaffenen Mehrwert – scheinen dabei (fast) keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Lektion 2:
Der Wert einer Innovation beruht auf einem Alleinstellungsmerkmal!
Übung 2: Stellen Sie eine Liste von 10 Dingen auf, für die Sie bereit sind oder waren, einen Innovationspreis zu zahlen! Wie viel ist Ihnen dies jeweils wert? Welche unternehmerischen Aufgaben sind damit verbunden? Wie groß ist der zur Verwirklichung verbundene Aufwand? Ist der Unterschied zu bestehenden Angeboten eher inkrementell klein oder radikal groß?
8
1.2
1 Was sind Innovationen?
Evolutionäre Innovationen
Eine typische Innovation ist evolutionär in dem Sinn, dass sie sich aus den bestehenden arbiträren Gütern weiterentwickelt. Der Begriff Evolution bedeutet wörtlich Entwicklung und wird wissenschaftlich für die Entstehung der verschiedenen Lebensformen in der Beschreibung von Charles Darwin verwendet.7 Demnach werden bei einer biologischen Art zunächst die vorhandenen Merkmale verändert und gewandelt, also variiert und mutiert. Aus diesen Veränderungen werden dann durch die bestehenden Bedingungen diejenigen ausgewählt oder selektiert, welche besser zu den Anforderungen oder Bedürfnissen passen. Durch diese Anpassung oder Fitness kommt es dann zu einem Überlebensvorteil für Lebewesen. Und dieses Prinzip der Fitness durch Mutation und Selektion – also eine Anpassung durch Veränderung und Auswahl – lässt sich auch anwenden, um einen wirtschaftlichen Vorteil für Güter zu erreichen. Sinngemäß lässt sich somit auch für die meisten Innovationen ein Stammbaum angeben, d.h. vorhergehende Produkte, Prozesse, Vertriebswege und Organisationen, auf denen sie aufbauen. Und grundsätzlich lässt sich somit auch die biologische Systematik von Lebewesen verwenden, um den Grad der Abstammung von Innovationen aufzuzeigen. Eine Art von Lebewesen – oder ein entsprechender Artikel in der Wirtschaft – ist demnach Teil einer Gattung oder Familie von Gütern, welche wiederum Teil einer Ordnung oder Klasse sind, welche zu einem Stamm, Reich oder einer Domäne gehören. Bereits innerhalb einer biologischen Art – oder eben eines ökonomischen Artikels – besteht bereits eine derart große Variabilität an Größe, Farbe, Aufbau und Zusammensetzung, dass jedes Lebewesen oder jedes Wirtschaftsgut auch schon irgendwie etwas Individuelles oder Einzigartiges aufweist. Denn alles auf der Welt besteht aus verschiedener Materie. Auch wenn es sich um dasselbe Material handelt, welches grundsätzlich die gleichen Eigenschaften aufweist, so ist der konkrete Stoff doch jeweils ein anderer. Und jedes Wesen oder jedes Gut wurde zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten mit einem jeweils verschiedenen Zweck erschaffen. Obwohl wir uns in einer Zeit der Überbevölkerung und der Massenproduktion daran gewöhnt haben, eine Ersetzbarkeit und Reproduzierbarkeit in der Welt anzunehmen, so ist letztlich alles auch irgendwie einzigartig. Und die Abweichung von der Norm ist eher das Normale, als die Einhaltung einer Norm. So reicht beispielsweise allein bei den Menschen die Körperlänge von unter einem Meter bei Kindern und Kleinwüchsigen, bis über zwei Meter bei Riesen. Hinzu kommen verschiedene Farben der Haut, der Haare und der Augen. Dann gibt es einen unterschiedlichen Körperbau und dessen Proportionen, beispielsweise muskulös, feingliedrig oder untersetzt. Und schließlich bestehen noch verschiedene Erbanlagen, die sich beispielsweise im Stoffwechsel oder beim Immunsystem äußern. Diese Variabilität lässt sich gleichermaßen für Lebewesen und für Wirtschaftsgüter aufzeigen.
Relativ leicht scheint es demnach, die Größe anzupassen. Affen, Katzen, Fische, Bären, Schlangen, Spinnen und anderes Getier gibt es bekanntlich in den verschiedensten Skalierungen. – Entsprechend finden sich auch auf dem Markt verschiedene Größen von Reifen, Motoren, Computern, Fahrzeugen und anderen Maschinen, um daraus einen möglichst großen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen.
1.2 Evolutionäre Innovationen
9
Ziemlich variabel scheint auch die Farbanpassung zu sein. In Großbritannien ist eine Mottenart – der Birkenspanner Biston betularia – bekannt, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte wiederholt gewandelt hat: zunächst von hell zu dunkel wegen der zunehmenden Verschmutzung der Birkenrinde durch Rußablagerungen am Ende des 19. Jahrhunderts, und dann wieder von dunkel zu hell wegen der zurückgehenden Luftverschmutzung ab 1960.8 – Entsprechend ist die Farbgebung von Produkten in den verschiedensten Nuancen und Schattierungen ein gängiges Mittel der Anpassung an Kundenwünsche. Mitunter genügt ein weißer Streifen, um einem Reifen, einem Auto, einem Bekleidungsartikel oder einem Gebäude einen besonders schnittigen Akzent zu verleihen.
Beim Aufbau kann es dagegen bereits zu Komplikationen kommen, wenn Veränderungen stattfinden. Mitunter geht die Robustheit einer Tierart verloren, wenn man ein bestimmtes Körpermerkmal durch Zucht verstärkt. Beispielsweise sind hochgezüchtete Renntiere anfälliger für Rheuma und Arthritis, Milchkühe sind nur noch eingeschränkt beweglich, und Haustiere – Hunde, Katzen, Fische, Vögel – haben an Kraft und Schnelligkeit so weit eingebüßt, dass sie in der Natur nicht mehr überleben könnten. – Entsprechend ist eine angemessene Vorsicht angebracht, wenn das Profil oder die Wandstärke eines Reifens geändert wird, oder ein Personenwagen mit Dachträger oder Anhänger erweitert werden soll. Und der Umbau einer Fertigungsanlage auf eine Automatisierung kann die Zusammenhänge so weit verändern, dass zunächst die gewohnte Leistung oder Qualität nicht mehr erreicht wird.
Größe
Farbe
Aufbau Zusammensetzung Abb. 4:
Evolutionäre Anpassungen eines Artikels am Beispiel eines Reifens
Bei der Zusammensetzung kann sogar eine schwerwiegende Unverträglichkeit entstehen. In der Biologie kennt man beispielsweise verschiedene unverträgliche Bluteigenschaften, wie die Blutgruppen und den Rhesus-Faktor. Und es bestehen Formen von Erbkrankheiten, die nur dann auftreten, wenn sie bei beiden Eltern angelegt sind.
10
1 Was sind Innovationen? –
Und entsprechend lassen sich die Materialien oder Komponenten eines Produkts oder Prozesses nicht einfach ersetzen, ohne den Betrieb zu gefährden oder zumindest die Zulassung dafür zu verlieren. Beispielsweise verändert bereits der Luftdruck das Lauf- und Haftverhalten von Reifen. Gerne werden auch neue Kunststoffe statt Metall eingesetzt, um auf einfache Weise Gewicht und Materialkosten zu senken, wobei allerdings auch die Änderung der Eigenschaften wie Festigkeit, Alterungs- und Witterungsbeständigkeit zu berücksichtigen sind. Zumindest bei komplexen Produkten wie Automobilen, Computern oder Produktionsanlagen sind die Ausstattungsvarianten inzwischen derart zahlreich, dass die mittlere Wiederholrate unter einem Wert von zwei liegt. Demnach kommt es also eher selten vor, dass zwei oder gar drei vollkommen identische Produkte hergestellt werden. Dagegen ist es eher wahrscheinlich, dass jedes einzelne Produkt ein Alleinstellungsmerkmal aufweist. Und dieses Alleinstellungsmerkmal stellt einen besonderen Wert dar. Bei einer Sonderanfertigung kann dieser Wert durchaus eine Art von Innovationspreis rechtfertigen, obwohl es sich dabei nicht wirklich um eine Neuheit im Sinne einer Innovation handelt. Bei einer Auswahl von Sonderausstattungen handelt es sich dann wohl auch eher um die übliche Vertriebsmaßnahme zur Verkaufsförderung. Der Wert durch die Evolution eines Artikels scheint demnach doch eher gering auszufallen. Da bei den meisten Gütern mit der Zeit ein Preisverfall einsetzt, sorgt die Weiterentwicklung eher für eine Werterhaltung als für einen Mehrwert. Solche Innovationen werden dann mitunter auch als konservativ, erhaltend, sustaining oder nachhaltig bezeichnet. Und der Innovationspreis versteckt sich dann im Ausbleiben eines eigentlich anstehenden Preisabschlags.
Wert
Innovation Arbitrage Entwicklung
Abb. 5:
Werterhaltung Innovation Arbitrage Entwicklung
Evolutionäre Innovationen zur Erzeugung von Mehrwert oder zur Werterhaltung
Auch die Naturgeschichte ist offenbar voller Neuerungen, deren Wert sich allerdings kaum berechnen – oder auch nur einigermaßen einschätzen – lässt. Denn die meisten Errungenschaften des menschlichen Lebens haben einen unveräußerlichen Wert. Und außerdem werden diese Leistungen auf natürliche Weise erbracht und ihr Innovationspreis ist daher nicht durch eine menschliche Arbeit zu rechtfertigen. – Radikale Neuerungen in der Evolution des Menschen waren beispielsweise die Hand, die Sprache, die Kultur oder die Zivilisation, für die es offenbar schwer fällt, einen konkreten Wert anzugeben. Denn wie viel kostet es, wenn man etwas nicht begreifen, nicht besprechen, nicht gestalten oder nicht aus der Gemeinschaft beziehen kann? Offenbar recht viel!
1.2 Evolutionäre Innovationen –
11
Aber wie viel sind wir bereit zu zahlen dafür, dass wir unsere Hände und Sprache nutzen dürfen und unser Leben und Zusammenleben mit anderen gestalten können? Offenbar nur sehr wenig! Denn viele Dinge und Bedingungen erachten wir als natürlich gegeben und kostenlos – und doch sind sie uns zugleich unveräußerlich und unendlich wertvoll. Dieses ökonometrische Paradoxon gilt gleichermaßen für Innovationen: Sobald eine Neuerung ein wesentlicher Teil des Lebens geworden ist, verliert sie ihren besonderen Wert. Sie wird vielleicht nicht wertlos, aber als Wertsteigerung nicht mehr veräußerlich. In diesem Sinne erlischt auch der Rechtsschutz für ein Patent nach einiger Zeit, wenn die Innovation eben nicht mehr neuwertig ist. Der ökonomische Wert von Innovationen ist dagegen kaum mehr zu beziffern, sobald sie erst einmal etabliert sind. Und sicherlich ist es auch etwas spät, um einen Innovationspreis zu verhandeln, wenn eine Erfindung bereits allgemein verbreitet ist. In diesem Sinne gibt es durchaus auch von Menschen gemachte Neuerungen, die keinen ökonomischen Mehrwert mehr aufweisen, wie das Feuer, das Rad, der Hammer oder das Garen von Lebensmitteln. Außerdem lassen sich sogar Beispiele für die Evolution von Neuerungen anführen, welche zwar keinen Mehrwert erkennen lassen, aber allein durch ihre Monopolstellung eine Umverteilung der Werte herbeiführen: – Der Wert einer Ausbildung ist bekanntlich unschätzbar. Somit sollte Bildung grundsätzlich auch unbezahlbar wertvoll und folglich auch ohne veräußerbaren Wert sein. Und daher sollte es doch eigentlich keine „Bildungsinnovationen“ geben. So entstanden die antiken Schulen schon in vorchristlichen Zeiten und vor ein paar Hundert Jahren wurden in Europa auch Schulen und Universitäten gegründet.9 Damit die geschaffene Ausbildung überhaupt einen eigenen Wert bekam, war es zunächst unter Strafe verboten, aus der Schule zu plaudern, um das Alleinstellungsmerkmal zu bewahren. Denn Bildung ist eine Ressource, die sich ganz von allein vermehrt, wenn man sie mit anderen teilt. Erst seit etwa 100 Jahren gibt es – zumindest in Deutschland – allgemein zugängliche Volksschulen und eine allgemeine Schulpflicht. Aber weltweit beziffert die UNESCO im Jahr 2010 die Zahl der Menschen ohne jegliche schulische Ausbildung auf 760 Millionen und die Anzahl der Kinder, die jährlich ohne Zugang zu irgendeiner Form von elementarer Schulbildung heranwachsen, noch auf mindestens noch 72 Millionen.10 Damit also ein Innovationswert von Bildung entstehen kann, muss man diesen erst zu schätzen wissen. In Deutschland wird es beispielsweise in den letzten Jahren als Innovation bezeichnet, die Ausbildungszeiten zur Hochschulreife und die Dauer des Studiums zu verkürzen. Der Wert dieser Maßnahme besteht aber wohl eher aus den Einsparungen der öffentlichen Bildungsausgaben als aus einer Verbesserung in der Ausbildung. Und offenbar hat sich eine Art Bildungsgut am Markt bis heute noch nicht allgemein verbreiten können. Deshalb fällt es auch schwer, in diesem Zusammenhang von einer Innovation zu sprechen. – Zu den unschätzbaren Werten des Lebens gehören in diesem Sinne auch Gesundheit und Sicherheit. Und entsprechend widersinnig scheint es, von sozialen Innovationen zu sprechen. Zwar sind in Deutschland mit der Einführung von Sozialgesetzen für Krankheit 1883, Unfall 1884, Rente 1891 und Arbeitslosigkeit 1927 auch diese Versicherungen ein allgemeiner Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden.
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1 Was sind Innovationen?
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Aber im Zeitalter der Globalisierung und der gesellschaftlichen Überalterung mindern diese die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften und deren privaten Vorsorgekonzepten oder einer jüngeren Bevölkerung. Daher wurden in den letzten Jahren mehr Eigenleistungen für Krankenkassen, Arbeitsunfähigkeit, Renten und Erwerbslosigkeit neu eingeführt. Auch hier liegt der Wert dieser Maßnahmen eher in einer Entlastung der Sozialkassen als in einer innovativen Verbesserung der Leistungen, was einen besonderen Wert rechtfertigen würde. Auch der Wert von öffentlichen Diensten ist mitunter nur schwer zu erkennen. Daher erscheint auch eine institutionelle Innovation entsprechend sinnlos, wenn dabei lediglich die bestehenden Dienste privatisiert werden. So wurde in Deutschland die öffentliche Kommunikation über Post-, Telefon- und Fernsehdienste weitgehend auf private Institutionen umgestellt. Und die öffentlichen Ver- und Entsorgungsdienste für Wasser, Abfall, Strom und andere Energieträger müssen inzwischen sogar dauerhaft staatlich reguliert werden, um das Ausnutzen der gewährten Monopolstellungen zu begrenzen. Öffentliche Wegerechte und die Freizügigkeit des Schienenund Straßenverkehrs sind von Mautgebühren und konfliktreichen Abstimmungen mit gewerblichen Unternehmen über den Ausbau von Bahnhöfen und Verkehrsnetzen begleitet. Selbst bei der öffentlichen Sicherheit durch Polizei und Militär werden zunehmend private Dienste von Sicherheitsfirmen eingesetzt. Vom Wert dieser Maßnahmen erfährt der Bürger dann über die höheren Ausgaben für die neu geschaffene Monopolstellung der Unternehmen – und nicht durch eine merkliche Wertschöpfung. Schließlich sind auch Kunst und Kultur unverzichtbare Bestandteile einer Zivilisation. Und daher scheint auch ein Mehrwert bei kulturellen Innovationen zumindest zweifelhaft. Beispielsweise kann man sich mit der Kultur des Internets inzwischen scheinbar kostenlos Informationen über Waren, Dienstleistungen, Wissen, Privatpersonen oder zur Unterhaltung elektronisch herunterladen. Und beim Public Viewing oder Casting erfahren die Sportler oder die Künstler ihre Wertschätzung nicht mehr durch Eintrittspreise und den persönlichen Beifall, sondern vielmehr durch eine Kommerzialisierung des Umfelds und der dadurch vermittelbaren Werbung. Innovativ scheint daran nicht mehr die jeweilige besondere Leistung zu sein, sondern lediglich die öffentlichkeitswirksame Vermarktung des Events.
Lektion 3:
Mitunter weisen Innovationen keinen erkennbaren Wert auf!
Übung 3: Stellen Sie aus den Nachrichten in Zeitschriften oder im Internet eine Liste von mindestens 20 Themen zusammen, die dort als innovativ bezeichnet werden! Wie groß ist der Anteil derjenigen, die spontan einen ökonomischen Wert erkennen lassen? Was ist bei den restlichen jeweils neu? Und warum ist es eine Nachricht wert? Wie wirkt diese Innovation auf Sie?
1.3 Revolutionäre Innovationen
1.3
13
Revolutionäre Innovationen
Der Motor ist nicht durch eine schrittweise Verbesserung der Pferdezucht entstanden. Und das Fernsehen hat sich nicht aus der Malerei entwickelt. Auch weist der Stammbaum vom Rechenschieber zum Computer – oder von der Kerze zum elektrischen Licht – ziemliche Lücken auf, die übersprungen werden mussten. Solche sprunghaften Innovationen werden dann als diskontinuierlich, disruptiv oder eben revolutionär bezeichnet. Und offenbar unterliegen sie einer anderen Gesetzmäßigkeit und Logik als bei der evolutionären Entwicklung. Auch in der Evolutionstheorie hat man erkannt, dass sich nicht alle Merkmale von heutigen Lebewesen durch eine kontinuierliche Entwicklung erklären lassen. Manchen Menschen erscheint darin ein Beweis für eine höhere Intelligenz der Natur vorzuliegen. Und einige begründen damit sogar ihren Glauben an ein höheres Wesen. In der modernen Biologie werden solche Sprünge in der Evolution durch eine Zweckentfremdung oder Umwidmung eines bestehenden Merkmals erklärbar. Neben den Mechanismen von Mutation und Selektion gibt es demnach auch eine Exaptation oder Exadaptation, wobei sich ein bestehendes Merkmal unter neuen Umständen oder geänderten Bedingungen – vielleicht mit kleinen Änderungen – als besonders vorteilhaft erweist. – Vor einigen Millionen Jahren entwickelten die Vormenschen aus dem sehr beweglichen Klettergelenk der Primaten die Fähigkeit, Dinge zu ergreifen und mit einzigartiger Virtuosität als Werkzeug zu nutzen. Als die Vormenschen den Lebensraum der Steppe nutzten – oder vielleicht nutzen mussten, war die Hand demnach zunächst ein eher überflüssiger Rest aus der Evolution des Kletterns. Aber es erschlossen sich dadurch die Fertigkeiten im Umgang mit Feuer, Faustkeil, Wurfgerät und Kleidung. Und diese Übertragung von Fertigkeiten eröffnete erstmals in der Erdgeschichte einem Lebewesen die Möglichkeit, einen neuen Bereich der Welt zu besetzen, ohne sich auch körperlich an die neue Umgebung anzupassen. – Auch bei der Sprache gab es wohl zunächst nur eher zufällig das Merkmal eines verlängerten Rachenraums, der eine verbesserte Artikulation erlaubte und vor einigen Hunderttauschend Jahren zu einer neuartigen Qualität in der Verständigung führte. Denn rein evolutionär ist der tiefe Rachen sogar eher ein Nachteil bei der Nahrungsaufnahme, weil man sich leicht verschlucken kann, husten muss und erstickt, wenn Luft- und Speiseröhre sich so spät verzweigen. Aber mit dem Vorteil einer artikulierten Aussprache ist die Menschheit seither in der Lage, bereits das Gedachte zu verarbeiten und – ohne konkrete Darstellung an Objekten – abstrakt zu kommunizieren. Erfahrungen können mitgeteilt werden, Arbeiten können aufgeteilt werden, Sorgen können geteilt werden und an Planungen können alle teilnehmen. – Eine besondere Innovation war dann vor einigen Zigtausend Jahren die Kultur und Kunst, welche mit einer zunehmenden Abstraktion von Begriffen einhergeht. Neben den Zeugnissen als Skulptur (Asselfingen ca. 32.000 v.Chr.11), oder als Malerei (Lascaux ca. 17.000 v.Chr.12) sind in dieser Zeit auch die Ursprünge von mythischen Erzählungen, rituellen Beschwörungen und spirituellen Gesängen anzusetzen.13 Die Welt war damit nicht mehr nur ein Ort des Lebens, sondern auch ein verinnerlichtes Werk aus Geschichten, Symbolen und Regeln. Auch hierin ist zunächst nicht unmittelbar ein evolutionärer Vorteil erkennbar. Aber diese Kultur ermöglich-
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1 Was sind Innovationen?
te dann auch ein neuartiges Verstehen und Beeinflussen der Umwelt und zeugt für den Beginn einer technischen Gestaltung der Welt. – Als weitere bedeutende Innovation der Menschheitsgeschichte lässt sich die Ausbreitung von städtischen Lebensgemeinschaften vor einigen Tausend Jahren ausmachen. Die ursprüngliche Aufgabenteilung in Jäger und Sammler für die alltägliche Nahrungsbeschaffung wurde immer feiner entwickelt und führte zu verschiedenen Rollen bei der Jagd, der Ernte und Verarbeitung, der Familie und der Verteidigung. Dabei erwies es sich als Überlebensvorteil, die einzelnen Rollen dauerhaft bestimmten Personen und ihren Erfahrungen und Fähigkeiten zuzuordnen. Und aus diesem Gesellschaftsvertrag entwickelte sich eine überaus erfolgreiche Zivilisation.14 Statt des alltäglichen Kampfes ums Überleben gibt es seither eine Politik, welche den Einzelnen vom ständigen Existenzkampf zumindest teilweise entlastet und dafür das Erzeugen und Gestalten von immer neuen menschlichen Leistungen ermöglicht. Seither muss niemand mehr alles können, sondern die Aufgaben werden jeweils von denen erledigt, die es – hoffentlich – am besten können. Revolutionäre Neuerungen sind offenbar umwälzend. Kein Mensch kann mehr darauf verzichten, seine Hände und die Sprache zu nutzen oder kulturell und politisch irgendwie beteiligt zu sein. Es wird sogar als schwerwiegende Behinderung oder Benachteiligung empfunden, wenn es jemandem körperlich oder gesellschaftlich unmöglich ist, diese Fähigkeiten auszuüben.
revolutionäre Innovation
Wert evolutionäre Innovation Arbitrage 1 Entwicklung Abb. 6:
Arbitrage 2 Entwicklung
Eine revolutionäre Innovation durchkreuzt die evolutionäre Entwicklung
Entsprechend bewirken revolutionäre Innovationen eine Veränderung der bestehenden Wertordnung. Da sie von einer anderen Arbitrage aus erfolgen, werden die bestehenden Entwicklungslinien durchbrochen. Und während sich eine solche Innovation etabliert, erfolgt offenbar eine Zerstörung der bestehenden Zustände. – So hat die Einführung von Motoren die Pferde als Arbeitstiere überflüssig gemacht und auf die Rolle eines Haustiers für Sport und Freizeit reduziert. – Entsprechend finden sich Kunstmalerei, Rechenschieber und Kerzenschein nur noch bei einer Schar von Liebhabern, während das allgemeine Leben eher vom Fernsehen, von Computern und von elektrischem Licht bestimmt ist. – Und kein Mensch wird heutzutage noch darauf bestehen, ohne entsprechende technische Hilfsmittel seine eigene Kleidung zu fertigen, große Entfernungen zurückzulegen, schwere Lasten zu transportieren oder auch nur komplizierte Berechnungen anzustellen.
1.3 Revolutionäre Innovationen
15
Clayton Christensen beschrieb 1997 das Management von revolutionären Innovationen und der durch sie verursachten Disruption als ein Dilemma, also eine zwiespältige Entscheidung.15 Denn der damit verbundene Umbruch durchkreuzt alle berechtigten Anstrengungen zur Entwicklung der bestehenden Wirtschaftsgüter. Während die Evolution auf einer Erhaltung der jeweiligen Artikel abzielt, versucht die Revolution sich an einer Ersetzung der bestehenden Artikel. Demnach muss ein Manager zwischen Erhaltungs- oder Ersetzungsinnovationen entscheiden. Etwas anderes ergibt keinen Sinn. – Manchmal kann bereits eine eher inkrementelle Innovation zu einem revolutionären Markterfolg führen, wenn der Markt dafür bereit ist. Beispielsweise stand zu Beginn eines neuen Zeitalters für Automobile die verbraucherfreundliche Gestaltung des TModells von Ford ab 1909, welche im Vergleich zur Erfindung des Automobils durch Benz 1885 und dessen Fabrikation durch Peugeot 1891 eher inkrementell zu bezeichnen ist. Entsprechend handelt es sich beim Personal Computer von HewlettPackard ab 1968 nur um einen vergleichsweise kleinen Schritt im Vergleich zur Entwicklung von Rechenmaschinen durch Zuse 1937 und IBM 1947. – Dagegen kann mitunter auch eine radikale Innovation nicht zu der gewünschten Revolution führen, wenn der Markt dafür nicht bereit ist. Beispielsweise wirkten sich die genannten Pionierleistungen für das Automobil und für den Computer erst nach Jahrzehnten in angemessenen Innovationsrenditen aus. Davon zeugen heutzutage so seltsam anmutende Aussagen von Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1904, nach der das Auto nur eine vorübergehende Erscheinung sei und Pferde nicht verdrängen kann – oder auch die Einschätzung des IBM-Vorstands von 1943, nach der es auf der ganzen Welt einen Gesamtbedarf von nur etwa fünf Computern gäbe. Offenbar besteht ein Teil des Dilemmas darin, dass revolutionäre Innovationen nicht der beschriebenen Logik von Exklusivität und Innovationspreis folgen. Dagegen scheint es bei ihnen dringend erforderlich zu sein, eine hohe Konformität mit dem bestehenden Markt zu erreichen. Bei den evolutionären Innovationen ist diese Konformität zwar grundsätzlich vorhanden, aber dafür können revolutionäre Innovationen die laufenden Entwicklungen in schwere Turbulenzen stürzen und alle nachhaltigen Anstrengungen überflüssig machen. Für diesen Zwiespalt scheint es keinen einfachen Kompromiss zu geben. – Die größte „politische Innovation“ der letzten Zeit war wohl die Einführung einer gemeinsamen Währung für unabhängige Staaten in Europa. Auch hierbei war zwar zunächst eine gewisse Evolution zu einem gemeinsamen Markt im Zuge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erfolgt. Aber die Währungskrise des Euro zeigte dann deutlich, welcher Unterschied besteht zwischen einer schrittweisen Anpassung der Wirtschaftsbedingungen einerseits – und einem gemeinsamen Finanz- und Schuldenverständnis andererseits. Insgesamt scheint die Einführung des Euro ein eher inkrementeller, aber revolutionärer, Schritt gewesen zu sein. Im Vergleich dazu sind die evolutionären Schritte, die dadurch verursacht werden, wohl eher radikal zu nennen. Wie man schon bei den Beispielen zu evolutionären Entwicklungen erkennen kann, ergibt sich mit einer Innovation auch immer ein gewisser Zwang zur Anpassung, dem man sich nicht verschließen kann. Ist eine Neuerung erst einmal ausreichend weit verbreitet, dann entsteht auch eine Notwendigkeit, diese zu nutzen, obwohl man mit den vorhergehenden
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1 Was sind Innovationen?
Angeboten vielleicht auch recht zufrieden war – oder das Neue eigentlich gar nicht will. Diese schöpferische Zerstörung kennzeichnet insbesondere revolutionäre Innovationen. – Politische Entscheidungen gelten auch immer für diejenigen, die eigentlich dagegen waren. Auch diese Gegner müssen die Konsequenzen mittragen, wenn beispielsweise nationale Steuermittel in andere Staaten transferiert werden, um die gemeinsame Währung zu stabilisieren. Wobei es dann letztlich auch keine Kontrolle darüber geben kann, ob diese Transferleistungen auch sinnvoll und zweckmäßig eingesetzt werden, solange es sich um souveräne Staaten handelt. – Soziale Informationen werden über elektronische Netzwerke verbreitet, auch wenn man selbst vielleicht nicht daran teilnimmt. Das wirft besondere Probleme im Datenschutz auf. Denn bereits die Informationen von Dritten ermöglichen durch eine elektronische Auswertung die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der einzelnen Menschen, welche dann zu Werbezwecken eingesetzt werden. Um diese Fremdbestimmung einzudämmen, wurden beispielsweise das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Straftatbestand des Identitätsdiebstahls eingeführt. – Privatisierte Institute erfüllen mehr und mehr öffentliche Dienste, die jeder Verbraucher in Anspruch nehmen muss, wenn die öffentlichen Alternativen dafür aufgegeben wurden. Gerade bei der Versorgung der Grundbedürfnisse ist mit der Privatisierung oft eine Situation entstanden, bei der die Verbraucherkosten drastisch steigen und dann eine Regulierungsbehörde die Preisgestaltung wieder überwachen muss. – Kulturelle Großereignisse greifen auch in das Leben derjenigen ein, die nicht an diesen Events interessiert sind. Beispielsweise werden Straßen oder sogar ganze Wohnbezirke gesperrt; spontane Versammlungen oder Wanderungen von Fangruppen bilden sich und behindern den Verkehr aller anderen; oder die öffentlichrechtlichen Sendeanstalten ändern ihr Programm und geben große Anteile der Gebühren für Senderechte bestimmter Interessengruppen aus. Bei den hier genannten Innovationen steht offenbar nicht mehr das Erreichen eines besonderen Marktpreises oder einer Innovationsrendite im Vordergrund. Obwohl inzwischen auch soziale Netzwerke, Versorgungsdienste, Public Viewing oder der Wert des Euro ein bedeutendes Geschäft für Dienstleister und Banken darstellen, ist dieses nicht unbedingt mit einer Neuwertigkeit begründbar, sondern mit dem Ausnutzen einer neu entstandenen Situation. Auch revolutionäre Innovationen lassen daher mitunter keinen Wert als Wirtschaftsgut erkennen. Dabei ist das Wort Innovation selbst inzwischen zu einem Synonym für Wert, Erfolg und sogar Glück geworden. Und es wird daher gerne in Begründungen für Änderungen jeglicher Art eingeflochten, um eine Kritik zu verhindern – oder die Ansichten von Kritikern in eine wertlose, erfolglose und unglückliche Position zu drängen. – Besonders kurios zeigt sich dies, wenn inzwischen sogar „archäologische Innovationen“ verkündet werden, welche demnach also in der Vergangenheit liegen. Dies zeigt sich, wenn beispielsweise ein sogenanntes Missing Link als fehlendes Glied in der Entstehung der Arten entdeckt wird und als Innovation bejubelt wird.
1.3 Revolutionäre Innovationen
17
Solche Erkenntnisse sind vielleicht revolutionär, weil sie eine geänderte Sichtweise auf eine bestehende Situation ermöglichen. Und sie zerstören die bestehenden Ansichten, sodass jeder diese neue Sichtweise bei der Diskussion des Themas berücksichtigen muss. Dennoch sollte man dies nicht mit den Anforderungen an eine Innovation im wirtschaftlichen Rahmen verwechseln. Lektion 4:
Innovationen bewirken eine schöpferische Zerstörung!
Übung 4: Betrachten Sie die Innovationen aus Übung 1, 2 und 3 nochmals und überlegen Sie, welche bestehenden Zustände dabei jeweils verändert, erweitert oder ersetzt werden! Welche vorher bestehenden Dinge werden somit jeweils zerstört?
18
1.4
1 Was sind Innovationen?
Technologische Innovationen
Eine besondere Art von Innovation ist diejenige, die nicht nur ein Produkt, einen Prozess, einen Vertrieb oder eine Art von Organisation erneuert, sondern die eine neuartige technische Grundlage für die Wirtschaft schafft. Eine solche umfassende technische Lehre bezeichnet man als Technologie. Und eine neue Technologie schafft dann einen neuen Markt. So führte die technische Entwicklung von Transistoren zu einer Technologie, die nicht nur das Produkt des Transistors selbst betrifft, sondern ungezählte weitere neuartige Produkte – vom Radio bis zum Computer – ermöglichte. Solche technologischen Innovationen prägen meist eine ganze Epoche, beispielsweise die Einführung der Dampfmaschine, des Stahls, der Elektronik, des Kunststoffs oder der Funktechnik. Und rückblickend scheint es so, als würde jede neuartige Technologie die gesamte Welt der Wirtschaft bestimmen. Nikolai Kondratjeff beschrieb bereits 1926 eine Theorie der langen Wellen, nach der die Weltkonjunktur seit Beginn der industriellen Revolution hauptsächlich durch die Erfindung neuartiger Technologien bestimmt wird.16 Insbesondere vertritt er darin die Behauptung, dass diese Innovationswellen regelmäßig mit einem Zyklus von etwa 50 Jahren auftreten. In diesem Sinn soll es bis heute fünf Zyklen gegeben haben: 1. ab etwa 1780 eine Mechanisierung mit Dampfmaschinen für Bergbau und Textilien 2. ab etwa 1840 eine Gründerzeit mit Bessemerstahl für Eisenbahn und Dampfschiff 3. ab etwa 1890 eine Technisierung mit Elektrizität und Chemie für den Maschinenbau 4. ab etwa 1940 eine Automatisierung mit Transistor für Automaten und Computer 5. ab etwa 1990 eine Globalisierung mit elektronischer Kommunikation und Internet Bei dieser Aufstellung wird bereits erkennbar, dass die Abgrenzung der Zyklen mit einigen Abschätzungen verbunden ist, was etwa den genauen Beginn und den Umfang der Technologien betrifft. So gab es bereits vor 1890 eine chemische Industrie für Schwefelsäure (ab 1746), Soda (ab 1791) oder Düngemittel (ab 1857). Und es gab auch vor 1940 bereits eine Automatisierung, beispielsweise bei der Fließbandfertigung des T-Modells von Ford 1908 bis 1927. Und das Internet entwickelte sich bereits zwischen 1969 und 1982 aus dem ARPANET. Daher gibt es Vorschläge, die relevanten Zeiträume und Technologien auch anders oder weiter zu fassen, beispielsweise einen Vor-Zyklus in England oder eine Einbeziehung historischer Technologien, wie den Faustkeil, das Rad, den Pflug, das Schiff, die Mathematik, die Navigation und so weiter. Insofern ist eine Regelmäßigkeit von technologischen Wellen durchaus strittig, weil das Thema zu komplex ist für eine derart vereinfachte Aussage. Unbestritten gilt aber, dass technologische Innovationen die Regeln für den gesamten Markt verändern und daher gesamtwirtschaftlich revolutionär sind. Beispielsweise ersetzte die Dampfmaschine die Arbeitstiere und deren Betreuer. Und der Bessemerstahl machte eine Vielzahl von Schreinern arbeitslos. Mit der Elektrizität wurde die Beleuchtung so billig, dass nur noch reiche Leute sich Kerzen leisten können – wie der Erfinder Thomas Alpha Edison es ausdrückte. An den Aktienbörsen versteht man dementsprechend unter Technologiewerten heutzutage nur noch diejenigen Unternehmen, die sich mit den Technologien unserer Epoche befassen, wie elektronische Kommunikation und Internet. Und als Innovationswerte werden meist sogar nur noch diejenigen Aktien bezeichnet, die sich mit Technologien für den vermutlich nächsten Kondratjeff befassen.
1.4 Technologische Innovationen
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In dem Buch Der Sechste Kondratjeff lieferte Leo Nefiodow 1996 entsprechend eine Vorschau auf künftige Technologien für Nachhaltigkeit mit regenerativen Energien, psychosozialer Gesundheit und biologisch-nanotechnischen Mechanismen.17 Ökonomisch entsprechen technologische Innovationen dem Konzept einer Lösung zweiter Ordnung, wie sie von Paul Watzlawick et al. beschrieben werden.18 Demnach beruht eine übliche Lösung – erster Ordnung – auf geschickter technischer Anwendung bekannter Prinzipien. Bei einer Lösung zweiter Ordnung werden dagegen auch die Voraussetzungen der Probleme geändert. Heutzutage wird beispielsweise nur noch in seltenen Fällen mit der Hand gewaschen statt mit einem entsprechenden Haushaltsgerät für Wäsche oder Geschirr. Besondere Hilfsmittel für die Handwäsche sind somit nicht mehr zu erwarten. Auch die Züchtung von leistungsstarken Zugtieren hat seit der Verfügbarkeit von Motoren kaum mehr Fortschritte zu verzeichnen. Und eine Kommunikation mit Morsezeichen ist inzwischen vollkommen aus der Mode geraten. Das Auftreten von technologischen Innovationen verführt umgekehrt auch zu ScienceFiction. Dabei wird vorausgesetzt, dass eine neuartige Technologie bereits machbar wäre, beispielsweise das Reisen durchs Weltall zu fremden Planeten und der Kontakt mit außerirdischen Lebewesen und Kulturen. Für konkrete Absichten von Innovationsmanagern ist diese fiktive Wissenschaft allerdings wenig hilfreich. Denn für eine Verwirklichung der entsprechenden Ideen sind doch noch nicht einmal die technologischen Voraussetzungen erfüllt.
Abb. 7:
Science oder Fiction? Die fiktive Mondfähre19 von Jules Verne 1865 wog 10 Tonnen. Der reale Eagle20 der NASA 1969 wog etwa 15 Tonnen. Der Startort von beiden lag in Florida. Die Technologien des Apollo-Programms zogen viele ökonomische Innovationen nach sich.
Volkswirtschaftlich kann es durchaus nützlich sein, sich rechtzeitig auf neuartige Technologien vorzubereiten, um etwa ein öffentliches Förderprogramm zu begründen oder um frühzeitig neue Kompetenzen auszubilden. Wegen des erwähnten evolutionären Drucks neuer Technologien erscheint dies sogar notwendig, um bestehende Märkte selbst zu erneuern, statt bei der Zerstörung in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Als Transhumanismus bezeichnet man derzeit die Verschmelzung von Technologien mit dem menschlichen Organismus. Insbesondere informationstechnische Geräte werden demzufolge
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1 Was sind Innovationen?
die angeborenen, evolutionären menschlichen Fähigkeiten drastisch erweitern. In dem Buch The Singularity is Near rechnet Raymond Kurzweil mit dem Beginn einer neuen – singulären – Evolutionsstufe der Menschheit im Jahr 2045.21 Tatsächlich lassen sich in den letzten Jahren immer mehr Beispiele für Innovationen in diesem Bereich feststellen: – Funktionsbekleidung verhilft der natürlichen menschlichen Bewegungsfähigkeit zu neuen Dimensionen beim Sport, wie Schwimmen, Rad- oder Skifahren, oder bei Einsätzen in der Tiefsee, im All oder im Umgang mit Feuer. – Prothesen für menschliche Körperteile können mittels elektrischen Signalen von Nervenenden direkt gesteuert werden. – Leistungsstarke Maschinen und miniaturisierte Hilfsgeräte können entsprechend direkt durch Denkmuster aus den elektrischen Gehirnströmen von Menschen bedient werden. – Und immer mehr Organe können ersetzt werden durch Transplantation von anderen Lebewesen, technische Organe oder sogar Nachzüchtung aus Stammzellen. Die Vertreter dieser Bestrebungen halten es für möglich, auf diese Weise mehr und mehr die bestehenden Begrenzungen des Menschenlebens zu überwinden. Mechanisierung
1780 Abb. 8:
Gründerzeit
1840
Technisierung Automatisierung Globalisierung Transhumanismus?
1890
1940
1990
2040
Die Kondratjeff-Zyklen der technologischen Entwicklung
Lektion 5:
Neue Technologien ermöglichen Innovationen höherer Ordnung!
Übung 5: Erkunden Sie die Grenzen Ihrer Vorstellungskraft! Schauen Sie sich in der Science-Fiction-Literatur um, indem Sie entsprechende Rezensionen lesen oder sich in entsprechenden Bibliotheken informieren! Notieren Sie 10 Beispiele für neuartige Technologien, die dort jeweils vorkommen! Welche davon wäre ökonomisch besonders wertvoll? Welche wäre revolutionär? Was würde dadurch evolutionär verdrängt oder sogar zerstört?
2
Wie macht man Innovationen?
Grundsätzlich werden Innovationen gemanagt, wie andere Sachen auch. Dabei bezeichnet der Begriff Management wörtlich eine Sache des Handwerks oder der Handarbeit. Und obwohl moderne Manager selbst kaum noch Hand bei der Durchführung einer Arbeit anlegen, sind sie doch zumindest verantwortlich für deren richtige Ausführung. Auch darum verstehen sie sich wohl gerne als die eigentlichen Macher für den unternehmerischen Erfolg. Insofern bezeichnet man inzwischen als Management sowohl die Arbeit an einer Unternehmung als auch allein die Gruppe der Verantwortlichen für die Ausführung dieser Arbeiten. Und entsprechend handelt es sich bei einem Innovationsmanager nicht unbedingt um denjenigen, der die Arbeiten zu einer Innovation selber erledigt. Sondern ein Innovationsmanager ist vorwiegend derjenige, der die Verantwortung für das Entstehen einer Innovation trägt. – Dabei geht es beispielsweise um Kosten-, Beschaffungs- oder Finanzmanagement, wenn die ökonomischen Aspekte einer Innovation zu erfüllen sind. – Auch geht es um Kommunikations-, Personal-, Kunden- oder Lieferantenmanagement, um die sozialen Aspekte einer Innovation zu handhaben. – Und es geht um Entwicklungs-, Ideen-, Wissens- und Technologiemanagement, wenn die wissenschaftlichen Aspekte einer Innovation betrachtet werden. – Es geht um Zeit-, Termin-, Ablauf- und Phasenmanagement, um die dynamischen Aspekte einer Innovation zu bewältigen. – Es geht um Risiko-, Krisen-, Konflikt- und Change-Management, wenn die kritischen Aspekte einer Innovation berücksichtigt werden. – Es geht um Produktions-, Instandhaltungs-, Gebäude- und Energiemanagement, um die operativen Aspekte einer Innovation zu gewährleisten. – Es geht um Produkt-, Marken-, Anforderungs- und Portfoliomanagement, wenn die strategischen Aspekte einer Innovation bearbeitet werden. – Es geht um Umwelt-, Integrations-, IT- und Programmmanagement, um die Aspekte im Umfeld einer Innovation einzubeziehen. – Und es bedarf eines sogenannten General Management der Prozesse, der Qualität, der Projekte, der Forschung … um nur einige weitere Aspekte zu nennen. In seiner Schrift The Principles of Scientific Management fasste Frederic Winston Taylor 1911 das General Management in einfachen Grundsätzen zusammen.22 Dieser Taylorismus stellt seither einen grundlegenden Ansatz für die unternehmerische Betriebsführung dar. Nach dramatischen Arbeiterunruhen in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet dies quasi einen Gegenentwurf zum Kommunistischen Manifest, um die Führung von Arbeitssystemen gleichermaßen erfolgreich wie verträglich zu gestalten. Die darin enthaltenen Hauptaufgaben des Managements werden seither immer wieder den neuen Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft angepasst. Zunächst
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2 Wie macht man Innovationen?
wurden sie bekannt, als Henry Ford sie zur Grundlage seiner Unternehmensführung machte, was mitunter auch als „Fordismus“ bezeichnet wird. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie von Toyota übernommen und zu einem „Toyotismus“ weiterentwickelt. Und sie lassen sich immer noch in den Prinzipien des modernen Lean Thinking – der sogenannten „schlanken“ Unternehmensführung – wiederfinden.23 In diesem Sinne können sie wohl auch als Basis für das Management von Innovationen herangezogen werden. Diese vier Hauptaufgaben des Managements lassen sich verkürzt anhand der Begriffe Facharbeit, Arbeitskraft, Zusammenarbeit und Arbeitsteilung erläutern:
Die Facharbeit besteht aus der Entwicklung einer Wissenschaft für jedes Element menschlicher Tätigkeit. Wörtlich: „Develop a science for each element of a man's work.” Erst die fachlichen Kenntnisse in Bezug auf eine Arbeit ermöglichen ein Management mit wissenschaftlichem Anspruch. – Dieses Prinzip führte in den 1920er-Jahren bei Ford zu einer zunehmenden Automatisierbarkeit der einzelnen Prozesse. Denn ein Prozess, der im Einzelnen spezifiziert ist, kann auch verselbstständigt werden. – Bei Toyota werden mit Jidoka dann diejenigen Prozesse bezeichnet, die bei fehlerhaftem Betrieb automatisch stoppen. Und als Poka-Yoke wird eine Prozedur bezeichnet, die einen Ablauf in der Fertigung narrensicher macht. – Im Lean Management gilt das schlanke Prinzip Specify Value, bei dem jeder Prozess in seinem Wert für den Betrieb spezifiziert ist. – Für das Innovationsmanagement bedeutet dies, die einzelnen Handlungen festzulegen und wissenschaftlich zu begründen, die für eine erfolgreiche Umsetzung einer technischen Neuerung am Markt erforderlich sind. Dazu gehört dann die Unterscheidung von ökonomischen, evolutionären, revolutionären und technologischen Innovationen. Und es gehören dazu die Projektierung, das Marketing, die wissenschaftlichen Grundlagen und die Erfindung von Innovationen.
Die Arbeitskraft besteht aus der wissenschaftlichen Auswahl und dem Anweisen, der Ausbildung und der Entwicklung von Arbeitern. Wörtlich: „Scientifically select and train, teach, and develop the workman.” Dabei wird berücksichtigt, dass jede Durchführung einer Arbeit – neben dem fachlichen Wissen – auch immer eine treibende Kraft benötigt. – Bei Ford wurden in der Folge zunehmend Maschinen eingesetzt, um die Arbeitskräfte zu entlasten. Den damaligen harten Arbeitsbedingungen sind inzwischen weitgehend ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze gewichen. – Bei Toyota werden mit Chaku-Chaku diejenigen Prozesse bezeichnet, bei denen ein Werkstück eine konsequente Reihung verschiedener Maschinen durchläuft. Und als Heijunka wird eine Prozedur bezeichnet, die einen unregelmäßigen Ablauf abschnittsweise ordnet und dadurch glättet. – Im Lean Management gilt das schlanke Prinzip Value Stream, bei dem die Wertschöpfung eines Betriebs klar im Materialstrom der Fabrik erfasst wird. – Für einen Innovationsmanager bedeutet dies, die notwendigen und wertschöpfenden Antriebskräfte zur Verwirklichung einer Innovation zu nutzen. Dazu gehören die Menschen und die menschliche Arbeitsleistungen bei der Projektierung, beim Marketing, bei den wissenschaftlichen Grundlagen und bei der Erfindung von Innovationen.
2 Wie macht man Innovationen?
23
Die Zusammenarbeit besteht aus dem intensiven – herzlichen – Zusammenwirken der verschiedenen beteiligten Menschen. Wörtlich: „Heartily cooperate with the men.” Dabei wird die Erkenntnis beachtet, dass die verschiedenen Fachkenntnisse von verschiedenen Facharbeitern erst durch ein allgemeines Zusammenwirken zur Geltung kommen können. – Henry Ford erregte in seiner Zeit ziemliches Aufsehen durch eine Sozialpartnerschaft mit der Arbeiterschaft, welche als sogenannter New Deal eine vergleichsweise üppige Bezahlung enthielt. Dadurch wurde es auch den einfachen Arbeitern möglich, sich das von ihnen geschaffene Produkt zu leisten. Bei der Wirtschaftskrise ab 1933 wurden solche Maßnahmen dann teilweise staatlich verordnet. – Bei Toyota wird mit Andon eine Anzeigetafel bezeichnet, die alle Mitarbeiter über den Produktionsablauf informieren und mit Kanban eine Warenkennzeichnung, welche das Zusammenwirken auch räumlich oder zeitlich entlegener Prozesse gewährleisten soll. Und als Hoshin Kanri wird eine Prozedur bezeichnet, die verschiedene Mitarbeiter in eine gemeinsame Entscheidung einbezieht und die Entscheidungsfindung für alle Beteiligten transparent macht. – Im Lean Management gilt das schlanke Prinzip Flow mit dem Anspruch, sich ständig um einen reibungslosen Arbeitsfluss in den Abläufen zu bemühen. – Für einen Innovationsmanager stellt sich somit immer die grundlegende Frage, wie der Austausch von Informationen erfolgen kann und die verschiedenen Kompetenzen von Mitarbeitern einbezogen werden können. Dazu gehören beispielsweise die formellen und informellen Gelegenheiten zur Kommunikation. Insbesondere ist die Einrichtung und Pflege einer Unternehmenskultur erforderlich, welche sowohl allgemeine Anreize für das Zusammenwirken als auch für solidarische Einzelleistungen schafft.
Die Arbeitsteilung beruht auf einer annähernd gleichen Unterteilung von Arbeitsausführung und Verantwortung zwischen den Managern und den Arbeitern. Wörtlich: „Almost equal division of the work and the responsibility between the management and the workmen.” Dabei geht es auch um die Unterschiede in der Verantwortung für eine Arbeit und deren Durchführung. Insofern besteht ein gewisser Widerspruch zum Prinzip der Zusammenarbeit. Zwar bedeutet diese Aufspaltung der Verantwortung für den Gesamtprozess in Einzelprozesse eine gewisse Entmündigung oder Entfremdung für die jeweilige Arbeitskraft, allerdings wird erst dadurch die Komplexität moderner Techniken beherrschbar. – Bei Ford lässt sich dies im Aufbau von Arbeitsketten erkennen, sowohl für einzelne Arbeitsschritte als auch in einer Lieferkette. – Bei Toyota wird mit Kaizen die regelmäßige Überprüfung von gemeinsamen Arbeitsabläufen bezeichnet, um die Systemkompetenz aller Mitarbeiter zu erhalten, zu fördern und für Verbesserungen zu nutzen. Und als Kaikaku wird eine Prozedur bezeichnet, die grundsätzlich neue Arbeitsabläufe einführt und die Mitarbeiter darin einweist. – Im Lean Management gilt das schlanke Prinzip Pull mit der Aufforderung, nur im Bedarfsfall neue Arbeiten aufzunehmen und bestehende Abläufe oder Prozeduren zu ändern. Verantwortung bedeutet demnach sowohl, für die Einhaltung der Ziele zu sorgen, als auch, bei Bedarf eine Anpassung der Ziele zu veranlassen.
24
2 Wie macht man Innovationen? –
Für einen Innovationsmanager ist dieser Zwiespalt sogar in besonderer Weise zutreffend, weil er eine Neuerung verantworten muss, die vorher ohne konkretes Beispiel ist. Es kann also sein, dass man nur fest an dem Ziel festhalten muss. Aber es kann genauso gut sein, dass man frühzeitig über Alternativen nachdenken muss. Und daher ist es gut, wenn jemand persönlich diese Verantwortung übernimmt – getrennt von dem gemeinsamen Arbeitsfortschritt.
Scientific Management 1911
Lean Thinking 1990
Facharbeit
Arbeitskraft
value
value stream
Arbeitsaufteilung
Zusammenarbeit
pull
flow
Fließband/ Lieferkette
Sozialpartner (New Deal)
kaizen kaikaku
Automatisierung
Maschinisierung
poka-yoke hjidoka
„Fordismus“ (ab 1920) Abb. 9:
hoshin kanri kanban/andon
chaku-chaku heijunka
„Toyotismus“ (ab 1950)
Entwicklung der Hauptaufgaben des Scientific Management zum Lean Thinking
Das Management von Innovationen beruht daher auf bestimmten Fachkenntnissen von bestimmten Fachkräften in einer bestimmten Zusammenarbeit unter einer bestimmten Aufteilung von Arbeitsausführung und Verantwortung dafür. Allgemein betrachtet unterscheiden sie sich demnach nicht grundlegend von anderen Arbeitsaufgaben. Lektion 6:
Das Management von Innovationen befasst sich in der Hauptsache mit Facharbeit, Arbeitskräften, Zusammenarbeit und Arbeitsteilung!
Übung 6: Betrachten Sie ein frei gewähltes Innovationsthema, beispielsweise eines aus den vorhergehenden Übungen – oder einer eigenen, neuartigen Idee! Überlegen Sie dann dazu die fachlichen Anforderungen an die Arbeit! Welcher Bedarf besteht dadurch für die Qualifikation der Arbeitskräfte? Wie müssen folglich die Art und der Aufwand für eine Zusammenarbeit sein? Und wie ist die sinnvolle Aufteilung für Verantwortung und Arbeitsdurchführung?
2 Wie macht man Innovationen?
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Verschlanken Sie anschließend die Arbeit am Thema! Welchen Wert wollen Sie erreichen? Wie entsteht dieser Wert aus dem Zusammenhang … und was ist Verschwendung? Welche Dinge stehen der Wertschöpfung entgegen … und wie beseitigt man diese? Welche Anforderungen bestehen gerade jetzt … und müssen daher Priorität haben? Untersuchen Sie mindestens eine Maßnahme des Fordismus oder des Toyotismus in der Auswirkung auf das Thema!
26
2.1
2 Wie macht man Innovationen?
Innovationsprojekte
Innovationen entstehen grundsätzlich durch ein Projektmanagement. Wörtlich bezeichnet der Begriff Projekt einen Entwurf und entspricht somit der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das Grundmerkmal eines Projektes stimmt also mit dem Grundmerkmal einer Innovation nach Lektion 1 überein. Eine Innovation entsteht demzufolge aus einem besonderen Projekt, welches das übergeordnete Ziel hat, einen wirtschaftlichen Vorteil durch eine absichtliche Erneuerung zu erzielen. Ein unternehmerisches Projekt zeichnet sich im Allgemeinen weiterhin dadurch aus, dass zeitliche und wirtschaftliche Grenzen berücksichtigt werden müssen. Zwar gibt es auch Projekte von öffentlichem Interesse, welche dieses Merkmal zu ignorieren scheinen, beispielsweise der Bau der Pyramiden, der Chinesischen Mauer oder auch aktuelle Bauprojekte, wie die Elbphilharmonie in Hamburg, der Hauptstadtflughafen in Berlin oder der Bahnhof von Stuttgart. Aber die fehlende Abgrenzung muss dann durch eine besondere Opferbereitschaft der Allgemeinheit ausgeglichen werden. In einer freien Wirtschaft sind dagegen die ökonomischen Grenzen zu beachten und ein Innovationsprojekt hat demnach sowohl einen festgelegten Anfangs- und Endtermin als auch einen klaren Rahmen an finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen. Beim Management von allgemeinen Projekten handelt es sich außerdem um abgestimmte und gelenkte Tätigkeiten.24 Denn es hat sich bewährt, die Vorgehensweise mit den Beteiligten abzustimmen und durch geeignete Maßnahmen zu lenken, um ein Ziel in begrenzter Zeit mit begrenzten Ressourcen zu erreichen. Insbesondere bei innovativen Projekten ist es sonst möglich, dass die Ziele falsch verstanden werden und die einzelnen Tätigkeiten vielfach unkoordiniert ins Leere laufen. Das Innovationsmanagement lässt sich in diesem Sinne auf Basis von vier Säulen aufstellen, welche gleichermaßen für das Projektmanagement gelten: Organisation, Planung, Kommunikation und Controlling.25
Die Projektorganisation befasst sich mit der Bereitstellung der notwendigen Mittel für die Arbeit. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Organ bezeichnet wörtlich ein Werkzeug oder Hilfsmittel für einen Prozess. – Bei Projekten gehören dazu beispielsweise eine ausreichende Finanzierung und die erforderlichen Materialien, zugehörige Arbeitsmittel, Arbeitsplätze und Energie sowie die notwendigen Informationen. Und bei der Personalorganisation ist es erforderlich, ein ausgewogenes Verhältnis von zielstrebigen Kommandostrukturen und lernfähiger Selbstorganisation zu entwickeln.
Die Projektplanung entwirft möglichst konkrete Handlungsanweisungen für die Zukunft. Der aus dem Griechischen stammende Begriff Plan bezeichnet wörtlich das Auswalzen oder Ausbreiten eines Vorhabens mithilfe von Übersichten. – Bei Projekten gehören dazu beispielsweise der Meilensteinplan des Projektfortschritts, der Strukturplan aus Arbeitspaketen und Organigrammen, der Ablaufplan der jeweiligen Arbeitsvorgänge und der Ressourcenplan über die Projektlaufzeit. Dabei dient die Planung nur zu einer vorläufigen Orientierung mit einem begrenzten zeitlichen Horizont, welche regelmäßig an die jeweils veränderten Gegebenheiten angepasst werden muss.
2.1 Innovationsprojekte
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Die Projektkommunikation berücksichtigt den intensiven Austausch aller Beteiligten. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff Kommunikation bezeichnet wörtlich den Zusammenhalt oder das Zusammenwirken von verschiedenen Personen. – Bei Projekten gehören dazu die formellen oder informellen Gelegenheiten für einen zwischenmenschlichen Austausch, beispielsweise durch verbindliche Besprechungen, Protokolle, Formulare und Umgangsformen – oder auch über eher unverbindliche Gespräche, Notizen, Skizzen und das gemeinsame Feiern. Der jeweils erreichte Arbeitsfortschritt wird dann dokumentiert durch ein alltägliches Reporting, ein planmäßiges Review, ein gelegentliches Audit und eine entsprechende Dokumentation beim Abschluss.
Das Projektcontrolling begleitet alle Managementprozesse und unterstützt die Umsetzung der Leitungsaufgaben. Der aus dem Französischen stammende Begriff Kontrolle bezeichnet wörtlich das Überprüfen oder Gegenzeichnen einer Anweisung. – Bei Projekten gehören dazu beispielsweise die Erfassung der Qualität und der Kosten, das Erreichen der gesetzten Ziele und der geplanten Termine. Dabei beinhaltet das moderne Controlling nicht nur eine Kontrolle der planmäßigen Zustände eines Projekts, sondern auch die Gestaltung eines insgesamt sicheren und zuverlässigen Ablaufs.
Konzeption Auftrag Ergebnis Interessen Risiken
Innovationsmanagement Organisation
Planung
Kommunikation
Controlling
Finanzen
Meilensteine
Reporting
Kosten
Materialien
Struktur
Review
Qualität
Information
Ablauf
Audit
Kontrolle
Personal
Ressourcen
Dokumente
Gestaltung
Die 4 Säulen des Projektmanagements Abb. 10:
Die Stützen des Projektmanagements mit einem Überbau für Innovationen
In Analogie zur Mechanik lassen sich diese vier Säulen, auf die sich das Projektmanagement stützt, als „statisch“ bezeichnen. Denn zu jedem Zeitpunkt eines Projekts gibt es einen bestimmten Stand der Organisation, der Planung, der Kommunikation und des Controllings, bei dem sich die aktuellen Einwirkungen oder Auswirkungen der Arbeiten – sozusagen die Kräfte des Projekts – in einem Gleichgewicht befinden müssen. Die Konzeption eines Projekts entspricht in diesem Bild dagegen eher einer „Dynamik“. Denn sie betrifft die Veränderungen und Fortschritte des Projekts über den Verlauf oder Weg. In dieser Analogie ist sogar ein gewisses „energetisches Potenzial“ notwendig, damit sich ein Projekt entwickeln kann. Diese Energie sorgt dann für die Arbeitsfähigkeit, um das Projekt
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2 Wie macht man Innovationen?
von einem Zustand zum nächsten zu bringen. Das entsprechende Potenzial eines Projekts muss bei der Genehmigung des Konzepts von den Auftraggebern und von den Mitarbeitern gemeinsam zugesagt werden. Diese Art „Innovationsenergie“ steht entsprechend für die Dynamik zur Verfügung, durch etwas Neues einen Innovationspreis am Markt zu erzielen oder sogar neue Märkte durch schöpferische Zerstörung zu erschaffen. Und offenbar bedarf es dafür vornehmlich einer besonderen Konzeption.
Innovationsprojekte haben daher meist einen besonderen Auftrag – auch Charter genannt, der etwas außerhalb der üblichen Geschäftstätigkeiten liegt. Denn eine Innovation verfolgt häufig ein Ziel außerhalb des bestehenden Geschäfts und hat somit andere unternehmerische Ursachen als die sonst üblichen Projekte. Entsprechend bestehen Besonderheiten hinsichtlich der Integration von Innovationprojekten in die bestehende Unternehmensstruktur. Der Umriss oder Scope der Projektaufgaben ist spekulativer. Und der Projektvorschlag oder das Proposal ist in der Sache unverbindlicher gehalten. Deshalb gelten für Innovationsprojekte auch besondere Kriterien und Faktoren für den Erfolg. – Beispielsweise liegt die Ursache für die Initiative zu einem Innovationprojekt häufig außerhalb des Rahmens der bestehenden Produkte, deren Produktion und Vertrieb. Es ist daher oft ratsam, das Projekt etwas außerhalb der Unternehmensstrukturen anzusiedeln, weil es die laufenden Geschäftsziele gefährdet oder zumindest irritiert, wenn die Mitarbeiter mit besonderer Anstrengung sowohl das bestehende als auch ein neuartiges Geschäftsziel verfolgen sollen.
Innovationsprojekte streben als Ergebnis vornehmlich einen Innovationspreis an. Denn ohne eine Art von neu geschaffenem Wert sind die Investitionen für eine Innovation ökonomisch nicht zu rechtfertigen. – Dagegen können Projekte im Allgemeinen auch andere unternehmerische Ergebnisse erzielen, beispielsweise eingeschränkt durch bestimmte Bedingungen oder nur in einer bestimmten Form, wobei bestimmte Lösungswege, Etappenziele oder bestimmte Alternativen berücksichtigt werden müssen sowie bestimmte Ausschlusskriterien vermieden werden sollen. Bei Innovationen treten diese Rahmenbedingungen zunächst hinter dem übergeordneten Ziel des ökonomischen Erfolgs zurück und müssen relativ offen bleiben. Daher sind die Erfolgsfaktoren von Innovationen von besonderer Bedeutung.
Innovationsprojekte verfolgen meist besondere Interessen mit entsprechend besonderen Interessenten oder Stakeholdern. Während ein allgemeines Projekt hauptsächlich mit bestimmten Mitarbeitern aus einer bestehenden Unternehmensorganisation durchgeführt wird, kommen bei einer Innovation eher allgemeine, offene Personenkreise zum Einsatz, die nach dem Erfüllen von Einzelleistungen oder dem Erreichen von Zwischenzielen, wechseln können. Ein Innovationsprojekt wird dabei von Promotoren getrieben. – Beispielsweise kann es in der Arbeitsgruppe oder in dem Projektteam einzelne Mitarbeiter geben, die über längere Zeiten nicht an den Arbeiten beteiligt sind, sowie Projektleiter, die nur für bestimmte Zeitabschnitte oder Projektphasen verantwortlich sind. Entsprechend kann sogar der Auftraggeber oder Projektträger zwischendrin wechseln und die Berater gewechselt oder der Steuerkreis umgebaut werden. Daher werden bei Innovationsprojekten besondere Promotoren bedeutsam.
2.1 Innovationsprojekte
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Innovationsprojekte sind in der Regel mit besonderen Risiken verbunden. Denn gegenüber von Projekten, die einer gewöhnlichen Geschäftstätigkeit entspringen, sind die Gegebenheiten im Umfeld der Innovation eher unbekannt und von größeren Unsicherheiten begleitet. Der Umgang mit diesem höheren Risiko bedarf daher auch einer besonderen Kultur. – Während es bei Projekten im Allgemeinen einen gewissen Erfahrungshintergrund über Techniken, Wirtschaftlichkeit, Kompetenzen, Recht und Umweltbedingungen gibt, herrscht bei Innovationen eher eine größere Unkenntnis vor. Etwas Neues ist nur dann wirklich neu, wenn es auch unbekannte Anteile enthält. Und je radikaler die Innovation sein soll, desto größer werden das unternehmerische Risiko und die Unsicherheit der beteiligten Menschen. Erst bei der Projektkonzeption werden demnach die besonderen Merkmale einer Innovation bedeutsam. Denn das Innovationsmanagement verfolgt das besondere Ziel, einen Innovationspreis am Markt zu erreichen und durch ein zeitweiliges Monopol eine Innovationsrendite zu erwirtschaften – oder sogar neue Märkte durch schöpferische Zerstörung zu erobern. Wie bereits in der Einleitung zum Innovationsbegriff erläutert wurde, verfügen Innovationen daher über einen besonderen Auftrag, aus dem sich besondere Ergebnisse ableiten, welche besonderen Interessen folgen und mit besonderen Risiken behaftet sind. All diese Aspekte sind bei der Konzeption eines solchen Projekts zu berücksichtigen. Für das allgemeine Management von Projekten steht entsprechend umfangreiche Literatur zur Verfügung.26 27 28 Zu den Besonderheiten von Innovationsprojekten zählen vorwiegend die Erfolgsfaktoren für den Auftrag, die Phasen auf dem Weg zum Ergebnis, die Promotoren der jeweiligen Interessen und die Kultur beim Umgang mit Unsicherheiten und Risiken. Lektion 7:
Innovationsmanagement ist Projektmanagement mit besonderen Zielen!
Übung 7: Betrachten Sie wieder ein frei gewähltes Innovationsthema wie in Übung 6! Erkunden Sie die Besonderheit der Ziele! Worin bestehen die besonderen Ursachen und Anlässe für das Thema? Und mit welchen Bedingungen lässt sich das Projekt in Ihre bestehenden Aufgaben integrieren? Welcher Rahmen ist erforderlich und wie beschreiben Sie das Thema, um es gegenüber Interessenten auf den Punkt zu bringen? Welche Besonderheiten gelten für die Beteiligten als Team, Leiter, Auftraggeber oder Unterstützer? Wie wird der besondere Innovationspreis sein? Und welche Art von Unsicherheiten erscheinen gänzlich neu?
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2 Wie macht man Innovationen?
2.1.1
Die beiden Erfolgsfaktoren
Der Begriff Faktor bezeichnet wörtlich etwas, das Fakten – und somit Tatsachen – schafft. Und ein Erfolgsfaktor ist demnach etwas, das die grundlegenden Ziele einer Unternehmung verwirklicht. Diese Ziele können zwar auch von weiteren Einflüssen – oder Einflussfaktoren – bestimmt sein, welche folglich indirekt auch den Erfolg bedingen. Aber für den Erfolg sollte man sich zunächst nur an den wesentlichen, direkten und unmittelbaren Faktoren orientieren. Bei einer Innovation handelt es sich im Wesentlichen um ein neues Wirtschaftsgut. Und als Ergebnis eines Innovationsprojekts wird in erster Linie ein ökonomischer Gewinn angestrebt. Mit diesen beiden Kriterien sind die Erfolgsziele einer Innovation bereits recht genau erfasst. Grundsätzlich lassen sich daher zwei Faktoren für den Projekterfolg bei Innovationen unterscheiden:
Der erste Faktor wird als Invention bezeichnet und betrifft die Schaffung eines neuen Angebots. Eine Invention besteht aus dem Finden einer vielversprechenden Idee für eine Neuerung, die durch eine pfiffige Erfindung realisiert wird. Eine Idee allein reicht also nicht, sondern es geht bei der Invention um die erfolgreiche Verwirklichung einer neuen Idee, also ihre konkrete Existenz. Die Invention stellt gewissermaßen die Wirkung oder den Effekt einer Innovation dar. – Typische Inventionen sind technische Erfindungen, beispielsweise die Dampfmaschine durch Newcomen 1712, der Motorwagen durch Benz 1885 oder die elektronische Rechenmaschine durch Zuse 1937.
Der zweite Faktor wird als Diffusion bezeichnet und betrifft das Schaffen eines ökonomischen Vorteils. Eine Diffusion besteht aus der kommerziellen Verbreitung einer Invention, um den erhofften Innovationspreis zu erzielen. Eine Invention reicht also noch nicht für den Erfolg einer Innovation. Denn eine Innovation schafft nur dann neue Werte, wenn sie auch wirtschaftlich erfolgreich verbreitet wird. Die Diffusion stellt gewissermaßen die Wirksamkeit oder die Effizienz einer Innovation dar. – Typische Diffusionen betreffen die Nutzung von technischen Erfindungen, beispielsweise das Geschäft mit Dampfmaschinen durch Watt ab 1769, mit der Fabrikation von Automobilen durch Peugeot ab 1891 oder mit Computern durch IBM ab 1947. An diesen Beispielen wird auch deutlich, dass die effektive Wirkung einer Innovation mit ihrer effizienten Wirksamkeit nicht zwangsläufig einhergeht. Mit dem Spannungsfeld von Invention und Diffusion – also von Wirkung und Wirksamkeit, oder von Effektivität und Effizienz – sind bereits die wesentlichen Erfolgsfaktoren von Innovationsprojekten erfasst:
Eine Invention ohne Diffusion ist vergeblich, weil sich kein ökonomischer Erfolg einstellt. Und eine Diffusion ohne Invention ist trügerisch, weil sie keine wirkliche Neuerung anbietet. – Beispielsweise ist die Einführung von neuen Kraftstoffen für Fahrzeuge mit einem Komplex aus Invention und Diffusion verbunden. Denn es scheint doch ökonomisch wenig sinnvoll, einen Wasserstoffantrieb auf den Markt zu bringen, wenn dieser sich mangels Tankstellen kaum verbreiten lässt. Aber es scheint ebenfalls un-
2.1 Innovationsprojekte
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sinnig, den Aufbau eines Netzes von Wasserstofftankstellen zu verordnen, bevor es einen entsprechenden Bedarf an neuen Motoren oder Brennstoffzellen dafür gibt.
Invention Wirkung Effektivität
Idee
Innovation
Diffusion Wirksamkeit Effizienz Abb. 11:
Invention und Diffusion als Erfolgsfaktoren zwischen Idee und Innovation
Eine weitere Eigenschaft dieser Faktoren ist ihre zeitliche Abfolge. Aus Ideen entstehen Inventionen, die wiederum einer Diffusion bedürfen, um insgesamt eine Innovation zu bilden. Daher lassen sich Innovationsprojekte grundsätzlich als zwei aufeinander aufbauende Teilprozesse auffassen. Im ersten wird aus möglichst vielen Ideen eine möglichst erfolgversprechende ausgewählt und technisch verwirklicht. Und im zweiten wird diese Invention am Markt wirksam als Innovation eingeführt und ökonomisch verwertet. 29 – Erst wenn es beispielsweise effektive Antriebe mit Brennstoffzellen gibt, lässt sich der Markt für diese Art von Fahrzeugen erschließen. Diese beiden Faktoren bilden demzufolge eine Basis für erfolgreiches Innovationsmanagement. Und die meisten Fehlschläge im Innovationsmanagement sind darauf zurückzuführen, dass einer der Faktoren nicht erfüllt wurde. – Die Firmen Mercedes, Volkswagen und Audi stellten bereits in den 1980er-Jahren die Invention von Fahrzeugen mit einem Hybridantrieb aus Elektro- und Verbrennungsmotor vor. Aber die entsprechende Markteinführung mit dem Innovationspreis wurde der Konkurrenz von Toyota überlassen. Zwar wird diese Entscheidung damit gerechtfertigt, dass man weiterhin den Hybrid nur als Übergangstechnologie sehe. Aber der entsprechende Übergangsmarkt mit seinem Potenzial wurde verpasst. – Andererseits wurde die Diffusion für elektronische Technologien durch Mobilkommunikation und Internet zunächst stark überbewertet. Viele Unternehmen wurden lediglich aufgrund neuer Ideen für ihren Nutzen an die Börse gebracht und bestanden letztlich aus kaum mehr als einer virtuellen Dotcom-Adresse. Ab 1999 vervielfachten sich die Werte durch eine zunehmende Beteiligung von Kleinaktionären. Im März 2000 mussten allerdings mehr und mehr Unternehmen Insolvenz anmelden, weil sie die technischen Versprechungen nicht erfüllen konnten. Da das Kapital
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2 Wie macht man Innovationen?
der Anleger vorwiegend in die Bezahlung von geistigen Vorarbeiten von hoch bezahlten Mitarbeitern und riskanten Übernahmen geflossen war, standen dann kaum noch materielle Werte bereit, um die notwendigen Rückzahlungen zu leisten. Dadurch erfolgte ein ebenfalls übertriebener Rückzug der Kleinaktionäre aus dem Aktienmarkt, wodurch auch diejenigen Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen wurden, welche bereits eine belastbare Geschäftstätigkeit vorweisen konnten. Bis ins Jahr 2005 galten daraufhin die Unternehmen der IT-Branche an der Börse wiederum als unterbewertet. Diese Zweiteilung des Fortschritts durch Innovationen lässt sich als ein grundlegendes Prinzip des menschlichen Handelns ansehen. In der Philosophie spricht man dabei von einer Zerteilung – der Dichotomie – einer umfassenden Lehre – der Ontologie. Dabei entsteht zunächst eine zweigeteilte Gesamtheit – ein sogenannter Dualismus. Und solche Dualismen des menschlichen Wirkens und Handelns sind bereits in den verschiedensten Zusammenhängen erkannt worden. Für den Innovationsmanager scheint es daher durchaus ratsam, sich mit den Prinzipien von solchen dualen Ontologien vertraut zu machen. Denn der Erfolg von Innovationsprojekten ist dadurch bedingt, dass beide Faktoren gleichermaßen verfolgt werden.
Konfuzius (ca. 551–479 v.Chr.) beschreibt bereits den grundlegenden Gedanken: „Kenntnis ohne Erkenntnis ist nutzlos – und Erkenntnis ohne Kenntnis ist gefährlich!“ Denn die Kenntnis allein bringt noch keinen Nutzen. Sondern der Nutzen einer Kenntnis stellt eine weitere Erkenntnis dar. Aber eine Erkenntnis allein ist reichlich spekulativ und ungewiss. Daher macht erst eine gewisse Kenntnis der Hintergründe aus einer Erkenntnis wiederum eine recht sichere Sache. Und daher benötigt man immer beides: Sowohl Kenntnis als auch Erkenntnis. – Entsprechend benötigt man auch für Innovationen sowohl die gewisse Kenntnis einer Invention als auch das Erkennen von passenden Marktgelegenheiten und der dadurch möglichen Diffusion.
Immanuel Kant (1724–1804) stellt eine entsprechende Wechselwirkung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem vernünftigen Verstehen einer Angelegenheit fest: „Gedanken ohne Inhalte sind leer – Anschauungen ohne Begriffe sind blind!“ In diesem Denkansatz stellen Inhalte und Anschauungen offenbar die gesicherten Kenntnisse dar. Und die Gedanken und die Begriffe entsprechen den vorausschauenden Erkenntnissen. – Für Innovationen braucht man daher sowohl eine real anschauliche Invention, um eine Idee mit einem inhaltlichen Effekt zu füllen. Und man braucht ebenso eine Diffusion von den dazugehörenden Gedanken, um diese Invention effizient begreifbar werden zu lassen.
Werner Heisenberg (1901–1976) formulierte das physikalische Gesetz der Unbestimmtheit oder Unschärfe in der Physik, nach dem komplementäre Eigenschaften nicht gleichzeitig genau gemessen werden können. Typische komplementäre Eigenschaften in der Physik sind beispielsweise der Ort und die Bewegung eines Objekts. Die Messung der Position beeinflusst die Geschwindigkeit und die Messung der Geschwindigkeit verändert die Position. Also können beide nie genau gleichzeitig feststehen, obwohl erst beide gemeinsam einen physikalischen Zustand vollständig erfassen. – In diesem Sinne lässt sich die Invention als eine Position auffassen, welche erst durch die Diffusion in Bewegung kommt. Es scheint natürlich unsinnig, nur die
2.1 Innovationsprojekte
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Verbreitung einer Idee zu betreiben, ohne die jeweilige Position zu berücksichtigen. Und es scheint ebenso wirtschaftlich unsinnig, allein eine Erfindung zu betreiben, ohne dass eine finanzielle Bewegung dadurch ausgelöst wird. In diesem Sinne sind Invention und Diffusion also ebenfalls komplementär, sie ergänzen sich also, obwohl sie anscheinend auch unabhängig voneinander gelten. Auch die genannte Abfolge von der Invention zur Diffusion lässt sich analog in grundlegenden philosophischen Überlegungen begründen:
Georg Jellinek (1851–1911) beschrieb den Gedanken einer normativen Kraft des Faktischen. Demnach müssen sich alle weiteren Überlegungen immer an den vorhandenen Tatsachen messen. – In diesem Sinne stellen Inventionen zunächst einmal eine faktische Gegebenheit dar, auf die sich eine erfolgreiche Diffusion immer beziehen muss.
Jean-Paul Sartre (1905–1980) unterschied dementsprechend zwischen der Existenz von Lebewesen und der Essenz ihres Lebenszwecks. Und er begründete seinen existenzialistischen Schluss, nach dem eine Existenz der Essenz immer vorausgehen muss. – In diesem Sinne lässt sich auch für Innovationen sagen, dass erst die Existenz einer Invention die Essenz seiner lohnenden Diffusion nach sich ziehen kann. Es scheint also insgesamt ausreichend begründet zu sein, den Erfolg von Innovationen vordringlich im Management von Invention und Diffusion zu suchen. Und ein Innovationsmanager hat demnach die vordringliche Aufgabe, die Technik und die Ökonomie aufeinander abzustimmen. In dieser Zweiteilung bedingen sich die eigentlich separaten Aufgabenstellungen wechselseitig. Die Diffusion muss sich nach der Invention richten und umgekehrt die Invention nach der Diffusion. Dieser Zusammenhang wird in seiner Bedeutung oft unterschätzt. – Der moderne Straßenverkehr besteht – etwas vereinfacht dargestellt – aus den Inventionen des Straßenbelags 1815 durch John L. McAdam, des Automobils 1885 durch Carl Benz und des Luftreifens 1889 durch Édouard Michelin. Aber McAdam musste zunächst seine Technik des Straßenbaus auf die vorhandenen Fahrzeuge abstimmen. Und Benz konnte seinen wirtschaftlichen Erfolg zunächst nur im Rahmen der vorhandenen Straßen verwirklichen. Und Michelin schließlich musste sowohl seine Technik auf das Automobil anpassen, als auch eine Kommerzialisierung im Rahmen des gegebenen Straßennetzes erreichen. Beim Langstreckenrennen von 1895 zwischen Bordeaux und Paris von etwa 1200 km mussten beispielsweise noch 50 Reifenpannen behoben und dabei 22 Reifen gewechselt werden. – Die mobile Telefonie besteht – entsprechend vereinfacht – aus Sendestationen als Verbindung zum Festnetz, mit einem lückenlosen Funknetz und den dazu passenden Endgeräten. Während die Kommerzialisierung der ersten Mobilfunkgeräte noch von einer begrenzten Netzverfügbarkeit eingeschränkt war, so stellte der Netzausbau dann wiederum technische Anforderungen an neue Geräte. Daher musste sich die Verbreitung der Sendetechnik technisch stets an den verfügbaren Frequenzen und ökonomisch an den vorhandenen Mobiltelefonen orientieren. Von zahlreichen Firmen wurden in den 1990er-Jahren ständig neue Produkte angeboten, die durch neue Prozesse günstiger herstellbar wurden. Über immer neue Vertriebswege wurden sie verbreitet, wodurch sich sowohl Unternehmungen als auch gesellschaftliche Struk-
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2 Wie macht man Innovationen?
turen ständig neu organisierten. In einem dynamischen Umfeld war in diesen Jahren daher ein richtiggehendes Feuerwerk von Innovationen zu beobachten. Solche plakativen Beispiele lassen sich fortführen für die zahlreichen Innovationen der jüngeren Geschichte, wie das Fernsehen, den Personal Computer oder den Flugverkehr, mit denen wir inzwischen allgemein vertraut sind. Und trotz der allgemeinen Erfolgsgeschichte lassen sich auch bedeutsame Einschränkungen aufzeigen: – Die Verbreitung von neuen Fahrzeugen wird eingeschränkt durch einen zunehmenden Stau auf den Straßen und in der Luft, dem bisher keine technische Invention gewachsen zu sein scheint. – Und der technische Fortschritt wird eingeschränkt durch zunehmende finanzielle Krisen, die ein überhitzter Markt für neue Technologien selbst ausgelöst hat. Denn es zieht entsprechend ruinöse Konsequenzen nach sich, wenn Technologie und Ökonomie nicht aufeinander abgestimmt sind. Dabei können sowohl überzogene Erwartungen an die technische Wirkung als auch an die ökonomische Wirksamkeit gestellt sein. – Der Suezkanal erwirtschaftete im ersten Jahr nach seiner Eröffnung 1871 bereits einen Überschuss von 2 Millionen Francs, welche bis 1889 auf knapp 30 Millionen Francs jährlich anwuchsen, was bei Baukosten von 426 Millionen Francs einer Rendite von 7% p.a. entsprach. Daher begann man 1881 mit dem Bau des Panamakanals, welcher allerdings aufgrund unterschätzter Schwierigkeiten 1889 mit dem finanziellen Ruin der Kanalgesellschaft ohne Konkursverfahren endete und den größten französischen Finanzskandal des 19. Jahrhunderts nach sich zog. 1894 übernahm eine Auffanggesellschaft die Rechte, die sie 1904 an die USA weiterverkaufte. Erst 1914 wurde der Bau fertiggestellt und erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs offiziell eingeweiht. – Nach dem kommerziellen Erfolg der Fernsehsatelliten erstellte die Firma Motorola 1985 ein Konzept für die globale Satellitentelefonie. 1998 stellte das Tochterunternehmen Iridium die Installation von 77 Satelliten für 5 Milliarden US-Dollar fertig, konnte aber nur etwa 55.000 Nutzer gewinnen, weil die Einstiegskosten für Endgeräte und Service für den Nutzer offenbar zu hoch waren. Im Jahr 2000 musste Konkurs angemeldet werden. Erst die Auffanggesellschaft Iridium Satellite konnte sich mit kostengünstigerer Technik am Markt durchsetzen und erreichte 2010 etwa 342.000 Kunden. In vielen Innovationskonzepten wird meist eine weitaus größere Anzahl von Erfolgsfaktoren berücksichtigt. Das mag damit zusammenhängen, dass grundsätzlich jeder begründete Einfluss auf ein Projekt auch für dessen Erfolg oder für dessen Scheitern verantwortlich sein kann. Im Nachhinein scheint dann jeder Einfluss auch irgendwie notwendig für den Erfolg gewesen zu sein. Und daher wird es für jeden denkbaren Einflussfaktor auf ein Innovationsprojekt auch jeweils bestimmte Erfolgskriterien geben. Diese besonderen Einflussfaktoren gelten dann eher für besondere Abschnitte oder Phasen eines Innovationsprojekts und werden anschließend betrachtet. Außerdem sind mit großer Sicherheit die verschiedenen Strategiekreise innovativer Unternehmen in genau diesem Augenblick damit beschäftigt, eine eigene – geheime – Innovationslogik für den eigenen unternehmerischen Erfolg zu entwickeln. Und wahrscheinlich werden dabei komplexe Strukturen mit parallelen und seriellen Zusammenhängen berücksichtigt. Und vielleicht ist diese Arbeit sogar sehr nützlich, weil sich dabei verborgene Potenziale
2.1 Innovationsprojekte
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eines Unternehmens auf neuartige Weise offenbaren und sich das Unternehmen darüber selbst neu erfindet. Dabei stellt das Innovationsmanagement selbst mitunter einen Faktor für die Erarbeitung von Unternehmenszielen dar – und nicht eine Aufgabe zum Erzeugen neuer Unternehmenswerte. Auch dieser Aspekt des Innovationsmanagements scheint bedeutsam, soll aber hier nicht weiter betrachtet werden. Lektion 8:
Der Erfolg einer Innovation beruht auf effektiven Inventionen und deren effizienter Diffusion!
Übung 8: Betrachten Sie wieder ein frei gewähltes Innovationsthema wie in Übung 7! Welche Invention ist damit verbunden? Wie hoch schätzen Sie die erforderliche technische Leistung ein? Von welchen Einflüssen wird diese bestimmt? Und welcher Markt steht dafür zur Verfügung? Welche Einflüsse bestimmen diesen Markt? Wie groß schätzen Sie den Aufwand für die Diffusion ein?
36
2.1.2
2 Wie macht man Innovationen?
Die verschiedenen Innovationsphasen
Der Begriff Phase bezeichnet wörtlich die Anzeichen für eine bestimmte Grundstimmung, wie den momentanen Zeitgeist oder eine aktuelle Mode. Als Innovationsphase lässt sich demzufolge die gewisse Stimmung bezeichnen, bei der ein neuer ökonomischer Wert geschaffen wird. Und diese Innovationsphase besteht wiederum aus weiteren Phasen, wie eine Ideenphase, in der neue Vorstellungen für Werte und Lösungsansätze für Erfindungen generiert werden, eine Inventionsphase, um die wirksamen Effekte zu erzeugen, und eine Diffusionsphase, um eine Verbreitung am Markt zu erreichen. Die Phasen eines Innovationsprojekts entsprechen demnach jeweils einem bestimmten Zustand von Invention und Diffusion auf dem Weg von der Idee zur Innovation. Beim Projektmanagement ist es üblich, zeitlich aufeinanderfolgende Phasen festzulegen. Dadurch wird der gesamte Ablauf in zeitliche Abschnitte, Epochen oder Etappen, unterteilt. – Als Meilensteine oder Mile Stones werden im Projektmanagement die Ereignisse von besonderer Bedeutung genannt, um das Ziel einer Phase zu erreichen. Sie werden meist bereits in der Planung zeitlich genau festgelegt. Und sie werden in der Regel von einer rückblickenden Bewertung – dem Review – begleitet, um über die Fortführung des Projekts zu entscheiden oder Anpassungen zu beschließen. Eine typische Einteilung von Projekten enthält eine Start- oder Initialphase, in der ein erster Ansatz mit einer Projektidee in einem Lastenheft formuliert wird. Das entspricht schon recht gut der Ideenphase eines Innovationsprojekts. Darauf folgt eine Konzeptphase, in der die Machbarkeit oder Feasibility des Projekts geprüft und der Auftrag in einem Pflichtenheft spezifiziert wird. Anschließend wird in einer Umsetzungs- oder Realisierungsphase das Projektziel verwirklicht. Die abschließende Einführungsphase eines Projekts betrifft dann die Kommerzialisierung und beinhaltet somit hauptsächlich die Umsetzung der Diffusion. – Als Quality Gates werden speziell für Entwicklungsprojekte zwischenzeitliche Qualitätsziele gesetzt. Auch sie werden meist bereits in der Planung inhaltlich festgelegt. Und sie werden in der Regel ebenfalls von einem Review begleitet, um zu entscheiden, ob die geplanten Termine erreicht werden und der nächste Entwicklungsschritt erfolgen kann. In großen Projekten folgen die Gates meist einer absteigenden Zählung oder dem Countdown von Buchstaben oder Zahlen bis zur Einführung. – Als Stage Gates wurden von Robert Cooper 1986 besondere Zwischenziele für Entwicklungs- und Innovationsprojekte als Warenzeichen eingeführt.30 Sie beinhalten daher eine vernünftige Reihenfolge von bestimmten Kriterien für das Projektcontrolling von Innovationsprozessen. Diese bestehen aus 6 Prozessstufen, die von 0 bis 5 nummeriert sind und den jeweils geforderten Zwischenstand genau spezifizieren. Mit einem ausgebildeten Beratungsmodell sollen sie eine gewisse Sicherheit des Gesamtprozesses bieten. Dabei folgen diese sogenannten Stages durchaus den üblichen Projektphasen: Stage 0: Discovery – Entdecken der Idee in einer Startphase Stage 1: Scoping – Umreißen des Themas in einer Konzeptphase Stage 2: Business Case & Plan – Aufstellen des Projekts in einer Planungsphase Stage 3: Development – Entwickeln von Prototypen in einer Umsetzungsphase Stage 4: Testing & Validation – Prüfung der Prototypen in einer Testphase Stage 5: Product Launch – Einführen des Produkts in der Einführungsphase
2.1 Innovationsprojekte
37
In den jeweiligen zeitlichen Projektphasen sind die Erfolgsfaktoren Invention und Diffusion miteinander gekoppelt und voneinander abhängig. Denn sowohl für die Invention als auch für die Diffusion werden ständig weitere Ideen benötigt. Und die Ideen für effektive Erfindungen sowie deren effiziente Vermarktung bedingen sich gegenseitig von der Konzeption bis zur Umsetzung. Daher ist es ratsam, in diesen zeitlichen Phasen verschiedene Aspekte einer Innovation gemeinsam zu bearbeiten. Und wohl deshalb findet sich in der Literatur mitunter eine verwirrende Verwendung von Bezeichnungen für die Phasen eines Innovationsprojekts. Letztlich scheint es sinnvoll, für jedes Projektthema ganz eigene Begriffe zu finden, um die spezifischen Unterschiede deutlich zu machen.
discovery scoping business case development testing product launch stage 0
stage 1
stage 2
Projektarbeit
Gate C
stage 3
stage 4
Gate B
stage 5
Gate A
Inventionsphase Ideenphase
Innovationsphase Diffusionsphase
MS1
Startphase Abb. 12:
MS2
Konzeptphase
MS3
Umsetzungsphase
Zeit
Einführungsphase
Das Phasendiagramm für ein Innovationsprojekt Die Erfolgsfaktoren – Invention und Diffusion – bestimmen die gesamte Innovationsphase. Der zeitliche Ablauf der Projektarbeit – von den Ideen zur Innovation – lässt sich einteilen in aufeinanderfolgende Meilensteine (MS), Quality Gates oder Stages.
Im Sinne eines üblichen Projektmanagements handelt es sich bei der Projektierung einer Innovation eher um ein sogenanntes Programm aus zwei Teilprojekten: einem Inventionsund einem Diffusionsprojekt. Die Aufgabe eines Programmmanagers besteht vorwiegend darin, diese verschiedenen Aspekte der Projektarbeit jeweils miteinander zu verbinden. Und die besondere Herausforderung besteht dann darin, beide zu einem gemeinsamen Erfolg zu führen.
In einem Inventionsprojekt werden vorwiegend die technischen Kompetenzen gebündelt. Denn oftmals sind die technischen Herausforderungen und der Bedarf an technischer Findigkeit so groß, dass jede nichttechnische Ablenkung den Erfolg einer Invention zu gefährden vermag. Die Bezeichnung technisch umfasst dabei im ursprünglichen Wortsinn alle Maßnahmen, die künstlich gestaltet werden und sich nicht von selbst – also natürlich – ergeben. Daher gelten diese nicht nur für die offensichtlich technischen
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2 Wie macht man Innovationen?
Aspekte von Produkt- oder Prozessinnovationen, sondern auch für die eher ökonomisch orientierten Vertriebs- oder Organisationsinnovationen. – Beispielsweise müssen auch bei einer Vertriebsinnovation die angestrebten Einrichtungen für einen neuen Messeauftritt technisch machbar sein. – Und entsprechend müssen für eine Organisationsinnovation die Transportmöglichkeiten für eine neue Logistik auch technisch realisierbar sein. Diese technische Projektierung betrifft grundsätzlich die Erzeugung des neuen Effekts und seiner Effektivität. Dabei sind in typischer Weise die folgenden Einflüsse oder Einflussfaktoren zu berücksichtigen: 31 • Innovationshöhe • Differenzierungsmerkmale • Entwicklungsaufwand • Zulassung und Genehmigung • Zuverlässigkeit und Sicherheit • Umweltverträglichkeit • Patentierbarkeit • Bedarf an Hilfsmitteln • Kompatibilität • Eigene Kompetenz • Eigene Kapazität • Synergien Bei der Projektierung einer Innovation können diese Einflüsse jeweils in ihrer Bedeutung geschätzt und auf einer Skala bewertet werden. Daraus lassen sich dann bestimmte Typen von Innovationen zuordnen, die eingangs vorgestellt wurden. – Eine radikale Innovation weist beispielsweise eher eine große Innovationshöhe und einen entsprechend hohen Aufwand bei der Zulassung auf. – Eine inkrementelle Innovation zeugt dagegen von einer hohen Zuverlässigkeit und entsprechender Kompatibilität. – Und eine technologische Innovation verfügt eher über große Differenzierungsmerkmale mit einer guten Patentierbarkeit. All diese Einflussfaktoren werden mitunter auch als Erfolgsfaktoren für die Invention aufgefasst. Allerdings sind dabei Überschneidungen zu berücksichtigen, also Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Faktoren, wie zwischen der Innovationshöhe, dem Alleinstellungsmerkmal und der Patentsituation. Und es können stets weitere Einflüsse hinzugenommen werden, wie zufällige Kooperationsmöglichkeiten, unternehmerische Neugier oder schlicht die Lust am technischen Gestalten. Diese Auflistung stellt einige erste Anhaltspunkte für die Ausarbeitung einer themenspezifischen Checkliste dar. Die einzelnen Punkte müssen dann jeweils auf das Projektthema übertragen und interpretiert werden. – Ist beispielsweise die Innovationshöhe groß, so besteht meist auch ein hohes Differenzierungsmerkmal, die Innovation ist also am Markt eindeutig zu erkennen und rechtlich gut abzugrenzen. Allerdings ist dies meist wiederum mit hohem Aufwand für die Entwicklung, für die gesetzliche Zulassung und für die Nachweise von Zuverlässigkeit und Umweltverträglichkeit verbunden. Dies ist meist aber erst dann sinnvoll machbar, wenn die Innovation einigermaßen kompatibel ist mit den beste-
2.1 Innovationsprojekte
39
henden Geschäftsaktivitäten, mit der Kompetenz der Mitarbeiter in dem Thema und mit der Kapazität, die Innovation zu realisieren. Es sei denn, es ergeben sich zufällige oder geplante Fügungen zwischen unterschiedlichen Unternehmungen, die gemeinhin als Synergien bekannt sind.
In einem Diffusionsprojekt werden dann entsprechend die ökonomischen Kompetenzen gebündelt, wobei ökonomisch im ursprünglichen Wortsinn das Haushalten zwischen den geschätzten Aufwendungen und den erhofften Erträgen umfasst. Denn auch ökonomische Themen enthalten spezifische Schwierigkeiten und benötigen besondere Ideen, welche durch technische und andere nichtökonomische Details vielleicht eher abgelenkt werden. Die ökonomische Projektierung betrifft entsprechend die angestrebte wirtschaftliche Effizienz. Ökonomisch bedeutsam ist demnach vorwiegend die kommerzielle Verbreitung der Invention, beispielsweise der Markt mit seinen Kunden. Wiederum lassen sich hierfür typische Einflussfaktoren angeben: • Marktvolumen • Markterschließungskosten • Markteintrittsbarrieren • Eigene Marktnähe • Wettbewerbssituation • Kooperationspartner • Kundenwünsche • Leistungsumfang • Preisgestaltung • Umsatzerwartung • Wirtschaftlichkeit • Förderungsmöglichkeiten Auch diese Einflüsse lassen sich wiederum als Erfolgsfaktoren für die Diffusion auffassen. Und auch sie sind weder unabhängig voneinander noch stellen sie eine umfassende Gliederung dar. Wieder liefern sie nur erste Anhaltspunkte für eine Untersuchung der ökonomischen Machbarkeit. – Erweist sich beispielsweise das Marktvolumen als groß, so ist dies in Relation zu den notwendigen Erschließungskosten und eventuell den besonderen Eintrittsbarrieren zu sehen. Besteht bereits eine eigene Position in dem Markt, so lassen sich entsprechend leicht die möglichen Konkurrenten oder Kooperationspartner herausfinden. Der Leistungsumfang kann dann auf die Kundenwünsche abgestimmt werden und in die Preisgestaltung einfließen. Daraus lässt sich eine Umsatzerwartung erstellen und die Wirtschaftlichkeit berechnen. Im Vergleich der technischen Entwicklungskosten mit den Gewinnerwartungen sind schließlich noch Förderungsmöglichkeiten einzubeziehen. Die Abstimmung der verschiedenen Einflussfaktoren für Invention und Diffusion während der jeweiligen Phasen ist offenbar recht komplex. Daher verwendet man im Projektmanagement gerne das Modell eines sogenannten Magischen Dreieck mit den Eckpunkten Kosten, Zeit und Effektivität. „Magisch“ ist der Zusammenhang von Kosten, Zeit und Effektivität offenbar deswegen, weil sich keiner der drei Eckpunkte verändern lässt, ohne dass die ande-
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2 Wie macht man Innovationen?
ren beiden beeinträchtigt werden. Durch die Visualisierung in einem Dreieck bleiben diese Zusammenhänge überschaubar.
Die Zeit steht für die Projektdauer. Als Time-to-Market bezeichnet man die Dauer einer Entwicklung bis zur Einführung auf dem Markt. Die steigende Effektivität erhöht die Kosten bis zum Beginn der Diffusion. – Versucht man schneller zu sein, so kostet dies etwas und die Effektivität leidet.
Die Kosten stehen für die Ausgaben und sonstigen Aufwendungen eines Projekts. Als Design-to-Cost bezeichnet man die Gestaltung eines lohnenden Projektergebnisses. Denn die Aufwendungen zur Entwicklung und zur Herstellung müssen bei der Diffusion wieder erwirtschaftet werden. – Versucht man Kosten zu sparen, so dauert es länger und die Effektivität leidet.
Die Effektivität steht für die technischen Eigenschaften einer Innovation, von der Funktionalität – über die Größe und die Menge – bis zur Zuverlässigkeit. Als Best-in-Market bezeichnet man die Qualitätsfunktionen eines Projektergebnisses. Daher wird statt Effektivität oft auch direkt der Begriff Qualität verwendet. – Versucht man die Effektivität zu steigern, so kostet dies Zeit und Geld.
Kosten
Projektziele Time-to-Market
Abb. 13:
Das Magische Dreieck zur Abstimmung der Projektziele
Der Begriff Effektivität wird umgangssprachlich oft mit der Effizienz verwechselt. Während aber die Effizienz die Wirksamkeit in Bezug zum Aufwand bezeichnet, versteht man unter Effektivität die Wirksamkeit in Bezug zum Ziel, also den Umfang des erzielten Effekts. In diesem Sinne handelt es sich also bei der Effektivität um eine Aussage darüber, in welchem Maße der innovative Effekt erreicht wird, wogegen es sich bei der Effizienz darum handelt, in welchem Maße der innovative Effekt lohnt. Das kann tatsächlich einen großen Unterschied ausmachen. Und beim Management eines Innovationsprojektes handelt es sich demnach vordringlich um eine Abstimmung zwischen der technischen Wirksamkeit und der ökonomischen Wirksamkeit.
2.1 Innovationsprojekte
41
Als sogenanntes Over-Engineering ist in dieser Hinsicht auch das Problem bekannt, dass die Markteinführung eines Produkts immer länger verschoben wird, um zunächst die technische Wirkung einer Invention weiter zu steigern, also die Effektivität zu erhöhen. Die dadurch verursachte Verzögerung mag zwar einhergehen mit der durchaus erfolgversprechenden Absicht, auf dem Markt gleich zu Beginn ein höherwertiges Produkt anzubieten. Und es ist richtig, dass man über eine höhere Effektivität mitunter auch eine höhere Effizienz erreichen kann, wenn das damit verbundene Alleinstellungsmerkmal einen höheren Innovationspreis nach sich zieht. Allerdings wird dadurch die Dauer geringer, in der durch ein zeitweises Alleinstellungsmerkmal bereits die erste Rendite mit einem Innovationspreis erzielt werden kann. Und daher empfiehlt es sich, die Steigerung der Effektivität erst nach den ersten Diffusionserfolgen zu betreiben. Gerade in Deutschland scheint ein gewisser Hang vorhanden zu sein, die Effektivität weiter zu steigern, anstatt dem bereits erzielten technischen Effekt frühzeitig zu einer ökonomischen Effizienz zu verhelfen. Denn die folgenden Inventionen wurden allesamt in Deutschland entwickelt, aber erfahren offenbar ihren ökonomischen Erfolg eher im Ausland: – Die Firma Leica entwickelte 1925 die weltweit ersten Kleinbildkameras. – Die Firma Loewe entwickelte 1930 die weltweit erste elektronische Fernsehübertragung. – Die Firma AEG entwickelte 1935 das weltweit erste Tonbandgerät Magnetophon. – Die Firma Zuse Apparatebau realisierte 1941 die ersten programmierbaren Rechner. – Rudolf Hell präsentierte 1956 das erste funktionstüchtige Faxgerät. – Ingenieure der RWTH Aachen realisierten 1973 den ersten Hybridmotor. – Andreas Pavel erhielt 1977 ein erstes Patent auf den später genannten Walkman. – Die Firma Junghans entwickelte 1985 die weltweit ersten Funkuhren. – Karlheinz Brandenburg stellte 1992 am Fraunhofer-Institut IIS den ersten Standard für die digitale Komprimierungstechnik MP3 vor. Die vordringliche Aufgabe eines Innovationsmanagers besteht somit offenbar darin, einen Markteintritt für die frühestmögliche Ausführung einer Innovation zu finden. Und dabei kann es durchaus sinnvoll sein, bereits frühzeitig eine erste Invention mit geringerer Effektivität zu verbreiten. Die dadurch gewonnenen Erträge und Erfahrungen können dann bereits eingesetzt werden, um nachfolgend weitere Innovationen mit höherer Effektivität anzuschließen. Als sogenannter Spin-off wird daher im Innovationsmanagement eine Ausgliederung eines Übergangsprodukts bezeichnet, welches zwar effektiv schon machbar ist, aber die Effektivität für den ursprünglich gedachten Markt noch nicht ausreicht. Und entsprechend besteht eine wesentliche Aufgabe des Innovationsmanagers darin, die möglichen Spin-offs aus einer Innovationsphase bereits bei der Machbarkeit zu berücksichtigen und die entsprechende Diffusion auf Teilmärkten vorzubereiten. Zur Sicherung von Innovationsphasen können auch weitere Instrumente eingesetzt werden. Bei diesen handelt es sich um erprobte Regelwerke, welche durch eine methodisch geführte Überprüfung eine höhere Zuverlässigkeit versprechen.
Als PDCA wird im Qualitätsmanagement ein Zusammenhang zwischen der Planung, der Ausführung, der Prüfung und der Handlung bezeichnet – als Abkürzung für die Anweisungen Plan-Do-Check-Act. Dahinter steht die durchaus begründbare Auffassung, dass
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2 Wie macht man Innovationen? mit einer gewissen Ordnung der Prozesse im Management ein qualitativ zuverlässiges und sicheres Ergebnis erzielt werden kann. Bei PDCA wird über einen Plan versucht, einen erfolgreichen Zustand vorher zu bestimmen. Mit seiner Ausführung wird dieser Zustand erstmals erreicht. Und mit einer Prüfung kann dann das Ausmaß des Erfolgs bestimmt werden. Als Handlung werden schließlich entsprechende Konsequenzen für eine weitere Vorgehensweise gezogen. Diese Prozessordnung ist auch als QualitätsRegelkreis, Deming- oder Shewhart-Cycle bekannt. Sie bietet mit diesen vier Eckpunkten auch für Innovationen eine erfolgversprechende Anleitung zum Vorgehen. – Im Innovationsmanagement wird entsprechend zunächst eine Idee geplant, dann als Invention erstmalig ausgeführt. Dabei werden die Möglichkeiten zur Diffusion geprüft. Und schließlich wird die Innovation am Markt eingeführt.
Als DMAIC – gesprochen wie demake – wird im Prozessmanagement ein Zusammenhang zwischen Definition, Messung, Analyse, Verbesserung und Steuerung bezeichnet – als Abkürzung für die Anweisungen Define-Measure-Analyse-Improve-Control. Dahinter steht die ebenfalls begründbare Auffassung, dass die Prozesse selbst einen gewissen Standard erfüllen müssen, um Schwachstellen zu erkennen und sie zu verbessern. Durch eine Definition wird daher jeder einzelne Faktor abgegrenzt. Durch eine Messung wird dann sein Zustand bestimmt. Durch eine Analyse wird sein Beitrag zum Erfolg bewertet. Als Verbesserung werden dann Vorschläge zur Steigerung der erreichten Werte erstellt. Und zum Controlling werden Steuerungsmöglichkeiten eingeführt. Im Qualitätsdesign 6 gibt es für neue Produkte die Abwandlung DMADV mit Entwurf und Überprüfung, als Abkürzung für DMA-Design-Verify. Ein Innovationsprojekt ist demnach erfolgreicher, wenn es diese vorbestimmte Abfolge von Prozessschritten konsequent einhält. – Im Innovationsmanagement wird entsprechend zunächst die Idee für eine Innovation festgelegt und detailliert beschrieben. Anschließend werden messbare Größen für die technische Effektivität und ökonomische Effizienz der Innovation ermittelt – und dann analysiert oder mit Alternativen verglichen. Anschließend werden Verbesserungsvorschläge für eine höhere Effektivität und/oder Effizienz der Innovation entworfen und beschrieben. Diese Vorschläge werden versuchsweise umgesetzt und überprüft.
Als SMART wird bei der Abstimmung von Arbeitszielen der Zusammenhang zwischen Spezifikation, Messbarkeit, Ausführung, Relevanz und Terminen bezeichnet – als Abkürzung für die Kriterien Specific-Measurable-Achievable-Realistic-Timed.32 Dahinter steht dann die wiederum begründete Auffassung, dass ein Projekt nur dann erfolgreich sein kann, wenn seine Ziele ausreichend genau überlegt wurden. Ein Innovationsprojekt ist demnach erfolgversprechend, wenn seine Ziele und die Form der Ergebnisse ausreichend spezifiziert sind, diese ausführbar sind und einen messbaren Wert ergeben, und diese sowohl geschäftlich relevant als auch zeitlich erreichbar scheinen. – Diese fünf Punkte lassen sich auch für Innovationsprojekte heranziehen, um inhaltliche und zeitliche Ziele zu erreichen. S: Eine Innovation sollte demnach ein spezifisches Alleinstellungsmerkmal aufweisen. M: Der Effekt und die Effizienz der Innovation sollten durch messbare Ergebnisse bestätigt werden. A: Die Invention sollte technisch und finanziell ausführbar sein. R: Die Diffusion sollte technisch und wirtschaftlich mit der Realität des Marktes vereinbar sein. T: Invention und Diffusion sollten zu einem bestimmten Termin erfolgt sein.
2.1 Innovationsprojekte
43
Als SWOT wird im strategischen Unternehmensmanagement der Zusammenhang von Stärken, Schwächen, Gelegenheiten und Gefährdungen bezeichnet – als Abkürzung für die Kriterien Strengths-Weaknesses-Opportunities-Threats. Dahinter verbirgt sich nun die begründete Auffassung, dass jedes Unternehmen im Wettbewerb um eine marktorientierte Lösung Stärken und Schwächen aufweist, welche sowohl Gelegenheiten als auch Bedrohungen darstellen. Ein Innovationsprojekt ist demnach erfolgreicher, wenn es die Gelegenheiten nutzt und die Bedrohungen meidet, die sowohl für seine eigenen Stärken als auch seine eigenen Schwächen gelten. Eigene Stärken werden genutzt, um neue Gelegenheiten zu ergreifen und neue Gefährdungen abzuwenden. Und eigene Schwächen werden beseitigt, um neue Gelegenheiten zu erschließen und Gefährdungen zu vermeiden. – Aus der Kombination der vier Aspekte ergeben sich wiederum vier Eckpunkte für eine erfolgversprechende Ausrichtung von Innovationsprojekten. SO: Mit einer Innovation entsteht die Gelegenheit, einen Innovationspreis durch ein zeitweiliges Alleinstellungsmerkmal zu erzielen und neue Märkte zu erobern. ST: Jede Innovation ist mit unbekannten Neuerungen verbunden und besitzt daher ein hohes Risiko, zu scheitern. WO: Die eigene Innovationschwäche kann durch geschicktes Management gestärkt werden, indem beispielsweise eine sorgfältige Projektauswahl mit passenden Kooperationen durch eine qualifizierte Bearbeitung erfolgt. WT: Die Gefährdung der eigenen Innovationsfähigkeit kann vermindert werden, indem beispielsweise ein methodisches Projektmanagement mit fachgerechter Konzeption in einer Machbarkeitsstudie durchgeführt wird.
Als KISS wird in Forschung und Entwicklung die Einfachheit oder Robustheit einer Sache bezeichnet – als Abkürzung für den Ausspruch „Keep It Short and Simple“. Dieses Prinzip wurde bereits vom Scholastiker William von Ockham (1285–1347) im Mittelalter angewendet und trägt daher in der Wissenschaftstheorie auch den Namen Ockhams Rasiermesser, weil alles Unnötige an einer Theorie weggeschnitten werden soll. Dahinter verbirgt sich die pragmatisch begründete Ansicht, dass sich komplizierte oder komplexe Gedanken meist im eigenen Geflecht verstricken und selbst behindern. Demnach ist ein technisches System im Maschinenbau oder in der Informatik umso erfolgreicher, je mehr es gelingt, sich auf wenige notwendige Einflussgrößen zu beschränken. – Für den Erfolg von Innovation bedeutet dieses Prinzip, sich immer wieder auf die Kernaussage der Idee zu besinnen und nur diejenigen Dinge zu betrachten, die für den Erfolg notwendig sind. Es gibt also verschiedene professionelle Hilfsmittel, um die Phasen eines Innovationsprojekts methodisch zu begleiten und den Erfolg greifbarer zu machen. Lektion 9:
Bei einer Innovation müssen die technische Effektivität und die ökonomische Effizienz stets aufeinander abgestimmt werden!
Übung 9: Betrachten Sie wieder ein beliebiges Innovationsthema, beispielsweise aus den vorhergehenden Übungen! Erkunden Sie zunächst jeweils getrennt die Invention und die Diffusion mithilfe der angegebenen Einflussfaktoren!
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2 Wie macht man Innovationen?
Welchem Typ entspricht damit die Innovation wohl? Versuchen Sie, jeweils mindestens einen weiteren Einflussfaktor für das Thema zu finden! Untersuchen Sie dann die Abhängigkeiten zwischen Invention und Diffusion! Wie weit schränken die technischen Möglichkeiten den Markt ein? Und welche Technik wird für eine größere ökonomische Verbreitung erforderlich? Welche Effektivität kann erreicht werden? Gibt es frühe Zustände, die bereits einen Spin-off gestatten? Versuchen Sie, die Argumente abzuwägen, die für einen frühen Markteintritt mit geringer Reife und kleinem Marktvolumen sprechen! Welche zusätzlichen Kosten entstehen dann?
2.1 Innovationsprojekte
2.1.3
45
Die vier Promotoren
Innovationsprojekte werden von Menschen gemacht. Denn die Umsetzung erfolgt stets durch eine Zusammenarbeit von den verschiedenen Interessenten eines Projekts, die auch Teilnehmer, Anteilseigner oder Stakeholder genannt werden. Neben den Erfolgsfaktoren und den Phaseneinflüssen bei einer Innovation stellt sich daher die Frage, welche Eigenschaften und Kompetenzen dabei von den Menschen gefordert sind. Als sogenannte Promotoren werden die verschiedenen Rollen von den Treibern eines Innovationsprojekts bezeichnet. Ausgehend von ersten Überlegungen durch Eberhard Witte 1973 unterscheidet man dabei inzwischen vornehmlich vier Typen:33 34
Der Machtpromotor verfügt über eine Autorität, Innovationen gegen alle unternehmerischen Widerstände voranzubringen. Denn die schöpferische Zerstörungskraft von Neuerungen löst in den bestehenden Unternehmensstrukturen eher Irritationen oder sogar Ängste aus, welche den Projekterfolg behindern oder gefährden. – Die Aufgaben eines Machtpromotors bestehen beispielsweise darin, Überzeugungsarbeit zu leisten und den Widerstand gegen die Risiken und Veränderungen von Neuerungen auf ein vernünftiges Maß einzuschränken.
Der Fachpromotor verfügt dagegen eher über eine persönliche Kompetenz zum Innovationsthema, um Innovationen gegen alle inhaltlichen Probleme voranzubringen. Denn der Kompetenzaufbau für technische Neuerungen benötigt zunächst auch passende fachliche Unterstützung. – Die Aufgaben eines Fachpromotors bestehen entsprechend darin, allgemeine und besondere Kenntnisse zum Thema zu vermitteln sowie fachliche Ideen für Problemlösungen beizusteuern.
Der Prozesspromotor verfügt über besondere Kenntnisse zum Projekt- und Innovationsmanagement, um methodische Mängel zu überwinden. Denn eine Innovation beinhaltet ein erhöhtes Risiko, welches durch ein entsprechend professionelles Management vermindert oder vermieden wird. – Die Aufgaben eines Prozesspromotors sind daher eher indirekt, denn er steuert Kenntnisse bei zu Arbeits- und Vorgehensweisen bei Projekten, für Problemlösungen oder für die Vermarktung.
Der Beziehungspromotor verfügt über ein weitreichendes Netzwerk zu weiteren Promotoren, um allgemeine organisatorische Mängel zu beheben. Denn ein Innovationsprojekt ist ein Unternehmen auf Zeit. Ohne Integration in bestehende – und entsprechend stabile – Strukturen wird es sich kaum etablieren können. – Die Aufgaben eines Beziehungspromotors sind also eher beratend. Er vermittelt Kontakte zu weiteren mächtigen, fachlichen oder methodischen Promotoren und kümmert sich um Konflikte bei der Arbeit an Innovationsprojekten. Diese Beachtung von sozialen Rollen bei einer Unternehmung hat ihren Ursprung in den Theaterwissenschaften und wurde später in der Psychologie aufgegriffen, um das Zusammenwirken menschlicher Einflüsse zu analysieren und sinnvoll zu gestalten. Offenbar bietet der spielerische Umgang mit Rollen einen Anreiz, sich intensiver mit der Gestaltung von Abläufen auseinanderzusetzen. Jedenfalls erfreuen sich allgemein Rollenspiele einer Interessengruppe sowohl bei einer historischen Nachstellung als auch mithilfe einer elektronischen Simulation einer großen Beliebtheit.35
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2 Wie macht man Innovationen? –
Beispielsweise kann man in der Entwicklung von Projektteams auf die mittelalterliche Ständeordnung zurückgreifen, um verschiedene Fähigkeiten mit den erforderlichen Funktionen zu verbinden. Der Adel hat dabei die Macht und das Handwerk ist vom Fach, während der Klerus die Prozesse bestimmt und Händler die Beziehungen herstellen. Diesbezüglich sind die Promotoren einer Innovation durchaus als Abbild der typischen Berufsstände des Mittelalters darstellbar. In gewisser Weise stellt die Promotion durch Macht, Beziehungen, Fach- und Prozesswissen eine andere Art von Faktoren für einen Projekterfolg dar. Ein Innovationsmanager sollte sich daher darüber klar sein, durch welche Personen die jeweiligen Aspekte in seinem Projekt abgedeckt sind. Diese Aufgaben lassen sich wieder grundsätzlich anhand der vier Hauptaufgaben des Managements – der Facharbeit, der Arbeitskraft, der Zusammenarbeit und der Arbeitsteilung – noch weiter spezifizieren: – Beispielsweise besteht die eigentliche Arbeit des Machtpromotors aus den grundlegenden Entscheidungen über Meilensteine und Prioritäten. Sein Beitrag als Arbeitskraft enthält die typischen Stabsaufgaben, wie Strategie und Übersicht des Portfolios an Innovationsprojekten. Und in der Zusammenarbeit autorisiert er die Führungskräfte und unterstützt die Integration des Projekts in die Geschäftstätigkeiten. Dabei verantwortet er arbeitsteilig die unternehmerische Richtigkeit der verschiedenen Maßnahmen, wie Projektauswahl, Budgetierung oder Abbruch. – Dagegen liegt die Arbeit des Fachpromotors eher bei der Ausführung der einzelnen Arbeitsvorgänge. Und er ist an der Erledigung von Sachaufgaben als Arbeitskraft beteiligt. Seine Zusammenarbeit erfolgt im Projekt über Beiträge zu Arbeitspaketen. Und er verantwortet arbeitsteilig die sachliche Richtigkeit der Inhalte bei Beschaffung, Arbeitsausführung und Ergebnis.
Machtpromotor
Abb. 14:
Promotoren für Macht- und Fachaufgaben in einem Innovationsprojekt
Fachpromotor
2.1 Innovationsprojekte –
–
47
Bei einem Prozesspromotor beruht die Arbeit auf seiner Kompetenz in Managementprozessen, wie der Konzeption, der Organisation, der Planung, der Kommunikation und dem Controlling von Projekten. Als Arbeitskraft kann er beispielsweise Aufgaben zur Projektierung beisteuern, wie Beschreibung des Vorhabens, Verhandlung des Auftrags, Spezifizierung der Ergebnisse. Und in der Zusammenarbeit kann er entsprechend die verschiedenen Arbeitsprozesse abstimmen und Aufgaben verteilen. Seine Verantwortung in der Arbeitsteilung erstreckt sich dementsprechend auf die sachliche Richtigkeit am Ende von Projektphasen, wie Verträge, Organigramme, Pläne, Kommunikationsmittel oder Kontrollwerte. Schließlich besteht beim Beziehungspromotor die Arbeit vorwiegend in der Beratungstätigkeit. Als Arbeitskraft vermittelt er Informationen oder Kontakte in einem weitreichenden Netzwerk. Als Mediator oder Coach für Konflikte fördert er die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationslinien oder unterschiedlichen Unternehmenszielen. Und somit verantwortet er in der Arbeitsteilung eine umfassende Übersicht und Vermittlung zwischen strategischen und operativen Aufgaben.
Prozesspromotor
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Beziehungspromotor
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Abb. 15:
Promotoren für Prozesse und Beziehungen in einem Innovationsprojekt
Solche Persönlichkeitsmodelle beruhen offenbar auch immer auf bestimmten Denkweisen. Und daher stellt sich umgekehrt die Frage, welche Denkweisen für Innovation gebraucht werden. Von solchen grundsätzlichen Denkweisen weiß man, seit sie bereits in der griechischen Antike aufgeschrieben und in Schulen kultiviert wurden. Diese ersten Klassen oder Einteilungen des Denkens lassen sich nun auch für die vier Promotoren darstellen.
Ein klassischer Zyniker geht davon aus, dass jede tiefsinnige Betrachtung rein menschlich ist und daher nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Ein echter Zyniker beschränkt sich in diesem Sinne rein auf biologische Bedürfnisse, eben wie ein Hund , von dem diese Bezeichnung entlehnt ist. – Vorbild für diese Denkweise war Diogenes von Sinope (4. Jh.v.Chr.), der in einer Tonne hauste und seine Notdurft in aller Öffentlichkeit verrichtete. Als Alexander der Große ihm einen beliebigen Wunsch erfüllen wollte, bat er diesen nur darum, ein Stück zur Seite zu gehen, weil er gerade die Sonne verdecke.
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2 Wie macht man Innovationen? –
–
Dieser Zynismus scheint die geeignete Denkweise für einen Machtpromotor darzustellen. Denn diese Macht sollte allein für den unternehmerischen Erfolg eingesetzt werden ohne tiefsinnige Betrachtung oder Vorlieben. Und manchmal muss man dabei schlicht und einfach Hindernisse aus dem Weg räumen, wenn diese einer Erleuchtung im Wege stehen. Eine zynische Innovation ist vielleicht in der Besinnung auf die größtmögliche Einfachheit zu sehen. Beispielsweise gibt es den innovativen Anspruch von komplexen Maschinen, narrensicher oder robust gestaltet zu sein. Dazu dienen Schutzschalter an Maschinen oder automatische Schaltgetriebe in Fahrzeugen.
Ein klassischer Dogmatiker stellt dagegen den Begriff mitunter sogar über die Wirklichkeit. Ein typischer Dogmatiker ist demnach bestrebt, sich die Welt über Begriffe anzueignen. Nach ausreichender Aneignung ist er in der Lage, immer weitere Dinge mit Begriffen zu erklären. – Aristoteles (384–322 v.Chr.) steht beispielhaft für diese Denkweise, weil er dermaßen grundlegende und unumstößliche Gedanken geprägt hat, dass sie bis auf den heutigen Tag Bestand haben. In seiner Metaphysik entwirft er eine erste Begrifflichkeit für die Wissenschaft, die sich hinter der Natur verbirgt und diese gleichwohl bestimmt. – Diese Kompetenz für Begriffe wird grundsätzlich von einem Fachpromotor erwartet. Denn bei einer Innovation steuert er die zahlreichen und präzisen Fachkenntnisse zum inhaltlichen Erfolg bei. Und manchmal muss man dabei schlicht und einfach die theoretischen und methodischen Lehren anwenden, um neue Vorstellungen zu verwirklichen. – Eine dogmatische Innovation lässt sich vielleicht in der Besinnung auf Natürlichkeit finden. Beispielsweise besteht der innovative Anspruch der Bionik, besonders verträgliche und ganzheitliche technische Effekte hervorzubringen, die ein natürliches Vorbild haben, wie den Vogelflug oder den Lotos-Effekt.
Ein klassischer Akademiker versucht, in den wirklichen Dingen das ideale Urbild zu erkennen. Ein typischer Akademiker tauscht sich über seine Überlegungen in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten – der Akademie – aus. Dabei geht es ihm lediglich um die Erweiterung seines Verständnisses und nicht um eine Anwendung des Wissens. – Die Akademie in Athen wurde von Platon gegründet und setzte fast ein Jahrtausend lang Maßstäbe für die wissenschaftliche Bildung. Die ursprüngliche Ideenlehre von Platon geht dabei von zwei getrennten Welten aus: die erfahrbare Realität und die denkbare Idealität. Und Akademiker waren in der Antike bekannt dafür, dass sie einen realen Nutzen der gefundenen idealen Weisheiten eher ablehnten. – Der Prozesspromotor steht demnach wohl für eine eher akademische Denkweise. Denn er kümmert sich vorwiegend um die prinzipiellen Rahmenbedingungen eines Innovationsprojekts und stellt sicher, dass formal alles richtig läuft, ohne sich auf die machtvoll-strategischen oder fachlich-inhaltlichen Aspekte einzulassen. – Eine akademische Innovation entspricht vielleicht der Bedeutung einer Technologie. Beispielsweise hat die Technologie der Raumfahrt über lange Zeit keinen direkten kommerziellen Nutzen gebracht. Die NASA verkörpert dabei eine öffentliche, gewerbefreie Akademie mit dem eher idealistischen und politischen Auftrag, die irdi-
2.1 Innovationsprojekte
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schen Zwänge zu überwinden. Der praktische Nutzen folgte erst später mit der Kommerzialisierung der auf diesem Weg entwickelten Techniken. Ein klassischer Skeptiker betreibt eine aufmerksame Umschau auf die Wirklichkeit. Typische Skeptiker sind bestrebt, sich einer Bewertung so lange wie möglich zu enthalten, um zuvor möglichst viel kennen zu lernen. – In der Tradition von Pyrrhon (340–270 v.Chr,) und Epikur (341–270 v.Chr.) ist ein Skeptiker um Ausgeglichenheit und Gleichberechtigung bemüht. Dabei strebt er nach Gesellschaft und Freundschaft und führt ansonsten ein unauffälliges Leben mit ständiger Neugier und Offenheit. – Diese Denkweise lässt sich gut dem Beziehungspromotor zuordnen. Ähnlich wie ein Skeptiker erkennt dieser die Vielfalt der verschiedenen Einflüsse und die Bedeutung der entsprechend handelnden Personen. Und er ist immer offen für neue Ideen und Mitwirkende. – Eine skeptische Innovation wäre demnach die Einführung der Enzyklopädie als Nachschlagewerk, welches von verschiedenen Autoren verfasst wurde und die Vielfalt des Wissens zusammenführt. So hat die Erstellung der französischen Enzyklopädie zwischen 1751 und 1772 maßgeblich zur europäischen Aufklärung beigetragen. In jüngerer Zeit stellt Wikipedia eine innovative Plattform für Informationen dar, die von zahlreichen Autoren unabhängig, frei und vielleicht auch aus Lust an gemeinschaftlichem Tun aufgebaut wird. Demnach beinhaltet die Promotorenrolle nicht nur eine entsprechende Denkweise, sondern führt auch zu einem eigenen Typ von Innovationen. Zur Förderung von Innovationen scheint es daher ratsam, eine entsprechend weitläufige Denkkultur zu pflegen. Diese Wandelbarkeit von Denkweisen zeigt sich insbesondere im Verlauf der Zeit und den jeweiligen Änderungen des Zeitgeistes. Aus den klassischen Denkweisen haben sich insofern entsprechende Sichtweisen entwickelt, welche mit meist ähnlichen Überlegungen und anderen Begrifflichkeiten zu immer neuen Ergebnissen kommen:
Als eklektisch gilt eine Sichtweise, die aus den verschiedenen klassischen Denkweisen je nach Bedarf das Passende auswählt. In dieser Schlichtheit ist diese Sichtweise insgesamt wohl eher zynisch zu nennen, obwohl sie auch auf dogmatische, akademische und skeptische Ansätze zurückgreift. – Beispiele für eklektische Innovationen sind bei der Integration immer neuer Funktionen in technische Geräte zu finden, wie das Automobil mit Staukomfort, also ein Zustand, der in seiner Bestimmung des Fahrens gar nicht vorgesehen ist. Ähnlich ist vielleicht ein Personal Computer zu sehen, dessen Rechenleistung zu Spielen genutzt wird, was seiner ursprünglichen Bestimmung – nämlich der Entlastung von geistiger Anstrengung – offenbar vollkommen entgegensteht.
Als ätherisch gilt eine Sichtweise, welche die verschiedenen klassischen Denkweisen unter einem neuen Überbegriff zusammenfasst. Dabei werden quasi die Prinzipien der zynischen Bedürfnisse, der akademischen Weisheiten und der skeptischen Gleichgültigkeit zu einem gemeinsamen, übergeordneten Dogma erhoben. – Beispiel für ätherische Innovationen ist der Zusammenfassung verschiedener Funktionen zu einem neuen Gesamtpaket, etwa die Gestaltung eines Fahrzeugs mit einer
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2 Wie macht man Innovationen? inneren und äußeren Ausstattung mit Bezug zu einem bestimmten Lifestyle aus Funktionen, Formen und Farben. Ähnliches gilt für die Lebensgestaltung mithilfe einer Virtueller Realität VR im Cyberspace, welche offenbar eine übergeordnete Weltsicht beinhaltet.
Als relativierend gilt eine Sichtweise, die zwischen den verschiedenen klassischen Denkweisen stets noch eine weitere findet. Diese neue Weisheit scheint zwar grundsätzlich akademisch zu sein, verbindet dabei aber zynische, dogmatische und skeptische Ansichten miteinander. – Beispiel für relativierende Innovationen ist die Diversifizierung von Produkten, wie die neuen Fahrzeugtypen der Geländelimousine SUV oder des Kleintransporters Minivan. Und ähnlich gibt es in der Computertechnologie inzwischen auch eine erweiterte Realität – AR für Augmented Reality, welche zusätzliche Wahrnehmungen elektronisch einspielt, anstatt sie vollkommen zu ersetzen.
Als pluralistisch gilt schließlich eine Sichtweise, die möglichst viele verschiedene Denkweisen unter Beibehaltung der bestehenden Unterschiede integriert. Auf Basis einer eher skeptischen Grundhaltung werden dabei also auch zynische, dogmatische und akademische Ansichten zugelassen. – Beispiel für pluralistische Innovationen ist die zunehmende Individualisierung von Produkten, wie die Einführung von den immer weiteren Fahrzeugvarianten Cabrio, Roadster, LUV, Stretch-Limo, Muscle-Car oder Kleinstwagen. Ähnlich gibt es auch immer neue Größen- und Leistungsklassen für Computer, vom elektronischen Mikrotransponder RFID über Laptops, Notebooks, Netbooks, Tablet-PC bis zu Cloud Computing. Neue Sichtweisen können insgesamt sehr verschiedenartig ausfallen und damit auch zu entsprechend vielfältigen Innovationen führen. Und obwohl verschiedene Aspekte in der Sache mitunter recht ähnlich erscheinen, unterscheiden sie sich bisweilen grundsätzlich in der Perspektive. Auch dieser Unterschied zwischen Aspekt und Perspektive entspricht einer besonderen Ambivalenz des Innovationsmanagements. Daher lässt sich auch eine gewisse Nähe der vier Sichtweisen zu den bereits beschriebenen Phasen eines Innovationsprojekts aufstellen: Die Ideenphase betrachtet man besser eklektisch, um möglichst viele Ideen zu generieren. Die Inventionsphase sieht man dagegen doch lieber ätherisch, um die Erfindung an der einen Wirklichkeit zu orientieren. Die Diffusionsphase schaut man sich dann relativierend an, um Produkt und Markt miteinander zu verbinden. Und am Ende des Lebenszyklus beobachtet man eher pluralistisch, um weitere Diversifizierung zu betreiben und immer wieder neue Chancen aufzutun.
Als Intelligenz bezeichnet man wörtlich die Fähigkeit, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Für intelligente Lebewesen sind die Dinge demnach nicht nur so, wie sie erscheinen und wirken, sondern stets auch so, wie sie sich denken lassen. – Ein zugespitzer, handgroßer Stein beispielsweise ist nicht nur ein Stein, sondern auch ein Faustkeil, der bei geschickter Verwendung zum Werkzeug werden kann. – Und eine machbare, nützliche Idee ist entsprechend nicht nur eine geistige Vorstellung, sondern auch eine Invention, welche durch Diffusion zu einer Innovation werden kann.
2.1 Innovationsprojekte
51
Diese vielseitige Fähigkeit, die Welt durch das Denken zu verwandeln, ist mitunter verwirrend. Und so überrascht es nicht, dass immer wieder der Versuch unternommen wird, die Denkfähigkeit von Menschen zu vergleichen und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Um 1900 entwickelte daher Alfred Binet einen Intelligenzquotienten IQ – zunächst lediglich in dem Auftrag, die Schulfähigkeit für französische Kinder bei Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu testen. Tatsächlich werden für die Ausbildung in einer Schule bestimmte Fähigkeiten zum abstrakten Denken benötigt, die sich bei Kindern einigermaßen messen lassen. Aber sobald eine bestimmte Grundfähigkeit vorliegt, hängt ein solcher Test immer auch vom erlernten Wissen und dem dabei aufgebrachten Fleiß ab, und weniger von der Fähigkeit zum Denken. Man weiß also beim IQ-Wert nicht so genau, ob es sich dabei um vorab erlerntes Wissen oder um die Befähigung zum Lernen und Wissenserwerb handelt. Howard Gardner entwickelte daher zwischen 1985 und 1990 ein neues Konzept der Multiplen Intelligenzen. Demnach ist das Denken eine Art Zusammenballung von verschiedenen Fähigkeiten anzusehen, die hauptsächlich auf acht Aspekten beruhen:36
körperlich
sozial
sprachlich
linguistisch
zwischenmenschlich
kinästhetisch
reflexiv selbstbezogen Abb. 16:
1.
Die acht Facetten der Multiplen Intelligenz eines Menschen
Die körperliche Intelligenz betrifft die kinästhetischen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise die Geschicklichkeit in der Bewegung, die beim Sport oder im Handwerk erforderlich ist. – Ein kinästhetischer Promotor von Innovationen erkennt beispielsweise die Konsequenzen eines Ablaufs, noch bevor dieser passiert ist, und er findet Möglichkeiten, um verschiedene Bewegungen dynamisch aufeinander abzustimmen. – Kinästhetische Innovationen sind beispielsweise Bewegungsgeräte wie Skateboard, Waveboard, Wakeboard, Paraglider oder der Segway.
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2 Wie macht man Innovationen?
2.
Die räumliche Intelligenz betrifft die visuellen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise die Orientierung und ein Augenmaß, wie es in der Architektur und für ein Design erforderlich ist. – Ein visueller Promotor von Innovationen achtet beispielsweise auf die Proportionen einer Konstruktion und findet neue Ansätze für die Gestaltung. – Eine visuelle Innovation ist beispielsweise das 3D-Kino. Die sprachliche Intelligenz betrifft die linguistischen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise die Redegewandtheit und das Ausdrucksvermögen, die in der Literatur und beim Handel erforderlich sind. – Ein linguistischer Promotor von Innovationen prägt beispielsweise neue Begriffe und findet geeignete Bezeichnungen für ein besonderes Alleinstellungsmerkmal. – Eine linguistische Innovation ist beispielsweise ein Emoticon, wobei quergestellte Satzzeichen ein Gefühl ausdrücken für Freude : ), oder Ironie ; ), oder Bedauern : (, oder Erstaunen : o. Die künstlerische Intelligenz betrifft die musisch-rhythmischen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise das Gefühl für Harmonie und Takt, wie es im Schauspiel und im Entertainment erforderlich ist. – Ein musischer Promotor von Innovationen berücksichtigt beispielsweise die harmonische Abstimmung und die feinsinnige Anmutung eines Objekts. – Eine musische Innovation ist dabei für manche Menschen der besondere Sound eines Porsche oder einer Harley-Davidson. Die selbstbezogene Intelligenz betrifft die Fähigkeiten von Menschen zur Reflektion der eigenen Gedanken, beispielsweise das Verständnis der eigenen Stellung in der Welt, wie es durch die Naturwissenschaften und durch die Philosophie erfolgt. – Ein reflexiver Promotor von Innovationen findet beispielsweise neue Prinzipien für einen Vorgang oder Technologien für einen Effekt. – Eine reflexive Innovation ist beispielsweise die Einführung von Impfungen oder von Desensibilisierung gegen Allergien. Die formale Intelligenz betrifft die logischen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise die Gelehrsamkeit und die Ordnung der Gedanken, die in der Mathematik und in der Informatik gefordert sind. – Ein logischer Promotor von Innovationen erzeugt beispielsweise neuartige Strukturen für einen Aufbau und ordnet Zusammenhänge auf eine neuartige Weise. – Eine logische Innovation ist beispielsweise die Verschlüsselung und Entschlüsselung von geheimen Daten mithilfe der Kryptografie. Die zwischenmenschliche Intelligenz betrifft die sozialen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise das Einfühlungsvermögen in Stimmungen und menschliche Beziehungen, wie es in der Soziologie und in der Psychologie erforderlich ist. – Ein sozialer Promotor von Innovationen erkennt beispielsweise verborgene Beziehungen zwischen den Menschen oder neuartige Bedingungen und deren Auswirkungen auf eine Gemeinschaft.
3.
4.
5.
6.
7.
2.1 Innovationsprojekte
53
–
Eine soziale Innovation ist beispielsweise ein neues Medium im Internet wie Google, Wikipedia oder Facebook. 8. Die ganzheitliche Intelligenz betrifft die systemischen Fähigkeiten von Menschen, beispielsweise die Übersicht und die Vielseitigkeit, die in der Politik und im Management erforderlich sind. – Ein systemischer Promotor von Innovationen stellt beispielsweise ein bestehendes Thema in einen neuen Zusammenhang und schlägt dafür neuartige Lösungen vor. – Eine systemische Innovation ist beispielsweise die Einführung des Euro als Zahlungsmittel für verschiedene Staaten. Jeder Mensch verfügt über einen gewissen Anteil an jeder dieser verschiedenen Intelligenzen. Und jeder Mensch hat seine ganz persönliche Verteilung an diesen intelligenten Eigenschaften. Und kein Mensch kann eine maximale Ausprägung von allen intelligenten Eigenschaften haben. Denn diese stehen teilweise in einem gewissen Widerspruch zueinander, wenn man beispielsweise besonders reflexive und besonders soziale Menschen miteinander vergleicht. Aber jeder Mensch hat die Möglichkeit, sein persönliches Intelligenzprofil langsam zu verändern. Allerdings wird er beim Stärken von einigen Intelligenzen andere Intelligenzen entsprechend schwächen. Insofern ist Intelligenz nur plastisch verformbar, sie verfügt also über einen festen individuellen Bezug, passt sich aber auf Dauer den geltenden Anforderungen an. Diese Charakterisierung der Intelligenz trifft gleichermaßen auf Innovationen zu: Auch Innovationen haben vielseitige Ausprägungen von irgendwie allem Möglichen. Jede Innovation hat dabei eine ganz eigene Ausprägung von Merkmalen, die nur für sie allein steht. Und keine Innovation kann vollkommen außerhalb der bekannten Welt stehen. Denn der Nutzen kann sich nur im jeweils bestehenden Umfeld entfalten. Aber jede Innovation verfügt über das Potenzial, langsam die Sichtweise der Dinge zu ändern und auf Dauer zu umzuwandeln. Allerdings gehen die Vorteile von Innovationen auch immer mit Nachteilen an anderer Stelle einher. Daher müssen Innovationen den Umständen plastisch angepasst werden. Diese intelligente Anpassung ist ein Garant für den Erfolg einer Innovation. Lektion 10:
Jede Innovation muss zunächst auf irgendeine Weise auch denkbar sein!
Übung 10: Testen Sie Ihre Eignung als Promotor für Innovationen! 1) Welche der klassischen Denkweisen ist bei Ihnen am stärksten ausgeprägt? 2) Welche der vier Sichtweisen entspricht im Allgemeinen Ihrer eigenen? 3) Welche Rolle wird Ihnen meist zugeschrieben, kämpferischer Entscheider, kompetenter Experte, tiefsinniger Stratege oder findiger Kommunikator? 4) Welche Zuordnungen ergeben sich zu den klassischen Denk- und Sichtweisen? Stellen Sie jeweils den Bezug zu den Promotoren einer Innovation her! Ergibt sich für Sie immer eine eindeutige Zuordnung oder können Sie verschiedene Rollen annehmen?
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2 Wie macht man Innovationen?
Testen Sie Ihr momentanes Profil an Multipler Intelligenz, indem Sie jeweils selbst folgende Kriterien einschätzen: 1) Welche Facetten nutzen Sie gern und oft? 2) Welche Facetten werden Ihnen von anderen meist zugeschrieben? 3) Wie viele Anzeichen für jede Facette fallen Ihnen spontan ein? Schreiben Sie dazu nacheinander Stichpunkte für die Anzeichen einer Facette auf, bis Sie tiefer nachdenken müssen! 4) Wie viele der Anzeichen davon treffen auf Sie selbst im Allgemeinen zu? Identifizieren Sie Stärken und Schwächen, indem Sie Ihr persönliches Profil erstellen! Geben Sie sich für jede Facette, die Sie nutzen oder Ihnen zugeschrieben wird, 10 Punkte! Addieren Sie dazu die Anzahl der von Ihnen gefundenen Anzeichen und nochmals die Anzahl der Anzeichen, die auf Sie selbst zutreffen! Welche Facette ist dabei am stärksten ausgeprägt? Teilen Sie alle Summen durch die Summe der am stärksten ausgeprägten Facette und stellen Sie das Ergebnis in Prozenten dar! Sind Ihre intelligenten Fähigkeiten eher gleichmäßig verteilt oder zeigen sich einige besondere Talente in dieser Darstellung? Welche Innovationen sind für Sie denkbar aufgrund der Stärken? Welche Innovationen wären für Sie denkbar, wenn Sie an den Schwächen arbeiten?
2.1 Innovationsprojekte
2.1.4
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Eine Innovationskultur
Neben einer eigenen Projektkultur aus den zuvor genannten Faktoren, Phasen und Promotoren werden Innovationen auch von der allgemeinen Arbeitskultur des Unternehmens geprägt. Der Begriff Kultur stammt ursprünglich aus der Landwirtschaft und bezeichnet den Ackerbau, die Hege und die Pflege der Saat bis zur Ernte. Wörtlich übertragen handelt es sich also bei Kultur um eine Angelegenheit, die ständig gepflegt, betreut und gemanagt werden muss, weil sie weder auf natürliche Weise entsteht noch bestehen bleibt, wenn sie sich selbst überlassen wird. Und entsprechend benötigen Innovationen eine Kultivierung der Arbeitsweise, um etwas Neues zu produzieren, was am Markt bestehen kann. Und ähnlich, wie eine gewisse Bodenkultur erforderlich ist, damit darauf die gewünschten Früchte gedeihen, so bedarf es auch einer gewissen Innovationskultur in Unternehmen, damit daraus die gewünschten Erneuerungen erwachsen. Allerdings führt die Frage nach der Richtigkeit einer Unternehmenskultur für Innovationen zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen: – Für das Finden von ersten Ideen scheint zunächst jegliches unternehmerische Streben eher hinderlich zu sein, denn die meisten Ideen entstehen außerhalb des beruflichen Alltags.37 – Dagegen werden bei der Verwirklichung einer Invention bereits unternehmerische Investitionen notwendig. Diese werden daher bereits eher geschäftsmäßig durch ein professionelles Projektmanagement begleitet. – Noch stärker wird der unternehmerische Aspekt bei der Diffusion einer Erfindung am Markt. Diese steht im Wettbewerb mit bestehenden Angeboten und muss die eigenen Wettbewerbsvorteile durch geschickten Vertrieb und streng kalkulierte Preisgestaltung am Markt erwirtschaften. – Und schließlich handelt es sich beim professionellen Innovationsmanagement auch um eine reine Dienstleistung zur Steigerung von Unternehmenswerten und zur Unterstützung von allgemeinen Geschäftstätigkeiten mit Neuerungen. Offenbar besteht die wesentliche Herausforderung an eine Innovationskultur gerade darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem diese verschiedenen Ansprüche gleichermaßen erfüllbar sind. Bereits an der betrieblichen Struktur wird somit bereits erkennbar, ob ein Unternehmen seine Innovationsfähigkeit ausreichend kultiviert hat.
Als Kommandostruktur werden betriebliche Abläufe mit einer festen Organisation im Aufbau und Ablauf bezeichnet. Grundsätzlich befasst sich eine Organisation mit der Planung und Bereitstellung von Hilfsmitteln für die Arbeit. Denn das griechische Wort bezeichnet ein Werkzeug, Instrument oder eben ein entsprechend anderes Hilfsmittel. So ist ein körperliches Organ ein Hilfsmittel für die Lebensfunktionen. Und eine Orgel ist ein Instrument, um Musik zu machen. Eine Organisation verfolgt somit den Zweck, eine bestimmte Tätigkeit zu bewerkstelligen. Und eine KommandoOrganisation ist offenbar recht zweckmäßig, wenn das Ziel recht genau bekannt ist, die Zusammenhänge recht einfach sind, die Veränderungen recht selten auftreten, und der Zustand insgesamt recht übersichtlich ist. – Die Aufbauorganisation von Projekten basiert auf der Zerlegung der Arbeiten in einzelne, abgegrenzte Elemente, die sogenannten Arbeitspakete AP oder Work Packages WP. Diese Arbeitspakte bestehen selbst wiederum aus verschiedenen einzel-
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2 Wie macht man Innovationen?
–
nen Arbeitsvorgängen, die sich allerdings unabhängig von anderen Projektarbeiten erledigen lassen. Andererseits sind die Arbeitspakete auch Teil von höheren Projektaufgaben, welche einen bestimmten Aspekt des Gesamtprojekts zusammenfassen. In einer Hierarchie von Hauptaufgaben und Teilprojekten wird ein Projekt dadurch vollständig strukturiert. Als Linienorganisation bezeichnet man die eindeutige Zuordnung für jedes Arbeitspaket zu einer Hauptaufgabe in einem Teilprojekt. Diese Linien können durch Sonderaufgaben ergänzt werden, die von Stabsfunktionen bearbeitet werden. Dadurch entsteht dann eine Stab-Linien-Organisation. Ein Organigramm veranschaulicht diese Gliederung der Struktur, wobei sich jede Ebene an verschiedenen Aspekten orientieren kann, um eine möglichst große Eigenständigkeit der einzelnen Projektaufgaben in einer Strukturebene zu ermöglichen. Die jeweilige Struktur kann sich beispielsweise an den ausführenden Personen orientieren, an den zu erfüllenden Funktionen, an den zu behandelnden Objekten, an den zu erstellenden Produktkomponenten, an den zu bearbeitenden Prozessen oder an den jeweiligen Aktivitäten bzw. an den zeitlichen Arbeitsphasen. Durch Variation dieser verschiedenen Orientierungsmöglichkeiten wird versucht, die Aufbauorganisation zu optimieren.
Ebene 1
Innovationsthema
Innovationsmanagement
Ebene 2 Ebene 3
Abb. 17:
–
Invention
Diffusion
technische Machbarkeit
ökonomische Machbarkeit
Erfindung
Verbreitung
Struktur der Organisation in zwei Linien, einem Stab und vier Arbeitspaketen Die zweite Ebene orientiert sich beispielsweise an den Erfolgsfaktoren und die dritte Ebene am Ablauf eines Innovationsprojekts.
Eine Matrixorganisation wird verwendet, wenn die Verflechtungen zwischen verschiedenen Aufgaben nicht mehr lösbar scheinen. Für jedes Arbeitspaket erfolgt somit eine mehrfache Zuordnung und daher sind mehrere hierarchische Abhängigkeiten für die einzelnen Organisationseinheiten zugelassen. Umgekehrt müssen sich dann die einzelnen Projektaufgaben an verschiedenen Aspekten der Organisation orientieren. In einem Organigramm kreuzen sich folglich die einzelnen Aufgaben bei jedem Arbeitspaket wie in einer Tabelle oder Matrix. Die einzelnen Vorgänge sind dadurch mehrfach bestimmt. Der organisatorische Abstimmungsbedarf wird
2.1 Innovationsprojekte
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somit in die einzelnen Arbeitsvorgänge verlagert, was zu einer höheren Arbeitsbelastung bei verminderter Aufgabenerfüllung führen kann. Daher stößt die Ausweitung einer Kommandostruktur auf eine Matrixorganisation an ihre Grenzen, wenn das Projekt eine höhere Komplexität erreicht. Invention
technische Machbarkeit
Erfindung
Prototyp
Arbeitspaket 2
Arbeitspaket 3
Arbeitspaket 4
Arbeitspaket 5
Diffusion ökonomische Machbarkeit
Arbeitspaket 1
Vertrieb
Markt Abb. 18:
Arbeitspaket 6
Arbeitspaket 7
Struktur einer Kommandoorganisation in einer Matrix Jedes Arbeitspaket wird sowohl durch Aufgaben der Invention als auch der Diffusion bestimmt.
Eine sogenannte Lernende Organisation löst sich daher vollkommen von festgelegten Kommandolinien. Vielmehr ergeben sich die Abhängigkeiten aus der jeweiligen Situation in einem Projekt. Solche lernenden Strukturen sind offenbar vorteilhaft, wenn die Zielsetzung neuartig ist, die ersichtlichen Zusammenhänge kompliziert erscheinen und sich zudem häufig ändern, und wenn der gegenwärtige Zustand noch recht unklar ist. Das trifft in der Regel auf Innovationsprojekte zu. Peter Senge beschreibt 1990 in dem Buch The Fifth Discipline eine Orientierung der Lernenden Organisation an den vier Hauptaufgaben des Managements.38 Wieder ergeben sich für die Facharbeit, die Arbeitskraft, die Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung in Verantwortung und Ausführung besondere Aspekte. Als fünfte Disziplin und neue Hauptaufgabe ist das organisationale Lernen – oder Lernen in einer flexiblen Arbeitsorganisation – den anderen Disziplinen übergeordnet. Diese Orientierung von Unternehmungen weist einen besonderen Bezug zum Innovationsmanagement auf.
Als Personal Mastery gilt die Beherrschung der Facharbeit bei komplexen Aufgabenstellungen. Allerdings ist bei Innovationen zunächst noch weitgehend offen, welche Kompetenzen für die Bearbeitung der Aufgaben relevant sind. Und insbesondere während der Machbarkeit und Umsetzung hängt der Erfolg eines Innovationsprojektes davon ab, welche Fächer durch das Projektteam abgedeckt werden können. – Grundsätzlich kann man darauf vertrauen, dass Menschen ihre Leistungen merklich steigern, wenn sie entsprechend gefordert sind. Diesen soziopsychologischen Effekt bezeichnet man auch als Empowerment oder Ermächtigung. Infolge einer Erhöhung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung erfolgt oft eine überraschende Leistungssteigerung von Menschen und Gemeinschaften. Als Pygmalion-Effekt beschreibt Robert Rosenthal 1966 eine Leistungssteigerung bei einzelnen Schülern,
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2 Wie macht man Innovationen? sobald die Lehrer angehalten werden, eine höhere Kompetenz zu erwarten.39 Und den umgekehrten Effekt kennt man auch als Mobbing oder Hetze, wenn sich die Leistung von Menschen messbar mindert, sobald ihnen eine Inkompetenz unterstellt wird. Im deutschen Arbeitsrecht ist dieser Tatbestand daher entsprechend strafbar.40 In einem Innovationsprojekt kann demnach davon ausgegangen werden, dass sich die jeweils passenden Talente noch herausstellen, wenn man ihnen die persönliche Kompetenz unterstellt.
Abb. 19:
Struktur der Lernenden Organisation Die Kultur passt sich den Umständen jeweils an. Die einzelnen Elemente sind entsprechend flexibel mit Personen für die verschiedenen Aufgaben besetzt.
Als Mental Models gelten gemeinsame Vorstellungen der Arbeitskräfte, wie die komplexen Aufgabenstellungen zu erledigen sind. Allerdings ergeben sich bei Innovationen ständig neuartige Aufgaben, welche oftmals ohne Vorbild sind. Somit ist größtenteils unklar, welche Arbeiten anstehen und wie diese zu bewerkstelligen sind. Also braucht man ein einvernehmliches Modellverständnis, um die jeweils erforderliche momentane oder situative Arbeitsweise abzustimmen. – Wiederum kann man grundsätzlich darauf vertrauen, dass Menschen sich an gemeinschaftlichen Aufgaben beteiligen. Bereits Aristoteles beschrieb den Menschen als sogenanntes Zoon politikon, also als Lebewesen, welches seinen Lebenszweck nur im Rahmen einer Gemeinschaft erfährt. Umgekehrt wurde bis ins 17. Jahrhundert die Bezeichnung Idiot wörtlich für solche Eigenbrötler unter den Menschen verwendet, die sich nicht für gemeinschaftliche Zusammenhänge interessierten. Dagegen bringt eine Gemeinschaft mitunter auch vollkommen Neues hervor – ein Effekt der auch als Emergenz bezeichnet wird. Man kann daher grundsätzlich erwarten, dass sich Mitarbeiter an einem Innovationsprojekt beteiligen und Neues hervorbringen, wenn ihnen eine entsprechende Gelegenheit dazu gegeben wird.
Als Systems Thinking wird die Zusammenarbeit von Facharbeitern bei komplexen Aufgabenstellungen bezeichnet. Denn gerade bei Innovationen ist ständig mit neu auftretenden Lücken oder Überlappungen von Arbeitsaufgaben zu rechnen. Indem jeder Beteiligte nicht nur über ein Verständnis seiner fachlichen und persönlichen Arbeitsleistungen verfügt, kann das System flexibel auf wechselnde Anforderungen reagieren. Daher ist es
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erforderlich, dass jeder über seinen eigenen Tellerrand hinaus einen gewissen Überblick über das gesamte System erreicht. – Prinzipiell kann man auch darauf vertrauen, dass sich ein gewisses Gesamtverständnis in einer Arbeitsgruppe von allein herausbildet. Das Wort Komplexität bedeutet Verflechtung und bezeichnet die Unmöglichkeit, ein System vollständig durch seine einzelnen Teile allein zu erfassen. Daher gibt es immer verschiedene Möglichkeiten zur Zerlegung einer Systemstruktur. Und diese können sich alle gleichsam als zweckmäßig erweisen. In einer Organisation bedeutet dies, dass sich die passende Struktur auch nach den jeweiligen Gegebenheiten – insbesondere den Mitarbeitern – richten kann. Alfred Chandler formulierte 1962 den Lehrsatz „Structure follows Strategy“, wonach sich die strategische Ausrichtung eines Unternehmens als stabiler erweist als die jeweilige organisatorische Strukturierung.41 Beispielsweise lassen sich einzelnen Unternehmen, Vereinen, Gemeinden oder Nationen bestimmte Eigenarten zuschreiben, die nicht für jeden Einzelnen gelten, obwohl diese sogar erhalten bleiben, wenn sich die Beteiligten im Laufe der Zeit ändern. Und umgekehrt entstehen für den Einzelnen psychogene Krankheiten, wenn er aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird, wie man es Liebeskummer, Trauer oder Vereinsamung deutlich erkennen kann. Menschen scheinen ein angeborenes Bedürfnis zu haben, sich zu beteiligen und auch mitzudenken. Das führt dazu, dass sich die Arbeitsstrukturen und Verantwortlichkeiten immer wieder neu an die jeweilige Situation anpassen.
Als Shared Visions bezeichnet man die einvernehmliche Arbeitsaufteilung bei einer komplexen Aufgabenstellung. Denn bei Innovationen liegt noch keine konkrete Ausführung des Ergebnisses vor und niemand verfügt über die Kompetenz zu sagen, wie es richtig sein wird. Aufgrund der relativ abstrakten Vorstellung der Arbeitsziels ist es durchaus üblich, dass jeder einzelne Mitarbeiter eine etwas andere Vorstellung im Kopf hat. Aber eine Vision, die von allen geteilt wird, sorgt dafür, dass immer wieder diese unterschiedlichen Ansichten auf eine gemeinsame Sichtweise fokussiert werden. – In diesem Fall kann man allgemein nicht darauf vertrauen, dass diese gemeinsame Sichtweise immer wieder von allein entsteht. Das Wort Modalität bedeutet Möglichkeit und wird als Eigenschaft von Systemen bezeichnet, auch mit einer unterschiedlichen Organisation zielführend zu sein. In der Modallogik gibt es demnach nicht nur die beiden Ergebnisse wahr und falsch für eine Folgerung, sondern noch weitere Ergebnisse. Es bestehen viele verschiedene Systemstrukturen, die erfolgreich sind, und nicht nur eine einzige. Beispielsweise sind in der modernen Quantenphysik mit der Kopenhagener Deutung von 1927 die verschiedenen Erklärungsmodelle der Teilchen- und Wellenmechanik als korrespondierend gleichermaßen akzeptiert, obwohl diese Logiken für die menschliche Vernunft nicht miteinander vereinbar scheinen. Aber für das Ergebnis ist es belanglos, ob die Beschreibung richtig ist, solange das Ergebnis richtig ist. Als fuzzy oder verschwommen wird daher eine solche Logik bezeichnet, die mehrere Wahrheitswerte als wahr oder falsch zulässt. Die Wahrheit in solchen Systemen ergibt sich durch eine gewisse Kontingenz oder Zufälligkeit. In der Modallogik ist dann das jeweilige Ergebnis zwar möglich, aber nicht mehr zwingend notwendig, weil es mehrere Alternativen gibt. Und man kann darauf vertrauen, dass durchaus verschiedene Wege zu einer Innovation führen, solange die Vision von allen geteilt wird.
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2 Wie macht man Innovationen?
Organizational Learning 1990 Personal Mastery
Mental Models
Shared Visions
Systems Thinking
Abb. 20:
Die vier Hauptaufgaben des Scientific Managements bei einer lernenden Organisation
Das Team Learning entsteht als eine Art organisationaler Intelligenz bei komplexen Aufgabenstellungen. Mit dieser höheren Form der Denk- und Sichtweise werden die neuartigen Ziele eines Innovationsprojekts erreicht. Diese Struktur ist letztlich die Grundlage für das bereits zuvor genannte Promotorenmodell. Mit einer flexiblen Organisation von verschiedenen Typen erreicht man den Innovationserfolg. – Wenn sich eine Organisation als nicht mehr lernfähig erweist, dann muss reorganisiert werden. Diese Reorganisation ist zwar sehr aufwendig, aber letztlich der einzige Weg, um die erforderliche Lernfähigkeit zu erlangen. Meist wird vom Team zwar ein Führer oder Erlöser erwartet, aber dessen Leistung besteht vorwiegend darin, eine neue und bessere Struktur zu finden. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass auch Kommandostrukturen in einem gewissen Umfang eingeführt werden. Denn diejenigen Aufgaben, die gut bekannt sind, lassen sich dadurch einfach erledigen. Und es bleibt mehr Zeit für das Erlernen bei den wenig bekannten Aufgaben. Der Vorteil einer lernenden Organisation besteht gerade in der Flexibilität von verschiedenen Strukturen, was die Kommandostruktur einschließt. In der Natur kennt man solche Superorganismen, beispielsweise bei den Ameisen oder den Bienen. Obwohl hier das einzelne Lebewesen nur zu recht einfachen Aufgaben geeignet ist, erweist sich der Ameisenstaat oder das Bienenvolk als ein sehr anpassungsfähiger Organismus. Offenbar ist es gerade die Flexibilität, die für den Erfolg eines Teams ausschlaggebend ist. Aber eine Innovationskultur wird nicht nur durch die Struktur der Organisation bestimmt, sondern auch durch das Führungsverhalten. Neben den strukturellen Aspekten gibt es daher auch direktive Aspekte zu beachten. Denn das Führungsverhalten gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich überhaupt erst eine Arbeits- und Innovationskultur ausbilden kann. – Beispielsweise kennt man in der Soziologie das Führungsverhalten einer Jagdbande.42 Dabei stellen sich die Mitglieder einer Gruppe unter den Befehl eines Anführers, der die meisten Erfahrungen oder die größte physische Durchsetzungskraft hat. Insbesondere bei der Jagd auf Großwild ist diese Koordination erforderlich, weil jeder Einzelne der Jagdbeute physisch unterlegen wäre. Nur durch ein Zusammenspiel von Führung und Fügung ist der gemeinsame Erfolg erreichbar. Das entspricht offenbar eher der genannten Kommandostruktur.
2.1 Innovationsprojekte
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–
Entsprechend kennt man in der Soziologie aber auch das Führungsverhalten einer Familienbande. Dabei stellt jedes Mitglied der Gruppe diejenigen Talente zur Verfügung, die gerade gemeinschaftlich benötigt werden. Insbesondere die wechselnden Aufgaben des Alltags beim Kochen, Reinigen, Erziehen, Ver- und Entsorgen werden nach Eignung und Verfügbarkeit erledigt. Und Führung ergibt sich jeweils spontan nach Anforderung und Bedarf. Das entspricht offenbar eher einer lernenden Struktur. Als Anreiz oder Incentive wird eine zusätzliche Belohnung zur regulären Entlohnung bezeichnet, um besondere Leistungen zu erreichen. Diese hängt also unmittelbar mit der Führung von innovativen Unternehmen zusammen. Um etwas Neues zu schaffen bedarf es meist auch eines besonderen Anreizes. Als Direktiven, also Leit- oder Richtlinien, gibt es verschiedene Möglichkeiten für eine diesbezügliche Unternehmenskultur. Und in Bezug auf die Innovationskultur weist jede Art von Direktive durchaus Vor- und Nachteile auf.
Unter Management by Results versteht man in der Unternehmensführung die klare Vorgabe von Zielen. Das unternehmerische Gesamtziel wird auf die verschiedenen Linien in einer Hierarchie verteilt und bei jeder Strukturstelle in einem Organigramm auf die jeweils nächste Strukturebene herunter gebrochen. Durch wiederholtes Anwenden dieser Aufteilung sind schließlich alle Aufgaben verteilt und jedem Mitarbeiter sind seine eigenen Anteile am Gesamterfolg bekannt. – Typischerweise werden heutzutage Geschäftsführer von kleinen oder mittelgroßen Unternehmen (KMU) mit solchen Zielvorgaben geführt. Weil sich dies in der Praxis oft als erfolgreich erweist, haben auch manche große Unternehmen eine CostCenter-Struktur eingeführt, in der einzelne Unternehmensteile intern wie unabhängige Geschäfte geführt werden. – Vorteilhaft für Innovationen ist bei diesem System, dass jeder Mitarbeiter seine Aufgaben kennt und verantwortet. Wenn beispielsweise in der Zielvorgabe auch Ideen und die Beteiligung an Innovationsprojekten festgelegt werden, so kann mit entsprechender Kenntnis und Verantwortlichkeit gerechnet werden. – Nachteilig ist allerdings für Innovationen, dass bereichsübergreifendes Denken und Handeln ausgeschlossen ist – oder zumindest keinen Anreiz hat. In einer geschäftlich angespannten Lage, die inzwischen eher als Dauerzustand angesehen werden kann, werden zumindest größere Innovationen erschwert. Außerdem ist kaum damit zu rechnen, dass Innovationen vorgeschlagen werden, welche die bestehenden Geschäfte revolutionieren, weil dadurch die eingangs beschriebene schöpferische Zerstörung auf ihre Erfinder selbst zurückfallen würde.
Unter Management by Objectives versteht man eine Führung durch Zielvereinbarungen, die 1955 von Peter Drucker eingeführt wurde.43 Dabei schlägt jede Führungsstelle in einer Hierarchie ihren Beitrag zum gemeinsamen Unternehmenserfolg vor. Während eine Zielvorgabe in der Unternehmensstruktur von oben nach unten – top-down – erfolgt, findet eine Zielvereinbarung umgekehrt von unten nach oben – bottom-up – statt. Die einzelnen Aufgaben sind dann ebenfalls klar festgelegt und bekannt, aber die Struktur passt sich jedes Mal etwas besser an die Mitarbeiter an. Allerdings macht dies auch eine aufwendige Verhandlung der Ziele notwendig, denn Überlappungen oder Lücken im System müssen durch langwierige Abstimmungen beseitigt werden. Jeder Mitarbeiter muss seinen Leistungsbeitrag an die Erfordernisse einer Abteilung anpassen. Und die
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2 Wie macht man Innovationen? mittleren Hierarchien müssen sowohl ihre strukturelle Leistung nach oben erbringen als auch die jeweiligen Leistungen untergeordneter Stellen koordinieren. – Typischerweise werden heutzutage leitende Mitarbeiter großer Unternehmen mit einer Art Zielvereinbarung konfrontiert. Weil diese Führungsform als Kompromiss zwischen autoritären Zielvorgaben und individueller Leistungsbereitschaft gilt, wird sie auch in Unternehmen mittlerer Größe gerne propagiert. – Vorteilhaft für Innovationen ist bei diesem System, dass jeder Mitarbeiter seinen persönlichen Beitrag zum Erfolg an seine persönlichen Fähigkeiten – Stärken und Schwächen – anpassen kann. Neben den Kenntnissen und Verantwortlichkeiten werden dadurch auch Ideen ermöglicht, die über das jeweilige Arbeitsgebiet hinausgehen. Im günstigen Fall macht der Mitarbeiter die Innovation zu seiner eigenen Sache und bringt viele weitere Anregungen aus seinem persönlichen Umfeld ein. – Nachteilig ist allerdings gerade für ökonomische Innovationen, dass keine klare Leistungsgrenze zwischen privaten und professionellen Interessen besteht. Der Mitarbeiter kann dadurch vielleicht weitgehende Ansprüche erheben und – falls diese nicht erfüllt werden – nachhaltig frustriert sein. Oder die ständige Beschäftigung mit beruflichen Zwängen führt zum Ausbrennen – dem Burn-out – bei dem der Mitarbeiter dauerhaft seine Leistungsfähigkeit einbüßt. Was für einzelne Innovationsprojekte vorteilhaft ist, kann sich gerade nachteilig für eine allgemeine Innovationskultur erweisen.
Unter Management by Planning, auch Hoshin Management oder Policy Deployment, versteht man eine noch umfangreichere Einbindung von Mitarbeitern in die Unternehmensplanung. Mit einer gemeinsamen und allgemein bekannten Planungsvorlage werden das persönliche Angebot und die unternehmerische Nachfrage an Arbeitsleistung sichtbar gemacht. Durch dieses formale Hilfsmittel wird der Aufwand für Abstimmungen und Verhandlungen geringer. – Typischerweise entspricht dies heutzutage einem Projektunternehmen. In einem Projektteam werden die Aufgaben meist gemeinsam organisiert, miteinander kommuniziert, allgemein geplant und einvernehmlich kontrolliert. Nach einer Faustformel werden für Projekte etwa 10 Prozent der Mittel für diese Abstimmung und Planung benötigt. – Vorteile bietet diese Vorgehensweise durch die hohe Transparenz und Zielorientierung, von der insbesondere Innovationsprojekte profitieren können. Alle Beiträge von Promotoren können auf diese Weise bekannt und angemessen gewürdigt werden. Und der gemeinsame Plan schafft eine Möglichkeit, gegebene Überlastungen zu entdecken und eine ausgewogene Belastung abzustimmen. Im günstigen Fall erkennen die Leistungsträger ihre Überforderung und die Leistungsverweigerer ihre Bringschuld. – Nachteile entstehen allerdings bei größeren Projekten, weil die Zwänge und die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten nicht immer gerecht an einzelne Mitarbeiter zu vermitteln sind. Und umgekehrt mag in einem großen Unternehmen ein Mitarbeiter Freiräume für sich erkennen und einfordern, die unternehmerisch nicht mehr vertretbar sind. Die Abstimmungen gestalten sich eben schwierig, wenn der Plan zu unübersichtlich wird.
2.1 Innovationsprojekte
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Unter Management by Delegation oder Management by Exception versteht man daher schließlich einen Führungsstil, bei dem eine begrenzte Eigenständigkeit der verschiedenen Strukturstellen zugelassen wird. In klar vereinbarten Fällen werden entweder Aufgaben delegiert. Oder es wird ausnahmsweise erforderlich, weitere Maßnahmen oder Entscheidungen abzustimmen. In beiden Führungsstilen kann somit ein Mittelweg aus Zielvorgabe, Zielvereinbarung und Planung beschritten werden. – Typischerweise ist diese begrenzte Selbstbestimmung heutzutage in einer Holding aus eigenständigen Unternehmensteilen zu finden. Die Zielvorgaben erfolgen mit den einzelnen Geschäftsführern und werden im Wesentlichen über eine Gewinnabführung geregelt. Innerhalb eines Unternehmensteils kann dann eine ganze eigene Kultur herrschen, die sich aus der Tradition, den Anforderungen und den Geschäftstätigkeiten ergibt. – Die Vorteile einer solchen Mischkultur bestehen in der hohen Flexibilität. Im günstigen Fall können besonders erfolgreiche Unternehmensteile als Vorbild für sogenanntes Best Practice oder Success Stories dienen. Und selbst besonders schwierige Situationen in einzelnen Unternehmensteilen können als Fallbeispiele oder sogenannte Case Studies den Pool an Managementkompetenzen erweitern.44 – Die Nachteile einer solchen Mischkultur lassen sich als Heterogenität beschreiben. Jeder Bereich ist dem anderen irgendwie auch fremd, was sich bereits durch die zuvor genannten Anglizismen ausdrückt. Die Durchgängigkeit von übergreifenden Aufgaben – wie Personal- oder Technologieentwicklung – kann nur mit besonders großem Aufwand abgestimmt werden, wobei die Gefahr besteht, dass sich stärkere Unternehmensteile gegen die schwächeren durchsetzen. Oder umgekehrt, die schwächeren Unternehmensteile von starken Vorleistungen unmäßig profitieren. Und, egal wie auch immer dies tatsächlich aussieht, können dadurch Verdächtigungen und Misstrauen entstehen. Die Auswahl einer geeigneten Direktive für Innovationen kann demnach nur situationsbedingt und/oder fallweise erfolgen, denn eine pauschal richtige Führungskultur scheint es nicht zu geben. In diesem Sinne handelt es sich bei einer Direktive um eine Anweisung, die zwischen einer unverbindlichen Empfehlung und einer strikten gesetzlichen Regelung steht. Und daher stellt die Flexibilität der Führungskräfte und der Mitarbeiter die wesentliche Voraussetzung dar, um daraus eine erfolgreiche Innovationskultur abzuleiten. Nur auf Basis einer allgemeinen und offenen Zusammenarbeit kann man mit entsprechender Toleranz und mit entsprechendem Engagement rechnen. Das Arbeitnehmererfindergesetz ArbEG regelt darüber hinaus einen verbindlichen Rahmen für die Rechte und Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.45 Grundsätzlich steht einem Arbeitnehmer als Erfinder das Recht auf ein Patent zu. Allerdings gehört einem Arbeitgeber das Arbeitsergebnis seiner Beschäftigten, wozu auch geistige Ergebnisse zählen. Zum Ausgleich der Interessen sieht das Gesetz vor, dass ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, eine dienstliche Erfindung unverzüglich in Textform zu melden. Und umgekehrt ist der Arbeitgeber verpflichtet, einen Ausgleich zu schaffen, wenn er diese Erfindung in Anspruch nehmen will. Nimmt er die Erfindung nicht in Anspruch, so ist dies ebenfalls unverzüglich und in Textform zu bescheinigen.
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2 Wie macht man Innovationen?
Incentives
Incentives
Unternehmenskultur
Incentives Abb. 21:
Incentives
Innovationen bleiben stets im Rahmen der Anreize einer Unternehmenskultur
Bei einem Incentive kann es sich dementsprechend um finanzielle Prämien, Boni oder Einmalzahlungen handeln – oder um andere materielle oder immaterielle Vergütungen, wie Auszeichnungen, Ehrungen, Reisen oder Geschenke. Dieser Ausgleich für den besonderen Leistungsbeitrag bei einer Diensterfindung oder Innovation kann durchaus ein starker Anreiz für Mitarbeiter darstellen. Und der emotionale Effekt einer finanziellen oder speziellen Anerkennung für besondere Leistung erzeugt mitunter eine größere Zufriedenheit und Beteiligung als die ständige leistungsbezogene Entlohnung. Allerdings erfordert diese Art von Management by Incentives eine besondere Findigkeit der Unternehmensleitung für immer neue Anreize. Denn eine Auszeichnung wird nur dann als Anreiz empfunden, wenn sie irgendwie neuartig ist. Offenbar entspricht das Interesse der Arbeitsnehmer an innovativen Anreizen dem Interesse der Arbeitgeber an Innovationen. Je innovativer die Anreize des Unternehmens, desto innovativer die Mitarbeiter in diesem Unternehmen. Und ein Unternehmen kann auf Dauer nur so innovativ werden, wie es dem Management gelingt, neue Anreize für jeden Mitarbeiter zu schaffen.46 Lektion 11:
Die komplexen Aufgaben einer Innovation bedürfen einer Lernkultur!
Übung 11: Untersuchen Sie eine Ihnen nahestehende Organisation, z.B. Familie, Verein, Club, Arbeitsgruppe, Abteilung! Versuchen Sie, eine Kommandostruktur dafür zu erstellen! Gelingt es Ihnen, eine eindeutige Linienorganisation zu finden, oder benötigen Sie eine Matrixstruktur? Schätzen Sie das Ausmaß an lernenden Strukturen ein! Können Sie Anzeichen für die vier Disziplinen der lernenden Organisation daran bestimmen?
2.1 Innovationsprojekte
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Testen Sie die lernenden Strukturen durch eine selbst geschaffene Checkliste! Bestimmen Sie dazu jeweils fünf Ausprägungen für Personal Mastery, Mental Models, Systems Thinking und Shared Visions! Ordnen Sie dann jeder Ausprägung ein Erfüllungsmaß zwischen 0 (nicht erfüllt) und 5 (voll erfüllt) in der betrachteten Organisation zu! Welche der Disziplinen ist insgesamt am besten erfüllt und welche am schlechtesten? Welche Ausprägung ist dafür maßgebend? Und wie lassen sich diese beeinflussen? Wie hoch ist die Lernfähigkeit insgesamt, wenn Sie diese prozentual auf die maximal möglichen 100 Punkte (4 Disziplinen x 5 Ausprägungen x 5 Wertstufen) beziehen? Nach welchen Direktiven könnte man das Organisationssystem am besten führen, um die Innovationsfähigkeit zu erhöhen? Überlegen Sie sich einige Möglichkeiten für Incentives! Welche Vorteile ergeben sich für die Innovationskultur daraus?
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2.2
2 Wie macht man Innovationen?
Innovationsmarketing
Zum Management einer Innovation gehört neben der Projektarbeit auch das Marketing. Zwar könnte man auch darauf hoffen, dass der Markt irgendwie „reif“ ist für ein neues Angebot und dass sich daher eine Innovation quasi von selbst vermarktet. Doch die Erfahrung zeigt, dass in der Regel eine aktive Kommerzialisierung erforderlich ist, um den unternehmerischen Aufwand mit einem wirtschaftlichen Erfolg zu verbinden. Denn Innovationen entstehen bekanntlich erst durch ihre Verbreitung am Markt. Und daher benötigt ein Innovationsprojekt auch immer ein Marketingprojekt, das es ergänzt. Wie zuvor bereits beim Projektmanagement, so lassen sich viele allgemeine Aspekte des Marketings wieder für das Innovationsmanagement heranziehen. Zunächst scheint es daher zweckmäßig, bei den Innovationen zwischen den verschiedenen Güterklassen zu unterscheiden:
Bei einer Innovation handelt es sich hauptsächlich um ein sogenanntes knappes Wirtschaftsgut, welches durch menschliche Tätigkeit erzeugt werden muss. Dagegen ist ein sogenanntes freies Allgemeingut von Natur aus gegeben und verspricht somit eigentlich keinen Innovationspreis. Denn eine Innovation wird erst durch eine menschliche Arbeitsleistung erzeugt und ist daher grundsätzlich nicht frei verfügbar. – Strittig ist in diesem Zusammenhang allerdings beispielsweise der Umgang mit dem Erbgut in den Genen von Lebewesen. Denn diese stellen einerseits ein natürliches Allgemeingut dar, welches aber andererseits erst durch eine biologische Untersuchung verfügbar gemacht wird.
Bei einer Innovation handelt es sich dann wohl auch in der Hauptsache um ein Realgut mit einem ökonomischen Tauschwert. Ein Nominalgut besteht dagegen nur in Form einer reinen Wertbescheinigung und besitzt daher eigentlich kein technisches Innovationspotenzial. Und eine Innovation ohne irgendeine reale Invention rechtfertigt noch keinen Mehrwert. – Allerdings gibt es auch hier einen umstrittenen Markt für innovative Finanzprodukte, bei dem beispielsweise bestehende Nominalwerte, wie Anleihen, Schuldverschreibungen, Pfandbriefe und andere Wertpapiere zu neuen Nominalwerten, wie Bonds und Zertifikaten, gebündelt werden.
Produktinnovationen entsprechen dann eher auch den materiellen Sachgütern oder Waren. Prozessinnovationen sind dagegen eher den immateriellen Gütern, wie Dienstleistungen und Rechten, zuzuordnen. Und diese Unterteilung scheint grundverschiedene Güterklassen zu betreffen. – Aber diese Unterscheidung wird durch ein innovatives Marketing überwunden. Als Contracting werden Geschäfte bezeichnet, die eine materielle Leistung in Form einer immateriellen Dienstleistung anbieten. Historisches Beispiel ist die Dampfmaschine von James Watt, welche über seinen Geschäftspartner Boulton nicht als materielles Objekt vertrieben wurde, sondern als Bereitstellung einer immateriellen Arbeitsleistung. So brauchten sich die Kunden keine technischen Kenntnisse über die Maschine anzueignen. In ähnlicher Weise werden in den letzten Jahren zunehmend technische Güter, wie Mobiltelefone, Automobile, Flugzeuge, Kraftwerke oder Produktionsanlagen über eine innovative Kopplung mit Dienstleistungsverträgen für den Service vertrieben.
2.2 Innovationsmarketing
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Schließlich gibt es noch die übliche Unterscheidung zwischen Konsumgütern einerseits, die direkt zum Verbrauch bei einem Endkunden B2C (Business to Customer) vertrieben werden. Und andererseits die Produktions- oder Investitionsgüter, welche zur weiteren Verwendung an einen Geschäftskunden B2B (Business to Business) vertrieben werden. Auch diese Unterteilung erscheint wiederum grundverschiedene Güterklassen zu betreffen. – Aber der moderne Handel über das Internet verwischt zunehmend die Grenzen zwischen Endkunde und Zwischenhandel. Denn es ist einem Händler oftmals nicht mehr ersichtlich oder wichtig, ob der Kunde aus privatem oder geschäftlichem Interesse handelt. Ein Kunde kann ein Gut durchaus selbst nutzen oder weiterverkaufen. Und über den Versand ist der herkömmliche Vertriebsweg vom Erzeuger über den Großhandel zum Einzelhandel und zum Kunden eigentlich nicht mehr notwendig.
freies Allgemeingut
knappes Wirtschaftgut Erbgut
Realgut
Konsumgut Internethandel Investitionsgut
INNOVATION
Nominalgut Contracting materielles Sachgut
Abb. 22:
Finanzprodukt
immaterielle Dienstleistung
Innovationen überwinden die herkömmliche Unterteilung in Güterklassen
In letzter Zeit besteht anscheinend eine besonderere Leistung des Innovationsmarketings darin, die althergebrachte Unterscheidung zwischen den Güterklassen zu überwinden. Dabei handelt es sich dann offenbar nicht mehr um das Marketing von Innovationen, sondern eher um ein innovatives Marketing. Insofern ist Marketing nicht nur ein Aspekt des Innovationsmanagements, sondern Innovationen sind umgekehrt auch ein Aspekt des Marketings. In diesem Zusammenhang werden dann auch die Innovationsfaktoren anders formuliert.
Als sogenanntes Technology Push wird im Marketing der Erfolgsfaktor einer Invention aufgefasst. Denn bereits das allgemeine Interesse an neuen Technologien erzeugt schon eine Nachfrage am Markt und macht ein neues Angebot bei den potenziellen Kunden bekannt. – Beispielsweise dienen die Konzeptfahrzeuge in der Automobilindustrie oder besondere Messeneuheiten und Forschungsprodukte der Elektronikindustrie dazu, die Begehrlichkeit nach neuen Technologien für ein gutes Markenimage zu nutzen.
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2 Wie macht man Innovationen?
Als sogenannter Market Pull wird entsprechend der Erfolgsfaktor Diffusion aufgefasst. Denn umgekehrt dient eine bereits verbreitete Nachfrage zur unternehmerischen Anregung, um ein entsprechend neues technologisches Angebot für den Markt zu entwickeln. – Beispielsweise wird eine genaue Analyse von Verbraucherbefragungen genutzt, um verbreitete Bedürfnisse herauszufinden und dafür gezielt technische Lösungen zu schaffen. Das Marketing verfügt über eine ganz eigene Mischung von Erfolgsfaktoren – den sogenannten Marketing-Mix. Diese wurde zunächst 1964 von Neil Borden zusammengestellt und dann von Jerome McCarthy zu vier Aspekten – den sogenannten 4P – übersichtlich gebündelt. 47 Da es sich um Aspekte handelt, die in Bezug zur Öffentlichkeit stehen, werden sie gerne auch als Marketing-Politik bezeichnet. Und diese Säulen des Marketings lassen sich auch für das Innovationsmanagement nutzen: – In der Produktpolitik geht es beispielsweise um die Gestaltung des Angebots. Als Sortiment bezeichnet man dabei die angebotenen Waren und Dienstleistungen, wobei als Generalist ein Unternehmen bezeichnet wird, welches eine breite Palette von Produkten und deren Kombination anbietet, und als Spezialist gilt entsprechend ein Unternehmen, das vorwiegend Variationen einiger weniger Produkte anbietet. Als Marke bezeichnet man ein unverwechselbares Kennzeichen für ein Angebot in der Kommunikation, das der Differenzierung und der Wiedererkennbarkeit dient. Der Produktservice vor und nach dem Kauf – sowie die weiteren Leistungen für Garantie und Kulanz – prägen dann weiter die Wahrnehmung des Angebots beim Kunden. – In der Preispolitik, auch Kontrahierungs- oder Konditionspolitik genannt, geht es beispielsweise um die wirtschaftlichen Bedingungen eines Angebots. Für die Preisbildung ist dabei eine Abstimmung zwischen einer kostenorientierten Untergrenze und der nachfrageorientierten Obergrenze erforderlich. Als Preisniveau bezeichnet man den Anteil, den ein Produkt im Vergleich zu anderen Gütern in einem Warenkorb aufweisen kann. Bei der Preisdifferenzierung werden unterschiedliche Bedingungen der jeweiligen Saison, des Marktsegments oder Käuferschicht berücksichtigt. Und für die Preisstrategie spielen Bündelungen, Festpreise und die Zahlungsbereitschaft der Kunden eine Rolle. – In der Promotions- oder Kommunikationspolitik geht es um die öffentlichen Informationen zu einem Angebot. Mittels Werbung wird versucht, das Kaufverhalten der Öffentlichkeit durch entsprechende Botschaften zu beeinflussen, wobei entweder Werbemittel eingesetzt werden, wie Anzeigen, Plakate, Aufkleber, Spots oder Popups. Oder es werden Werbeträger verwendet, wie Bandenwerbung im Sportstadion, Trikots, Coupons, Geschenke oder Erkennungsmelodien. Die Verkaufsförderung schafft also durch konzertierte Aktionen oder Kampagnen einen aktuellen Anreiz zum Kauf eines Produkts. Dagegen wird durch Sponsoring eher der Kontakt zu Zielgruppen mit einer hohen Intensität erreicht und durch Public Relations die allgemeine Beziehung zur breiten Öffentlichkeit sowie das Image verbessert. – Bei der Platzierung eines Angebots, auch Distributions- oder Vertriebspolitik genannt, geht es schließlich um den Weg eines Wirtschaftsguts zum Kunden. Die Logistik befasst sich dabei mit dem konkreten physischen Transport, beispielsweise über eine spezielle Verkaufsstelle oder über einen Direktvertrieb zum Kunden. Dagegen handelt es sich bei den akquisitorischen Absatzwegen um den Vertriebspro-
2.2 Innovationsmarketing
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zess, beispielsweise über Vertreter oder Händler, durch Kommissionierung oder Franchising. Bei der Vertriebskompetenz geht es um die Qualifizierung des Personals für den Vertrieb, und beim Distributionsgrad geht es um eine Einschätzung der Verbreitung und den Anteil eines Produkts am Markt.
Markteinführung Verlauf Beschränkung Erschließung Öffnung
Innovationsmanagement Produktpolitik
Preispolitik
Sortiment
Preisbildung
Werbung
Logistik
Marke
Preisniveau
Verkaufsförderung
Absatzweg
Service Leistung
Promotion
Preisdifferenzierung
Sponsoring
-strategie
PR
Platzierung
Kompetenz Distributionsgrad
Die 4 Säulen des Marketings Abb. 23:
Die 4P des Marketings als Stützen für einen Überbau von Innovationen
Das Innovationsmarketing ruht also auch auf vier allgemeinen Säulen, wie zuvor bereits die Innovationsprojekte. Quasi wird somit auch das Innovationsmarketing „statisch“ gestützt. Und entsprechend ergibt sich auch für die Einführung von Marktneuheiten ein „dynamischer“ Überbau angeben, der einen bestimmten Verlauf mit bestimmten Beschränkungen für die Markterschließung und für die Marktöffnung beinhaltet.
Der Verlauf einer Markteinführung von Innovationen hat die besondere Form einer Wachstumskurve. Denn den Aufwendungen für ein neues Gut steht nicht im gleichen Maße ein angemessener Anteil am wirtschaftlichen Erfolg gegenüber. Meist gilt es zu Beginn eine defizitäre Phase zu überstehen, welche dann – im günstigen Fall – von einer umso profitableren Phase abgelöst wird. Das grundsätzliche Verständnis dieses Wechselbads dient dazu, in den jeweiligen Phasen angemessen zu agieren und wirtschaftspsychologische Aspekte zu berücksichtigen. Die Behinderungen, Beschränkungen, Hindernisse oder Hemmnisse bei einer Markteinführung von Innovationen sind vielfältig. Denn ein neues Wirtschaftsgut muss sich seinen Platz am Markt erst noch erobern, der bis dahin meist von den bestehenden Gütern besetzt ist. Zu den Entwicklungskosten kommen daher auch noch besondere Markteintrittskosten. Und wegen der schöpferischen Zerstörung werden Innovationen von vielen Marktteilnehmern nicht unbedingt begrüßt, sondern mit entsprechenden Barrieren erschwert. Die Markterschließung gestaltet sich entsprechend aufwendig für Innovationen. Denn grundsätzlich ist ein neues Gut zunächst kaum bekannt und oft mit technischen Anfangsmängeln behaftet sowie mit etablierten Geschäftspartnern noch schlecht vernetzt. Diese Lernkurve im Aufbau von etwas Neuem gilt insbesondere für die Durchsetzung
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2 Wie macht man Innovationen? eines exklusiven Alleinstellungsmerkmals, um dadurch einen besonderen Innovationspreis zu rechtfertigen. Daher sind Anpassungen erforderlich, um das neue Angebot mit den Gewohnheiten und Bedürfnissen der Menschen in Einklang zu bringen. Dieser menschliche Faktor wird durch ein geeignetes Design unterstützt. Schließlich kann eine gezielte Öffnung des Exklusivitätsanspruches dabei helfen, einen neuen Markt zu erschließen. Denn das Alleinstellungsmerkmal ist immer irgendwie auch ein Ausschließungsmerkmal, welches somit nicht nur vor Nachahmern schützt, sondern auch einer Markteinführung entgegensteht. Für die Markteinführung ist es dann hilfreich, die Anregungen der erhofften Käufer mit einzubeziehen. Außer dem offenen Ohr für die Kundenwünsche kann auch eine begrenzte Öffnung gegenüber gewerblichen und öffentlichen Partnern so manches Problem auf Grundlage der bestehenden Marktkenntnisse lösen. Und eine offene Bereitschaft, sich über die möglichen Konflikte frühzeitig auszutauschen, kann helfen, die Widerstände rechtzeitig und richtig zu erkennen. Mitunter scheint es sogar angeraten, auf einen Patentschutz teilweise oder vollständig zu verzichten, und in Zusammenarbeit mit anderen Akteuren einen neuen Markt gemeinsam zu erschließen.
Lektion 12:
Der Wert einer Innovation entsteht erst durch ihre Vermarktung!
Übung 12: Suchen Sie jeweils nach einem weiteren konkreten Beispiel für ein besonderes Innovationsgut, welches die übliche Trennung überwindet zwischen Wirtschafts- und Allgemeingut, Real- und Nominalgut, Ware und Dienstleistung, sowie Konsum- und Investitionsgut! Welche Innovation ist damit jeweils verbunden? Betrachten Sie dann nochmals die Innovationen aus dem ersten Abschnitt – mit den Beispielen aus der industriellen Revolution, den verschiedenen ökonomischen, evolutionären, revolutionären und technologischen Innovationen! Handelt es sich dabei eher um einen Technology Push oder einen Market Pull? Betrachten Sie dann nochmals ein frei gewähltes Innovationsthema aus den Innovationsprojekten – mit den Beispielen zu Erfolgsfaktoren, Phasen, Promotoren und der Kultur! Entwerfen Sie dafür den Marketing-Mix! Welche besonderen Aspekte lassen sich jetzt bereits für das Vermarkten dieses Innovationsthemas erkennen?
2.2 Innovationsmarketing
2.2.1
71
Der Innovationszyklus
Der Markt hat seine eigenen Gesetze. Das wird zumindest oft behauptet. Bei Innovationen entspricht der Verlauf der Diffusion in der Regel einer typischen Wachstumskurve. Denn grundsätzlich erwartet jeder Investor doch mindestens einen kontinuierlichen Fortschritt, mathematisch also eine Funktion mit monoton steigendem Verhalten zwischen dem betriebenen Aufwand und dem dafür erzielten Ertrag. Je mehr Aufwand an Zeit, Geld oder anderen Arbeitsmitteln man investiert, desto mehr Ertrag an Umsatz, Gewinn oder anderen Werten muss sich ergeben. Ansonsten lohnt sich der Aufwand nicht. Das gilt insbesondere während der Verbreitung einer Invention.
Ein einfaches Wachstumsverhalten ist direkt proportional, wobei also Aufwand und Ertrag immer in einem konstanten oder linearen Verhältnis zueinander stehen. Die zugehörige mathematische Funktion entspricht dann einer Geraden und die Umrechnungen erfolgen mit einem einfachen Faktor. y = ax + b mit a, b konstant
Die meisten Wachstumskurven sind allerdings rekursiv, wobei also der Ertrag nicht nur vom Aufwand abhängt, sondern auch von der Höhe des bestehenden Ertrags selbst bestimmt wird. Denn in der Regel benötigt man zunächst eine gewisse Präsenz am Markt, damit ein Angebot überhaupt wahrgenommen und ausgebaut werden kann. Und umgekehrt gilt für ein etabliertes Angebot am Markt, dass sein Wachstum überproportional werden kann und der Ertrag irgendwann nahezu unabhängig vom Aufwand für die Vermarktung steigt. Das ist offenbar ein denkbar lohnender Bereich, denn der Ertrag wächst scheinbar von selbst. Allerdings es gibt kaum einen Erfolg, der ins Unermessliche wächst. Als asymptotisches Wachstum wird daher bezeichnet, wenn sich das Wachstum einer oberen Ertragsgrenze nähert. Hier steigt zwar weiterhin der Ertrag, aber die Ertragssteigung wird ständig kleiner, je mehr Ertrag bereits vorliegt. Irgendwann lohnt es sich dann nicht mehr, zusätzlichen Aufwand für eine weitere Ertragssteigerung zu treiben. Dieses typische Wachstumsverhalten wird mathematisch über eine logistische Verteilung abgebildet. Die Diffusionskurve entspricht damit dem Sonderfall einer Sigmoid- oder Schwanenhalsfunktion nach Art einer sogenannten S-Kurve und lässt sich mit Hilfe einer Exponentialfunktion modellieren:48 y = A / [1+e-Bx] Diese mathematische Funktion bildet die Zahlenwerte von – bis + für x auf einer Skala von 0 bis A für y ab. Der Faktor A stellt daher in etwa einen Umrechnungskoeffizienten zwischen dem insgesamt betriebenen Aufwand und dem erzielten Ertrag dar und kann dadurch bestimmt werden. Die Steigung ist dabei durchweg positiv und nähert sich für x asymptotisch 0, wie sich anhand der Ableitungsfunktion ersehen lässt: y/x = ABe-Bx / [1+e-Bx]² = AB / [eBx/2+e-Bx/2]² Die Funktion selbst ist daher ebenfalls permanent wachsend, wie anfangs gefordert, verfügt nun aber über ein stets veränderliches Wachstumsverhalten. Für entsprechend große und kleine x-Werte nähert sie sich asymptotisch den y-Werten 0 bzw. A. Die größte Steigung ergibt sich nur bei x=0, also dem Durchgang durch die y-Achse, wie sich an der zweiten Ableitungsfunktion erkennen lässt:
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2 Wie macht man Innovationen? ²y/x² = AB² [eBx/2–e-Bx/2] / [eBx/2+e-Bx/2]² 0 x = 0 Für sehr kleine Werte von x um Null kann man in der Reihenentwicklung wie üblich den Beitrag der zweiten Ableitung vernachlässigen. Dann weist die Funktion in diesem Bereich näherungsweise das anfangs beschriebene lineare Verhalten einer Geraden auf. Der Wert der Steigungsfunktion y/x am Nullpunkt ergibt dabei den linearen Faktor: a = y/x(0) = AB/4 mit e0 = 1 Auf diese Weise lässt sich aus dem Wert der größten Steigung einer Wachstumskurve – in Verbindung mit dem Umrechnungskoeffizienten A – auch der eigentliche Wachstumskoeffizient B der Kurve numerisch ermitteln. Für eine konkrete Abbildung des Diffusionsverlaufs wird dieses Steigungsmaximum noch auf den dafür erforderlichen Aufwand um x* verschoben. Aufgrund einer anfänglichen Investition liegen außerdem anfangs meist negative Ertragswerte vor, welche durch eine entsprechende Verschiebung um y* berücksichtigt werden. Mit diesen Verschiebungen entsteht insgesamt ein mathematisches Modell für den Diffusionsverlauf. y‘ = y + y* und x‘ = x + x*
A
Ertrag y‘
y
0 -y* Abb. 24:
Aufwand x‘ -x*
0
x
Die S-Kurve als Modellierung des Diffusionsverhaltens von Innovationen
Für eine vereinfachte Betrachtung wird dieser Kurvenverlauf dann meist in vier typische Phasen eingeteilt: 1. In einer Einführungsphase ist der Ertrag y gering oder sogar negativ und wird von den Anfangsbedingungen beherrscht. Der Umsatz besteht aus Ausgaben, statt Gewinnen gibt es Verluste, und statt Werte zu schaffen, werden in dieser Phase Investitionen benötigt. – Beispielsweise war die Einführung des Internets zunächst mit jeweils hohen Aufwendungen, wie Service, Schulungen, Datenübertragungstechnik oder Software, verbunden. Während im Produktmanagement die reinen Einführungsaufwendungen berücksichtigt werden, rechnet man im Projekt- und Innovationsmanagement auch die Entwicklungskosten für die Invention dazu. Das sogenannte Bananenprinzip in dieser Phase bedeutet dann, dass bereits unausgereifte Produkte vermarktet werden, um eine erste Diffusion zu erzielen. Denn Bananen werden für die Vermarktung zunächst grün geerntet, verschifft und teilweise vertrieben und reifen dann beim Kunden aus. 2. In der anschließenden Wachstumsphase wird der Ertrag y positiv und deutlich von dem linearen Faktor a=AB/4 bestimmt. Zunehmend wird auch eine Eigendynamik über den
2.2 Innovationsmarketing
73
Wachstumsfaktor B wirksam, sodass schließlich der Ertrag stärker wächst als der jeweils erforderliche Aufwand. – Beispielsweise wurde das Internet zunächst seit 1969 für militärische Zwecke als ARPANET mit großem Aufwand entwickelt und dann ab 1989 für wissenschaftliche Zwecke vom CERN mit öffentlichen Mitteln weiterentwickelt. Erst ab 1993 stand es als WWW für die allgemeine Kommerzialisierung zur Verfügung und ermöglichte eine ungeheure Wertschöpfung, die in der Folge dann von Internetfirmen mit relativ geringem Aufwand genutzt werden konnte. Als Trittbrettfahrer oder sogenannter Free rider wird in dieser Phase bezeichnet, wer ein neu verfügbares Gemeingut mit geringem Aufwand nutzt, um damit eigene Erträge zu erzielen.
Diffusionsphasen: Einführung
Wachstum
Reife
Sättigung
Ertrag y‘
0 Abb. 25:
3.
4.
Aufwand x‘ Die vier Phasen einer Diffusion beim Innovationsmarketing
In der darauffolgenden Reifephase steigt der Ertrag y‘ weiter an, obwohl der Aufwand x‘ dafür kaum mehr erhöht werden muss. Die Diffusion wird hier offenbar zum Selbstläufer. Allerdings ändert sich bereits die Krümmung der Diffusionskurve, sobald die Funktion die verschobene y-Achse überschreitet. Obwohl der Ertrag dann immer neue Höhen erreicht, sinkt bereits der Zuwachs. – Beispielsweise wurde das Internet in den 1990er-Jahren für immer neue Dienste erfolgreich genutzt und es entstand die vernetzte Wirtschaftsform der sogenannten New Economy. Diese Phase zeichnet sich also durch eine zunehmende Konkurrenzsituation aus, in der immer neue Varianten angeboten werden und die Effektivität gesteigert wird. Bis im Jahr 2000 die sogenannte Dotcom-Blase platzte und die ersten Grenzen dieses Booms aufzeigte. Denn Internetunternehmen haben oft nur eine elektronische Adresse, die mit einem Punkt – engl. dot – und der Klassifikation com für Company oder commercial. In der Sättigungsphase schließlich nähert sich der Ertrag y immer mehr einer Obergrenze, unabhängig davon, wie sehr der Aufwand x erhöht wird. Aufgrund der hohen Ertragslage kann dieser Aufwand zunächst noch gerechtfertigt sein, übersteigt aber sicher irgendwann jedes sinnvolle Maß. – Beispielsweise sind Internetdienste in Deutschland als gesondertes Angebot und Abrechnung nach Verbindungsdauer kaum noch vertreten, sondern werden hauptsächlich in Kombination mit Telefonverbindungen zum Festpreis angeboten. In dieser Phase findet ein Erhaltungsmarketing mit zunehmender Diversifizierung und Bündelung von Produkten statt.
74
2 Wie macht man Innovationen?
Dieser Ablauf der Diffusion entspricht dem üblichen Verhalten beim Vermarkten von Innovationen. Und die Orientierung an den verschiedenen Phasen hilft, die unterschiedlichen Aufgaben für das Innovationsmanagement bei Einführung, Wachstum, Reife und Sättigung zu spezifizieren. Insofern wird diese Struktur auch gerne herangezogen, um Management für technologische Innovationen zu betreiben. Dabei werden allerdings meist etwas andere Begriffe verwendet: 1. Als technologische Grundlage oder Fundamental Technology wird bezeichnet, wenn ein erster Prototyp auf einem sogenannten Emerging Market oder Aufbruchsmarkt erscheint. – Dazu gehören beispielsweise die Dampfmaschine von Newcomen 1712, die Lokomotive von Trevethick 1804, der Motorwagen von Benz 1886, das Motorflugzeug der Gebrüder Wright 1903 oder die Rechenmaschine von Zuse 1941. 2. Als Schrittmacher-Technologie oder Pace-Making-Technology wird im weiteren Verlauf bezeichnet, wenn die erste kommerzielle Produkte auf einem sogenannten Growing Market oder Wachstumsmarkt erscheinen. – In Bezug auf die genannten Beispiele sind dies die Expansions-Dampfmaschine von Watt 1769, die Eisenbahnlinie von Stephenson 1825, der Fahrzeugbau von Peugeot 1891, der Flugzeugbau von Blériot 1909 oder der Computer von IBM 1947.
Technologiephasen: Grundlage Schrittmacher
Schlüssel
Basis
Ertrag y‘
0 Abb. 26:
3.
Aufwand x‘ Die vier Phasen bei technologischen Innovationen
Als Schlüsseltechnologie oder Key-Technology wird im weiteren Verlauf, wenn nunmehr ausgereifte Produkte auf einen sogenannten Maturing Market zur Marktreife kommen. – In Bezug auf die vorangehenden Beispiele handelt es sich dabei um das Dampfmaschinen-Contracting von Boulton 1775, um die Transkontinentale Eisenbahnlinie der USA 1869, um das T-Model von Ford 1908, um das Verkehrsflugzeug von Junkers 1919 oder um den Personal Computer von Hewlett Packard 1968. 4. Als Basistechnologie oder Basic-Technology wird schließlich bezeichnet, wenn Produkte allgemein genutzt werden auf einem sogenannten Aging Market oder Bestandsmarkt. – Allerdings stellt diese Basis auch wieder eine neue Grundlage für ganz neuartige technologische Leistungen dar, beispielsweise einen Sterling-Motor für Solarkraftwerke, Hochgeschwindigkeitszüge, Brennstoffzellenfahrzeuge, Großraumflugzeuge oder weltweit vernetzte Computer im Internet. Ökonomisch stellt also eine Innovation eine Investition dar, deren Ertrag sich erst verzögert zum Aufwand ergibt. Aus der Betriebswirtschaft kennt man entsprechende Berechnungsmög-
2.2 Innovationsmarketing
75
lichkeiten, um dieses dynamische Verhalten mit einer festverzinslichen Kapitalanlage zu vergleichen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet man die Diffusionskurve als Verlauf der Jahressaldi eines Innovationsprojekts – Einnahmen minus Ausgaben – über die Zeit. Im Vergleich zu einer festverzinsten Kapitalanlage gilt es dann noch zu beachten, dass sich diese jährlich um den Zinsertrag – und die Zinseszinsen – erhöht. Um also den Projektwert mit dem aktuellen Netto-Kapitalwert NPV – für Net Present Value – zu vergleichen, müssen die jeweiligen Jahressaldi des Projektes auf ihren gegenwärtigen Wert abgezinst werden. Bei mehrjährigen Betrachtungen müssen dabei auch die Zinseszinsen berücksichtigt werden. Der NPV eines Innovationsprojekts ergibt sich dann als Summe der abgezinsten Jahressaldi si: NPV = si/(1+p)i mit p: Zinssatz und i = 0 … n die betrachtete Laufzeit in Jahren. –
Wenn beispielsweise über 3 Jahre jährlich 100 k€ investiert werden, um anschließend 6 Jahre lang einen jährlichen Überschusssaldo von 100 k€ zu erzielen, so ergibt sich der aktuelle Nettokapitalwert NPV für jedes Jahressaldo bei einem Zinssatz von p = 10% durch die folgende Kalkulation: Jahr
0
1
2
3
4
5
6
7
8
Jahressaldo [€] Summe [€] Kapitalwert [€] NPV [€]
-100 -100 -100 -100
-100 -200 -91 -191
-100 -300 -83 -274
100 -200 75 -199
100 -100 68 -131
100 0 62 -69
100 100 56 -13
100 200 51 38
100 300 47 85
1
2
3
4
5
6
Kapitalwerte [k€]
- 100 –
Abb. 27:
ohne Zinsen
0
mit Zinsen
100 –
Projektlaufzeit [a]
Der Verlauf jährlicher Kapitalwerte mit und ohne Verzinsung In der Tabelle sind zunächst die jährlichen Einzelbeiträge der Salden und Kapitalwerte dargestellt. Darunter stehen dann die kumulierten Summen ohne Verzinsung und mit Verzinsung als NPV. Über einen Zeitraum von 10 Jahren ergibt sich ein aktueller Kapitalwert NPV von 85 k€ gegenüber einem Reinertrag von 300 k€ für das Projekt. Daran erkennt man deutlich die Zinseffekte.
•
Insgesamt beträgt der Kapitalwert NPV weniger als ein Drittel bezüglich einer statischen Betrachtung, bei der sich die unverzinsten Jahressaldi zu insgesamt 300 k€ summieren. Dieses Ergebnis bedeutet umgekehrt allerdings auch, dass man bereits zu Beginn mit einem Ertrag von 85 k€ im Vergleich zu einer zehnprozentigen Kapitalanlage rechnen kann.
76
2 Wie macht man Innovationen? •
Man könnte also beispielsweise eine jährliche Auszahlung oder Annuität von 10 Prozent des NPV, also 8.600 €, vornehmen, und trotzdem am Ende des Projekts – wenn alles glatt liefe – die Innovation amortisiert haben. • Falls man aber auf diese Annuitätszahlungen verzichtet, könnte man die Gewinnschwelle oder den sogenannten Break Even entsprechend früher erreichen. Wie man unschwer aus der Kalkulation zusammenzählen kann, sind die Kapitalwert-Verluste von 274 k€ aus den ersten drei Jahren durch KapitalwertGewinne von 261 k€ in den vier Folgejahren bereits nahezu ausgeglichen. Man könnte dann also bereits Überschüsse aus dem 7. und 8. Jahr wieder voll reinvestieren. • Und falls man die Investition für das Innovationsprojekt selber aufbringt, könnte man sich eine dadurch erreichte interne Verzinsung IRR – für Internal Rate of Return – ausrechnen. Dazu wird der Zinssatz p für den NPV so lange variiert, bis sich ein Nettokapitalwert über die gesamte Laufzeit von gerade Null ergibt. Damit ergäbe sich für das Innovationsprojekt in diesem Fall ein interner Zinsfuß IRR von ungefähr 17,4 Prozent. Grundsätzlich handelt es sich bei diesen Berechnungen um die üblichen Betrachtungen einer dynamischen Investitionsrechnung, die hier nicht weiter vertieft werden. Ein Innovationsprojekt endet eigentlich mit der erfolgreichen Diffusion. Aber die entstandenen Innovationen leben anschließend noch weiter als nunmehr etablierte Produkte, Prozesse, Vertriebs- oder Organisationsweisen – oder auch als Technologien. In einer erweiterten Betrachtung lassen sich auch anschließende Phasen entsprechend charakterisieren: 5. In der Degenerationsphase sinkt der Ertrag y trotz teilweise großer Aufwendungen x für die Erhaltung. Die jeweiligen Produkte, Prozesse, Vertriebswege oder Organisationsstrukturen werden dann nicht mehr bedient oder gepflegt, sodass Ersatzteile oder Kompetenzen nicht mehr verfügbar sind. Bei Technologien folgt entsprechend auf die Phase des Wohlstands oder der Prosperity nun ein gesamtwirtschaftlicher Rückgang bzw. die Recession. – Beispielsweise sind Magnetbandspeicher und Floppy Disks durch DVD und Flashspeicher weitgehend ersetzt worden. Und die verschiedenen Bus-Anschlüsse zur Datenverbindung werden zunehmend durch USB ersetzt. Diese Phase zeichnet sich also meist durch eine Konsolidierung des Marktes mit zunehmender Standardisierung und begleitendem Preisverfall aus. Unter den Bezeichnungen DIN, EN oder ISO werden allgemeine technische Regelungen – in Deutschland, Europa oder International – verstanden, um Produkte verschiedener Unternehmen kompatibel zu machen. 6. In der Nachlaufphase orientiert sich der jeweilige Aufwand x direkt am noch zu erwartenden Ertrag y und beschränkt sich vorwiegend auf Serviceleistungen, wie Garantie, Ersatzteile oder Entsorgung. Dabei kann es im Einzelnen durchaus noch lukrativ sein, sich mit den zugehörigen Restposten zu bevorraten und entsprechende technische Kompetenzen anzubieten. Bei Technologien entspricht dies einer Phase des gesamtwirtschaftlichen Niedergangs oder einer Depression, welche einem erneuten Aufschwung oder Improvement mit verbesserten Technologien vorausgeht. – Beispielsweise basieren im Internet viele Programme auf Quellcodes, die in einer früheren Programmiersprache verfasst wurden und deren Dokumentation sich auf
2.2 Innovationsmarketing
77
veralteten Speichermedien befindet. Unter Data Mining oder Information Retrieval werden Methoden verstanden, um nachträglich solche komplexen Daten zu analysieren und einzuschätzen. Produktlebenszyklus: Einführung Wachstum Reife Sättigung Degeneration Nachlauf
Ertrag y
Wirtschaftszyklus: Aufschwung improvement
Wohlstand prosperity
Rückgang recession
Niedergang depression
Zeit x Abb. 28:
Die Phasen eines Lebenszyklus von Produkten oder der Gesamtwirtschaft
Auf diese Weise ergibt sich insgesamt ein wiederkehrender oder zyklischer Verlauf von Phasen. Und die Aufgabe eines Managers besteht darin, einen Mehrwert in jeder Phase zu erreichen oder sogar zu maximieren. Das bezieht sich durchaus auf alle denkbaren Phasen des Verlaufs, von der Ideenphase eines Innovationsprojektes bis zur Entsorgungsphase im Produktnachlauf. Die Phasen stellen daher wechselnde Anforderungen im Ablauf dar. Somit ist eine Analyse des Lebenszyklus eine beständige Aufgabe. Mit der Betrachtung von zyklischen Abfolgen verschwinden die üblichen Aufgabentrennungen des Managements. Denn auch das Management von Produkten, von Prozessen, im Vertrieb oder in der Organisation benötigt ständig Innovationen für die Weiterentwicklung der eigenen Leistungen. Und daher findet sich umgekehrt das Innovationsmanagement auch als Bestandteil der jeweils anderen Managementaufgaben. – Beim Management von Zielkosten – dem sogenannten Target Costing – geht es beispielsweise auch um innovative Wege, ein Produkt in seiner Gestaltung, Herstellung, Vermarktung oder Finanzierung an denjenigen Preis anzupassen, der von den interessierten Kunden akzeptiert wird. – Beim Management der Unternehmenssteuerung – dem Controlling – handelt es sich entsprechend auch um innovative Prozeduren, um eine Unternehmung auf ihre Risiken zu prüfen, präventive Maßnahmen zu ergreifen und ein höheres Maß an Sicherheit zu gewährleisten. – Beim Management des Unternehmensvergleichs – dem sogenannten Benchmarking – sucht man ständig nach innovativen Praktiken, um eine Geschäftstätigkeit insgesamt erfolgreich zu führen.
78
2 Wie macht man Innovationen?
Innovationen sind offenbar ein dermaßen lebenswichtiger Bestandteil aller Managementaufgaben, dass es mitunter schwerfällt, dem Innovationsmanagement ein eigenes Gebiet als Unternehmensaufgabe zuzugestehen. Lektion 13:
Ohne ständige Innovationen stirbt ein Produkt und die Wirtschaft kommt zum Erliegen!
Übung 13: Überlegen Sie sich die verschiedenen Phasen für die Einführung eines neuen Kommunikationsgeräts, eines neuen Fahrzeugs oder einer anderen bekannten Innovation! Versuchen Sie, dafür die verschiedenen Innovationsphasen zu bestimmen, indem Sie verschiedene Aufwendungen mit den jeweils erreichten Erträgen abschätzen! Ordnen Sie diese grobe Schätzung der jährlichen Saldi und erstellen Sie dafür die Wachstumskurve der Diffusion! Unterteilen Sie diese Kurve in Einführungs-, Wachstums-, Reife- und Sättigungsphasen! Überprüfen Sie mit dieser Unterteilung nochmals Ihre Einschätzungen der Aufwendungen und Erträge, bis diese wieder plausibel erscheinen! Berechnen Sie damit NPV, Annuität, Break Even und IRR! Welches ist das Ergebnis, wodurch die Innovation dann lohnend erscheint? Welche sind die Aufgaben des Managements in den jeweiligen Phasen? Versuchen Sie anschließend, besondere Aufgaben für das Management in der Degenerations- und Nachlaufphase zu erkennen! Wie kann das Innovationsmanagement dabei andere Managementbereiche unterstützen? Wählen Sie sich abschließend eine technologische Innovation aus Abschnitt 1.4! Recherchieren Sie dazu die verschiedenen Phasen des Wachstums! Versuchen Sie, die Zwangsläufigkeit aus Rezession und Depression zu erklären! Welche Möglichkeiten bestehen, um diese Zyklen der Gesamtwirtschaft zu durchkreuzen oder zu unterlaufen?
2.2 Innovationsmarketing
2.2.2
79
Die Innovationsbarrieren
Eine Barriere ist eine Beschränkung gegen eine ungehemmte Ausbreitung. Der Begriff bezeichnet wörtlich eine Schranke oder ein Hindernis, wie bei einer Bar oder einer Barrikade. Durch eine Barriere wird ein Bereich unterteilt in ein Innen und ein Außen. Der Austausch zwischen den Teilbereichen wird dabei durch die Barriere erschwert, behindert oder vielleicht sogar gänzlich verhindert. Das erscheint manchmal als überaus wünschenswert, um das Innere vor dem Äußeren zu schützen, oder umgekehrt das Äußere vor dem Inneren, wie bei einer Absperrung oder einem Käfig. Aber es kann auch als durchweg ärgerlich erscheinen, wenn ein freier Austausch gewünscht wird. Barrieren sind also auch im übertragenen Sinn eine zwiespältige Angelegenheit. Das gilt insbesondere für Innovationen.
Ohne eine Barriere wäre kein ökonomischer Ausgleich für den betriebenen Aufwand und für die Leistung bei einer Innovation möglich, denn das Ergebnis stünde allen Wettbewerbern zur freien Verfügung und gehörte somit schnell zur Arbitrage. Daher benötigen Innovationen Barrieren durch besondere Schutzrechte, wie Patente, Gebrauchs- oder Geschmacksmuster oder auch einfach Betriebsgeheimnisse. Diese beschränken die Nutzung einer Neuerung zumindest zeitweise auf den Erfinder und/oder das Unternehmen, das diese innovative Leistung erbracht hat. Auf jedem Markt bestehen aber Barrieren durch die vorhandenen Produkte, Prozesse, Vertriebswege oder Organisationsstrukturen, welche die Einführung einer Innovation behindern. Ohne diese Barrieren bestünde ein entsprechender Freiraum für die Ausbreitung einer Innovation. Und das Marketing eines neuen Produkts, eines neuen Prozesses, neuer Vertriebswege oder Organisationsstrukturen wäre entsprechend einfacher. Daher müssen Neuerungen auch immer die bestehenden Barrieren überwinden, um einen neuen Freiraum in der derzeitigen Aufteilung des Marktes zu besetzen. Barrieren sind folglich sowohl notwendige Schutzräume als auch störende Hindernisse für eine wirtschaftliche Entwicklung. Denn jede Unternehmung beinhaltet gleichermaßen einen ökonomischen Zwang zum Ausgleich von Ausgaben und Einnahmen, wie auch ein unternehmerisches Streben nach einem Mehrwert auf neuen Märkten. Es scheint also in wirtschaftlicher Hinsicht völlig normal und üblich, dass Barrieren beachtet und überwunden werden müssen. Dies zeigt sich auch an Entwicklungen in der Natur und in der Kultur: – In der Ökologie bezeichnet man als Nische, Habitat oder Biotop einen Lebensraum, der von Barrieren umgeben ist, um entsprechend spezialisierten Lebensformen eine besondere Umwelt zu bieten. Erst darin können sich diese entfalten. Wenn diese Organismen ihre angestammte Umgebung verlassen – oder sich die Bedingungen ihrer Umwelt ändern, setzt eine mörderische Auswahl oder Selektion ein. Auch in der menschlichen Zivilisation bestimmt die Heimat nicht nur den Ort der Geburt und des Heranwachsens, sondern auch die jeweilige Kultur, die diesen Lebensraum von den anderen Orten dieser Welt unterscheidet. Offenbar benötigt somit auch höher entwickeltes Leben durchaus Barrieren. Sobald diese Barrieren fallen, entsteht ein Zwang zur Anpassung. Und es ergibt sich dadurch ein Risiko, dabei Geld und/oder das Leben zu verlieren. – Die Evolution dagegen benötigt offenbar Freiräume, die sich von den Lebensräumen gerade dadurch unterscheiden, dass Barrieren fehlen oder entfernt werden. Das Verschwinden einer Art ermöglicht somit das Erscheinen einer neuen Spezies. Die Änderung von Umweltbedingungen schafft Möglichkeiten für neue Entwicklungen.
80
2 Wie macht man Innovationen?
Und die Änderungen von Lebensbedingungen, wie Verschmutzungen oder Klimawandel, verhilft vielleicht neuartigen Lebensformen zum Erfolg. Auch in der menschlichen Geschichte gibt es Beispiele dafür, dass die Flucht oder Vertreibung aus der Heimat manchmal zu einer neuen Kultur geführt hat, die sich danach als besonders vorteilhaft herausstellte. Und eine Innovation beruht somit manchmal genau darauf, mit der bestehenden Kultur und der Beliebigkeit der Arbitrage zu brechen. Das macht den Begriff Innovationskultur doch einigermaßen paradox. Entsprechend tragen auch Innovationen diesen Widerspruch in sich. Es geht nicht darum, Barrieren zu vermeiden, sondern darum, Barrieren als Stützpunkte zu nutzen, um die zuvor getätigten Investitionen auszugleichen und dadurch weitere Innovationen betreiben zu können.
Organisatorische Barrieren bestehen bereits beim Management in Bezug auf die erforderlichen Fähigkeiten und den Willen der Beteiligten. Da gibt es zunächst die notwendige Kompetenz für Projektmanagement im Allgemeinen und die Kenntnisse zu Invention, Diffusion, Phasen, Promotoren und Kultur im Besonderen. Zur organisatorischen Befähigung zählt aber auch die Verfügbarkeit von Ressourcen als materielle oder finanzielle Mittel sowie die Kapazität oder die Leistungsfähigkeit der beteiligten Personen. Gerade der persönliche und menschliche Aspekt der Motivation bzw. Demotivation für ein Thema kann dabei eine bedeutende Barriere darstellen. Als technische Barrieren für eine Innovation gibt es die typischen Hindernisse zwischen einer Idee und deren praktischer Umsetzung. Außer der grundsätzlichen technischen Machbarkeit durch Berücksichtigung der Naturgesetze gilt es, dabei auch die Verfügbarkeit von technischen Hilfsmitteln zu beachten sowie die Vereinbarkeit oder Kompatibilität von verschiedenen benötigten Komponenten. Dabei kann auch die technologische Reife bzw. Unreife eine Barriere sein. Weiter gibt es zahlreiche formale, regulative Barrieren zu beachten. Diese bestehen in zeitlichen Fristen oder in der finanziellen Budgetierung für ein Innovationsprojekt, in dem verfügbaren Platz oder in den Umgebungsbedingungen für die Projektarbeit, in den erforderlichen Genehmigungen oder in dem gesetzlichen Rahmen für die Verwirklichung. Mitunter kann sowohl das Fehlen als auch das Erteilen von Vorschriften eine Barriere für die Umsetzung einer Innovation darstellen. Solche Barrieren finden sich häufig im Innovationsprozess. Es gibt Barrieren für technische Erfindungen und deren ökonomische Verbreitung. Es gibt Barrieren durch die Lebensdauer einer Sache sowie durch die verfügbaren Ideen. Und es gibt Barrieren durch die Beschränkungen des menschlichen Denkens selbst. Auch im menschlichen Verstand finden sich Grenzen, die zwischen dem jeweils Denkbaren und dem Undenkbaren liegen. Und anscheinend benötigt das wache Denken sogar eine gewisse Zensur, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. In der Psychoanalyse postuliert Sigmund Freud dementsprechend einen inneren Zensor, der diese verschiedenen Aspekte trennt. Unbewusst werden manche Vorstellungen verdrängt, um sich auf diejenigen zu beschränken, welche für ein zielgerichtetes und zweckmäßiges Handeln erforderlich sind. Für die alltägliche Ökonomie des Handelns scheint es durchaus begründet, dass es solche Denkbarrieren gibt. Bei der Entwicklung von Neuem steht diese Beschränkung auf das Zielgerichtete und Zweckmäßige dann aber im Wege. Auch hieran zeigt sich der widersprüchliche Charakter von Barrieren.
2.2 Innovationsmarketing
Abb. 29:
1.
2.
3.
81
Die grundsätzlichen Barrieren auf dem Weg zu einer Innovation
Als Denkbarrieren benennt Francis Bacon in seiner Magna Instauratio von 1620 vier Arten von Idolen, was wörtlich etwa Täuschungen bedeutet. Diese stehen einer neuen Erkenntnis zwar im Weg, ermöglichen aber auch die Entdeckung besonderer Freiräume, wenn sie überwunden werden.49 Die Sinnestäuschung oder Idola Tribus ist eine Barriere durch die angestammten menschlichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung – das Wort Tribus steht für die Abstammung des Menschen. So sind elektromagnetische Funkwellen, infrarotes Licht oder Ultraschall für Menschen grundsätzlich nicht wahrnehmbar. Unsere Sinnesorgane vermitteln folglich nur einen eher beschränkten Eindruck von der Welt. – Diese Barriere stand zwar den Innovationen für die Telekommunikation lange Zeit im Wege. Aber sie führte schließlich auch zu den unglaublichen Freiräumen in der modernen globalen Nachrichtenübertragung. Beispielsweise wurde allein der Freiraum für die Lizenzen einer Breitbandübertragung UMTS im Jahr 2000 für eine Summe von fast 50 Milliarden Euro in Deutschland versteigert. Das Missverständnis oder Idola Fori ist eine Barriere durch die Verständigung über Worte – das Wort Forum steht für den Marktplatz mit seinem ganzen Gerede und den Anpreisungen. So ist der Nutzen einer Sache, wie Natur- oder Kunststoff, Hemd oder Pullover, Urlaub an der See oder in den Bergen, meist von der persönlichen Ansicht geprägt und folglich nicht eindeutig festgelegt. Darüber kann man also verhandeln. – Diese Barriere ist für radikale Innovationen wie die Nano- oder Biotechnik zwar eher hinderlich, weil diese zu weit von der Erfahrungswelt der Menschen entfernt ist. Aber sie bietet dadurch auch einen ungeheuren Spielraum für sprachgewandte Bewerbung mit immer neuen Metaphern. Beispielsweise werden die eigentlich natürlichen und ursprünglichen Eigenschaften von Naturstoffen, wie Leder oder Wolle, die auf biologischem Wachstum im Nanometerbereich beruhen, heutzutage wahlweise als Nano- oder Biotechnik vermarktet. Das Vorurteil oder Idola Specus ist eine Barriere durch die beschränkte menschliche Sichtweise – das Wort Specus steht für eine Höhle oder einen Tunnel. So ist die Umstellung auf eine neue Technologie meist mit dem Vorurteil behaftet, dass es dadurch auch nicht besser werde und sich infolgedessen insgesamt auch nicht lohnt. Entsprechend kennt man den Tunnelblick aufgrund von Befangenheit, Erwartungen, Ungeduld, Intoleranz oder schlicht Inkompetenz, die den Blick auf eine Neuerung verstellen.
82
2 Wie macht man Innovationen? –
4.
Diese Barriere behindert zwar technologische Innovationen wie Elektroantriebe, weil die gesamte Branche von der Entwicklung über Lieferanten bis zu den Tankstellen und Reparaturbetrieben noch auf die Verbrennungsmotoren eingestellt ist. Aber dabei wird die Verbrennungstechnologie auf ein höchstes Maß an Effizienz und Emissionsfreiheit getrieben. Beispielsweise wird mit selektiver katalytischer Reduktion SCR durch den Einsatz von Harnstoff eine drastische Minderung von Stickoxiden aus dem Abgas von Verbrennungsprozessen erreicht. Die Wunschvorstellung oder Idola Theatri ist eine Barriere durch die blühende Vorstellung von Menschen – das Wort Theatrum steht für die Betrachtung von Schauspielen durch Zuschauer. So ist die Hoffnung auf dauerhafte Gesundheit und Überleben für Menschen kaum erfüllbar und nur eine Illusion. Und der Fantasie sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt – insbesondere mit der Technologie für virtuelle Realität. – Die Barriere zwischen Leben und Tod ist zwar grundsätzlich allen Menschen bekannt. Aber das eigene Überleben ist dermaßen wünschenswert, dass immer wieder neue lebensverlängernde Produkte und Prozeduren das Geschäft mit der Gesundheit zu dem innovativsten und teuersten Markt machen. Beispielsweise wurde 1995 in Deutschland zusätzlich zur Krankenversicherungspflicht eine neue soziale Pflegeversicherung eingeführt, um die besonderen Gesundheitskosten im Alter zu finanzieren. Und zusätzlich zur Rentenversicherungspflicht wird geraten, private Vorsorge für eine Finanzierung des Lebensunterhalts im Alter zu treffen. Der Wunsch nach einem langen Leben wird somit zur Quelle immer neuer Finanzprodukte.
Lektion 14:
Barrieren für Innovationen sind zwar wertvoll, aber ihre Überwindung ist noch wertvoller!
Übung 14: Untersuchen Sie ein frei gewähltes Innovationsthema, beispielsweise aus einer der vorhergehenden Übungen! Welche Barrieren gilt es zu überwinden? Welche Barrieren gilt es zu nutzen?
2.2 Innovationsmarketing
2.2.3
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Ein Innovationsdesign
Der Begriff Design steht wörtlich für eine Zeichnung oder Abbildung und befasst sich somit eigentlich nur mit der Form- und Gestaltgebung einer Sache. Inzwischen wird darunter aber auch die Gestaltung aller Aspekte verstanden, welche von der ursprünglich geistigen Vorstellung einer Sache zu ihrer konkreten Verwirklichung führen. Dazu werden verschiedene Designfunktionen verwendet, beispielsweise zu den Themen Ergonomie, Information, Symbolik, Struktur, Psychologie, Didaktik, Intuition oder Mediation. Das Design als Lehrfach hängt außerdem stark mit der Kunst und der Ästhetik zusammen. Allen gemeinsam ist die besondere Orientierung am Menschen. Denn Innovationen werden nicht nur von Menschen gemacht – beispielsweise den bereits beschriebenen Promotoren im Projektmanagement, sondern auch für Menschen gemacht. Und der sogenannte menschliche Faktor scheint auch genau das geeignete Mittel zu sein, um die diversen Barrieren bei der Vermarktung zu überwinden. Beim Innovationsdesign handelt es sich folglich um die Gestaltung eines neu geschaffenen Gutes in einer Weise, dass es den menschlichen Empfindungen und Bedürfnissen entgegenkommt. Je mehr sich ein Mensch an eine Innovation erst gewöhnen muss, desto schwieriger wird es, diese Neuerung am Markt einzuführen. Je leichter sich etwas Neues in die ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen des Menschseins einfügt, desto eher wird es gelingen, dafür einen Innovationspreis zu erzielen. In diesem Sinne handelt es sich also nicht nur um ein Design von Produkten, wie man es aus der Mode kennt, sondern auch um die umfassende Berücksichtigung von diversen Designfunktionen für die Prozesse, die Qualität, die Produktion, die Entwicklung, die Kommunikation, die Grafik, die Interfaces und für den Service. Alle Aspekte von Innovationen, die ein Management benötigen, müssen entsprechend auch im Design berücksichtigt werden. Demzufolge ist das Design grundsätzlich multidisziplinär angelegt. – Die Firma IDEO bietet Innovationsberatung auf Grundlage eines umfassenden Designansatzes an und zählt selbst zu den innovativsten Unternehmen in diesem Umfeld. Dabei kommen verschiedene Kompetenzen der Mitarbeiter zur Geltung, wie das Design für Handelsmarken, Business oder Betriebsabläufe, Ergonomie, Gesundheit, Industrie, Interaktion, Kommunikation, Lebensmittel, Maschinen, Organisation, Software, Umwelt. 50 51 Die Anzahl an Designfunktionen für das Marketing einer Innovation entspricht den verschiedenen Einflussfaktoren in den Phasen von Innovationsprojekten und erscheint daher ebenfalls nahezu unbegrenzt. Und die wichtigste Anforderung an ein Design ist demnach, in absehbarer Zeit zu einer Lösung zu gelangen und dafür die signifikante Auswahl von Designfunktionen einzugrenzen.
Als Human Centered Design wird der Ansatz bezeichnet, möglichst viele verschiedene Menschen am Designprozess zu beteiligen: Junge und Alte, Frauen und Männer, Experten und Laien, Techniker und Vermarkter, Konservative und Progressive … und alle Nuancen dazwischen und darüber hinaus. Auf diese Weise sind dann zumindest die üblichen Interessen, Bedürfnisse und Empfindungen von Menschen repräsentiert. – Als Co-Creation bezeichnen Prahalad und Ramaswamy im Jahr 2000 eine zunehmende Einbindung von Kunden in die Produktgestaltung.52 Während es bei Investitionsgütern seit jeher üblich ist, dass sich Anbieter und Auftraggeber intensiv über
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2 Wie macht man Innovationen?
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die Gestaltung abstimmen, gilt dies bisher kaum für Konsumgüter. Mit der Einrichtung von Internet-Plattformen, wie Foren, Blogs, Wikis oder anderer interaktiver Ansätze des Web 2.0, wird es inzwischen aber auch möglich, viele einzelne Kunden in diesen Gestaltungsprozess einzubeziehen. Insbesondere Internetdienste befassen sich mit der Aufgabe, eine große Schar von Nutzern als Quelle für die Gestaltung von verbesserten Angeboten zu bündeln. Dazu dienen beispielsweise verteilte Computernetzwerke – das sogenannte Cloud Computing – mit verteilter Gruppenintelligenz – dem entsprechenden Crowd Sourcing. Das Kano-Modell wurde 1978 von Noriaki Kano beschrieben, um die verschiedenen Aspekte in den Kundenerwartungen zu erfassen und bewertbar zu machen.53 Grundsätzlich beruht es auf der Ermittlung von zwei Faktoren in der subjektiven Wahrnehmung eines Kunden: der wahrnehmbaren Qualität eines Angebots und der wahrgenommenen Zufriedenheit mit dem Angebot.54 Ausgehend von dieser Erfassung der menschlichen Empfindungen können verschiedene Merkmale für die weitere Gestaltung des Angebots abgeleitet werden.
subjektive hoch Zufriedenheit
subjektives Qualitätsempfinden hoch
niedrig
Basismerkmal
niedrig Abb. 30:
Die Hauptmerkmale der Kundenerwartungen nach dem Kano-Modell
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Das Leistungsmerkmal entspricht der grundlegenden Annahme, dass eine höhere Qualität auch zu einer höheren Kundenzufriedenheit führt – und eine mindere Qualität die Kundenzufriedenheit entsprechend mindert. Ein Kunde ist grundsätzlich umso zufriedener, je mehr ein Produkt leistet. Dazu gehören beispielsweise Funktionen, die eine Ausdehnung haben, wie Lebensdauer, Reichweite, Größe oder auch Miniaturisierung. Daneben kann es aber auch Designfunktionen mit Begeisterungsmerkmal geben, die also weniger von der wahrnehmbaren Qualität als von der wahrgenommenen Zufriedenheit bestimmt werden. Eine freudige Überraschung steigert dann in jedem Fall die Zufriedenheit, egal wie gut sie ausgeführt wurde.
2.2 Innovationsmarketing
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Dazu gehören beispielsweise Funktionen, die es zusätzlich und vielleicht sogar umsonst gibt, wie Werbeartikel, persönliche Ausstattungen oder individuelle Kennzeichnungen von Produkten. Demgegenüber gibt es auch Basismerkmale, welche die Zufriedenheit bereits dann mindern, wenn sie nicht mit höchster Qualität wahrnehmbar sind. Eine weitere Qualitätssteigerung erhöht dann auch nicht mehr die Zufriedenheit, sondern steigert die Ansprüche. Dazu gehören beispielsweise Funktionen, die für einen sicheren Gebrauch unerlässlich sind, beispielsweise Belastbarkeit und Schutzfunktionen. Schließlich gibt es noch Merkmale, die als indifferent oder sogar abweisend bezeichnet werden, weil sie vom Kunden nicht bemerkt werden – oder nur bemerkt werden, wenn sie ausfallen. Die Qualität muss dann nur den Zweck erfüllen. Beispielsweise sind die Verschleißerscheinungen bei einem Produkt völlig unerheblich, wenn sie erst nach der Gebrauchsdauer merkbar werden – aber doch sehr ärgerlich, wenn sie vorher auftreten.
Das sogenannte Design Thinking ergänzt diesen kreativen Entwurf durch einen iterativen Prozess aus abwechselnden divergenten und konvergenten Phasen. In der divergenten Phase werden dabei möglichst viele Ansätze generiert, die anschließend in der konvergenten Phase auf eine möglichst konkrete Ausführung fokussiert werden. Diese Ausführung wird dann untersucht, um durch gemeinsame Beobachtung ein gemeinsames Verständnis zu erarbeiten. Und auf Grundlage des verbesserten Verständnisses werden erneute Ansätze für Verfeinerungen und Vorstellungen generiert, die auf eine weitere konkrete Ausführung fokussiert werden. Das wiederholte Anpassen im Wechselspiel von geistigen Vorstellungen und ihrer konkreten Verwirklichung führt dann zu einer zunehmenden Integration der Designfunktionen. – Ein Prototyp stellt als Erst- oder Einzelanfertigung ein vereinfachtes Modell der Innovation dar. Bei Prozessinnovationen spricht man auch von einem Pilot. Dieser Prototyp oder Pilot enthält bestimmte Designfunktionen, welche am konkreten Objekt studiert werden können, beispielsweise die ästhetische Wirkung, die geometrischen Auswirkungen auf die Materialanforderungen oder das Zusammenwirken von technischen Komponenten. Relativ jung sind noch die Möglichkeiten, über rechnergestützte Simulationen auch virtuelle Prototypen zu erproben, was die Abläufe erheblich verkürzen und beschleunigen kann. In Kombination mit Rapid Prototyping lassen sich daraus direkt konkrete dreidimensionale Modelle herstellen, die dann auch wieder konkret erfahren und geprüft werden können. Diese Designstudien dienen schließlich dazu, die subjektive Wirkung zu ermitteln und im Sinne des bereits genannten Human Centered Design zu überarbeiten. Beispielsweise ist es bei Automobilherstellern inzwischen üblich, ein Konzeptfahrzeug aufzubauen, um die Begeisterung der Kunden zu schüren und zu studieren. – Unter Usability Engineering versteht man eine nutzerorientierte Gestaltung von Innovationen für den Gebrauch. Dieser Begriff wird inzwischen meist für die Gestaltung von Computersoftware verwendet und wird ansonsten auch als User Centered Design bezeichnet. Für diesen Ansatz bestehen genormte Prozessmodelle, welche wiederum aufeinanderfolgende Phasen beinhalten.55 Grundsätzlich wird dabei zuerst ein Nutzerprofil erkundet und beschrieben. Aus diesem Profil werden in einem zweiten Schritt die Anforderungen und Merkmale der Innovation abgeleitet. Für
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2 Wie macht man Innovationen? diese Merkmale wird dann ein Entwurf angefertigt, der bereits mit Vertretern der erwarteten Nutzergruppe besprochen werden kann. In einem vierten Schritt dient schließlich wieder ein Prototyp oder ein Pilot dazu, das gefundene Design konkret zu erproben und zu überarbeiten.
Abb. 31:
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Das Design Thinking spiegelt eine Innovation am subjektiven Empfinden
Ein sogenannter Workshop in einer Innovationswerkstatt, einem Innovationslabor oder einer sogenannten Innovation Factory verbindet die Ansätze von Human Centered Design und Design Thinking. In entsprechend ausgestatteten Räumlichkeiten finden sich sowohl Plätze für zwischenmenschliche Interaktionen, anregende Gespräche, Präsentationen als auch Vorrichtungen für das Erstellen von Prototypen oder kurzfristigen Zugriff auf entsprechende fachliche Unterstützung und elektronisch verfügbare Informationen. Die Gestaltung solcher Werkstätten stellt selbst eine besondere Herausforderung an das Design und muss sich selbst ebenso an den menschlichen Bedürfnissen und Empfindungen orientieren. Die strikte Orientierung des Designs am Menschen bedeutet auch, dass es stets um subjektiv empfundene Werte geht, wie Schönheit, Anmut, Eleganz und Charme. Und diese ästhetischen Aspekte einer Sache stehen einer allgemein verbindlichen Objektivierung entgegen. Denn bisher herrscht Einigkeit darüber, dass man sich über Geschmack nicht einigen kann oder muss. Zwar scheint es so, als gäbe es immer wieder eine Form, die den Geschmack der meisten Menschen trifft. Aber bisher ist es nicht gelungen, die Entstehung solcher Moden theoretisch zu erfassen. Im Unterschied zu anderen Vorgehensweisen fehlt es daher im Design an einer übergeordneten Theorie und Methodik. Zwar sind die Begriffe Designtheorie oder Designmethoden durchaus gebräuchlich. Aber weder gibt es eine grundlegende Theorie dafür, was an einer Gestaltung prinzipiell richtig und wahr ist. Und erst recht gibt es somit auch keine verbindlichen Methoden dafür, wie man dorthin gelangt. Und solange die Neurowissenschaften noch ergründen müssen, wie sich ein menschliches Empfinden für Harmonie bildet, scheint es auch ausgeschlossen, diese Festlegungen allgemeingültig zu treffen.
2.2 Innovationsmarketing
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Umgekehrt lässt sich aber somit durchaus behaupten, dass diese Freiheit des Designs genau den Weg aufzeigt, um Barrieren überhaupt überwinden zu können. Ohne die Last eines theoretischen Überbaus findet eine umso intensivere Auseinandersetzung mit den praktischen Aspekten von menschlichen Handlungen statt. Und ohne die Einschränkung durch methodische Vorgaben lassen sich rein pragmatisch Ergebnisse erzielen, die das Marketing von Innovationen fördern. Lektion 15:
Der Innovationswert orientiert sich am Menschen!
Übung 15: Betrachten Sie eine aktuelle Innovation, die Sie persönlich gerade interessiert! Sie können dabei auch einen Artikel aus der aktuellen Mode wählen. Inwieweit entspricht das Angebot Ihrem persönlichen Geschmack? Erstellen Sie dazu eine Liste, bei der auf der einen Seite die Entsprechungen notiert sind und auf der anderen Seite Ihre persönlichen Entgegnungen zum Angebot! Was wollen Sie anders haben? Und wie wollen Sie dies gestalten? Wie wirkt sich dies auf die Innovation insgesamt aus? Und wie verändert sich dadurch Ihre Liste der Entsprechungen und Entgegnungen? Berücksichtigen Sie dann noch einige der folgenden Designfunktionen! Wie wichtig ist Ihnen die Marke bei dem Angebot und woran erkennen Sie dies? Wie funktioniert wohl das Geschäftsmodell des Anbieters, worin bestehen seine Arbeiten und Leistungen – und wodurch zeichnet er sich aus? Welche Aspekte des Angebots betreffen grundlegende menschliche Bedürfnisse, wie Ergonomie und Gesundheit? Welche Aspekte des Angebots betreffen grundlegende betriebliche Erfordernisse, wie Herstellbarkeit und Organisation? Welche Aspekte des Angebots betreffen grundlegende Anforderungen an den Gebrauch, wie Belastbarkeit, Verschleiß, Korrosion, Stabilität, Recycling, Umweltverträglichkeit etc.? Welche Aspekte des Angebots betreffen grundlegende Aufgaben im Austausch aller Beteiligten, wie Kommunikation und Interaktion?
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2.2.4
2 Wie macht man Innovationen?
Open Innovation
Zeit ist Geld. So lautet eine übliche Weisheit der Wirtschaft, welche Benjamin Franklin zugeschrieben wird.56 Und Barrieren für die Verwertung von Innovationen einzurichten oder auch zu überwinden kostet eben Zeit. Daraus lässt sich die durchaus begründete Ansicht ableiten, dass ein geschicktes Öffnen oder Umgehen der zuvor beschriebenen Barrieren einiges an Geld einbringen kann. Und mitunter wird behauptet, Innovationen würden sich ohne jede Barrieren viel besser verbreiten und letztlich dadurch auch mehr lohnen. Die Hauptursache für eine Innovation und deren Barrieren liegt in der Exklusivität. Und diese scheint ebenfalls durchaus erstrebenswert, um damit einen besonderen Innovationspreis zu rechtfertigen. Aber diese exklusiven Schutzrechte für eine Erfindung erhält man nur, wenn man zweifelsfrei auch eine Originalität belegen kann. Sobald aber Wissen zur Erfindung vorab öffentlich bekannt wird, lässt sich dieser Zweifel nicht mehr widerlegen. Daher werden im Austausch mit externen Teilnehmern an einem Innovationsprojekt für den Wissenstransfer meist vorab Vertraulichkeitserklärungen oder Geheimhaltungsvereinbarungen als NDA, für Non-Disclosure Agreement, abgeschlossen. Eine Innovation ist mithin eine ziemlich geschlossene Sache. Um dennoch externe Ideen, technisches Wissen oder Marketingkompetenzen in den Innovationsprozess einfließen zu lassen, war es schon immer die Aufgabe des Managements, im begrenzten Umfang öffentliche Untersuchungen zu Kundenwünschen, technischer Entwicklung sowie Marktforschung anzustellen. Dies entspricht grundsätzlich dem Ansatz des zuvor dargestellten Innovationsdesigns. Eine stärkere Einbindung von möglichst vielen verschiedenen Menschen und deren Ansichten hilft grundsätzlich, um die Barrieren beim Innovationsmarketing zu überwinden. Diese Öffnung des Innovationsprozesses wird bereits seit längerer Zeit diskutiert.57 Im Jahr 2003 verlieh Henry Chesbrough darüber hinaus dem Begriff Open Innovation eine neue Bedeutung.58 Eine Innovation sieht er weniger als einen Prozess, den man durch Projekte und Marketing gestalten muss, als eine Sache, mit der sich selbst handeln lässt. In diesem Sinne werden Ideen, Wissen und Erfahrungen zu Innovationen nicht nur geschaffen, sondern bereits als geistige Produkte gehandelt. Der Handel mit solchen immateriellen Gütern entspricht dann einer Dienstleistung, wodurch das Innovationsmanagement als eigenständige Leistung auch außerhalb von produzierenden Unternehmen stattfinden kann. Aus dem Innovationsmanager wird dabei ein Innovationsberater. Mit dem Begriff Open Innovation verbindet sich demzufolge insbesondere eine innovative Geschäftsidee für eine Beratungsleistung. Zwar kann diese Leistung auch direkt im Unternehmen von festangestellten Innovationsmanagern erbracht werden. Aber der besondere Vorteil einer externen Unternehmensberatung besteht in einer umfassenden Kenntnis und Vernetzung des gesamten Marktes und seiner Akteure. Auf diese Weise können weitreichende Erfahrungen vermittelt werden als Fallstudien oder Study Cases 59 oder als Erfolgsrezepte mit den Bezeichnungen Success Stories oder Best Practice.60 Allerdings besteht bei jeder Unternehmensberatung ein Risiko darin, dass die Arbeitsleistung von der Verantwortung entkoppelt wird. Denn das inhaltliche Wissen bleibt bei den Beratern und dient als Grundlage für weitere Geschäfte, während die Ergebnisse der Beratung weiterhin von den Managern in den Unternehmen zu verantworten sind. Als Dienstleistung kann sich eine Falschberatung letztlich nur auf den Prozess beziehen und nicht auf das angestrebte
2.2 Innovationsmarketing
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Ergebnis. In diesem Sinne steht Open Innovation hauptsächlich für die verschiedenen Prozesse, mit denen sich eine Innovationsberatung durchführen lässt.
Als Closed gilt zunächst ein Prozess, bei dem die exklusiven Merkmale und Interessen eines Unternehmens oder Auftraggebers festgestellt werden. Diejenigen Ideen, diejenigen technischen Kenntnisse sowie dasjenige Wissen über den Markt, welche als besonders originell und schützenswert erscheinen, werden klar ausgearbeitet und abgegrenzt. Hierin besteht bereits eine große Herausforderung, denn meist schlummert das Unternehmenswissen in den Köpfen der Mitarbeiter. Als Tacit Knowledge ist es zunächst verborgen und somit nicht handelbar. Daher bevorzugen die meisten Unternehmer eine Lösung, bei der eher das offenkundige Open Knowledge für Verhandlungen zur Verfügung gestellt wird. Allerdings liegt es in der Natur von Wissen, dass es kaum noch Wert besitzt, wenn es offenkundig ist. Bekanntlich ist Wissen eine Ressource, die sich vermehrt, wenn man sie teilt – und das von ganz allein. Demzufolge ist man gut beraten, auch Unternehmenswissen aufzuspüren, was überhaupt zum Handel taugt. – Das Knowledge Management oder Wissensmanagement kann das verborgene Wissen aufdecken. Dies wird als Externalisieren von implizitem Wissen bezeichnet. Beispielsweise kann ein Wissensaudit dazu dienen, die Wissensträger im Unternehmen zu identifizieren. Deren Wissensprofile können dann erstellt und in Wissenszirkeln abgestimmt werden. Durch einen Vergleich der jeweiligen Wissensinhalte wird es auf diese Weise vielleicht möglich, das besonders Wissenswerte an einem Unternehmen herauszufinden – sofern sich die Beteiligten entsprechend vertrauensvoll und einsatzbereit dem ganzen Prozess öffnen. – Das Knowledge Engineering oder die Wissensverarbeitung beinhaltet dann das Zusammenführen von verteiltem Wissen in elektronischen Datenbanken oder Dokumentenarchitekturen. Wie beim Prozess der Co-Creation im Innovationsdesign bereits angegeben, dienen dabei Informationsplattformen, wie Wikis, Blogs oder Foren, zum Austausch und Sammeln von Wissen. Für verborgenes Wissen in einem Unternehmen ist dafür allerdings ein Intranet anstatt des Internets ratsam. Durch Suchmaschinen, Data Mining und Crowd Sourcing wird es so vielleicht möglich, besondere Wissenswerte herauszufinden – sofern die Daten ausreichend aussagekräftig und die Verarbeitungssoftware entsprechend ausgeklügelt ist.
Als Inside-out gilt ein Prozess, bei dem eigenes Wissen nach außen gegeben wird. Nach vertraglicher Einigung über die Themen, den Umfang und den Wert des veräußerbaren Wissens werden Ideen bekannt gegeben, technische Lösungen präsentiert und/oder unternehmerische Absichten eröffnet. Auf diese Weise wird Wissen verwertet und bereits ein Innovationspreis erzielt. Es kann sich allerdings auch vorteilhaft erweisen, bestimmte Informationen bereits im Vorfeld allgemein zu veröffentlichen, um drohende Innovationsbarrieren zu beseitigen. – Eine öffentliche Ankündigung von Ideen und Absichten kann wertvoll für die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit sein. Die Kunden werden so frühzeitig informiert und begeistert. Andere Marktteilnehmer können vielleicht für eine Kooperation gewonnen werden. Beispielsweise sind Recycling und Umweltverträglichkeit typische Merkmale, die eine ganze Wirtschaftsbranche betreffen. Die vorzeitige Veröffentlichung von entsprechenden Unternehmensleistungen kommt zwar auch dem Wettbewerb zugute, lässt sich aber wettbewerbsübergreifend auch günstiger erreichen.
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2 Wie macht man Innovationen? –
Entsprechend kann die Ankündigung eines neuen Lieferstandards dafür sorgen, dass regulative Voraussetzungen geschaffen werden, die Unternehmenspartner sich rechtzeitig darauf einstellen können und der Wettbewerb sich diesem Standard anschließt. Beispielsweise sind elektronische Standards für Anschlüsse, Abmessungen und Übertragungsraten notwendig, um die Vielfalt an indifferenten oder sogar abweisenden Merkmalen von Kommunikationsgeräten einzuschränken. Wie zuvor beim Kano-Modell im Innovationsdesign beschrieben wurde, steigern diese kaum die Kundenzufriedenheit und sind somit für den Wettbewerbsvergleich relativ unerheblich. Durch eine Veröffentlichung dieser Merkmale lassen sich aber vielleicht bessere und günstigere Lösungen finden.
Als Outside-in gilt entsprechend der umgekehrte Prozess, bei dem fremdes Wissen erworben und integriert wird. Die zentrale Frage stellt sich, was dieses Wissen wert ist. Denn das Wissen wird erst nach der Einigung über die Höhe der Vergütung verfügbar, sonst ist es nichts mehr wert. Also muss man grundsätzlich die oft genannte „Katze im Sack“ kaufen, also auf gegenseitige Aufrichtigkeit vertrauen. Dies gilt eigentlich sogar, wenn das Wissen kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Denn dabei fallen immer noch die Ausgaben für eine Unternehmensberatung oder das interne Management an. Allerdings können fremde Kompetenzen auch genau den entscheidenden Beitrag leisten, der für eine erfolgreiche Vermarktung einer Innovation benötigt wird. – Fremde Ideen können einen Ausweg aus einer Sackgasse weisen und die technischen Kompetenzen anderer Unternehmen den eigenen Entwicklungsaufwand drastisch mindern. Beispielsweise haben viele Firmen für Konsumgüter ein Kundenportal eingerichtet, auf dem Ideen frühzeitig bekanntgegeben und diskutiert werden können.61 Und beispielsweise ist ein Wissenserwerb notwendig, wenn verschiedene Technologien verschmelzen. So haben bei der Einführung der digitalen Fotografie die Kamerahersteller wie Nikon oder Fuji elektronische Kenntnisse erwerben müssen, während Elektronikhersteller wie Sony entsprechend Kenntnisse für Fotokameras erwerben mussten. Bei der Herstellung von Kohlefaservliesen für neue Batterien und Brennstoffzellen hat ein Hersteller von Kohlefasern, wie SGL Carbon, zusätzliches Wissen in der Vliesherstellung erworben, und ein Hersteller von Vliesen, wie Freudenberg, sich zusätzliches Wissen über Kohlefasern angeeignet. – Ein bestehender Marktzugang kann den eigenen Absatz erst ermöglichen oder dabei helfen, in kurzer Zeit eine hohe Präsenz am Markt zu gewinnen. Dieses Joint Venture ist inzwischen ein ganz übliches Geschäftsmodell, bei dem Firmen einen Teil ihrer Kompetenzen in eine gemeinsame Unternehmung mit einem anderen Unternehmen auslagern, um einen neuen Markt zu erschließen. Beispielsweise benötigen Firmen für den Marktzugang in China oder Russland oft einen inländischen Partner, um sich mit den Besonderheiten der Landeskultur und der gegebenen Geschäftspraktiken vertraut zu machen.
Als Coupled gilt schließlich ein Prozess, bei dem Wissen im Austausch zur Verfügung gestellt wird. Dies ist offenbar besonders vorteilhaft, wenn gemeinsame Interessen bestehen, die aber ein unterschiedliches Ziel verfolgen. Ideen können dann ausgetauscht werden, technische Lösungen miteinander verglichen und gemeinsame Interessen am Markt gesucht werden. Im günstigen Fall erreicht somit jeder Partner seine eigenen Innovationen zu besseren Bedingungen.
2.2 Innovationsmarketing –
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Das Joint Development bezeichnet eine firmenübergreifende Entwicklung. Industrielle Partner vereinbaren dabei, ihre vorwettbewerblichen oder außerwettbewerblichen Erfahrungen, Entdeckungen und Vorhaben miteinander zu teilen. Insbesondere Unternehmen der Hochtechnologie von Autos und Elektronik nutzen gemeinsame Entwicklungsgesellschaften, um Grundlagentechnologien voranzutreiben für die industrielle Nutzung. Beispielsweise bietet die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung FhG mit mehr als 20.000 Mitarbeitern Entwicklungsdienstleistungen an 60 Instituten mit unterschiedlichen Fachrichtungen an. Mit Hilfe öffentlich unterstützter Industrieprojekte werden marktfähige Entwicklungen betrieben, um die Innovationsfähigkeit von gewerblichen Auftraggebern am Standort Deutschland zu unterstützen. Ein Lieferkettenmanagement SCM, für Supply Chain Management, wird notwendig bei Gütern, die sich aus vielen verschiedenen Komponenten unterschiedlicher Hersteller zusammensetzen. Bei hochintegrierten Produkten, wie Flugzeugen, Satelliten, Fahrzeugen oder Computern bestehen oft sogar weitere Vorlieferanten in verschiedenen Ebenen, die als Tier 1 oder Tier 2 gestaffelt werden. So beträgt in der Automobilindustrie der eigene Fertigungsanteil mitunter weniger als 20 Prozent, was eine intensive Abstimmung mit den Lieferanten erforderlich macht, welche sich ebenfalls mit den anderen Automobilherstellern abstimmen. Offenbar funktioniert dies, ohne dass öffentlich über den Missbrauch von ausgetauschtem Wissen gestritten werden muss. Und obwohl inzwischen die Lieferanten die meisten Innovationen entwickeln, werden diese von den Erstausrüstern OEM (Original Equipment Manufacturer) vermarktet.
inside-out explizites Wissen
Tacit Knowledge implizites Wissen internes Wissen
coupled Open Knowledge allgemeines Wissen
externes Wissen
outside-in Abb. 32:
Wechselwirkung von zwei Wissensbereichen des Innovationsprozesses Closed: Schlummerndes Wissen wird ermittelt. – Inside-out: Veräußerbares Wissen wird exportiert. – Outside-in: Benötigtes Wissen wird importiert. – Coupled: Wissen wird gegenseitig ausgetauscht.
Offenheit und Neugier sind seit jeher ein Merkmal für jede Innovation. Offenheit wird benötigt, um Innovationsbarrieren zu überwinden. Freies Denken ist erforderlich, um intelligente
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2 Wie macht man Innovationen?
Lösungen zu finden. Allerdings wird bei einem Innovationsprojekt in der Regel mehr Wissen erzeugt oder gefunden, als streng genommen für den Exklusivitätsanspruch notwendig ist. Andererseits wird in einem Innovationsprojekt mitunter mehr Wissen benötigt, als sinnvoll finanzierbar ist. Der offene Handel mit Wissen kann also dabei helfen, einen Ausgleich zu schaffen und dadurch die Barrieren für eine Innovation maßgeblich zu senken. Lektion 16:
Offenheit erleichtert Innovationen unter Minderung der Exklusivität!
Übung 16: Untersuchen Sie das Innovationspotenzial Ihres eigenen Wissens! Welche Ideen, technischen Erfahrungen oder Marktkenntnisse haben Sie? Markieren Sie diejenigen, die Sie für besonders originell halten! Welche davon sind Ihnen besonders wichtig? Welche davon sind wohl für andere Menschen besonders wichtig? Was ist Ihnen dieses Wissen wert? Welchen Wert hat dieses Wissen wohl für die anderen Menschen? Von wem würden Sie gern mehr wissen über dessen Ideen, technische Erfahrungen oder Marktkenntnisse? Was ist Ihnen dieses Wissen wert? Wie treten Sie an jemanden heran, von dem Sie etwas erfahren wollen? Der persönliche Wissensaustausch erfolgt meist kollegial, d.h. im abwechselnden, gekoppelten und vertrauensvollen Geben und Nehmen. Gerade die betriebliche oder studentische Kollegialität bietet sich an, um die Vorteile von Offenheit sowie ihre Grenzen zu üben. Welche gemeinsamen Interessen verfolgen Sie mit Ihren Kollegen? Wie viel sind Sie bereit zu geben, bevor Sie unzufrieden werden? Wann und wie setzen Sie Grenzen?
2.3 Scientific Innovation
2.3
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Scientific Innovation
Der hier eingeführte Begriff Scientific Innovation soll dabei helfen, das Innovationsmanagement als wissenschaftliche Disziplin zu verankern. Denn das wissenschaftliche Arbeiten ist auch ein Hilfsmittel, um Innovationen zu machen. Diese grundsätzliche Anwendbarkeit der Wissenschaftstheorie betrifft nicht nur eine neue Entdeckungen der Wissenschaft – als Science Innovation – oder die eingangs genannten technologische Innovation aufgrund eines wissenschaftlichen Fortschritts, sondern insbesondere die Anwendung von wissenschaftlichen Theorien und Methoden auf die Prozesse des Innovationsmanagements. In einer einfachen Umschreibung handelt es sich bei der Wissenschaft um verstandene Wirklichkeit. Wie eingangs beim Innovationsbegriff ergeben sich daraus bereits die beiden Erfolgsfaktoren für wissenschaftliches Arbeiten: eine Kenntnis der Wirklichkeit und ein Verständnis dafür. Nur Kenntnis allein nutzt nichts, wenn sie unverstanden bleibt. Und lediglich ein Verständnis nutzt auch nichts, wenn es nicht in der Wirklichkeit verankert ist. Dieses Wechselspiel der beiden Aspekten des Wissens ist uns inzwischen derart vertraut, dass wir beim Verwenden des Wortes Kenntnis auch meist ein Verständnis einschließen. Und bei der Angabe eines Verständnisses nehmen wir an, dass sich dieses auf ein Kennen der Wirklichkeit stützt. Erst bei genauer Untersuchung, beispielsweise vor Gericht oder bei einem neuen wissenschaftlichen Ergebnis wird nachgefragt, ob es sich bei einer Aussage um eine tatsächliche Kenntnis oder ein daraus abgeleitetes allgemeines Verständnis zu einem Thema handelt. Die Hauptaufgaben der Wissenschaft liegen in der Erzeugung, der Verbreitung und der Nutzung von Wissen. Auch darin ähnelt sie offenbar dem Innovationsmanagement, das ja mit der Erzeugung von Ideen, der Verbreitung von Inventionen und dem Erreichen eines ökonomischen Nutzens befasst ist. Genau wie ein Wissenschaftler sucht auch ein Innovationsmanager ständig nach neuen Dingen. Der Unterschied zwischen beiden besteht im Wesentlichen darin, dass ein Wissenschaftler etwas Neues über die Welt herausfinden will, während ein Innovationsmanager etwas Neues in die Welt hineinsetzen will. Somit handelt es sich bei Wissenschaft und Innovation offenbar um die sogenannten „zwei Seiten einer Medaille“. Wie bereits in Lektion 8 ausführlich erläutert, geht es insgesamt um die Dualismen von Wirkung und Wirksamkeit, von Effekt und Effizienz, von Kenntnis und Erkenntnis, von Anschauung und Begriff, von Inhalt und Gedanke, von Fakt und Norm, von Existenz und Essenz. Lange bevor der moderne Innovationsbegriff geprägt wurde, gab es bereits wissenschaftliche Neuerungen. Und die entsprechenden Theorien zum wissenschaftlichen Arbeiten verfügen über eine Tradition, die zurückreicht auf die griechische Antike vor mehr als 2500 Jahren. Diese ersten Einteilungen – die sogenannte Klassik der Wissenschaften – lassen sich entsprechend auch für das moderne Innovationsmanagement heranziehen. Ein Beachten der althergebrachten wissenschaftlichen Methoden und Theorien stellt insofern eine weitere Unterstützung für das Innovationsmanagement dar.62 Die Ursprünge der Wissenschaft reichen sogar zurück in die graue Vorgeschichte der Menschheit, als es noch keine Theorien und Regeln gab. In den natürlichen Erscheinungen – den Phänomenen – wurden bereits frühzeitig merkwürdige Gesetzmäßigkeiten erkannt und in Erzählungen – den Mythen – beschrieben und verbreitet. In dieser mythischen Deutung der irdischen Phänomene wurde zunächst ein aktives Handeln überirdischer Wesen angenommen. In der griechischen Mythologie ist Hermes der Bote der Götter, der den Menschen die jeweils neuen Botschaften der Götterwelt überbringt. Daher wird in der Wissenschaft
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2 Wie macht man Innovationen?
unter Hermeneutik ein grundlegendes Regelwerk mit Gesetzmäßigkeiten verstanden, welches als Ausgangspunkt für viele Auslegungen und Deutungen dient. Jede wissenschaftliche Disziplin verfügt über solch hermeneutische Ansätze, beispielsweise in der Mechanik die Gesetze von Newton oder in der Wirtschaft der in Lektion 6 beschriebene Taylorismus. Mit dem Aufkommen der Philosophie in der Antike wurde es dann auch vorstellbar, dass diese Regelmäßigkeiten auf verborgenen natürlichen Gesetzen beruhen könnten. Demnach besteht das Rätsel einer Naturerscheinung nur darin, dass uns die dahinterliegende Gesetzmäßigkeit unbekannt ist, und nicht auf der persönlichen Willkür von Göttern. Als Beginn dieser Denkweise wird meist der Ausruf Heureka (Ich hab es gefunden!) des Archimedes von Syrakus (287–212 v.Chr.) angeführt, als er das Gesetz des Auftriebs in der Badewanne entdeckt haben soll. Daher wird in der Wissenschaft unter Heuristik das Auffinden und Aufstellen von einfachen Gesetzmäßigkeiten durch Beobachtung verstanden. Und wieder enthält jede wissenschaftliche Disziplin auch Heuristiken, wie in der Mechanik die Lehren für Reibung, Schwerpunkt und Drehmoment – oder in der Wirtschaft die zuvor beschriebenen Bedeutungen von Kapitalwert, Annuität und Zinsfuß. Hermeneutik und Heuristik bilden daher die beiden Aspekte einer jeden wissenschaftlichen Betrachtung. Und es herrscht eine andauernde Diskussion darüber, welche von beiden wohl die ursächliche Grundlage für die Wissenschaft darstellt: – Ist die Wissenschaft eine eigene heuristische Weltanschauung? Das entspräche einer Ideologie von materiellen Tatsachen, die völlig ohne überirdische Einflüsse besteht. Dies wird in der erkenntnistheoretischen Diskussion mitunter auch als Empirismus oder Materialismus bezeichnet. – Oder ergibt sich die Wissenschaft erst durch einen hermeneutischen Rückblick? Das entspräche dann einer idealistischen Theorie der reinen Gedanken, welche letztlich nur im Rahmen eines religiösen Grundverständnisses existiert. Dies wird erkenntnistheoretisch wiederum auch als Rationalismus oder Idealismus bezeichnet. Junge Wissenschaftler neigen meist dazu, die übersinnlichen Aspekte der Wissenschaft abzulehnen. So wird erzählt, ein Student habe Albert Einstein bei einer Vorlesung vorgeworfen, die Relativitätstheorie sei doch bloß ausgedacht und hätte mit der erfahrbaren Wirklichkeit nichts zu tun. Und er glaube nur an das, was er sehen, hören, spüren oder sonst irgendwie sinnlich erfassen könne. Einstein soll geantwortet haben, dann solle er doch bitte versuchen, genau diesen Glauben für alle Anwesenden sichtbar, hörbar, spürbar oder sonst irgendwie sinnlich erfassbar zu machen. Obwohl es sich hierbei um eine Anekdote handelt – deren Wirklichkeit somit zweifelhaft ist, so veranschaulicht diese doch recht deutlich, dass übersinnliche Dinge in der Wissenschaft grundsätzlich nicht auszuschließen sind. Jedes Wissen enthält auch hermeneutische Theorien, die nur glaubhaft – und nicht mehr sinnlich erfahrbar – sind. Als wissenschaftliche Richtlinie – der Kanonik – trafen daher bereits Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951) eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Wahrheit:
Einerseits lassen sich Tatsachenwahrheiten aus den Phänomenen erkennen und diskutieren. Eine solche Wahrheit ist nur dann wahr, wenn sie den Tatsachen entspricht. So gilt wissenschaftlich für Fakten erst der Nachweis einer Wirkung als wahr.
2.3 Scientific Innovation –
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Die Tatsachenwahrheiten entsprechen bei Innovationen dem Erfolgsfaktor der Invention. Auch eine Erfindung ist nur dann wahr, wenn eine wahrnehmbare Wirkung vorliegt. Beispielsweise ist ein neues Medikament nur dann zulässig, wenn es durch eine entsprechende Wirkung bestätigt wird.
Andererseits lassen sich Vernunftwahrheiten aus den bestehenden Denkweisen deuten und diskutieren. Eine solche Wahrheit ist bereits dann wahr, wenn sie den Tatsachen nicht widerspricht. So gilt wissenschaftlich bereits die Erklärung einer Wirksamkeit als wahr, wenn sie nicht im Widerspruch zu den Tatsachen steht. – Die Vernunftwahrheiten entsprechen bei Innovationen dem Erfolgsfaktor der Diffusion. Auch die Verbreitung einer Erfindung ist bereits dann wahr, wenn sie eine gewisse Wirksamkeit herbeiführt. Beispielsweise ist die schlanke Produktionsweise des Lean Thinking bereits dann erfolgreich, wenn mit ihr wirtschaftliche Vorteile erreicht werden. Es ist dann nicht zwingend der Nachweis erforderlich, durch welche tatsächlichen Effekte ein zusätzlicher Nutzen entstanden ist. Die entsprechenden Untersuchungen von Womack und Jones weisen sogar darauf hin, dass in komplexen Produktionssystemen der Nachweis tatsächlicher Ursachen so teuer sein kann, dass er den Nutzen der Innovation übersteigt. Das Beharren auf Tatsachenwahrheit kann offenbar Innovationen sogar verhindern.63 Anscheinend eröffnen die Vernunftwahrheiten somit einen weitaus größeren Freiraum für Deutungen. Und für eine Innovation sollte es dementsprechend meist einfacher zu sein, eine neue Vernunft zu finden als eine neue Tatsache. – Bei einer Untersuchung von etwa 200.000 Erfindungsmeldungen zwischen 1946 und 1971 ordnete Genrich Altschuller (1926–1998) nur etwa 1 Prozent davon den neu entdeckten wissenschaftlichen Tatsachen zu und dagegen etwa ein Drittel allein neuen Vernunftgründen. Die restlichen zwei Drittel bestanden aus einer erfinderischen Kombination von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten.64 Allerdings verführt die Vernunft auch zu rein subjektiven Wahrheiten. Immanuel Kant (1724–1804) bezeichnete es als ein ontologisches – und daher allgemeingültiges und nichtssagendes – Argument, wenn mit der Vernunft dann eine nur persönlich erfahrbare Wahrheit ausgedrückt wird. Ob man also etwas gut oder schlecht findet, ist als subjektive Wahrheit zwar nicht widerlegbar, kann aber auch nicht als wissenschaftlich objektiv vermittelt werden. Und solche subjektiven Wahrheiten dürfen wohl kaum mit einer allgemeinen Anerkennung und Verbreitung bei einer Innovation rechnen. – Entsprechend handelt es sich bei der Vernunft nicht um einen Freibrief dafür, einen Effekt einfach mit dem Einwirken einer höheren Kraft oder Energie zu erklären, wie es gern und oft in esoterischen Kreisen getan wird. Denn die Phänomene Kraft und Energie sind durchaus an physische Tatsachen gebunden, die sich in der Physik auch durchaus faktisch feststellen lassen. Wenn also die tatsächliche Einwirkung nicht bekannt ist, dann muss sich eine wissenschaftliche Beschreibung auch allein auf die vernünftigen Überlegungen und deren feststellbare Auswirkung stützen. Eine Angabe von scheinbaren Fakten, die aber als solche unbestimmt bleiben, gilt jedenfalls nicht als wissenschaftlicher Beleg. Diese Objektivität ist ein zusätzlicher Anspruch der modernen Wissenschaft, die erst nach dem Mittelalter mit der europäischen Aufklärung des wissenschaftlichen Denkens beansprucht wurde. Während sich die mittelalterliche Wissenschaft noch stark an der hermeneuti-
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2 Wie macht man Innovationen?
schen Auslegung von biblischen und traditionellen Darstellungen orientierte, erhebt die moderne Wissenschaft einen Anspruch an die Objektivität durch heuristische Tatsachen. Somit bestehen auch für die Wissenschaft zwei Erfolgsfaktoren und eine neue Theorie ohne objektive Konsequenzen gilt als unwissenschaftlich. – Arthur Schopenhauer (1788–1860) bezeichnete in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung diesen Aspekt der Wissenschaft als Objektivation.65 Demnach entwickelt ein Mensch durch die Tatsachen oder durch die Vernunft subjektive Vorstellungen davon, wie etwas sein könnte. Und der menschliche Wille versucht, diese Vorstellungen in der Wissenschaft auch objektiv wiederzufinden. Erst über diese Ausrichtung auf Objekte wird eine persönliche Vorstellung mit den Vorstellungen von anderen Personen vereinbar und erfüllt dadurch die Ansprüche einer allgemein verbindlichen Wissenschaft. – Entsprechend erfordert eine Innovation – außer einer vernünftigen Diffusion – auch immer eine objektive – und somit tatsächliche – Invention.
metaphysische hermeneutische
Deduktion
Wissenschaft
physische Abb. 33:
heuristische
Induktion
Die Objektivierung der Wissenschaft durch Vernunft und Tatsachen
Diese Objektivation oder Objektivierung der wissenschaftlichen Wahrheit erfolgt durch zwei entsprechende wissenschaftliche Arbeitsweisen, welche zunächst in der Logik von Aristoteles (384–322 v.Chr.) auftauchen und später von Francis Bacon (1561–1626) und René Descartes (1596–1650) wiederentdeckt wurden.
Einerseits können Erkenntnisse durch eine Erkundung und Entdeckung von objektiv physischen Tatsachen gefunden und zu einer Theorie zusammengefasst werden. Diese Vorgehensweise heißt dann auch epagogisch oder induktiv, was griechisch oder lateinisch für herbeiführend steht. Dabei erfolgt der Schluss vom Einzelnen auf das Allgemeine.
2.3 Scientific Innovation –
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Entsprechend wird bei einer Innovation zunächst ein einzelner Prototyp oder ein Pilotbetrieb realisiert, worauf sich dann immer mehr Anwendungen für eine Diffusion erschließen. Beispielsweise wird ein neuer Werkstoff zunächst auf seine mechanischen Eigenschaften geprüft, bevor er in immer mehr Konstruktionen eingebaut werden kann. Eine Diffusion von Innovationen ist demnach eher induktiv. Beispielsweise stützt sich etwas wissenschaftlich Einleuchtendes – das Argument – auf die Nennung von Tatsachen. Daher sind in diesem Buch nicht nur die bestehenden Theorien dargestellt, sondern es werden auch die entsprechenden Fakten anhand von Beispielen und Verweisen angegeben. Dies mag für den eiligen Leser manchmal vielleicht etwas überflüssig oder irreführend erscheinen, ist für den kritischen Leser aber unbedingt notwendig.
Andererseits können Erkenntnisse durch eine Ableitung aus vernünftigen Theorien gefunden werden. Dabei ist die Vernunft nicht auf die natürlichen Gegebenheiten – auf das Physische – beschränkt, sondern schafft ganz eigene Begrifflichkeiten hinter der Natur – im Metaphysischen. Diese Vorgehensweise heißt dann auch apodiktisch oder deduktiv, was griechisch oder lateinisch für ableitend steht. Dabei erfolgt ein Schluss vom Allgemeinen auf das Einzelne. Diese Metaphysik wird umgangssprachlich oft mit Vorstellungen in Verbindung gebracht, welche als okkult (verborgen), mystisch (geheim), magisch (wundersam) oder esoterisch (sonderbar) gelten. Aber die wissenschaftliche Metaphysik unterscheidet sich von diesen anderen – übersinnlichen – Vorstellungen dadurch, dass sie sich letztlich allein auf eine Erklärung von objektiven Tatsachen richtet. Eine metaphysische Untersuchung ist wissenschaftlich objektiv, solange sie sich darauf beschränkt, nur solche Begebenheiten zu erklären, die sich auch physisch feststellen lassen. – Entsprechend wird für eine Innovation eine Idee zunächst nur grob umrissen, welche dann eine immer genauere tatsächliche Ausführung benötigt. Beispielsweise besteht ein neuer Vertriebsweg zunächst nur aus den allgemein üblichen Vorstellungen für Distribution und Handel, bevor er durch immer weitere Maßnahmen beim Transport oder beim Marketing konkretisiert wird. Die Invention ist in diesem Sinne eher deduktiv. Als Merkmal für die einzelnen Beispielen zu einer Idee ist in diesem Buch jeweils ein Gedankenstrich (–) voran gestellt. – Beispielsweise kann ein wissenschaftlich einleuchtendes Argument, auch von vernünftigen Überlegungen ausgehen. Solche besonderen Aussagen sind in diesem Buch im Fließtext erklärt oder mit einem vorangestellten Anhaltspunkt () markiert. Und es scheint dem Autor in diesem Buch durchaus vernünftig, zunächst eine Wissenschaftlichkeit für Innovationsmanagement zu fordern, und anschließend dann die konkreten Vorteile aufzuzeigen. Dies mag für den pragmatischen Leser vielleicht etwas überflüssig und theoretisch erscheinen, ist aber für den rationalen Leser unerlässlich. Für die wissenschaftlichen Tatsachen gilt dann ein Erhaltungsprinzip. Dies besagt, dass die tatsächlichen Eigenschaften in einer wissenschaftlichen Betrachtung stets erhalten bleiben müssen – nichts kann ins Nichts verschwinden, und nichts kann aus dem Nichts entstehen. Die Tatsachen der Welt existieren unabhängig von den menschlichen Vorstellungen und bleiben stets erhalten. Für die natürlichen Eigenschaften – beispielsweise Masse, Volumen, Kraft und Energie – ist eine Veränderung also stets eine Nullsumme. Und immer wenn man eine
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2 Wie macht man Innovationen?
Veränderung beschreiben will, so stellt man wissenschaftlich die Ausgangsgrößen den Ergebnisgrößen gegenüber. Auf diese Weise lässt sich überhaupt erst eine Gleichung formulieren und ein messbares Ergebnis der Veränderungen bestimmen. Dem Erhaltungsprinzip entspricht umgekehrt auch ein Zerlegungsprinzip in der Wissenschaft. Denn eine wissenschaftliche Zerlegung – oder Analyse – erzeugt einzeln prüfbare Wissensstände, welche bei einer Zusammensetzung – oder Synthese – insgesamt erhalten bleiben. Diese zwei Grundprozesse im wissenschaftlichen Vorgehen lassen sich in den verschiedenen Aspekten der Wissenschaft immer wieder finden: – Beispielsweise werden physikalische Körper mechanisch entweder zerkleinert oder miteinander verbunden. – Die mechanischen Kräfte auf einen Körper werden in verschiedene Komponenten zerlegt und zu einer Resultierenden wieder zusammengesetzt. – Die Verteilung von Dingen wird verfahrenstechnisch entweder durch eine Sortierung getrennt oder durch eine Mischung wieder vergleichmäßigt. – In der Chemie bestehen die Stoffe aus atomaren Elementen, welche sich durch molekulare Bindungen wieder zusammensetzen. – In der Nuklearphysik werden Atomkerne entweder durch eine Fission gespalten oder durch eine Fusion verschmolzen. – In der ökonomischen Bilanzierung wird Kapital in einzelne Ausgaben aufgeteilt und der Summe der Einnahmen gegenüber gestellt. – In der Mathematik werden Funktionen entweder lokal differenziert oder über einen ganzen Bereich integriert. – Die Wissenschaft selbst scheint diesen Prinzipen zu unterliegen, wenn man die Analyse als Zerlegung und die Synthese als Zusammenführen auffasst. Auch für das Management von Innovationsprojekten wurde von diesem Zerlegungs- und Erhaltungsprinzip bereits Gebrauch gemacht: – Projekte werden in einzelne Arbeitspakete zerlegt und zu einem gesamten Strukturplan wieder zusammengesetzt. – Der Erfolg von Innovationen wird auf einzelne Faktoren zurückgeführt, die durch ein übergreifendes Management wieder zusammengeführt werden. Für die wissenschaftliche Vernunft gilt dagegen offenbar eine Art Wachstumsprinzip. Dies besagt, dass die vernünftigen Erklärungen scheinbar beliebig vermehrt werden können. Solange kein Widerspruch zu den Tatsachen entsteht, sind die Gedanken demnach frei. Eine verwirrende Eigenschaft von den metaphysischen Begriffen der Wissenschaft ist, dass sie unglaublich wandelbar sind. Weil diese geisteswissenschaftlichen Vorstellungen somit nicht „dingfest“ an die wirklichen Sachen gebunden sind, können sie durch immer neue Begriffe beschrieben werden. Für geistige Vorstellungen – beispielsweise Erfahrungen, Theorien, Spekulationen und Fantasien – gibt es eine ständige Vermehrung. Und immer wenn man einen Gedanken beschreiben will, sucht man nach neuen Begriffen, um diesen zu erfassen. Auf diese Weise wird es anscheinend überhaupt erst möglich, etwas Neues zu erzeugen, das den Rahmen einer bloßen Umverteilung überschreitet. Dem Wachstumsprinzip entspricht umgekehrt wiederum eine Art Zerstreuungsprinzip. Denn Gedanken unterliegen dadurch einem gewissen Zwang, ständig neu mit Begriffen gefasst,
2.3 Scientific Innovation
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gedeutet, erklärt und erläutert zu werden. Sobald sie gegenstandslos werden, können wissenschaftliche Theorien auch wieder ins Nichts verschwinden, wie das Lichtmedium Äther oder die Wärmeflüssigkeit Phlogiston, die früher als Erklärungen für die Phänomene Licht und Wärme dienten, aber heute nicht mehr gelten. Und einige innovative Vorstellungen, beispielsweise Zeitreisen mit Tachyonen66 oder Teleportation mit verschränkten Quantenzuständen67, fristen ein Schattendasein, weil sie nur in kleinen Fachkreisen diskutiert werden. Ein bloßer Gedanke, über den lange Zeit gar nicht gesprochen wird, verschwindet sogar gänzlich aus der Welt und wird vielleicht erst nach Jahrhunderten nur zufällig wieder entdeckt. Offenbar gibt es auch für die Vernunftwahrheiten zwei Grundprozesse in der Wissenschaft: – Beispielsweise beschreibt die Evolutionslehre die Entwicklung von ständig neuen Lebensformen durch Veränderung oder Mutation, sowie durch Auswahl oder Selektion. Allerdings kennt man in der biologischen Entwicklung auch die Extinktion (Auslöschung) durch das Verschwinden von ganzen Lebensformen, wie den Dinosauriern. Anscheinend hat erst diese Revolution das Entstehen einer neuen Artenvielfalt der Säugetiere ermöglicht, die schließlich zum Menschen geführt hat. – Unter Entropie versteht man das ständige Entstehen von Wärme, wenn Energie in verschiedene Formen umgewandelt wird, beispielsweise aufgrund von Bewegung, von Druckausgleich, von Verbrennung oder von elektrischem Strom. Immer wird ein Teil der Energie dissipiert (verschüttet). Es handelt sich also um ein positives Wachstum für die Wärme und um ein negatives Wachstum für die nutzbare Energie, welche demnach bei jeder Umwandlung verbraucht wird. Und weil die Wärme in einem geschlossenen System nicht wieder in die anderen Energieformen zurückgewandelt werden kann, entsteht auf Dauer eine allgemeine Wärmegleichheit. Das Universum würde auf Dauer in einer Art „Wärmetod“ zum Stillstand kommen. Allerdings kennt man inzwischen auch sogenannte „Schwarze Löcher“, die alle Energieformen verschlingen und somit aus reiner Entropie bestehen. Stephen Hawking untersuchte den gewissen Widerspruch für eine derart konzentrierte Zerstreuung und entwickelte eine Theorie, wonach Schwarze Löcher selbst wiederum Energie abstrahlen müssen und sogar regelrecht explodieren können.68 Diese gedankliche Akrobatik stellt einen Höhepunkt der modernen Naturwissenschaft dar: Schwarze Löcher wachsen, indem sie zerstreute Energie sammeln, und diese zerstreuen sie dann wieder im Raum, wodurch wieder nutzbare Energie entsteht. – Der Wissenschaftstheoretiker Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) erkannte solche Zyklen auch in der Wissenschaftsentwicklung.69 In der normalen Phase wird Wissen mithilfe von anerkannten Lehren – den Paradigmen – erzeugt. Mit der Zeit wachsen aber zu einer bestimmten Lehre die neu entdeckten Ausnahmen, welche sich nicht mehr mit den zuvor bekannten Paradigmen erklären lassen. In einer revolutionären Phase werden daher die Paradigmen geändert und das bisherige Wissen muss auf neue Art erklärt werden. Diese neuen Erklärungen sind inkommensurabel (unvereinbar) mit den alten Lehren, die somit nur noch historische Bedeutung haben. – Beispielsweise ersetzte das Newton‘sche Gravitationsgesetz von 1686 die Kepler‘schen Gesetze der Planetenbewegung von 1609. Und die Darwin‘sche Evolutionstheorie von 1859 ersetzte die Lamarck‘sche Adaptationstheorie von 1800. Auch daran wird deutlich, dass das Wachstumsprinzip einem Zerstreuungsprinzip entspricht, wenn sich die Denkrichtung ändert. Denn inzwischen führt man die Planetenbewegung auf eine Raumkrümmung nach der allgemeinen Relativitätstheorie zu-
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2 Wie macht man Innovationen?
rück. Und in der Biologie wurden schaltbare Gene entdeckt, die eine Anpassung von Organismen zu Lebzeiten oder innerhalb einer Generation ermöglichen. Auch für Innovationsprojekte wurden bereits solche zyklischen Prozesse beschrieben. Wegen der hohen Wandlungsfähigkeit sind neue metaphysische Begriffe ein hervorragendes Vehikel, um überhaupt Ideen zu erzeugen und Innovationen zu schaffen. – Ideen lassen sich nahezu beliebig vermehren, werden aber für eine Invention wieder auf einzelne realisierbare Aspekte fokussiert, wobei sich die Masse der unausgereiften Ideen meist von ganz allein verflüchtigt. – Technologische Innovationen können sogar einen wahren Urknall oder Boom erzeugen, der auch als Blase auf einem entsprechend überhitzten Markt auftritt. Doch wenn der Markt entsprechend abkühlt – oder die sogenannte Blase platzt – verschwindet der erzeugt Wohlstand genauso gegenstandslos, wie er zunächst entstanden ist. Während die Veränderungen bei Tatsachenwahrheiten also durch Gleichungen beschrieben werden, unterliegen die Veränderungen von Vernunftwahrheiten offenbar einem Zyklus. „Allein beständig ist der Wandel!“, so lautet diesbezüglich eine Erkenntnis des antiken Philosophen Heraklit (550–480 v.Chr.). Wie eingangs bereits dargestellt, gehörten die Philosophen zur ersten Berufsgruppe, der ein gewisses Recht eingeräumt wurde, die Welt anders zu beschreiben, als sie göttlich geschaffen war. Das Innovationsmanagement benötigt in diesem Sinne auch eine gewisse Dichtkunst. Und die Philosophen sind in diesem Sinne die ursprünglichen Innovationsmanager. Lektion 17:
Das Innovationsmanagement orientiert sich an wissenschaftlich objektivierten Vernunftwahrheiten!
Übung 17: Betrachten Sie ein frei gewähltes Innovationsthema – vielleicht aus den vorhergehenden Übungen oder etwas neu Ausgedachtes! Stellen Sie mindestens 10 Argumente dafür zusammen und unterscheiden Sie dann jeweils zwischen Tatsachen- und Vernunftwahrheiten! Versuchen Sie danach, aus den gefundenen Tatsachen mindestens eine neue Vernunftwahrheit zu erschließen! Stellen Sie fest, welche Dinge bei diesen Tatsachen erhalten bleiben müssen! Versuchen Sie danach umgekehrt, aus der Vernunft mindestens eine neue Tatsache zu objektivieren! Denken Sie nach, was sonst noch daraus erwachsen kann!
2.3 Scientific Innovation
2.3.1
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Elenktik: Der Ursprung von Innovationen
Jeder wissenschaftliche Fortschritt beginnt mit der Erkenntnis von Unwissen. Erst wenn man erkennt, dass man etwas nicht weiß, kann man sich daranmachen, es wissenschaftlich zu ergründen. Und solange sich die bestehenden Theorien im Einklang mit den Fakten befinden, ist auch kein echter Wissenszuwachs zu erwarten. Neues Wissen entsteht demnach entweder durch eine Entdeckung von neuen Fakten oder durch die Entwicklung von neuen Theorien. Dieses Prinzip gilt offenbar auch für Innovationen. Damit etwas neu ist, muss es bisher zumindest unbekannt sein. Erst wenn man erkennt, was es noch geben könnte, kann man sich daranmachen, es als Innovation zu verwirklichen. Dabei kann es sich entweder um die Invention von faktischen Dingen handeln. Oder es kann sich um die Diffusion von theoretischen Vorstellungen handeln. Und jeder Fortschritt ist infolgedessen immer mit einem gewissen Risiko verbunden zu scheitern. Entweder erweist sich die Suche nach Tatsachen als vergeblich. Oder eine vernünftige Erklärung lässt sich nicht verbreiten. Denn gewiss sind nur diejenigen Dinge, die es bereits im Einklang von Tatsache und Vernunft gibt. Der Beginn der europäischen Wissenschaft wird meist mit der Verteidigungsrede des Sokrates um 399 v.Chr. in Verbindung gebracht. Darin formuliert er die Kernaussage: „Ich bin mir wahrlich im Großen und im Kleinen bewusst, dass ich nicht wissend bin!“ Auf diese Weise führte Sokrates das grundlegende Prinzip aller wissenschaftlichen Erkenntnis ein. Damit Wissen oder Innovationen geschaffen werden können, müssen sie bislang zumindest unbewusst sein, wenn nicht sogar völlig unbekannt. In seiner Rede nennt Sokrates dann sogar einen göttlichen Auftrag, die Grenzen des menschlichen Wissens immer wieder zu hinterfragen, um deren Großartigkeit in Bescheidenheit zu würdigen.70 Dieser Grundgedanke dieses „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“71 findet sich auch in anderen Kulturkreisen. – Bei Konfuzius (551–479 v.Chr.) lautet er: „Wenn du weißt, was du weißt, und du weißt, was du nicht weißt: Das ist Wissen!“ – Oder entsprechend bei Laotse (6. Jh.v.Chr.) heißt es: „Das Unwissen zu wissen ist die höchste Weisheit!“ – In einer vergleichenden Untersuchung zwischen Schimpansen und Kindern wurde entdeckt, dass der wesentliche Unterschied im natürlichen Verhalten darin liegt, dass ein Mensch sein Unwissen erkennt, während ein Schimpanse sich mit den Tatsachen abfindet.72 Es ist somit ziemlich gewiss, dass die Wissenschaft mit einer gewissen Ungewissheit beginnt. Und das trifft wohl gleichermaßen auf Innovationen zu. Sokrates ist zudem der Urheber einer Prozessinnovation für die Erzeugung von Wissen. Denn er benennt ein Verfahren, um Wissen zu gewinnen. Die sokratische Methode beruht auf einer Elenktik, was wörtlich die Kunst der Überführung bedeutet. „Überführt“ wird dabei das Unwissen in Wissen durch ein penetrantes Nachfragen. Wie bei einem Verhör wird eine Aussage immer wieder infrage gestellt, um dabei etwas Neues zu erfahren. Nach einer Faustregel kommt der so Befragte nach etwa fünfmaliger Wiederholung in die Verlegenheit, sein Nichtwissen zuzugeben – oder das Thema zu wechseln. – Auch hier zeigt die Primatenforschung, dass dieses Verhalten zutiefst menschlich ist. Denn ein Mensch, der mit einem Widerspruch zu seinen Kenntnissen konfrontiert wird, fragt nach, während ein Schimpanse sich nach einigen Versuchen wieder
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2 Wie macht man Innovationen?
mit den Tatsachen abfindet. Neuere Untersuchungen zeigen, dass ein Schimpanse dadurch sogar schneller im Erwerb von Kenntnissen ist, weil er sich nicht lange mit dem Nachfragen und mit dem Verstehen aufhält.73 Bei Kindern ist dagegen bekannt, dass sie ab dem dritten Lebensjahr etwa beginnen, uns „Löcher in den Bauch“ zu fragen, wie man so sagt. Diese Fähigkeit zum Hinterfragen und Erkennen von Ursachen schränkt zwar offenbar die Geistesgegenwart ein, führt aber letztlich zu einem tieferen Verständnis, Weisheit und wissenschaftlichem Fortschritt sowie den damit verbundenen Überlebensvorteilen. In dieser Geschichte des Sokrates werden auch andere Aspekte des zuvor beschriebenen Innovationsmanagements erkennbar. – So ist Sokrates der Erfinder der Elenktik und diese Invention wurde von seinem Schüler Platon über die Akademie am „Markt“ des Wissens verbreitet. – Diese revolutionäre Lehre zerstörte dabei die Tradition, eine Erklärung allein im Wirken der griechischen Götterwelt zu suchen, und schuf stattdessen eine neue Denkweise, welche seither das menschliche Denken und Handeln bestimmt. – Die entsprechende Innovationsbarriere wird deutlich durch die Anklage und Verurteilung von Sokrates wegen Gotteslästerung und wegen einer Verführung der Jugend, mit der Achtung vor traditionellen Werten zu brechen. Denn eine Wissenschaft bedeutet eben auch, das willkürliche Eingreifen von Göttern durch festgeschriebene Gesetzmäßigkeiten zu begrenzen. Und eine Innovation bedeutet entsprechend, die bisherigen Gegebenheiten, Regeln und Gesetze am Markt des Wissens zu verwerfen. Als sogenannten 5W (5 Why) ist diese Vorgehensweise auch im modernen Qualitätsmanagement bekannt. Dazu ein kleines Ausführungsbeispiel anhand der Qualität des Wissens um die Nanotechnologie: – Warum ist die Nanotechnologie neu? >> Beispielsweise weil die Teilchengröße von weniger als einem Mikrometer bisher nicht technisch verwendet wird. – Warum ist die Teilchengröße wichtig? >> Beispielsweise weil dabei die Oberfläche im Verhältnis zu Volumen oder Masse sehr groß wird. – Warum ist dieses Verhältnis relevant? >> Beispielsweise weil die chemische, thermische und elektrische Wirkung von Stoffen über die Oberfläche erfolgt. – Warum ist die Wirkung von Stoffen erforderlich? >> Beispielsweise damit die Geschwindigkeit eines Prozesses technisch beeinflusst wird. – Warum sollte man die Geschwindigkeit eines Prozesses beeinflussen? >> Beispielsweise um effektiver und/oder effizienter zu sein. – Warum ist Effektivität bzw. Effizienz so wichtig? >> Beispielsweise um mehr ökonomischen Nutzen zu bringen. Mit dem letzten Fragepunkt wurde bereits der Rahmen der Nanotechnologie verlassen und auf das Thema Ökonomie überführt. Wenn sich der Befragte jetzt weigert, den Sinn oder Unsinn eines ökonomischen Nutzens zu rechtfertigen, ist das Verfahren am Ende. Ansonsten ist man bei einem anderen Thema und folglich auch irgendwie am Ende.
2.3 Scientific Innovation
103
Das Unwissen kann also auch bloß darin bestehen, dass man eine Sache durch eine andere rechtfertigt und nicht durch sich selbst. Daher ist es mitunter eine Frage der Konzentration und Ausdauer, ob irgendwann der Befragte in Verlegenheit gebracht wird. Oder der Frager gibt schließlich genervt auf, weil ständig das Thema wechselt. Allerdings wird durch die elenktische Überführung auch ständig neues Wissen geboren, weshalb es von Sokrates selbst mäeutisches Verfahren genannt wurde, was wörtlich die Geburt bezeichnet. Genau wie 5W im Qualitätsmanagement, so geht es auch in der Elenktik darum, neue Ansätze für Irrtümer und Fehler ausfindig zu machen, um diese einzugrenzen und zu beheben. Und entsprechend geht es beim Hinterfragen einer Innovation darum, sich die offenen Punkte bewusst zu machen, um eine Neuerung zu ermöglich – und nicht, um die Verantwortlichen zu blamieren. In den meisten Fällen wird wahrscheinlich nur das implizite oder eingewickelte Wissen wieder bewusst gemacht. In manchen Fällen wird vielleicht ein neuer Zusammenhang mit anderen Wissensgebieten hergestellt. Und in einigen Fällen stößt man eventuell auf einen neuen Effekt, der bisher nicht bekannt war. Nur in eher wenigen Fällen wird aufgedeckt, dass eine tatsächliche Lücke im Wissen vorhanden ist, die zunächst einer gründlichen Erkundung bedarf. Diese verschiedenen Stufen der Erkenntnis zwischen Wissen und Bewusstsein lassen sich insgesamt in vier Schritten darstellen. 1. Unbewusst unwissend ist zunächst jemand, der vielleicht erstmalig den Begriff „Onomatopoietikon“ liest oder noch nie von dem Phänomen des „überkritischen“ Wassers gehört hat. 2. Bewusst unwissend ist dieser jemand in dem Moment, da ihm bewusst wird, dass es diese Dinge gibt, die er offenbar nicht weiß. Und diese bewusste Unwissenheit ist der erste Ansporn, um sich genau dieses Wissen zu verschaffen. Das Orakel von Delphi bestätigte seinerzeit die herausragende Weisheit von Sokrates, weil er als Erster erkannte, dass er eben nicht wissend war. 3. Bewusst wissend ist daraufhin jemand, der jetzt liest, dass ein Onomatopoietikon ein Wort bezeichnet, dessen akustischer Klang seine Bedeutung nachahmt. In der Werbung beispielsweise sollte der Namenslaut eines Produktes zumindest einigermaßen dem Zweck entsprechen, wie vielleicht der Reibelaut „R“ für irgendetwas Rasantes, der Kehllaut „G“ für irgendetwas Geschmackvolles oder der Zischlaut „S“ für irgendetwas Schönes. Bewusst wissend wird man auch, sobald man liest, dass das Wort überkritisch in der Thermodynamik einen Zustand von Fluiden bezeichnet, bei dem die Dichte der Gasphase derjenigen der flüssigen Phase genau entspricht. Bei der Reinigung beispielsweise können auf diese Weise druckbeständige Materialien auch mit Gasen – also quasi trocken – gewaschen werden. 4. Unbewusst wissend war schließlich jemand, dem jetzt erst einfällt, dass er eine gewisse Lautmalerei schon immer gerne gepflegt hat, und der künftig häufiger auf den Klang eines Wortes achtet. Oder es wird jemand sein, dem später einmal wieder einfällt, wie eine Trockenreinigung mit einem überkritischen Fluid zusammen hängt. Es ist doch wohl kaum anzunehmen, dass dies ein Wissen wird, das jemandem alltäglich bewusst sein muss. Für Innovationsmanager liegt der angestrebte Zustand offensichtlich beim bewussten Wissen. Dadurch gelingt es entweder, neuartiges Wissen zu schaffen, oder es wird vorhandenes Wis-
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2 Wie macht man Innovationen?
sen wieder neu bewusst gemacht. Um etwas aus einem neuen Verständnis heraus zu schaffen, muss dieser Zustand immer wieder neu herbeigeführt werden, sonst stirbt ein Gedanke. Wie bei metaphysischen Begriffen oder bei der Betrachtung eines Lebenszyklus müssen die Dinge auf immer neue Art gedacht werden. Und neuere Untersuchungen zeigen, dass insbesondere diese Art des Denkens dem Gehirn eine besondere Leistung abverlangt, bei der messbar der Blutzuckerspiegel genauso sinkt, wie bei einer körperlichen Leistung.74 Unter dem Begriff Ego Depletion versteht man dann die mentale Erschöpfung von Menschen, sobald diese nicht mehr in der Lage sind, diese Art von Denken auszuführen.75
unbewusst unwissend Abb. 34:
bewusst unwissend
bewusst wissend
unbewusst wissend
Die vier Stufen der menschlichen Erkenntnis
Daher scheint es auch berechtigt, das antike elenktische Verfahren des Sokrates in einem Lehrbuch zum Innovationsmanagement auf neuartige Weise zu beschrieben. Und tatsächlich wurde es auch in der Geschichte immer wieder erfunden.
Pierre Abelaerd beschrieb 1122 mit der Schrift Sic et Non – Ja und Nein – den scholastischen Disput, der auch die Grundlage für eine wissenschaftliche Debatte darstellt. Darin werden die Argumente Pro und Kontra – Für und Wider – einer Sache möglichst klar formuliert, um sich jeweils im Einzelnen über einen Gegensatz einigen zu können. Diese Einigung kann vier verschiedene Aspekte betreffen: • Die Bedeutung eines bestimmten Wortes – der Glosse – wird beispielsweise durch die Herkunft eines Begriffes oder die Zuordnung zu einem Wortfeld untersucht. So stammt das Wort Innovation aus dem Lateinischen mit der Bedeutung Erneuerung und gehört – laut dem Thesaurus von MS Office Word 2007 – zum Wortfeld „Erfindung, Reform, Einführung, Umschwung und Wiedergeburt“. • Die Auslegung einer bestimmten Aussage – der Paraphrase – wird beispielsweise untersucht, indem eine Satzaussage mit anderen Worten wiederholt wird. So lässt sich die vorhergehende Aussage auch folgendermaßen ausdrücken: Durch eine erneute Deutung lassen sich Behauptungen nochmals unter Verwendung von anderen Begriffen darstellen und vergleichen.
2.3 Scientific Innovation
105
•
Das Verständnis einer bestimmten Fragestellung – der Quaestione – wird beispielsweise untersucht, indem Widersprüche, Gegensätze, Probleme oder Paradoxien in einer Argumentation aufgezeigt werden. So stellt sich beim Wortfeld Innovation doch die Frage, ob die genannte Ersetzung durch das Wort Wiedergeburt immer noch eine denkbar zutreffende Bezeichnung für eine Erneuerung sein kann. • Die Zusammenfassung aus einer bestimmten Überlegung – der Summe – entsteht schließlich, indem Schlüsse gezogen, Verallgemeinerungen getroffen und Grenzen aufgezeigt werden. So wird also insgesamt eine Bewusstheit über alle Unterschiede hergestellt und eine allgemeine Einigung erreicht. Diese Vorgehensweise lässt sich auch wieder auf Innovationen anwenden. Um sich den Wissenstand zu einer Innovation bewusst zu machen, einigt man sich zunächst über die Bedeutung der jeweiligen Begriffe sowie über ein gemeinsames Verständnis der getroffenen Aussagen und der zugehörigen offenen Fragestellungen. Erst in der Summe all dieser Überlegungen trifft man eine Entscheidung für oder wider eine Investition in ein Innovationsprojekt.
Michel Foucault brachte um 1970 mit der Diskurstheorie einen weiteren Aspekt für diese Bewusstwerdung von Unwissen auf.76 Demnach wird mit der bewussten Interpretation von Gedanken den Dingen der Welt auch ein neuer Sinn gegeben, der vorher nicht erkannt wurde. Und dieser Sinn führt auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Realität – und somit zu einer Veränderung der Realität selbst. Diese diskursive Praxis lässt sich gut am Bedeutungswandel für Kommunikation während der letzten Jahren darstellen: • Das Internet ist in diesem Sinne zu einer neuen sprachlichen Realität geworden, obwohl es doch nur aus einer virtuellen, also nur scheinbar realen Welt besteht. • Im Internet sind Netzdienstleister, wie Google oder Wikipedia, zu neuen institutionellen Realitäten geworden, die bestimmte Wirtschafts- und Lebensbereiche immer stärker beherrschen, obwohl sie doch lediglich einen gewerblichen Informationsdienst ausführen. • Mit dem Surfen, Browsen, Chatten oder Twittern wurde eine neue performelle Realität durch das Internet geschaffen, welche die Lebens- und Arbeitsumstände drastisch verändert, obwohl es sich nur um seelenlose, automatische Datenverarbeitung handelt. • Und mit dem Hacken oder Phishing sowie gewalttätigen oder pornografischen Angeboten wurde der Diskurs ganz konkret um neue Arten von Straftaten und Kriminalität im Internet erweitert. Und dies, obwohl es sich praktisch doch nur um den Austausch von – nahezu gegenstandslosen – Informationen handelt. Die Innovationen bei den Webtechnologien sind derart umfangreich geworden, dass sie teilweise insgesamt für die Innovationsmöglichkeiten in unserer Epoche gehalten werden. Eine Innovation besteht heutzutage vornehmlich darin, sich bewusst zu werden, welche neuen Geschäftsmöglichkeiten über einen vernetzten elektronischen Datenverkehr noch möglich sind.
Roger Fisher und William Ury beschreiben 1981 eine besondere Form des Diskurses, der bei Verhandlungen stattfindet.77 Die Leistung bei einer Verhandlung beruht prinzipiell darauf, dass zunächst die Menge der verhandelbaren Interessen vergrößert wird, be-
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2 Wie macht man Innovationen?
vor man sich daranmacht, diese zu verteilen. Offenbar wird dabei das zuvor beschriebene Zuwachsprinzip für Vernunftwahrheiten genutzt. Auch Verhandlungen sind zunächst dadurch bestimmt, dass man nicht genau weiß, wie die gegenseitige Interessenlage ist, und entsprechen somit der Wissenschaft und den Innovationen. Das innovative Wissen einer Verhandlung besteht offenbar daraus, sich dieses Unwissen zumindest bewusst zu machen. Dazu werden wieder vier Aspekte vorgeschlagen: • Zunächst geht es darum, die Leute von den Problemen zu trennen. Übertragen auf Innovationen erfolgt dies beispielsweise über die Unterscheidung zwischen den technischen Problemen einer Invention und den Bedürfnissen der Menschen für die Diffusion am Markt. • Dann geht es darum, die Interessen zu beachten und nicht die Positionen. Übertragen auf Innovationen wird beispielsweise ein besonderer Innovationspreis angestrebt und nicht der Erhalt eines Produkts im Wettbewerb. [Obwohl dies auch eine Ursache für Innovationen sein mag.] • Weiter geht es darum, gemeinsam neue Optionen zu schaffen, welche beiden Seiten nützen. Übertragen auf Innovationen müssen beispielsweise die technischen und die wirtschaftlichen Ziele vereinbar gemacht werden, wodurch sich durchaus ganz neuartige Richtungen ergeben können. • Schließlich geht es darum, sich zu weigern, nach Regeln zu spielen, oder auf schmutzige Tricks zurückzugreifen. Übertragen auf Innovationen bedeutet dies einerseits, dass etwas wirklich Neues nur außerhalb der bekannten Gesetze und Regeln zu finden ist. Aber andererseits darf diese Überschreitung von Gesetzen und Regeln nicht so weit gehen, dass es zu betrügerischen Maßnahmen kommt. Beim Marketing benötigt man beispielsweise eine Überschreitung der Innovationsbarrieren, allerdings stellt der Vertrieb eines Innovationsgutes einen Betrug dar, wenn damit keine konkrete Invention einhergeht. Obwohl es sich beim Verhandeln vorwiegend um eine reine Denkleistung handelt, wird daran deutlich, wie sehr sich die Realität durch das menschliche Bewusstsein dabei ändern kann. Der Ausgangspunkt für das absichtliche Schaffen von neuen Werten liegt in diesem Sinne zunächst im Management von Worten, um über deren Bedeutung zu neuen Bewertungen zu gelangen. Lektion 18:
Innovationen verwandeln Unwissen in bewusstes Wissen!
Übung 18: Suchen Sie sich einen Partner für diese Übung, der Sie nach Ihren Kenntnissen zu einer von Ihnen ausgewählten Innovation befragt! Achten Sie darauf, wann Sie das Thema wechseln! Versuchen Sie, beim Thema zu bleiben! Wann stoßen Sie an eine Grenze des Bekannten? Handelt es sich um allgemein Unbekanntes oder nur Ihnen Unbekanntes? Ist lediglich ein Detail unbekannt, ein ganzer Bereich oder gibt es eine neue Fragestellung? Welche Lehre aus anderen Bereichen kann man vielleicht darauf übertragen? Notieren Sie sich die dadurch erreichte neue Realität!
2.3 Scientific Innovation
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Versuchen Sie, zu unterscheiden, ob diese sprachlich, institutionell oder performell ist, und welche praktischen Konsequenzen das nach sich zieht! Achten Sie dabei auf die vier Aspekte des Harvard-Konzepts, indem Sie die Inhalte protokollieren! Werten Sie zum Schluss aus, wie der Handlungsrahmen für das Innovationsthema dadurch erweitert wird!
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2.3.2
2 Wie macht man Innovationen?
Entelechie: Das Bild vom Innovationstrichter
Zur Veranschaulichung des Innovationsprozesses wird gerne die Form eines Trichters gewählt. Auf der einen Seite – der großen Öffnung – werden die vielen Ideen eingebracht. Und die gewünschte Innovation wird durch einen Auswahlprozess zur anderen Seite fokussiert. Dieses Bild scheint zunächst durchaus einfach und plausibel. Aber es handelt sich dabei auch um ein klassisches Bildnis für die Verbindung von Gedanke und Wirklichkeit. Dieses wird in der Wissenschaftstheorie als Entelechie bezeichnet und bedeutet wörtlich in etwa das Entfalten und das Erreichen eines Ziels. Es geht davon aus, dass im klassischen Verständnis die Wissenschaft zwischen zwei Welten stattfindet: die Welt der Realität, also der Bezug zur Wirklichkeit, und die Welt der Idealität, also eine Abbildung in den Gedanken. Von der Idee zum erfolgreichen Produkt, ist daher nicht nur ein üblicher Slogan von modernen Innovationsberatern, sondern findet sich bereits in einer Schilderung von Platon (427–347 v.Chr.) über ein Gespräch von Sokrates mit dem Geometrieschüler Glaukon. In dem Dialog geht es darum, eine Verbindungslinie zwischen den beiden Welten zu erkunden, wofür ein Geometrieschüler auch grundsätzlich besonders geeignet erscheint. Dieses sogenannte Liniengleichnis stellt sozusagen das Grundmodell für alle Innovationsprozesse dar. Zunächst bittet Sokrates den Studenten Glaukon, sich diese Verbindungslinie zwischen den realen Dingen der Welt und den idealen Dingen des Verstands vorzustellen. Dann argumentiert er, dass diese Linie bei den Ideen doch sehr viel länger sein muss, weil es bekanntlich zu jeder Tatsache eine Unmenge an Dingen gibt, die sich denken lassen. Wie zuvor beschrieben, gilt in der Wissenschaft für die Dinge des Verstands ein Wachstumsprinzip und für die Tatsachen ein Erhaltungsprinzip. Heutzutage wird diese Zunahme des Denkbaren eher durch einen Trichter veranschaulicht. Für einen solchen Innovationstrichter werden immer wieder Untersuchungen angestellt, um das Ausmaß an Ideen abzuschätzen, die benötigt werden, um eine einzige Innovation zu realisieren. Allerdings scheint es kaum möglich, die ganzen unausgesprochenen oder vielleicht sogar unbewussten Gedankengänge zu ermessen, die notwendig waren, um eine erste Idee schriftlich festzuhalten. Und erst danach kann eine zählbare Auswahl stattfinden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach dem Wachstumsprinzip bei jeder anfänglichen Idee auch immer wieder neue Ideen hinzukommen, um diese zu erläutern. Daher scheint dieses Verhältnis unermesslich. In der Geschichte aber bittet Sokrates anschließend Glaukon, diese Verbindungslinie auf der Seite der Realität nochmals zu teilen. Denn einerseits gibt es bei den Tatsachen den unmittelbaren Eindruck der spürbaren Dinge. Und dann gibt es die dadurch entstandenen Erfahrungen, die die Eindrücke hinterlassen haben. Beide Anteile sind noch mit der Realität verknüpft: die Eindrücke über die menschlichen Sinne und die Erfahrungen über das menschliche Gedächtnis. Und wieder ist die Menge an mittelbaren Erfahrungen doch viel größer als die Menge der unmittelbaren Eindrücke. Demzufolge weitet sich hier bereits der Trichter. Aber auch die Verbindungslinie auf der Seite der Ideen lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen. Denn einerseits gibt es solche Ideen, die aus der Einsicht in die realen Gegebenheiten vermittelt werden. Und dann gibt es aber auch vollkommen freie Gedanken, Fantasien und Spinnereien, die sich als reine Hirngespinste des Denkens übermitteln. Und auch hier wächst
2.3 Scientific Innovation
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offenbar die Menge von vermittelten Einsichten auf die schließlich übermittelten Gedanken deutlich an. Insgesamt entsteht somit ein Trichter an Erkenntnisgewinn: Die Wissenschaft entwickelt sich vom Eindruck einzelner Experimente – über zahlreiche Erfahrungen und Lektionen – zu umfassenden Einsichten und Theorien, wodurch dann unzählige weitere Hypothesen und Spekulationen entspringen. In diesem Sinne ist der wissenschaftliche Fortschritt also eher induktiv und unterliegt dem Wachstumsprinzip.
freies Denken Einsicht Eindruck
Erfahrung
WISSEN SCHAFT
Realität Abb. 35:
Ideen
Der Trichter der wissenschaftlichen Erkenntnis – von den realen Eindrücken und Erfahrungen zu den ideellen Einsichten und Denkweisen
Beim Innovationsmanagement bewegt man sich dagegen meist in die andere Richtung, demzufolge also deduktiv. Der innovative Fortschritt entwickelt sich von den Ideen zu ihrer Realisierung. Und in diesem klassischen Sinn besteht der Innovationsprozess demzufolge aus den folgenden vier Phasen: 1. Zunächst werden freie Ideen generiert. Diese Kreativität der Menschen ist offenbar ein selbstständiger Denkprozess, bei dem das Gehirn ständig Vorschläge unterbreitet, wie die Wirklichkeit sein könnte. Daher muss Kreativität eigentlich nicht willentlich erzeugt werden. Es kommt meist eher darauf an, die ständigen Vorschläge des Gehirns aufmerksam wahrzunehmen. 2. Diese freien Ideen werden auf ihre Plausibilität geprüft. Dabei wird untersucht, ob die jeweilige Idee überhaupt theoretisch möglich ist. Reine Ideen, die bereits theoretisch nicht machbar erscheinen, fallen aus dem Innovationstrichter heraus. In Umkehrung zum Anwachsen bei den wissenschaftlichen Ideen, kommt es somit zu einer Fokussierung und Zuspitzung auf dem Weg zur Verwirklichung von Innovationen. 3. Die plausiblen Ideen werden dann auf ihre technische und ökonomische Machbarkeit untersucht. Dazu werden die technischen Erfahrungen zusammengestellt, die geeignet erscheinen, um die Ideen zu realisieren. Und es werden ökonomische Betrachtungen angestellt, um einen wirtschaftlichen Erfolg zu erreichen. Diejenigen Ideen, die entweder
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4.
2 Wie macht man Innovationen? technisch zu aufwendig oder wirtschaftlich nicht rentabel erscheinen, fallen wieder aus dem Innovationstrichter heraus. Wie zuvor dargestellt, finden sie dann vielleicht noch Verwendung bei einem Inside-out-Prozess der geschilderten Open Innovation in anderen Unternehmen und deren Innovationsprojekten. Die erfolgversprechenden Ideen werden schließlich als Prototyp oder in einem Pilotbetrieb realisiert. Dazu werden entsprechende Ressourcen und Investitionen eingesetzt. Aber immer noch muss man mit Ideen rechnen, die an einer konkreten Realisierung scheitern. Diese fallen auch somit noch aus dem Innovationstrichter heraus und müssen meist als Verlust abgeschrieben werden.
kreativ – denkbar
plausibel – einsehbar
machbar – erfahrbar prototypisch – eindrucksvoll
INNOVATIONS MANAGEMENT
Ideen Realität Abb. 36:
Der Innovationstrichter – von den kreativen Ideen und den plausiblen Einsichten zur Realität aus machbaren Erfahrungen und prototypischen Eindrücken
Ein grundlegender Fehler im Innovationsmanagement besteht meist darin, eine Phase überspringen zu wollen oder gar die Reihenfolge im Trichter zu ändern. Wenn beispielsweise die Machbarkeit von Ideen geprüft wird, die nicht einmal plausibel erscheinen, stellt dies ebenso eine Verschwendung an Innovationsressourcen dar wie die Vorbereitung eines Prototyps, bevor die Machbarkeit untersucht wurde. In beiden Fällen findet ein großer Teil des Aufwands außerhalb des Innovationstrichters statt und geht entsprechend dem Projekt verloren. Und es ist wohl ziemlich überflüssig, für einen gescheiterten Prototyp nachträglich noch die Machbarkeit zu untersuchen, nur um festzustellen, dass bereits die Idee nicht plausibel gewesen ist. Lektion 19:
Eine Innovation stützt sich auf unzählige freie Gedanken, viele theoretische Einsichten, einige Erfahrungen und einem klaren Eindruck!
Übung 19: Diese Übung stützt sich auf Übung 18. Bitte machen Sie daher zunächst die Übung zur Elenktik!
2.3 Scientific Innovation
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Verwenden Sie die dort geschaffene Sammlung von Unwissen für ein Innovationsthema, und gehen Sie gedanklich durch den Innovationstrichter! Mit welchen freien Gedanken können Sie das Unwissen erklären? Welche Theorie können Sie dazu heranziehen? Auf welche Erfahrungen können Sie sich dabei stützen? Durch welche Eindrücke lassen sich diese Gedankengänge in der Realität nachweisen?
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2.3.3
2 Wie macht man Innovationen?
Epistemik: Das Prüfen einer Innovation
Bisher wurde in diesem Buch beschrieben, wie man eine Innovation wissenschaftlich „macht“. Damit ist aber noch nicht geklärt, was eine Innovation wissenschaftlich „ist“. Der Unterschied zwischen dem Entstehen und dem Bestehen von etwas kann bedeutsam sein. Denn oft unterscheiden sich die Bedingungen zum Bestehen von denen beim Entstehen. Und wenn man lediglich etwas Neues verwenden will, dann ist doch vielleicht auch unnötig zu wissen, wie es zuvor entstanden ist. Aber auch dafür wird es nötig zu prüfen und zu entscheiden, ob es innovativ ist oder gewusst wird. Gerade in unserer modernen Wissensgesellschaft erfahren wir von Innovationen nur selten etwas durch einen wissenschaftlichen Bericht über die Entstehungsgeschichte. Meist wird uns direkt das fertige Ergebnis vorgestellt. In diesem Sinne stellt die Epistemik eine Lehre dar, die sich mit dem Wesen von vorhandenem Wissen befasst. Der Begriff bezeichnet wörtlich eine Bestätigung wie in einer Epistel. Auch diese Lehre geht zurück auf eine Schilderung von Platon (427–347 v.Chr.) über ein Gespräch von Sokrates. In diesem Fall erfolgt der Dialog mit dem Mathematikschüler Theaitetos und handelt von der gemeinsamen Erkundung der Kriterien von Wissen. Ein Kriterium bezeichnet wörtlich das Merkmal einer Prüfung. Während sich also die Elenktik mit der Entstehung von Wissen befasst und die Entelechie mit seiner Entfaltung, handelt es sich in der Epistemik nun um die Prüfung der Beschaffenheit von Wissen. Das würden wir heutzutage vielleicht eher mit dem Begriff Qualität umschreiben. In diesem Gespräch richtet Sokrates zunächst die Bitte an Theaitetos, sich auf eine allgemeingültige Definition von Wissen festzulegen, wozu in diesem Fall gerade ein Mathematikschüler doch recht geeignet erscheint. Nach einigem Zögern schlägt dieser dann auch die Gleichsetzung vor: Wissen ist Wahrnehmung. Dies entspricht offenbar der physischen Wahrheit einer Tatsache, die bereits im vorhergehenden Abschnitt vorgestellt wurde. Bestehendes Wissen muss also durch Wahrnehmung immer wieder erfahrbar sein. Aber Sokrates widerlegt diese einfache Definition, indem er die widersprüchlichen Ansichten über Vernunftwahrheiten aufzeigt. Dazu verwendet er sein zuvor genanntes Verfahren der Elenktik: Ergibt sich denn eine vernünftige Ansicht nur aus einer Verallgemeinerung von Tatsachen und Erfahrungen – also heuristisch? Oder findet sich eine vernünftige Ansicht nicht auch durch eine besondere Ableitung von anerkannten Denkweisen – also hermeneutisch? Denn es gibt doch durchaus unterschiedliche Meinungen über Tatsachen, wenn sie aus verschiedenen Entfernungen oder in verschiedenen Zusammenhängen wahrgenommen wurden und vielleicht in verschiedenen Sprachen beschrieben werden. Und es gibt sogar Wissen, das gar nicht wahrgenommen wurde, weil es im Traum erschienen ist, intuitiv eingegeben wurde oder instinktiv schon irgendwie im Denken angelegt war. Diese Argumentation sieht Theaitetos dann auch ein und schlägt daher vor, beide Aspekte zuzulassen. Wissen ist demnach definiert als eine wahre Ansicht, eine wahrnehmbare Meinung oder eine glaubhafte Wahrnehmung. Dies entspricht dem psychischen Glauben an eine Vernunftwahrheit, wie ebenfalls bereits im vorhergehenden Abschnitt vorgestellt. Auch das geistige Verstehen von Wissen muss demnach immer wieder nachvollziehbar sein. Nun aber schürt Sokrates weiteren Zweifel an dieser neuen Definition, indem er auf die Mehrdeutigkeit von Ansichten, Meinungen, Glauben und vernünftigen Erklärungen hinweist. Denn es gibt unterschiedliche Entscheidungen darüber, ob etwas schön oder hässlich, gut oder schlecht, stark oder schwach ist – je nachdem, welcher Mensch gerade darüber urteilt.
2.3 Scientific Innovation
113
Und es gibt sogar Wissen, welches weder selbst wahrgenommen noch selbst ausgedacht wurde, wenn es uns nur von anderen Menschen berichtet, gelehrt oder bezeugt wird. Wieder muss sich Theaitetos als überführt erklären und schlägt nunmehr vor, auch den richtigen Schluss in die Definition von Wissen aufzunehmen. Demnach ist Wissen jetzt definiert als eine glaubhaft richtige Wahrnehmung, eine wahrhaftig gemeinte Rechtfertigung oder ein rechter, wahrer Glaube. Dies entspricht einer zusätzlichen logischen Richtigkeit in der Verbindung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten, die demnach ein neues Kriterium für wissenschaftliche Wahrheit darstellt. Die Wissenschaft wird nunmehr durch drei Prüfungspunkte oder Kriterien bestätigt:
Jede wissenschaftliche Aussage muss sich auf reale Tatsachen stützen. – Beispielsweise ist es in der Wissenschaft üblich, die Aussagen durch eine exemplarische Ausführung in einem Experiment zu bestätigen.
Jede wissenschaftliche Aussage muss auf vernünftigen Ideen beruhen. – Beispielsweise ist es in der Wissenschaft üblich, die Überlegungen in einer ausführlichen Beschreibung der Gedanken und Theorien darzulegen.
Und jede wissenschaftliche Aussage muss eine logische Rechtfertigung aufweisen. – Beispielsweise ist es in der Wissenschaft üblich, die Folgerungen in einer schlüssigen Argumentation zu treffen. – Solche wissenschaftlichen Bestätigungen kennt man typischer Weise auch aus Gerichtsprozessen. Dort werden die Behauptungen mit dem Nachweis von tatsächlichen Indizien gestützt. Die Anklage und die Verteidigung erstellen jeweils ein glaubhaftes Plädoyer. Und der Richter achtet auf die richtige Befragung von Zeugen sowie auf eine geschlossene Beweiskette. Auch der Innovationsprozess weist in dieser Hinsicht ein Art Magisches Dreieck aus drei Faktoren auf, welche zuvor bereits bei den Innovationsphasen dargestellt wurden: – Die physische Wahrnehmbarkeit einer Innovation ergibt sich aus der Effektivität der Invention. Jeder Interessent kann dadurch selbst prüfen, ob und wie die innovativen Effekte auch wirklich zutreffen. Bei der Untersuchung der technischen Machbarkeit werden beispielsweise die gewünschten Effekte bestimmt. – Der vernünftige Nutzen einer Innovation ergibt sich aus der Vermarktung bei der Diffusion. Alle Beteiligten können dadurch selbst überprüfen, ob ihnen die ökonomische Effizienz einer Innovation auch glaubhaft erscheint. Bei einer Untersuchung der wirtschaftlichen Machbarkeit werden beispielsweise dazu die Kosten ermittelt. – Die logische Rechtfertigung einer Innovation ergibt sich aus einem schlüssigen Konzept von Effizienz und Effektivität. Jeder Stakeholder bei einem Innovationsprojekt kann dadurch selbst überlegen, ob seine Beteiligung zurzeit gerechtfertigt erscheint. Mit dem Abschluss einer Machbarkeitsstudie wird der gesamte Zusammenhang klar nachvollziehbar. Im Gespräch mit Theaitetos zeigt sich Sokrates allerdings am Schluss unzufrieden mit dem Ergebnis. Denn die dreifache Abhängigkeit des Wissens von Kriterien, die selbst wiederum jeweils auf Wissen beruhen, erscheint doch wie die Erklärung einer Sache durch sich selbst. Und da keines der Kriterien für sich allein ausreicht, um Wissen zu bestätigen, sondern nur, um einen Aspekt des Unwissens anzuzeigen, erscheint das Ergebnis irgendwie unvollständig.
114
2 Wie macht man Innovationen?
Was Wissen dabei ist oder nicht-ist, bleibt immer noch ungeklärt. Denn es gibt immer beliebig viele Sachen, die auch sonst noch „nichtgelten“ können. Entsprechend seltsam erscheint es, eine innovative Neuerung dadurch zu beschreiben, dass sie aus einer innovativ-neuen Technik und einer innovativ-neuen Ökonomie auf einem innovativ-neuen Markt besteht. Was tatsächlich neu oder innovativ ist, wird dadurch nicht geklärt, sondern nur, welche Kriterien dabei berücksichtigt werden. – Manche Anbieter zählen es daher bereits zu ihren Innovationen, wenn eine anderswo übliche Technik in ihrem eigenen üblichen Produkt erstmalig ihrem üblichen Kundenkreis angeboten wird. Neu und innovativ ist dabei offenbar nur die Kombination. So ist der Begriff Exklusivität inzwischen zu einem reinen Schlagwort geworden, um einen Kunden zu überzeugen, und nicht mehr, um eine Innovation zu beschreiben. Konkrete Beispiele für diese Fälle finden sich insbesondere bei hochaggregierten Produkten, wie Autos, Computer oder Haushaltsgeräte. Jedenfalls vertagte Sokrates das Gespräch. Und bis auf den heutigen Tag kennt man nur diese drei Kriterien, um Wissen zu bestätigen. Aber niemand kann sagen, was Wissen grundsätzlich ist. Wie eingangs bei der Vorstellung von evolutionären und revolutionären Innovationen bereits dargestellt wurde, kann entsprechend wohl auch keiner grundsätzlich festschreiben, was man unter einer Innovation zu verstehen hat.
logische Richtigkeit
Rechtfertigung
modale Fügung
Zufall
neues Wissen
Wissen
Abb. 37:
Die drei Kriterien für Gewissheit … und der ständige Zufall
In der Wissenschaft fand diese Vertagung 1963 ihre Fortsetzung, als Edmund Gettier neue Belege dafür brachte, dass man auch nicht genau weiß, was Unwissen ist.78 Denn selbst wenn etwas gerechtfertigt ist, der Wahrheit entspricht und zudem geglaubt wird, dann kann dies insgesamt immer noch auf einem Zufall beruhen.
2.3 Scientific Innovation
115
–
Wenn beispielsweise der wahre Täter zunächst nicht gesehen wurde, aber später mit jemandem verwechselt wird, der auch anwesend war, dann entspricht dies zwar wieder der Wahrheit. Und es erweist sich bei einer Überprüfung von Ort, Zeit und Motiv als durchaus glaubhaft. Zudem erscheint es durch die Zeugenaussage sogar auch gerechtfertigt. Aber letztlich wurde es dennoch nicht gewusst. Bei solchen Zufällen und Fügungen handelt es sich vielleicht um so etwas wie eine Art von „höherer Gerechtigkeit“, aber nicht um Wissenschaft. Eine Kriminalkomödie bekommt dadurch vielleicht eine schöne Wendung, weil es doch unser allgemeines Rechtsverständnis erschüttert. Nichts ist wissenschaftlich gewiss, nicht einmal die gewisse Bestätigung durch Wahrnehmung, Vernunft und Logik. Aber etwas Gewisseres kennt man bis heute eben auch nicht. Karl Popper (1902–1994) schreibt in seinem Buch über objektive Erkenntnis der logischen Rechtfertigung eine ganz eigene Dimension zu.79 Neben den realen Tatsachen und den geistigen Ideen benutzt die moderne Vorstellung von der Wissenschaft eine sogenannte „Welt 3“. Zuvor wird die Logik bereits von Epikur (341–271 v.Chr.) als eine eigene kanonische Wahrheit aufgefasst, also als Teil einer Richtlinie für wissenschaftliche Wahrheit. In der Neuzeit wurde dieser Ansatz zunächst von Gottlob Frege (1848–1925) wieder aufgegriffen. Diese Welt der Logik besteht demnach gleichberechtigt neben der Welt der physischen Realität und der Welt der psychischen Ideale. Und sie beruht auf der Übertragung von Wahrheiten, wodurch Sie grundsätzlich keine eigene Wahrheit enthält. – Von Albert Einstein wird erzählt, dass er diese merkwürdige Eigenschaft der logischen Wahrheit einmal eindrucksvoll erläutert hat. Demnach lässt sich aus einer falschen Aussage auf richtige Weise auch ein falscher Schluss ziehen. Beispielsweise ist Einstein der Papst, wenn 2 = 1 gilt. Zwar handelt es sich bei Einstein und dem Papst durchaus um zwei verschiedene Personen, was aber aufgrund von 2 =1 egal ist – und somit ist Einstein dann durchaus der Papst. Offenbar kann eine Logik durchaus wahr und richtig sein, obwohl sie zu einem falschen Schluss führt. Der richtigen Schlussfolgerung kommt in der Welt der Logik somit noch eine besondere Bedeutung zu. In der Aussagenlogik wird dazu meist ein geschlossenes System betrachtet, das nur auf den beiden Wahrheitswerten wahr und falsch beruht und keine Halbwahrheiten zulässt. Unter der Annahme, dass es keinen dritten Wahrheitswert gibt, lassen sich die ersten drei Regeln für Folgerungen formulieren. Bei Wissen und Innovation liegen allerdings meist offene Systeme vor, für die auch ein „Vielleicht“ oder ein „Sonst“ gültig ist. Dadurch ergibt sich dann die nachfolgend genannte vierte Regel.
Der direkte Schluss wird auch Modus ponens genannt und gilt, wenn sich zwei Wahrheitswerte entsprechen. Wenn das Eine gilt, dann gilt auch das Andere. Und umgekehrt: Wenn das Andere nicht gilt, gilt auch das Eine nicht. In solchen Fällen ist die Bestätigung also einfach gekoppelt. Wenn man dieser Übertragbarkeit zustimmt, dann haben beide Aussagen stets den gleichen Wahrheitswert. Und dieses einfache Koppeln von Wahrheiten durch ein UND wird am häufigsten benutzt, um eine logische Argumentation aufzubauen. – Beispielsweise besteht eine Innovation aus einer Invention UND einer Diffusion. Umgekehrt gibt es zwar eine Diffusion ohne eine Invention, was aber keine Innovation darstellt.
116
2 Wie macht man Innovationen?
Der indirekte Schluss wird auch Modus tollens genannt und gilt, wenn sich zwei Wahrheitswerte widersprechen. Entweder gilt das Eine und das Andere nicht, oder es gilt das Andere und das Eine nicht. In solchen Fällen wird offenbar etwas Drittes vollkommen ausgeschlossen und daher kann man den Wahrheitsgehalt auch dadurch erschließen, dass man das Gegenteil ausschließt. Dieses Aufstellen eines Widerspruches mit einem Entweder-Oder ist oft verwirrend und bei offenen Systemen mit Halbwahrheiten auch nicht vorhanden. Denn das absolute Gegenteil von Wissen oder einer Innovation ist dabei nicht genau bekannt. Zu jeder Sache, die gilt, gibt es unzählige Sachen, die nicht gelten können. So wird bereits Sokrates die Erkenntnis zugeschrieben: „Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!“ – Entweder erfolgt die Diffusion einer Invention oder sie erfolgt nicht. Damit eine Innovation erfolgt, müssen stets beide Kriterien erfüllt sein. Eine Invention ohne Diffusion ist genauso wenig erfolgreich, wie eine Diffusion ohne eine Invention. Etwas Drittes gibt es nicht. Vor diesem Dilemma stehen oft wirtschaftlich wenig geschulte Ingenieure oder technisch wenig versierte Ökonomen. Daher werden für das Innovationsmanagement beispielsweise Wirtschaftsingenieure ausgebildet, welche diese beiden Kriterien in ihrer Ausbildung vereinen.
Der Kettenschluss wird auch Modus barbara genannt und gilt, wenn sich die Wahrheitswerte übertragen lassen. Wenn sowohl das Eine gilt und das Andere als auch das Andere und ein Weiteres, dann gilt auch das Weitere, wenn das Eine gilt. In solchen Fällen wird der Wahrheitsgehalt also vollständig übertragen. Dieses Aufstellen einer Kette mit einem Sowohl-als-Auch scheint oft klar, ist aber wieder bei offenen Systemen mit Halbwahrheiten nicht immer gegeben. Denn eine vollständige Übertragbarkeit kann dabei nicht sichergestellt werden. Immer wieder gibt es Ausnahmen, entweder für den ersten oder für den zweiten Schluss. Wieder gibt es unzählige Sachen, die sonst auch noch gelten können. – Beispielsweise können die Kosten und der Zeitrahmen bei einem Innovationsprojekt durchaus passen, wenn die Sach- und Arbeitsleistungen während der Projektdauer erfüllbar scheinen. Und innerhalb der vorgesehenen Projektdauer kann dann sogar auch die gewünschte Effektivität erreichbar scheinen. Dennoch kann eventuell die Effektivität allein auch höhere Kosten verursachen, was bei den Phasen von Innovationsprojekten bereits als sogenanntes Over-Engineering angesprochen wurde. Im Magischen Dreieck der Machbarkeit müssen daher alle drei Einflüsse betrachtet werden. Das Dreieck ist gerade dadurch irgendwie „magisch“, weil es die Nichtübertragbarkeit der gegenseitigen Einflüsse einmal bildlich verdeutlicht.
Ein Tetralemma (Viertschluss) gilt schließlich, wenn sich die Wahrheitswerte nicht vereinbaren lassen. Wenn weder das Eine gilt oder nicht gilt – noch das Andere gilt oder nicht gilt, dann kann sowohl etwas Weiteres gelten oder eben auch nicht gelten. In solchen Fällen ist der Wahrheitsgehalt also völlig offen. Das scheint fast zu einfach, denn irgendetwas gilt ja doch wohl irgendwie immer. Daher wird das Aufstellen einer Argumentation mit einem Weder-Noch in der ausschließenden Logik meist nicht betrachtet. Allerdings ist das Tetralemma bei offenen Systemen – wie beispielsweise Wissen oder Innovationen – recht häufig vertreten. Und moderne Wissenschaftler sind meist an Tatsachenwahrheiten mit Ihrem Erhaltungsprinzip und der ausschließenden Logik geschult. Daher ziehen sie oft auch dann Schlüsse, wo vielleicht gar keine angebracht sind. Und es
2.3 Scientific Innovation
117
bedarf vielleicht etwas Übung, um sich darauf einzustellen. Dazu soll folgendes Lehrbeispiel dienen: – Wer von zwei Menschen wird zuerst baden, wenn der Eine sauber und der Andere schmutzig ist? Der Saubere wohl nicht, denn er braucht es eher nicht. Der Schmutzige wohl nicht, denn er mag es eher nicht. Keiner von beiden wohl nicht, denn der Eine mag es und der Andere braucht es. Beide zusammen wohl nicht, denn der Eine braucht es noch nicht und der Andere mag es doch nicht. Das Tetralemma besteht in der überraschenden Erkenntnis, dass eine folgerichtige Antwort auf diese Fragestellung grundsätzlich offen bleiben muss … Auch Innovationen sind in diesem Sinne immer mit Chancen und Risiken verbunden. Es scheint dabei niemals zwingend, ob man die Chancen nutzen kann oder an den Risiken scheitert. Aber keins von beiden wird es wohl nicht sein. Und beide zusammen werden es wohl auch nicht sein. Denn es ist immer etwas Neues … Lektion 20:
Nichts scheint für eine Innovation gewisser als eine berechtigte und glaubhafte Wahrnehmung!
Übung 20: Diese Übung stützt sich auf Übung 19. Bitte machen Sie daher zunächst die Übungen zu Elenktik und Entelechie! Verwenden Sie die dort gesammelten Tatsachen- und Vernunftwahrheiten und notieren Sie sich jeweils die damit einhergehenden konkreten Wahrnehmungen und glaubhaften Meinungen! Erstellen Sie dann eine gerechtfertigte Schlussfolgerung zwischen den beiden! Und versuchen Sie zunächst, außer dem direkten Schluss auch einen indirekten und einen Kettenschluss anzuwenden! Erst danach überlegen Sie tiefer, welche Alternativen zum indirekten Schluss bestehen und welche Ausnahmen zum Kettenschluss vorliegen! Können Sie daraus bereits ein Tetralemma konstruieren?
118
2 Wie macht man Innovationen?
2.3.4
Kategorien: Das Innovationssystem
Unter einem System versteht man wörtlich einen Zusammenhang von Wahrheiten, welche bei der Erscheinung einer Sache zusammenkommen. Und Aristoteles (384–322 v.Chr.) führte Kategorien ein, um die grundlegenden Eigenschaften eines solchen Systems zu erfassen. Unter dem Begriff Kategorie muss man sich wörtlich die vollständige Auslage eines Angebots auf dem Marktplatz vorstellen – der griechischen Agora. Alles was nötig ist für den Einkauf liegt dort ausgebreitet zur Auswahl bereit. Gehen wir also einmal „einkaufen“ auf diesem Markt für ein Innovationsprojekt: – Ein Satz von umfassenden Erfolgsfaktoren für Projekte entspricht in diesem Sinne den Kategorien für einen Projekterfolg. Und die Einflussfaktoren entsprechen den Kategorien für die Projektphasen. Die verschiedenen Promotoren sind entsprechend kategorisch für die menschlichen Faktoren. Und die kulturellen Faktoren entsprechen vielleicht den kategorischen Disziplinen einer Lernenden Organisation oder auch den kategorischen Direktiven in der Führung. Zusammengenommen ergibt sich dadurch eine Kategorisierung für das Management von Innovationsprojekten.
Macht
PROMOTOREN Fach Beziehung Prozess Personal Mastery
Invention
Mental Models
ERFOLG
KULTUR Shared Visions
Diffusion
Systems Thinking
Start Umsetzung
Konzept Einführung PHASEN
Abb. 38:
Das System eines Innovationsprojekts aus Kategorien für Erfolg, Phasen, Promotoren und Kultur
Wissenschaftlich betrachtet scheint diese Fülle etwas willkürlich und unübersichtlich zu sein. Denn es lässt sich nicht erkennen, ob dieses System bereits alle notwendigen Kategorien für eine Innovation enthält. Und es scheint auch nicht klar, ob sich einige Kategorien bereits durch das Zusammenwirken der anderen Kategorien bereits irgendwie ergeben und daher überflüssig sind. Aber leider macht die zuvor dargestellte Epistemik auch deutlich, dass es diese Eindeutigkeit in einem wissenschaftlichen System auch nicht geben kann. Alles was man in der Wissenschaft versuchen kann, ist daher, ein möglichst vollständiges und überschneidungsfreies System zu bestimmen: – Dies gilt beispielsweise für die drei Kriterien der zuvor beschriebenen Bestätigung von Wissen durch Wahrnehmung, Vernunft und Rechtfertigung. Allerdings mussten diese zusätzlich durch ein viertes Kriterium des Zufälligen ergänzt werden. Denn jenseits von wissenschaftlich erfassten Fakten, von wissenschaftlich vernünftigen Theorien und von einer wissenschaftlich schlüssigen Logik besteht immer noch eine zufällige Möglichkeit zu etwas Neuem. Wenn man also von wissenschaftlich un-
2.3 Scientific Innovation
119
möglich spricht, so bedeutet dies, dass etwas nicht den bekannten Fakten, den Theorien oder der Logik entspricht. Es kann aber nicht bedeuten, dass etwas wissenschaftlich vollständig ausgeschlossen ist. Demzufolge scheint sich die Wissenschaft einer Kategorisierung zu entziehen. Eine solche Spitzfindigkeit lässt sich auch bei der genauen Betrachtung von Innovationssystemen erkennen und begründen: – Beispielsweise lassen sich für ein Innovationsprojekt die Erfolgs- und Einflussfaktoren bestimmen sowie die Prozesse und die Phasen entwickeln. Allerdings dienen diese Maßnahmen immer nur als Stützen für eine Innovation – eine Verwirklichung garantieren sie nicht. Denn das kann auch kein Innovationssystem leisten. Der Zweck in der Bestimmung von Faktoren besteht darin, das Risiko des Scheiterns zu verkleinern. Und daher werden wissenschaftlich immer wieder systematische Betrachtungen angestellt, welche die Hintergründe eines Themas vernünftig zu erfassen suchen. – Immer wieder ergibt sich in der Ausbildung von Studenten die Aufgabe, die Grundzüge von wissenschaftlichem Denken zu vermitteln. Das penetrante Nachfragen und Überführen von Unwissen beherrschen die meisten noch recht gut – wahrscheinlich, weil sie jung sind. Das Verbinden von Tatsachen mit einem theoretischen Verständnis fällt einigen schon deutlich schwerer – je nachdem, wie es in der Schule zuvor mehr oder weniger ausgebildet wurde.80 Bei der Logik einer Rechtfertigung von Wissen durch Wahrnehmung, Glaube und Rechtfertigung scheinen viele bereits überfordert – insbesondere, wenn man auf die möglichen Zufälle zu Sprechen kommt.81 Aber die häufigste studentische Aufgabe besteht darin, ein System möglichst vollständig in einen überschaubaren und eindeutigen Satz von Grundmerkmalen zu zerlegen. Und darin scheint das vornehmliche Ziel einer wissenschaftlichen Arbeit zu liegen: Das Auffinden und Begründen von Faktoren, Kategorien, Typen, Agenten oder anderen Grundmerkmalen eines Themas. In der Kritik der reinen Vernunft verwendet Immanuel Kant (1724–1804) den Begriff der Kategorie zur Prüfung von Vernunftwahrheiten. Grundsätzlich dreht sich seine Untersuchung um die Frage, ob es die klaren Gesetzmäßigkeiten, wie man sie in den Naturwissenschaften kennt, auch für das reine Denken gibt. Ist es beispielsweise möglich, das Denken an etwas festzumachen, bevor es durch Tatsachen von außen beeinflusst wird? Sind manche Gedanken demnach schon vorab – also a priori – festgeschrieben oder entstehen alle Gedanken erst im Nachhinein – also a posteriori? Es handelt sich in diesem Werk demnach um die Wissenschaftlichkeit genau jener Metaphysik, welche das menschliche Verständnis in der Wissenschaft betrifft und den Ursprung der Fähigkeit zu Innovationen darstellt. Zwar kommt die Prüfung der reinen Vernunft bei Kant zu dem Schluss, dass das Denken nicht eigenständig sein kann, denn ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, weil Gedanken ohne Inhalte leer sind, wie es bei Kant heißt.82 Dieser Grundgedanke wurde zu Beginn dieses Abschnitts über wissenschaftliches Arbeiten bereits als Notwendigkeit zu einer wissenschaftlichen Objektivität vorgestellt. Allerdings kann Kant umgekehrt auch begründen, dass die Wissenschaft nicht allein auf Tatsachen beruht, denn ohne Verstand würde kein Gegenstand gedacht, weil Anschauungen ohne Begriffe blind sind, wie er es weiter umschreibt. Die Untersuchung der reinen Vernunft ist gerade deshalb so revolutionär, weil sie zeigt, dass man sich auch von so einer Vorstellung
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2 Wie macht man Innovationen?
verabschieden muss, wie wissenschaftlich erwiesenen Tatsachen. Auch bei den Tatsachen sind somit ständig Innovationen möglich. Für seine Untersuchungen der reinen Vernunft entwickelt Kant das System der vier Prüfbereiche oder Kriterien der Epistemik aus quantitativen Tatsachen, qualitativem Verständnis, relativer Rechtfertigung und modalem Zufall. Diesen ordnet er jeweils wiederum drei Prüfmerkmale für wissenschaftliches Urteilen zu, also Kategorien für eine allgemeine wissenschaftliche Prüfung. Eine Sache kann auf ihre Qualität – also die Beschaffenheit – geprüft werden. Ein vernünftiges Urteil über die Beschaffenheit einer Sache kann dann entweder der Wirklichkeit entsprechen. Oder das Urteil kann der Wirklichkeit widersprechen. Oder es kann der Wirklichkeit eingeschränkt entsprechen. Die drei entsprechenden Kategorien der Vernunft für die Qualität einer Sache sind demnach real und somit wirklich – oder negativ und somit nichtig – oder limitiert und somit eingeschränkt. – Entsprechend lässt sich kategorisch bei einer Innovation fragen: Wie ist ihre Qualität beschaffen? Was gilt wirklich, was gilt nicht und was gilt nur eingeschränkt?
Eine Sache kann aber auch in Bezug auf ihre Quantität – also das Maß – geprüft werden. Ein vernünftiges Urteil über das Maß einer Sache kann dann entweder die Einzelheiten betreffen. Oder es kann die Gesamtheit betreffen. Oder es kann die Besonderheiten betreffen. Die drei Kategorien der Vernunft für die Quantität einer Sache lauten in diesem Sinne singulär und somit vereinzelt – oder total und somit insgesamt – oder speziell und somit in einem besonderen Maße. – Bei Innovationen kann man wiederum kategorisch fragen: Wie wird die Quantität gemessen? Was gilt im Einzelnen, was insgesamt und was im besonderes Maße?
Eine Sache kann dann noch in Bezug auf ihre Relation – also der Bedingung – geprüft werden. Ein vernünftiges Urteil über diese Bedingtheit bei einer Sache kann dann bestimmte Abhängigkeiten von anderen Sachen aufweisen. Oder es kann eine Ausschließlichkeit von bestimmten Sachen aufweisen. Oder es kann eine Eigenständigkeit von allen anderen Sachen aufweisen. Die drei Kategorien der Vernunft für die Relationen bei einer Sache sind demnach hypothetisch und somit abhängig von anderen Thesen – oder sie sind exklusiv und somit ausschließlich – oder eben kategorisch und somit eigenständig und doch zusammenhängend. – Bei einer Innovation kann man wieder kategorisch fragen: Welches sind die Relationen zu anderen Dingen? Wovon ist sie abhängig, welche Bedingungen lassen sich ausschließen und worin besteht das eigentliche Alleinstellungsmerkmal?
Eine Sache kann sonst noch auf ihre verschiedenen Modalitäten – also die Möglichkeiten – geprüft werden. Ein vernünftiges Urteil über die Möglichkeiten einer Sache kann sich dann aus einer direkten Bestätigung ergeben. Oder es kann sich aus einer Ableitung von anderen Urteilen ergeben. Oder es kann sich als Notwendigkeit ergeben, um etwas zu erreichen. Die Kategorien der Vernunft für die Modalitäten von Sachen sind daher assertorisch und somit bestätigt – oder sie sind apodiktisch und somit zwangsläufig – oder sie sind problematisch und somit trotzdem notwendig. – Schließlich kann man bei Innovationen auch kategorisch fragen: Gibt es noch gewisse Modalitäten für diese Innovation? Was bestätigt sie, woraus lässt sie sich ableiten oder wodurch wird sie notwendig?
2.3 Scientific Innovation
121
Qualität Kategorie
Kriterium
Modalität
Abb. 39:
Quantität
Urteil Relation
Das Prüfsystem der Vernunft nach Immanuel Kant
Gerade bei Innovationen liegen zu Beginn lediglich Ideen vor, die sich auf eine gewisse Vernunft gründen. Eine systemische Betrachtung von Kategorien genau dieser Vernunft trägt dazu bei, eine Innovationsidee zu prüfen, bevor sie tatsächlich als Prototyp geschaffen und wahrnehmbar wird. Zwar kann dann immer noch etwas Unvorhersehbares auftreten. Aber zumindest ist das Risiko dafür vermindert. Außerdem hilft eine solche Kategorisierung dabei, sich die verschiedenen Merkmale einer Entscheidung bewusst zu machen. Durch die systematische Vorgehensweise können wiederum Lücken des Unwissens aufgedeckt werden. Und so schließt sich wiederum der Zyklus des wissenschaftlichen Arbeitens an Innovationen: von der Überführung des Unwissens in das Bewusstsein bei der Elenktik – über den Trichter zwischen Gedanken und Wirklichkeit bei der Entelechie und über die Gewissheit für Gewusstes bei der Epistemik – schließlich zurück zu einer systemischen Betrachtung. Von dort aus lässt sich offenbar wiederum neues Unwissen erkennen. Auf diesem Kreislauf beruht folglich der Mechanismus, der für ein beständiges Entstehen von neuem Wissen und von Innovationen sorgt. Sicherlich ist der Zugang zu dieser reinen Gedankenwelt etwas schwer und der Sprachgebrauch vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Und sicherlich ist es erforderlich, die Begriffe immer wieder neu zu deuten und auf neue Gegebenheiten anzupassen. Die 12 Kategorien der Vernunft nach Kant sind insofern nur eine Art Steigbügel, um sich auf den Rücken der Wissenschaft zu schwingen – womit an dieser Stelle gleich das Beispiel einer erläuternden Metapher gebraucht wird, um eine solche Vernunftwahrheit weiterzuentwickeln. Als Innovationssysteme sind auch durchaus andere Aufstellungen denkbar als die von Kant verwendete. Und – wie zuvor bei den Erfolgsfaktoren für Innovationsprojekte – kann jedes Unternehmen auch hierfür eine ganz eigene Logik erstellen. Nachfolgend werden daher ein paar Beispiele angeführt, die für eine vollständige Darstellung eine ganz andere Anzahl von Kategorien verwenden: – Kategorische Dualismen sind in diesem Buch bereits bei den Erfolgsfaktoren von Invention und Diffusion vorgestellt worden. Neben der dabei genannten Aufteilung in Wirkung und Wirksamkeit, Effekt und Effizienz, Kenntnis und Erkenntnis bei Konfuzius, Anschauung und Begriff sowie Inhalt und Gedanke bei Kant, Ort und
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2 Wie macht man Innovationen?
Bewegung bei Heisenberg und schließlich Existenz und Essens bei Sartre lassen sich weitere solche Zweiteilungen anführen. In der chinesischen Kultur kennt man entsprechend noch Yin und Yang und in der indischen Kultur Prakriti und Purusha. René Descartes (1596–1650) gründet seinen Rationalismus auf einer Zweiteilung in Dinge mit einer Ausdehnung, die er als Res extensa bezeichnet, und in Dinge in unserem Denken, die er Res cogitans nennt. Genau wie zuvor Platon geht es hierbei um eine 2-Welten-Theorie aus Realen und Idealem, welche später Leibniz als Tatsachen- und Vernunftwahrheiten bezeichnet. Die Wissenschaft besteht demnach aus Prozessen der Induktion und Deduktion mit einem Erhaltungsprinzip und mit einem Zerstreuungsprinzip. Und Karl Marx (1818–1883) gründet seinen Materialismus entsprechend auf eine Unterscheidung in Sein und Bewusstsein. – Dreiwertige Kategorien oder Triaden sind in diesem Buch bereits bei der Machbarkeit von Projekten als Magisches Dreieck aus Zeit, Kosten und Effektivität vorgestellt worden. Und bei den zuvor geschilderten wissenschaftlichen Bestätigungen wurden die drei Welten von Popper genannt, die physischen Tatsachen, die psychische Vernunft und die logische Übertragung. Und damit erschließt sich auch die dreifache Bestätigung für Wissen im Theaithetos-Dialog von Platon mit der Wahrnehmung, dem Glauben und der Rechtfertigung. Ergänzen lassen sich beispielsweise die drei Wege für kluges Handeln von Konfuzius, welche aus leichtem Nachahmen, aus geschicktem Nachdenken und aus harten Erfahrungen bestehen. Auch die Enzyklopädie der Wissenschaft von Georg Hegel (1770–1831) baut auf einem verschachtelten System von solchen Triaden auf, das die Aspekte Natur, Geist und Logik nochmals in jeweils drei weitere Aspekte unterteilt, die wiederum jeweils über drei Aspekte verfügen.83 – Vierwertige Kategorien oder Quadrupel wurden in diesem Buch ebenfalls häufiger verwendet, beispielsweise für die Prinzipien des Managements nach Taylor und für die verschiedenen Phasen einer Diffusionskurve. Und beim wissenschaftlichen Arbeiten wurden die vier Stufen des Wissens – bzw. des Unwissens – genannt, als auch die vier Abschnitte im Trichter der Erkenntnis erklärt. Weitere Vierteilungen finden sich beispielsweise in den vier klassischen Elementen – Erde, Wasser, Luft und Feuer – sowie den vier klassischen Temperamenten – melancholisch, sanguinisch, phlegmatisch und cholerisch. – Weitere mehrwertige oder multiple systemische Einteilungen wurden in diesem Buch bereits verwendet, um die Verwendung des Innovationsbegriffs zu erläutern oder um die Einflussfaktoren der Machbarkeit von Innovationsprojekten zu bestimmen. Weiter kennt man in der Wissenschaft beispielsweise noch die Theorie der Monade von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), die sogenannte mathematische Idealität der Zahl Sechs in der Mathematik, die sieben Maße des internationalen Systems (SI) der physikalischen Einheiten oder die Rechengesetze der üblichen Dezimalrechnung. Die Aufteilung von Systemen kann also offenbar ganz unterschiedliche Ausmaße oder Dimensionen annehmen. All diese Einteilungen können auch auf ein Innovationssystem übertragen werden, um sich Unwissen bewusst zu machen und neues Wissen zu schaffen. Oft wird in den dabei verwendeten Zahlen noch eine verborgene, geheimnisvolle, wunderbare oder besondere Macht vermutet. Allerdings dient eine Einteilung wissenschaftlich eher nur als Hilfsmittel für die Organisation selber und stellt keine neue eigenständige Erkenntnis dar.
2.3 Scientific Innovation
123
Oft bevorzugen sogenannte Pragmatiker ein spontan aus-der-Luft-gegriffenes System mit der Begründung, dass eine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Denken unpraktisch – und folglich unnütz – sei. Lieber entwickeln sie für jedes Innovationsprojekt und für jede Unternehmenskultur eine eigene Fachsprache, um die jeweiligen Entscheidungen und Urteile zu begründen. Die Lücken im System werden dann durch pragmatisches Management entdeckt und das Wissen mit viel Fleiß und viel Frust geschaffen. Auch das kann funktionieren, gerade weil die Gedanken frei sind und die Wissenschaft stets auch einen Spielraum für neue Entdeckungen und Erfindungen bietet. – In der Verhaltensökonomik ist es wissenschaftlich durchaus strittig, ob bei der Analyse eines Systems die Kategorien für Entscheidungen von Experten oder Laien festgelegt werden sollen. Denn die Auswahl von Kategorien ist stets subjektiv von den Erfahrungen beherrscht und genügt somit selbst nicht den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Objektivität. Beispielsweise sind Erfahrungen von Experten stärker von Extremen und Ausnahmen beeinflusst, welche allerdings in den meisten Fällen vernachlässigbar sind.84 Allerdings ist eine Kategorisierung die denkbar beste Methode, um zu wissenschaftlich belastbaren Aussagen zu gelangen. Lektion 21:
Die Kategorien eines Innovationssystems ermöglichen eine Übersicht!
Übung 21: Machen Sie sich zunächst bewusst, nach welchen Kategorien Sie üblicherweise Ihre Entscheidungen fällen! Schreiben Sie diese auf und beurteilen Sie danach eine frei gewählte Innovation! Erstellen Sie anschließend dafür eine Beurteilung mit den Kategorien von Kant! Wählen Sie schließlich ein weiteres Beurteilungssystem aus, das Sie spontan interessiert, und ergründen Sie mit einer kurzen Literaturrecherche dessen Kategorien! Welche weiteren Erkenntnisse können Sie für das Thema gewinnen, wenn Sie es in diesem System beurteilen?
3
Wie (er-)findet man Innovationen?
„Ich suche nicht, ich finde!“ Dieser Spruch wird dem Maler Pablo Picasso (1881–1973) zugeschrieben und beinhaltet somit eine wohl eher künstlerische Auffassung vom Erfinden. Dagegen erwartet man von professionellem Innovationsmanagement auch bei der Suche ein gewisses Bemühen und eine gewisse Geschicklichkeit. Ein Innovationsmanager sucht an bestimmten Stellen auf bestimmte Weise, um dort bestimmte Neuerungen zu finden. Dabei überschneiden sich seine Aufgaben allerdings auch mit anderen Managementaufgaben: – Beispielsweise kann das Management von Projekten zu Erfindungen führen, auch wenn diese ursprünglich nicht geplant waren. Denn selbst wenn es sich nicht direkt um Innovationsprojekte handelt, werden im Allgemeinen bei Projekten erstmalig Dinge realisiert. Und diese können eine Erfindung beinhalten. – Grundsätzlich führt auch das Management von Forschung und Entwicklung – FuE oder R&D für Research and Development – zu Erfindungen. Denn es werden dabei Dinge entdeckt oder entwickelt, die eine technische Neuerung enthalten und eine Erfindung darstellen können. – Auch das Management von Produktionsprozessen kann zu Erfindungen führen. Denn es werden dabei technische Abläufe verbessert, die oftmals einen erfinderischen Anteil enthalten. – Erfindungen entstehen ebenfalls durch Qualitätsmanagement. Denn dabei werden Fehler auf findige Weise beseitigt, womit in der Regel auch eine erfinderische Leistung verknüpft ist. Das Erfinden gehört demnach nicht zur exklusiven Aufgabe eines Innovationsmanagers. Außerdem gibt es durchaus Innovationen ohne eine Erfindung im patentrechtlichen Sinn. Daher wird das Innovationsmanagement manchmal allein als ein Teil der Wirtschaftswissenschaften aufgefasst. Und in diesem Sinne befassen sich die Innovationsmanager vorwiegend mit der Verbindung von Geschäftsideen mit Anwendungsideen. Eine Innovation stellt in diesem Bezug vorwiegend eine Investition in einen neuen unternehmerischen Nutzen dar. In einem solchen Fall beschränkt sich die Rolle des Innovationsmanagers auf die Verbreitung der Innovation am Markt, um eine Rendite zu erwirtschaften. Allerdings stellt eine Invention immer eine notwendige technische Leistung dar, um eine Idee zur verwirklichen und letztlich den Innovationspreis zu rechtfertigen. Daher gehören zu einer Innovation zumindest eine gewisse technische Kenntnis und Findigkeit bei der Ausführung. Folglich stellen auch das Aufspüren und das Auswerten von technischen Erfindungen wichtige Aufgaben für einen Innovationsmanager dar. Vereinfacht dargestellt, besteht eine Erfindung aus der Verbindung von Ideen mit Fakten, wie zuvor bereits für das Scientific Innovation ausgeführt wurde. Das deutsche Patentrecht unterscheidet dabei inhaltlich zwischen Patenten, Gebrauchsmustern, Geschmacksmustern, Markenzeichen und Urheberrechten.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
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Patente beinhalten eine neuartige Anwendung von Techniken oder deren technische Kombination, wie ein neuartiger chemischer Werkstoff, eine neuartig konstruierte Maschine oder ein neuartiger Produktionsprozess. Gebrauchsmuster beinhalten eine neuartige Anwendung von bekannten Techniken oder deren Nutzung für eine neue Funktion, wie die Verwendung eines Werkstoffs, einer Maschine oder eines Prozesses zu einem neuen Zweck. Geschmacksmuster beinhalten einen neuartigen Eindruck von Produkten oder deren besondere ästhetische Anmutung, wie die zwei- oder dreidimensionale Erscheinung eines Erzeugnisses und dessen Wirkung auf die Wahrnehmung. Markenzeichen beinhalten eine neuartige Bezeichnung oder deren symbolische Darstellung, wie ein Namen oder eine grafische Darstellung einer Ware, eines Unternehmens oder einer Dienstleistung. Urheberrechte beinhalten eine neuartige geistige Leistung oder deren künstlerische Ausarbeitung, wie ein geschaffenes Werk durch Wort, Bild oder Gegenstand. Diese Urheberrechte bestehen sogar zunächst auch inhaltlich als Rechte am geistigen Eigentum, noch bevor eine formelle Erklärung der Urheberschaft erfolgt ist.
Somit ist eine bloße Idee noch keine Erfindung. Und jemand mit einer Idee ist noch kein Erfinder, sondern zunächst lediglich ein Urheber. Die Idee für eine Anwendung erhält auch dann noch kein Patent, wenn sie besonders schön, klar, einleuchtend und als nützlich beschrieben wird, sondern vielleicht ein Geschmacks- oder Gebrauchsmuster oder Markenzeichen. Eine Erfindung ist immer mit einer technischen Leistung verbunden, die darin besteht, die faktische Ausführbarkeit der Idee zu beweisen. Neben der Anwendungsidee bedarf es daher auch entsprechender Ausführungsideen. – Beispielsweise beruhen Erfindungen auf dem allgemein anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik. Selbstverständlich ergeben sich fantastische Möglichkeiten, wenn man diesen Rahmen überschreitet. Mit Überlichtgeschwindigkeit könnte man durchs Weltall reisen, mit Antimaterie unendliche Energiemengen erzeugen, mit exotischen Materialien extremen Belastungen standhalten und über einen Hyperraum alles zeitgleich erreichen. Das alles kann man beschreiben, aber eben nicht ausführen. Und eine Offenbarung, die nicht ausführbar ist, bekommt dann kein Patent zugesprochen, sondern gegebenenfalls ein geistiges Urheberrecht. Im Streitfall wird dies durch die übliche rechtliche Gewissheit von Indizien, Motiven und von Zeugenaussagen bestätigt.
Die umgekehrte Verbindung – von Fakten mit Ideen – stellt allerdings zunächst auch keine Erfindung dar, sondern entspricht wohl eher einer Entdeckung. Wenn neue Tatsachen entdeckt werden und zu einem neuen theoretischen Verständnis führen, handelt es sich lediglich um einen Befund. Und die Befundung einer Tatsache stellt keine Erfindung im eigentlichen Sinne dar, weil die Fakten doch offenbar vorher bereits vorhanden waren. Denn alle bestehenden Dinge gelten als bereits erfunden, auch wenn ihre Existenz oder Anwendbarkeit bisher noch nicht entdeckt wurde. Das Auffinden einer neuen Tatsache oder das Übertragen auf eine neue Anwendung kann zwar auch recht nützlich und sogar innovativ sein für den Gebrauch oder den Geschmack. Aber eine Erfindung ist in diesem Sinne immer mit der schöpferischen Leistung verbunden, eine denkbare Vorstellung in der Welt erstmalig zu verwirklichen.
3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
127
Beispielsweise sind natürliche Dinge und Naturgesetze grundsätzlich nicht patentierbar. Es gibt kein Schutzrecht für die Verwendung von Steinen, Erdöl, Uran oder die Luft zum Atmen. Und es gibt auch keines für die Schwerkraft, die Kernspaltung, Schwarze Löcher oder elektromagnetische Wellen. Die natürlichen Dinge dieser Welt sind als gegeben vorausgesetzt und ihre Anwendung gehört zu den Grundrechten jedes Menschen.
Allerdings ist es mitunter möglich, eine Entdeckung auch als eine Erfindung darzustellen. Denn eine Entdeckung kann auch zu Ideen für neue Anwendungen führen. Diese Folgerung lässt sich dann logisch umkehren und die Anwendung an den Anfang setzen, zu der dann die Entdeckung passt. – Beispielsweise wirken Medikamente oft genau deswegen, weil sie bereits natürlich im menschlichen Körper vorhanden sind. Und die pharmazeutische Forschung besteht oft darin, solche Wirkmechanismen zu entdecken und dann einen entsprechenden Wirkstoff herzustellen. Nur die Herstellung des Wirkstoffs wäre somit eine Erfindung, nicht der Wirkstoff selbst. Allerdings kann man dies auch in einer Beschreibung so formulieren, dass zunächst eine Idee für eine Wirkung vorlag, für die dann ein entsprechender Wirkstoff faktisch ausgeführt wurde. Ähnlich erfolgt die Argumentation auch für die Erfindungen aus dem Bereich der Bionik, wenn technische Produkte aus biologischen Gegebenheiten inspiriert wurden. Und in jüngerer Zeit hat es neue Diskussionen zu Patenten aus der Genetik gegeben, wenn bestimmte Funkionen im Erbgut von Pflanzen, Tieren oder Menschen entdeckt werden.
Ein Patent wird schließlich für die schriftliche Offenbarung einer Erfindung erteilt.85 Zwar ist die Ausführung einer Idee eine Erfindung, aber sie genießt zunächst noch keinen Rechtsschutz. Denn die Erfindung muss auf einem festgelegten Rechtsweg offenbart und dadurch bestätigt werden. Und der Inhaber eines Patents ist dann nicht unbedingt der Erfinder, sondern heutzutage meist das Unternehmen, das die Erfindung anwenden will und den rechtlichen Aufwand betrieben hat, die Erfindung zu formulieren und anzumelden. In diesem Sinne ist ein Patent immer mit einer schriftlichen Leistung verbunden, welche einer bestimmten rechtlichen Logik folgt. Neben der Anwendungs- und der Ausführungsidee wird somit bei einem Patent auch eine Geschäftsidee benötigt. Eine gewerbliche Nutzung von Patenten ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben. Aber ein Patent ist mit Kosten verbunden, um es rechtssicher anzumelden und zu verteidigen. Und es werden zunehmende Gebühren fällig, je länger es aufrechtgehalten wird. Daher ergibt sich ein gewisser ökonomischer Zwang zur gewerblichen Nutzung der Investition. – Beispielsweise werden Patente nur für einen bestimmten Zeitraum erteilt und können danach von anderen Unternehmen frei genutzt werden, wie das Auto, das Streichholz, das Radio oder ein Generika-Medikament. So erfand der wohl berühmteste Erfinder Thomas Alpha Edison am Ende des 19. Jahrhunderts bereits ein Gerät, um nichtmagnetische Metalle aus einem Gemisch abzutrennen, den sogenannten Eddy-Current-Separator oder Wirbelstromscheider. Allerdings waren die dazu benötigten Magnetwerkstoffe für einen wirtschaftlichen Betrieb damals noch nicht vorhanden, sondern wurden erst 1988 erfunden. Zu dieser Zeit stand das Prinzip der Wirbelstromscheider aber bereits zur freien Verfügung und konnte nicht mehr patentrechtlich beansprucht werden. Entsprechend wird auch für das Rad, das Feuer, die Schrift oder den Schuh kein Patent mehr erteilt, weil ihre Ausführung doch offenbar bereits allgemein und seit langer Zeit bekannt ist.
128
3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Und demzufolge wird ein Patent auch dann verweigert, wenn die Erfindung vor der Beantragung eines Schutzrechts öffentlich bekannt geworden ist. Daher unterliegen gewerbliche Patentierungen einer gewissen Geheimhaltung und Vertraulichkeit. Dies stellt häufig einen Konflikt bei der Patentierung dar. Denn zur Ausführung einer Idee wird oft die Unterstützung von weiteren Erfindern benötigt. Und es kann durchaus ein Streitpunkt sein, ob die Rechte der Erfindung dann beim Urheber der Idee, bei den Findern der Ausführung oder beim Anwender und Anmelder liegen. Das Patentrezept für eine Patentanmeldung lautet also schlicht: Man nehme erstens die Idee für eine Anwendung und zweitens ihre Ausführung, die man drittens in einer Beschreibung gegenüber der Patentbehörde offenbare. Das klingt doch einfach genug und entspricht den zuvor genannten wissenschaftlichen Faktoren einer Innovation bei der Epistemik, wenn die Anwendung glaubwürdig ist, die Ausführung wahrnehmbar und das Geschäft gerechtfertigt erscheint.
gerechtfertigte
Geschäftsidee
Patent Erfindung
Abb. 40:
Der grundsätzliche Ideenbedarf für eine patentierbare Erfindung
Insofern stellt das Management von Patenten auch eine Aufgabe dar, die für Innovationen bedeutsam ist. Und wiederum gehört die Patentierung nicht zu den eigentlichen Aufgaben eines Innovationsmanagers, sondern macht eine aufwendige Schulung oder Ausbildung zum Patentberater oder Patentanwalt erforderlich. Eine Erfindung wird also durch viele Interessen bestimmt und ist oftmals Anlass für Irrtümer, Verwirrung und Streitigkeiten. Wieder besteht demnach eine Art Magisches Dreieck für ein Patent, in der sich Ideen zur Anwendung, zur Ausführung und zur geschäftlichen Anmeldung wechselseitig bedingen. Und die Aufgabe des Innovationsmanagements besteht dabei wieder in der Integration dieser Aufgabe in den gesamten Innovationsprozess aus Projekt, Marketing und Wissenschaft.
3 Wie (er-)findet man Innovationen? Lektion 22:
129
Das Patent auf eine innovative Erfindung beruht auf einer Anwendungsidee mit passenden Ausführungsideen sowie entsprechenden Geschäftsideen!
Übung 22: Beschreiben Sie eine Erfindung! Falls Sie gerade keine eigene Idee vorliegen haben, nehmen Sie etwas Bestehendes, beispielsweise einen Korkenzieher, und stellen Sie sich vor, wie Sie eine Erfindung dafür beschreiben würden! Welche Anwendungen gibt es dafür? Und wie werden diese Anwendungen bisher erfüllt, d.h. ohne die Erfindung? Wie ist die Erfindung ausgeführt? Und was ist an der Ausführung besonders originell? Erstellen Sie eine Rangordnung der verschiedenen Aspekte der Ausführung! Welche Aspekte an der Ausführung sind für die Anwendung besonders wichtig? Und welche Aspekte lassen sich zusätzlich oder stattdessen auch ausführen? Erstellen Sie ein konkretes Beispiel für die Erfindung! Skizzieren Sie das Beispiel und markieren Sie in der Skizze die einzelnen Merkmale! Beschreiben Sie die Wirkung oder das Funktionieren des Beispiels! Leiten Sie daraus den Nutzen und die wirtschaftlichen Vorteile für das Beispiel ab! Fassen Sie dann die gesamte Beschreibung nochmals zusammen! Erstellen Sie die Zusammenfassung unbedingt erst NACH der Beschreibung der Anwendung, der Ausführung und des konkreten Beispiels! Suchen Sie unter www.depatis.dpma.de nach besonderen Stichworten aus der Beschreibung und vergleichen Sie ausgewählte Schriften!
130
3.1
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Erfindungen durch Problemlösungen
„Alles Leben ist Problemlösen“, so lautet eine Lebensweisheit von Karl Raimund Popper (1902–1994), einem der bedeutendsten Logiker des 20. Jahrhunderts.86 Und es scheint durchaus auch angebracht, diesem Motto zu folgen, wenn man sich auf die Suche nach Erfindungen begibt. Denn Innovationen bestehen laut der ersten Lektion aus Absichten, für die es noch keine Entsprechungen in der Welt gibt. Und das Finden von solchen Entsprechungen für menschliche Absichten stellt ein grundsätzliches Problem dar, welches unser Leben bestimmt. Denn jede Absicht enthält an irgendeiner Stelle ein Problem. Dieser Begriff bedeutet wörtlich Entgegenwurf – im Sinne eines Gegensatzes oder Widerspruchs zur Wirklichkeit. Probleme bestehen also nie direkt, sondern nur immer indirekt. Diesen Umstand hört man bereits sprachlich heraus, weil zunächst nie ein Problem selbst benannt werden kann, sondern nur „ein Problem mit“ irgendetwas. Dieses Irgendetwas ist dann das physisch wahrnehmbare Objekt der Absicht. Und das Problem besteht aus allem, was einer Verwirklichung oder Objektivierung dieser Absicht im Wege steht.
gerechtfertigte
Geschäftsidee
Problem Objekt Absicht
Abb. 41:
Eine Problemstellung als Widerspruch zwischen vernünftiger Absicht und wahrnehmbarem Objekt
Eine Erfindung besteht demnach grundsätzlich aus der Überwindung eines Widerspruchs zwischen einer Absicht und deren Objektivierung. Denn lediglich im Entdecken und Bekunden einer Absicht steckt noch keine Erfindung, solange sich diese nicht verwirklichen lässt. Und eine Absicht, für die bereits eine verwirklichte Lösung besteht, ist auch keine Erfindung. So kommt es auch immer wieder vor, dass die Lösung für ein derartig gedachtes Problem wiedererfunden wird. Das mag vielleicht für die Absicht durchaus hilfreich sein, ist aber
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
131
doch nicht mehr originell, also ursprünglich und somit urheberrechtlich patentierbar. Das ist dann recht häufig die Ursache von Enttäuschungen. Erstaunlich scheint es, dass bis heute keine wissenschaftliche Theorie für Probleme existiert, trotz dieser zentralen und wohlbekannten Bedeutung für den Fortschritt. Dies mag damit zusammenhängen, dass bereits eine Festlegung schwerfällt, was überhaupt ein Problem genau ist. Denn als Gegensatz scheint zunächst nur klar zu sein, was ein Problem nicht ist. Probleme ergeben sich im wissenschaftlichen Sinne des zuvor dargestellten Scientific Innovation rein heuristisch, also in unmittelbarem Zusammenhang – oder besser Widerspruch – mit tatsächlichen Erscheinungen. Wie zuvor das Innovationsdesign, so entstehen konkrete Problemlösungen aus Prozessen, die stets einen direkten Bezug zu den subjektiv erkennbaren Tatsachen aufweisen. Dies kann mithilfe von vier Prozessschritten erfolgen. 1.
Die Identifikation von Problemen „Problem erkannt – Problem gebannt!“ ist ein eingängiger Spruch zum Auffinden von Problemen. Tatsächlich steckt in der Problemfindung bereits eine erste Herausforderung. Denn die wirklichen Probleme erscheinen selten offen und klar, sondern sind meistens versteckt in der sogenannte „Tücke des Objekts“, wie es heißt. Die erste und instinktive Vorgehensweise von Menschen besteht dann in der Objektivierung des Widerspruchs. Jeder, der einmal versucht hat, das Klappern bei einem Fahrzeug zu beseitigen, weiß, wovon hier die Rede ist. Durch Überprüfung der faktisch erkennbaren Merkmale wird versucht, den Widerspruch offensichtlich und somit dingfest zu machen. – Formal werden dazu in einer Reihe die erkennbaren Merkmale zu einem konkreten Objekt notiert, beispielsweise das Gewicht, die Länge, die Leistung, die Festigkeit, die Form oder die Farbe. Dann wird nach und nach geprüft, ob das jeweilige Merkmal eine Auswirkung auf die Absicht hat, beispielsweise den Energieverbrauch eines Fahrzeugs oder die Attraktivität eines Angebots beim Kunden – oder schlicht ein störendes Klappern. Die Farbe ist demnach wohl kaum geeignet, den Energieverbrauch zu beeinflussen, wohl aber die Attraktivität im Verkauf. Dagegen beeinflusst das Gewicht des Fahrzeugs den Energieverbrauch, aber wohl kaum das Kundeninteresse – es sei denn, der Kunde ist sehr interessiert am Energieverbrauch und weiß, dass dafür das Gewicht zu berücksichtigen ist. Tatsächlich beruht eine Schwierigkeit in der Problemidentifikation darauf, dass die offensichtlichen Probleme verdeckt oder überlagert werden von anderen Merkmalen. So kann das besagte Klappern zwar eine Folge der Leistung, der Festigkeit oder der Form sein. Aber oft ist ein Problem nur die Folge eines anderen oder von weiteren Problemen, wie des Gewichts. Daher ist meist die Gefahr groß, sich in den Verflechtungen und Verstrickungen von zusammenhängenden Effekten zu verirren und zu verlieren. Aus diesem Grund ist es ratsam, zunächst bei den offensichtlichen Problemen zu bleiben – also bei denen, die wirklich stören. – Bei dem Paarweisen Vergleich wird beispielsweise in einer Tabelle die Abhängigkeit oder das jeweilige Konfliktpotenzial zwischen Absichten und Objektmerkmalen notiert. Relativ unabhängige Merkmale sind wohl kaum geeignet, um ein Problem zu bestimmen. Und relativ konfliktfreie Zusammenhänge zwischen den Merkmalen stellen wohl auch kein echtes Problem dar. Dagegen sind starke Abhängigkeiten ein recht zuverlässiges Anzeichen für eine damit verbundene Problematik. Und konfliktträchtige Zusammenhänge werden mit großer Sicherheit in absehbarer Zeit zu
132
3 Wie (er-)findet man Innovationen? einem Problem. Auf diese Weise erhält man bereits eine erste Auswahl von Problemen.
Objektmerkmale
Absichten
Gewicht Energieverbrauch Attraktivität Klappern
Abb. 42:
2.
Länge
Leistung
Festigkeit
Form
Farbe
Zum paarweisen Vergleich bei der Identifikation von Problemfeldern
Die Priorisierung der identifizierten Probleme „Löse ein Problem und es bleiben dir hunderte erspart!“ Dabei handelt es sich um einen weisen Spruch aus China, der auf die Auswahl von Problemen zutrifft. Tatsächlich gibt es Probleme, die recht schwerwiegende Auswirkungen haben. Aber es gibt auch eine ganze Menge von Problemen, welche der Mühe nicht wert scheinen. Daher besteht eine Herausforderung darin, genau die wichtigen Probleme vorab zu erkennen. Allerdings ist wiederum die Bedeutung von „wichtig“ nicht klar gefasst, sondern kann unterschiedlich ausfallen. – Beispielsweise kann es wichtig sein, wie bedeutsam die Auswirkungen eines Problems sind. Oder es kann wichtig sein, wie häufig das Problem auftritt und wie lange es dauert. Oder es kann wichtig sein, wie schwierig es ist, ein solches Problem überhaupt zu entdecken. Und meist ist es eine Kombination von zwei oder drei Kriterien, die ein Problem als wichtig erscheinen lassen. Wie bereits bei der Identifikation von Problemen besteht eine einfache Vorgehensweise darin, diese verschiedenen Merkmale der Wichtigkeit in einer Reihe zu notieren und dann aus dieser Übersicht eine Reihenfolge festzulegen. – Bei einem Pareto-Vergleich wird der Bedeutung von jedem Merkmal ein Wert für das Problem zugeordnet, beispielsweise wie bedeutsam, wie häufig oder wie verdeckt ein Problem wirkt. Vilfredo Pareto begründete 1897 das Prinzip, dass bereits einige wenige Merkmale ausreichen, um einen großen Teil der Auswirkungen zu erfassen. Solange diese Merkmale unabhängig voneinander sind, gilt dieses Prinzip sogar für eine zufällige Auswahl von Merkmalen und ist somit skaleninvariant. Diese Skaleninvarianz bezeichnet eine Unveränderlichkeit des Ergebnisses vom Bewertungsschema – natürlich nur, solange man bei dem gleichen Schema bleibt und nicht von Fall zu Fall die Kriterien der Skala wechselt. Daher erlaubt es bereits eine rein zufällige Auswahl von Merkmalen, ein Problem zu priorisieren, ohne es vollständig analysieren zu müssen. Zwar wird die Analyse genauer, je umfangreicher die Auswahl ist. Aber die grobe Struktur der Verteilungskurve bleibt dabei unverändert. In typischer Weise erfolgt dann eine Beschränkung auf etwa 20 Prozent der Probleme. Und nach einer Faustregel werden durch diese bereits etwa 80 Prozent
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
133
der wichtigen Probleme erfasst. Daher ist ein Pareto-Vergleich auch als 80/20-Regel bekannt.
Schätzwerte
Priorität
Problemfelder Abb. 43:
3.
Pareto-Vergleich der Problemfelder aufgrund verschiedener Schätzwerte
Die Exploration der priorisierten Probleme „Ein Problem zieht mehrere nach sich!“ So könnte in einem weiteren Spruch der Umgang mit Problemen zusammengefasst werden. Denn die Absicht, ein Problem zu lösen, kann selbst ein Problem darstellen, weil dieser Absicht wiederum Merkmale entgegenstehen. Und auch die Lösungen dieser Probleme können selbst wiederum zu einer nächsten Quelle von weiteren Problemen werden. In einer Kaskade von Problemen entwickelt sich recht schnell bald eine unübersehbare Vielfalt. Wer sich also einmal auf die Suche nach den möglichen Problemen gemacht hat, dem droht es bald, darin zu ersticken. Diese zunehmende Problematisierung einer Absicht durch eine immer weitere Suche nach Ursachen entspricht der zuvor beschriebenen Elenktik. – Beispielsweise werden zunächst die Wechselwirkungen der bereits erkannten Merkmale für die Identifikation von Problemen bewertet. Dieser Paarvergleich entspricht dem dort genannten Paarweisen Vergleich mit dem Unterschied, dass die Merkmale und die Absichten sich nun entsprechen. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, welche Rolle ein Merkmal im gesamten Zusammenhang spielt, wie das Gewicht für die Leistung. Meist erkennt man bereits intuitiv, welche Merkmale besonders treibend sind oder welche besonders träge erscheinen. Dieses Prinzip wird später genauer bei den Trendfaktoren erläutert. – Darüber hinaus können auch neue Merkmale in Erscheinung treten, die zuvor noch nicht als solche erkannt wurden. In diesem Fall ergibt sich wieder die Möglichkeit zu einem Paarweisen Vergleich, um neue Problemfelder zu entdecken. Letztlich werden dabei die Merkmale auf grundlegende Ursachen eines technischen Systems zurückgeführt, die eine Art elementaren Charakter aufweisen. Typische Ursachen betreffen beispielsweise die Stoffeigenschaften, die Anordnung im Aufbau, der zeitliche Ablauf, die mechanischen, elektrischen, magnetischen, optischen, thermischen
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? oder chemischen Effekte, die Kopplung verschiedener Effekte, die Versorgung mit Stoffen oder Energie, die Vibrationen, die Alterung oder Verwitterung oder die Wiederholbarkeit eines Vorgangs. Und dieses Prinzip wird später genauer bei den Technischen Parametern erläutert.
Maßnahme
Problemfelder
Ursachen Absicht
Abb. 44:
–
4.
Ishikawa-Diagramm für eine Absicht Die Problemfelder der Absicht führen über grundlegende Ursachen zu den einzelnen Maßnahmen
Bei einem Ishikawa-Diagramm wird versucht, eine Reihenfolge von ursprünglichen Ursachen über die Problemfelder zu der eigentlichen Absicht darzustellen. Kaoru Ishikawa beschrieb um 1940 diese Möglichkeit der Aufschlüsselung und Visualisierung einer Problematik. Einerseits verästeln sich die Absichten bei der Suche nach einem Ansatzpunkt für die Lösung immer weiter bis zu einer direkt beeinflussbaren Ursache. Andererseits bündeln sich die Ursachen zu Problemfeldern und weiter zur eigentlichen Absicht. Wenn zusätzlich noch die konkreten Maßnahmen zur Beeinflussung einer Ursache aufgezeichnet werden, so verästeln sich die Beziehungen wie bei einem Baum. Daher gibt es eine Fülle von Bezeichnungen für diese Darstellung, wie Fischgräten-, Baum-, Kausalitäts- oder Ursache-Wirkungs-Diagramm sowie die Entsprechungen im Englischen. Und eine Untersuchung startet meist bei den Problemfeldern 4M als Mensch, Maschine, Material, Methode oder auch den 8M erweitert um Messung, Management, Money und Milieu.
Die Reflektion der explorierten Probleme „Jedes Problem hat zwei Seiten: die Unsrige und Falsche!“ So lautet schließlich eine bekannte Volksweisheit zum Umgang mit Problemlösungen. Dahinter steht wohl die leidvolle Erfahrung, wie sehr sich die Problematiken von verschiedenen Menschen und Interessengruppen unterscheiden können. Entsprechend vorsichtig sind die Ergebnisse aus einem Problemlösungsprozess zu betrachten. Und ein recht einfaches Mittel dazu ist die Reflexion und Revision, also Spiegelung und Neubetrachtung, des gesamten Ablaufs. Auch solche Schritte sind den meisten Menschen grundsätzlich vertraut und werden bei jedem einzelnen Schritt meist beachtet. Allerdings erscheint es oft zu aufwendig, abschließend den gesamten Prozess nochmals zu durchlaufen. – Beispielsweise werden einzelne Fortschritte zur Überwindung eines Problems untersucht, indem eine bestimmte Maßnahme ergriffen wird, welche die Ursache eines
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
–
135
Problemfelds beeinflusst. Die dadurch erzeugten Veränderungen werden ermittelt und – je nach Erfüllung der Absichten – gilt das Problem als gelöst, also die Problemlösung als gefunden. Falls die Absichten aber nicht erfüllt wurden, wird ein erneuter Versuch unternommen, nun mit anderen Maßnahmen zum Ziel zu kommen. Diese Vorgehensweise wird mit dem Begriff Trial-and-Error, also Versuch und Irrtum, bezeichnet und verspricht im Erfolgsfall eine schnelle Lösung – aber im Fall von Misserfolg eine endlos erscheinende Abfolge von Enttäuschungen. Bei einem Regelkreis werden dagegen nach und nach die einzelnen Fortschritte ermittelt und überdacht. Mit diesem sukzessiven, also schrittweisen, Vorgehen ist eine ständige Kontrolle und Überlegung der angestrebten Problemlösung verbunden. Dies beruht auf der Ansicht, dass eine Problemlösung von einer Lernkurve begleitet wird, in der die menschliche Kompetenz zur Identifikation, Priorisierung und Exploration mit der jeweils gewonnenen Erfahrung ansteigt. Die menschliche Fähigkeit zum Erkennen und Verstehen von Problemen ist demnach ein wesentliches Hilfsmittel, um Erfindungen aus Problemlösungen abzuleiten.
Absicht
Identifikation
Problemfelder
Priorisierung
Problem
Exploration
Lösung
Reflexion Abb. 45:
Ein Regelkreis für eine Prozessanalyse zur Problemlösung
Diese Art von systematischer Problembehandlung mithilfe eines Regelkreises ist nicht nur auf Erfindungen im Innovationsmanagement beschränkt. Wie bereits angesprochen, findet hier eine Überschneidung mit anderen Managementaufgaben statt. Beispiele für solche Regelungen sind zuvor bei den Innovationsphasen beschrieben als Meilensteine im Projektmanagement, Quality Gates im Produktmanagement, Stage Gates im Innovationsmanagement oder auch als DMAIC im Prozessmanagement oder als PDCA im Qualitätsmanagement. Lektion 23:
Eine innovative Erfindung besteht aus der Lösung eines Problems!
Übung 23: Untersuchen Sie ein beliebiges Thema, beispielsweise ein technisches Produkt, einen betrieblichen Prozess, einen Vertriebsweg oder eine Organisation! Identifizieren Sie zunächst die Problemfelder! Wie verhalten sich die objektiven Merkmale zu Ihren Absichten? Was können Sie beeinflussen? Verwenden Sie den Paarweisen Vergleich zur systematischen Untersuchung! Priorisieren Sie dann die gefundenen Probleme! Was steht jeweils der jeweiligen Absicht entgegen? Wie wichtig scheint ein Problem und wie schwierig seine Lösung? Verwenden Sie den Pareto-Vergleich zur quantitativen Untersuchung! Explorieren Sie die wichtigsten Probleme!
136
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Worauf beruhen die Ursachen für diese Problemstellungen? Wie wirken sich die Ursachen auf das Problem aus? Verwenden Sie das Ishikawa-Diagramm für eine Übersicht! Reflektieren Sie dann jeweils diese Einfälle! Erproben Sie die Auswirkungen von Maßnahmen auf die Problemlösung! Was erscheint Ihnen nun neuartig und vielversprechend? Verwenden Sie einen Regelkreis zur experimentellen Untersuchung! Und achten Sie auf insgesamt auf Ihre Lernfortschritte für diese Problematik! Prüfen Sie die Originalität des Einfalls in der Literatur oder unter www.depatis.dpma.de!
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
3.1.1
137
Die Qualitätsprobleme
Das Wort Qualität bezeichnet die Beschaffenheit einer Sache, die somit auch objektiv erfassbar sein sollte. Mit der Einschränkung von Problemen auf die Qualität erfolgt daher eine Konkretisierung des allgemeinen Problembegriffs. Denn ein Grundsatz des Qualitätsmanagements lautet, dass man nur etwas qualitativ erfassen kann, was man auch irgendwie messen kann. Umgekehrt hat somit jede Sache, die in einem Unternehmen von Wert ist, auch ein Maß. Und dieses Maß hat demzufolge eine Qualität, die sich wiederum feststellen lässt. In diesem Kettenschluss sind Probleme bereits dadurch festgelegt, dass sie einem Wert oder einer Bewertung entgegenstehen. Solche Probleme werden bei einer schlanken Unternehmensführung mit dem japanischen Wort Muda bezeichnet, was Verschwendung bedeutet. Und diese Beseitigung einer Verschwendung entspricht einer erfinderischen Leistung für das Problem. Daher ist ein gutes Qualitätsmanagement für ein Unternehmen gewissermaßen eine Art von Motor für die Erfindung von Problemlösungen. Eine Qualitätsverbesserung hilft dabei, die Unternehmenswerte zu steigern und eine Verschwendung auf innovative Weise zu beseitigen. Und im Unterschied zu den zuvor genannten allgemeinen Problemen kann man dabei auf wissenschaftliche Theorien zur Qualität zurückgreifen. Der Problemlösungsprozess lässt sich somit anhand verschiedener Qualitätskriterien systematisch bearbeiten.
Die Genauigkeit stellt ein solches Kriterium für Qualität dar. Denn ein wesentliches Qualitätsziel von Unternehmen besteht darin, einen bestimmten Zustand zu reproduzieren oder einen bestimmten Wert bei einer bestimmten Prüfung zu erreichen. Diese Qualität kann mithilfe statistischer Methoden ermittelt werden. Und Probleme sind gegeben, wenn die Messwerte außerhalb einer wirtschaftlich vertretbaren Bandbreite liegen.
relative Häufung
oberer Toleranzwert
unterer Toleranzwert
6
2 1
Erwartungswert Abb. 46:
Die Qualität als Genauigkeit der Messwerte um einen Erwartungswert
Messwerte
138
3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
–
Unter dem Begriff Six Sigma oder auch verkürzt 6 versteht man ursprünglich das Qualitätsziel, die Genauigkeit von messbaren Qualitätsfaktoren auf einen Toleranzbereich von sechs Standardabweichungen – die mit abgekürzt werden – zu beschränken. Ein Sigma bedeutet, dass eine einfache Standardabweichung der Messwerte innerhalb der Toleranzen um einen Erwartungswert besteht, was dann bei einer rein zufälligen Normalverteilung auf etwa 31 Prozent der Messwerte zutreffen muss. Zwei Sigma bedeutet, dass in diesem Bereich bereits die doppelte Standardabweichung aller Messwerte liegt, was dann bei einer Normalverteilung auf etwa 69 Prozent der Messwerte zutreffen muss. Und 6 bedeutet somit, dass die Messwerte innerhalb der sechsfachen Standardabweichungen in der Toleranz liegen, was bei einer Normalverteilung auf etwa 99,99966 Prozent der Messwerte zutreffen muss. Bei einer statistisch rein zufälligen Verteilung der Werte entspricht dies einem einzigen Messwert, der außerhalb des Toleranzbereiches liegt, auf etwa 3,4 Millionen Messungen, was auch als DPMO (Defects Per Million Opportunities) bezeichnet wird. Bei einer solchen Qualitätskontrolle und der Qualitätsprüfung handelt es sich um einen ganz ursprünglichen Ansatz des Qualitätsmanagements. Abhängig von der Dauer und dem Aufwand für eine einzelne Untersuchung werden statistisch relevante Stichproben vorgenommen oder systematische Durchmusterungen durchgeführt. Daran lassen sich bereits zufällige Fehler erkennen, die allerdings nur schwer zu beheben sind. Interessanter sind die systematischen Fehler, die regelmäßig auftauchen und wahrscheinlich eine gemeinsame Ursache aufweisen.
In den 1990er–Jahren hat sich 6 zum Unternehmensziel vieler großer und erfolgreicher Firmen entwickelt. Immer mehr Unternehmensprozesse wurden durch messbare Qualitätsfaktoren erfasst. Und zum Erreichen der Genauigkeit wurden immer weitere Methoden der Qualitätssicherung in die Logik von 6 integriert oder sogar speziell dafür entwickelt. Heute steht daher 6 auch ganz allgemein für eine Methodik des Qualitätsmanagements. Denn die Höhe der Abweichungen stellt ein einfach zu erkennendes Problem dar und ist stets ein Anlass für das Finden und Erfinden von Lösungen.
Die Sicherheit stellt ein weiteres Problemfeld für die Qualität dar. Denn ein anderes Qualitätsziel von Unternehmen ist, die Gefahren oder drohenden Gefährdungen der Wertschöpfungsprozesse zu beseitigen. Auch die Sicherheit als Qualitätskriterium findet sich in allen unternehmerischen Bereichen und Aktivitäten wieder, in den Produkten genauso wie in den Prozessen und in der Entwicklung genauso wie im Gesamtsystem. Und Probleme sind bereits dann gegeben, wenn sich eine Gefährdung der Aktivitäten bei einer regelmäßigen Überprüfung als denkbar erweist. – Die Auswirkungsanalyse FMEA (Failure Mode and Effect Analysis), ist ein formalisierter Prozess zum Ausschluss von Fehlern. Ein Fehler ist dabei im weitesten Sinne alles, was einem Unternehmen schaden kann, beispielsweise fehlerhafte Konstruktion, fehlerhafte Produktion, fehlerhafte Produkte und fehlerhaftes Management. Die Vorgehensweise entspricht grundsätzlich dem zuvor beschriebenen Problemlösungsprozess. Zunächst werden Fehlermöglichkeiten über einen Paarweisen Vergleich identifiziert. Danach wird die Wichtigkeit der jeweiligen Fehler über eine Einschätzung von drei Faktoren bestimmt, welche die Schwere der Auswirkung S (Severity), die Häufigkeit oder Dauer des Auftretens O (Occurence) und die Verborgenheit des Fehlers D (Detectability), erfassen. Diesen drei Faktoren werden
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
139
jeweils Werte von 1 bis 10 zugeordnet. Und mit dem Produkt dieser drei Faktoren ergibt sich ein Wert, der als Risikoprioritätszahl RPZ bezeichnet wird und demzufolge von 1 bis 1000 reicht. Auf diese Weise lässt sich sofort priorisieren, welches die wichtigsten Risiken und somit Problemfelder sind. Und es lassen sich gezielt Maßnahmen festlegen, um diese Wichtigkeit zu mindern. Danach erfolgt die erneute Einschätzung aller Risiken und deren Faktoren mit dem Ziel, die RPZ unter eine Schwelle von etwa 100 zu drücken. Dabei ist auch das Zusammenwirken von Maßnahmen und deren Veränderungen zu beachten. Durch das Bündel von Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit ist meist unmittelbar eine Erfindung gegeben. Wenn man also die Sicherheit als Absicht einer Unternehmensqualität versteht, dann handelt es sich bei den Maßnahmen um einen erfinderischen Ansatz zur Qualitätsverbesserung. Im Einzelfall muss dann aber noch geprüft werden, ob diese Erfindung auch für andere Unternehmen relevant ist oder einen Einzelfall darstellt. Und ob sich daher eine Patentierung lohnt.
Die Funktionalität stellt einen besonderen Qualitätsaspekt dar. Denn dabei handelt es sich um das Qualitätsziel von Unternehmen, mit seinen Leistungen den gestellten Anforderungen möglichst gut zu entsprechen. Es handelt sich also nicht um das Einhalten einer abgegrenzten Zielvorgabe, wie bei der Genauigkeit oder Sicherheit, sondern um das Steigern einer Leistung, welche letztlich nach oben offen und unbestimmt ist. Es geht um den Mehrwert durch eine funktionale Qualität von Unternehmen, seinen Produkten und Dienstleistungen am Markt. In dieser Form betrifft das Qualitätsmanagement somit alle Geschäftsprozesse eines Unternehmens. – Unter Funktionsmerkmalen QFD (Quality Function Deployment), versteht man eine umfangreiche Untersuchung der Erfüllung von Unternehmensleistungen. Grundlage dafür ist zunächst ein Paarweiser Vergleich der Unternehmensleistung in Bezug zur damit beabsichtigten Wirkung. Denn in der Vielfalt moderner Unternehmensprozesse ist oft nicht klar, welche Leistungen zu welchen Wirkungen führen. Tatsächlich gibt es mittelbare Leistungen, deren Wert sich erst durch eine sekundäre Auswirkung der erzielten Primärwirkung erweist. Diese werden in einem Dreieck oberhalb der Tabelle im Paarweisen Vergleich vermerkt, sodass insgesamt der bildliche Eindruck eines Hauses oder House-of-Quality entsteht. Auf diese Weise werden die Wirkungen der Leistungen ermittelt und die Defizite in der Wirkung bekannt. Durch eine Variation der Leistungen lässt sich dann beispielsweise erkunden, wie eine Wirkung gesteigert werden kann. Und es werden Probleme bei den Leistungen ersichtlich, für die eine erfinderische Lösung hilfreich sein kann. Die direkte Orientierung an den Leistungen eines Unternehmens ermöglicht, eine Problematik auf einen bestimmten funktionalen Aspekt zu begrenzen. Dadurch wird der gesamte Prozess transparent und die sonst üblichen Zielkonflikte zwischen verschiedenen Geschäftsprozessen werden vermieden. Die daraufhin getroffenen Entscheidungen sind somit für alle Beteiligten nachvollziehbar und die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter werden angesprochen. Aufgrund der entsprechenden Fachkompetenz ergeben sich dann besonders zweckorientierte Verbesserungen und Erfindungen.
Mit der Zuverlässigkeit wird schließlich ein ganz allgemeiner Qualitätsanspruch bezeichnet. Denn damit sind so weitreichende Bereiche des unternehmerischen Wirkens eingeschlossen wie das Betriebsklima, der Arbeitsmarkt, die Infrastruktur, die Lieferan-
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? ten, das Rechtssystem oder die Umwelt. Denn auch diese Aspekte wirken sich auf die Qualität von Unternehmensleistungen und den gesamtwirtschaftlichen Erfolg aus. Das kann jeder nachvollziehen, der sich einmal mit den Mängeln einer Planwirtschaft befasst hat. Eine Untersuchung der allgemeinen Zusammenhänge kann daher Probleme offenbaren, die außerhalb der Einflussmöglichkeiten einzelner Unternehmen liegen, wie eine vorwettbewerbliche Technologieförderung, um neue Wirtschaftsmöglichkeiten zu erschließen. Dies betrifft offenbar die generelle Qualität eines Wirtschaftsstandorts. – Unter TQM (Total Quality Management) versteht man eine umfassende Qualitätsausrichtung von Unternehmen, die von ihren Anhängern mitunter noch über den unmittelbaren wirtschaftlichen Erfolg gestellt wird. Dahinter steckt die durchaus begründbare Ansicht, dass sich der Unternehmenserfolg quasi von selbst einstellt, wenn das System über eine ausreichende Qualität verfügt. Wenn unter Qualität auch die Sicherung der ökonomischen Werte verstanden wird, leuchtet dies durchaus ein. Entsprechend lässt sich auch die Sicherung der sogenannten Innovationsstärke eines Unternehmens darunter einordnen. Und in diesem Verständnis ergeben sich Erfindungen als Folge dieses umfassenden Qualitätsansatzes.
Lektion 24:
Qualitätssteigerungen sind ein Motor für Innovationen!
Übung 24: Untersuchen Sie die Qualität einer Sache, beispielsweise eines Produkts, eines Prozesses, eines Marketings oder eines Projekts! Welche Eigenschaften der Sache können Sie irgendwie messen? Wie genau können Sie diese Eigenschaften messen? Welche Probleme werden dabei vielleicht erkennbar? Wie lassen sich diese lösen? Welche Fehler können bei dieser Sache auftreten? Wie riskant schätzen Sie diese Fehler ein? Wie lassen sich die Risiken mindern? Welche allgemeinen Problemlösungen ergeben sich dadurch? Welche Funktionen sollen durch die Sache erfüllt werden? Welche Leistungen stehen dafür zur Verfügung? Gibt es Sachfunktionen, die nicht oder nur mangelhaft erfüllt werden? Welche Problemlösungen ergeben sich durch Leistungssteigerungen? Welche Qualitätsprobleme ergeben sich durch weitere Umstände? Was wäre grundsätzlich notwendig, um die Zuverlässigkeit des Umfelds zu stärken? Welcher Art sind die Lösungen für solche übergeordneten Probleme? Und sind diese vielleicht manchmal patentierbar?
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
3.1.2
141
Die Osborn-Methode
Alex F. Osborn (1888–1966) war 1919 Mitbegründer von BBDO, eines der immer noch weltweit marktführenden Unternehmen für Werbung, Marketing und Kommunikation, welches er dann selbst von 1939 bis 1946 leitete. 1954 gründete er die Creative Education Foundation und installierte an der Universität von Buffalo, New York, das weltweit erste Forschungsinstitut für Kreativität. Um 1957 veröffentlichte er eine Liste mit typischen Fragestellungen, die sich in seiner langjährigen Tätigkeit als Werbeberater für unterschiedliche Unternehmen zur Problembehandlung entwickelt hatten. Die vollständige Osborn-Liste ist eher für einen spielerischen Umgang mit Problemen geeignet, beispielsweise indem man sie auf verschiedene Karten oder Lose schreibt und dann zufällig in einer Tombola zieht. In der Übertragung der allgemein gehaltenen Fragestellung auf ein konkretes Problem findet sich dann auch eine eher fantasievolle Lösung. Dieser Aspekt wird in diesem Buch später noch behandelt. Für die Osborn-Methode wurde aus den Fragestellungen der Osborn-Liste später ein handliches System von 9 Kategorien extrahiert. Dieses umfassende System lässt sich nun vollständig überschauen und enthält dabei Lösungshinweise für alle möglichen Probleme. Umgekehrt darf man dann erwarten, dass jedes Problem gelöst werden kann, wenn man die verschiedenen Kategorien systematisch anwendet. Daher wird eine solche Art von Methode auch als Umkehrmethode bezeichnet. Als Merkhilfe für diese Faktoren wird meist das Akronym SCAMPER oder SCAMMPERR verwendet, was übersetzt Herumspringen bedeutet und sich auf die jeweils ersten Buchstaben einer Kategorie als englisches Schlagwort bezieht. Demnach beruht eine Problemlösung auf den folgenden Ansätzen mit den dahinterliegenden Fragestellungen. (In Klammern werden dabei die 62 Frageworte aus der ursprünglichen Osborn-Liste jeweils angezeigt.)
Substitute: „Was lässt sich ersetzen?“ Welche Komponente (1), welches Material (2), welche Zutat (3), welche Energie (4) oder welcher Prozess (5) kann als Ersatz dienen? Welche Personen (6), Orte (7), Vorgehensweisen (8) oder Informationskanäle (9) können stattdessen verwendet werden? – Beispielsweise zählen hierzu Dübel und Schonbezüge, Vogelscheuchen und Strohmänner, Dämmplatten gegen Wärme oder Lärm und Besteck aus Kunststoff, Computeranimationen statt Trickfilmtechnik.
Combine: „Was kann man miteinander verbinden?“ Welche Komponenten (10), welche Absichten (11), welche Anforderungen (12) oder welche Lösungsideen (13) lassen sich miteinander verbinden? Welche Mischungen (14) sind möglich? – Beispielsweise zählen hierzu Fotohandys und Radierbleistifte, das Klappsofa und das Internet, ein Faserverbundmaterial und eine Mehrzweckhalle, Farblacke mit Witterungs- und Steinschlagschutz sowie Textilien mit Membranen zur Feuchtigkeitsregulierung.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Adapt: „Was ist irgendwie anpassbar?“ Welche Art von Dingen (15), welche Art von Anwendungen (16) oder welche Charaktere (17) wären für eine Lösung hilfreich? Gibt es Parallelen in der Vergangenheit (18)? – Beispielsweise zählen hierzu Tragflügelprofile und Lotuseffekt, Reifenprofile und verzweigte Tragwerke, Klettverschluss und Saugnäpfe, Schwämme und Tarnkleidung.
Modify: „Was lässt sich verändern?“ Welche äußere Form (19) oder welche inneren Eigenschaften – wie Farbe, Geruch, Geschmack oder Geräusch – (20) lassen sich anders gestalten? Lässt sich die Art der Bewegung – wie Richtung, Drehung oder Lage im Raum – (21) beeinflussen? – Beispielsweise zählen hierzu Schalldämpfer und Fensterkitt, Wärmekissen und Turbolader, fettlösende Tenside und Sonnenbrillen, Mikrofasertücher und Bimetallschalter.
Magnify: „Was lässt sich erweitern?“ Welche anderen Probleme (22), Komponenten (23) oder Werte (24) lassen sich hinzufügen oder vermehren? Lässt sich die Dauer strecken (25), die Häufigkeit steigern (26) oder die Stabilität erhöhen (27)? Lässt sich etwas erhöhen (28), verlängern (29), verdicken (30) oder aufbauschen (31)? Was lässt sich duplizieren (32) oder vervielfältigen (33)? – Beispielsweise zählen hierzu der Hilfsmotor und der Reservereifen, das Rotormesser und die digitale Datenspeicherung, Verschleißschutzschichten und Opferelektroden, hochfeste Kohlefasern und ausfallsichere (fail-safe) Bauweisen mit mehrfachen Schutzmechanismen, wie Streben, Leitungen, Wandungen, Signalen.
Put to other uses: „Was lässt sich umwidmen?“ Was lässt sich an anderer Stelle (34) oder in geänderter Funktion (35) einsetzen? Was lässt sich immer wieder (36) verwenden und was kopieren (37)? – Beispielsweise zählen hierzu Spielkonsolen aus Computern, Rohstoffe aus Abfällen, Mikropartikel aus Stäuben, Lebensräume aus Fahrzeugkabinen, Kochtöpfe aus Helmen und die bereits biblischen Pflugscharen aus Schwertern.
Eliminate: „Was lässt sich ausschließen?“ Was lässt sich verkleinern (38), kompaktieren (39) oder miniaturisieren (40)? Was lässt sich weglassen (41), abziehen (42), erleichtern (43) oder vereinfachen (44)? Lässt sich etwas flacher (45) oder kürzer (46) ausführen? Und was passiert bei einer Untertreibung – wie Unterbewertung, Minderung oder Abwertung (47)? – Beispielsweise zählen hierzu Nanopartikel und Mikrochips, funktionale Oberflächen und die Vakuumverpackung, Fachwerke und Zeltbauten, Leichtbauweisen und Schuldenbremse.
Reverse: „Was lässt sich umkehren?“ Was lässt sich auf den Kopf stellen (48), von hinten aufzäumen (49) oder ins Gegenteil verkehren (50)? Wo lässt sich Positives in Negatives verwandeln (51), die Rolle tauschen (52), die Bedeutung umdrehen (53) oder Standpunkte wechseln (54)? – Beispielsweise zählen hierzu die Brandschneise und die Politik der verbrannten Erde, die Selbstzündung beim Dieselmotor und der Autofokus von Kameras, das Rückschlagventil beim plötzlichen Druckabfall und die Wirbelstrombremse mit
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
143
Stromerzeugung, die Sollbruchstelle sowie vielleicht auch die Wertsteigerung von Antiquitäten.
Rearrange: „Was lässt sich umordnen?“ Welche Komponenten (55), welche Reihenfolge (56), welcher Aufbau (57) oder welche Aufteilung (58) lassen sich anders anordnen? Wie ändert sich die Erscheinung (59) oder der Ablauf (60) durch eine andere Anordnung? Lässt sich eine andere Vorlage (61) erstellen oder Ursache und Wirkung vertauschen (62)? – Beispielsweise zählen hierzu die Gleitsichtbrille und die Teleskopantenne, das Flaschenpfand und die PC-Maus, das Periskop und der Trommelfilter, die Mikrometerschraube und die Verwendung von Stapelstühlen. Stabilität Vervielfältigen Form Dauer Bewegung Verwendung Stelle Funktion Aufbauschen Dublizieren Worte Eigenschaft Verdickung Kopie Verlängerung „M“ „M“ „P“ Erhöhung erweitern verändern umwidmen Komponenten Kompaktieren Häufigkeit Miniaturisieren Abflachen Vereinfachen Parallelen Erleichtern „A“ „E“ Dinge Verkleinern anpassen Charaktere Abwerten ausschließen Weglassen Anwendungen Untertreiben Komponenten Kürzen Abziehen positiv negativ Lösungen Standpunkt „C“ Mischung Bedeutung „R“ verbinden Rolle Absichten umkehren von hinten Anforderungen ins Gegenteil Person auf den Kopf „S“ Zutat Reihenfolge Ort ersetzen Aufteilung „R“ Prozess Komponenten Problem umordnen Energie Komponente Material Erscheinung Aufbau Vorgehen Information Ablauf Vorlage Ursache & Wirkung
Abb. 47:
Die Anregung von Problemlösungen mittels SCAMPER und Osborn-Liste Ein Problemfall und was dabei so alles durch den Kopf gehen kann.
Bei der Übersetzung der einzelnen Begriffe besteht eine ganz eigene Problematik. Denn die dabei verwendeten Worte weisen in anderen Sprachen zu anderen Zeiten auch andere Bedeutungen auf. Dadurch können die einzelnen Fragen der Liste vielleicht zu ganz verschiedenen Lösungen führen. So gesehen enthalten die Übersetzungen aus der Osborn-Liste selber neue Ersetzungen, Verbindungen, Anpassungen, Veränderungen, Erweiterungen, Umwidmungen, Ausschließungen, Umkehrungen und Umordnungen. Beispielsweise kannte Osborn zu seiner Zeit als „Informationskanäle (9)“ vorwiegend den Klang und Tonfall der menschlichen Stimme, während wir heutzutage auch elektronische Medien nutzen. Wissenschaftlich betrachtet, stützt sich die Osborn-Methode demnach auf übergeordnete Vernunftwahrheiten, also hermeneutische Eingebungen aufgrund langjähriger Erfahrung. Diese werden somit eher deduktiv genutzt, indem sie in der praktischen Anwendung immer wieder zu tatsächlichen Problemlösungen führen.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Lektion 25: Ein Herumspielen mit SCAMPER führt zu innovativen Problemlösungen! Übung 25: Untersuchen Sie ein Problem! Wenn Sie kein eigenes Problem haben, machen Sie zunächst Übung 23 oder 24! Nehmen Sie sich mindestens 10 Minuten Zeit für jede einzelne Fragenkategorie von SCAMPER! Was lässt sich ersetzen? Was lässt sich verbinden? Was lässt sich anpassen? Was lässt sich verändern? Was lässt sich erweitern? Was lässt sich umwidmen? Was lässt sich ausschließen? Was lässt sich umkehren? Was lässt sich umordnen? Greifen Sie nach einigen Minuten jeweils auf die Einzelfragen der Osborn-Liste zurück, um sich vertrauter mit den Fragestellungen zu machen! Stellen Sie sich erst anschließend der Frage, ob etwas in der Sache positiv ist!
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
3.1.3
145
Die Innovativen Grundprinzipe
Genrich S. Altschuller (1926–1998) entwickelte um 1946 als Mitarbeiter der sowjetischen Patentbehörde erste Regeln, um die dort üblichen Urheberscheine nach Lösungsmustern zu klassifizieren. Etwa ein Drittel aller Problemlösungen wiesen keine besonderen erfinderischen Anteile auf und weniger als 1 Prozent aller Erfindungsmeldungen beruhten auf völlig neuartigen wissenschaftlichen Entdeckungen. Für die restlichen zwei Drittel der Meldungen wählte Altschuller etwa 40.000 Urheberscheine aus, deren Lösungsansatz er bis 1976 auf lediglich 40 Innovative Grundprinzipe IGP zurückführen konnte.87 Wegen eines Briefs an Stalin zur Situation von Erfindern in der UdSSR wurde er 1950 verhaftet und in ein Gulag-Arbeitslager verbannt. Dort entwickelte er die gefundene Methodik durch Diskussion mit anderen Strafgefangenen aus der intellektuellen Säuberung weiter. Nach Stalins Tod 1953 kam er zwar wieder frei und konnte 1956 eine erste Veröffentlichung seiner Theorie des erfinderischen Problemlösens vornehmen. Aber erst 1976 wurde diese auch in anderen Ländern veröffentlicht. Und erst nach der Auflösung der UdSSR 1991 wurde diese Theorie bekannt unter dem russischen Akronym TRIZ – für Teoria Reschenija Isobretatjelskich Zadatsch, oder englisch TIPS – für Theory of Inventive Problem Solving.88 Inzwischen wird die Anzahl der untersuchten Erfindungen auf einige Millionen angegeben und die Theorie wurde um mehrere Prinzipe von verschiedenen Autoren erweitert sowie in verschiedene Gruppen aufgeteilt und diese wiederum nach ihrer Bedeutung geordnet. In manchen Ländern wird die Methodik in eigenen Studiengängen gelehrt, wobei sie in verschiedene Richtungen erweitert wurde, beispielsweise durch einen Algorithmus ARIZ, sowie Standardlösungen, einem Prinzip der Idealität und ein Stoff-Feld-System, die hier nicht weiter vorgestellt werden. Außerdem gibt es noch Technische Parameter TP und Separationsprinzipien, die später im Abschnitt über die Forschung dargestellt sind. Die einzelnen IGP können über einen Pareto-Vergleich in der Reihenfolge ihrer Bedeutung aufgelistet werden. Aufgrund von Untersuchungen durch Livotov und Petrov können bereits etwa 60 Prozent aller Probleme durch die folgenden zehn Prinzipe gelöst werden. Bei diesen handelt es sich in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit: 89 1.
Veränderung der Stoffeigenschaften Dazu gehören Festigkeit, Zähigkeit, Diffusion, Dichte, Elastizität, Wärmekapazität, Dampfdruck, Leitfähigkeit, Schmelz- oder Siedetemperatur, Löslichkeit, Oberflächenspannung, Korrosionsbeständigkeit, Brennbarkeit, magnetische Remanenz, Schallgeschwindigkeit, Härte, Geruch, Geschmack, Farbe. – Beispielsweise werden die Eigenschaften von Stählen maßgeblich durch ihre Gefügebildung bestimmt, die durch eine Wärmebehandlung, durch Umformung oder durch Ausscheidung von Fremdatomen verändert werden kann.
2.
Vorziehen der Wirkung Dazu gehören eine rechtzeitige Aktivierung, damit verschiedene Aktionen zusammenlaufen, oder zweckmäßige Vorbereitung, damit eine Aktion unverzüglich durchgeführt werden kann. – Beispielsweise helfen vorbeschriftete Aufkleber bei der kurzfristigen Kennzeichnung. Und eine Instantsuppe ist auch in kleinen Pausen herzustellen.
146
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.
Zerlegung von Objekten Dazu gehören die Unterteilung von kompakten Objekten sowie das Einfügen von Verbindungselementen oder die Aufteilung in unabhängige Komponenten. – Beispielsweise sind Möbel als Bausätze besser zu lagern und zu transportieren. Und Heimcomputer sind durch Module auf Steckplatinen individuell zu erweitern.
4.
Ersetzen der Mechanik Dazu gehören elektrische, magnetische, elektromagnetische, optische, akustische oder thermodynamische Wirkungen, um etwas statisch zu halten, elastisch zu festigen, dynamisch zu bewegen oder eine Reaktion zu bewirken. – Beispielsweise funktionieren Magnetrührer auch in geschlossenen Behältern mit gefährlichen Chemikalien. Und Lichtschranken zeigen zerstörungsfrei die Grenzen an.
5.
Abtrennung eines Teils Dazu gehören das Abtrennen eines hinderlichen oder überflüssigen Teils, um die Wirkung zu erhöhen, oder direkt des nützlichen Bestandteils, um die reine Wirkung zu verwenden. – Beispielsweise verhilft entkoffeinierter Kaffee oder alkoholfreies Bier zu Geschmack ohne Nebenwirkungen. Und über ein Mischpult lassen sich unerwünschte Töne herausfiltern.
6.
Dynamisierung eines Systems Dazu gehören Zerlegbarkeit, Austauschbarkeit, Formbarkeit, Gelenkigkeit, Eigenspannung, Flexibilität, Elastizität, Klappmechanismen … um sich neuen Anforderungen anzupassen. – Beispielsweise kommt ein Gelenkbus besser durch die engen Straßen einer Stadt. Und ein Sonnensegel lässt sich platzsparend ins Weltall schießen.
7.
Periodische Wirkung Dazu gehören impulsive statt kontinuierliche Aktionen mit regelmäßiger, unregelmäßiger oder veränderter Frequenz sowie angemessenen Intervallen oder Pausen. – Beispielsweise schafft ein pulsierender Bohrhammer ein Loch im Beton besser als ein Schlagbohrer. Und ein Blinklicht oder eine Sirene verschafft größere Aufmerksamkeit.
8.
Einsatz von Vibrationen Dazu gehören mechanische, akustische, piezoelektrische oder elektromagnetische Schwingungsanregung mit harmonischen Frequenzen, Resonanz oder Dissonanz. – Beispielsweise sorgen Schwingungen für ein Fließen oder eine Förderung von Körnern oder Schüttgütern. Und mit Ultraschall können feste Oberflächen gereinigt werden.
9.
Veränderung von Farben Dazu gehören Stärke, Tönung oder Spektrum der Beleuchtung, Einsatz von farblichen, farbverändernden, selbstleuchtenden oder polarisierenden Oberflächen oder Objekten, Schaffung von Transparenz oder Opazität in bestimmten Frequenzbereichen. – Beispielsweise lassen sich Marker verwenden, die ultraviolettes Licht sichtbar machen. Und es gibt Pigmente, die Wärmestrahlung stärker absorbieren oder reflektieren, um eine gewünschte Temperatur zu halten.
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
147
Veränderung der Stoffeigenschaften Vorziehen der Wirkung Zerlegung von Objekten Ersetzen der Mechanik Abtrennung eines Teils Dynamisierung des Systems Periodische Wirkung Einsatz von Vibrationen Veränderung von Farben Umkehrung von Funktionen … … … . . .
Anwendungshäufigkeit
10. Umkehrung von Funktionen Dazu gehören das Umkehren einer Aktion durch die Reaktion oder einer Ursache durch den Zweck oder einer Bewegung durch eine Gegenbewegung. – Beispielsweise kommt beim Versandhandel die Ware zum Kunden und nicht der Kunde zur Ware, beim Fließband das Werkstück zum Arbeiter. Und bei einer Bogenbrücke verursacht das Eigengewicht eine Kraftreaktion nach oben, welche die Brücke selbst wieder stützt.
Abb. 48:
Im Pareto-Vergleich werden 60 Prozent der Probleme mit nur 10 IGP gelöst
Die vollständige Sammlung der 40 IGP erscheint für eine Problembehandlung noch recht unübersichtlich und daher aufwendig. Denn es bedarf jeweils eines vernünftigen Verständnisses und einer hermeneutischen Interpretation, um die Prinzipe in eine andere Sprache, zu einer anderen Zeit und in einem anderen Zusammenhang zu übertragen. Wissenschaftlich gesehen liegt der Ursprung der IGP zwar bei den Tatsachenwahrheiten, also heuristischen Fakten aus dem Patentwesen. Und diese führen eigentlich induktiv zu einer Theorie, welche sich auf genau diese Fakten stützt. Allerding macht die Rückübertragung auf andere Probleme stets auch eine hermeneutische Auslegung erforderlich. Wenn man nun die gesamten 40 IGP als hermeneutische Setzung auffasst, dann lassen sich diese auch wieder in funktionelle Gruppen zusammenfassen – wie zuvor die Osborn-Liste zu SCAMPER. Auf diese Weise wird die Vielfalt überschaubar, um dadurch schneller auf bestimmte Problemlösungen zugreifen zu können. In dem Sinne eines Lösungssystems der IGP entspricht dies einer zusätzlichen Begriffsebene, um zweckmäßiger auf das gesamte Lösungssystem zugreifen zu können.
148
3 Wie (er-)findet man Innovationen? Problemlösung für …
Strukturveränderung
Schadensverhinderung
Effizienzsteigerung
Effektivitätssteigerung
durch …
durch …
durch …
durch …
Zerlegung
vorgezogene Wirkung
Kopplung
Gegengewichte
Abtrennung
Gegenwirkung
Standardisierung
Vibrationen
lokale Beschaffenheit
präventive Wirkung
Dynamisierung
Hydraulik/ Pneumatik
Asymmetrie
vielfache Wirkung
Rationalisierung
Phasenübergänge
Integration
periodische Wirkung
Kontinuität
Wärmeausdehnung
Granulierung
Überspringen
Selbstversorgung
Oxidationsmittel
Dimensionserweiterung
Rückkoppeln
Regenerierung
Ersetzen der Mechanik
Beschichtung
Funktionsumkehr
Nachteile ausnutzen
Veränderung der Farbe
Porosität
verbindendes Medium
Verbrauchsmaterial
Stoffeigenschaft ändern
Verbundmaterial
inertes Medium Kraftgleichgewicht Homogenität
Abb. 49:
Eine Strukturierung der gesamten 40 Innovativen Grundprinzipe IGP in einem einzigen Organigramm
Als Referenz zu TRIZ sind bei der nachfolgenden Liste in Klammern wieder die einzelnen Lösungsansätze in ihrer ursprünglichen Reihenfolge aufgezählt.
Problemlösungen durch Strukturveränderung: – Beispielsweise durch Zerlegung (1), Abtrennung (2), lokale Beschaffenheit (3), Asymmetrie (4), Integration (7), Granulierung (14), Dimensionserweiterung (17), Beschichtung (30), Porosität (31) oder Einsatz von Verbundmaterial (40).
Problemlösungen durch Schadensverhinderung: – Beispielsweise durch Vorziehen der Wirkung (10), Vorbeugen der Gegenwirkung (9), präventive Wirkung (11), vielfache Wirkung (26), periodische Wirkung (19), Überspringen (21) oder Rückkoppeln (23) von Störungen, Umkehrung der Funktion (13), Einsatz eines verbindenden Mediums (24) oder eines inerten Mediums (39), Herstellen eines Kraftgleichgewichts (12) oder einer Homogenität (33).
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
149
Problemlösungen durch Effizienzsteigerung: – Beispielsweise durch Kopplung (5), Standardisierung (6), Dynamisierung (15), Rationalisierung (16), Kontinuität (20), Selbstversorgung (25), Regenerierung (34), Ausnutzen von Nachteilen (22) oder Einsatz von billigem Verbrauchsmaterial (27).
Problemlösungen durch Effektivitätssteigerung: – Beispielsweise durch Einsatz von Gegengewichten (8), von Vibrationen (18), von Hydraulik/Pneumatik (29), von Phasenübergängen (36), von Wärmeausdehnung (37) oder Oxidationsmitteln (38), Ersetzen der Mechanik (28), Veränderung von Farben (32) oder der Stoffeigenschaften (35). Grundsätzlich kann man erwarten, dass die IGP direkt zu patentierbaren Erfindungen führen. Denn die Vorgehensweise ist stark an die Patentierung angelehnt und unterstützt somit die erforderliche Rechtfertigung bei der Offenbarung einer Anmeldung. Allerdings sind grundsätzlich keine innovativen Problemlösungen außerhalb des gesetzten theoretischen Rahmens zu erwarten, beispielsweise für wissenschaftliche Entdeckungen oder schlichte Umwidmungen. In diesem Sinne ist die Osborn-Methode zwar nur auf subjektive Erfahrungen gestützt, aber weitreichender. Lektion 26:
Innovative Grundprinzipe IGP erschließen patentfähige Innovationen!
Übung 26: Untersuchen Sie ein Problem! Wenn Sie kein eigenes Problem haben, machen Sie zunächst Übung 23 oder 24! Wenden Sie nacheinander die zehn bedeutendsten IGP darauf an! Lesen Sie zur Anregung zunächst nur jeweiligen Überschriften der zehn Punkte! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Lesen Sie dann zur Anregung die ausführlichere Beschreibung! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Lesen Sie schließlich zur Anregung das angegebene Beispiel! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Versuchen Sie das Problem einem der vier Anhaltspunkte zuzuordnen! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Lesen Sie dann zur Anregung die angegebenen Beispiele! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Machen Sie sich bewusst, dass mit großer Sicherheit ein IGP zur Lösung führt! Falls Sie jetzt immer noch keine Ideen haben, konsultieren Sie die Referenzliteratur!
150
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.1.4
Die Morphologische Analyse
Fritz Zwicky (1898–1974) erforschte als Astrophysiker in Kalifornien, USA, zunächst neue Phänomene, wie die Dunkle Materie (1933), die Supernovae und Neutronensterne (1934) und die Gravitationslinse (1937) sowie den Gravitationskollaps zu Schwarzen Löchern (1939). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte er seine morphologischen Untersuchungen über wissenschaftliche Forschung und technische Erfindungen.90 Eine Generelle Morphologische Analyse GMA besteht aus der vollständigen Zerlegung eines Problembereichs, um alle denkbaren Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Für die Darstellung wird eine Tabelle oder Matrix verwendet, welche im Deutschen als sogenannter Morphologischer Kasten und im Englischen als Zwicky Box bekannt ist. Die Vorgehensweise lässt sich mit den folgenden vier Schritten beschreiben: 1.
Die Morphologische Beschreibung Zunächst wird das Problem ausführlich diskutiert und genau erfasst. Dabei ist es sinnvoll, die Formulierung allgemein zu halten und einen weiteren Rahmen zu nutzen, um möglichst ungewöhnliche Lösungen mit einzuschließen. – Beispielsweise stellt sich das Problem der Verschmutzung vereinfacht lediglich als „Materie am falschen Platz“ dar, wie es der Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard (1862–1947) nannte. Ausführlicher war 1968 der Schriftsteller Christian Enzensberger (1931–2009) in einem preisgekrönten Essay: „Nunc erudimini: Sauber ist nicht schön noch gut, sauber ist klug kalt weiß. Schmutzig ist niedrig und nah, sauber ist oben und überall. Schmutzig ist wenigstens noch, aber sauber ist nichts, sauber ist schmutzig, zornig und krank, sauber ist mächtig, sauber geht nie mehr weg: so seid belehrt.“91 Offenbar lässt sich das Problem des Schmutzes auf sehr verschiedene Arten beschreiben.
2.
Die Morphologische Zerlegung Anschließend werden übergeordnete Merkmale der Problembereiche aufgestellt, die auch als Faktoren, Parameter, Dimensionen, Kategorien oder Kriterien bezeichnet werden können. Dabei ist es sinnvoll, dass die Problembereiche möglichst unabhängig voneinander sind und durch konkrete Maßnahmen zu beeinflussen sind. – Beispielsweise besteht jedes Ding doch aus irgendeinem Material, in irgendeiner Form, mit irgendeiner Wirkung zu irgendeiner Anwendung. Daher lässt sich das Problem der Verschmutzung auf die Art und die Form des Schmutzes und des verschmutzen Objekts aufteilen sowie die Wirkung von Verschmutzungen und ihr Einfluss auf die Anwendung.
3.
Die Morphologische Ausprägung Im Anschluss werden dann für jeden Problembereich konkrete Ausprägungen bestimmt, die auch als Operationen oder Kategorien bezeichnet werden können. – Beispielsweise bestehen sowohl Schmutz als auch verschmutztes Substrat aus entweder festen, flüssigen oder gasförmigen Substanzen mit physikalischen, chemischen oder biologischen Eigenschaften. Die Substanzen können in einer bestimmten oder in verschiedenen Größen auftreten, in einer körnigen, fadenförmigen, verzweigten oder porösen Form. Und die Verschmutzung kann mechanische, thermische, elektrische oder optische Effekte verursachen, welche die gegebenen Effekte der Anwendung schwächen, verstärken, irritieren oder gar nicht beeinflussen.
3.1 Erfindungen durch Problemlösungen
151 Test: A3-B1-C2-D5-E1
Merkmal A Merkmal B
Ausprägung A1
Ausprägung B1
Merkmal C
Ausprägung C1
Merkmal D
Ausprägung D1
Merkmal E
Ausprägung A2
Ausprägung A3
Ausprägung B2
Ausprägung C2 Ausprägung D2
Ausprägung E1
Ausprägung A4
Ausprägung B3
Ausprägung C3
Ausprägung D3
Ausprägung C4
Ausprägung D4 Ausprägung E2
Ausprägung D5
4. Morphologische Kombination
2. Morphologische Zerlegung
1. Morphologische Beschreibung
3. Morphologische Ausprägungen Abb. 50:
4.
Die Zwicky-Box oder der Morphologische Kasten Ausgehend von einer möglichst detaillierten Beschreibung des Problems, wird es zunächst in Merkmale zerlegt und dann diese Merkmale in ihren Ausprägungen dargestellt. Die Ansätze für Problemlösungen ergeben sich durch die verschiedenen Kombinationen der Ausprägungen von Merkmalen.
Die Morphologische Kombination Schließlich werden die einzelnen Ausprägungen verschiedener Merkmale miteinander verknüpft. Bei einer überschaubaren Anzahl von Merkmalen und Ausprägungen lässt sich dies systematisch durchführen, wobei alle Kombinationsmöglichkeiten eingehend durchgespielt werden. Allerdings potenzieren sich die kombinatorischen Möglichkeiten. Denn jede Ausprägung eines Merkmals lässt sich grundsätzlich mit allen Ausprägungen eines anderen Merkmals kombinieren und jede dieser Kombinationen lässt sich wiederum mit allen Ausprägungen eines weiteren Merkmals kombinieren. Bereits 4 Merkmale mit jeweils 4 Ausprägungen weisen somit 44=4096 Kombinationsmöglichkeiten auf. Daher empfiehlt es sich, entweder einige Möglichkeiten intuitiv auszuschließen oder einige Möglichkeiten intuitiv auszuwählen oder eine zufällige Auswahl zu treffen. Die zufällige Auswahl kann dann durch statistische Methoden der Kombinatorik unterstützt werden. – Beispielsweise lässt sich ein Verschmutzungsproblem auf feste Staubpartikel auf festen Oberflächen begrenzen, die einen optischen Effekt verursachen und nur die Wertanmutung beim Kunden mindern. Die Verschmutzungsproblematik wird dann deutlich eingeschränkt, indem man dann erkundet woher die Staubpartikel kommen und woraus sie bestehen, welche Ausprägungen die Oberfläche haben kann, wie sich der optische Effekt beeinflussen lässt und was der Kunde unter Wertanmutung versteht. Eine Lösung kann beispielsweise aus einer besonders günstigen Kombina-
152
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
tion von fein genarbten Oberflächen bestehen, welche den Schmutz optisch verbergen und dem Kunden sogar eine hohe Wertigkeit für ein aufwendig gestaltetes Produkt vermitteln. Mit dieser starken Orientierung am Objekt handelt es sich bei der GMA wissenschaftlich um eine vorwiegend heuristische Methode, in die nur aufgrund der rasant steigenden Komplexität auch hermeneutische Überlegungen einfließen. Somit entspricht eine Problemlösung mittels GMA eher einer Entdeckung, als einer Erfindung. Und für eine Patentanmeldung müssen dann in einem gesonderten Verfahren die noch fehlenden Ideen für die Offenbarung aufgestellt und formuliert werden. Daher weist die GMA auch kaum Einschränkungen in der Anwendbarkeit auf. Einfache Problemlösungen werden genauso gefunden, wie äußerst originelle Entdeckungen möglich sind. Allerdings erfährt eine besondere Originalität auch ihren besonderen Preis dadurch, dass man entweder auf einen besonders glücklichen Zufall hoffen oder eine besonders umfangreiche Untersuchung starten muss. In dieser Hinsicht lässt sich vielleicht auch sagen, dass Alex Osborn und Genrich Altschuller bereits eine Generelle Morphologische Analyse durchgeführt und als SCAMPER bzw. IGP angelegt haben. Die GMA ist folglich grundlegender, nutzt aber nicht die Fortschritte in der Methodik von anderen Problemlösungen. Lektion 27:
Mit einer GMA lassen sich immer innovative Problemlösungen finden!
Übung 27: Untersuchen Sie ein Problem! Wenn Sie kein eigenes Problem haben, machen Sie zunächst Übung 23 oder 24! Beschreiben Sie das Problem ganz allgemein! Bestimmen Sie unterschiedliche Problembereiche für das Problem, welche möglichst unabhängig voneinander sind! Falls es Ihnen schwerfällt, versuchen Sie es zunächst mit den vier Bereichen Material, Form, Wirkung und Zweck! Bestimmen Sie die verschiedenen denkbaren Ausprägungen für jeden Problembereich! Welche Arten von Material, in welchen Formen, mit welcher Wirkung, zu welchem Zweck sind jeweils denkbar? Kombinieren Sie diese Ausprägungen spielerisch miteinander! Nehmen Sie sich jeweils einige Sekunden Zeit und achten Sie auf spontane Eingebungen! Achten Sie auch auf spontane Eingebungen zu besonderen Kombinationsmöglichkeiten!
3.2 Erfindungen durch Forschung
3.2
153
Erfindungen durch Forschung
Das Prinzip Hoffnung lautet das Hauptwerk von Ernst Bloch (1885–1977), einem der wohl streitbarsten Vordenker des 20. Jahrhunderts.92 Und es scheint durchaus empfehlenswert, diesem Prinzip zu folgen, wenn man sich auf die Suche nach Innovationen macht. Denn auch bei einer Innovation muss man mitunter lange hoffen, bis man eine effektive Invention mit einer effizienten Diffusion erreicht. Und manchmal liegt zu Beginn nur eine unbestimmte Hoffnung auf eine Neuerung vor, bevor bewusst wird, worin denn das wirkliche Problem besteht. Denn im menschlichen Streben lässt sich auch eine Forderung nach einer sogenannten Konkreten Utopie erkennen, wie Bloch es nennt. Dieser Begriff bedeutet eine denkbar schöne Sache – die Utopie – mit einem konkreten Bezug zur Wirklichkeit. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass das Wort Forschung sich aus dem lateinischen Wort für Forderung ableitet, entspricht die Forschung nach innovativen Problemstellungen gerade der Forderung nach einer solchen Konkreten Utopie. Demnach führt manchmal bereits die Hoffnung zu einer innovativen Entdeckung, noch bevor sich überhaupt ein Problem stellt. – An zahlreichen Beispielen aus der Medizin, Politik, Technik, Architektur, Geografie und Kunst weist Bloch im vierten Kapitel seines Buches nach, dass menschliches Handeln nicht auf einer schlichten Träumerei beruht, sondern auf einer Sehnsucht nach dem tatsächlich Besseren, der Behauptung des faktisch Unfertigen und der Hoffnung von wirklicher Vollendung. So behauptet Bloch: „Wer das Unverhoffte nicht erhofft, der wird es nicht finden.“ Im Sinne einer wissenschaftlichen Denkweise des geschilderten Scientific Innovation erfährt die Hoffnung zunächst keine Unterstützung durch irgendwelche bestehenden Tatsachen. Sie hängt quasi auf der einen Seite in der Luft. Dementsprechend ist auch die wissenschaftliche Forschung nur mit der Hoffnung verbunden, dass tatsächlich noch etwas anderes gilt als bisher bekannt. Ein Forscher sucht dabei nach neuen wissenschaftlichen Wahrheiten jenseits des aktuellen Standes von Wissenschaft und Technik. Und die Forschung gründet sich somit auf einer besonderen Form der Hoffnung. Infolgedessen besteht das Ziel von Forschung in der Erkenntnis von innovativen Wahrheiten. Und dafür lassen sich in wissenschaftlicher Kanonik wiederum neue Tatsachenwahrheiten und neue Vernunftwahrheiten unterscheiden. Diese überschreiten den menschlichen Horizont an bestehenden Wahrheiten, indem sie neuartige Tatsachen oder ein neuartiges Verständnis für diese aufstellen
Als transzendent gilt das Finden einer neuen Tatsachenwahrheit im Sinne einer erhofften Entdeckung. In einem Forschungsantrag ist dabei glaubwürdig darzulegen, mit welchen Techniken man die Entdeckungen erreichen möchte und welche Erwartungen daran geknüpft sind. Dies entspricht grundsätzlich einem naturwissenschaftlichen oder technischem Forschungsvorhaben. – Beispielsweise wurden in den letzten Jahren ungewöhnliche genetische Eigenschaften von Quallen entdeckt. In Papua gibt es eine Gattung Mastigias, die symbiotisch weitgehend mit Zooplankton verschmolzen ist und dadurch von Photosynthese leben kann. Im Mittelmeer gibt es die Art Turritopsis nutricula, die sich im Alter wieder zum Polypen zurückbilden, aus dem sich – ohne Zeugung und Geburt – eine neue Qualle entwickelt, wodurch das Tier ewig lebt.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Diese beiden neu gefundenen Tatsachen beruhen auf einer veränderlichen Zusammensetzung mit neuen Eigenschaften. Obwohl es sich also eher um die Entdeckung von natürlichen Mechanismen handelt, erscheint eine technische Nachahmung daher durchaus patentierbar.
gerechtfertigte
Geschäftsidee
Forschung transzendental transzendent
Abb. 51:
Die Forschung nach grenzüberschreitenden Problemen
Als transzendental gilt das Finden einer neuen Vernunftwahrheit im Sinne der Erkundung einer ganz bestimmten Vorstellung. In einem Forschungsantrag ist dann zu rechtfertigen, welche Interessen damit verknüpft sind und welche Erklärungen dadurch erreicht werden. Dies entspricht grundsätzlich eher dem Vorgehen, wie es in der Marktforschung erfolgt. – Beispielsweise wurden in den letzten Jahren neue Theorien in den Neurowissenschaften erforscht. Die Imitation und Empathie von Primaten soll an speziellen Nervenzellen im Gehirn liegen, die Spiegelneuronen genannt werden. Diese lösen bereits bei bloßer Betrachtung eines Vorgangs einen entsprechenden Reiz aus. Außerdem soll das Denken und Erkennen an speziellen Wellenmustern von bestimmten Frequenzbereichen der elektrischen Potenzialschwankungen des Gehirns ermittelt werden können, die als Hirnströme bezeichnet werden. Dadurch wird eine Gedankensteuerung möglich und vielleicht auch in begrenzten Umfang ein Gedankenlesen. Zumindest die kognitiven Entscheidungsprozesse im menschlichen Handeln sind inzwischen dadurch besser verstehbar. So liefert die moderne Prospect Theory neue Erklärungsmodelle, wie die Handlungen in der Wirtschaft durch ein Wechselspiel aus intuitiven und rationalen Prozessen bestimmt werden.93 Diese neuen Theorien gelten nur dann als wissenschaftlich objektiv, wenn sie ein faktisch prüfbares Ergebnis sicher voraussagen, beispielsweise eine gezielte Beeinflussung von Empathie oder ein tatsächliches Verstehen von Gedanken und Hand-
3.2 Erfindungen durch Forschung
155
lungsprozessen. Neue Theorien, die noch nicht faktisch geprüft sind, gelten solange als spekulativ oder hypothetisch, bis ihre Prüfbarkeit erreicht wurde und eine Prüfung erfolgte. Eine Forschung ermöglicht quasi eine höhere Form der Problemlösung, indem dabei die eigentliche Problemstellung verändert wird. Und eine Forschungsarbeit beruht demnach auf einer Problematisierung von wissenschaftlichen Themen. Während sich also die Wissenschaft mit der Objektivierung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten befasst, besteht die wissenschaftliche Forschung aus einer Problematisierung von transzendenten und transzendentalen Wahrheiten. Demzufolge beinhalten Innovationen, welche auf neuen Forschungsergebnissen beruhen, neue Lehren und neue Paradigmen. Bei einer solchen Innovation kann man dann auch mit einem höheren Alleinstellungsmerkmal rechnen. Daher wird die Bezeichnung „paradigmenbrechend“ gerne verwendet, um einen besonderen Innovationspreis für eine eigentlich recht einfache Problemlösung zu rechtfertigen. Denn im allgemeinen Marktgeschrei wird kaum nachgefragt, welches wissenschaftliche Paradigma denn dabei nun gebrochen wurde. Dem Prinzip Hoffnung bedeutet demzufolge auch ein Prinzip des Zweifelns. Denn nur wenn Zweifel darüber herrscht, ob das bestehende Wissen ausreicht, um die anstehenden Probleme zu lösen, beginnt eine Forschung. Und mit der Forschung werden dann neue Wahrheiten erkundet, die jenseits der bestehenden Wissenschaft liegen, um die damit verbundenen neuen Probleme auf neuartige Weise lösen zu können. Denn es darf durchaus bezweifelt werden, ob sich eine Erfindung nur im Rahmen des bekannten Wissens tätigen lässt, da die Wissenschaft selbst auf grundsätzlichem Unwissen beruht. Oder wie es Georg C. Lichtenberg (1742–1799) formulierte: „Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss.“94 In diesem Sinne befasst sich die Forschung letztlich mit der Konkretisierung einer Utopie, um eine Innovation zu erreichen. Und bereits in der Metaphysik von Aristoteles (384–322 v.Chr.) sind für diese Verwirklichung einer Sache vier Ursachen benannt.
Stoffursachen oder Causa materialis Dabei handelt es sich um Tatsachen, wie Feststoffe, Flüssigkeiten, Gase oder Ionen. Jedes Objekt besteht aus Stoffen. Selbst wenn es sich nur um Software oder gedachte Dinge handelt, so sind diese doch an eine Hardware oder das menschliche Gehirn gebunden. – Beispielsweise entstehen Innovationen bei der Forschung nach neuen Stoffen, wie neue Supermagnete aus Neodym-Eisen-Bor, eine Hochtemperatur-Supraleitung auf Basis von Kupferoxiden, elektrisch leitende Polymere durch konjugierte Doppelbindungen und Transurane wie Plutonium, die erst durch eine Kernreaktion erzeugt werden.
Gestaltursachen oder Causa formalis Auch dabei handelt es sich noch eher um Tatsachen, wie räumliche Punkte, Linien, Flächen oder Körper. Jedes Objekt hat eine Gestalt. Selbst wenn es sich um Legierungen oder komplexe Aggregate handelt, deren innere Form nicht offensichtlich ist, so ist diese durch Schnitte oder optische Verfahren grundsätzlich zu erkunden. – Beispielsweise entstehen Innovationen aus der Forschung nach neuen Formen, wie Monokristalle aus Silizium für Wafer, aus Nickellegierungen für Turbinenschau-
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? feln, aus Galliumarsenid für elektronische Schaltungen und aus Kohlenstoff für hochfeste Fasern, Nanotubes, Graphen oder Fullerene.
Wirkursachen oder Causa efficiens Dabei handelt es sich bereits eher um vernünftige Ableitungen, wie Kräfte, Energien, Leistungen oder Wirkungen. Denn die Wirkung ist je nach Objekt und Situation eine andere. Zwar lässt sich bei Abläufen wie Bewegungen oder chemischen Reaktionen auch die Wirkung der Kräfte, Energien, Leistungen oder des Wirkungsgrads tatsächlich bestimmen, aber diese Objektivierung ist an bestimmte Messbedingungen gebunden und nicht an das Objekt. – Beispielsweise entstehen Innovationen aus der Forschung nach neuen Wirkmechanismen, wie schlanke Produktionsweisen für höhere Produktivität, kryptische Verschlüsselung für sichere Datenübertragung, multiple Intelligenz für besseren Lernerfolg und Metabolic-Balance für eine ausgewogene Ernährung. Tatsächlich wird bei diesen ausgewählten Beispielen ein messbarer Effekt festgestellt, der noch stark mit den tatsächlichen Ursachen korreliert, obwohl der genaue Wirkmechanismus nicht vollständig aufgeklärt ist. Man kann die Produktivität vielleicht auch anders erhöhen, eine Verschlüsselung vielleicht doch knacken, mit anderen Lernprinzipien erfolgreich sein oder sich auch anders ausgewogen ernähren. Wenn man aber diese Ursachen richtig einsetzt, wird man in jedem Fall eine Wirkung erzielen.
Zweckursachen oder Causa finalis Dabei handelt es sich schließlich um offensichtliche Vernunftwahrheiten, wie Nützlichkeit, Notwendigkeit, Bedürfnis oder Wunsch. Denn der Zweck wird allein vom Denken desjenigen bestimmt, dem er vernünftig erscheint. Zwar lässt sich bei Investitionen oder Produktivität auch die Zweckmäßigkeit der Mittel tatsächlich bestimmen, aber diese Objektivierung ist an bestimmte Mittel gebunden und nicht an ein Objekt. – Beispielsweise entstehen Innovationen aus der Forschung nach einem neuen Zweck, wie höhere Vitalität durch Sport, bessere Gesundheit beim richtigen Körpergewichtsverhältnis, mehr beruflicher Erfolg durch plastische Chirurgie und längeres Leben durch biologisch angebaute Lebensmittel. Tatsächlich sind bei diesen ausgewählten Beispielen auch Zusammenhänge feststellbar, für die es aber sowohl Ausnahmen als auch alternative Erklärungen sowie begründete Zweifel gibt. Man kann offenbar auch ohne Sport vital sein, gesund mit Über- oder Untergewicht und erfolgreich mit einer natürlichen Ausstrahlung. Und die stark ansteigende Lebenserwartung wird offenbar in einer Epoche erreicht, in der es erstmals in der Geschichte technische statt natürliche Anbaumethoden gibt. Die beschriebenen klassischen Ursachen für eine Verwirklichung werden in ihrer Bedeutung für das Management von Forschungs- und Technologieprojekten oftmals unterschätzt. Meist wird Forschung als Freibrief verstanden, eigene Ideen zu verfolgen und dem Bauchgefühl nachzugehen. Dabei bieten die vier Ursachen eine grundlegende und recht überschaubare Aufteilung von innovativen Forschungsansätzen. Denn umgekehrt lassen sich diese Ursachen untersuchen, um den Forschungsbedarf für eine Problemstellung zu ermitteln: Welcher neue Stoff in welcher neuen Form mit welcher neuen Wirkung zu welchem neuen Zweck wäre geeignet, um ein Problem zu lösen? In der modernen Forschung beschreitet man dagegen den nahezu entgegengesetzten Weg. Denn es ist üblich, sich meist an den folgenden vier Nachweisen zu orientieren:
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Ein Experiment weist die heuristischen Tatsachen zu einer Behauptung nach. Der Begriff bezeichnet wörtlich eine Sache, um etwas herauszufinden. Aber wie Karl Popper 1934 in seiner Logik der Forschung aufzeigt, bestätigt ein Experiment nur die Umstände des Versuchs und niemals die Vernunft oder Unvernunft der ursprünglichen Behauptung.95 – Beispielsweise zeigt sich mit der Aufnahme eines neuen Trainingsprogramms mit großer Sicherheit eine Verbesserung der messbaren Vitalfunktionen, wodurch wahrscheinlich auch das Körpergewicht gesenkt wird, die Gesundheit besser wird, sich Erfolge einstellen und die Lebenserwartung steigt. Das Ergebnis weist demnach einen Effekt des Trainingsprogramms nach. Es weist aber nicht nach, ob Sport die Vitalität tatsächlich erhöht, denn es gibt ausreichend Nachweise, dass Sport auch zu Verschleiß, Verletzungsrisiken, Erschöpfungszuständen und anderen Gesundheitsgefährdungen führt.
Eine Quantifizierung stützt eine Behauptung durch heuristische Messungen. Der Begriff bezeichnet wörtlich die Menge einer Sache. Allerdings sind Messungen stets mit einer gewissen Messgenauigkeit, Messdauer, Wertebereich und Maßeinheit verbunden. In jeder Messung steckt daher auch immer ein gewisses Maß an hermeneutischer Deutung der Werte. – Beispielsweise wird die Einführung von Produktivitätskennzahlen meist auch mit einer Verbesserung der Produktivität einhergehen. Allerdings enthält selbst die anspruchsvolle Qualitätsmethode 6 noch einen vernünftig festzulegenden Wert des Toleranzbereichs. Wird dieser Bereich eher großzügig ausgelegt, dann ist es relativ einfach, die Werte um 6 Standardabweichungen einzuhalten. Wird dieser Bereich aber eher eng ausgelegt, dann sind sicherlich hohe Aufwendungen zur Qualitätssteigerung erforderlich. Eigentlich handelt es sich bei 6 nur um ein Qualitätsmaß, welches durch vernünftige Toleranzen eingehalten werden muss. Sind diese Toleranzen unvernünftig klein, dann können die erforderlichen Maßnahmen zur Qualitätssicherung sogar die Produktivität einschränken.
Die Symmetrie stützt eine Behauptung mit hermeneutischen Argumenten. Der Begriff bezeichnet wörtlich eine Gleichmäßigkeit. Wenn etwas ausgewogen, harmonisch, im Einklag und abgestimmt oder rund erscheint, dann scheint die Sache technisch sicher und beherrschbar. Dabei stützt sich eine Betrachtung der Symmetrie durchaus auf heuristisch erfahrbare Eigenschaften. – Beispielsweise kennt man den Effekt, dass ein gezieltes Stören der Symmetrie die Effektivität steigert, wie die Dotierung von Halbleitermaterialien mit Fremdatomen, um besondere p- oder n-Leitungen zu erzeugen. Beim Einsatzhärten wird die Festigkeit von Stahl durch Einlagerung von Kohlenstoffatomen gesteigert. Autoreifen werden an der Außenseite stärker ausgeführt, um dort belastbarer gegen äußere Beschädigung zu sein. Und ein schönes Gesicht wird meist als noch schöner empfunden, wenn es ein kleines besonderes Merkmal aufweist.
Die Systematik gibt einer Behauptung einen hermeneutischen Rahmen. Der Begriff bezeichnet wörtlich die Herstellung eines Zusammenhangs. Eine systematische Vorgehensweise stellt eine grundsätzliche Forderung an einen Forscher und ein Forschungsprojekt dar. Zwar kann man sich dabei durchaus über den Umfang des For-
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? schungsrahmens oder die Strukturierung des Systems vernünftig streiten, aber erst durch eine Systematik ergeben die einzelnen Tatsachen einen gemeinsamen Sinn. – Beispielsweise werden Forschungsprojekte – genau wie Innovationsprojekte – systematisch konzipiert, organisiert, kommuniziert, geplant und kontrolliert. Die Machbarkeit von neuen Werkstoffen wird anhand von technischen und ökonomischen Faktoren untersucht. Und die Verwendungsmöglichkeiten werden dynamisch über das gesamte Einsatzspektrum und die Verfügbarkeit betrachtet. Und selbstverständlich nutzt man wissenschaftliche Arbeitsweisen und benötigt eine zielführende Projektkultur.
Nachweis
Systematik
Ursache
Symmetrie
Quantifizierung
Experiment Abb. 52:
Das Getriebe oder Räderwerk der Forschung Althergebrachten Gründe für Ursachen und moderne Kriterien für Nachweise greifen ineinander.
Experiment, Quantifizierung, Symmetrie und Systematik entsprechen in gewisser Weise den Kategorien einer Forschung. Und obwohl diese modernen Forschungsfaktoren allgemein verbreitet und üblicherweise verwendet werden, ist es selbst den Forschern oftmals nicht bewusst, dass sie die Forschungsarbeit bestimmen. Dabei geben sie der Suche nach innovativen Problemlösungen einen systemischen Rahmen und verhindern ein vorzeitiges Scheitern aus Gründen mangelnder Kenntnisse um die Möglichkeiten. Wenn beispielsweise ein Experiment nicht das erhoffte Ergebnis bringt, dann kann man auch noch einmal systematische, symmetrische oder quantitative Betrachtungen anstellen. Mit diesen Faktoren erweitert ein Innovationsmanager seine Möglichkeiten zum Finden innovativer Lösungsansätze. Lektion 28:
Die Forschung beruht auf einer innovativen Problematisierung von Wahrheiten!
Übung 28: Untersuchen Sie ein beliebiges Thema, beispielsweise ein technisches Produkt, einen betrieblichen Prozess, einen Vertriebsweg oder eine Organisation! Wenn Sie wollen, können Sie beispielsweise das gleiche Thema wie in Übung 23 nehmen.
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Vergleichen Sie dann die Unterschiede in der Vorgehensweise! Erforschen Sie nun die Ursachen für das Thema! Aus welchen Stoffen besteht es? Welche Gestalt nimmt es an? Wie wirkt es? Wozu dient es? Bedenken Sie, dass alles in der Welt irgendwie an eine Materie, eine Form, eine Wirkung und einen Zweck gebunden ist! Überlegen Sie sich nun Nachweise für diese Ursachen! Wie lassen sich diese Ursachen jeweils experimentell feststellen? Wie lassen sich diese Ursachen jeweils quantitativ messen? Aus welcher Symmetrie lassen sich die Ursachen ableiten? Mit welcher Systematik lassen sich die Ursachen erfassen? Welche Probleme lassen sich durch diese Nachforschungen erkennen?
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3.2.1
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Skeptische Tropen
„Wenn sich jemand auf die Suche nach einer Sache begibt, dann kann es schließlich sein, dass er sie gefunden glaubt. Oder dass er sie nicht finden kann und die Unauffindbarkeit eingesteht. Oder dass er die Suche fortsetzt. Das ist vielleicht der Grund, dass es bei der Wissenschaft einige gibt, welche die Wahrheit behaupten, während andere erklären, dass es eine Wahrheit nicht gibt, und weitere angeben, noch weiter suchen zu wollen. Daher kann man drei Denkrichtungen unterscheiden: Die Dogmatiker […], die zu wissen glauben, die Akademiker […], die nicht zu wissen glauben, und die Skeptiker.“96 Diese drei ersten Sätze aus dem Buch Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis von Sextus Empiricus aus dem 2. Jahrhundert zeigen sehr deutlich auf, dass wissenschaftliche Forschung eine Sache der Skeptiker ist. Das Wort Skepsis bezeichnet die Suche, das Ausspähen und die vorsichtige Umschau. Auf der Suche nach innovativen Problemstellungen ist es demnach angebracht, skeptisch zu sein. Und dieses ungewöhnlich lange Zitat kann gleich beim achten Satz fortgesetzt werden, um zu erklären, was Skepsis genauer bedeutet. Denn es ist an Deutlichkeit wohl kaum zu übertreffen: „Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise tatsächliche Erscheinungen und vernünftige Denkweisen einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der Entgegensetzungen und deren Argumente zuerst zur Zurückhaltung und danach zur Seelenruhe gelangen. ‚Kunst‘ bezeichnen wir die Skepsis nicht in irgendeinem ausgeklügelten Sinne, sondern schlicht im Sinne von Können. Unter ‚Erscheinungen‘ verstehen sich hier die bloßen Sinneseindrücke, weshalb wir ihnen den Denkweisen gegenüberstellen. Mit ‚Entgegensetzungen‘ meinen wir nicht nur Verneinungen oder Bejahungen, sondern schlicht die bestehende Unverträglichkeit von Argumenten. Als ‚gleichwertig‘ bezeichnen wir das Auftreten von Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, ohne dass dabei eines der unverträglichen Argumente das andere als glaubwürdiger überragt.“ Wenn wir heutzutage also von einer Unvoreingenommenheit der wissenschaftlichen Forschung sprechen, dann meinen wir eigentlich genau diese vier Aspekte der Skepsis: – Ein gewisses Können in der Wissenschaft im Allgemeinen und in einer wissenschaftlichen Disziplin im Besonderen. – Ein gewisser Tatsachenbezug zu wirklichen Erscheinungen, um an diesen eine wissenschaftliche Vernunft zu prüfen. – Eine gewisse Auseinandersetzung mit den Problemen, um die Gegensätze und Widersprüche klar zu erkennen und zu benennen. – Eine gewisse Gleichgültigkeit in der Lösung, um die beste Möglichkeit unbeeindruckt, wertfrei, vorurteils- und wunschlos zu finden. Der Zweck einer Forschung besteht in diesem Sinne daraus, eine festgefahrene Situation zu überwinden. Unvoreingenommenheit bedeutet demnach eben nicht, munter irgendwie drauflos zu forschen, und verträumt zu hoffen, dass sich schon irgendetwas dabei ergeben werde. Unvoreingenommenheit bedeutet zunächst einmal eine harte Arbeit an der Umwandlung von festgefahrenen Situationen in reale Hoffnungen und konkrete Utopien. Erst mit einem gewissen Können, einem gewissen Tatsachenbezug, einer gewissen Auseinandersetzung und einer gewissen Gleichgültigkeit lässt sich professionell erwarten, dass die Forschung auch zu wirklich neuen Ergebnissen führt und innovative Problemstellungen ermöglicht. Diese Wandlungen werden griechisch als Tropen bezeichnet.
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Im Verlauf des Buches führt Sextus Empiricus zahlreiche Tropen auf, die eine Wandlung von festen Einstellungen, Überzeugungen, Meinungen und Urteilen überwinden helfen. Und dieser Katalog ist umso beeindruckender, weil er ein konkretes Hilfsmittel für skeptische Betrachtungen darstellt. Man sollte sich demnach nicht davon irritieren lassen, dass unter dem Begriff Skepsis umgangssprachlich meist ein eher störender, überflüssiger, abweichender und daher nutzloser Einwand verstanden wird. Mit den Tropen verhilft der Skeptiker zu einer konkreten Übersicht – dem Spektrum – der Möglichkeiten. Der Schwerpunkt einer Forschungsmethode beruht demnach eher auf diesen Tropen als auf Skepsis. Bei den Tropen von Sextus Empiricus handelt es sich eher um hermeneutische Sätze, die in eine andere Sprache zu einer anderen Zeit in einen anderen Zusammenhang übertragen und gedeutet werden müssen. Im Folgenden wird daher eine Übertragung auf den heutigen Kenntnisstand vorgenommen, um den Spielraum für innovative Problemstellungen aufzuzeigen.
Urteil
Wirklichkeit
- Qualität - Quantität - Relation - Modalität
- Material - Form - Menge - Zweck
Wahrnehmung - Sinneseindruck - Sinnesvorstellung - Sinnesraum - Sinneswandel Abb. 53:
Begründung - Tatsache - Verständnis - Recht - Fügung
Wissenschaft - Ableitung - Folgerung
Listen mit wissenschaftlichen Kategorien Über einen methodischen Zweifel eröffnet sich die Möglichkeit zum Wandel.
Eine Wahrnehmung kann sich wandeln! Vier Tropen beziehen sich auf die menschlichen Sinne: – Der Sinneseindruck kann bezweifelt werden, beispielsweise durch Gewohnheit oder Alterung. Empfindungen werden bei Wiederholung manchmal sensibilisiert und manchmal abgestumpft. Sinneszellen stellen sich auf die Licht- oder Lautstärke ein sowie die Intensität eines Geruchs, Geschmacks oder Schmerzes. Und mitunter kann der Eindruck täuschen. Denn wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten! – Die Sinnesvorstellung kann bezweifelt werden, beispielsweise beim alltäglichen Umgang mit Maschinen, Fahrzeugen, Trickfilmen oder Computerspielen. Das Gefühl für Kräfte, Entfernungen, Geschwindigkeiten, Zeiten und die Wirklichkeit wird durch ganz neue Eindrücke geprägt. Es bedeutet einen erheblichen Unterschied, ob
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
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man etwas real wahrnimmt oder durch eine Simulation. Denn die Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit fällt mitunter schwer! Der Sinnesraum kann bezweifelt werden, beispielsweise beim Vorstoß in ganz neue Lebenswelten des Meeres, des Himmels, der Hitze oder des Mikrokosmos. Bemannte oder unbemannte Expeditionen vermitteln Eindrücke aus der Tiefsee, aus dem All und von fernen Planeten. Besondere Sensoren oder Sonden verschaffen uns Einblicke in Vorgänge bei der Verbrennung, bei Mikroben und bei molekularen Strukturen. Und es macht bereits einen Unterschied, ob man im Büro oder auf dem Land arbeitet. Denn wo es mir gut geht, da bin ich zuhause! Der Sinneswandel kann bezweifelt werden durch moderne Ansichten über den Raum, die Zeit, die Wirtschaft und die Gesellschaft. In der Relativitäts- und Quantentheorie stellen wir uns eine Wirklichkeit mit Raumkrümmung, Zeitdehnung, Wellenobjekten und Quantensprüngen vor. In humanistischen, liberalen, sozialen, kapitalistischen Weltanschauungen erkennen wir übergeordnete Zusammenhänge im Austausch von Leistungen und in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Denn früher war selbst die Zukunft besser!
Selbst die Wirklichkeit kann sich wandeln! Vier Tropen beziehen sich auf die wissenschaftlichen Ursachen: – Das Material kann anders sein, beispielsweise durch Einsatz von Stoffen mit bestimmten Eigenschaften. Kunststoffe ersetzen Naturstoffe wie Holz, Wolle, Seide. Besondere Metalle ermöglichen den Transport von Energie und Nachrichten. Halbleiter gestatten elektronische Schaltungen und Verarbeitungsprozesse, die ursprünglich den Leistungen von Nervenzellen vorbehalten waren. – Die Form kann anders sein, beispielsweise durch Einsatz von körnigen, fadenförmigen, flächigen, porösen oder nanostrukturierten Körpern. Das Korngefüge bestimmt die Festigkeit von Stahl, die Faserverteilung die Belastbarkeit von Verbundmaterial, die Schichtung die Beständigkeit von Schalen, die Porosität die Leichtigkeit von Werkstoffen und die Korngröße ihre Wirksamkeit. – Die Menge kann anders sein, beispielsweise durch Einsatz von Gemischen. Gezielte Dotierungen ändern die Leitungseigenschaften von Halbleitern. Schäume oder Nebel entfalten eine größere Wirksamkeit. Passende Dosierungen von Medikamenten und technischen Wirkstoffen zu laufenden Prozessen im richtigen Moment sind entscheidend für den Erfolg. – Der Zweck kann anders sein, beispielsweise durch Zweckentfremdung in der Anwendung. Ein Stück Kohle kann dazu dienen, ein Feuer zu unterhalten, eine Zeichnung anzufertigen, Stahl zu härten, Luft oder Wasser zu filtern, organische Substanzen zu gewinnen und vieles andere mehr. Auf der Verwendung von Wasser beruhen die meisten Erscheinungen der Erde. Und bereits die Bibel nennt die Verwendung von Schwertern zu Pflugscharen.
Auch ein Urteil kann sich wandeln! Vier Tropen beziehen sich die Urteilskriterien der Kategorien der reinen Vernunft von Immanuel Kant: – Die qualitative Beschaffenheit kann anders sein, beispielsweise durch eine andere Verteilung. Eine einzelne Wespe wirkt weniger bedrohlich als ein Schwarm. Ein
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Sandkorn erscheint weniger wichtig als eine Wüste. Ein Geschenk erregt meist eine höhere Beachtung als eine regelmäßige Überweisung. Der quantitative Umfang kann anders sein, beispielsweise durch einen anderen Standpunkt. Die lebensfeindlichen Temperaturen auf der Sonne ermöglichen das Leben auf der Erde. Ein einmaliger Ertrag in 20 Jahren hat bei 10 Prozent jährlichem Zins nur einen gegenwärtigen Kapitalwert von etwa einem Siebtel. Im Vergleich zu einer Mikrobe ist eine Milbe von 0,1 mm Größe noch riesig und kann als unsichtbarer Krankheitsüberträger dienen. Und in einem Vertrag steht mehr drin, als ein einfacher Handschlag besiegeln kann. Die relative Bedingung kann anders sein, beispielsweise durch eine andere Wechselwirkung. Rote Haare und blaue Augen ergeben sich allein aus schwarzen, braunen und durchsichtig-weißen Hautpigmenten. Durch Einlagerung von Kohlenstoff wird Stahl hart. Inertes Titandioxid wird bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht zu einem Katalysator für chemische Reaktionen. Es bedeutet einen Unterschied, ob man sich privat oder in einer Gruppe trifft. Die modale Möglichkeiten können andere sein, beispielsweise durch andere Verhältnisse. Als Taschengeld für Kinder sind 1000 Euro monatlich verdammt viel, als Monatslohn für einen vollbeschäftigten Erwachsenen eher wenig. Ein Fingerhut voll Benzin reicht für eine Autofahrt wohl kaum, für ein Feuerzeug aber recht lange. Und dieselbe Trauminsel kann unter Umständen zum Albtraum werden, wenn man an ihr gestrandet ist.
Und eine Begründung kann sich wandeln! Vier Tropen beziehen sich auf die Bestätigung von Wissen: – Die physische Tatsache kann eine andere Bedeutung aufweisen, beispielsweise durch den jeweiligen Sprachgebrauch. Beim Recycling handelt es sich wörtlich um die Rückführung eines technischen Produkts in einen Kreislauf. Das kann bedeuten, die Werkstoffe wiederzugewinnen, um daraus das gleiche Produkt nochmals herzustellen. Es kann aber auch bedeuten, die enthaltenen Rohstoffe wiederzugewinnen und wieder technisch zu nutzen. Und es kann auch bedeuten, die Rohstoffe wieder in die Natur zurückzuführen, beispielsweise indem man sie über Deponien in der Natur wieder ablagert. Es ist also nicht zwingend, dass ein Teil für das Ganze genommen werden kann. – Das psychische Verständnis kann einer anderen Erklärung folgen, beispielsweise durch die Verwendung anderer Metaphern. Der Apfel ist als rundliche essbare Baumfrucht durchaus mit Birnen, Orangen oder Pflaumen zu vergleichen, um ihren Nutzen zu verdeutlichen – aber wohl kaum, um ihren Geschmack zu beschreiben. Ein Mensch ist als Geschöpf Gottes durchaus mit fliegenden Vögeln vergleichbar, um seine Freiheit zu erläutern – aber wohl kaum, um sein Wesen zu erfassen. Das Kreisen der Planeten um die Sonne lässt sich durchaus mit Elektronen um den Atomkern vergleichen – aber wohl kaum, um Quantensprünge bei elektromagnetischer Anregung zu erklären. Es ist also nicht zwingend, dass ein Zusammenhang auf alle Fälle gilt. – Die logische Rechtfertigung kann einer anderen Gültigkeit unterliegen, beispielsweise durch besondere Ausnahmen. Menschen mit gleichen Gewohnheiten haben demnach eine gleiche Lebenserwartung – außer sie haben verschiedenes Erbgut,
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
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Körpergröße, Lebensgeschichte, Ausbildung etc. Schwere Körper fallen zu Boden – außer sie werden durch unsichtbare Kräfte nach oben gezogen. Es ist also nicht zwingend, dass sich eine Folgerung beliebig übertragen lässt. Die zufällige Fügung kann einen anderen Anspruch haben, beispielsweise durch neue Entdeckungen. Alle Schwäne sind weiß – bis man in Australien auch schwarze Schwäne entdeckte. Die Zeit vergeht überall gleich – bis man an der Bewegung des Planeten Merkur, der Halbwertszeit kosmischer Strahlung und an einer Atomuhr im Flugzeug eine relativistische Zeitverschiebung feststellen konnte. Es ist also nicht zwingend, dass eine Erkenntnis für immer stimmt.
Schließlich kann sich auch die Wissenschaft selbst wandeln! Zwei Tropen beziehen sich auf die beiden kanonischen Wahrheiten der Wissenschaft: – Die Ableitung einer bestimmten Tatsache kann zweifelhaft sein, beispielsweise bei Zweifel an der hermeneutischen Wahrheit. In der theoretischen Definition ist die Energie diejenige Größe, die bei Variation des Zustands erhalten bleibt. Die Energieerhaltung folgt aus dieser Definition und ist dann nicht mehr ein heuristisches Naturgesetz. Allerdings liegt aufgrund der quantenmechanischen Unschärfe ein genauer Zustand niemals vor und die Energieerhaltung kann kurzfristig auch verletzt sein. In der modernen Wissenschaft gilt daher der Modellcharakter einer Theorie: Ein theoretisches Modell gilt so weit als wahr, als die Ableitungen mit den tatsächlichen Effekten übereinstimmen. – Die Folgerung einer bestimmten Vernunft kann zweifelhaft sein, beispielsweise bei Zweifel an der heuristischen Verallgemeinerung. In der praktischen Definition ist die Masse diejenige Größe, die das Verhältnis von Kraft und Beschleunigung bestimmt. Eine Masse ist daher heuristisch festgelegt und kann somit nie anders gedeutet werden. Allerdings liegt aufgrund der Lichtgeschwindigkeit eine Höchstgeschwindigkeit für Bewegungen vor und eine Beschleunigung führt daher irgendwann nicht mehr zu einer höheren Geschwindigkeit. In der modernen Wissenschaft wird daher die Masse erhöht und man unterscheidet bei entsprechend schnellen Objekten zwischen bewegter und ruhender Masse. Mit diesen 18 Tropen entsteht ein weitreichendes Hilfsmittel, um festgelegten wissenschaftlichen Denkweisen einen innovativen Dreh zu versetzen. Mit jeder einzelnen Trope gelingt es, zu zeigen, dass durchaus noch Platz für Forschung besteht. Und durch diese Forschung wird es dann möglich, ein festgefahrenes Problem auf innovative Weise zu lösen. Lektion 29:
Tropen schaffen einen innovativen Wandel der Problemstellung!
Übung 29: Untersuchen Sie ein beliebiges Thema, beispielsweise ein technisches Produkt, einen betrieblichen Prozess, einen Vertriebsweg oder eine Organisation! Wenn Sie wollen, können Sie beim gleichen Thema wie zuvor bleiben. Vergleichen Sie dann im Anschluss die dadurch erreichten Unterschiede im Ergebnis! Untersuchen Sie Ihre eigene Wahrnehmung in Bezug auf das Thema! Welche Eindrücke, Vorstellungen, räumliche oder zeitlichen Bedingungen können auch anders sein – und wie beeinflusst das Ihre Wahrnehmung?
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Untersuchen Sie die allgemeine Erscheinung des Themas! Welche Materialien, Formen, Mengen oder Anwendungszwecke können auch anders sein – und wie beeinflusst dies die Erscheinung? Untersuchen Sie die besondere Beurteilung des Themas! Wie können die Beschaffenheit, der Umfang, die Bedingungen und Möglichkeiten der Umgebung anders sein – und wie wird davon Ihr Urteil beeinflusst? Untersuchen die die allgemeingültigen Begründungen für das Thema! Welche Bedeutungen, Erklärungen, Gültigkeiten und Ansprüche können anders sein – und wie werden davon die Begründungen beeinflusst? Untersuchen Sie die Glaubhaftigkeit aller getroffenen Aussagen! Was gilt nur aufgrund einer deduktiven Ableitung, und was nur aufgrund eines induktiven Schlusses – und wie glaubhaft sind dann noch die jeweils getroffenen Aussagen? Welche Probleme werden dadurch erkennbar?
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.2.2
Logische Unentscheidbarkeit
„Kreter sind immer Lügner …!“ Auf diesem Ausruf des kretischen Priesters Epimenides aus dem 7./6. Jh.v.Chr. gründet sich eine wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts. Denn diese Behauptung zeigt an, dass es durchaus Aussagen gibt, die sich nicht logisch bewerten lassen: Da Epimenides selbst Kreter war und somit immer gelogen hätte, wäre die Aussage falsch gewesen – und dadurch ergäbe sich die Möglichkeit, dass er doch nicht gelogen hätte, sondern die Aussage wahr gewesen wäre – wodurch sie aber wiederum falsch gewesen sein müsste … In einer endlosen Schleife zwischen wahr und falsch kommt man schließlich logisch zu dem Schluss, dass die Aussage nicht logisch zu bewerten ist. Die grundlegende Unmöglichkeit einer umfassenden Logik wurde inzwischen in allen wissenschaftlichen Disziplinen gefunden, selbst in denjenigen, die man gemeinhin als „exakt“ bezeichnet, wie Mathematik und Physik. In der Physik wurde diesbezüglich sogar das neue Naturgesetz der Unbestimmtheit oder Unschärfe entdeckt und von Werner Heisenberg beschrieben.97 Einige Eigenschaften sind demnach immer nur ungenau bestimmbar. Denn die Wissenschaft ist grundsätzlich nicht vollständig, sondern immer offen für Innovationen. Diese ständige Unvollständigkeit besteht sogar für die rein logische Wissenschaft der Mathematik: – Das sogenannte Unentscheidbarkeitstheorem wurde 1931 vom österreichischen Mathematiker Kurt Gödel (1908–1970) bewiesen. Demnach enthält jedes logische System auch Aussagen, die innerhalb dieses Systems nicht mehr entscheidbar sind. Beispielsweise befasst sich die Mathematik mit der Logik. Aber die einfache Frage, ob die Mathematik selbst auch unlogisch sein könnte, lässt sich mathematisch bereits nicht mehr beantworten. Gesetzt den Fall, dass es in der Mathematik auch unlogische Schlüsse gäbe, könnte gerade derjenige Schluss unlogisch sein, aus dem ihre Unlogik folgt. Und die Mathematik wäre dann deshalb logisch, weil sie unlogisch wäre, was doch nicht sehr logisch erscheint. Mit einiger Übung lassen sich solche paradoxen logischen Verdrehungen immer anstellen. Die Logik stellt demnach nur eine Verbindung zwischen den Wahrheitswerten her und kann somit keine Aussagen über sich selbst treffen. In diesem Sinne ist somit die Mathematik selbst logisch unvollständig und folglich auch immer offen für Neuerungen und vielleicht auch Innovationen. Für einen Innovationsmanager ist es daher zweckmäßig, selbst etwas Übung mit dem Aufstellen einer Unlogik zu erlangen. Ähnlich wie bei den Tropen zuvor erhält er dadurch die Kompetenz, logisch festgefahrene Problemstellungen aufzubrechen und neue Forschungsansätze zu erzeugen, die dann wiederum zu paradigmenbrechenden Problemlösungen führen. Diese Methoden der logischen Überführung können wiederum vereinfacht anhand von vier Kriterien dargestellt werden:
Bei Heterologien handelt es sich um Worte, die etwas anderes – griechisch: heteros – bezeichnen, als sie selbst sind. Das scheint durchaus der Regelfall zu sein, denn ein Wort wie „russisch“ ist letztlich selbst deutsch und ein Wort wie „einsilbig“ besteht selbst aus drei Silben. Allerdings gibt es gelegentlich auch Homologien, die etwas Gleiches – griechisch: Homos – bezeichnen, wie die Worte „рўсский“ oder „dreisilbig“. Dies scheint noch nicht unlogisch.
3.2 Erfindungen durch Forschung –
Aber was gilt für das Wort „heterologisch“? Wenn es selbst heterologisch ist, dann ist es folglich homologisch und demzufolge dann doch wieder heterologisch. Kurt Grelling (1886–1942) zeigte 1902 an diesem einfachen Beispiel, dass sich selbst ein strikter sprachlicher Gegensatz nicht aufrechthalten lässt.
Bei Paradoxien handelt es sich dann um Aussagen, die sich selbst widersprechen, wenn man sie zu verstehen versucht. Ein schönes Beispiel dafür ist der Aufkleber „Bekleben verboten!“. Ein anderes Beispiel ist die Werbung für eine „Einmalige Vielfalt!“. Bei aufmerksamer Betrachtung finden sich auch außerhalb der Sprache solche Widersprüche. – Bereits Proklos (410–485 n.Chr.) berichtete von einem Rechtsstreit in Athen zwischen einem Rechtsgelehrten und seinem Schüler. Vereinbart war, dass das Lehrgeld vom ersten gewonnenen Gerichtsprozess gezahlt würde. Aber der Schüler weigerte sich nach dem Abschluss, überhaupt einen Prozess zu führen. Also verklagte ihn der Lehrer. Falls aber der Lehrer recht bekäme, dann hätte der Schüler verloren und müsste nicht zahlen, wodurch er doch irgendwie gewonnen hätte und somit zahlen müsste. Ein logisch rechtes Urteil scheint es dabei einfach nicht zu geben – außer dem Rechtsgrundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Aber dieser Zweifel wäre auch kein Urteil, sondern eine übergeordnete Entscheidung ohne logische Gewinner – wenn auch tatsächliche Verlierer. – Von René Magritte (1898–1967) stammt das Bild einer Pfeife mit der Bildinschrift: „Ceci n’est pas une pipe!“ (Dies hier ist keine Pfeife!) Und wirklich ist doch das Bild einer Pfeife selbst keine Pfeife. Aber „im“ Bild ist die Pfeife sehr wohl eine Pfeife. Gerade dieses Bild eröffnet einen innovativen Weg zur Betrachtung von Bildern. Sind Bilder das, was sie sind, oder das, was sie zeigen?
Abb. 54:
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Keine Logik kann umfassende Aussagen über sich selbst logisch entscheiden. Dies ist zwar keine wirkliche Pfeife, sondern nur deren Bild – aber die Aussage befindet sich ja auch nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in dem Bild.
Bei Tautologien handelt es sich um Folgerungen, die alles – griechisch: tautos – einschließen und daher letztlich nichts folgern. „Wenn es nicht anders wird, dann bleibt es so!“ Offenbar handelt es sich dabei eigentlich nicht um einen Widerspruch „in-sich“, d.h. eine Paradoxie. Aber doch handelt es sich um einen Widerspruch „an-sich“. Denn diese scheinbare Folgerung ist dann doch keine. Eine Tautologie erscheint somit eher widersinnig und gehört zum Repertoire von Komödianten, Kabarettisten, Satirikern und anderen Wortakrobaten, um dem Denken eine überraschende Wendung zu verschaffen.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Daher besteht grundsätzlich kein Mangel an eingängigen Beispielen. Nachfolgend eine kleine Auswahl: – „Durch Anschlag mach ich Euch bekannt: Heut ist kein Fest in deutschem Land! Drum sei der Tag für alle Zeit – zum Nichtfestfeiertag geweiht!“ von Christian Morgenstern (1871–1914). – „Ich bin mir sicher: Früher waren sie jünger!“ von Curd Götz (1888–1960). – „Es würde mir nicht im Traum einfallen, einem Club anzugehören, der mich als Mitglied akzeptiert!“ von Julius Henry Groucho Marx (1890–1977). – „Ich habe den Verdacht, dass Windräder gar keinen Strom erzeugen, sondern eher den Wind machen. Und richtig: Als die Räder neulich still standen, war gleich Flaute!“ von Sebastian Pufpaff (*1976). – „Ich würde einmal gerne etwas ganz alleine schaffen – aber ich finde keinen, der mir dabei hilft!“ Eine eigene Beobachtung des Autors.
Bei Antinomien handelt es sich um Erkenntnisse, die auch ihr Gegenteil – griechisch: antios – miteinschließen. Als Sokrates erkannte, nicht weise zu sein, wurde ihm von der Seherin Pythia bei dem Apollotempel von Delphi geweissagt, dass er genau darum der weiseste Mensch der Welt sei. Es bedarf offenbar einiger geistiger Anstrengungen, sich durch dieses Labyrinth von Weisheiten – sowie deren wahre Bedeutung – hindurch zu denken. Und es wird schließlich dadurch doch nicht klar, was Weisheit wirklich bedeutet. Daher betreffen Antinomien eher die Grundfragen des Lebens und stehen etwas abseits von konkreten Utopien und der Forschung nach innovativen Problemstellungen. Dennoch ein paar Beispiele: – „Allein beständig ist der Wandel!“ ist eine Erkenntnis von Heraklit (550–480 v.Chr.) und beschreibt beispielsweise auch das Verhältnis von Wissenschaft und Forschung. Denn die Wissenschaft befasst sich mit dem Bestand an Wissen, unterliegt aber einem beständigen Wandel. Und die Forschung befasst sich mit dem wissenschaftlichen Wandel und ist dadurch beständig. – „Der Tod geht uns nichts an. Denn solange wir leben, ist der Tod nicht da; und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da.“ Dabei handelt es sich um eine Erkenntnis von Epikur (341–270 v.Chr.) über den Tod und das Leben. Auch dies lässt sich auf den Fortschritt durch Innovationen übertragen. Denn das Scheitern eines Innovationsprojekts ist eigentlich nicht ein Problem für das Innovationsmanagement, sondern ein Projekt erst gar nicht versucht – oder gar vorzeitig aufgegeben – zu haben, garantiert einen Misserfolg. – „Ein Heil bleibt den Besiegten: Kein Heil mehr zu erhoffen.“ So lautet eine Erkenntnis von Vergil (70–19 v.Chr.). Wer es also aufgibt, an einen Mehrwert durch Problemlösungen und Forschung zu glauben, der sollte sich lieber auch nicht mit dem Innovationsmanagement beschäftigen. Denn das kann man doch auch bequemer haben, oder? Diese logischen Denkweisen zur Unlogik sind sicherlich etwas gewöhnungsbedürftig, mühevoll und anstrengend. Außerdem scheint es zunächst völlig unklar, ob der angestrebte ökonomische Nutzen eines besseren Innovationsmanagements durch solche logischen Fertigkeiten erhöht wird. Daher werden solche tiefergehenden Weisheiten gerne mit dem Hinweis
3.2 Erfindungen durch Forschung
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abgelehnt, dass man Zweifel an ihrem Beitrag zum Erfolg hegt. Das kann durchaus auch berechtigt sein … Aber dieser Zweifel lässt sich doch genauso bezweifeln. Denn das Einzige, was man beim Zweifeln nicht bezweifeln kann, ist, dass der Zweifelnde denkt. – René Descartes (1596–1650) stellte 1639 diese grundlegenden Überlegungen zum Zweifel an. Seither gilt das vernünftige Denken – die menschliche Ratio – als Beginn eines wissenschaftlichen Fortschritts. Und es ist daher durchaus vernünftig, sich mit den Grenzen der wissenschaftlichen Logik zu befassen, um zunächst eine Denkbarkeit von innovativen Lösungsansätzen zu erreichen. In diesem Sinne handelt es sich offenbar um eine hermeneutische Wahrheit, welche durch den Erfolg der modernen Wissenschaft immer wieder bestätigt wird. Lektion 30:
Der Nachweis einer Unlogik führt zu einer innovativen Logik!
Übung 30: Untersuchen Sie ein beliebiges Thema, beispielsweise ein technisches Produkt, einen betrieblichen Prozess, einen Vertriebsweg oder eine Organisation! Wenn Sie wollen, können Sie beim gleichen Thema wie zuvor bleiben. Vergleichen Sie dann die Unterschiede im Ergebnis mit den anderen Forschungsansätzen, die hier vorgestellt werden! Beschreiben Sie das Thema und versuchen Sie, das Wesentliche mit etwa 100 bis 150 Worten zu erfassen! Markieren Sie ERST DANN die dabei verwendeten Schlüsselbegriffe und untersuchen Sie, ob diese das von Ihnen Gemeinte auch zutreffend darstellen! Verwenden Sie den Thesaurus der Rechtschreibprüfung oder die Funktion Synonyme bei einem Schreibprogramm Ihres Computers, um weitere Anregungen zu erhalten. Suchen Sie in einem Herkunftswörterbuch nach der etymologischen – griechisch: wahrhaftigen – Bedeutung der Begriffe!98 Welche Probleme werden dabei erkennbar? Untersuchen Sie dann die verschiedenen Sätze und deren Aussagen in der Beschreibung! Gibt es dabei vielleicht Zusammenhänge, die widersprüchlich verstanden werden könnten? Gibt es dabei vielleicht Aussagen, die eigentlich selbstverständlich und nichtssagend sind? Gibt es dabei vielleicht auch Weisheiten, mit denen ein übergeordnetes Verständnis erreicht wird? Bedenken Sie, dass jede Erfindung solche Elemente enthalten muss, um wirklich und tatsächlich etwas Neues, Niedagewesenes zu schaffen! Welche logischen Probleme werden dadurch erkennbar?
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3.2.3
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Eristische Kunstgriffe
„Eristik ist die Kunst zu streiten, und zwar so zu streiten, dass man immer recht behält, also im Recht und im Unrecht. Man kann nämlich bei einer Sache objektiv recht haben und dennoch in den Augen von Anderen – bisweilen sogar in den eigenen – unrecht bekommen. Wenn beispielsweise ein Anderer meine Argumente widerlegt, dann wird dies als Beweis für die Widerlegung meiner Sache angesehen, obwohl diese aber vielleicht durch andere Beweise doch richtig wäre. In diesem Fall wird die Wahrheit für den Anderen gerade umgekehrt: Er behält recht bei objektivem Unrecht. Daher sind objektive Wahrheit einer Sache und eine gültige Anerkennung ihrer Richtigkeit zweierlei.“ Diese Aussagen wurden – leicht aktualisiert – übernommen aus der Einleitung zur Eristischen Dialektik von Arthur Schopenhauer (1788–1860), die man erst in seinem Nachlass fand und 1864 veröffentlichte.99 Der Begriff Eristik leitet sich ab von Eris, der griechischen Göttin des Streites. Und tatsächlich scheint es doch für die unwirklichen, unfertigen – aber vernünftigen – Angelegenheiten des menschlichen Forschens und Hoffens zunächst einmal keinen anderen Grund zu geben als das Bestreiten einer logischen Auseinandersetzung. Dieser Aspekt des Innovationsmanagements wird in der Regel nicht gelehrt – wohl aber ausgiebig praktiziert. Denn jeder Innovationsmanager muss doch zunächst eine unfertige Neuheit behaupten, sonst wäre er doch nicht wirklich innovativ. Und jede Idee für eine Innovation stützt sich doch zu Beginn vornehmlich allein auf hoffentlich vernünftige Argumente, solange sie sich noch nicht durch eine tatsächliche Ausführung bestätigt. Denn objektiv betrachtet, besteht für eine wirkliche Neuheit zunächst keinerlei Rechtfertigung, außer in einer überzeugenden Argumentation. Wie zuvor bereits für die Forschung begründet wurde, hängt sie tatsächlich auch immer irgendwie in der Luft. Daher wird von einem Innovationsmanager durchaus eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit für solche frei schwebenden Angelegenheiten gefordert. Es muss ihm gelingen, die bestehende Unwirklichkeit einer Idee zumindest so lange behaupten zu können, bis er sie durch gefundene Fakten belegen kann. Da er währenddessen aber durchaus konkrete Mittel für seine Forschung nach einer Utopie benötigt, stellt sich die Suche nach solchen unbelegbaren Argumenten durchaus selbst als schöpferische Tätigkeit dar. Diese professionelle Findigkeit für eine innovative Logik wird klassisch als Dialektik bezeichnet, was wörtlich in etwa Erläuterung oder Auseinandersetzung bedeutet und mitunter auch im Sinne von Zerreden verstanden wird. Eine dialektische Wahrheit ist im günstigen Fall verbunden mit einer tieferen Einsicht in die Problematik, einem besseren Verständnis für das Thema oder einer geklärten Überzeugung der Beteiligten. Im ungünstigen Fall aber ist sie verbunden mit verpassten Gelegenheiten zur Innovation, unberechtigtem Erfolg oder Versagen – und vielleicht auch enttäuschten Hoffnungen der Interessenten. Das kann offenbar gleichermaßen auf die Forschung und auf eine Innovation zutreffen. Bei einer Innovation geht es also auch darum, recht zu behalten, solange sich die Verwirklichung noch in der Schwebe befindet. Das gilt insbesondere für den Fall, dass die Problemstellung verfahren scheint und zunächst einmal eine Forschung erfolgen muss. Dankbarerweise liefert Schopenhauer selbst bereits in dem Handbuch 38 konkrete Kunstgriffe, um eine dialektische Rechtfertigung zu bestehen.
3.2 Erfindungen durch Forschung
171
Ablehnen von Behauptungen Man kippt die Argumente der Gegenseite dabei mit folgenden drei Kunstgriffen: – Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs einer Behauptung zwingt die Gegenseite dazu, immer genauer und konkreter zu werden, bis nur noch einzelne Besonderheiten strittig sind. – Eine Übertragung der verwendeten Worte auf eine andere Bedeutung. Beispielsweise ist eine Neuerung als Innovation eine vorteilhafte Sache, kann aber auch als schöpferische Zerstörung mit Nachteilen verbunden sein. Beispielsweise kann sich ein Attribut wie „grell“ auf ganz verschiedene Eindrücke beziehen, wie Farben, Töne oder Stimmungen, welche sich wahlweise deuten lassen. – Eine Übertreibung der Behauptung, indem man sie als allgemein gültig, immer während, ständig vorhanden und für alles zutreffend erklärt. In dieser Absolutheit kann dann jede Sache absurd – in sich widersprüchlich – und widerlegt werden.
Vorbereiten von Behauptungen Man stützt die eigenen Argumente – entsprechend umgekehrt – mit folgenden drei Kunstgriffen: – Durch Einstreuen von leicht hinzunehmenden Aussagen, die später nicht mehr abgelehnt werden können. Mit einer solchen „Ja-Kette“ führt man dann später zur eigentlichen Behauptung. – Durch Verwirren mit leicht abzulehnenden Aussagen, die später als Zugeständnis umgekehrt werden. Die sich dann ergebende Folgerung ist umso schwerer abzulehnen. – Durch Verstecken von Teilen einer späteren Behauptung in anderen Aussagen, indem man zunächst einzelne Sonderfälle, unverdächtige Allgemeinplätze, harmlose Bezeichnungen oder andere schlichte – aber unbelegte – Behauptungen einführt. Diese können dann später verallgemeinert, konkretisiert oder verschärft werden.
Überführen in eine Verlegenheit Man weist der Gegenseite mit folgenden fünf Kunstgriffen nach, grundsätzlich nicht alles über eine Sache zu wissen: – Durch Ermutigung zu immer weiteren Ausführungen sammelt man Verdachtsmomente für Ungereimtheiten, die man später gezielt nachfragen kann. – Durch Missverstehen reizt man zu unbedachten Äußerungen, die leicht zu widerlegen sind. – Durch Missachten der Argumentation und der Schlussfolgerungen folgt man nur seiner eigenen Logik, ohne auf Gegenargumente oder andere Schlüsse einzugehen. – Durch Vortäuschen einer bestimmten Entscheidung oder Auswahl zwischen Alternativen verwirrt man die Argumentation, ohne etwas zur Sache zu sagen. – Durch Vorschnelligkeit beim Schlussfolgern lassen sich Ergebnisse darstellen, als würden sie sich ganz von allein aus der Argumentation ergeben.
Verdrehen von Bedeutungen, Behauptungen und Argumentationen Man weist die eigene Kompetenz in der Sache mit folgenden vier Kunstgriffen nach: – Durch eine Wortwahl, welche der Behauptung bereits einen guten oder schlechten Beigeschmack verleiht, wie ein fortschrittlicher Querdenker oder ein hinderlicher Querkopf.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
– –
Durch eine Auswahl zwischen mehreren Alternativen, die allesamt eher negativ besetzt sind. Man muss sich dann für das kleinste Übel entscheiden, was immer noch eher zum eigenen Vorteil bzw. zum Nachteil der Gegenseite ist. Durch eine Frechheit, bei der man einfach die eigene Behauptung als Schluss vorstellt, ohne eine echte Folgerung zu ziehen. Manchmal kommt man damit durch. Durch eine Finte, bei der man zwei Behauptungen nutzt, von denen man nur eine beweisen kann, damit aber den Beweis von beiden unterstellt.
Zersetzen der Glaubwürdigkeit Man stellt die Kompetenz der Gegenseite mit folgenden sieben Kunstgriffen infrage: – Durch Nachhaken bei früheren Ansichten oder in verwandten Themen, die sich inzwischen als falsch erwiesen haben. Zumindest für Außenstehende ist dann die Gegenposition zweifelhaft. – Durch Spitzfindigkeit bei der Verwendung von Worten, indem man sie auf bestimmte Fälle anwendet, in denen sie eine andere Bedeutung haben. Über Worte lässt sich trefflich streiten, ohne dass die Argumentation vorwärtskommt. – Durch Themenwechsel bei der Argumentation verlegt man sich auf ein neues Gebiet, in dem man mit neuen Bedeutungen, Behauptungen und Argumentationen auftrumpft. Kann die Gegenpartei nicht folgen, so haben zumindest Außenstehende wieder Zweifel. – Durch Verallgemeinern von Argumenten wird verhindert, eine genaue Stellung zu beziehen und dadurch angreifbar zu werden. Ganz allgemein gesprochen gilt doch alles irgendwie. – Durch Einbeziehen von zusätzlichen unbewiesenen Argumenten in einige akzeptierte Argumente kann man einen günstigen Schluss ziehen ohne Rücksicht auf die Gegenposition. Meist fehlt dann die Zeit, um diesen Zusammenhang aufzuschlüsseln. – Durch Spiegeln einer ungerechtfertigten Argumentation der Gegenseite wird die Unrechtmäßigkeit offenbar, ohne auf die Inhalte eingehen zu müssen. – Durch Missdeuten eines Arguments der Gegenseite als versteckte Behauptung – als Reaktion auf den Kunstgriff Verstecken – lässt sich eine ungünstige Schlussfolgerung vermeiden und stattdessen zunächst über die Glaubwürdigkeit sprechen.
Beeinflussen der Gegenseite Man versucht, die Gegenargumente mit folgenden vier Kunstgriffen in eigene Widersprüche zu verwickeln: – Durch Verführung zu Übertreibungen mit beharrlichem Widerspruch, was immer weitere Ausführungen provoziert, die schließlich in dieser Erweiterung – nach dem entsprechend bereits genannten Kunstgriff – nicht mehr haltbar ist. – Durch Fehlschlüsse, die man aus der Argumentation der Gegenseite zieht, welche dann der Behauptung oder einer anerkannten Wahrheit widersprechen, wird die Gegenseite in Erklärungsnot gebracht, obwohl sie diesen Schluss gar nicht getätigt hat. – Durch Gegenbeispiele zu einer allgemeinen Behauptung wird dieser insgesamt widersprochen, unabhängig davon, ob das Gegenbeispiel wahr ist, überhaupt zutrifft oder derart weitreichende Bedeutung hat. Der Widerspruch eines Widerspruchs stiftet immer logische Verwirrung.
3.2 Erfindungen durch Forschung –
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Durch Umkehrung einer Folgerung wird ein Widerspruch für die Behauptung entwickelt. Die häufige Folgerung, nicht glauben zu können, weil man keine Tatsachen dafür erkennen kann, wird umgekehrt durch die Forderung, dass man zunächst glauben muss, um dann auch Tatsachen dafür erkennen zu können.
Beeinflussen des Gesprächsverlaufs Man greift mit folgenden drei Kunstgriffen in die Gesprächsführung ein: – Durch Hartnäckigkeit im Missverstehen (s.o.), Missachten (s.o.) oder bei Fehlschlüssen (s.o.) wird eine heftige emotionale Reaktion von Verlegenheit oder Wut erzeugt, welche man dann deutet, als sehe sich die Gegenseite in der Sache bedroht. – Durch Fachargumente, welche die Außenstehenden kaum verstehen oder beurteilen können, erreicht man entweder ungerechtfertigte Zustimmung oder nötigt die Gegenseite dazu, die Außenstehenden zu belehren. Eine plausible fachliche Meinung wird meist als überzeugender empfunden als eine richtige fachliche Meinung, die ungewöhnlich ist. – Durch Ablenkung der Aufmerksamkeit auf neue, weitere oder andere Themen weicht man der direkten Gegenüberstellung und Entscheidung aus und schwenkt auf schier endlose Palaver ein. Irgendwann wird dann aus purer Zeitnot irgendetwas entschieden, was kaum etwas mit den Argumenten zu tun hat. [Und nach einer aufreibenden Diskussion bringt der Assistent des Verantwortlichen schließlich im Morgengrauen schnell noch zu Papier, was er sich in diesem Moment gerade so denkt und was dann verbindlich für das gesamte Unternehmen gilt ...]
Verlassen der Argumentation Bevor man das Gespräch beendet, kann man mit folgenden fünf Kunstgriffen die Argumentation bereits sprachlich auflösen: – Durch Verweis auf anerkannte Experten, beispielsweise mit einem Zitat, setzt man ein Ergebnis fest, das in seinem Ursprung, seinem Zusammenhang, seiner Bedeutung und seiner Zuständigkeit wohl kaum zu prüfen ist. Es kann sich daher durchaus um einen anderen Urheber, ein anderes Thema, einen anderen Sinn und eine fragwürdige Quelle handeln. Bis das geklärt werden kann, ist die Argumentation schon längst beendet. – Durch Leugnen von Verständlichkeit entsteht für Außenstehende der Eindruck, die Argumentation sei verfahren und unentscheidbar. Denn den Argumentatoren wird meist eine Expertise zugesprochen. Und wenn Einer den Anderen nicht mehr versteht, dann liegt es wohl am Thema selbst. Vielleicht kann man somit ein Einverständnis durch den Hinweis provozieren, dass das Argument für einen Experten doch gut einzusehen sei. – Durch Verbinden eines Arguments mit einer anderen Behauptung, die man bereits abgelehnt hat, bewegt man sich argumentativ im Kreis. Und nichts geht mehr vorwärts. – Durch Abstreiten eines praktischen Bezugs für das Ergebnis scheint die Sache geklärt, ohne dass man überhaupt etwas hätte besprechen müssen. Denn wenn es Tatsachen gibt, welche die Behauptung bestätigen oder widerlegen, dann gelten diese Wahrheiten unbedingt. Es fragt sich nur noch, warum man dann überhaupt die Sachlage dialektisch zu klären suchte.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Durch Nachfassen und Nachfragen von mehreren Aussagen werden zwar keine neuen Argumente geschaffen, aber es wird den Außenstehenden vermittelt, dass auf der Gegenseite noch ziemlicher Klärungsbedarf besteht. Zersetzen der Glaubwürdigkeit Verdrehen von Bedeutungen
Beeinflussen der Gegenseite
Überführen in Verlegenheit
Beeinflussen des Gesprächsverlaufs
Vorbereiten von Behauptungen
Verlassen der Argumentation
Ablehnen von Behauptungen
Abb. 55:
Beenden des Gesprächs
Die verschiedenen Kunstgriffe einer Überredung
Beenden des Gesprächs Für die überzeugenden Schlussworte in einem Plädoyer nennt Schopenhauer noch vier Kunstgriffe: – Durch Aufdecken der Interessen und Beweggründe der Gegenseite wird unterstellt, dass ein gegenteiliges Ergebnis von vornherein nicht akzeptiert würde. Vielleicht erreicht man dadurch, dass der Andere seine Stellung überdenkt und eigene Widersprüche erkennt. – Durch Schwafeln, also weitschweifiges Gerede, wird ein riesiger Vorrat an weiteren Kenntnissen und Argumenten gezeigt oder vorgetäuscht und die Zuhörer haben vielleicht den Eindruck, dass doch mehr in der Sache steckt. Und wer sich davor fürchtet, auch einmal unverstanden zu bleiben, der wagt es vielleicht nicht, auch einmal weiter auszuholen. – Durch Eloquenz, also dialektische Redegewandtheit, kann eine überzeugende Argumentation mitunter zu einer Überzeugung in der Sache gewandelt werden. Denn häufig gilt: Wenn jemand nicht mit Worten überzeugen kann, dann gilt auch die Sache widerlegt. [Das wäre ein passendes Schlusswort zum Zweck der Kunstgriffe für das Innovationsmanagement. Aber Schopenhauer gibt noch einen Kunstgriff an.] – In dem Beleidigen, also persönliche Kränkungen und Angriffe auf das Ehrgefühl, sieht Schopenhauer das letzte Mittel, um ein Streitgespräch zu beenden. Allerdings warnt er auch vor den rechtlichen und körperlichen Folgen. Denn leicht kann dieser Kunstgriff mehr Schaden verursachen, als dem Sprachkünstler lieb sein dürfte. Wie beim vorletzten Kunstgriff angekündigt, liegt der Zweck in der ausführlichen Darstellung der eristischen Kunstgriffe in der Redegewandtheit, um ein berechtigtes Interesse an neuen Forschungsprojekten und innovativen Problemstellungen rechtfertigen zu können. Aus diesem Grund wurden die vorgestellten Begriffe auf die heutige Sprache und auf den gegebenen Zusammenhang angepasst. Bei aufmerksamer Betrachtung der verschiedenen Hinweise fällt vielleicht auf, dass jeder Vorteil sich auch zum Nachteil verwenden lässt.
3.2 Erfindungen durch Forschung
175
–
In dieser Hinsicht ist die Eristik nur fair, wenn alle Beteiligten ihre Tricks kennen. Dann bleibt das Ergebnis offen für den eingangs genannten günstigen Fall eines tieferen Verständnisses und eine Auswahl der besten Ideen. Denn manchmal reicht es aus, die Kunst zu kennen – man muss sie dann nicht zwingend ausüben. Vielleicht sollte zum Schluss der interessierte Rechthaber auf die Gefahr hingewiesen werden, welche Folgen eine andauernde Ausübung dieser Kunstgriffe nach sich zieht: Man macht sich unbeliebt und vereinsamt. Menschen und menschliche Gemeinschaften verfügen meist über ein besonderes Gespür für Redlichkeit. Und eventuell bekommt man dann überhaupt keine Gelegenheit mehr, jemals in ein Streitgespräch einzutreten, wenn man sich zuvor als dauerhaft uneinsichtig gezeigt hat. Und vielleicht mag man ja auch nicht die Verantwortung tragen für ein derart unredlich erreichtes Forschungs- oder Innovationsprojekt. In dieser Hinsicht ist das Nutzen von Methoden immer auch eine Frage des Charakters. Lektion 31:
Innovationen benötigen auch eine streitbare Rechthaberei!
Übung 31: Suchen Sie sich einen Partner für diese Übung! Oder regen Sie eine Auseinandersetzung in einem Debattierclub an! In Deutschland gibt es dazu einen Verband der Debattierclubs an Hochschulen VDCH. Debattieren Sie das Innovationspotenzial eines beliebigen Themas, beispielsweise eines technischen Produkts, eines betrieblichen Prozesses, eines Vertriebswegs oder einer Organisation! Wenn Sie wollen, können Sie auf ein zuvor untersuchtes Thema zurückgreifen. Versuchen Sie, zunächst ganz grundsätzlich eine Neuerung für dieses Thema zu begründen! Warum scheint dies in diesem Fall berechtigt und wieso darf man dafür hart verdientes Geld einsetzen? Notieren Sie sich die wesentlichen Argumente dafür! Bereiten Sie sich dann auf die eigentliche Debatte vor! Informieren Sie sich über die Art der verwendeten Parlamentarischen Debatte PD, beispielsweise als offen (OPD), als britisch BPS oder auch amerikanisch oder kanadisch! Wählen Sie einige Kunstgriffe aus – und los geht’s! Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen?
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.2.4
Technische Parameter
Bei der Erstellung der zuvor angegebenen Innovativen Grundprinzipe IGP erkannte Genrich Altschuller, dass eine Erfindung meist einen Konflikt oder Widerspruch zwischen ähnlichen Parametern löst. In der bewährten Weise seiner TRIZ-Theorie führte er diese wieder auf lediglich 39 Technische Parameter TP zurück. Wenn man folglich eine Forschung nach Problemstellungen betreibt, dann sind diese 39 TP umgekehrt wiederum ein guter Ausgangspunkt. Und wenn man Forschungsstätten – Labore, Institute, Kollegien oder Akademien – für die Anwendung von Problemen einrichten will, dann sollten demnach 39 ausreichen. Das erscheint vergleichsweise wenig: Zwar schlägt 1620 der Lordkanzler der britischen Krone, Sir Francis Bacon, noch die Einrichtung von etwa 20 Stätten vor, um die gesamte Welt zu erforschen. Aber derzeit gibt allein die Fraunhofer-Gesellschaft FhG etwa 80 Forschungseinrichtungen an, wovon sich 60 in Deutschland befinden.100 In dieser Häufung der Parameter wird bei der Darstellung und Verwendung der TP zunächst wieder eine interpretierende Übersetzung notwendig. Deshalb ist in der folgenden Auflistung die ursprüngliche Nummerierung von TRIZ in Klammern angegeben, um bei Klärungsbedarf auf Referenzliteratur zurückgreifen zu können.101 In diesem Buch erfolgt zunächst nur eine erste übersichtliche Auflistung in vier Aspekten.
12 Parameter der Mechanik in Bewegung (kinetisch) und in Ruhe (stationär) – das Gewicht eines bewegten (1) oder ruhenden (2) Objekts – die Länge eines bewegten (3) oder ruhenden (4) Objekts – die Fläche eines bewegten (5) oder ruhenden (6) Objekts – das Volumen eines bewegten (7) oder ruhenden (8) Objekts – die Haltbarkeit und Belastbarkeit eines bewegten (15) oder ruhenden (16) Objekts – die Energie eines bewegten (19) oder ruhenden (20) Objekts.
10 Parameter der restlichen Physik und ihrer Eigenschaften – die Geschwindigkeit (9), die Kraft (10), die Spannung und somit auch der Druck (11), die Form (12), die Stabilität (13), die Festigkeit und somit auch die Elastizität (14), die Temperatur (17), die Helligkeit (18), die Leistung (21) und die Menge (26).
9 Parameter der Effektivität – der Energieverbrauch (22), der Materialverbrauch (23), der Informationsverlust (24), der Zeitverbrauch (25), die Zuverlässigkeit (27), die Messgenauigkeit (28), die Reproduzierbarkeit (29), die Einwirkungen auf das Objekt (30) oder die Auswirkungen durch das Objekt (31).
8 Parameter der Effizienz – die Produzierbarkeit (32), die Benutzbarkeit und somit auch die Nutzerfreundlichkeit (33), die Reparierbarkeit (34), die Anpassungsfähigkeit (35), die Komplexität im Aufbau (36), die Kontrollierbarkeit bei der Benutzung (37), die Automatisierbarkeit (38) und die Produktivität (39). Jede Problemstellung PS entsteht aus diesen 39 TP durch einen Konflikt zwischen jeweils zwei verschiedenen Parametern. Dabei müssen allerdings Ursache und Wirkung unterschieden werden, denn es macht einen Unterschied, ob ein TP Auswirkungen auf einen anderen TP hat, oder umgekehrt dieser andere TP auf den einen TP einwirkt.
3.2 Erfindungen durch Forschung –
Beispielsweise wirkt das Gewicht eines bewegten Objekts sich nachteilig auf die Leistung aus, weil es dadurch träge wird. Umgekehrt kann aber die Leistung auch gesteigert werden, ohne das Gewicht zu erhöhen, indem man stärkere Energieträger verwendet.
TPi
TPi
TPj
Abb. 56:
177
TPj
PSij
PSji
Die Konflikte zwischen den Technischen Parametern TP sind nicht symmetrisch, wodurch sich die Auswirkung von der Einwirkung eines TP auf einen anderen unterscheidet.
Mit den 39 TP gibt es demnach 38 39 = 1482 Konflikte zu erforschen. Und in jedem dieser Forschungsfelder wird eine Kombination zwischen verschiedenen Technischen Parametern untersucht. Das scheint der Fülle gegenwärtiger Forschungseinrichtungen schon eher zu entsprechen, wenn man zusätzlich die Universitäten, Fachhochschulen und privaten Institute einbezieht. Grundsätzlich wären dann weiter zu jedem Forschungsfeld alle 40 Innovative Grundprinzipe IGP zu betrachten. Und somit wiese die vollständige Untersuchung eines Forschungsthemas insgesamt 38 39 40 = 59.280 Fälle auf, die allesamt bedacht werden müssten. – Selbst wenn man sich über einen Computer eine Vorlage erstellen ließe, welche automatisch auf Knopfdruck das jeweilige Konfliktfeld präsentiert – und man dadurch nur etwa 5 Minuten bräuchte, um ein Lösungsangebot durch die IGP zu prüfen, dann bräuchte man immer noch rund 300.000 Minuten oder 5.000 Stunden konzentrierter Arbeit. Nach etwa 3 Jahren hätte man dann also ein einziges Thema nach seinen verschiedenen Forschungsansätzen durchgeprüft. Dies scheint den Effizienzanforderungen an ein professionelles Innovationsmanagement dann doch nicht recht zu entsprechen. Wieder besteht die Anwendungsstärke von TRIZ – und unglaubliche Leistung von Genrich Altschuller – darin, eine erste Auswahl für „wichtige“ IGP bei jedem Forschungsfeld vorgenommen zu haben. Im Jahre 1971 konnte er eine Widerspruchsmatrix oder Widerspruchstabelle vorlegen, in der jedes Konfliktfeld nur diejenigen IGP enthält, welche sich bei seinen Patentmustern als wichtig herausgestellt hatten. Dadurch vermindert sich die Anzahl der zu untersuchenden Fälle „drastisch“. [Die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass es sich hierbei offenbar um eine vernünftige Auswahl handelt, die demnach auch nur im übertragenen, hermeneutischen Sinne anzuwenden ist.]
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Innovative Grundprinzipe IGP
178
Technische Parameter TP Abb. 57:
–
Die Struktur von TRIZ als ein Bürohochhaus Jede Etage ist auf ein anderes Innovatives Grundprinzip IGP spezialisiert. Jedes Konfliktfeld wird in einem anderen Büro jeder Etage untersucht. Aber nicht jedes Büro scheint dabei gleichermaßen beschäftigt zu sein. Auf dem Korridor befinden sich die Konflikte eines TP mit sich selber. Dafür werden dann besondere Separationsprinzipien berücksichtigt.
In dieser Widerspruchsmatrix sind bis zu vier IGP vermerkt, manchmal aber auch nur eins oder sogar keins. Geht man davon aus, dass es im Mittel etwa 3 sind, dann reduziert sich die Anzahl der Prüfungen für ein Thema auf 38 39 3 3.600 Fälle. Dadurch schrumpft der genannte und vom Computer unterstützte Arbeitsaufwand auf weniger als 300 Arbeitsstunden. Für ein Forschungsprojekt, das für eine Dauer von 3 Jahren mit einem Arbeitsaufwand von 6 Personen kalkuliert wird, entspricht dies gerade etwa 1Prozent des Aufwands. Und das scheint doch durchaus vertretbar.
3.2 Erfindungen durch Forschung
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Für kleinere Projekte kann man aber auch gezielt diejenigen Technischen Parameter untersuchen, welche entweder besonders leicht zu verändern sind – wie Tatsachenparameter – oder besonders wichtig für den Kunden sind – wie Vernunftparameter. Das entspricht dann dem Paarvergleich bei der zuvor beschriebenen Problemfindung. – Wenn man sich auf jeweils etwa 5 Parameter für Tatsachen und Vernunft konzentriert, denn ergeben sich nur noch etwa 60 Prüfungsfälle. Das lässt sich durchaus an einem einzigen Nachmittag schaffen. Diese Widerspruchsmatrix zu TRIZ für die Verbindung von TP und IGP ist tatsächlich mittlerweile durch ein einfaches Computerprogramm verfügbar und es sind sogar verschiedene Angebote für interaktive Widerspruchsmatrizen im Internet. Daher wird an dieser Stelle auf eine Darstellung der Matrix verzichtet. Übrig bleiben dann noch diejenigen Konflikte, die ein Technischer Parameter mit sich selbst aufweist. Dieser Konflikt kann offenbar technisch nicht mehr überwunden werden, wenn beispielsweise etwas sowohl langsamer als auch schneller – oder kürzer als auch länger – sein soll. Hier besteht demzufolge ein grundlegender naturwissenschaftlicher Forschungsbedarf für die 39 Technischen Parameter. Genrich Altschuller stellte sich auch dieser Herausforderung und erarbeitete bis 1979 drei Separationsprinzipien für physikalische Widersprüche, wie es genannt wird. Inzwischen werden von TRIZ vier Separationsprinzipien angegeben. Zum Vergleich für diese Grundlagenforschung müssten hier in Deutschland die Institute der Max-Planck-Gesellschaft MPG betrachtet werden, die allerdings aus etwa 80 Forschungseinrichtungen bestehen, wovon sich die Anzahl von 4 allein im Ausland befinden.102 Wieder bedarf es eines hermeneutischen Verständnisses dieser Separationsprinzipien und einer entsprechenden Deutung, um zu den einzelnen Lösungsvorschlägen zu gelangen. In dieser Denkleistung steckt somit eine besondere Herausforderung für einen Forscher, Problemlöser oder Innovationsmanager. Denn die Kunstgriffe von TRIZ stellen keinen wirklichen Mechanismus oder sogar Automatismus für Erfindungen dar, wie häufig angenommen wird. In der Sache bestehen sie aus vernünftigen Argumenten, welche dann noch kreativ gedeutet werden müssen.
Die räumliche Separation eines technischen Objekts Durch eine räumliche Trennung lassen sich widersprüchliche Anforderungen auch für einen einzigen Parameter erfüllen. Wenn man verschiedene Orte verwendet, werden dort auch gegensätzliche Aspekte erfüllbar. Dieser Effekt ist zwar grundsätzlich bekannt und kaum überraschend. Denn jeder Mensch ändert ständig den Ort, um zu arbeiten, zu essen, zu ruhen oder zu lernen. Aber meist ist uns diese einfache Möglichkeit nur nicht bewusst, um sie auch auf komplizierte Konflikte anzuwenden. – Technisch sollen beispielsweise Bauteile im Materialverbrauch sowohl günstig als auch hochwertig sein. Dies erfüllt eine räumliche Trennung von Substrat und Beschichtung. Für die substanziellen Anforderungen, wie Festigkeit oder Gewicht, ist in diesem Fall nur das Substrat maßgebend. Und für die funktionalen Anforderungen, wie Farbe oder Korrosionsschutz, ist vorwiegend die Beschichtung maßgebend. Durch die räumliche Trennung wird der Materialverbrauch optimiert.
Die zeitliche Separation eines technischen Objekts Mit einer zeitlichen Trennung lassen sich ebenfalls widersprüchliche Anforderungen für einen einzigen Parameter erfüllen. Wenn man entsprechend verschiedene Zeitpunkte
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? verwendet, werden dann auch gegensätzliche Aspekte erfüllbar. Auch dieser Effekt scheint vertraut und wenig überraschend. Denn wir sind daran gewöhnt, einen Ablauf mit verschiedenen Anforderungen in Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten oder Sekunden aufzuteilen. Wichtig scheint es, diese Möglichkeit auch in brennenden Situationen parat zu haben. – Technisch werden beispielsweise beim Härten sowohl hohe als auch tiefe Temperaturen benötigt. Hohe Temperatur benötigt man beim Umwandlungshärten, um ein geeignetes Gefüge im Metall zu erzeugen. Tiefe Temperaturen benötigt man beim Abschrecken, um das Gefüge zu stabilisieren. Hohe Temperatur benötigt man dann wieder beim Anlassen, um die unerwünschte Versprödung und auftretende Eigenspannungen zu beseitigen. Durch zeitliche Trennung dieser verschiedenen Prozesse wird schließlich die gewünschte Materialstruktur erreicht.
Die strukturelle Separation innerhalb eines technischen Objekts Eine Trennung in verschiedene strukturelle Ebenen ermöglicht es, einen Kompromiss zwischen widersprüchlichen Anforderungen für einen einzigen Parameter zu erreichen. Wiederum ist dieser Effekt auch bekannt und üblich, aber dabei doch wenig bewusst. Denn beim Management ist zwar ein struktureller Unterschied zwischen Verantwortung für Arbeit und Arbeitsausführung allgemein verbreitet, stößt aber immer wieder bei Managern und Mitarbeitern auf Unverständnis: Manager mischen sich in die Durchführung ein und Mitarbeiter bezweifeln die Arbeitsleistung des Managements. – Technisch werden beispielsweise bei einer Lackierung sowohl große Mengen als auch kleine Mengen benötigt. Große Mengen benötigt man, um rasch eine große Fläche zu lackieren. Kleine Mengen benötigt man, um dabei nur geringe Schichtdicken zu erzeugen. Ein Lacknebel liegt in dieser Hinsicht in zwei verschiedenen Strukturen vor: Einer großen Menge an Nebel und in der jeweils kleinen Menge eines einzelnen Lacktropfens. In einer industriellen Lackierstraße wird dieser Nebel mit einer gleichmäßigen Sinkgeschwindigkeit erzeugt, wodurch große Mengen an Lack in jeweils kleinen Schichtdicken aufgebracht werden können.
Die konditionierte Separation innerhalb eines Objekts Diese Trennung wird auch als sogenannter Bedingungswechsel bezeichnet und stellt sich als ein Kompromiss zwischen widersprüchlichen Anforderungen an einen einzigen Technischen Parameter mit einer Art Selbstregulierung dar. Auch dieser Effekt ist durchaus üblich, aber kaum bekannt. Denn in jeder Kultur gibt es Dinge, die der Eigenverantwortung überlassen bleiben. Erst wenn bestimmte Konditionen überschritten werden, sich Umstände ändern oder sich neue Bedingungen ergeben, greift eine andere Regelung ein. An den andauernden Schwierigkeiten, ein derart selbstbestimmtes System im Fluss zu halten, erkennt man die besondere Herausforderung. – Technisch ist beispielsweise dieses Prinzip unter dem japanischen Begriff Jidoka oder auch Autonomation bekannt. Dabei werden in der automatisierten Produktion die Maschinen mit Sensoren ausgestattet, die unter bestimmten Bedingungen entsprechend vorbestimmte Prozesse durchführen. Im einfachsten Fall wird eine Maschine gestoppt, wenn ein Toleranzwert überschritten ist. Aber es gibt inzwischen auch automatische Fertigungszellen, die nach Vorlage des jeweiligen Bauplans und Zustand des jeweiligen Objekts besondere Arbeitsschritte durchführen. Mithilfe von Widerspruchsmatrix und Separationsprinzipien ermöglicht TRIZ insgesamt einen ganz eigenen Zugang zur wissenschaftlichen Forschung. Mit etwas Übung kann fast
3.2 Erfindungen durch Forschung
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jeder aus den Technischen Parametern die relevanten Innovativen Grundprinzipe ermitteln. Während die zuvor geschilderte Forschung an Tropen, Unentscheidbarkeit und Eristik erhebliche Kompetenz in der Sache, in der Vernunft und der Rede erfordert, so liefert TRIZ fast automatisch ein fundiertes Konzept. Daher ist es heutzutage auch mehr verbreitet als die anderen genannten Methoden. Allerdings wird bei genauer Betrachtung auch klar, dass TRIZ nicht alle Themen erfasst und auch eine besondere Kompetenz des Anwenders nicht ersetzen kann. Sowohl bei der Interpretation der TP als auch der IGP, ist ein Verständnis erforderlich. Und die Auswahl in der Widerspruchsmatrix ist nur bedingt vollständig. Die Grundlagen des Unwissens, des Zweifels, der Unvollständigkeit und der Dialektik in der Wissenschaft kann auch TRIZ nicht überwinden. Aber es besteht die Gefahr, dass sie dadurch überdeckt und verschleiert werden. Und professionelles Innovationsmanagement bedeutet eben auch, die Grenzen der Methoden zu kennen, um sie zu bewältigen. Lektion 32:
TRIZ liefert Hinweise auf Innovationen durch Widersprüche!
Übung 32: Untersuchen Sie ein beliebiges Thema, beispielsweise ein technisches Produkt, einen betrieblichen Prozess, einen Vertriebsweg oder eine Organisation! Wenn Sie wollen, können Sie beim gleichen Thema wie zuvor bleiben. Vergleichen Sie dann die Unterschiede im Ergebnis mit den anderen Forschungsansätzen, die in hier vorgestellt werden! Überlegen Sie zunächst die hier genannten Klassen der Technischen Parameter! Wo finden sich beim Thema die Mechanik, die restliche Physik, Effektivität und Effizienz? Gehen Sie dann durch die einzelnen Klassen mit den jeweiligen TP und beschreiben Sie jeweils die relevanten Bedingungen der Parameter! Erkunden Sie damit die auftretenden Widersprüche und wählen Sie davon einige aus! Untersuchen Sie mithilfe der TRIZ-Widerspruchsmatrix die vorgeschlagenen IGP! Untersuchen Sie auch einen physikalischen Widerspruch mit den Separationsprinzipien! Welche Forschungsansätze werden dadurch erkennbar?
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3.3
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Erfindungen durch Prognosen
Im Jahre 1814 beschrieb der Mathematiker Pierre Simon de Laplace (1749–1827) eine Vorstellung, die später als Laplace‘scher Dämon bekannt wurde: „Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse einer Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegung der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms begreifen. Nichts wäre für sie ungewiss – Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor Augen.“103 Ergänzen ließe sich noch: Sie würde auch Probleme lösen können, bevor diese entstehen. Und sie könnte demnach auch eine Forschung in völliger Gewissheit des Erfolgs betreiben. Der Begriff Innovation bekäme folglich eine völlig neue Bedeutung.
gerechtfertigte
Geschäftsidee
Prognose
Abb. 58:
Prognosen als gerechtfertigter Zusammenhang von Anwendungen und deren Ausführungen
Prognosen bezeichnen wörtlich ein gewisses Vorwissen. Und ähnlich wie Innovations- und Projektmanagement befasst sich die Prognostik mit Dingen, die erst in der Zukunft verwirklicht werden. Daher ist es naheliegend, sich mit Vorhersagen auseinanderzusetzen, um Erfindungen und deren Verbreitung rechtzeitig einschätzen zu können. Denn mit guten Prognosen lassen sich die künftigen Probleme rechtzeitig lösen. Oder zumindest lässt sich der richtige Forschungsbedarf für Innovationen ableiten. Im Vergleich zum Lösen von Problemen und zur Forschung nach Problemstellungen können sich Prognosen noch weniger wissenschaftlich irgendwo abstützen. Denn wissenschaftlich kann vernünftigerweise nur das gelten, was bereits besteht. Und eine Prognose kann sich grundsätzlich weder auf heuristische Fakten noch auf hermeneutische Theorien berufen, die
3.3 Erfindungen durch Prognosen
183
als belegt gelten und wie es für ein wissenschaftliches Arbeiten grundsätzlich notwendig erscheint. Aber sobald man in der Lage ist, die bestehenden Tatsachen durch vernünftige Ursachen logisch richtig zu erklären, liegt doch auch der Ansatz nahe, die künftigen Umstände entsprechend logisch vorher zu sagen. Prognosen beruhen demnach nur noch auf einer logisch richtigen Folgerung, welche von Karl Popper als Welt 3 bezeichnet wurde. Frei schwebend zwischen den noch unbekannten faktischen und unerkannten theoretischen Wahrheiten ist demzufolge eine Prognose völlig aus der Luft gegriffen, wie man demzufolge mit einigem Recht behaupten kann. In den oben genannten Überlegungen scheint es Laplace das mangelnde Wissen zu sein, das die Menschen von einem weitergehenden Vorauswissen abhält. Daher ruft man gerne nach erfahrenen Menschen – den sogenannten Experten, um etwas über die Zukunft zu erfahren. Allerdings müssen ernsthafte Wissenschaftler die Verantwortung für solche Vorhersagen ablehnen, weil ihnen gerade aufgrund eben dieser Erfahrungen bewusst ist, dass sie nicht allwissend sind. Seriöse Wissenschaftler sind deshalb vielleicht doch nicht die besseren Innovationsmanager. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam mit der wissenschaftlichen Beschreibung von Elementarteilchen – den Quantenobjekten – auch ein grundsätzlich neues Verständnis für physikalische Ereignisse auf. Denn aufgrund einer natürlichen Unschärfe oder Unbestimmtheit ist bereits der tatsächliche Zustand eines Quantenobjekts nie genau zu erfassen, sondern nur in einer Varianz e – wobei den Schwankungsbereich für ein tatsächliches Ereignis e anzeigt. Das stellte die Physiker vor das Problem, auch Tatsachen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit betrachten zu können. Diese Überlegungen lassen sich vereinfacht folgendermaßen darstellen: – Quantenmechanisch beschreibt man das Erscheinen eines Ereignisses E aus den Wahrscheinlichkeiten p(e), in einem bestimmten Zustand e zu erscheinen, über das gesamte Erscheinungsintervall von a bis b: E = ab p(e) e Jedoch erkennt man bei der Beobachtung jeweils nur einzelne – sogenannte diskrete – Ereignisse Ei in den jeweils verschiedenen Bereichen i. Und mit allen bisher beobachteten Ereignissen – vom ersten bis zum n-ten – lässt sich eine Summe oder Gesamtheit EG bilden, welche selbst wiederum endlich sein muss, weil Menschen keinen Überblick über unendlich viele Ereignisse haben. EG = Ei mit i = 1 … n Diese Gesamtheit EG stellt alles dar, was wir bisher über das Erscheinen eines Ereignisses wissen können. Zwar sinkt die Wahrscheinlichkeit dafür, noch ein weiteres Ereignis anzutreffen, außerhalb der bekannten Intervalle drastisch ab. Aber aufgrund der genannten natürlichen Unschärfe kann diese Wahrscheinlichkeit auch nicht ganz verschwinden und Null werden. Wenn man demnach den gesamten Bereich von - bis + betrachtet, dann erwachsen selbst aus den kleinsten Wahrscheinlichkeiten wieder recht große Beträge und es gilt: EG « -+ p(e) e
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Mit anderen Worten: Zwar sind die erfahrbaren, diskreten Ereignisse im Einzelnen ungleich wahrscheinlicher als die kontinuierlichen. Aber im Kontinuum der unendlichen Möglichkeiten sind sie dafür umso seltener. Ereignisse E: „Die Inseln des Wissens“
Wahrscheinlichkeiten p(e)
Möglichkeiten e: „Der Ozean des Unwissens“ Abb. 59:
–
Die Verteilungen von Ereignissen E am Firmament der Möglichkeiten Zwar sind einzelne Ereignisse sehr wahrscheinlich. Aber in der Unendlichkeit des Möglichen scheint es insgesamt wahrscheinlicher, dass irgendetwas anderes auftritt.
Diese Überlegungen sind inzwischen weit mehr als nur eine vernünftige Theorie. Denn als sogenannten Tunnel-Effekt bezeichnet man die Tatsache, dass ein eingesperrtes Quantenobjekt – wie ein Elementarteilchen – sich zwar mit großer Zuverlässigkeit innerhalb der physikalisch bestimmten Schranken befindet. Hin und wieder lässt sich aber beobachten, dass es diese eigentlich unüberwindbaren physikalischen Grenzen überwindet – und dadurch quasi „tunnelt“. Dieser unerwartete Zerfall von stabilen Quantenobjekten – beispielsweise Atomkernen – ereignet sich auch tatsächlich immer wieder. Diese vernünftige Erklärung führt also zu Tatsachen und gilt im Sinne des beschriebenen Scientific Innovation als objektiv wahr. Mit anderen Worten entspricht dieser Nachweis der bekannten Weisheit: Irgendwann passiert sicherlich irgendetwas Unerwartetes. Und dem berühmten Isaac Newton wird in dieser Hinsicht bereits die vielsagende Einsicht zugeschrieben: „Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.“ Aber die Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen scheint insgesamt doch zuverlässiger zu sein, als diese Überlegungen nahelegen. Denn wir verlassen uns ständig und seit Langem in unzähligen Fällen mit großem Erfolg auf das physikalische Wissen der Mechanik, der Thermodynamik, der Optik, der Elektrizität und des Magnetismus. Der Zweck der modernen Wissenschaften in allen Bereichen liegt doch gerade darin, bestimmte Ereignisse mit großer Zuversicht wiederholen zu können. Die Kernreaktionen bilden darin vielleicht eine gewisse Ausnahme, wie man an der Diskussion um die Sicherheit der Kernkraft erkennt. Aber grundsätzlich betreiben wir mit der Aussicht auf voraussagbare Ergebnisse gerade solche Wissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Wirtschaft, Technik und auch professionelles Innovationsmanagement. Es gibt sogar umgekehrt auch ein vernünftiges Argument dafür, an einer solchen grundsätzlichen Unbestimmtheit zu zweifeln. Denn es gibt Beobachtungen, die eine endlose Ausdeh-
3.3 Erfindungen durch Prognosen
185
nung und Kontinuität des Universums infrage stellen. Demnach wäre die Integration bis ins Unendliche nicht mehr zulässig. – Der Astronom Heinrich W. Olbers (1758–1840) brachte 1826 den Gedanken auf, dass bei einem unendlich großen Universum der Nachthimmel gleichmäßig erleuchtet sein müsse. Denn an jeder Stelle des Firmaments wäre in der Unendlichkeit des Alls doch irgendwann auch irgendein Stern zu erwarten, welcher dann diesen entsprechenden Himmelpunkt erleuchten müsste. Da es aber viele leere Stellen am Himmel gibt, müsse umgekehrt das Universum endlich sein. Diese Argumentation lässt sich auch auf ein Kontinuum der wissenschaftlichen Erkenntnisse übertragen: Weil durch bestehende Gesetzmäßigkeiten eine gewisse Folgerichtigkeit zu erkennen ist, muss auch die Auswahl an möglichen Ereignissen in der Zukunft irgendwie eingeschränkt sein. Wir wissen zwar nicht, wie diese Beschränkung aussieht, aber wir können davon ausgehen, dass sie besteht. Diese Vernunftwahrheit hat der Physiker Brandon Carter als Allgemeines Anthropisches Prinzip AP 1974 formuliert: Was der Mensch – griechisch Anthropos – zu beobachten erwarten kann, muss eingeschränkt sein durch die Bedingungen, die für den Beobachter notwendig sind.104 Es gibt demnach sowohl tatsächliche als auch vernünftige Gründe, die uns darin bestärken, mit einer gewissen Prognostizierbarkeit zu rechnen. Wissenschaftlich muss es sich dabei um Methoden handeln, die nur aus logischen Zusammenhängen bestehen. Eine solche Methode verwendet dabei eine bestimmte Art von Eingaben, die zu den wirklichen Ereignissen führen und Fakten schaffen. Somit beruht eine wissenschaftliche Prognose auf der Faktorisierung von Tatsachen- oder Vernunftwahrheiten. Durch die Eingabe von Faktoren an der einen Seite der Wissenschaft – Tatsache oder Vernunft – wird dann eine Verbindung zum jeweiligen Gegenstück – Vernunft oder Tatsache – hergestellt. Und durch Veränderung der Faktoren erhält man Vorhersagen, wie jeweils die entsprechende Ausgabe aussieht. Wie bereits bei der Forschung erläutert, lässt sich durch systematische Veränderungen der Faktoren dann eine Prognose erstellen. Zumindest beruht darauf die Hoffnung der Zukunftsforscher. Eine methodische Form, die aus einer endlichen Anzahl von Anweisungen besteht, um aus einer Eingabe von Faktoren ein gerechtfertigtes Ergebnis abzuleiten, heißt Algorithmus.
Ein Algorithmus ist benannt nach dem Mathematiker Muhammad al-Chwarizmi (etwa 780–835) aus Bagdad. Anstelle einer geschlossenen Gleichungsformel enthält ein Algorithmus eine Art Rezept, bei dem das Ergebnis noch offen ist. Er stellt eine Alternative dar zu den geschlossenen Gleichungen der Algebra, bei der für die unbekannten Faktoren Buchstaben eingesetzt werden. Die Geschlossenheit einer algebraischen Gleichung besitzt den Vorteil, dass sie sich in jede andere Gleichung an passender Stelle einfach einsetzen lässt, eben weil ein entsprechender algebraischer Faktor darin als völlig gleich angesehen wird. Dadurch werden algebraische Gleichungssysteme vollständig lösbar, sobald es genauso viele Beispiele wie unbekannte Faktoren gibt, denn jedes Beispiel entspricht einer gelösten Gleichung. Die Offenheit eines Algorithmus gestattet hingegen immer nur eine Anwendung auf einzelne Beispiele. Dadurch ist er auch für das Schließen auf neue Beispiele geeignet. – Nach einer Anekdote hat Carl Friedrich Gauß (1777–1855) schon frühzeitig sein mathematisches Genie dadurch gezeigt, dass er einen Algorithmus in eine geschlos-
186
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
sene Gleichung umwandeln konnte. Sein Lehrer hatte demnach allen Schülern aufgetragen, die gesamten Zahlen von 1 bis 50 zu summieren. Und während die restliche Klasse noch mit diesem Algorithmus beschäftigt war, lieferte der junge Gauß bereits nach wenigen Sekunden die richtige Lösung. Denn er hatte sich überlegt, dass man die Zahlen von 1 bis 50 nochmals aufschreiben und dann jeweils die erste mit der letzten Zahl addieren könne. Zwar kommt dann wohl insgesamt der doppelte Betrag heraus, aber es ergibt sich jedes Mal 51 – und das doch offenbar insgesamt 50 Mal. Umgekehrt muss das Ergebnis also die Hälfte von 50 Mal 51 sein. Der Algorithmus des Lehrers wird dadurch in die algebraische Formel x = n (n + 1)/2 umgewandelt, was für n = 50 direkt zum Endergebnis 1275 führt. Es ist also durchaus möglich, einen Algorithmus in eine algebraische Gleichung zu überführen. Und während der letzten Jahrhunderte wurde dies auch immer wieder versucht, um schneller solche voraussagenden Berechnungen durchführen zu können. Mit der Einführung von Rechenmaschinen wurde allerdings auch der umgekehrte Weg wieder interessant. Denn das Programm eines Rechners beruht letztlich auf einem Algorithmus. Und aufgrund der elektronischen Höchstfrequenztechnik stellen auch die vielen erforderlichen Rechenschritte heute kein wirkliches Problem mehr dar.
Eine Turingmaschine ist nach heutiger Definition das Maß für einen Algorithmus. Der Mathematiker Alan Turing schlug 1936 vor, eine Rechenmaschine als Objekt für einen Algorithmus anzusehen. Durch diese Objektivation wird gewissermaßen die mathematische Logik an eine physische Tatsache gebunden. Und eine Problemlösung ist demnach genau dann algorithmisch, wenn eine zur Berechnungsvorschrift äquivalente Turingmaschine existiert, welche für jede Eingabe, die eine Lösung besitzt, stoppt. Ein Algorithmus beruht demnach auf den folgenden Kriterien: • Die Vorschrift muss einen endlichen, eindeutigen Programmiertext aufweisen. • Jeder Schritt der Vorschrift muss tatsächlich ausführbar sein. • Die Berechnung darf stets nur endlichen Speicherplatz benötigen. • Die Berechnung darf nur aus endlich vielen Schritten bestehen.
Eine Simulation stellt entsprechend eine besondere Form der Vorhersage durch einen Algorithmus dar. Deshalb stellen computergestützte Simulationen inzwischen ein wichtiges Hilfsmittel für Vorhersagen von technischen Systemen dar. Sie helfen dabei, Problemstellungen rechtzeitig zu erkennen und dann vorab konkret zu lösen. Für das Innovationsmanagement bietet insbesondere die Unterstützung durch virtuelle Realität VR somit eine Gelegenheit, um Utopien zu konkretisieren, Wandlungen aufzuzeigen, eine neue Logik zu erproben und Vorstellungen zu rechtfertigen. Eine solche Simulation beinhaltet die folgenden Aspekte: • Ein Modell bildet die Aufgabe logisch berechenbar ab. • Ein Programm schreibt einen bestimmten Algorithmus vor. • Eine Berechnung vergleicht die Ergebnisse aufgrund veränderter Eingaben. • Das virtuelle Ergebnis wird an der Wirklichkeit überprüft. Der Begriff Kybernetik bezeichnet wörtlich das Steuern und Zurechtfinden in freier Umgebung. Technisch versteht man darunter die Selbstregulierung von Systemen nach vorgegebenen Anweisungen. Mittels Kybernetik soll sich demnach ein technischer oder biologischer Organismus in einer Umgebung zurechtfinden und entwickeln können. Und die Anwendung der Kybernetik auf einen virtuellen Raum entspricht einer Simulation. Falls dabei auch wei-
3.3 Erfindungen durch Prognosen
187
tere wissenschaftliche Disziplinen, wie Gesellschaft und Wirtschaft, berücksichtigt werden, ergibt sich daraus eine Möglichkeit zur Prognose. Insbesondere geht es bei Innovationen darum, den ökonomischen Nutzen im Auge zu behalten, um sich nicht in den wahrhaft „unendlichen Weiten“ der Fantasie zu verlieren. Lektion 33:
Prognosen zu Innovationen beruhen auf Simulationen!
Übung 33: Erproben Sie zur Übung ein kybernetisches Spiel! Empfehlenswert ist beispielsweise das Brettspiel Ökolopoly des Kybernetikers Frederic Vester.105 Aber auch Computerspiele nach dem Open-World-Prinzip, wie Minecraft106, sind geeignet. Analysieren Sie anschließend Ihre Erfahrungen! Welche Aspekte davon lassen sich auf reale Geschehnisse übertragen? Auf welche Probleme sollte man sich demnach vorbereiten?
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.3.1
Delphi-Studien
Im Jahre 1906 besuchte der britische Naturforscher Francis Galton (1822–1911) die westenglische Nutztiermesse. Bei der Veranstaltung sollte das Gewicht eines Ochsen geschätzt werden. Erstaunt stellte Galton bei einer Überprüfung der Ergebnisse fest, dass der Mittelwert von 787 Schätzungen weniger als 1 Prozent von dem genauen Gewicht abwich. Und dass dieser Mittelwert besser war als alle einzelnen Schätzungen – also auch diejenigen von den Experten wie Viehhändler und den Schlachter. Es gibt demnach so etwas wie eine Weisheit der Masse oder von vielen Menschen, welche James Surowiecki 2004 in seinem Buch Wisdom of Crowds beschreibt.107 Denn jeder Mensch verfügt über eigene, unabhängige Erfahrungen. Und diese betreffen nicht nur die ihm bekannten Tatsachen und die ihm eigene Vernunft. Sondern in diesen Erfahrungen stecken auch die jeweils zutreffenden Einschätzungen über eine Angelegenheit. Daher kennen die Experten nicht nur die normalen Dinge ihres Themas, sondern auch besonders viele Abweichungen von dem Normalen. Deshalb ist ihre Einschätzung meist etwas vorsichtiger und trifft somit häufig auch besser zu. Aber die gesamte Einschätzung einer großen Anzahl von verschiedenen Menschen verfügt aus genau diesem Grunde ebenfalls über einen ähnlichen Erfahrungsumfang, zumindest bei den allgemein bekannten und erfahrbaren Angelegenheiten. Wenn es also ausreichend viele Menschen mit wenigen Erfahrungen gibt, dann kann deren gemeinsame Einschätzung insgesamt aber doch mehr Erfahrungen vereinen, als selbst ein sachkundiger Experte in seinem ganzen Leben erreicht. Doch nun zum eigentlichen Delphi-Effekt: Im antiken Griechenland stellte die Stadt Delphi einen zentral gelegenen Punkt dar, an dem sich entsprechend viele Wege kreuzten. Man bekam dort viel mit von dem, was die verschiedenen Durchreisenden so zu berichten hatten. Und es ist zu vermuten, dass auch die Priester des ansässigen Tempels für den Gott Apoll entsprechend gut unterrichtet waren. Zwar offenbarte der Gott seine Weisheit nur über die Pythia, eine Frau, die unter der halluzinogenen Wirkung von ätherischen Gasen stand. Aber die Deutung dieser Halluzinationen blieb den kundigen Priestern überlassen. Und da mit den Weissagungen ein recht einträgliches Geschäft verbunden war, ist davon auszugehen, dass der Oberpriester sich entsprechend gut bei seinen Kollegen und anderen Quellen informierte. Das Orakel von Delphi war jedenfalls das beste Orakel, das man in der Antike kannte. Das ist jedenfalls das Ergebnis eines recht kostspieligen Vergleichs von sieben verschiedenen Orakeln, der von Krösus, dem sagenhaft reichen König von Lydien, angestellt wurde. Es schadet demnach nicht, sich zunächst an Experten zu wenden, wenn sich diese über weitere Experten umsichtig schlau machen. Offenbar verfügt jeder Mensch über eigene unbewusste Faktoren, die ihm zu berechtigten Vorhersagen verhelfen. Beim geschickten Verbinden dieser Vorhersagen werden somit auch die dahinterstehenden Faktoren genutzt. Und weil auch Experten von subjektiven und willkürlichen Erwartungen geleitet werden, ist dabei eine Orientierung an bestimmten Kriterien zu beachten.108
Jede Expertise muss independent, also unabhängig erfolgen. Denn es nutzt wohl kaum etwas, verschiedene Menschen zu befragen, die sich im Stillen bereits einig sind. Ihre jeweiligen Erfahrungen bekommen dadurch zwar mehr Gewicht und können sich vielleicht besser durchsetzen. Aber sie verfügen dabei über weniger ursprünglichen Erfahrungsumfang und können somit leichter irren. Denn in diesem Sinne wäre es wohl fast einfacher, einen einzigen Experten auch schlicht mehrfach fragen,
3.3 Erfindungen durch Prognosen
189
um eine Antwort zu erhalten. Das wäre dann immerhin mit weniger Aufwand verbunden.
Die Anzahl der Expertisen muss signifikant, also kennzeichnend sein. Denn es nutzt wohl auch kaum etwas, ein paar Freunde zu befragen, die vielleicht nur wenige sind und alle zudem auch irgendwie ähnlich denken. Auch dann könnte man besser schlicht ein gemeinsames Gespräch führen und nachher die Meinung zusammenfassen. Auch das erscheint dann vielleicht angenehmer und leichter.
Abb. 60:
Zum Delphi-Effekt: „Hinter dem, was man so alles hört, verbirgt sich im Mittel auch viel von dem, was sich als richtig erweisen wird!“
Die moderne Delphi-Methode wurde im Jahr 1963 von der RAND Corporation entwickelt. Dabei handelt es sich um eine gemeinnützige amerikanische Gesellschaft für Forschung und Entwicklung, wovon sich der Name Research ANd Development ableitet. Die Methode besteht aus einer wiederholten Expertenbefragung. Und neben der genannten Independenz und Signifikanz wird eine Vorhersage dabei noch durch folgende beiden Kriterien geschärft:
Die Expertisen werden reflektiert, also gespiegelt durch eine zweite Schätzung. Diese erneute Schätzung erfolgt nach Kenntnis eines ersten Mittelwerts, wodurch jeder Teilnehmer die Gelegenheit bekommt, seine erste Einschätzung zu überdenken. Auf diese Weise werden unbegründete Abweichungen vermindert und begründete Abweichungen verstärkt. Denn unbegründete Abweichungen stellen wohl eher eine zufällige Streuung dar, welche die echten anderen Ansichten überlagert. Wenn ein Experte aber mit dem Mittelwert einverstanden ist, wird er sich diesem leicht anschließen. Infolge der Reflexion einer zweiten Befragung lassen sich dann sowohl eine deutlichere Einschätzung als auch ein Maß für die bestehenden Unterschiede erwarten.
Die Expertise erfolgt anonym, also unpersönlich durch eine statistische Auswertung. Dadurch wird die Gefahr vermindert, dass die beabsichtigte sachliche Einschätzung durch eine persönliche Rechtfertigung überdeckt wird. Denn gerade Experten neigen dazu, ihren Standpunkt auch persönlich zu verteidigen – notfalls mit den zuvor geschilderten eristischen Kunstgriffen. Die Anonymität eröffnet zumindest eine Gelegenheit zur Redlichkeit. Sie ist aber heftig umstritten, weil es immer wieder Spaßvögel oder Trickser gibt, die diesen Anlass nutzen, um ganz eigene Interessen zu verfolgen. Und das kann die Methode dann nicht verhindern.
190
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Eine Delphi-Befragung beinhaltet folglich auch stets einen Prozess der Meinungsbildung. Und natürlich ist die Versuchung entsprechend groß, das Ergebnis im eigenen Interesse zu manipulieren. Denn das gemeinsame Meinungsbild kann durchaus zu sehr konkreten Ergebnissen führen, wenn entsprechende Forschungsmittel bewilligt und Innovationsprojekte genehmigt werden. In diesem Sinne erscheint es vielleicht sogar ratsam, die jeweiligen Experten zu einem Thema außen vor zu lassen, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden. So ist bekannt, dass die Gruppenintelligenz mitunter geringer sein kann, als die Intelligenz einzelner Mitglieder, wenn diese durch soziale Interaktionen beeinflusst werden.109 In der Praxis hilft es aber bereits, eine entsprechend große Personengruppe zu befragen, damit die Experten nicht so sehr ins statistische Gewicht fallen. Wenn es daraufhin zu entsprechenden Aktivitäten kommt, fließt die von ihnen benötigte Expertise dann ohnehin wieder ein. Am Ende des Prozesses liegt eine recht vertrauenswürdige Prognose vor, für die sich außerdem ein Meinungsbild herauskristallisiert hat. Wenn also daraufhin ein entsprechendes Forschungsprojekt gestartet wird, so darf man auf angemessene Aufmerksamkeit, Kenntnis, Unterstützung und auch Engagement hoffen. Dieser Aspekt einer Delphi-Studie wird oft unterschätzt. Dabei liegt gerade für eine Innovation der Auftrag nicht nur in der Erfindung einer Sache, sondern auch in deren Verbreitung. Und eine Meinungsbildung im Vorfeld eröffnet durchaus die Perspektive, dass dadurch auch die Forschungsaktivität und Problemlösung verbreitet wird. Eine Delphi-Studie besteht demnach insgesamt aus einer methodischen Befragung einer großen Anzahl von Personen zu einem Thema, wobei die künftige Entwicklung eingeschätzt wird. Als Algorithmus lassen sich dazu folgende Schritte festlegen: 1. Identifizierung von Themen Dazu gehören einerseits die Lebensbereiche, deren Zukunft hinterfragt werden soll, und andererseits auch eine ausreichende Anzahl von Personen, die über Erfahrungen zu den Themen verfügen. – Beispielsweise lassen sich Themen sammeln, die derzeit in der öffentlichen Meinung, in anderen Ländern oder bestimmten Fachkreisen kontrovers diskutiert werden. Nur wenn es möglichst viele Personen betrifft, kann man von entsprechenden Erfahrungen und Betroffenheit ausgehen. 2.
Aufstellen von konkreten Hypothesen Dazu werden zu jedem Thema künftige Zustände angenommen und als verwirklicht unterstellt. Nur die Einschätzung von konkreten Zuständen kann statistisch gemittelt werden. Ein allgemeines Befragen mit den sogenannten W-Worten – wer, was, wie, wo, warum und wozu – führt zu einer Vielzahl unmittelbarer Einschätzungen. – Beispielsweise fragt eine konkrete Einschätzung nach einem messbaren Wert, wie einem Betrag oder einem Jahr. Oder sie bezieht sich auf eine bestimmte Auswahl alternativer Möglichkeiten. Eine diffuse, nicht-konkrete Frage lässt dagegen beliebig viele Antworten zu. Bei einer Auswertung müssen diese kumuliert, also vernünftig gehäuft werden, um eine statistische Auswertung vorzunehmen. Zur Vermeidung von Fehlern durch diese Deutung, ist es ratsam, gleich zu Beginn eine konkrete Auswahl vorzulegen.
3.3 Erfindungen durch Prognosen 3.
191
Erste Befragungsrunde zur Einschätzung der Hypothesen Dazu gehört dann bereits die statistische Auswertung der Antworten. – Beispielsweise werden der numerische Mittelwert, der Medianwert, die Streubreite und die Standardabweichung ermittelt. Der Mittelwert ist zwar die angestrebte Größe für das Ergebnis. Aber der Unterschied zum Median zeigt an, ob sich die Einschätzungen gleichmäßig darum verteilen oder eher einige wenige starke Abweichungen die vielen geringen Abweichungen aufheben. Und die Streubreite zeigt an, wie stark die Einschätzungen maximal voneinander abweichen. Schließlich zeigt die Standardabweichung die mittlere Abweichung vom Mittelwert an, also wie breit die Verteilung ist, wenn man den Wendepunkt der Krümmung einer Normalverteilung annimmt.110
4.
Erneute Befragung zur Einschätzung derselben Hypothesen Dabei erfolgt zunächst eine Nennung des jeweils vorliegenden Mittelwerts aus der ersten Befragung. – Beispielsweise wird den befragten Personen der Sinn und Zweck einer zweiten Befragung und der Anonymität erläutert. Dies kann durchaus bei mehreren Gelegenheiten erfolgen, um dadurch ein bewusstes Wissen für das Vorgehen zu erzeugen. Obwohl die Auswertung über rechnergestützte Tabellenkalkulation und interaktive Kommunikation inzwischen deutlich vereinfacht ist, steckt im korrekten Befragen und geduldigen Einfordern von Rückmeldungen meist eine große Herausforderung. Und obwohl die eigentliche Befragung zunächst mit geringerem Aufwand verbunden scheint, wird viel Zeit benötigt, um den Klärungsbedarf der Befragten zu erfüllen. Schließlich scheint auch einiges diplomatisches Geschick erforderlich zu sein, um die gewünschte Unterstützung zu bekommen. Insgesamt beruht eine Delphi-Studie demnach auf einem Effekt, der über eine Methode genutzt wird, die aus einer Befragung besteht. Und die Ergebnisse der Studie liegen dann als Prognose und einem gemeinsam abgestimmten Meinungsbild vor. Lektion 34:
Eine Meinungsbildung eröffnet innovative Perspektiven!
Übung 34: Stellen Sie eine eigene „kleine“ Delphi-Studie an! Sammeln Sie dazu die Wünsche von Bekannten! Erstellen Sie dafür einen Fragenkatalog, beispielsweise über die Erfüllbarkeit, die Preisvorstellung, die Nützlichkeit im Allgemeinen oder das Interesse im Einzelnen! Achten Sie darauf, dass die Antworten vergleichbar bleiben, also mit Ja oder Nein oder auf einer Skala beantwortet werden können! Bitten Sie dann Ihre Bekannten um eine erste Einschätzung des Fragenkatalogs! Errechnen Sie die Verteilung der Einschätzungen und erklären Sie Ihren Bekannten das Ergebnis – Mittelwert, Median, Streubreite und Standardabweichung!
192
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Bitten Sie dann dieselben Leute um eine erneute Einschätzung der Fragen! Erklären Sie dabei – und achten Sie darauf, dass die Einschätzungen anonym erfolgen! Errechnen Sie wieder die Verteilung! Wie hat sich die Verteilung geändert? Welche Wünsche erscheinen dadurch besonders, beispielsweise erfüllbar, preiswert, nützlich oder interessant? Warum sind manche Wünsche im Gegenteil beispielweise unerfüllbar, überteuert, unnütz oder uninteressant? Forschen Sie nach, erkunden Sie die Problematik und lösen Sie die auftretenden Probleme!
3.3 Erfindungen durch Prognosen
3.3.2
193
Trendfaktoren
Ein Trend bezeichnet wörtlich das Ausrollen oder ein selbstständiges Weiterdrehen eines runden Gegenstands. Und die Trendfaktoren sind entsprechend diejenigen Hebel, Neigungen, Kräfte oder Bewegungen, die zwangsläufig zu einem bestimmten Ergebnis führen. In diesem mechanischen Bild entspricht ein Algorithmus somit der Trägheit des Gegenstands, die ihn seine ursprüngliche Bahn weiter folgen lassen. Wer sich also nicht auf die doch recht subjektiven Einschätzungen einer Delphi-Studie einlassen mag, der kann auch versuchen, sich zunächst die Faktoren bewusst zu machen, die einen Trend auslösen. Mit dieser Objektivierung wird eine Prognose dann sogar an gewissen Tatsachen verankert und ist nicht mehr so ganz abgehoben, wie zuvor beschrieben. Diese Forderung nach objektiven Faktoren entspricht den zuvor dargestellten Kategorien für die Wissenschaft und Scientific Innovation. Und die Kriterien ähneln den zuvor beschriebenen Anforderungen bei der Delphi-Methode.
Jeder Faktor muss diskret, also abgegrenzt sein. Ein Trendfaktor muss genauso unabhängig sein wie zuvor eine menschliche Expertise für eine Delphi-Studie. Denn es nutzt wohl kaum etwas, verschiedene Faktoren zu verwenden, die mehr oder weniger das Gleiche ausdrücken. Verschiedene Faktoren mit ähnlichem Inhalt lassen sich besser zu einem einzigen Faktor zusammenfassen. Dabei wird dann vielleicht auch klarer, worin die Unterschiede überhaupt bestehen oder welche Faktoren sich noch dazwischen verbergen. – Beispielsweise kann ein Organigramm verwendet werden, um eine vollständige Strukturierung nach Art einer Aufbauorganisation durchzuführen. Wie zuvor bei der Innovationskultur erklärt, werden die Faktoren dabei als einzelne Strukturelemente oder Arbeitspakete verwendet und schlüsseln den gesamten Themenbereich auf. Entsprechend können diese Faktoren durchaus selbst wieder aus verschiedenen Aspekten bestehen oder auch Teil von übergeordneten Aspekten sein. Aber innerhalb einer umfassenden Hierarchie von Hauptfaktoren und Teilfaktoren wird ein Thema mit einem Organigramm vollständig faktorisiert.
Die Anzahl der Faktoren muss extensiv, also umfassend sein. Ein Faktor muss in diesem Sinne auch genauso zutreffend sein wie eine menschliche Expertise. Denn es nutzt auch wohl kaum etwas, nur ein paar für sich allein stehende Faktoren zu verwenden, die gerade zur Hand sind. Eine systematische Vorgehensweise und Zerlegung ermöglicht es, die Übersicht zu behalten. – Beispielsweise können in einem Organigramm verschiedene Orientierungen ausprobiert werden. Wie bei der Innovationskultur kann sich beispielsweise jede Strukturebene der Organisation nach den handelnden Personen richten, nach den zu erfüllenden Funktionen, nach den zu behandelnden Objekten, nach den zu erstellenden Produktkomponenten, nach den zu bearbeitenden Prozessen, nach den jeweiligen Aktivitäten oder auch an den zeitlichen Arbeitsphasen. Je nachdem, welche Orientierung eine Strukturebene aufweist, resultieren daraus andere Unterteilungen. Und durch Variation der Blickwinkel in der Betrachtung lässt sich eine passende Struktur der Faktoren erreichen.
Die erste Faktorisierung wird adjustiert, also ausgeglichen. Bei den Trendfaktoren bedeutet dies eine erste Überprüfung der Zusammensetzung und der sich daraus ergebenden Zusammenhänge – und entspricht somit einer Spiegelung der
194
3 Wie (er-)findet man Innovationen? menschlichen Expertisen mittels einer Vorbewertung. Dadurch können extreme Abweichungen und Unverträglichkeiten vermieden oder zusätzliche Faktoren entdeckt werden. Eventuell kann es erforderlich werden, eine erneute Aufteilung der Faktoren vorzunehmen. – Beispielsweise werden die kritischen Bedingungen einer Organisation untersucht. Kritische Zeitbedingungen im Ablauf der Faktoren sind beispielsweise gegeben, wenn ein Faktor vor einem anderen erfüllt sein muss, wie der Faktor Stromversorgung vor dem Faktor elektronische Steuerung. Durch eine solche vorbeugende Betrachtung wird somit die Faktorisierung optimiert.
Die Faktorisierung erfolgt schließlich fair, also unvoreingenommen. Bei den Trends geht es in diesem Sinne um einen unparteiischen Algorithmus – und entspricht der Anonymität, welche bei den menschlichen Experteneinschätzungen so bedeutsam war. Dadurch wird die Gefahr vermindert, dass eine unbewusste Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Faktoren oder deren Zusammenhänge das Ergebnis vorweg festlegen. Denn der ganze Aufwand einer objektivierenden Faktorisierung lohnt sich nur dann, wenn auch beliebige, überraschende, unbefangene und neuartige Trends dadurch erkannt werden können. Und selbstverständlich möchte man in jedem Falle vermeiden, dabei selbst zum Objekt von listigen Spaßvögeln oder Tricksern zu werden. – Die Notwendigkeit von Unvoreingenommenheit wurde zuvor bereits ausführlich bei den Tropen erläutert. Außer fachlichem Können, Tatsachenbezug und thematischer Auseinandersetzung beruht die wissenschaftliche Skepsis auf einer bestimmten Form der Gleichgültigkeit. Erst dadurch wird es möglich, die beste Möglichkeit unbeeindruckt, wertfrei, vorurteils- und wunschlos zu ermitteln. Die verschiedenen Tropen sind ein gutes Beispiel für einen Algorithmus, der in der Lage ist, einen bestimmten, vorgefassten Gedanken innovativ zu wandeln. Frederic Vester (1925–2003) entwickelte um 1970 einen Paarvergleich von Trendfaktoren, welcher auch als Einfluss- oder Vernetzungsmatrix bekannt ist.111 Diese Einflussmatrix ähnelt der zuvor erklärten Widerspruchsmatrix bei den Technischen Parametern. Grundsätzlich besteht sie aus einer Betrachtung der Beziehungen von Ursachen und Wirkungen zwischen allen Faktoren. In einer Tabelle oder Matrix wird dann das jeweilige Zusammenwirken der Einflüsse in jedem Konfliktfeld bewertet. Dieser Algorithmus lässt sich wieder mit vier Schritten beschreiben. 1.
Identifizierung der Faktoren Dazu werden Anzeichen, Blickwinkel, Standpunkte, Einflüsse, Kräfte, Umstände, Begriffe oder sonstige Aspekte gesucht, deren Wechselwirkung für die künftige Entwicklung eines Themas bedeutsam sein können. Wie beim Innovationsdesign ist es ratsam, zunächst ein umfassendes Konzept zu erstellen und sich dann auf die wesentlichen Punkte zu beschränken. • Diese Trendfaktoren sollen insgesamt abgegrenzt, umfassend, ausgeglichen und unvoreingenommen sein. Und ihre Strukturierung kann über verschiedene Orientierungen mithilfe eines Organigramms erfolgen.
2.
Aufstellung von Schätzwerten Dabei wird für jede einzelne Wechselwirkung zwischen zwei Faktoren eine Einschätzung genau dieses Zusammenhangs vorgenommen. Anstatt einer Einschätzung von Hypothesen wie bei der Delphi-Studie, wird bei der Einfluss- oder Vernetzungsmatrix nur
3.3 Erfindungen durch Prognosen
195
die Wechselwirkung von Faktoren eingeschätzt. Dahinter steht die vernünftige Überlegung, dass Menschen recht gut in der Lage sind, einzelne Entscheidungen zu treffen. Diese Kompetenz geht allerdings zunehmend verloren, wenn ein unübersichtliches System mit gegenseitigen Wechselwirkungen vorliegt. Für diese Kompliziertheit ist ein mathematischer Algorithmus besser geeignet. Deshalb ist bewusst darauf zu achten, dass immer nur einzelne Zusammenhänge eingeschätzt werden. Die Betrachtung von weiteren Auswirkungen der geschätzten Wirkungen müssen ausgeschlossen werden. Denn diese sollen gerade durch den Algorithmus geliefert werden. Falls bei den menschlichen Einschätzungen bereits die größeren Zusammenhänge berücksichtigt werden, kommt es daher zu einer Überschneidung der beiden Mechanismen und folglich zu einer Überlagerung, welche letztlich das Ergebnis verfälscht. Demzufolge ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen und öfter daran zu erinnern, dass nur einfache Schätzungen erfolgen sollen. • In der Praxis erfolgen die Einschätzungen durch Abstimmung in einer Gruppe. Meist erfolgt dann eine spontane Einigung auf einen gemeinsamen Wert. Für Unstimmigkeiten ist eine begrenzte Bedenk- und Redezeit einzuplanen. • Den einzelnen Schätzungen werden dann Zahlenwerten zugeordnet von „0“ (keine Wirkung) über „1“ (Wirkung) bis zu „2“, „3“ oder vielleicht auch mehr. Bei eher geringer Beurteilungskompetenz der Teilnehmer und/oder vielen Faktoren ist bereits eine Auswahl aus {0; 1} ausreichend genau. Bei hoher Beurteilungskompetenz und wenigen Faktoren kann vielleicht eine Differenzierung bis 10 erforderlich sein. In der Regel ist eine Beschränkung auf 3 zweckmäßig. • Die Eigenwirkung eines Faktors mit sich selbst braucht nicht geschätzt zu werden und wird gestrichen, was somit dem Wert „0“ entspricht. • Die sich ergebende Matrix oder Tabelle wird auch als Papiercomputer bezeichnet, da sie sich auf einem einfachen Blatt Papier darstellen lässt. In der üblichen Schreibweise erfolgen die einzelnen Einschätzungen der Matrix von links nach rechts, wobei ein Faktor rechts als Ursache für die verschiedenen Wirkungen betrachtet wird, die rechts von ihm stehen. Denn die jeweiligen Wechselwirkungen sind oft nicht symmetrisch; es gibt also starke Wirkungen von solchen Ursachen, die sich umgekehrt selbst nur schwach beeinflussen lassen. Daher werden insgesamt wieder n (n + 1)/2 Schätzungen notwendig, wenn n die Anzahl der Faktoren ist. 3.
Erste Auswertung der Matrix Die Zahlenwerte der Tabelle werden dabei mit nachfolgendem Algorithmus weiter verrechnet. • Die Summe aller Werte einer Zeile ergibt am Ende die Aktivsumme AS. Dieser Wert zeigt jeweils an, wie sehr ein Faktor in dem System aktiv treibt. • Die Summe aller Werte einer Spalte ergibt am Ende die Passivsumme PS. Dieser Wert zeigt jeweils an, wie sehr ein Faktor in dem System passiv getrieben wird. • Das Produkt P aus AS und PS wird dann hinter einer Zeile oder einer Spalte notiert – je nach verfügbarem Platz auf dem Papier. Dieser Wert gibt somit einen Vergleichswert für die relative Wirksamkeit und Aktivität eines Faktors an.
196
3 Wie (er-)findet man Innovationen? •
Der Quotient Q aus AS und PS wird ebenfalls hinter einer Zeile oder Spalte notiert. Dieser Wert gibt entsprechend einen Vergleichswert für die relative Abhängigkeit und Passivität eines Faktors an.
Wirkung auf Faktor …
Wirkung von Faktor …
F1
F3
F4
F5
AS
Q
P
= AS/PS
= AS*PS
F1
-/0
1
2
0
3
6
1,2
30
F2
1
-/0
3
3
2
9
1,3
63
F3
1
3
-/0
1
0
5
0,6
40
F4
2
3
1
-/0
1
7
1,4
35
F5
1
0
2
1
-/0
4
0,7
24
PS
5
7
8
5
6
Abb. 61:
4.
F2
Prinzip des Papiercomputers mit fünf Faktoren F1 bis F5 Der Faktor F4 ist demnach aktiv, weil er viel treibt (AS=7), dabei aber wenig getrieben wird (PS=5). Der Faktor F3 ist dagegen passiv, weil er wenig treibt (AS=5), aber viel getrieben wird (PS=8). Der Faktor F5 ist entsprechend träge, weil er wenig getrieben wird (PS=6) und auch wenig treibt (AS=4). Und der Faktor F2 ist kritisch, weil er sowohl viel getrieben wird (PS=7) als auch viel treibt (AS=9).
Erneute Auswertung der Matrix Der Vergleich der Aktivität P und der Passivität Q zwischen den Faktoren liefert eine Gesamteinschätzung der Einflüsse und Wirkungen. • Faktoren mit einem relativ hohen Q-Wert sind aktiv treibend. Denn sie beeinflussen eher viel, werden aber nur wenig beeinflusst. Es handelt sich demnach um Faktoren, mit denen man eine Veränderung anstoßen kann. • Faktoren mit einem relativ geringen Q-Wert sind dagegen passiv getrieben. Denn sie werden eher stark beeinflusst, ohne selbst stark zu beeinflussen. Es handelt sich demnach um Faktoren, welche eine Veränderung im System aufhalten können. • Faktoren mit einem relativ geringen P-Wert sind träge. Denn sie beeinflussen eher wenig und werden auch kaum beeinflusst. Es handelt sich demnach um Faktoren, auf deren Beständigkeit man sich bei Veränderungen verlassen kann. • Faktoren mit einem relativ hohen P-Wert sind dagegen kritisch. Denn sie beeinflussen doch recht viel und werden auch stark beeinflusst. Es handelt sich demnach um Faktoren, die man aufmerksam beachten sollte. Diese Trendfaktoren können also sehr verschiedene Eigenschaften für eine Innovation entfalten. Und mit der Kenntnis dieser Eigenschaften lässt sich dann umgekehrt Einfluss auf den Trend nehmen. Insgesamt kann über eine gezielte Beeinflussung oder Nichtbeeinflussung der verschiedenen Faktoren der Innovationsprozess gesteuert werden. – Beispielsweise beeinflusst der Einsatz von Brennstoffzellen aktiv viele Faktoren der Antriebstechnik, erfolgt aber relativ unabhängig von diesen. Als Produktinnovation
3.3 Erfindungen durch Prognosen
197
ist ein Brennstoffzellenantrieb ökonomisch noch nicht besonders wertvoll, denn er muss mit den etablierten und finanziell abgeschriebenen Technologien konkurrieren. Erst durch spätere Innovationen in der Herstellung und im Gebrauch bzw. den Verbrauchseinsparungen kann ein Innovationspreis erzielt werden. • Somit stößt die Innovation eines eher aktiven Faktors häufig viele Veränderungen an. Der Innovationspreis ergibt sich infolgedessen erst später in Verbindung mit weiteren Innovationen. Als Promotor benötigt man in diesem Falle eher die Beharrlichkeit und den langen Atem eines „geschäftigen Bauern“. – Beispielsweise wird die Einführung eines neuen Kraftstoffs, wie Erdgas oder Wasserstoff, eher passiv von den vielen Faktoren der Antriebstechnik beeinflusst. Auch beeinflusst die Art des Energieträgers die Antriebstechnik in deutlich geringerem Maße als die anderen Faktoren, wie Motor, Kupplung, Getriebe, Wellen und Lager. Dagegen benötigt jede Neuerung dieses Antriebsfaktors zunächst einmal Transportund Lagermöglichkeiten sowie entsprechende Fahrzeuge und Anwendungskenntnisse, um einen ökonomisch relevanten Umfang zu erhalten. • Daher benötigt die Innovation eines eher passiven Faktors besondere Umstände. Der Innovationspreis wird dadurch vielleicht erst zu einem späteren Zeitpunkt erzielt, wenn zuvor bereits andere Innovationen erfolgt sind. Als Promotor benötigt man in diesem Fall eher die Geduld eines „lauernden Jägers“. – Beispielsweise beeinflusst die Nutzung von Nahrungsmitteln zur Erzeugung von Kraftstoffen, wie Raps, Mais oder Zuckerrohr, relativ träge die Antriebstechnik. Denn sie ersetzt grundsätzlich nur die bestehenden Produkte und ergänzt somit das vorhandene Angebot, ohne die Technik groß zu beeinflussen oder von dieser beeinflusst zu werden. Solche Biokraftstoffe können durchaus sinnvoll sein, wenn ein lokaler Überschuss oder zusätzlich Land zur Verfügung steht. Das Öl kann beispielsweise aus der sehr genügsamen Purgiernuss, Jatropha curcas, stammen, welche in trockenen Savannengebieten Afrikas und Südamerikas gedeiht und zusätzlich zur Nahrung erzeugt werden kann. • Insofern stellt die Innovation eines eher trägen Faktors eine sogenannte Insellösung dar. Der Innovationspreis lässt sich auf einem einigermaßen klar umrissenen Markt unter vielleicht besonderen Konditionen erzielen. Als Promotor benötigt man in diesem Fall eher die Aufmerksamkeit eines „findigen Händlers“. – Beispielsweise stellt die Hybridisierung verschiedener Antriebsformen einen kritischen Faktor der Antriebstechnik dar. Denn sie erzeugt technisch zunächst zusätzliches Fahrzeuggewicht und erfordert höheren Aufwand mit zusätzlichen Qualitätsrisiken. Und es erfordert ein besonderes Marketing, um eine exklusive Käuferschicht zu bewegen, einen entsprechend höheren Preis dafür zu bezahlen. Derzeit ist noch strittig, ob es sich dabei um eine eigenständige Alternative oder eine Übergangslösung handelt. • Demzufolge ist die Innovation eines kritischen Faktors revolutionär – mit allen eingangs beschriebenen Vor- und Nachteilen. Der Innovationspreis muss in einem hart umkämpften Markt mit hohen technischen Ansprüchen und mit einem ungewissen Ausgang erzielt werden. Als Promotor benötigt man in diesem Fall eher die Strategie eines „erfolgshungrigen Feldherrn“. Die Trendfaktoren prognostizieren demnach nur die künftigen Eigenschaften für Zusammenhänge. Sie geben Hinweise auf Folgen, Umstände, Märkte und Marketing, die dabei zu be-
198
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
achten sind. Und sie vermitteln einen Eindruck von den Herausforderungen und den dabei erforderlichen Promotoren. Aber sie entscheiden nicht darüber, ob etwas besser oder erfolgreicher sein wird. Lektion 35:
Das Innovationsmanagement kann sich an einem Trend orientieren!
Übung 35: Untersuchen Sie den Trend in einem Technologiefeld! Beispielsweise Kunststofftechnik, Verkehrstechnik, Anlagentechnik, Umwelttechnik, Mechatronik, Energietechnik, Luft- und Raumfahrttechnik, Fertigungstechnik, Elektrotechnik, Nachrichtentechnik, Kommunikationstechnik, Computertechnik, Automatisierungstechnik, Messtechnik, Robotik, Medizintechnik, Agrartechnik, Nukleartechnik, Lebensmitteltechnik, Bioverfahrenstechnik, Kältetechnik … oder etwas Vergleichbares. Erstellen Sie dafür einen Papiercomputer! Durch welche Faktoren wird die Technik bestimmt? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen diesen Faktoren? Welche Werte ergeben sich für Aktivsumme, Passivsumme, Aktivität und Passivität der jeweiligen Faktoren? Welche vier Faktoren sind treibend, getrieben, träge und kritisch? Was bedeutet das für diese Technik? Orientieren Sie sich dann am genannten Beispiel für die Antriebstechnik! Welche Konsequenzen ergeben sich durch die Faktoren für die Innovation? Welche Haltung oder Promotoren benötigt man demzufolge für diese Innovationen? Überlegen Sie, welchen Trend Sie bereits vorher so eingeschätzt hätten – und welcher Trend sich erst über diesen Algorithmus herausgestellt hat! Wieso überrascht Sie das – oder überrascht Sie das nicht?
3.3 Erfindungen durch Prognosen
3.3.3
199
Szenarien
Der Begriff Szenario stammt aus der Theatersprache und bezeichnet die Entwicklung einer schlüssigen und nachvollziehbaren Handlung auf der Bühne, welche auch als Szene bezeichnet wird. Dieses Prinzip wurde um 1967 durch Herman Kahn und Anthony J. Wiener von der zuvor bereits genannten RAND Corporation als Hilfsmittel für Prognosen eingeführt. Ähnlich wie im Theater geht es bei Prognosen darum, eine in sich stimmige Interpretation der verschiedenen Akteure zu finden. Dazu werden von jedem der auftretenden Akteure verschiedene Spielweisen erprobt, die im jeweiligen Kontext glaubhaft erscheinen. Und die Regieleistung besteht gerade darin, einen Satz von Spielweisen derart zu inszenieren, dass der gesamte Zusammenhang des Stücks schlüssig erscheint. Auch ein Zukunftsszenario besteht in diesem Sinne aus einem schlüssigen Satz von einzelnen Ausprägungen. Diese Ausprägungen bedeuten also eine weitere Objektivierung eines Trendfaktors. Dabei wird angenommen, dass ein solcher Trendfaktor sich in einer bestimmten Weise konkretisiert hat, beispielsweise als Brennstoffzelle, Wasserstofftankstellennetz, Biokraftstoff oder Hybridantrieb aus dem zuvor genannten Abschnitt. Jede einzelne Ausprägung wird durch eine Beschreibung in einem sogenannten Deskriptor formal erfasst. Und durch die Variation dieser Deskriptoren werden verschiedene Sets inszeniert und durchgespielt, um schließlich ein möglichst schlüssiges oder konsistentes Szenario zu erhalten. In der weiteren Konkretisierung über Deskriptoren besteht demnach der Unterschied zu den zuvor beschriebenen Trendfaktoren. Zu jedem ermittelten Trendfaktor werden diese einzelnen Ausprägungen erarbeitet, in denen er in Erscheinung treten kann. Und umgekehrt bestehen die Szenarien aus den alternativen Sets infolge einer Kombination von Deskriptoren zu den verschiedenen Trendfaktoren. – Der Vorteil von Szenarien wird oft mit der erfolgreichen Umstellung von Frachtverträgen bei der Royal Dutch Shell erläutert. Dort wurde in einem Szenario rechtzeitig entdeckt, dass bei einem Ausfall von Frachten eine große finanzielle Belastung durch die laufenden Verträge entsteht. Vorausschauend wurden daher die Frachtverträge mit Reedereien angepasst. Als dann 1979 die erste Ölkrise kam, stand Shell weit besser dar als die Konkurrenz. Zwar wurde das Ölembargo selbst nicht vorhergesehen. Aber die Erkenntnis der grundsätzlichen Defizite und Spielräume führte zu einer rechtzeitigen Vorkehrung.112 Bei einem Szenario handelt es sich also nicht nur darum, ein richtiges Set zu finden. Sondern es geht vielmehr darum, sich auch in die Umstände für Entwicklungen hineinzudenken. Aus der somit geschaffenen Perspektive lassen sich infolgedessen besondere Probleme erforschen und gegebenenfalls die notwendigen Maßnahmen vorbereiten. Und wenn diese Interventionen neuartig sind, dann hat man auf diese Weise auch eine Innovation gefunden. Ein Szenario ist demnach auch ein Raum für die Gestaltung der Zukunft. Es ist dabei nicht zwingend erforderlich, die richtige Prognose zu treffen, um Szenarien erfolgreich zu nutzen. Meist reicht es aus, aus einer Analyse eine einzige gute Idee zu gewinnen, um den Aufwand dafür zu rechtfertigen. Und die Kunst besteht darin, die geeigneten Neuerungen für diese Zukunft zu finden und rechtzeitig zu verwirklichen. In diesem Sinne entspricht ein Szenario der Vorgehensweise beim zuvor genannten Innovationsdesign.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Die Szenariotechnik besteht demnach aus der Erfassung von konkreten Ereignissen zu einzelnen Trendfaktoren, die dann als Deskriptoren beschreiben werden. – In gewisser Weise ähnelt die Szenariotechnik der TRIZ-Technik. Und in diesem Sinne stellen die zuvor bereits genannten Technischen Parameter TP die Faktoren dar, welche durch die Innovativen Grundprinzipe IGP als Deskriptoren angelegt sind. Der Unterschied beruht im Wesentlichen darauf, dass bei TRIZ die Faktoren und Deskriptoren aufgrund einer allgemeinen Voruntersuchung entsprechend allgemein festgelegt wurden, während bei einem Szenario diese Rahmenbedingung frei bleibt und erst erarbeitet werden muss.
Eine Szenarioanalyse besteht aus der Untersuchung von verschiedenen Sätzen solcher Deskriptoren. Die verschiedenen Szenarien stellen sozusagen eine gewisse Auswahl von alternativen Zukünften dar, auf die man sich vorbereiten kann. Sie geben nicht an, welche Eigenschaften künftig wichtig sein werden. – Bei TRIZ wird diese Analyse durch die Widerspruchsmatrix vorweggenommen. Mit dieser Unterstützung ist es zwar leichter, zu einem Ergebnis zu kommen. Allerdings muss man auf eine zutreffende Auswahl der Lösungsangebote vertrauen. In dieser Hinsicht ist man bei einem Szenario also wieder freier. Bereits im Jahr 1966 erstellten Theodore J. Gordon und Olaf Helmer von der RAND Corporation einen Algorithmus, um die Wechselwirkungen zwischen den Deskriptoren und den Trendfaktoren von Szenarien auch mathematisch zu erfassen. Dadurch wird es möglich, nur solche Szenarien abzuleiten, die sich aus den bestehenden Trends ergeben. Dieser Algorithmus ist recht kompliziert und erfordert mathematische Kenntnisse der Matrizenrechnung. Nachfolgend werden die wesentlichen Schritte daher nur allgemein vorgestellt: 1. Von den einzelnen Faktoren werden zunächst verschiedene Ereignisse oder Ausprägungen bestimmt. Diese werden als Deskriptoren erfasst und es wird darin beschrieben, wie sie ganz konkret auftreten können. Dann wird für jeden einzelnen Deskriptor geschätzt, wie dieser die Wahrscheinlichkeitsverteilungen bei allen anderen Faktoren verändert. – Das Ereignis des Faktors „globale Temperaturerhöhung“ lautet als Deskriptor beispielsweise 2°C mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent. Nimmt man an, dass dieses Ereignis eintritt, dann hat der Deskriptor selbst die vollen 100 Prozent. Und alle anderen Deskriptoren desselben Faktors sind dadurch logischerweise ausgeschlossen, wodurch sie die Wahrscheinlichkeit von 0 Prozent erhalten. Infolgedessen entstehen für die anderen Faktoren entsprechende Änderungen in den Wahrscheinlichkeiten der jeweils dort beschriebenen Ereignisse. Einige Wahrscheinlichkeiten werden steigen und dafür andere entsprechend sinken. Beispielsweise wird sich beim Faktor „Unwetter“ die verschiedenen Ereignisse von Starkregen, Trockenheit oder Sturmkatastrophe ändern und somit die Wahrscheinlichkeiten der entsprechenden Deskriptoren anders verteilen. Wenn man den Deskriptor „kein Unwetter“ einschließt, beträgt die Summe der Wahrscheinlichkeiten allerdings eines Faktors immer 100 Prozent. Indem die direkten Änderungen durch einen Deskriptor auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung der anderen Faktoren geschätzt werden, entsteht nach und nach eine Matrix, in der alle möglichen Wechselwirkungen formal erfasst sind. Bei etwa 10 Faktoren mit jeweils etwa 4 Deskriptoren enthält diese Wechselwirkungs- oder Cross-Impact-Matrix 40 Zeilen und Spalten mit insgesamt 1600
3.3 Erfindungen durch Prognosen
2.
3.
4.
201
Feldern. Wie zuvor bereits bei den Technischen Parametern scheint somit auch hierbei eine sinnvolle Vorauswahl der Varianten erforderlich. Aufgrund der formalisierten Darstellung der Zusammenhänge lässt sich auch eine mathematische Auswertung nach den Regeln der Linearen Algebra vornehmen. Grundsätzlich ergibt sich dabei für jede Kombination von Deskriptoren in den verschiedenen Faktoren ein Szenario. Allerdings führen oftmals verschiedene Kombinationen durch die Wechselwirkungen zu einem ziemlich ähnlichen Szenario. Insbesondere gibt es bestimmte Kombinationen von Ereignissen – die sogenannten Eigenvektoren der Matrix, welche gegen Veränderungen recht immun sind, denn ihre Verhältnisse bleiben durch die Wechselwirkungen unverändert. – Dieser mathematische Ansatz wird formal dargestellt aus dem Eigenvektor e und der Matrix M mit der Beziehung M e = e . Dabei ist eine reine Zahl und die Gleichung stellt dar, dass sich bei einem Eigenvektor e die gesamten Veränderungen durch eine Matrix M genauso verhalten, also würde dieser Vektor nur mit einer einfachen Zahl multipliziert. Die meisten Varianten lassen sich dann weiter zusammenfassen. Denn bei 10 Faktoren mit je 4 Deskriptoren ergeben sich insgesamt 104 = 10.000 Varianten. Aber die meisten Varianten sind ziemlich ähnlich und lassen sich als Vektoren mathematisch sinnvoll zu einer Klasse bündeln. – Der Unterschied zweier Varianten kann mathematisch über die skalare Länge von Differenzvektoren ermittelt werden. Unterschreitet diese Länge eine bestimmte Schwelle, so kann man die entsprechenden Vektoren komponentenweise mitteln und zu einem einzigen zusammenfassen. Die mathematische Theorie der Linearen Algebra liefert dafür die grundsätzliche Aussage, dass eine Matrix nur genauso viele Eigenvektoren aufweisen kann, wie es insgesamt Faktoren gibt. Wenn man also wieder von etwa 10 Faktoren mit den jeweils 4 Deskriptoren ausgeht, dann sind etwa 40 Szenarien zu erwarten. Unter Berücksichtigung aller Wechselwirkungen besteht demnach für jedes Ereignis eine Kombinationsmöglichkeit mit anderen Ereignissen, welche verhältnismäßig gleich bleibt. Diese Konsistenz der Zustände lässt sich wiederum auf mathematische Weise ermitteln. Allerdings steigt der Rechenaufwand für mehr als drei Wechselwirkungen immens an und kann nur näherungsweise mathematisch gelöst werden. Die konsistenten Zustände lassen sich als entsprechend stabile Szenarien einer künftigen Entwicklung verstehen, die allein durch die Wechselwirkungen der verschiedenen Trendfaktoren hervorgerufen werden. Dieses Szenario kann über die Deskriptoren wieder in einen Satz von Ereignissen zurückübersetzt werden. Um den Aufwand zu reduzieren, kann man allerdings zuvor auch numerisch eine Auswahl treffen: – Als Trendszenarien lassen sich beispielsweise diejenigen konsistenten Zustände bezeichnen, die sich alle ziemlich ähnlich sind. Sie liegen sozusagen im Trend der Entwicklung und sollten keine große Überraschung darstellen. – Als Alternativszenarien lassen sich beispielsweise diejenigen konsistenten Zustände bezeichnen, die zwar ziemlich ähnlich sind, aber deutlich vom Trend abweichen. Sie bieten sozusagen Alternativen zur trendigen Entwicklung mit einigen Besonderheiten.
202
3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Als exotische Szenarien lassen sich beispielsweise diejenigen konsistenten Zustände bezeichnen, die erst in einem größeren Abstand zum Trend auftreten. Sie liegen außerhalb der üblichen Erwartungen und bieten die Gelegenheit zu überraschenden Entdeckungen. Als Extremszenarien lassen sich beispielsweise diejenigen konsistenten Zustände bezeichnen, welche die größten Unterschiede zum Trend aufweisen. Sie zeigen sozusagen die Extreme für die künftige Entwicklung auf. Bei der Szenarioanalyse unterscheidet man meist zwischen einem eher positiven und einem eher negativen Extremszenario.
–
Häufigkeit →
Trendszenario
Alternativszenarien
exotische Szenarien Extremszenarien Abstand zum Trend → Abb. 62:
Szenarien als Häufung von konsistenten Ereigniszuständen
Zur besseren Veranschaulichung des methodischen Ansatzes wird gerne ein sogenannter Szenariotrichter verwendet. Wie bereits zuvor der Innovationstrichter, so wird dadurch demonstriert, dass die bekannten Dinge im Hier und Jetzt ungleich weniger sind als die unbekannten Dinge in der Zukunft. Und dass sich das unbekannte Künftige demzufolge auf das Heutige zuspitzt. Das Trendszenario befindet sich entsprechend in der Mitte des Kegels, und die Extremszenarien liegen eher am Rand. Dieser Ereignishorizont verschiedener Szenarien bildet die Grenzen unserer denkbaren Erwartungen.
Zukunft Extrem 1
Hier & Jetzt
Abb. 63:
Trend Extrem 2
Ein Szenariotrichter mit seinen Extremen
3.3 Erfindungen durch Prognosen
203
Mitunter werden noch weitergehende Überlegungen angestellt, wie sogenannte Wild Cards, die bei Strategiespielen eingesetzt werden, um Brüche in einer ansonsten konsistenten Entwicklung zu erzeugen. Eine Trendprojektion kann auch direkt aufgrund der einfacheren Trendfaktoren erfolgen. Denn grundsätzlich basiert der geschilderte mathematische Algorithmus auch auf einer ersten Einschätzung der Zusammenhänge. Wenn diese Einschätzung stattdessen direkt bei der Aufstellung konsistenter Zustände ansetzt, lassen sich dadurch bereits unmittelbar die verschiedenen Szenarien erschließen. Auf diese Weise wird der beschriebene mathematische Aufwand überflüssig. Allerdings wird dabei der Algorithmus einer unbewussten menschlichen Erfahrungskompetenz überlassen – wie bei einer Delphi-Studie. Und es ist demzufolge schwierig, die relative Häufigkeit ähnlicher Szenarien zu bestimmen und dadurch alternative oder exotische Szenarien zu unterscheiden. Dagegen fällt es durch das qualifizierende Gespräch leichter, zwischen positiven und negativen Extremszenarien zu unterscheiden. Lektion 36:
Komplexe Zusammenhänge schaffen Raum für innovative Szenarien!
Übung 36: Erstellen Sie zur Übung eine einfache Trendprojektion! Untersuchen Sie dazu ein Technologiefeld wie in Übung 35! Wenn Sie das gleiche Thema verwenden, können Sie anschließend die Ergebnisse vergleichen. Erstellen Sie die Deskriptoren zu den jeweiligen Faktoren! Versuchen Sie, sich dabei auf wenige Alternativen zu beschränken! Meist reicht es aus, einen Dualismus zu beschreiben, wobei es entweder so bleibt wie bisher oder es sich ändert zu einem anderen Zustand. Denken Sie vielleicht an den Ursprung dieser Technik im Theater, wo man auch nicht beliebig viel Zeit hat, sondern nur nach einer passenden Einstellung gesucht wird! Auf diese Weise entsteht eine Aufstellung, welche letztlich einer Morphologischen Analyse entspricht. Sie können also nach Übung 25 eine Auswahl von den Szenarien über den Morphologischen Kasten treffen. Welches ist dabei wohl das Trendszenario? Worin bestehen die Alternativen? Lassen sich eventuelle Exoten oder Extreme erkennen? Wählen Sie ein Szenario aus, das nicht im Trend liegt! Denken Sie sich in dieses Szenario hinein und überlegen Sie, welche Probleme es unter diesen Bedingungen geben könnte! Welche Problemlösungen werden dann jeweils gebraucht? Welche Problemlösungen sind bereits jetzt vorhanden? Welche Problemlösungen sind neuartig?
204
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Wie aufwendig und wie lohnend wären die neuartigen Problemlösungen? Wozu könnte man die neuartigen Problemlösungen bereits heute verwenden? Und lohnt es sich vielleicht, bereits heute an einer Problemlösung zu arbeiten? Vergleichen Sie das Ergebnis mit dem Ergebnis anderer Prognosemethoden! Bedenken Sie, dass Prognosen nicht vollständig und sicher sein können! Bereits ein erfolgreiches Szenario reicht aus, um den Aufwand zu rechtfertigen.
3.3 Erfindungen durch Prognosen
3.3.4
205
Roadmaps
„The best way to predict the future is to create it.“ Diese pragmatische Ansicht stammt von Peter F. Drucker (1909–2005), einem Pionier des Managements, der sich in seinen Betrachtungen insbesondere durch große Einfachheit und Klarheit auszeichnete. Statt sich also damit zu befassen, was in Zukunft gelten könnte, um dadurch geeignete Innovationen zu finden, empfiehlt dieser Spruch zu schauen, wie man mit Innovationen die Zukunft gestalten kann. Dies entspricht wissenschaftlich einem heuristischen Ansatz und gleicht eher einem Szenario von einer Innovation, als einem Szenario für eine Innovation.
Als Self-Fulfilling Prophecy, also selbsterfüllende Prophezeiung, bezeichnete der Soziologe Robert K. Merton (1910–2003) das Phänomen, dass sich eine Vorhersage genau deshalb erfüllt, weil die Menschen an ihre Richtigkeit glauben.113 Tatsächlich ist es logisch nicht zu beweisen, ob sich etwas ergibt, weil es so gedacht war, oder ob es nur denkbar wurde, weil es sich so ergab. Obwohl zwischen Sein und Bewusstsein durchaus eine Abhängigkeit besteht, hat diese offenbar keine Richtung. Die übliche Beziehung von Ursache und Wirkung scheint hier nicht anwendbar.
Als Self-Destroying Prophecy, also selbstzerstörende Prophezeiung, bezeichnet Merton das umgekehrte Phänomen, bei dem etwas nicht eintreten kann, weil es nicht denkbar erscheint. Und tatsächlich sind gerade Innovationen davon betroffen, dass sie zunächst denkbar gemacht werden müssen, bevor sie sich verbreiten können. Als Innovationsbarriere steht ihnen ansonsten pure Ablehnung entgegen, die von den typischen Begründungen begleitet wird, wie „Das war noch nie so“ oder „Das haben wir immer anders gemacht“ oder „Da könnte ja jeder kommen“.
Als Reign of Error, also Fehlerherrschaft, bezeichnet Merton es dann, diese Phänomene bei Vorhersagen außer Acht zu lassen. Tatsächlich scheint es einem Innovationsmanager häufig so, dass ein Großteil der Menschheit mit Blindheit und Ignoranz geschlagen ist. Und umgekehrt scheint es diesem Großteil der Menschheit so, dass dieser Innovationsmanager ein Spinner oder sogar Scharlatan ist. Solange diese beiden Sichtweisen sich gegenseitig nicht erkennen und beachten können, bleibt allen nur der Irrtum gemeinsam. „Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten heranleiten möchten.“ Von dieser Erkenntnis über Prognosen berichtet bereits Goethe 1809 in seinen Wahlverwandtschaften.114 Damit zeigt sich auch ein grundsätzliches Paradoxon für Prognosen. Denn seit alters her werden Vorhersagen gesucht und angestellt, um rechtzeitig Einfluss auf künftige Ereignisse zu nehmen. Allerdings wird die Erfüllung dieser Vorhersagen genau dadurch verhindert, dass bereits ihre Kenntnis zu Veränderungen im menschlichen Handeln führt. Und nur dann, wenn es nicht gelingt, eine Prognose zu verhindern, kann sie überhaupt zutreffen. Dieser Umstand wird in zahllosen Mythen und Romanen über Wahrsager und Zeitreisende ausgiebig bedacht und beschrieben. – Ödipus ist in der griechischen Mythologie eine tragische Gestalt, die vom unabwendbaren Schicksal schwer geprüft wird. Seine Eltern erhalten vom Orakel in Delphi die Voraussage, dass ihr Sohn seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird. Daraufhin lässt der Vater seinen neugeborenen Sohn mit durchgestochenen Füßen in der Wildnis aussetzen. Aber durch glückliche Umstände entkommt er diesem beabsichtigten Schicksal und wächst bei Adoptiveltern auf. Sobald er als Ju-
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
gendlicher erfährt, dass er auch leibliche Eltern hat, versucht er, diese zu finden. Vom Orakel in Delphi erhält er dazu wiederum die Voraussage, dass er seinen Vater töten und seine Mutter einst heiraten wird. Daraufhin flieht er aus der Gegend, um dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen. Aber genau dadurch kommt er in einen Streit mit anderen Reisenden und bei dem Kampf tötet er einen von diesen – seinen Vater. Und auf diesem Weg besiegt er auch die Sphinx, wodurch er zum König von Theben ernannt wird und die verwitwete Königin zur Frau bekommt – seine Mutter. Nach diesem Mythos erweist sich das Schicksal als unausweichlich, auch wenn wir es manchmal nicht durchschauen. Im Lauf der Geschichte scheint es dagegen so, als würden genau diejenigen Maßnahmen, welche die Prophezeiung verhindern sollen, dazu führen, dass sie sich erfüllen können. Wenn aber die Zukunft ohnehin vorherbestimmt ist, dann braucht man vielleicht auch den Aufwand für eine Prognose nicht zu betreiben. Denn das scheint doch zumindest überflüssig. Allerdings besteht auch ein Unterschied zwischen einer Prophezeiung und einer Prognose. Bereits in der Grammatik lässt sich dieser Unterschied feststellen. – Als Futur oder einfache Zukunftsform bezeichnet man eher eine Prognose, die mit üblichen Vorhersagen über ein künftiges Ereignis verbunden ist – und im Deutschen mit dem Hilfsverb „werden“ gebildet wird. „Morgen wird es regnen“ ist so eine Aussage. Und jeder weiß dabei, dass es morgen auch nicht regnen kann, dass es nicht genau hier regnen muss oder dass man etwas gegen den Regen finden kann, indem man vielleicht ein Zeltdach über die geplante Party spannen kann. Die einfache Zukunft scheint also noch Spielräume für Gegenmaßnahmen und Alternativen aufzuweisen und kommt unseren Erfindungsabsichten dabei sehr entgegen. – Als Futur 2 oder exakte Zukunftsform bezeichnet man dagegen eine Prophezeiung, die eine abgeschlossene Handlung oder ein erfolgtes Ereignis in der Zukunft beschreibt – und im Deutschen zusätzlich mit dem Perfekt des Verbs gebildet wird. „Morgen wird es geregnet haben“ ist demnach nicht nur eine Vorhersage, an der berechtigter Zweifel zugelassen ist, sondern ein Aussage, die unausweichlich erscheinen soll. Erfindungen entstehen demnach eher aus dem einfachen grammatikalischen Zustand des einfachen Futur. Und bei Projekten zu diesen Erfindungen handelt es sich somit um Vorhaben mit einem eher einfachen Anspruch an ihre Erfüllbarkeit. Nur solche Innovationen lassen sich dann beeinflussen und gestalten durch Projektmanagement, durch Marketing und durch wissenschaftliches Arbeiten.
Als Roadmap wird die Darstellung von Zeitlinien auf einer Straßenkarte bezeichnet. Dadurch wird ein zeitlicher Verlauf für die Betrachtung anschaulich als räumliche Entfernung erkennbar. Und die Ereignisse werden auf diesem Plan in ihrer zeitlichen Abhängigkeit und Folgerichtigkeit miteinander vergleichbar. Durch diese Zeitlinien können dann zwangsläufige oder gewünschte Zusammenhänge besser demonstriert und diskutiert werden. – Verschiedene Tracks, also Fahrspuren, können angelegt werden, um Ereignisse zu einem ähnlichen Thema zu bündeln. Beispielsweise kann es sich bei Innovationen um Fahrspuren mit jeweils verschiedenen Technologien oder zu verschiedenen Produkten oder auf verschiedenen Märkten oder in verschiedenen Projekten handeln.
3.3 Erfindungen durch Prognosen –
207
Wie bei den Innovationsphasen oder bei einem Kalender lassen sich quer zu den Fahrspuren die markanten Zeitpunkte anzeigen. Beispielsweise kann es sich bei Innovationsprojekten um Meilensteine oder Quality Gates oder sonstige Stages handeln. Gate A Inno I.3
Inno III.2
Inno IV.2
Inno II.2 Gate B
Inno I.2
Inno IV.1
MS3
MS2
Inno II.1 Gate C Inno III.1
MS1
Inno I.1
Track I Abb. 64:
Track II
Track III
Track IV
Eine Innovations-Roadmap mit vier Fahrspuren in drei Phasen
Das Roadmapping gestattet somit eine Übersicht von mehreren Projekten. Denn inzwischen ist es üblich, dass Technologien, Produkte, Märkte und Innovationen in weiter Voraussicht strategisch geplant werden. Infolgedessen hat es sich als notwendig erwiesen, die entsprechenden Projekte zu bündeln: in einem Großprojekt, einem Portfolio, einem Multiprojekt oder einem Programm. Die geplanten Endpunkte der Projekte sind auf diese Weise in ihrem Zusammenwirken erkennbar und im Bedarfsfall miteinander abzustimmen. – Ein Großprojekt hat einen derart großen Umfang, dass der Projektcharakter mitunter nicht mehr erkennbar ist, sondern sich das Projektunternehmen zu einer Institution entwickelt. Beispiel dafür ist das Apollo-Projekt der NASA bei dem recht eindrucksvoll demonstriert wurde, wie ein solch visionärer Entwurf zu einer Quelle von Erfindungen und nachfolgenden Innovationen wird. Daher ist es inzwischen üblich, ähnliche Groß- oder Leitprojekte als Motor für einen Entwicklungsschub in der Wirtschaft öffentlich anzustoßen. – Ein Portfolio enthält meist alle Projekte zu einem strategischen Unternehmensziel. Beispiel dafür ist das F&E-Portfolio eines Unternehmens aus Forschungs- und Entwicklungsprojekten. – Ein Multiprojekt besteht meist aus einer Bündelung von Projekten mit gleichen oder ähnlichen Inhalten und entsprechend notwendigen Kompetenzen. Beispiel dafür ist die Verbreitung einer neuen Unternehmenssoftware in verschiedenen Bereichen, an verschiedenen Standorten oder sogar bei verschiedenen Unternehmen, wie SAP R. – Ein Programm bezeichnet schließlich eine sinnvolle Zusammenstellung verschiedener Projekte, um ähnliche strategische Ziele, technologische Inhalte oder Marketing-
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
interessen besser bedienen zu können. Beispiel dafür ist das sogenannte KeyAccount-Management von Schlüsselkunden eines Lieferanten. Der Roadmappingprozess ist demnach stark am Projektmanagement orientiert und lässt sich analog zu den bereits geschilderten Innovationsphasen entwickeln. Das Geschick des Innovationsmanagers besteht darin, die unterschiedlichen Aufgaben miteinander in Einklang zu bringen. Und beim Erfinden von Innovationen gehört auch, eine fehlende oder passende Invention zu erkennen und zu ergänzen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt im Verlauf notwendig geworden sein wird. (Futur 2!) Lektion 37:
Die beste Vorhersage einer Innovation besteht in Ihrer Verwirklichung!
Übung 37: Recherchieren Sie die Innovationen, die für eine Marsmission notwendig sind! Erstellen Sie aus den Informationen ein Technologieportfolio! Ordnen Sie die Innovation verschiedenen Technology-Tracks zu! Wenn es notwendig wird, können Innovationen auch zwei Tracks zugeordnet sein. Erkunden oder schätzen Sie den Zeitpunkt für jede Innovation! Stellen Sie ERST DANN die Innovationen auf einer gemeinsamen Roadmap dar! Wie passen die Innovationspunkte zueinander? Welche Abhängigkeiten könnte es geben? Sind diese Abhängigkeiten auf der Roadmap folgerichtig? Gibt es Abhängigkeiten, die sich gegenseitig ergänzen – sogenannte Synergien? Lassen sich Lücken erkennen, also notwendige Innovationen als Vorbedingung für eine andere? Welcher Forschungsbedarf entsteht, um die Innovationen folgerichtig und vollständig zu machen?
3.4 Erfindungen mit Fantasie
3.4
209
Erfindungen mit Fantasie
Irgendwie erwartet man beim Finden von Innovationen auch das Element der puren Fantasie. Dieser Begriff bezeichnet wörtlich eine Erscheinung. Aber während es sich bei dem Erscheinen von realen Tatsachen um ein Phänomen handelt, erscheint uns die Fantasie als eine ideelle Vorstellung des Verstands. Zwar wird diese Fantasie durchaus auch für das ganz konkrete Finden von Problemlösungen, für die Forschung und bei Prognosen benötigt. Und umgekehrt regt das Lösen von Problemen, das Forschen und das Prognostizieren auch die Fantasie an. In diesem Sinne zählen auch die zuvor genannten objektivierenden Methoden zu den Kreativitätstechniken, wie Morphologischer Kasten, TRIZ oder Szenarien. Aber eigentlich verbindet man mit der Kreativität doch auch etwas Freies, Losgelöstes, Absolutes, Künstlerisches oder eben Fantastisches. Und dazu gehört auch, dass diese echte Kreativität nicht den Zwängen des Objekts unterworfen ist. Wirkungsvolle Kreativität ist voller Fantasie. Umgekehrt ist daher diese Fantasie auch nicht unbedingt mit einer Innovation verbunden. Denn es kann sich dabei auch um eine sehr subjektive, unpraktische, unwirtschaftliche oder sogar technisch unmögliche Idee handeln. Jenseits von praxisbezogenen Problemlösungen, Forschungen und Prognosen ist der menschliche Geist offenbar auch in der Lage, sich etwas völlig Neuartiges auszudenken.
gerechtfertigte
Geschäftsidee zufällige
Fantasie
Abb. 65:
neue Idee
Die drei Faktoren des Erfindens … und die Bedeutung der Fantasie
Dieser Zusammenhang entspricht wieder der Vorstellung von Faktoren im Sinne einer Innovationsforschung: Zwar sind die konkreten Probleme, deren Lösungen, die Forschung oder auch die Erwartungen an die Zukunft transzendent grenzüberschreitend. Aber dabei sind sie immer noch objektorientiert und beziehen sich auf die epistemischen Faktoren Wahrheit, Glaubhaftigkeit und Rechtfertigung. Dagegen ist die Fantasie transzendental, womit dann
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
eine Grenzüberschreitung bezeichnet wird, die frei von solchen objektiven Zwängen ist. Unabhängig von den Widersprüchen, Fragestellungen und Entwicklungen des Lebens erzeugt das Gehirn ständig weitere eigene Vorstellungen. Auf dieser Metaphysik des Fantastischen können Erfindungen letztlich also auch noch beruhen. Dabei scheint der Mensch durchaus zur Freiheit verurteilt, wie es Jean-Paul Sartre (1905– 1980) formulierte. Denn bei der Untersuchung der menschlichen Existenz kommt er zu dem Schluss, dass es im Menschen etwas Unbedingtes gibt – etwas, das außerhalb des bloßen Nutzens einer Existenz zu stehen scheint.115 Jenseits von problematischen Fakten, forscher Vernunft und logischen Prognosen erschafft der menschliche Verstand eine ganz eigene Welt der Gedanken. Selbst wenn wir es wollten, so könnten wir nicht verhindern, dass uns ständig etwas Neues einfällt. Diese bedingungslose Kreativität steht quasi frei schwebend über den Dingen. Und es scheint so, als wäre diese Denkfähigkeit nicht nur der Ursprung einer Innovation, sondern auch ein ureigenes menschliches Bedürfnis. – Bereits 1839 bemerkte Artur Schopenhauer, dass der menschliche Wille etwas Unbewusstes und Selbständiges aufweist.116 Denn man kann zwar tun, was man will, aber man kann nicht wollen, was man will. Der ursprüngliche Wille, um etwas zu wollen, muss aus diesem unendlichen Rückbezug heraus, letztlich aus den unbewussten Tiefen des menschlichen Intellekts entspringen. Wir können es dann zwar aufgreifen, auswählen und bewusst umsetzen. Aber die Entstehung dieser Auswahl bleibt unserem Willen letztlich verborgen. – Dieser Vorläufer oder Precursor für das Entstehen einer bewussten Entscheidung wurde dann ab 1979 auch physiologisch nachgewiesen. Benjamin Libet konnte experimentell zeigen, dass bereits vor der bewussten Entscheidung zu einer Handlung eine motorische Vorbereitung zu ebendieser Handlung neuroelektrisch angelegt ist.117 Es besteht dann zwar kein Zwang, diese Handlung auch auszuführen, aber immerhin eine unbewusste Bereitschaft dazu. – Die moderne Hirnforschung hat Serotonin und Dopamin als wesentliche Wirkstoffe für den kreativen Denkprozess ausgemacht. Grob gesagt, stimuliert im Gehirn das Serotonin die Erregung und das Dopamin die Erwartung. Und beide wirken auf das sogenannte Belohnungssystem des menschlichen Gehirns.118 Demzufolge empfinden wir bereits die Vorstufen einer Verwirklichung – die Erregung und die Erwartung – als lohnenswert. Das lässt sich durchaus auch evolutionsbiologisch begründen, denn auf diese Weise ergeben sich Anreize und der Antrieb, besondere Herausforderungen im Leben zu meistern. Der Volksmund weiß dazu, dass die Vorfreude die schönste Freude ist, weil diese nicht mehr enttäuscht werden kann. Und trotz beständiger Enttäuschungen und Rückschläge zeichnen sich insbesondere kreative und erfinderische Menschen dadurch aus, dass sie immer wieder den inneren Ansporn besitzen, die absehbaren Widrigkeiten doch noch zu überwinden. – Albert Camus (1913–1960) sah im Menschen einen fröhlichen Sisyphos, jene tragische Gestalt der griechischen Mythologie, die dazu verdammt ist, andauernd ein Stein den Berg hinauf zu wälzen, obwohl er von dort stets wieder zu Tal zurück rollt.119 Allerdings erfordert das Leben im Alltag eher ein recht pragmatisches Handeln. Daher werden im Wachzustand die fantasievollen Gedanken ständig vom Bewusstsein zensiert und verdrängt. Unter dem Druck einer praktisch zu realisierenden Tätigkeit bleibt die Fantasie
3.4 Erfindungen mit Fantasie
211
der Menschen auf das Unbewusste oder Unterbewusste begrenzt. Und demzufolge erfahren wir meistens erst beim Träumen etwas über diese unbewussten Gedanken. Die Traumdeutung ist somit ein althergebrachtes Mittel, um diese Weisheit des Unbewussten zu erlangen. – Bereits in vorchristlicher Zeit berichtet die Bibel von einer Traumdeutung in Ägypten, um das Land vor einer Hungerkatastrophe zu bewahren. – Im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung beschrieb Artemidor von Dalis eine Oneirokritika, was wörtlich eine Traumprüfung bezeichnet. – Und um 1900 erkennt Sigmund Freud in der Traumdeutung eine Möglichkeit, etwas über das menschliche Unterbewusstsein zu erfahren. Nach einem sehr vereinfachten Modell von Roger W. Sperry (1913–1994) haben die beiden Hälften oder Hemisphären des menschlichen Gehirns jeweils unterschiedliche Aufgaben. Mit der linken Gehirnhälfte werden logische Folgerungen erstellt und lineare Beziehungen zu einer schlüssigen Begründung verknüpft; in der rechten Gehirnhälfte finden dagegen eher assoziative Verknüpfungen zu einem komplexen Geflecht von Erfahrungen und Erinnerungen statt. – Wenn man zum ersten Mal etwas Neues sieht, hört oder fühlt, dann sucht man eher mit der rechten Gehirnhälfte eher assoziativ nach bekannten Anhaltspunkten dafür. Aber wenn man nach etwas Neuem sucht, spürt man eher logisch mit der linken Gehirnhälfte den Folgen von den erkannten Dingen nach. Das Neue im Denken ergibt sich demzufolge durch ein Zusammenspiel von beiden Gehirnhälften und deren entsprechenden Denkweisen. Sperry erkannte nach einer anatomischen Trennung der Hirn-Hemisphären bei der Behandlung von Hirnerkrankungen, dass diese beiden Fähigkeiten nur noch getrennt ausgeführt werden konnten. Für die Entdeckung des Split-Brain-Phänomens wurde er 1981 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.
Typ 1 - Denken:
Typ 2- Denken:
intuitiv
abstrakt
assoziativ
logisch
divergent
konvergent
komplex
linear
lateral
vertikal
schnell
langsam
Abb. 66:
Die Struktur des menschlichen Denkens
Obwohl diese einfache Zuordnung des Denkens auf die verschiedenen Gehirnhälften inzwischen wissenschaftlich nicht mehr haltbar ist, hat sich diese Zweiteilung der Denkfunktionen seither als nützliches Erklärungsmodell erwiesen. – Joy P. Guilford bezeichnete 1959 das lineare Folgern als konvergent und das komplexe Verknüpfen als divergent. 120
212
3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Edward de Bono nannte 1969 das folgerichtige logische Denken entlang einer Linie als vertikal – und lateral, wenn es sich assoziativ zu den Seiten verbreitet.121 – In der modernen Verhaltensökonomie unterschiedet Keith Stanovich zwei Typen von Denkweisen, wobei Typ 1 intuitiv und assoziativ ist, während Typ 2 abstrakt und logisch erscheint. 122 – Und der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 2002, Daniel Kahneman, beschreibt entsprechend ausführlich ein Denksystem 1 – für schnell, intuitiv, assoziativ und komplex – und ein Denksystem 2 – für langsam, algorithmisch, logisch und linear.123 In diesem Sinne sind Erfindungen zu Innovationen sowohl assoziativ, lateral und divergent, weil sie außerhalb des Bekannten liegen. Aber sie sind auch linear, vertikal und konvergent, weil sie schließlich in die Wirklichkeit münden müssen. Beim Innovationsmanagement besteht demnach die Aufgabe, Gelegenheiten zu solchen gleichermaßen öffnenden und gerichteten Denkweisen zu schaffen. Zwar werden die zuvor bereits genannten Methoden zum Lösen, Erforschen und Voraussagen von Problemen gerne zur Stimulierung von Fantasie eingesetzt. Außerdem gibt es aber auch Versuche, die Fantasie künstlich zu stimulieren: – Bei Drogen handelt es sich um chemische Stimulanzien für neurologische Funktionen. Sie werden dem menschlichen Körper zugeführt und ersetzen dabei körpereigene Botenstoffe. Auf diese Weise lassen sich also die zuvor genannten neurologischen Funktionen mit Serotonin und Dopamin anregen. Allerdings ist dieser Eingriff in das selbstregulierende System des Körpers mit vielfältigen, schweren und dauerhaften Folgen verbunden. Beispielsweise gibt es eine Blut-Hirn-Schranke für den Stoffwechsel, der eine unmittelbare Einwirkung von Nahrungsmitteln auf das Denkvermögen unterbinden soll. Um dieses dennoch zu erreichen, ist entweder eine Überdosierung erforderlich oder eine indirekte Anregung über eine Wirkkette. In beiden Fällen ist mit unerwünschten Nebenwirkungen zu rechnen. – Bei einer Trance handelt es sich um einen Zustand von Geistesabwesenheit nach langwieriger ritueller Vorbereitung, beispielsweise Hunger, Durst, Tanz oder Müdigkeit. In dieser extremen Situation sendet der menschliche Körper dann selbst besondere Botenstoffe aus, die drogenähnliche Wirkung haben. Auf diese Weise wird zwar die Selbstregulierung des Körpers weniger gestört. Allerdings sind die Umstände der Trance und ihre Folgen zeitaufwendig und können mit Folgeschäden durch Verletzung oder traumatischen Erlebnissen verbunden sein. – Mit Hypnose ist die Überantwortung des bewussten Willens an eine andere Person in einem schlafartigen Zustand gemeint. In diesem Zustand sollte also ein besserer Austausch der beiden Gehirnhälften stattfinden. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass die Kontrolle dabei nicht vollständig abgegeben wird, sofern nicht weitere Hilfsmittel wie Drogen oder eine Trance eingesetzt werden. Bei einer spontanen Hypnose ist es wohl eher so, dass unbewusst schlummernde Gedanken von einem einfühlsamen Hypnotiseur geführt und weitergesponnen werden können. Die Grenzüberschreitung zu wirklich neuen Vorstellungen ist dadurch sehr eingeschränkt. – Die Lobotomie besteht aus direkten chirurgischen Eingriffen in die Hirnsubstanz. Obwohl diese Maßnahme nur unter entsprechender medizinischer Indikation sinn-
3.4 Erfindungen mit Fantasie
213
voll erscheint, gibt es neuerlich Ansätze, eine entsprechende Manipulation durch elektromagnetische Impulse zu erzielen.124 Tatsächlich zeigt sich, dass dadurch besondere geistige Fähigkeiten erreicht werden können, die man von sogenannten Savanten kennt. Als sogenannten Savant bezeichnet man eine Gruppe von weltweit etwa 100 Menschen, bei denen infolge embryonaler Wachstumsfehler oder Unfälle eine Trennung der beiden Gehirnhälften vorliegt. Das Bewusstsein ist dabei stark reduziert und meist haben die Betroffenen einen IQ von etwa 70 und sind somit nur begrenzt handlungsfähig. Aber sie verfügen in einzelnen Bereichen der menschlichen Intelligenz über erstaunliche und herausragende Begabungen, indem sie musisch, sprachlich, logisch oder bildlich alles wiedergeben können, was sie einmal aufgenommen haben. Diese Inselbegabung ist also außergewöhnlich wissend – was auch die wörtliche Bedeutung von savant ist, aber gerade deshalb auch nicht kreativ. Denn meist sind die Betroffenen bereits mit der Erledigung von einfachen Aufgaben oder mit der Gestaltung ihres Tagesablaufs überfordert. Alles, was irgendwie neuartig ist, scheint für sie nur noch begrenzt beherrschbar zu sein. Die geschilderten Maßnahmen werden daher kaum der gegebenen Komplexität gerecht, die auf dem Weg von weltfremden Ideen zu verwirklichten Innovationen herrscht. Zwar zeugen sie von den außergewöhnlichen geistigen Leistungen des menschlichen Gehirns. Allerdings bleiben dabei die praktischen Aspekte dieser Leistungen auf der Strecke. Gerade das Innovationsmanagement besteht in Bezug auf Erfindungen aus der zwiespältigen Aufgabe, sowohl ergebnisoffen als auch zielstrebig zugleich zu sein. Freilich kann es dabei zum Teil von Reisen in die Fantasie unterstützt werden.
In einer Meditation findet die Versenkung in eine Art Halbschlaf statt. In diesem Bewusstseinszustand werden folglich die umfassenden Möglichkeiten des Gehirns und des Austausches zwischen der konvergent-vertikalen Logik und den divergent-lateralen Assoziationen möglich. Bei einem Wach- oder Tagtraum können diese Aspekte dann teilweise auch beeinflusst oder mitunter sogar gesteuert werden, aber dennoch frei von operativen Zwängen ablaufen. Auf diese Weise wird es grundsätzlich möglich, zu neuen Gedanken vorzustoßen. Eine Assoziation besteht dagegen eher auf einer spontanen Übertragung und Verfremdung von Gedanken auf immer weitere Bereiche des Erkennens. Dies entspricht grundsätzlich dem bereits genannten assoziativen Denken in Bezug zu Erfahrungen und Erinnerungen. In diesem Fall wird also eher der divergent-laterale Aspekt der Fantasie genutzt, um Begriffe und Lehren auf neue Fälle anzuwenden. Dadurch können sich auch neue Bilder für eine Vorstellung ergeben oder entwickeln. Bei einer Provokation setzt man auf überraschende, fremdartige oder unerwartete Eindrücke, um aus den gewohnten Linien des Denkens auszubrechen und dadurch eine neue logische Ordnung zu erreichen. Somit wird dabei also eher der lineare, vertikale oder konvergente Aspekt der Fantasie angesprochen. Eine Interpretation schließlich schafft eine neue Erklärung durch die Verbindung von provokanten Eindrücken mit den assoziierten Begrifflichkeiten. Dabei werden somit beide Aspekte der Fantasie genutzt, um zwischen den einzelnen Eindrücken und den allgemeinen Erkenntnissen neue Einsichten zu gewinnen.
214 Lektion 38:
3 Wie (er-)findet man Innovationen? Im Menschen gibt es eine natürliche Anlage zum Schaffen von Innovationen!
Übung 38: Untersuchen Sie die unbewussten Fähigkeiten in Ihrem Denken! Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Ihnen in einem allgemeinen Gemurmel ein „Stichwort“ – beispielsweise Ihr Name – auch dann auffällt, wenn Sie gar nicht darauf achten? Oder, dass sich Ihr „Augenmerk“ unwillkürlich auf einen Punkt richtet, der Ihnen wichtig ist, auch wenn Sie das vorher doch noch gar nicht wissen konnten? Kennen Sie das Phänomen einer Ahnung, also eine unvermittelte Eingebung zu einem Vorkommnis, dass Sie nicht weiter begründen können? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es Ihnen gelingt, die richtigen Worte zu finden, ohne zuvor einen Katalog aller möglicher Begriffe zu durchsuchen – oder auf einem holprigen Pfad Ihren Fuß sicher zu setzen, ohne diesen Schritt und seine Ausführung ausführlich geplant zu haben? Erinnern und beschreiben Sie hierzu persönliche Beispiele aus Ihrer Erfahrung! Untersuchen Sie Ihre entsprechenden Erfahrungen mit dem Träumen, sowie rausch- oder trance-artigen Erlebnissen, beispielsweise bei Musik oder beim Tanzen! Wie ist es, wenn Sie beispielsweise verschlafen, betrunken, verliebt oder auch nur verträumt sind? Was fällt Ihnen dabei ein?
3.4 Erfindungen mit Fantasie
3.4.1
215
Intuition durch Meditation
„Meditieren ist besser, als Dasitzen und Nichtstun!“, wie der Volksmund weiß. Denn bei der Meditation handelt es sich durchaus um einen schlafähnlichen Zustand, der für Fantasie, Kreativität und sich daraus ergebenden Erfindungen so überaus wichtig ist. Aber lange Zeit glaubte man auch, dass sich im Schlaf das Gehirn ausruhen würde von den neurasthenischen Anstrengungen des Wachzustands. Inzwischen zeigen die Untersuchungen der neurologischen Aktivitäten, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Im Schlaf befasst sich das Gehirn ausgiebig mit sich selbst. Die Hirnaktivitäten sind dabei meist sogar etwas höher als im Wachzustand. Bei einer Meditation handelt es also um einen unbewussten Zustand des Geistes, in dem die Fantasie freigesetzt und neue Einbildungen erschaffen werden. Meditation bedeutet demnach eine intensive Versenkung und gründliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken. Und aus diesen eingebildeten Gedanken ergeben sich oft auch neue Ideen. Als Eingebung oder Intuition stehen sie anschließend dem achtsamen Träumer zur Verfügung. Es gibt unzählige Formen der Meditation. Wahrscheinlich ist der meditative Zustand sogar in jedem Fall einzigartig in dem Sinn, dass er von jedem Menschen bei jeder Gelegenheit andersartig stattfindet. Meditation ist sicherlich individuell in dem Sinn, wie jeder Mensch über eine ganz eigene Persönlichkeit und Charakter verfügt. Und Meditation ist vielleicht auch singulär in dem Sinn, wie die persönlichen Erfahrungen und situativen Umstände jeden Moment im Leben eines Menschen einzigartig machen. Insofern ist Meditation wirklich grundsätzlich ein einzigartig kreativer Zustand. Es gibt demzufolge Anlässe für eine Meditation aus ganz unterschiedlichen Gründen: – die aktive Entspannung und Erholung, beispielsweise bei Musik, Tanz, Spiel, Feiern, Wandern, Baden oder dem modernen Wellness – die konzentrative Übung und Methode, beispielsweise bei Yoga, Qi Gong, Tai Chi Chuan oder Autogenem Training – die religiöse Besinnung oder spirituelle Versenkung, beispielsweise durch Rosenkranz-Gebet, Mantra, Zen oder auch bei einer Wallfahrt – die suggestive Therapie und therapeutische Erkenntnissuche, beispielsweise über Märchen, Koans, Floating oder kontemplative Gespräche Die Formen der Meditation sind dabei nicht nur vielfältig, sondern auch übergreifend: Denn auch eine spirituelle Versenkung beinhaltet eine Entspannung mit Übungseffekt und führt zu neuen Ideen. Auch eine konzentrative Übung führt zu neuen Einsichten, Entspannung und erzeugt spirituelle Erlebnisse. Und auch eine kreative Erleuchtung ist verbunden mit innerer Ruhe, tief empfundenen Glück sowie gesteigerter Lebenslust. Insofern ist Meditation auch nicht eigentlich und objektiv erfassbar, sondern vorwiegend nur persönlich und subjektiv erlebbar. Daher tut man sich schwer, Meditation wissenschaftlich zu beschreiben. Auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Theorie der Meditation kann man auf die Ergebnisse der Traumforschung zurückgreifen. Im Traum findet nahezu reines Denken statt, ohne die Zensur eines handlungsfähigen Bewusstseins. Die moderne Traumkunde oder Oneirologie hat dabei verschiedene Aspekte dieser Gedankenwelt ermittelt.125
216
3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Als Regression bezeichnet man ein Nachsinnen über erlebte Eindrücke und Erfahrungen, welche im Traum nochmals aufgegriffen und verarbeitet werden. – Beispielsweise wird eine unterbrochene Handlung wieder aufgenommen oder ein vergangenes Erlebnis erneut durchlebt.
Als Agglutination bezeichnet man die Verbindung oder Verallgemeinerung von verschiedenen Eindrücken oder Erfahrungen, meist verbunden mit einer deutlicheren oder verstärkten Wahrnehmung. – Beispielsweise laufen dabei Erlebnisse langsamer oder mehrfach ab.
Als Substitution bezeichnet man das Ersetzen oder Verdichten von verschiedenen Eindrücken oder Erfahrungen, was im Traum eine Verschiebung von Problemen oder Erfüllung von Wünschen gestattet. – Beispielsweise wird dabei ein Urlaub ausgeschmückt oder die Merkmale von Personen und Dingen werden passend ergänzt.
Als Permutation bezeichnet man das Vertauschen oder Umwandeln von Eindrücken oder Erfahrungen, wobei es im Traum zu Verfremdungen kommt oder Erlebnisse weitergesponnen werden. – Beispielsweise eskalieren dabei Ereignisse zu Angstträumen oder es ergeben sich neuartige Lösungen. Die entsprechenden empirischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Permutationen der häufigste Bestandteil des Träumens sind. Offenbar besteht eine wesentliche Funktion des Träumens darin, denkbare Entwürfe zu produzieren, wie Dinge zusammenhängen oder sich entwickeln können. Und es ähnelt darin durchaus den wachen und bewussten Methoden, um Probleme zu lösen, Forschung zu betreiben oder Ereignisse zu prognostizieren. – Von einigen Naturvölkern ist bekannt, dass vor einer Jagd die Träume der Beteiligten intensiv besprochen und diskutiert werden. Die darin auftretenden Erscheinungen, Abläufe und Konsequenzen werden ernst genommen und dienen als Anhaltspunkte, um die tatsächlichen Gefahren einer Jagd zu minimieren und die Erfolgsmöglichkeiten zu erhöhen. Entsprechend kennen wir durchaus auch in unserer Kultur die Empfehlung, eine wichtige Entscheidung oder Klage erst einmal zu überschlafen, weil sich danach erfahrungsgemäß ein Thema genauer, ausgewogener und sicherer darstellt. – Bei Sportlern und Musikern hat man mitunter eine Art bewusstes oder luzides Träumen beobachten können, bei dem es den entsprechenden Personen gelingt, den Traum auf bestimmte Themen zu lenken.126 Auf diese Weise können schwierige oder schnelle Passagen in einem Ablauf gedankenschnell trainiert werden. Tatsächlich wurde festgestellt, dass die neuronalen Aktionen der Bewegungen vom Gehirn bis zum Rückenmark völlig analog zu einer echten Bewegung sind. Nur die konkrete Ausführung wird durch den Schlafzustand verhindert. Da die Leitungsdauer auf der verkürzten Strecke folglich deutlich kürzer ist und zudem die störenden Gegensignale der Sensoren ausbleiben, können komplexe Situationen dabei auch mit größerer Geschwindigkeit bearbeitet werden. Gerade die traumwandlerische Sicherheit und Selbstverständlichkeit eines Athleten oder Virtuosen beruht darauf, dass komplette Bewegungsmuster intuitiv beherrscht werden. Umgekehrt kommt man ins Stolpern oder verhaspelt sich im Spiel, wenn man die genaue Ausführung einer Bewegung dabei bedenkt.
3.4 Erfindungen mit Fantasie –
217
Auch in der Wissenschaft sind einige neue Theorien offenbar einem Traum entsprungen: In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619 hatte ein 23-jähriger französischer Offizier in bayrischen Diensten namens René Descartes in seinem Winterquartier in Neuburg an der Donau drei Träume, in denen er die Grundzüge des Rationalismus gefunden haben soll. In einer Winternacht 1861 träumte der 32jährige Chemiker Friedrich August Kekulé davon, dass Kohlenstoff- und Wasserstoffatome wie Feuerfunken durcheinander stieben, sich dann zu einer Schlange reihen, die sich schließlich nach einem alten alchemistischem Symbol in den eigenen Schwanz beißt – die Idee von der zyklischen Verbindung des Benzols war dadurch geboren. – Schließlich gibt es nicht nur den offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Worten Traum und Trauma. Das Trauma bezeichnet wörtlich eine Verletzung durch ein drastisches Erlebnis, bei dem die üblichen Grenzen von körperlicher oder seelischer Belastung überschritten wurden. In der Folge sind die Betroffenen langwierig damit beschäftigt, aus diesem Erlebnis wieder in ein ausgewogenes und normales Leben zurückzufinden. Bei entsprechenden Opfern von zivilen oder militärischen Gewalttaten hat man in letzter Zeit die heilsame Wirkung des Träumens entdeckt. Offenbar gelingt es manchen Betroffenen durch eigene Traumarbeit, das Geschehen zu relativieren, zu verdrängen oder als Schicksalsschlag in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und somit zu bewältigen. Denn letztlich handelt es sich bei einer Meditation um die gezielte Herbeiführung eines Traumzustands, der insoweit bewusst ist, dass sich der Meditierende dabei selbst beobachten kann. Dieser besondere Zustand wird auch als eine Art Fließen oder Flow bezeichnet und ist in der chinesischen Tradition auch als Wu-Wei bekannt, was so viel bedeutet wie willentliches Nichtwollen. In diesem Zustand sind dann ähnliche kognitive Leistungen möglich wie beim Träumen. – Als Antizipation dient ein intensives Durchdenken von zeitlichen oder räumlichen Abläufen, um die Planung von Projekten oder anderen Unternehmungen zu verbessern. Dazu geht man im Geist künftige oder ferne Situationen durch und nimmt dabei die auftretenden Ereignisse vorweg. – Zum Mentalen Training verwenden Sportler oder Musiker die eigenen Vorstellungen über einen Wettkampf oder eine Darbietung, um die Leistungen zu steigern. Neben einer Verbesserung der Bewegungsabläufe können dabei auch das jeweilige Aktivierungsniveau, die Aufmerksamkeit und die Kompetenz, wie die Selbstwirksamkeitserwartung, positiv beeinflusst werden. – Unter Fokussierung ist von Immanuel Kant bekannt, dass er seine Konzentrationsfähigkeit meditativ trainiert hat, indem er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers die Spitze des Löbenicht‘schen Turms in Königsberg fixierte. Als im Laufe der Zeit eine Pappel in diese Blickrichtung wuchs, bat er den verdutzten Bauern, den Baum zu fällen, weil dieser seine Denkfähigkeit beeinträchtige. Entsprechend gibt es die Geschichte, dass Isaac Newton als junger Mann das Gravitationsgesetz entdeckt hat, als er verträumt unter einem Baum saß. Auf der Suche nach der Kraftursache für einen herabfallenden Apfel formulierte er ein allgemeines Gesetz der Schwerkraft, das schließlich sogar die Bewegung der Planeten und ihre Bahnen richtig beschreibt.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Das Imagery Rehearsal ist inzwischen eine Behandlungsform bei posttraumatischen Belastungsstörungen. In Bezug zur Schwere der Traumatisierung wird die Behandlung unterstützt durch medizinische und therapeutische Maßnahmen. Ziel ist es, auch bei den Patienten eine Bewältigung des Erlebten zu erreichen, die es durch eigenes Träumen nicht mehr schaffen. Dazu wird ein Halbschlaf induziert und durch ein psychologisches Gespräch begleitet. Tatsächlich zeigen sich bei dieser Vorgehensweise deutliche Verbesserungen und anhaltende Erfolge. Trotz dieser Vielfalt von Anlässen für eine Meditation und der jeweiligen Einzigartigkeit des Meditationserlebnisses gibt es doch auch ein Muster, nach dem sich der Prozess meist strukturieren lässt. Hier wird dieser Ablauf wieder anhand von vier Prozessschritten kurz dargestellt. 1.
Als Deprivation bezeichnet man den Entzug von äußerlichen Reizen. Damit der Verstand sich mit sich selbst befassen kann, sind zunächst Reize und Bedürfnisse auszuschließen. – Dabei handelt es sich zunächst um physiologische Bedürfnisse wie Atmung, Durst, Hunger, Notdurft, Müdigkeit, Wohlbefinden oder Sexualität. Oder es handelt sich um Sicherheitsbedürfnisse wie Schutz, Recht und Frieden. Dann handelt es sich um soziale Bedürfnisse wie Geborgenheit und Liebe. Des Weiteren geht es um Achtungsbedürfnisse wie Anerkennung und Gleichberechtigung. Schließlich kann es sich auch um Sinnbedürfnisse handeln wie Selbstzufriedenheit und Lebenszweck. – Eine extreme Form des Reizentzugs stellt beispielsweise das Samadhi-Bad in einem Floatingtank dar. Dort schwebt man in einer Salzlösung, welche die gleiche Dichte und Temperatur des Körpers hat, am besten in einer schalldichten und verdunkelten Kabine.127
2.
Als Askese lässt sich die Annahme einer bestimmten äußerlichen und innerlichen Haltung beschreiben. Damit der Zustand der Bedürfnislosigkeit über eine längere Zeit erhalten bleibt, ist eine bestimmte körperliche Haltung angeraten, welche der inneren Haltung entspricht. – Bei einer religiösen Meditation ist es oft das Knien, beispielsweise als Geste der Andacht und Unterwerfung in der katholischen Kirche und dem Islam. – Bei einer konzentrativen Meditation ist es eher das Sitzen, beispielsweise der typische Lotussitz des Yoga oder die Kutscherhaltung beim Autogenen Training. – Bei einer suggestiven Therapie ist es meist das Liegen, beispielsweise bei einer Hypnotherapie oder der bekannten Couch in der Psychoanalyse. – Und bei einer aktiven Entspannung kann es sich sogar um einen bestimmten Bewegungsablauf handeln, wie das Schattenboxen beim Tai Chi Chuan oder das Drehen beim Tanz der Derwische.
3.
Als Entase folgt darauf die innere Versenkung in den Halbschlaf. Dieser Übergang zum Unbewussten kann eigentlich nicht mehr willentlich erfolgen. Es muss daher abgewartet werden, bis er sich von allein einstellt. Jeder, der auch sonst Schwierigkeiten mit dem Einschlafen hat, weiß, wovon hier die Rede ist. Tatsächlich helfen sogenannte Schlafmittel an dieser Stelle nur sehr begrenzt, weil sie zwar einen schlafähnlichen Zustand herbeiführen, in dem nicht die gewünschten Traumphasen statt-
3.4 Erfindungen mit Fantasie
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finden. Nur in solchen Fällen, bei dem ein kurzer Einstieg in die Ruhe erzeugt wird, kann anschließend eine Meditation erfolgen. – Die sogenannte Atemübung ist dagegen ein recht einfaches Mittel, welches in den meisten Fällen bereits wirkt. Einfach bewusst ausatmen und dann warten, bis das Luftholen von allein wieder entsteht. Denn das Einatmen ist ein tiefer unbewusster Reflex und das Erlebnis dieser Selbststeuerung unseres Körpers kann eine Verbindung zum unbewussten Erleben herstellen. In ähnlicher Weise kann auch eine Beobachtung des eigenen Pulsschlags wirken, obwohl dies etwas aufwendiger festzustellen ist. – Die Fixierung ist ebenfalls ein recht einfaches Mittel, wobei man sein Augenmerk auf einen bestimmten Punkt konzentriert. Dabei kann es sich beispielsweise schlicht um den Feuerschein einer Kerze oder eines Kamins handeln, oder auch um eine Ikone, das Kreuz oder ein Mandala. Wichtig ist, dass man nichts weiter wahrzunehmen versucht als diesen Fixpunkt. Natürlich schweifen die Gedanken dabei ab – und während man noch dieses Abschweifen staunend zur Kenntnis nimmt, ist man bereits ganz gefangen in den eigenen Gedanken. – Etwas schwieriger ist dagegen eine Zeremonie für die innere Versenkung. Denn diese muss so lange und so selbstverständlich ablaufen, dass keine Unterstützung des Bewusstseins mehr erforderlich ist. Beispiele dafür sind die Teezeremonie oder das Ikebana in einer Zen-Meditation oder auch das Mantra eines Rosenkranz-Gebets oder das lautmalerische OM. Bei meditativen Bewegungs- oder Tanzformen kann sogar eine Ekstase erst den Bewusstseinszustand ermöglichen, der schließlich einer Entase entspricht. 4.
Der meditative Zustand wird dann schließlich begleitet von einem meditativen Leitfaden. Unterstützt von bestimmten Aufgaben oder leisen Anweisungen wird versucht, die unbewussten Gedanken in bestimmte Richtungen zu lenken. – Dies entspricht in religiösen Meditationen der stillen Andacht oder dem offenen Gebet, beispielsweise einem Bibelwort oder einem buddhistischen Chakra. – Für eine Erfindung handelt es sich dabei vielleicht um das Bedenken eines Problems, eines Forschungsansatzes, einer Prognose oder ganz allgemein eines interessanten Themas.
Lektion 39:
Innovative Ideen entstehen in Ruhe und Besinnung!
Übung 39: Untersuchen Sie eine der genannten Meditationsformen auf ihre Struktur! Machen Sie sich die Weisheit des Unbewussten bewusst! Zur besonderen Empfehlung: Die Audio-CD Loslassen von Werner Eberwein.128 Der Rest ist Schweigen …
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
3.4.2
Inspiration durch Assoziation
„Reisen bildet!“ Denn wenn man auf Reisen ist, wird man meist mit neuen Eindrücken konfrontiert. Und das menschliche Gehirn versucht, diese Eindrücke in die bestehenden Kenntnisse und in das bestehende Verständnis von der Welt einzuordnen. Dabei ergeben sich oft überraschende neue Einsichten und Verbindungen – und häufig auch neue Ideen. Bei einer Assoziation handelt es sich demnach ebenfalls um eine unbewusste Schöpfung des menschlichen Verstands. Anders als eine Meditation erfolgt diese Kreativität allerdings nicht durch Einbildung, sondern indem verschiedene Eindrücke in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Diese geistigen Verbindungen oder Inspirationen stehen anschließend dem aufmerksamen Beobachter zur Verfügung. Zwar ist es grundsätzlich nicht zwingend so, dass irgendeine Beziehung oder Korrelation zwischen verschiedenen Eindrücken bestehen muss. Es kann auch sein, dass sich Dinge aufgrund von Zufall oder Koinzidenz gerade gemeinsam ereignen. Aber der menschliche Verstand ist von Natur aus so angelegt, dass er ständig Assoziationen bildet, indem er Korrelationen ausprobiert, also Vermutungen anstellt über Beziehungen, Verbindungen oder Zusammenhänge. Mit der Zeit werden diejenigen Korrelationen, die sich dabei bestätigen, mehr und mehr zur Gewissheit. Und diejenigen Korrelationen, die sich dabei nicht bestätigen, geraten in Vergessenheit. – Oder sie dienen dazu, kreative Impulse für ungewöhnliche neue Ideen zu liefern.
Als Serendipität bezeichnet der Soziologe Robert K. Merton (1910–2003) das Phänomen, dass sich viele wissenschaftliche Entdeckungen eher als „Glück des Tüchtigen“ ergeben haben anstatt als Ergebnis einer rein zielgerichteten wissenschaftlichen Untersuchung.129 Sicherlich war es dabei erforderlich, dass der glückliche Entdecker für etwas Neues offen war und sich vielleicht sogar auf der Suche nach etwas Neuem befand. Aber diese Neugier wird häufig begleitet von einer überraschenden Entdeckung. Und viele Menschen haben vielleicht schon einmal erfahren, dass sie mit Glück und Verstand etwas gefunden haben, was nur mit Verstand vielleicht gerade nicht zur Stelle gewesen wäre oder nur mit Glück vielleicht nicht erkannt worden wäre. – In diesem Sinne soll Sir Isaac Newton bereits in jungen Jahren das neue Gravitationsgesetz gefunden haben – so berichtete jedenfalls viel später seine Nichte von einer persönlichen Mitteilung.130 Er habe unter einem Baum gesessen und über die von ihm entwickelte Vorstellung von Kräften sinniert. Plötzlich konnte er beobachten, wie sich ein Apfel löste und zu Boden fiel. Da lag die Frage nahe, durch welche Kraft dies wohl geschähe. Auf diese Weise habe er die Erdanziehungskraft gefunden. Und weil diese Kraft offenbar von der Erde selbst verursacht wurde – und Newton ein weitläufig denkender Naturforscher war, musste selbst der Mond mit dieser Kraft von der Erde angezogen werden. Aber der Mond entgeht einem Zusammenstoß nur, weil er permanent seitlich ausweicht, indem er sich um die Erde dreht. Somit ist die Umdrehung der Himmelkörper nicht mehr bloß eine natürliche Kuriosität, sondern eine notwendige Bedingung dafür, dass sich gegenseitig anziehende Körper nicht zusammenstoßen. Und in gleicher Weise sollte dies auch für die Umkreisung der Erde um die Sonne gegeben sein. Und überhaupt ließen sich auf diese Weise all die merkwürdigen Bewegungen von Himmelskörpern allein dadurch erklären, dass sie einer Anziehung von anderen Körpern seitlich ausweichen. Eine geometrische Beschreibung der Planetenbahnen – wie zuvor von Nikolaus Koperni-
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kus und Johannes Kepler vorgenommen – waren somit nicht mehr nötig, sondern allein die Kenntnis der gegenseitigen Anziehung reichte fortan aus, um die Bewegungen zu beschreiben. Archimedes von Syrakus (287–212 v.Chr.) soll ebenfalls eine alltägliche Beobachtung mit einem Problem seiner Zeit assoziiert haben – so erzählen es jedenfalls die Geschichtsschreiber Plutarch und Vitruv rund 300 Jahre später. Dabei handelt es sich um die Frage, wie sich das Volumen von unregelmäßigen Körpern bestimmen lässt, ohne die Form zu zerstören. Hintergrund war die Krone des örtlichen Herrschers und die Frage, ob diese auch aus der vollständigen Goldmenge stammte, welche dem Schmied zuvor dafür gegeben wurde. Das Gesamtgewicht stimmte zwar, aber dies konnte doch durchaus durch Zugabe von billigeren Materialien, wie Silber oder Blei, erreicht worden sein. Der Unterschied bestand also im Volumen. Bei einem Bad soll Archimedes bemerkt haben, wie er zunehmend leichter wurde, je höher der Wasserspiegel in der Wanne stieg. Je größer demnach das Volumen des verdrängten Wassers, desto leichter wird ein Körper. Und er fand dadurch eine Waage, mit der sich zwei Körper von gleicher Masse, aber verschiedenem Volumen, unterscheiden lassen: Stellt man eine herkömmliche Balkenwaage ins Wasser, die sich zuvor im Gleichgewicht befand, so wird genau derjenige Arm aufsteigen, bei dem das Gewicht ein größeres Volumen aufweist und somit mehr Auftrieb erzeugt. Für die Bestimmung eines Materials ist also nicht unbedingt eine zerstörerische Analyse der chemischen Zusammensetzung erforderlich, sondern der jeweilige Auftrieb reicht zur Bestimmung aus. Dieses Lernen nach der Natur wurde immer wieder eingesetzt, um neue Techniken zu finden. Bereits in der Antike soll der geniale Baumeister Dädalus einen Flugapparat noch dem Vorbild der Vögel konstruiert haben, um der Gefangenschaft in Kreta zu entfliehen. Zu Beginn der Neuzeit hat dann nachweislich Leonardo da Vinci entsprechende Studien unternommen. Allerdings hat die direkte Assoziation hierbei den Nachteil, dass der Mensch doch deutlich größer und insbesondere schwerer ist als die Vögel – und dass für das Fliegen die Anforderungen an Muskeln und Materialbelastungen drastisch steigen. Erst mit deutlich vergrößerten Flügeln wird für Menschen ein Gleiten durch die Luft möglich, wie dann im 19. Jahrhundert der Schneidermeister Berblinger aus Ulm und Otto Lilienthal erfahren konnten. Und erst der Einsatz leistungsstarker Motoren machte es den Gebrüdern Wright und anderen im 20. Jahrhundert möglich, eine kraftvolle Bewegung in die Luft zu erreichen. Eine Inspiration aus der Natur liefert demnach nur Anregungen für eine Erfindung, die sich mitunter als tückischer erweisen kann, als es scheint. Und so stellt auch die moderne Bionik nicht unbedingt eine einfache Übertragung von natürlichen Erscheinungen auf eine technische Anwendung dar. Der Klettverschluss wurde vielleicht inspiriert durch die Klette im Fell des Hundes von Georges de Mestral (1907–1990). Aber zur Verwirklichung waren weitere technische Erfindungen für die Materialien, die Herstellung und den passenden Gebrauch notwendig. Auch die Riblets zur Verminderung des Strömungswiderstands erweisen sich in der Umsetzung schwer. Tatsächlich wurden die Dimples in den Golfbällen nicht von natürlichen Vorbildern inspiriert, sondern mit der Erfahrung assoziiert, dass alte – oft geschlagene Golfbälle – weiter fliegen, als neue – schön glatte. Und auch das Echolot könnte zwar mit den natürlichen Vorbildern von Fledermäusen, Eulen oder
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3 Wie (er-)findet man Innovationen?
Delfinen assoziiert werden, ist aber wohl direkt aus dem Verständnis der Laufzeit von Schallwellen abgeleitet worden. Der Ursprung einer Assoziation scheint letztlich auch egal zu sein. Denn da diese ohnehin eher unbewusst durch ständiges Ausprobieren von möglichen Beziehungen erfolgt, kann es durchaus sein, dass mehrere Anlässe zur gleichen Inspiration führen – oder dass im Nachhinein diejenige Assoziation ausgewählt wird, welche am einfachsten die gefundene Idee veranschaulicht. Für den kreativen Prozess scheint es vorwiegend wichtig zu sein, dass man sich auf die Suche macht.
Das Mind Mapping stellt eine grundlegende Form für das Bilden und Aufzeigen von Assoziationen dar. Obwohl entsprechende Pläne, Entwürfe, Schautafeln oder Diagramme schon seit dem Altertum im Einsatz waren, gebührt Tony Buzan die Ehre, besondere Regeln für diese Methode aufgestellt zu haben. 131 – Demnach beginnt man in der Mitte eines Blatts oder einer Tafel mit einem zentralen Begriff. Um diesen herum werden dann nach und nach weitere Begriffe, Zahlen, Zeichen, Bilder oder Symbole angeordnet. Zusammengehörige Begriffe werden entlang einer Linie angeordnet. Besonders wichtige Begriffe werden markiert durch Größe, Farbe, Unterstreichung oder Form. Von den Begriffen einer Linie können dann auch weitere Linien abzweigen. Hauptlinien sind dabei dicker gezeichnet als Nebenlinien. Hervorhebungen, Betonungen sowie eine persönliche Handschrift oder ein eigener Stil sind durchaus zulässig. Verflechtung und Querverweise schaden dagegen der Übersicht und sind nur in besonderen Ausnahmen vorzunehmen. Bei einem Metaplan werden dazu Steckkarten oder Klebezettel verwendet, um nachträglich eine Beziehung zu ändern und eine Struktur neu zu ordnen. Denn mit der strahlenförmigen Darstellung bleibt die Mind Map übersichtlich und macht neue Zusammenhänge erkennbar.
Beim Brainwriting wird die geometrische Struktur abgelöst durch eine Tabelle oder eine Reihenfolge von Sätzen. Obwohl auch diese Form der Entwicklung von Gedanken mithilfe von Kommentaren lange Zeit bekannt ist – und spätestens mit dem Briefroman im 19. Jahrhundert eine Blüte erlebte, gebührt Bernd Rohrbach (1927–2002) die Ehre, besondere Regeln für diese Methode aufgestellt zu haben. – Bei der Variante 6-3-5 werden 6 Leute aufgefordert, jeweils 3 Kommentare zu einem Thema in 5 Minuten zu verfassen. Anschließend werden die Zettel reihum getauscht und die vorliegenden Themen und deren Kommentare neu kommentiert. In der Variante Brainpool lässt sich auch eine gemeinsame Sammelstelle für Kommentare nutzen, die regelmäßig neu an die Beteiligten verteilt werden. Dies funktioniert heutzutage quasi von selbst durch das Anhängen von Kommentaren zu umlaufenden elektronischen Mails. Die Urheberschaft ist dabei durch ein Namenszeichen des jeweiligen Kommentators ersichtlich, was vielleicht auch hilfreich für eine gewisse Ernsthaftigkeit des Kommentierens sorgt. Durch die klare Reihenfolge und den Arbeitstakt bleibt auch das Brainwriting übersichtlich und inspiriert zu immer weiteren und neuen Gedanken.
Beim Brainstorming wird dann sogar diese Struktur aufgelöst durch die freie Rede. Auch hier ist das Grundprinzip der Beratung in einem Parlament schon seit der Antike bekannt und fußt sicherlich auf noch früheren Beratungen von Jagdgruppen. In diesem Fall gebührt Alex Osborn (1888–1966) die Ehre, grundlegende Regeln für das Brains-
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torming aufgestellt zu haben. Denn ein offenes Gespräch birgt die Gefahr, von einzelnen Teilnehmern für die Durchsetzung von eigenen Interessen benutzt und manipuliert zu werden. Und weil andere diese Gefahr kennen, enden viele Gespräche um eine vermeintlich gemeinsame Sache ohne irgendwelche praktischen Erkenntnisse. Obwohl also die direkte Rede ein recht einfaches und überaus schnelles Hilfsmittel ist, um neue Ideen zu erlangen, braucht man entsprechend strikte Regeln, um zu neuen Einsichten zu gelangen. – Nach Osborn sind für ein regelrechtes Brainstorming erforderlich: ein freies Spinnen, eine permanente Kritiklosigkeit, eine bunte Vielfalt an Vorschlägen und deren wachsende Verbindung und Erweiterung. Diese vier Grundregeln bedeuten nach Osborn genauer: 1. Je wilder eine Idee, desto besser. 2. Das Beurteilen von Vorschlägen muss zunächst verhindert werden. 3. Je mehr Vorschläge, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer nützlichen Idee. 4. Mehrere einzelne Ideen führen vielleicht zu einer noch besseren Idee. Falls es gelingt, diese Regeln vertrauensvoll zu praktizieren, sollte man noch beachten, dass sich nach etwa 10 bis 15 Minuten die ersten Assoziationen erschöpft haben. Es lohnt sich dann, diesen Hänger im Gedankengewitter einfach auszuhalten und zu überstehen, bis in einer weiteren Phase neue Gedanken aufkommen können.
Synectics stellt schließlich eine Methode dar, bei der mit mehrfachen Assoziationen eine bestimmte Vorstellung erweitert wird. Arthur Koestler (1905–1983) beschreibt eindrücklich, dass diese Bisoziation recht häufig den berühmten Erfindungen der Menschheit zugrundeliegt, wie dem Buchdruck durch Gutenberg, den Planentenbahnen durch Kepler oder der Evolutionslehre durch Darwin.132 Allerdings gebührt zunächst William Gordon (1918–2009) die Ehre, bereits 1966 ein Regelwerk erstellt zu haben, um die frei assoziierenden Gedanken auf einer Bahn zu halten, ohne sich in wilden Fantastereien zu verlieren. – Dazu verwendet er vier aufeinanderfolgende Entsprechungen oder Analogien: 1. Eine direkte Analogie für eine Sache oder einen Sachverhalt in einem anderen Bereich, beispielsweise die Entsprechung für ein Kameraobjektiv in der Biologie. 2. Eine persönliche Analogie für diese direkte Analogie, beispielsweise das Rollen mit den Augen. 3. Eine symbolische Analogie für diese persönliche Analogie, beispielsweise ein mechanisches Gelenk. 4. Eine erneute direkte Analogie für diese symbolische Analogie, beispielsweise ein Periskop, um den Lichtweg durch ein Gelenk zu lenken. Auf diese Weise ergibt sich vielleicht ein neuer Ansatz für eine Bildaufnahme. Als Force-Fit bezeichnet man schließlich die Prüfung, wie die gefundene Lösung mit dem ursprünglichen Sachverhalt zusammenpasst, beispielsweise die Kamera mit einem beweglichen Periskop-Objektiv auszustatten. Dabei ist die Gefahr groß, dass der Schluss zu abwegig erscheint – oder sich nur sehr vereinfacht und nicht besonders neuartig realisieren lässt. Daher benötigt man Geduld und Ausdauer – oder einen dringenden Bedarf an wirklich besonderen Lösungen. Entsprechend ist diese Methode bekannt dafür, sehr erfolgreich bei der unglücklichen Apollo-13-Mission der NASA eingesetzt worden zu sein, aber in der industriellen Praxis kaum genutzt zu werden.
224 Lektion 40:
3 Wie (er-)findet man Innovationen? Innovationen sind irgendwie ähnlich zu den bestehenden Dingen!
Übung 40: Es gibt nichts Besseres, als irgendeine Konferenz zu besuchen, um mit neuen Ideen nach Hause zu kommen. Setzen Sie sich also einfach einmal in eine Vorlesung oder einen sonstigen Fachvortrag! Und versuchen Sie, das, was Sie hören, einzuordnen in das, was Sie kennen! Erstellen Sie dazu eine Mind Map! Versuchen Sie sich im Brainwriting, indem Sie die jeweiligen Hauptthesen kommentieren! Führen Sie anschließend ein lockeres Gespräch mit Kollegen, Freunden oder Bekannten darüber, welche Bedeutung ein Thema erfahren könnte! Erproben Sie schließlich Synectics, indem Sie nacheinander eine direkte, eine persönliche, eine symbolische und ein weitere direkte Analogie bilden – und danach schauen, was das mit dem jeweiligen Thema zu tun haben könnte!
3.4 Erfindungen mit Fantasie
3.4.3
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Improvisation durch Provokation
„Not macht erfinderisch!“ Denn in einer besonderen Situation werden plötzlich auch solche Gedanken beachtet, die normalerweise eher als unbedeutend, unwichtig oder unbequem abgelehnt werden. Wenn die Situation ausweglos erscheint, dann wird schon gerne einmal improvisiert. Und erst unter einem gewissen Zwang werden überhaupt manche Gedanken hervor gerufen – und somit neue Ideen provoziert.133 Auch bei der Improvisation handelt es sich demnach um eine eher unbewusste Schöpfung des menschlichen Verstands. Dabei scheinen gleichermaßen meditative Einbildungen wie auch assoziative Beziehungen von Eindrücken zum Einsatz zu kommen. Die Not darf also nicht so groß sein, dass die Entspannung darunter leidet; und sie darf nicht so gering sein, dass man die Achtsamkeit für die Ereignisse verliert. Ein geschickter Improvisator ist also jemand, der sich entspannt in neue Situationen begibt und das jeweils Beste daraus macht. – Im Jahre 1904 verkaufte Ernest A. Hamwi auf der Weltausstellung in St. Louis knusprige, süße Waffeln an die vorbeiströmenden Besucher. Nebenan befand sich ein Stand mit Eiscreme, die damals noch in Hörnchen aus Pappe vertrieben wurde, die sich Cornucopia oder deutsch Füllhörnchen nannten. Als allerdings diese einmal ausgingen, behalf man sich mit einer entsprechend gerollten Waffel von nebenan. Diese fand derart reißenden Absatz, dass noch während der Ausstellung mehrere Bäckereien damit beschäftigt waren, solche Cones herzustellen. Zwar hatte es wohl vorher Erfinder für Eiswaffeln gegeben, beispielsweise 1896 Italo Marchioni in New York und 1902 Antonio Valvona in Manchester. Aber Hamwi gebührt das Verdienst, dieser Innovation zum Durchbruch verholfen zu haben, indem er eine kommerzielle Verbreitung dieses Produktes betrieben hat – von der Cornucopia Waffle Company über die Missouri Cone Company zur Western Cone Company. – Aus der Not eine Tugend zu machen steht auch zu Beginn des Cognacs aus der gleichnamigen Stadt im französischen Weinbaugebiet der Charente. Aufgrund nachlassender Qualität wurde von holländischen Händlern im 16. und 17. Jahrhundert das Brennen oder Destillieren des Weins eingeführt, um die Überschüsse für längere Zeit haltbar zu machen und nach Nordeuropa zu verschiffen. Dazu wurde das Destillat zwischenzeitlich in Fässern gelagert. Und es zeigte sich, dass insbesondere die Eichen aus der Charente dem Brandy auf Dauer einen besonderen Geschmack verliehen, welcher von manchen Kunden sogar noch über den eines guten Weins gestellt wurde. Entsprechend konnten höhere Preise erzielt werden, sodass mehr und mehr nicht nur die Überschüsse zu Brand verarbeitet wurden, sondern eine spezielle Rezeptur erstellt wurde, um den heimischen Wein zu Cognac zu veredeln.134 – Eine improvisierte Resteverwertung steht wohl auch zu Beginn des Siegeszugs der Pizza, welche auch heute noch in Italien eher von den Bäckereien angeboten wird statt von Pizzerien. Ähnlich wie der Elsässer Flammkuchen, die Schweizer Wähe oder die Schwäbische Dinnete handelte es sich ursprünglich um Teigreste, die zu gering waren, um daraus ein ganzes Brot zu formen. Und um diese dennoch für den Verzehr schmackhaft zu machen, wurden sie zusätzlich mit kleinen Leckerbissen, wie Käse, Wurst oder Gemüse, versehen. Dadurch erfreuten sie sich besonderer Beliebtheit, sodass es nach und nach üblich wurde, diese Improvisationen zur Regel zu machen.
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? –
Lebensmittel sind offenbar besonders geeignet, um durch Improvisation zur Innovation zu gelangen. Tatsächlich gibt es von Natur aus immer Zeiten mit einem Überfluss an Lebensmitteln, und auch andere Zeiten des größten Mangels und der größten Not, nämlich der Hungersnot. Entsprechend überlebenswichtig war es für die Menschheit stets, entweder alternative Nahrungsquellen oder Konservierungstechniken zu erschließen. Und nach neueren Untersuchungen sind selbst heutige Genussmittel, wie Bier und Wein, ursprünglich nur deshalb kultiviert worden, um eine saubere und dauerhafte Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Der Genuss war zunächst Nebensache – und vielleicht auch anfangs gar nicht vorhanden, als die Gär- und Ausbauprozesse noch nicht so gut bekannt waren und die Getränke noch veränderliche Anteile von Fuselalkoholen, Bitterstoffen und Gärrückständen enthielten. Aber mit der Zeit wurden diese unerwünschten Nebeneffekte ausgemerzt, sodass der globale Siegeszug der alkoholischen Getränke beginnen konnte.135 Nach dem Motto „Unverhofft kommt oft“ lässt sich auch bei der Improvisation nicht unmittelbar eine zielstrebige Absicht erkennen, wie sie eingangs für Innovationen gefordert wurde. Der Ursprung der Neuerung scheint eher von Zufällen und einer glücklichen Fügung bestimmt zu sein. Und das Geschick zum Improvisieren scheint jeweils auch von den Umständen und Fähigkeiten der beteiligten Personen abzuhängen. Allerdings sollte man auch bei diesem Prozess nicht außer Acht lassen, dass es im Wesentlichen die bewusste Provokation ist, welche die angeborene Kreativität anregt. Und diese Provokation lässt sich mit verschiedenen Methoden gezielt erzeugen.
Einfache Reizworte, wie „X3GPM“ oder „Firneol“, lassen sich als wörtliche Anreize nutzen, um daran neue Ideen zu einem Thema zu erarbeiten. – Was könnte beispielsweise Firneol für ein Instrument, ein Werkstoff oder ein Prozess sein? – Was bedeutet „der“ Firneol in der Fotografie oder im Fahrzeugbau? – Was ist wohl das Gegenteil zum Firneol in der Papierindustrie? – Wenn ein Thema nach einem Vortrag zur Diskussion gestellt wird, dann findet sich sicher immer irgendjemand, der nach einem bestimmten Detail fragt, das er mit ebendieser Bestimmtheit durch ein Wort charakterisiert. Wenn nun sonst auch keiner Ahnung davon hat, was dieses Detail bezeichnet oder wie es in diesen Zusammenhang kommt, dann beginnt man, in alle Richtungen zu denken. Nun stellt sich zuweilen heraus, dass dieses Detail ganz anders bezeichnet wird, vom Frager falsch verstanden wurde oder zu irgendwelchen abwegigen Untersuchungen gehört, welche zu Recht schon längst in Vergessenheit geraten sind. Aber obwohl die Zweckmäßigkeit der Frage selbst sehr fraglich erscheint, so stößt sie vielleicht einen kreativen Denkprozess an, der letztlich zu neuartigen Erfindungen führt. Sicherlich sollte man mit so einer Provokation sehr sparsam umgehen, denn sie verliert ihre Wirkung, wenn sie bereits erwartet wurde. Andererseits kann man aber auch bewusst mit solchen Reizworten spielen, um sich im Improvisieren zu üben.
Eine zufällige Eingabe oder Random Input stellt diesbezüglich eine Steigerung des Anreizes dar, beispielsweise durch ungewöhnliche Musik oder Geräusche, Bilder oder Beleuchtung, Düfte oder Gerüche, Aromen oder auch Erlebnisse. Mithilfe virtueller Reali-
3.4 Erfindungen mit Fantasie
227
tät lässt sich heute in Vergnügungsparks sogar eine Abenteuerreise zu fremden Sternen oder in ferne Zeiten simulieren. – Profis im Bereich des Marketings, sogenannte Kreative, sind immer auf der Suche nach einem gewissen Kick, der ihnen vielleicht die eine besondere Idee liefert. – Für Ingenieure mag hierfür vielleicht bereits eine weite Dienstreise, eine Besichtigung oder eine Exkursion ausreichen, um auf neue Gedanken zu kommen. Tatsächlich zeigen Umfragen, dass die meisten Ideen zu technischen Neuerungen außerhalb der vertrauten Arbeitsumgebung entstehen. Und diese lassen sich durchaus wieder bewusst aufsuchen oder in entsprechend gestalteten Kreativräumen anregen.
Bei Picture Frustration handelt es sich eigentlich um eine psychologische Testmethode durch Comicbilder. Auch hier ist die Anregung von Gedanken durch Bilddeutung ein altbekannter Effekt der bildenden Kunst, die 1949 von Saul Rosenzweig herangezogen wurde, um die Belastbarkeit einer Person einzuschätzen. – Für psychologische Zwecke besteht der Test aus 24 genormten Bildzeichnungen nach Art eines Comics, in denen zwei Personen dargestellt sind. In den Sprechblasen äußert eine Person eine frustrierend wirkende Aussage, die stellvertretend von der Testperson in der anderen, leer stehenden Sprechblase ergänzt werden soll. Über die Identifikation mit der zweiten Person kann man dann Rückschlüsse auf die übliche Reaktion der Testperson ziehen. Wichtig dabei ist, dass die Antworten spontan – und somit improvisiert – gegeben werden. 136 – Für erfinderische Zwecke wird diese Vorgehensweise recht häufig genutzt bei einem zeichnerischen Entwurf einer Konstruktion oder eines Designs. Spontan werden dadurch bei den Betrachtern weitere Gedanken angeregt, die zu einer entsprechenden Auseinandersetzung und Gegenvorschlägen führen. Sicher geht es bei einer solchen Improvisation nicht darum, mehr über die anderen Beteiligten an dem Prozess zu erfahren. Aber man kann durchaus mehr über die verschiedenen Denkweisen und die dahinterstehenden Denkarten erfahren. In diesem Sinne kann es für den kreativen Prozess anregend sein, bei einem ersten Entwurf bewusst eine Provokation einzubauen. Aus der damit verbundenen Frustration der Beteiligten entwickelt sich vielleicht eher etwas besonders Originelles als bei einem Entwurf, der gleich zu Beginn den allgemeinen Erwartungen entspricht.
Als provokante Handlung oder Provocative Operation PO werden ungewöhnliche und widersinnige Aussagen eingesetzt, um neue Denkweisen anzuregen. Obwohl es sich hierbei um althergebrachte Methoden handelt, beispielsweise die Koan-Meditation im Buddhismus, gebührt Edward de Bono die Ehre, die Regeln für eine Verwendung als Kreativitätsmethode aufgestellt zu haben.137 Dazu wird eine verrückte Aussage zunächst einmal mit der Vorsilbe PO versehen, um sie von den richtigen Aussagen abzugrenzen und den spontanen Widerspruch zu unterbinden. Denn das Ziel der Übung ist, etwas Widersprüchliches zu rechtfertigen, beispielsweise: – „PO, Wissen macht dumm!“ Um diesen Standpunkt zu begründen, begibt man sich offenbar auf sehr unsicheres Gebiet und muss ganz schön improvisieren. Dazu gehört sicherlich auch die Betrachtung von ungewöhnlichen Einzelfällen, das Verneinen von üblichen Zusammenhängen, das Verdrehen der Bedeutung oder die maßlose Übertreibung. Aber ein geschickter Improvisator findet vielleicht einen Weg, mit dieser Provokation umzugehen. Und vielleicht findet er auf diese Weise auch einen
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Weg, eine versponnene Idee zu kreieren und dabei sogar bereits einen Bezug zur bekannten Welt herzustellen.
Lektion 41:
Ideen für Innovationen werden durch ungewöhnliche Ereignisse hervorgerufen!
Übung 41: Das Leben ist ständig voller Anregungen, die auch als Chance für einen Neubeginn diesen können; es kommt eher darauf an, dass wir uns diesen Gelegenheiten stellen, als dass wir nach Ihnen suchen müssten. George Simenon setzte sich beispielsweise einfach in ein Pariser Café oder fuhr mit dem Bus durch die Stadt, um sich mit neuen Eindrücken zu konfrontieren und daraus neue Romane zu improvisieren. Betrachten Sie daher eine bestimmte Aufgabe in einem neuen Licht! Erfinden Sie lustige Reizworte und suchen Sie für diese eine gewisse Bedeutung für die Aufgabe! Versuchen Sie, die Aufgabe mit immer neuen Eindrücken zu erweitern! Machen Sie doch einmal ganz bewusst einen Entwurf, der die Erwartungen Ihrer Umgebung enttäuscht, und erkunden Sie die Hintergründe dieser Enttäuschung, sowie deren Berechtigung! Begründen sie auch einmal das Folgende: „PO, diese Aufgabe ist blöd!“
3.4 Erfindungen mit Fantasie
3.4.4
229
Abstraktion durch Interpretation
„Wenn die Autoren, Komponisten, Dichter oder Maler uns das mitteilen wollten, was ihre Interpreten nun hineindeuten … warum haben sie es dann nicht gesagt?“138 Diese Frage aus dem Lesebuch von Michael Ende (1929–1995) macht deutlich, dass die Kunst nicht nur in dem Werk selbst besteht, sondern auch immer aus einem künstlerischen Ausdruck. Dieser entsteht offenbar, wenn ein Gedanke von Mensch zu Mensch wandert. Jedes Ding bekommt immer neue Bedeutung durch das, als was es erscheint, und durch das, wie es erklärt wird, und auch durch das, wie es verstanden wird. Und mit einem Verständnis scheinen die Dinge vielleicht auch wieder ganz anders zu sein. Durch diese fortschreitende Abstraktion entsteht quasi von selbst ständig Neues. – So ist ein zugespitzter Stein nicht mehr nur ein Stein, sondern vielleicht auch ein Faustkeil. Und es lässt sich daran erklären, wie die Kräfte einer Hand mittels der Festigkeit des Steins auf einen kleinen Bereich gebündelt werden. Und man versteht dadurch, wie sich auf diese Weise andere Dinge bearbeiten und verändern lassen – beispielsweise durch Schneiden, Spalten, Ritzen, Bohren, Schleifen, Schaben, Mahlen oder allgemein Zerkleinern. Und dann erscheint der Stein vielleicht nicht mehr nur als Faustkeil, sondern auch als ein Werkzeug – beispielsweise als Klinge, als Messer, als Pfeilspitze, als Axt, als Hammer, als Dorn, als Nadel, als Feile oder als Brechstange. Diese Interpretationen beruhen zunächst ebenfalls auf einer eher unbewussten Schöpfung des menschlichen Geistes. Wenn ein Thema interpretiert wird, dann scheint dies durchaus mit einer unbewussten Intuition, Inspiration oder Improvisation einherzugehen. So ganz genau wird das wohl niemand unterscheiden können, da es sich letztlich doch um Beschreibungen von unbewussten Vorgängen handelt, deren genaue Analyse genau deshalb unmöglich ist, weil sie eben unbewusst stattfindet. Und selbstverständlich werden dabei auch die zuvor genannten meditativen, assoziativen oder improvisierenden Elemente verwendet, um etwas in immer neuer Weise auszudrücken. Gerade die sogenannten Geisteswissenschaften entwickeln sich, indem sie den Begriffen eine immer neue Bedeutung verleihen. Und mit der neuen Bedeutung ist durchaus eine neue Realität verbunden, wie Michel Foucault 1970 in der Diskursiven Ordnung begründet.139 Demnach entsteht durch den Diskurs ein neuer Bezug zur Realität.
Eine Sprachliche Realität wird mit den geprägten Begriffen erzeugt, die beispielsweise als Markennamen den wirtschaftlichen Erfolg von Produkten maßgeblich beeinflussen. – So steht die Marke Tesa für eine transparente Klebefolie und die Marke Post-it für einen selbstklebenden Zettel, der sich rückstandsfrei entfernen lässt. Die Marke Personal Computer oder PC kennen wir als Heimcomputer und die Marke Selters als ein Sprudelwasser. Umgekehrt scheint es hilfreich, eine Innovation in ein griffiges Wort zu fassen, um sie in der Wirklichkeit zu verankern.
Andere Begriffe erreichen sogar eine Institutionelle Realität, indem sie für ein ganzes Spektrum von Eigenschaften stehen. – So haben insbesondere die Automarken jeweils ein besonderes Image – wie ein Porsche, ein Ferrari oder ein Mercedes. Andere Firmen stellen sogar eine eigene Art Welt dar, in der sich ihre Kunden erleben können, wie die Supermärkte von ALDI, Lidl oder EDEKA oder die Heimcomputer von Microsoft oder Apple. Und es
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? scheint durchaus empfehlenswert, sich eine Innovation in einer dieser Welten vorzustellen, um sie zu verwirklichen.
Als Performelle Realität werden die Begriffe dann mit besonderen Wirkungen verknüpft. – Bei Markennamen sind die gängigsten wohl „exklusiv“ und „modern“ sowie „biologisch“ und „umweltfreundlich“ oder gerne auch „neu“ und „innovativ“. Diese Verwirklichung über die Performance geht bei manchen Marken so weit, dass sie manchmal selbst zum Begriff für eine Tätigkeit werden, wie das „Fönen“ mit einem Haartrockner der Marke Fön von der Firma AEG oder das „Googeln“ mit der Internet-Suchmaschine der Firma Google. Auch dies zeigt, wie sich Neues verwirklichen lässt, indem wir einen Begriff mit einer Wirkung versehen.
Die Diskursive Praxis erzeugt sich auf diese Weise immer wieder selbst. Begriffe werden geprägt, institutionalisiert und verwirklicht und dienen schließlich selbst als sprachliches Werkzeug, um neue Begriffe zu prägen. – So ist das Wort „billig“ ursprünglich eine performelle Bezeichnung für angemessen und berechtigt gewesen, was man noch an der Wendung „etwas billigen“ – für zustimmen – merkt. Aber durch den kommerziellen Diskurs wird die Bedeutung nach und nach eher als günstig oder sogar als minderwertig verstanden. Inzwischen muss man sich nicht mehr wundern, wenn es leicht kaputtgeht, wenn es doch billig war. – Entsprechend war der Aufdruck „Made in Germany“ ursprünglich ein Versuch, vermeintlich minderwertige Waren aus Deutschland für den Verkauf im britischen Commonwealth auszuzeichnen. – Und heutzutage gibt es den Diskurs, ob der ehemalige akademische Abschluss mit „Diplom“ nun eher dem „Bachelor“ oder dem „Master“ entspricht. – Und das „Internet“ ist uns modernen Menschen so gegenwärtig geworden, dass wir inzwischen selbstverständlich von einer virtuellen, also scheinbaren Realität sprechen, und damit ganz reale Handlungen, Geschäfte und Lebensweisen verbinden. Entsprechend zeigt sich daran, dass man bei neuen Begriffen auch immer danach suchen kann, welche reale Neuerung damit verbunden ist. Jede Interpretation stellt zunächst nur ein Angebot für das abstrakte Verständnis einer konkreten Sache oder eines konkreten Sachverhalts dar. Daher ist auch eine Interpretation grundsätzlich nicht zielstrebig, außer es handelt sich um eine rhetorische oder manipulative Interpretation, deren Ergebnis vorab schon abgesprochen oder indirekt angelegt wurde. Eine wahrhaft kreative Interpretation beinhaltet stets auch den Moment der Überraschung, der spontanen Intuition, Inspiration oder Improvisation. Die Abstraktion besteht demnach vorwiegend aus dem Bewusstmachen des Unbewussten. Und daher stammen die methodischen Ansätze für die gezielte Suche nach kreativen Interpretationen vorwiegend aus der psychologischen Analyse.
Als Projektion bezeichnete Sigmund Freud (1856–1939) den psychologischen Mechanismus, die gesamte Welt in sich zu spiegeln und die eigenen Gedanken in die Welt zu übertragen.140 Dabei vermischen sich stets äußere Eindrücke mit der inneren Stimmung und der innere Eindruck spielt bei der Wahrnehmung mit. Sicherlich haben die meisten Menschen immer schon die Erfahrung gemacht, dass ein und dieselbe Sache bei schönem Wetter, guter Musik, mit Freunden und zu einem erfreulichen Anlass in einem ganz
3.4 Erfindungen mit Fantasie
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anderen Licht erscheint, als man sie vielleicht an einem Regentag, bei Lärm, in unfreundlicher Gesellschaft oder nach einer persönlichen Niederlage in Erinnerung hat. – In der psychologischen Analyse wurde dieser Ansatz von Margaret Lowenfeld und später Charlotte Bühler zu einem Welttest entwickelt, den man heutzutage auch häufig in Innovationslaboren wiederfindet. Mithilfe eines standardisierten Satzes von Hilfsmitteln, wie Figuren, Steinen, Karten und Knetmasse, werden spielerisch bestimmte Themen dargestellt. Im Unterschied zwischen den zu erwartenden und den geschaffenen Darstellungen erkennt man die besondere Interpretation des Themas. Und eine Analyse dieser Interpretation weist auf verborgene – abstrakte – Denkmuster hin, die entweder für die psychologische Diagnose oder als innovativer Ansatz verwendet werden können.
Ähnlich angelegt sind psychologische Tests, die von einer Bilddeutung ausgehen. Wie bei einer kunsthistorischen Betrachtung geht es also darum, in der Deutung eine besondere Interpretation auszumachen. Für den Psychologen deuten die Besonderheiten vielleicht auf einen Schlüssel zum Verständnis seelischer Probleme hin; für den Kreativen deuten diese Besonderheiten eine neue Sichtweise mit Innovationspotenzial an. – Bei den allgemein bekannten Klecksbildern von Herrmann Rorschach (1884–1922) wird durch eine Faltung eine Grundsymmetrie in eine sonst unregelmäßige Kontur gebracht, welche die Probanden dann beschreiben sollen. Bei der Vergleichszeichenprobe von Hellmuth Benesch soll der Proband eine vorliegende Geschichtszeichnung mit eigener Hand nachzeichnen. Und beim Thematic Apperception Test TAT von Henry Murray wird eine kurze Bildgeschichte dem Probanden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vorgelegt, um aus der Schilderung zu erkennen, wie die Geschichte aufgefasst bzw. apperzipiert wurde.
Auch Rollenspiele sind geeignet, um über eine bestimmte Interpretation zu einer kreativen Idee zu gelangen. Wie die anderen Kreativitätstechniken, so liegen auch hier die Ursprünge weit zurück, beispielsweise in der Commedia del Arte von Carlo Goldoni (1707–1793). Dabei hat jeder Schauspieler ein festes Rollenfach, wie der Harlekin, der Greis, der jugendliche Liebhaber oder die Verführerin. Beim Auftritt selbst ist vom Autor dann nur grob die Handlung als Leitfaden vorgegeben, während die Schauspieler die Möglichkeit haben, ihre jeweilige Rolle im Handlungsrahmen frei zu interpretieren. Für die Verwendung als Kreativitätsmethode gebühren Edward de Bono und Robert Dilts die Ehre, ein Regelwerk festgelegt zu haben. – Als Thinking Hats verwendet de Bono verschiedenfarbige Hüte – oder auch Schärpen oder entsprechende Tücher, die jeweils einen verschieden Charakter ausdrücken sollen, beispielsweise „weiß“ für naiv, „schwarz“ für traurig, „blau“ für treu, „grün“ für jung, „grau“ für alt, „rot“ für temperamentvoll.141 – Als Disney-Methode beschreibt Robert Dilts den kreativen Prozess von Walt Disney, der zur Entwicklung seiner Gedanken verschiedene Zimmer aufsuchte, die jeweils einen ganz eigenen Einrichtungsstil hatten und dadurch die Denkweise prägten. Durch den häufigen Wechsel von Rollen, Farben oder Orten verändert sich entsprechend die jeweilige Interpretation eines Themas. Jede Veränderung geht auch mit einer gewissen Abstraktion einher, sodass schließlich in überschaubaren Zeiten eine kreative Wandlung von einem Ausgangspunkt aus erfolgt.142
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3 Wie (er-)findet man Innovationen? Die zunehmende Abstrahierung beruht auf der altbekannten Erfahrung, dass ein Thema in einem neuen Zusammenhang durchaus anders verstanden und interpretiert werden kann. Obwohl dieser Ansatz sein Vorbild in der antiken Sage vom sogenannten Gordischen Knoten hat, gebührt Horst Geschka die Ehre, diese Vorgehensweise bereits 1980 als Kreativitätstechnik beschrieben zu haben.143 – Als Progressive Abstraktion bezeichnet Horst Geschka diese zunehmende Erweiterung des Denkrahmens. Grundsätzlich geht es also darum, einen Fortschritt dadurch zu erzielen, indem man den Bezugsrahmen durch eine abstrakte Interpretation erweitert und beispielsweise einen Knoten zerschneidet, anstatt ihn aufzuknüpfen. In der Legende geht es um Alexander den Großen und um die Weissagung des Orakels von Delphi, wer den kunstvoll geknüpften Knoten am Streitwagen des phrygischen Königs Gorgios lösen könne, der würde auch ganz Asien erobern können. Diese Vorgabe erfüllte er im Handstreich und demonstrierte dadurch, dass er zu ungewöhnlichen Taten bereit war. Ähnlich gibt es die Anekdote, nach der Christopher Kolumbus die Aufgabe gelöst habe, ein Hühnerei ohne weitere Stützen derart auf seiner Spitze zu balancieren, dass es stabil steht. Indem er das Ei mit etwas Kraft einfach auf den Tisch aufschlug und dabei die Spitze etwas eindellte, schuf er eine größere Standfläche, sodass es dadurch stehen blieb. – Als Konzeptfächer wurde diese Form der Interpretation von Aufgaben auch von Edward de Bono beschrieben. Dabei nutzte er die Vorstellung von einem Fächer, der sich von einem kleinen Punkt aus erweitert und dabei eine ganz andere Funktion entfaltet. Dieses Prinzip ist heutzutage auch als Origami bekannt, bei dem durch bloßes Falten oder Entfalten neue Effekte erreicht werden können. Außer den bekannten Faltfiguren wird diese Technik inzwischen verwendet, um dreidimensionale Objekte platzsparend unterzubringen, beispielsweise Airbags von Autos oder Sonnensegel von Satelliten.
Lektion 42:
Um eine Innovation zu finden, reicht manchmal ein gutes Gespräch!
Übung 42: Erstellen Sie eine eigene „Formel für das Erfinden“! UND BEVOR Sie jetzt zurückblättern und nachschauen: Nehmen Sie sich Zeit! Überlegen Sie, welche Dinge als Erfindung gelten könnten! Welche erfinderischen Lösungen haben Sie selbst schon gefunden? Bei welchen Themen haben Sie selbst schon einmal genauer nachgeforscht? Und auf welche Vorhersagen haben Sie selbst schon einmal reagiert? Wie sind Sie dabei vorgegangen? Woher stammten Ihre Ideen? DANN erstellen Sie Ihr eigenes „Rezept für eine Erfindung“! Und probieren Sie es gleich einmal aus! Lassen Sie sich von dieser Herausforderung provozieren! Und lassen Sie sich durchaus inspirieren von den Ausführungen in diesem Buch! Verfeinern Sie Ihr Rezept! Welche Fortschritte konnten Sie dadurch erzielen?
3.4 Erfindungen mit Fantasie
233
DANN suchen Sie sich einen Partner für diese Übung! Vielleicht können Sie sich austauschen mit einem Kommilitonen. Oder Sie finden jemanden in Ihrem privaten oder betrieblichen Umfeld, der Interesse hat. Stellen Sie Ihre Rezeptur vor und reden Sie darüber! Welche Fortschritte können Sie dadurch erzielen? Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie jetzt das „Geschäft der Erfindens“ beherrschen? Und bei welcher Gelegenheit wollen Sie beginnen, es einzusetzen?
4
Die Innovationsformel
Rückblickend betrachtet, ergibt sich eine Innovation mit Hilfe der nachfolgenden Rezeptur:
Man nehme eine Erfindung. Dazu lässt sich die Lösung eines Problems verwenden – oder mit der Forschung nach Problemen beginnen – oder auch Prognosen zu künftigen Problemen anstellen – oder schließlich eine vielversprechende Fantasie heranziehen.
Man realisiere die Erfindung über ein Projekt. Dieses ist insbesondere auf die Erfolgsfaktoren von erfinderischer Invention und Diffusion am Markt ausgerichtet, berücksichtigt die verschiedenen Phasen und die jeweiligen Einflüsse, ist mit den passenden Promotoren ausgestattet und verfügt über eine geeignete Kultur im Unternehmen.
Man begleite dieser Realisierung durch ein Marketing. Dafür ist der Zyklus von Gütern zu beachten, eine Vorbereitung der verschiedenen Barrieren des Markteintritts zu treffen, ein passendes Design zu entwerfen und die Möglichkeiten einer Marktöffnung zu erkunden.
Man unterstütze den gesamten Prozess durch ein wissenschaftliches Vorgehen. Dabei werden mit Elenktik die Ursachen nachgefragt, mit Entelechie eine Verbindung der Ideen mit der Realität hergestellt, mit Epistemik die Gründe für das zugehörige Wissen bestätigt und schließlich das gesamte System durch Kategorien aufgestellt. Zwar ist dann noch nicht garantiert, dass daraus eine Innovation wird. Aber das Management ist auf diese Weise richtig gemacht.
Marketing • Innovationszyklus • Innovationsbarrieren • Innovationsdesign • Open Innovation
Wissenschaft • Elenktik • Entelechie • Epistemik • Kategorie
Innovation • Problemlösung • Forschung • Prognose • Fantasie Abb. 67:
• Erfolgsfaktoren • Innovationsphasen • Promotoren • Innovationskultur
Übersicht der Kriterien und Faktoren für das Management einer Innovation
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4 Die Innovationsformel
Ein zentraler Anspruch in diesem Lehrbuch ist, das Wissen und die Wissenschaft beim Innovationsmanagement darzustellen. Daher sind die verschiedenen Ansätze der Lektionen zu einfachen Lehrsätzen zusammengefasst. Für eine inhaltliche Vertiefung können diese nun als eine Art Checkliste herangezogen werden. Auf diese Weise erreicht man relativ zweckdienliche Hinweise zu den jeweiligen Lehren für ein erfolgreiches Innovationsmanagement. Das Innovationsmanagement im Spiegel der Lektionen Lektion 1: Innovationen werden absichtlich gemacht! ......................................................... 2 Lektion 2: Der Wert einer Innovation beruht auf einem Alleinstellungsmerkmal! ............... 7 Lektion 3: Mitunter weisen Innovationen keinen erkennbaren Wert auf! ........................... 12 Lektion 4: Innovationen bewirken eine schöpferische Zerstörung! .................................... 17 Lektion 5: Neue Technologien ermöglichen Innovationen höherer Ordnung! .................... 20 Lektion 6: Das Management von Innovationen befasst sich in der Hauptsache mit Facharbeit, Arbeitskräften, Zusammenarbeit und Arbeitsteilung! ..................... 24 Lektion 7: Innovationsmanagement ist Projektmanagement mit besonderen Zielen! ........ 29 Lektion 8: Der Erfolg einer Innovation beruht auf effektiven Inventionen und deren effizienter Diffusion! ......................................................................................... 35 Lektion 9: Bei einer Innovation müssen die technische Effektivität und die ökonomische Effizienz stets aufeinander abgestimmt werden! ......................... 43 Lektion 10: Jede Innovation muss zunächst auf irgendeine Weise auch denkbar sein! ........ 53 Lektion 11: Die komplexen Aufgaben einer Innovation bedürfen einer Lernkultur!............ 64 Lektion 12: Der Wert einer Innovation entsteht erst durch ihre Vermarktung! ..................... 70 Lektion 13: Ohne ständige Innovationen stirbt ein Produkt und die Wirtschaft kommt zum Erliegen! .................................................................................................... 78 Lektion 14: Barrieren für Innovationen sind zwar wertvoll, aber ihre Überwindung ist noch wertvoller! ................................................................................................ 82 Lektion 15: Der Innovationswert orientiert sich am Menschen! ........................................... 87 Lektion 16: Offenheit erleichtert Innovationen unter Minderung der Exklusivität! ............. 92 Lektion 17: Das Innovationsmanagement orientiert sich an wissenschaftlich objektivierten Vernunftwahrheiten! ................................................................. 100 Lektion 18: Innovationen verwandeln Unwissen in bewusstes Wissen! ............................. 106 Lektion 19: Eine Innovation stützt sich auf unzählige freie Gedanken, viele theoretische Einsichten, einige Erfahrungen und einem klaren Eindruck! .......................... 110 Lektion 20: Nichts scheint für eine Innovation gewisser als eine berechtigte und glaubhafte Wahrnehmung! .............................................................................. 117 Lektion 21: Die Kategorien eines Innovationssystems ermöglichen eine Übersicht! ......... 123
4 Die Innovationsformel
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Lektion 22: Das Patent auf eine innovative Erfindung beruht auf einer Anwendungsidee mit passenden Ausführungsideen sowie entsprechenden Geschäftsideen! ...... 129 Lektion 23: Eine innovative Erfindung besteht aus der Lösung eines Problems! ............... 135 Lektion 24: Qualitätssteigerungen sind ein Motor für Innovationen! ................................. 140 Lektion 25: Ein Herumspielen mit SCAMPER führt zu innovativen Problemlösungen! .... 144 Lektion 26: Innovative Grundprinzipe IGP erschließen patentfähige Innovationen! .......... 149 Lektion 27: Mit einer GMA lassen sich immer innovative Problemlösungen finden! ........ 152 Lektion 28: Die Forschung beruht auf einer innovativen Problematisierung von Wahrheiten! ..................................................................................................... 158 Lektion 29: Tropen schaffen einen innovativen Wandel der Problemstellung! ................... 164 Lektion 30: Der Nachweis einer Unlogik führt zu einer innovativen Logik!...................... 169 Lektion 31: Innovationen benötigen auch eine streitbare Rechthaberei! ............................ 175 Lektion 32: TRIZ liefert Hinweise auf Innovationen durch Widersprüche! ....................... 181 Lektion 33: Prognosen zu Innovationen beruhen auf Simulationen! .................................. 187 Lektion 34: Eine Meinungsbildung eröffnet innovative Perspektiven! ............................... 191 Lektion 35: Das Innovationsmanagement kann sich an einem Trend orientieren!.............. 198 Lektion 36: Komplexe Zusammenhänge schaffen Raum für innovative Szenarien! .......... 203 Lektion 37: Die beste Vorhersage einer Innovation besteht in Ihrer Verwirklichung! ........ 208 Lektion 38: Im Menschen gibt es eine natürliche Anlage zum Schaffen von Innovationen! ................................................................................................... 214 Lektion 39: Innovative Ideen entstehen in Ruhe und Besinnung!....................................... 219 Lektion 40: Innovationen sind irgendwie ähnlich zu den bestehenden Dingen! ................. 224 Lektion 41: Ideen für Innovationen werden durch ungewöhnliche Ereignisse hervorgerufen! ................................................................................................. 228 Lektion 42: Um eine Innovation zu finden, reicht manchmal ein gutes Gespräch! ............ 232
Übung 43: Diese Übersicht gibt Ihnen die Gelegenheit, Ihre Kenntnisse zu den Kernsätzen des Innovationsmanagement selbst zu überprüfen und zu hinterfragen.
Index 4M 134 4P 68, 69 5W 102, 103 6-3-5 222 8M 134 a posteriori 119 a priori 119 Abelaerd, Pierre 104 Achsenzeit 1 Agglutination 216 Aging Market 74 Aktivität 195 Aktivsumme 195 al-Chwarizmi, Muhammad 185 Alexander der Grosse 232 Algebra 185 Algorithmus 185 Alleinstellungsmerkmal 4 Alternativszenarien 201 Altschuller, Genrich 95, 145, 152, 176, 177, 179 Analogie 223 Andon 23 Annuität 76 Anthropisches Prinzip 185 Antinomie 168 Antizipation 217 Arbeitnehmererfindergesetz 63 Arbeitskraft 22 Arbeitsteilung 23 Arbitrage 4, 14, 79, 80 Archimedes von Syrakus 94, 221 Aristoteles 1, 48, 58, 96, 118, 155 ARIZ 145 Askese 218 Assoziation 220 Atemübung 219 Aufbauorganisation 55, 56, 193 Automatisierung 18 B2B 67 B2C 67 Bacon, Francis 2, 81, 96, 176, 245 Bananenprinzip 72 Basic-Technology 74 Basismerkmale 85 Basistechnologie 74 Baum-Diagramm 134
Bedingungswechsel 180 Begeisterungsmerkmal 84 Belohnungssystem 210 Benchmarking 77 Benesch, Hellmuth 231 Benz, Carl 15, 30, 33, 74 Best Practice 63, 88 Best-in-Market 40 Binet, Alfred 51 Birkenspanner 9 Bisoziation 223 Bloch, Ernst 153 Blockbuster 5 Bono, Edward de 212, 227, 231, 232 Borden, Neil 68 Brainpool 222 Brainstorming 222 Brainwriting 222 Break Even 76 Bühler, Charlotte 231 Buzan, Tony 222 Camus, Albert 210 Carter, Brandon 185 Case Studies 63 Causa efficiens 156 Causa finalis 156 Causa formalis 155 Causa materialis 155 Chaku-Chaku 22 Chandler, Alfred 59 Charter 28 Checkliste 38, 65, 236 Chesbrough, Henry 88 Christensen, Clayton 15 Co-Creation 83 Contracting 66 Cooper, Robert 36 Cross-Impact-Matrix 200 Dädalus 221 Dampfmaschine 18, 30, 66, 74 Darwin, Charles 8, 99, 223, 245 Degenerationsphase 76 Delphi-Befragung 190 Delphi-Effekt 188 Delphi-Methode 189 Delphi-Studie 190 Deprivation 218
240 Descartes, René 96, 122, 169, 217 Design Thinking 85 Design-to-Cost 40 Deskriptor 199 Dichotomie 32 Diffusion 30 Diffusionsphase 36, 50 Diffusionsprojekt 37, 39 Dilts, Robert 231 Diogenes von Sinope 47 Direktiven 61 Diskursive Ordnung 229 Disney-Methode 231 DMAIC 42, 135 Dopamin 210 Dotcom 31, 73 DPMO 138 Dreieck, magisch 39, 40, 113, 116, 122, 128 Drogen 212 Drucker, Peter 61, 205 Dualismus 32, 203 Edison, Thomas Alpha 18, 127 Effektivität 40 Ego Depletion 104 Einflussfaktoren 38 Einflussmatrix 194 Einführungsphase 36, 72 Einstein, Albert 94, 115 Ekstase 219 Elenktik 101 Emergenz 58 Emerging Market 74 Empowerment 57 Ende, Michael 229 Entase 218 Entelechie 108 Enzensberger, Christian 150 Epikur 49, 115, 168 Epimenides 166 Epistemik 112 Erfindung 125 Erfolgsfaktor 30 Erhaltungsmarketing 73 Erhaltungsprinzip 97 Eristik 170 Euro 15, 16, 53, 81, 163 Exaptation 13 Exklusivität 5, 15, 88, 92, 114 exotische Szenarien 202 Experiment 157 Extremszenarien 202 Facelift 5 Facharbeit 22 Failure Mode and Effect Analysis 138 Familienbande 61 Fantasie 209
Index Fischgräten-Diagramm 134 Fisher, Roger 105 Fitness 8 Fixierung 219 Floatingtank 218 Flow 23, 217 FMEA 138 Fokussierung 217 Force-Fit 223 Ford, Henry 15, 18, 22, 23, 74 Fordismus 22, 25 Foucault, Michel 105, 229 Franklin, Benjamin 88 Free rider 73 Frege, Gottlob 115 Freud, Sigmund 211 Fundamental Technology 74 Futur 2 206 fuzzy Logik 59 Galton, Francis 188 Gardner, Howard 51 Gauß, Carl Friedrich 185 Gebrauchsmuster 126 Generelle Morphologische Analyse 150 Geschka, Horst 232 Geschmacksmuster 126 Gettier, Edmund 114 Globalisierung 6, 12, 18 GMA 150 Gödel, Kurt 166 Goethe, Johann Wolfgang von VII, 205, 245 Goldoni, Carlo 231 Gordon, Theodore J. 200 Gordon, William J. J. 223 Götz, Curd 168 Grelling, Kurt 167 Großprojekt 207 Growing Market 74 Gründerzeit 18 Guilford, Joy P. 211 Gut Erbgut 66 frei 66 immateriell 66 Investitionsgut 67 knapp 66 Konsumgut 67 materiell 66 Nominalgut 66 Realgut 66 Sachgut 66 Halbwahrheiten 115 Hamwi, Ernest A. 225 Hegel, Georg 122 Heijunka 22 Heisenberg, Werner 32, 122, 166
Index Helmer, Olaf 200 Hemisphären 211 Heraklit 100, 168 Heterologie 166 Homologien 166 Hoshin Kanri 23 Hoshin Management 62 House-of-Quality 139 Human Centered Design 83 Hybridantrieb 31, 199 Hypnose 212 Ideenphase 36, 50, 77 IDEO 83 Idola Fori 81 Idola Specus 81 Idola Theatri 82 Idola Tribus 81 IGP 145 Imagery Rehearsal 218 Improvisation 225 Incentive 61 Industrialisierung 1, 2 Initialphase 36 Innovation akademisch 48 archäologisch 16 ätherisch 49 Barriere 79 Bildung 11 diskontinuierlich 13 disruptiv 13 dogmatisch 48 eklektisch 49 erhaltend 15 ersetzend 15 evolutionär 8 inkrementell 4, 7, 15 institutionell 12 kinästhetisch 51 konservativ 10 kulturell 12 linguistisch 52 logisch 52 Marketing 66, 69, 73, 88 musisch 52 ökonomisch 4 Organisation 6, 38 Phase 36, 37, 41 pluralistisch 50 politisch 15 Produkt 5, 196 Prozess 5, 38, 66, 85 radikal 4, 7, 15 reflexiv 52 relativierend 50 revolutionär 13
241 skeptisch 49 sozial 11 sustaining 10 systemisch 53 technisch 4 technologisch 18 Vertrieb 6 visuell 52 zynisch 48 Innovation Factory 86 Innovationsdesign 83 Innovationspreis 4 Innovationssystem 118 Innovationstrichter 108 Innovationswerte 18 Innovative Grundprinzipe 145 Inselbegabung 213 Inseln des Wissens 184 Inspiration 220 Instauratio Magna 2, 81, 245 Internal Rate of Return 76 Invention 30 Inventionsphase 36, 50 Inventionsprojekt 37 Ishikawa, Kaoru 134 Ishikawa-Diagramm 134 Jagdbande 60 Jaspers, Karl 1, 245 Jellinek, Georg 33 Jidoka 22, 180 Joint Development 91 Joint Venture 90 Kahn, Herman 199 Kahneman, Daniel 212 Kaikaku 6, 23 Kaizen 5, 23 Kanban 23 Kano, Noriaki 84, 90 Kant, Immanuel 32, 95, 119, 120, 121, 123, 217 Kapitalwerte 75 Kategorie 118 Kausalitäts-Diagramm 134 Kekulé, Friedrich August 217 Key-Technology 74 KISS 43 Knowledge Engineering 89 Knowledge Management 89 Koestler, Arthur 223 Kolumbus, Christopher 232 Kommandostruktur 55, 57, 60, 64 Kommunikationspolitik 68 Kondratjeff, Nikolai 18, 19, 20 Konformität 15 Konfuzius 1, 32, 101, 121, 122 Konkrete Utopie 153
242 Kontingenz 59 Konzeptfächer 232 Konzeptphase 36 Kuhn, Thomas Samuel 99 Kurzweil, Raymond 20 KVP 5 Kybernetik 186 Laotse 1, 101 Laplace, Pierre Simon de 182 Lean Thinking 22, 24, 95 Leibniz, Gottfried Wilhelm 94, 122 Leistungsmerkmal 84 Lenard, Philipp 150 Leonardo da Vinci 2, 221 Lernende Organisation 57 Libet, Benjamin 210 Lichtenberg, Georg C. 155 Linienorganisation 56, 64 Lobotomie 212 Lowenfeld, Margaret 231 Magritte, Rene 167 Management 21 Management by Delegation 63 Management by Exception 63 Management by Incentives 64 Management by Objectives 61 Management by Planning 62 Management by Results 61 Markenzeichen 126 Market Pull 68, 70 Marketing-Mix 68, 70 Marketing-Politik 68 Marx, Henry Groucho 168 Marx, Karl 4, 122, 245 Matrixorganisation 56 Maturing Market 74 McAdam, John L. 33 McCarthy, Jerome 68 Mechanisierung 18 Meditation 215 Mehrwert 4 Meilenstein 36 Mental Models 58 Mentales Training 217 Merton. Robert K. 205, 220 Mestral, Georges de 221 Metaphysik 97 Metaplan 222 Michelin, Edouard 33 Mind Mapping 222 Modallogik 59 Modus barbara 116 Modus ponens 115 Modus tollens 116 Monopol 4, 29 Morgenstern, Christian 168
Index Morphologischer Kasten 150 Muda 137 Multiple Intelligenz 51 Multiprojekt 207 Murray, Henry 231 Mutation 8 Nachlaufphase 76 Nefiodow, Leo 19 Net Present Value 75 New Deal 23 New Economy 73 Newton, Isaac 94, 99, 184, 217, 220 Nullsumme 97 Objektivation 96, 186 Objektivität 95 Ockham, William von 43 Ockhams Rasiermesser 43 Ödipus 205 Ökonometrie 11 Ökonomie 4 Olbers, Heinrich W. 185 Oneirologie 215 Ontologie 32 Open Innovation 88 Organigramm 56 Osborn, Alex F. 141 Over-Engineering 41, 116 Ozean des Unwissens 184 Paarvergleich 133 Paarweiser Vergleich 131 Pace-Making-Technology 74 Papiercomputer 195 Paradigmen 99 Paradoxie 167 Pareto, Vilfredo 132 Pareto-Vergleich 132 Passivität 196 Passivsumme 195 Patent 4, 126 PDCA 41, 135 Permutation 216 Personal Mastery 57 Phasendiagramm 37 Picasso, Pablo 125 Picture Frustration 227 Pilot 85 Planungsphase 36 Platon 48, 102, 108, 112, 122 PO 227 Poka-Yoke 22 Policy Deployment 62 Popper, Karl 115, 122, 130, 157, 183 Portfolio 207 Preispolitik 68 Privatisierung 16 Problem 130
Index Produktpolitik 68 Prognose 182 Programm 207 Progressive Abstraktion 232 Projekt, öffentlich 26 Projektcontrolling 27, 36 Projektierung 22, 37, 38, 39, 47 Projektion 230 Projektkommunikation 27 Projektkonzeption 29 Projektmanagement 26 Projektorganisation 26 Projektplanung 26 Proklos 167 Promotor Beziehung 45, 47, 49 Fach 45, 48 Macht 45, 48 Prozess 45, 47, 48 Promotoren 45 Proposal 28 Prototyp 85 Provocative Operation 227 Provokation 225 Pufpaff, Sebastian 168 Pull 23 Pygmalion-Effekt 57 Pyrrhon 49 QFD 139 Qualität 137 Quality Function Deployment 139 Quality Gates 36, 37, 135, 207 Quantifizierung 157 Random Input 226 Realisierungsphase 36 Regelkreis 135 Regression 216 Reign of Error 205 Reorganisation 60 Res cogitans 122 Res extensa 122 Restrukturierung 6 Review 27, 36 Risiken 29 Risikoprioritätszahl 139 Roadmap 206 Rohrbach, Bernd 222 Rorschach, Herrmann 231 Rosenthal, Robert 57 Rosenzweig, Saul 227 Samadhi-Bad 218 Sartre, Jean-Paul 33, 122, 210 Savant 213 SCAMPER 141 Schlüsseltechnologie 74 Schopenhauer, Arthur 96, 170, 174, 210
243 Schrittmacher-Technologie 74 Schule 11, 51, 119, 245 Schumpeter, Joseph 1, 2, 4, 245 Science-Fiction 19, 20 Scientific Innovation 93 Scientific Management 21, 24 Scope 28 Selektion 8 Self-Destroying Prophecy 205 Self-Fulfilling Prophecy 205 Senge, Peter 57 Separationsprinzipien 179 Serendipität 220 Serotonin 210 Sextus Empiricus 160 Shared Visions 59, 65 Sinneseindruck 161 Sinnesraum 162 Sinnesvorstellung 161 Sinneswandel 162 Six Sigma 138 Skaleninvarianz 132 Skepsis 160 S-Kurve 71 Slogan 6 SMART 42 Sokrates 101, 102, 103, 104, 108, 112, 113, 114, 116, 168 Sonderanfertigung 10 Specify Value 22 Sperry, Roger W. 211 Spin-off 41, 44 Split-Brain-Phänomen 211 Stabsfunktionen 56 Stage Gates 36, 135 Stakeholder 45, 113 Stammbaum 8, 13 Stanovich, Keith 212 Startphase 36 Substitution 216 Success Stories 63, 88 Suezkanal 34 Surowiecki, James 188 SWOT 43 Symmetrie 157 Synectics 223 Systematik 157 Systems Thinking 58 Szenario 199 Szenarioanalyse 200 Szenariotechnik 200 Szenariotrichter 202 Tacit Knowledge 89 Target Costing 77 Tatsachenwahrheiten 94 Tautologie 167
244 Taylor, Frederic Winston 21, 122 Team Learning 60 Technische Parameter 176 Technisierung 18 Technologiewerte 18 Technology Push 67, 70 Testphase 36 Tetralemma 116 Thales von Milet 1, 4 Thematic Apperception Test 231 Thinking Hats 231 Time-to-Market 40 TIPS 145 Total Quality Management 140 Toyotismus 22, 25 TP 176 TQM 140 Trance 212 Transhumanismus 19 Transistor 18 transzendent 153 transzendental 154 Trauma 217 Traumdeutung 211 Trend 193 Trendprojektion 203 Trendszenarien 201 Trial-and-Error 135 TRIZ 145 Tropen 160 Tunnel-Effekt 184 Turing, Alan 186 Turingmaschine 186 Umsetzungsphase 36 Unentscheidbarkeitstheorem 166 unveräußerlich 10 Urheberrechte 126
Index Ursache-Wirkungs-Diagramm 134 Ury, William 105 Usability Engineering 85 User Centered Design 85 Value Stream 22 Vergil 168 Verne, Jules 19 Vernetzungsmatrix 194 Vernunftwahrheiten 95 Vertriebspolitik 68 Vester, Frederic 194 virtuelle Realität 186 Wachstumskurve 71 Wachstumsprinzip 98 Watt, James 30, 66, 74 Watzlawick, Paul 19 Weisheit der Masse 188 Welttest 231 Werterhaltung 10 Widerspruchsmatrix 177 Widerspruchstabelle 177 Wiederholrate 10 Wiener, Anthony J. 199 Wild Cards 203 Witte, Eberhard 45 Wittgenstein, Ludwig 94 Wu-Wei 217 Zerlegungsprinzip 98 Zerstörung, schöpferisch 16 Zerstreuungsprinzip 98 Zielvereinbarung 62 Zielvorgaben 61 Zoon politikon 58 Zusammenarbeit 23 Zwicky Box 150 Zwicky, Fritz 150
Anmerkungen und Verweise 1 Goethe, Johann Wolfgang, Faust – Der Tragödie zweiter Teil, Hamburger Ausgabe von 1949, Zeilen 5061–5064, C.H.Beck, München 1972. Im Original werden die Menschen als „Toren“ bezeichnet und es lautet wörtlich: „… der Weise mangelte dem Stein.“ Mit Hilfe von diesem „Stein“ sollte ein „Weiser“ Blei in Gold verwandeln können – oder ganz allgemein Wertloses in Wertvolles. Somit steht diese Aussage dafür, dass Menschen selbst dann unfähig sind, etwas Neues zu erzeugen, selbst wenn man ihnen das dazu notwendige Hilfsmittel gibt. Für solche „Innovationen“ fehlt nicht nur ein Zaubermittel, sondern es mangelt auch an Weisheit, diesen Zauber richtig auszuüben. In dem Drama hatte Mephistopheles zuvor vorgeschlagen, eine akute Geldnot der Staatskasse dadurch zu beheben, dass der Staat Anleihen auf die Entdeckung künftiger Staatsschätze ausgibt. Das erwies sich dann zwar finanziell als überaus erfolgreich. Aber anstatt das dadurch gewonnene Geld zu investieren, um diese Entdeckungen voran zu treiben, wurde beschlossen, erst einmal ein rauschenden Fest zu feiern. 2 Schumpeter, Joseph, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 1. Auflage von 1912, Duncker & Humblot 2006. Dabei wird noch nicht der Begriff „Innovation“ verwendet, sondern der Mehrwert durch „Kombination“ von Produkten, Produktionsmitteln und Märkten ausführlich beschrieben. 3
Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Artemis-Verlag 1949.
4
Weischedel, Wilhelm, Die philosophische Hintertreppe, dtv 1975.
5
Bacon, Francis, Große Erneuerung der Wissenschaften (Instauratio magna. Novum Organum, sive indicia vera de interpretaione naturae) Zenodot 2011. 6
Marx, Karl, Theorien über den Mehrwert, 1862/63, posthum veröffentlicht 1905–1910.
7
Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, Nicol Verlag 2008, original: On the Origin of Species, Murray 1859.
8
Michael E. N. Majerus, Melanism: Evolution in action, Oxford University Press 1998.
9
In diesem Sinne bedeutet der Begriff Schule ursprünglich in etwa Muße oder Freizeit, also gerade das Gegenteil einer Arbeitsleistung mit einem ökonomischen Wert. Denn eine Schulung war zunächst nur denjenigen Menschen vorbehalten, welche die alltägliche Arbeit unterbrechen und sich über rein geistige Dinge Gedanken machen konnten. Die dadurch gewonnene Bildung erlaubte es dann zwar, die Welt in neuartiger Weise zu verstehen. Aber zumindest in der Antike war es verpönt, daraus irgendwelchen Nutzen zu ziehen. 10
UNESCO, Weltbildungsbericht 2010.
11
Ulmer Museum, Der Löwenmensch. Geschichte – Magie – Mythos. Ulm 2005.
12 Bataille, Georges, Die vorgeschichtliche Malerei. Lascaux oder Die Geburt der Kunst. Skira-KlettCotta, 1986. 13
Neueste Funde zeugen von Flöten, welche bereits um 35.000 v.Chr. auf der Schwäbischen Alb im Gebrauch waren.
246
Anmerkungen und Verweise
14 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique, 1762 (deutsch: Vom Gesellschaftsvertrag, Hans Brockard, Reclam 2010). 15 Christensen, Clayton M., The Innovators Dilemma, Harvard Business School 1997 (deutsch: Vahlen 2011). 16
Händeler, Eric, Die Geschichte der Zukunft. Sozialverhalten heute und der Wohlstand von morgen, Bredow 2005. 17
Nefiodow, Leo, Der sechste Kondratieff, Rhein-Sieg-Verlag 1996.
18
Watzlawick, Paul et al., Lösungen, Huber, 2009.
19
Bild links: Illustration von Bayard, Émile, de Neuville, Alphonse, Hildibrand, Henri, 1872.
20
Bild rechts: Mondlandefähre “Eagle” NASA Apollo Archive AS11-40-5927, 1969.
21
Kurzweil, Ray, The Singularity Is Near, Penguin 2006.
22
Taylor, Winston, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung: The Principles of Scientific Management, Vdm 2004. 23
Womack, James P. und Jones, Daniel T., Lean Thinking. Banish waste and create wealth in your corporation, Simon & Schuster 2003.
24
DIN 69001, Projektmanagement, Projektmanagementsysteme, Beuth 2009.
25
Kuster et al., Handbuch Projektmanagement, Springer 2006 (Anmerkung: Die Aufschlüsselung des Projektmanagements nach verschiedenen Merkmalen kann anhand von unterschiedlichen Kriterien erfolgen. So geht die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement GPM von drei „Kompetenzbereichen“ aus, das Project Management Institute PMI von neun „Wissensgebieten“ und das britische Office of Government Commerce von vier Bausteinen mit sieben Aspekten. Wie in Lektion 21 gezeigt wird, haftet jeder „Kategorisierung“ eines Systems durchaus etwas Willkürliches an.). 26
GPM, Kompetenzbasiertes Projektmanagement (PM3) 2010.
27
PMI, A guide to the Project Management Body of Knowledge PMBoK 2008 (deutsch 2009).
28
Edel, Nadin, PRINCE2:2009 – für Projektmanagement mit Methode, Addison-Wesley 2010.
29
Dörr, Nora, Müller-Prothmann, Tobias, Innovationsmanagement: Strategien, Methoden und Werkzeuge für systematische Innovationsprozesse, Carl Hanser Pocket Power 2011. 30
Robert G. Cooper, Top oder Flop in der Produktentwicklung. Erfolgsstrategien von der Idee zum Launch, Wiley-VCH, 2002.
31
Hauschild, Jürgen und Salomo, Sören, Innovationsmanagement, Vahlen 2010.
32
Drucker, Peter Ferdinand, Die Praxis des Managements, ECON 1998.
33
Witte, Eberhard, Organisation für Innovationsentscheidungen – Das Promotorenmodell, Schwartz 1973.
34
Hauschildt, Jürgen und Gemünden, Hans Georg, Promotoren. Champions der Innovation, Gabler 1999.
35
Weißhaupt, Mark, Rolle und Identität: Grundlagen der Rollentheorie, vdm 2008.
36
Gardner, Howard und Heim, Malte, Abschied vom IQ: Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen, Klett-Cotta, 2005. 37 Christensen, Clayton M., Dyer, Jeff und Gregersen, Hal, The Innovator’s DNA: Mastering Five Skills of Disruptive Innovators, Harvard Business Review 2011.
Anmerkungen und Verweise
247
38 Peter M. Senge, The Fifth Discipline. The Art & Practice of the Learning Organization, Currency Doubleday 1994. 39 Rosenthal, Robert und Jacobsen, Leonore, Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartung und Intelligenzentwicklung der Schüler, Beltz 1983. 40
Wickler, Peter, Handbuch Mobbing-Rechtsschutz, Müller 2004.
41
Chandler, Alfred D. Jr., Strategy and Structure: Chapters in the History of the American Industrial Enterprise, MIT Press 1996/1998.
42
Schwarz, Gerhard, Die „Heilige Ordnung“ der Männer. Patriarchalische Hierarchie und Gruppendynamik, Westdeutscher Verlag 1985. 43
Drucker, Peter Ferdinand, Die Praxis des Managements, ECON 1998.
44
Jaworski, Jürgen und Zurlino, Frank, Innovationskultur: Vom Leidensdruck zur Leidenschaft – Wie Top-Unternehmen ihre Organisation mobilisieren, campus 2009. 45
Reimer, Schade, Schippel, Kaude, ArbEG (Gesetz über Arbeitnehmererfindungen und deren Vergütungsrichtlinien), Heymanns 2002. 46
Nelson, Bob, 1001 Ideen, Mitarbeiter zu belohnen und zu motivieren: … denn Geld allein macht nicht glücklich, Redline 2011. 47
McCarthy, Jerome E., Basic Mareting. A managerial approach. Irwin Professional 1960.
48
Granger, Clive W. J. und Hatanaka M., Spectral Analysis of Economic Time Series, Princeton University Press 1964. Für das “Logit-Modell” wurden Granger und sein Mitarbeiter Robert Engle 2003 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. 49
Bacon, Francis, Große Erneuerung der Wissenschaften (Instauratio magna. Novum Organum, sive indicia vera de interpretaione naturae) Zenodot 2011. 50
http://www.ideo.com/images/uploads/home/IDEOFactSheet_GERMAN.pdf.
51
Kelley, Tom und Gebauer-Lippert, Stephan, Das IDEO Innovationshandbuch: Wie Unternehmen auf neue Ideen kommen, ECON 2002. 52 Prahalad, C.K. und Ramaswamy, Venkat, Die Zukunft des Wettbewerbs. Einzigartige Werte mit dem Kunden gemeinsam schaffen, Linde 2004. 53
Sauerwein, Elmar, Das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit: Reliabilität und Validität einer Methode zur Klassifizierung von Produkteigenschaften, Deutscher Universitätsverlag 2000.
54 Sperber, Timo, Herzberg Reloaded: Zwei-Faktoren-Theorie von Frederick Herzberg, Grin Verlag 2009. 55
Nutzerorientierte Gestaltung: DIN EN ISO 9241-210 oder der ISO/PAS 18152.
56
Benjamin Franklin, Advice to a Young Tradesman Written by an Old One, New-Printing Office, 1748.
57
Hippel, Eric von, The Sources of Innovation, Oxford University Press 1995.
58
Chesbrough, H.W., Open Innovation: The New Imperative for Creating and Profiting from Technology, Harvard Business School Press 2003. 59
Meyer, Jens-Uwe, Das Edison-Prinzip, Der genial einfache Weg zu erfolgreichen Ideen, campus 2009. 60
Harvard Business Review on Innovation 1997.
248
Anmerkungen und Verweise
61
bereits seit 2001 bestehen die Plattformen: www.innocentive.com und www.bmwgroup.com/via.
62
Löhr, Karsten, Die Kunst der Erkenntnis, Agenda 2008.
63
Womack, James P. und Jones, Daniel T., Lean Thinking. Banish waste and create wealth in your corporation, Simon & Schuster 2003.
64
Herb, Rolf, Terninko, John, Zusman, Alla, Zlotin, Boris: TRIZ – der Weg zum konkurrenzlosen Erfolgsprodukt. Verlag Moderne Industrie 1998.
65
Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, Gesamtausgabe, dtv 1998.
66
www.br.de/fernsehen/br-alpha/sendungen/alpha-centauri/alpha-centauri-tachyonen-2002_x100.html.
67 Zeilinger, Anton, Einsteins Spuk – Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik, Bertelsmann 2005. 68
Hawking, Stephen, Eine kurze Geschichte der Zeit, Rowohlt Taschenbuch 2005.
69
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wörtlich heißt es in der Verteidigungsrede des Sokrates: „Ich bin mir wahrlich im Großen und im Kleinen bewusst, dass ich unwissend (nicht weise) bin!“. 72
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Anmerkungen und Verweise
249
87 Der Begriff „Grundprinzip“ wird im Sinne einer bestimmten heuristischen Lösungskategorie verwendet und nicht als hermeneutische Setzung wie zuvor die Osborn-Liste. Deshalb gilt die Mehrzahl auch als „Prinzipe“ und nicht als Prinzipien. 88
Herb, Rolf, Terninko, John, Zusman, Alla, Zlotin, Boris: TRIZ – der Weg zum konkurrenzlosen Erfolgsprodukt. Verlag Moderne Industrie 1998.
89 Livotov, Pavel, Petrov, Vladimir, TRIZ Innovationstechnologie. Produktentwicklung und Problemlösung, TriSolver 2002. 90
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Außer dem Problem der Kategorisierung von Systemen gibt es dabei einige psychologische Probleme der sogenannten „Neuen Erwartungstheorie“ zu beachten, welche vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman eindrucksvoll beschrieben wurden im Buch: Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler 2012. 109
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Anmerkungen und Verweise 143
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